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Der Clown geht, das Chaos bleibt:
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Nr. 28 | 9.7.2022
 HAUSMITTEILUNG

Titel | Seiten 10, 16, 18

Die vergangenen drei Jahre mit Premierminister Boris Johnson verlangten

Horst Friedrichs

Großbritannien einiges ab – auch dem SPIEGEL-Korrespondenten Jörg

Schindler. »Johnson hat das Königreich mehrfach an den Rand einer Ver-
fassungskrise geführt«, sagt er. Trotz aller Eskapaden des schillernden
Politikers hätte er bislang nie auf dessen baldiges Ende gewettet. Doch in den
letzten Tagen spitzte sich die Lage zu, Schindler traf sich mit Tory-Rebellen, beobachtete Johnson
im Unterhaus. Als dann vergangenen Dienstag nach einer Reihe von Skandalen Finanzminister
Rishi Sunak und Gesundheitsminister Sajid Javid hinschmissen, war Schindler klar, dass selbst
Entfesselungskünstler Johnson sich aus diesem Schlamassel nun nicht mehr würde befreien
können. Die britische Politik werde wohl langweiliger werden ohne ihn, sagt Schindler. »Aber das
wird dem Land zur Abwechslung mal guttun.«

Sorgerecht

Hannah Sommerschuh / DER SPIEGEL

| Seite 54

Mindestens jedes fünfte Kind erlebt, dass sich seine Eltern

trennen, bevor es volljährig ist. Meist wohnt es danach bei
der Mutter, vier von zehn Kindern haben wenig bis keinen
Kontakt zum Vater. Manchmal ist es aber umgekehrt. Über
einen Verein von Trennungseltern lernte Redakteurin Heike
Klovert Ende vergangenen Jahres eine Frau kennen, deren
Kinder, 13 und 15 Jahre alt, beim Vater wohnen und nichts
mehr von ihrer Mutter wissen wollen. Seither unterhielt Klovert sich immer wieder mit ihr wie
auch mit dem Ex-Mann, jeweils in Einzelgesprächen. Der Vater wirft der Mutter vor, zu grob zu
den Kindern zu sein. Die Frau weist das zurück und sagt, er habe die Kinder gegen sie aufgebracht.
Stark gegen
»Die Geschichte dieser Familie zeigt, wie wichtig nach einer Trennung ein respektvoller Umgang
miteinander ist«, sagt Klovert, »auch wenn das oft nicht gelingt.« Schuppen. Sanft
Haqqani | Seite 90 zur Kopfhaut.
Im Islamischen Emirat Afghanistan herrschen heute Milde Pflegeformel mit dem
wieder die Regeln der Taliban. Dazu gehört, dass
Christian Werner / DER SPIEGEL

Christian Werner / DER SPIEGEL

Frauen im öffentlichen Leben kaum mehr Platz

gesunden pH-Wert 5,5
haben. Das stellte SPIEGEL-Reporterin Susanne
Koelbl beim Interview mit Talibanführer Anas
ANTISCHUPPEN SHAMPOO
Haqqani in Kabul vor ein logistisches Problem. Nach- reduziert Schuppen bei Frauen und
dem Koelbl mit Haqqani über das militante Netz- Männern schon nach 14 Tagen um 50%1
werk seiner Familie gesprochen und ihn zu seiner über 72 Stunden Schutz vor Schuppen1
Rolle bei Planungen von Selbstmordattentaten be-
für die tägliche Reinigung empfindlicher
fragt hatte, wollte Fotograf Christian Werner wie üblich ein Porträt von den beiden machen. Doch
Haqqani intervenierte und bat Koelbl, aus dem Bild zu treten. Viele Taliban könnten nicht verste- Kopfhaut
hen, wenn er gemeinsam mit einer Frau auf einem Foto zu sehen sei. »Die Taliban wollen die Unter-
1 Studie „Antischuppen-Wirkung“, Institut Dr. Schrader 2006,
stützung des Westens, ohne dessen Anforderungen zu erfüllen«, sagt Koelbl. Heraus kam ein Kom- bei regelmäßiger Anwendung.
promiss. Das Foto, auf dem beide zu sehen sind, wurde für den Abdruck hier halt digital zerschnitten.

Klimakrise | Seite 100

Tangier ist eine kleine Insel in der Chesapeake Bay im US-

sebamed Produkte sind in über 120 Studien
Bundesstaat Virginia. Eine Idylle mit bunten Holzhäusern
dermatologisch-klinisch getestet.
Greg Kahn / DER SPIEGEL

und gut 400 Einwohnern, die hauptsächlich von der Fischerei

In Apotheken und Drogeriefachabteilungen und
leben. Doch in weniger als 20 Jahren wird die Insel wohl un-
bewohnbar werden, weil der Meeresspiegel steigt, Tangier
droht zu versinken. Trotzig wollen Bürgermeister James
Eskridge und viele der Insulaner einfach nicht wahrhaben,
dass der Klimawandel für den Untergang verantwortlich ist.
Der Reporter Daniel C. Schmidt (r.) hat mehrere Tage auf der Insel verbracht, wo er unter anderem
den Forscher David Schulte und dessen Sohn Zehao Wu traf. »Die wenigsten Bewohner
interessieren sich für die wahren Gründe der Bedrohung«, sagt Schmidt. »Zugleich sind sie es leid,
als Trump-Fans verlacht zu werden, die sehenden Auges mit ihrer Insel untergehen.«
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I N N O VA T I O N S B Y
INHALT TITEL

10 | Großbritannien Das Ende

der von Skandalen geprägten
Amtszeit des Boris Johnson
DER SPIEGEL 76. Jahrgang | Heft 28 | 9.7.2022

16 | Konservative Politologe
Tim Bale über den Zustand der
Tory-Partei

18 | Analyse Europa braucht die

Briten militärisch und strategisch

DEUTSCHLAND

8 | Leitartikel Die Regierung

sollte die Risiken ihrer Corona-
politik endlich ehrlich benennen

20 | Bundesregierung plant
neue Bürgerdialoge / Deutscher
Städtetag gegen Englisch als
zweite Verwaltungssprache /
Der gesunde Menschenverstand /
So gesehen: Sag es anders

24 | Kriminalität Wie irakisch-

kurdische Schleuserbanden

Justin Tallis / AFP

von Deutschland aus agieren

28 | Diplomatie So lief das

Versöhnungstelefonat zwischen
Steinmeier und Selenskyj

Der Mann, der Churchill sein wollte 30 | Europa Außenministerin

Annalena Baerbock und
ihr Kollege Jean Asselborn
GROSSBRITANNIEN Die Amtszeit von Boris Johnson endet nach nicht einmal drei im spiegel-Gespräch
Jahren in einem Strudel von Lügen und Skandalen. Er eroberte mit seinem über ihre Erfahrungen im Amt
Charme das Amt des Premierministers, wusste aber nie wirklich, was er dort wollte. 34 | Außenpolitik Soll und
Nun hinterlässt er Chaos in seiner Partei und im Land. | 10, 16, 18 kann man noch mit Putin reden?

37 | Justiz Ein Urteil grenzt

die Befugnisse des
Verfassungsschutzes ein

38 | SPD In der Bundestags-

fraktion von Kanzler Olaf Scholz
herrscht ein Machtvakuum

40 | Migration Ausländische
Fachkräfte zögern, nach
Jan Philip Welchering / DER SPIEGEL

Deutschland zu kommen
Urban Zintel / DER SPIEGEL

42 | Klimaanpassung Was
Hausbesitzer im Kampf gegen die
Hitze tun können
Webb Chappell

44 | Brandanschläge Angst
vor rechtem Terror in
der Berliner Hufeisensiedlung
Martin Sonneborn Molly White Annalena Baerbock
Der Satiriker musste nichts und Die Kryptokritikerin über den Die Außenministerin im Ge- 46 | Bildung Deutsche
niemanden ernst nehmen – Bitcoin-Crash und Frauenhass spräch mit ihrem Luxemburger Schulen setzen auf
dann kam der Krieg. | 110 in der Techszene | 68 Kollegen Jean Asselborn | 30 ukrainische Lehrerinnen

6 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022 Die Zusatzthemen vom Titelbild sind orange her vorgehoben.
48 | Brauchtum Warum
gibt es Frauen, die Wurstkönigin
werden wollen?
50 | Zeitgeschichte Frankreich
wollte nach dem Zweiten Welt­
krieg das Saargebiet annektieren
REPORTER
52 | Familienalbum / Ändern
Sie den Namen Ihres Pubs?
53 | Eine Meldung und
ihre Geschichte Der
hässlichste Hund der Welt
54 | Familie Wenn Kinder ihre
Mutter nicht mehr sehen wollen
59 | Kolumne Leitkultur
WIRTSCHAF T
62 | Hofreiter kritisiert Pläne für
Staatseinstieg bei Uniper /
Lufthansa streicht weitere Flüge
64 | Konsum Kaum ein Erwach­
sener kennt den weltweit erfolg­
reichsten Modehändler Shein
68 | Digitalwährungen Krypto­
kritikerin Molly White über
Bitcoin­Crashs
70 | Autoindustrie Der VW­
Konzern bekommt seine erste
Menschenrechtsverantwortliche
72 | Energie Deutschland will
chinesische Technik in deutschen
Windparks verhindern
74 | Serie: Die neue Unabhän-
gigkeit (III) Immer mehr Men­
schen wollen sich selbst versorgen
77 | Inflation Lars Feld, Berater
von Finanzminister Lindner,
warnt vor Entlastungspaketen
AUSLAND
78 | Die Verunsicherung der
Populisten in Italien / Das
Leiden der Menschen in Gaza
80 | USA Zwischen Evange­
likalen und Liberalen entbrennt
der Kulturkampf
84 | Polen Reportage aus der
Grenzstadt Rzeszów
Titel-Illustration: Mona Eing und Michael Meissner für den SPIEGEL
86 | Zeitgeschichte Der Fund
deutscher Weltkriegsleichen bei
Craonne in Frankreich
90 | Afghanistan Taliban­
führer Anas Haqqani
im spiegel­Gespräch
SPORT
93 | Das Netzwerk der City Foot-
Dmitr y Azarov / AP
ball Group / Warum verletzen
sich so viele Kinder beim Sport?
94 | Fußball Ein Hilfsprojekt für
Jesidinnen im Nordirak Diplomatischer Eiertanz
Sollen deutsche Politiker mit Russlands Präsident Wladimir Putin
97 | Sportförderung Die
reden? In der Bundesregierung wird der Kanal zum Kreml offen gehalten
Deutschen bei den World Games
– die bisherigen Kontakte verlaufen aber enttäuschend. | 34
WISSEN
98 | Analyse: Warum Atomkraft
nicht gegen die Gasknappheit
hilft / Haben Alpengletscher
noch eine Überlebenschance? /
100 | Klimakrise Eine kleine
US­Insel und die Erderhitzung
103 | Laienforschung Amateure
Greg Kahn / DER SPIEGEL
bringen die Wissenschaft voran
104 | Physik Milliardengrab
Teilchenbeschleuniger
106 | Gasförderung Comeback
für Fracking in Deutschland? Die Katastrophe ist da
Unter ihren Füßen steigt der Meeresspiegel unerbittlich an – doch
wahrhaben wollen das viele Bewohner von Tangier Island nicht. Sie
KULTUR dürften bald zu den ersten Klimaflüchtlingen der USA zählen. | 100
108 | Techno-Ausstellung in
Berlin / »Minions«-Fans im Anzug
110 | Satire Martin Sonneborn
versucht, in Kriegszeiten witzig
zu sein
114 | Sexualität spiegel­
Gespräch mit dem Forscher
Rainer Herrn über den Kampf um
sexuelle Selbstbestimmung
Tamara Eckhardt / DER SPIEGEL
118 | Hollywood Der gefeierte
»Thor«­Regisseur Taika Waititi
120 | Digitalisierung Kultur­
konsum wird körperlos
123 | Buchkritik Dirk Stermann
als später Vater in »Maksym« Krise – ohne uns!
Bestseller | 117 SPIEGEL-TV-Programm | 119 Sie ernähren sich aus dem eigenen Garten, erzeugen Strom oder
Impressum, Leserservice | 124
Nachrufe | 125 Personalien | 126
entsagen dem Konsum: Selbstversorger und Minimalisten wie
Briefe | 128 Hohlspiegel / Rückspiegel | 130 Patricia Chrominski glauben an das Glück der Bescheidenheit. | 74
Nr. 28 / 9.7.2022 DER SPIEGEL 7
 Covid? Na und!
LEITARTIKEL Die Bundesregierung lässt die Coronawelle quasi ungestört durchs Land rauschen.
Das ist legitim. Nur sollte sie die Risiken dieser Politik dann endlich ehrlich benennen.
Sven Hoppe / dpa
Geschlossene ragt man in der Ampelkoalition nach der Linie
Schnelltest-Station
in Bayern F der Coronapolitik, erklingt ein vielstimmiger
Chor.
Wolfgang Kubicki, der FDP-Parteivize, nennt die vie-
len Ausfälle durch Infektionen ein »temporäres Problem«,
glaubt nicht an eine Welle im Herbst und schließt einen
flächendeckenden Shutdown grundsätzlich aus.
Karl Lauterbach (SPD), der Gesundheitsminister,
warnt vor einem »schweren Herbst« und mahnt frühe
Vorbereitungen an.
Der Gesundheitsexperte Janosch Dahmen (Grüne)
sagt, in wenigen Monaten könne die Lage »einen großen
Lockdown« erfordern.
Nur einen scheint die Kakofonie nicht zu stören: den
Bundeskanzler. Der hält sich wieder mal weitgehend raus.
Blickt man dagegen auf das praktische Tun der Regie-
rung, erscheint ihre Coronapolitik recht eindeutig: Sie
hat sich dazu entschlossen, die Welle einfach laufen zu
lassen. Eine Durchseuchung der Bevölkerung, bislang als
Tabu belegt – längst im Gange. Eine Verfolgung der In-
fektionsketten – längst aufgegeben. Ein durchgängiges
Schutzkonzept – nicht erkennbar. Eine seriöse Erhebung
Die Regierung der Inzidenzen – ist mit Abschaffung der kostenlosen
hat es auf­ Bürgertests und Einschränkungen bei den PCR-Tests nicht
gegeben, die mehr möglich. Ein Berliner Amtsarzt geht davon aus, dass
die wahre Inzidenz in der Hauptstadt bis zu viermal so
Menschen hoch sei wie die offizielle, und die liegt schon bei 500.
durch die Politisch gesehen mag es richtig sein, Corona zuneh-
mend als eine Krankheit wie viele andere zu betrachten.
Pandemie zu Schließlich schützt die Impfung mittlerweile eine stattliche
lotsen. Es gibt Anzahl von Menschen vor schweren Krankheitsverläufen.
Schließlich ist es bei der derzeitigen hohen Inflation un-
keine innere denkbar, die Unternehmen sowie die Bürgerinnen und
Logik mehr. Bürger zusätzlich mit strengen Corona-Einschränkungen
8 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022
zu belasten. Die Folgeschäden eines weiteren Shutdowns
könnten, anders als zu Beginn der Pandemie, nicht immer
wieder mit Milliardenpaketen ausgeglichen werden.
Kein Land kann über Jahre im ständig wiederkehrenden
Ausnahmezustand verharren, erst recht nicht, wenn neben-
an ein Krieg tobt. Es wäre nur schön, wenn das mal jemand
klar und ehrlich sagen würde. Doch die Regierung hat es
weitgehend aufgegeben, die Menschen durch die Pandemie
zu lotsen, und hinterlässt große Verwirrung und viele Fragen.
Ist eine vierte Impfung jetzt sinnvoll – oder soll man
auf den Stoff warten, der für die jüngsten Varianten ent-
wickelt wird? Kann ich es ignorieren, wenn meine Coro-
na-Warn-App rot leuchtet? Warum muss ich in Bus und
Bahn Maske tragen, nicht aber in der dicht gedrängten
Kneipe, im kleinen Laden, im Klub? Der Coronapolitik
der Ampel scheint die innere Logik abhandengekommen.
Die Zurückhaltung der Politik, klare Ansagen zu machen,
könnte auch daran liegen, dass die neue Lässigkeit mit gro-
ßen Risiken verbunden ist. Nach wie vor sterben Menschen
infolge einer Covid-Erkrankung, derzeit sind es im Schnitt
mindestens 75 jeden Tag. Ist das der Preis, den wir zu zah-
len bereit sind? Man sollte es zumindest offen diskutieren.
Mit weniger PCR-Tests ist eine exponentielle Zunahme
der Infektionen schwerer vorauszusehen. Sind wir auf die
neuerliche Überlastung des Gesundheitssystems nun bes-
ser vorbereitet? Wegen weitgehend fehlender Schutz-
konzepte trifft schon die aktuelle Infektionswelle die so-
genannte kritische Infrastruktur, also Krankenhäuser,
Feuerwehr, Energieversorger, bisweilen hart. Nehmen wir
hier größere Ausfälle in der nächsten Zeit in Kauf?
Und vielleicht am wichtigsten: Long Covid zeigt mit-
unter schwere Symptome. Gibt es ausreichend Kapazi-
täten, um chronische Erschöpfung oder Konzentrations-
und Denkstörungen bei einem nicht unerheblichen Teil
der Bevölkerung zu behandeln?
Der Kanzler und sein Kabinett, allen voran Gesund-
heitsminister Lauterbach, müssen diese Fragen offen
adressieren. Zugleich sollten sie sich mit dem Bundestag
auf eine Lage im Herbst vorbereiten, in der die neue Läs-
sigkeit möglicherweise nicht mehr zu verantworten ist.
Sie müssen in einem neu aufgesetzten Infektionsschutz-
gesetz eine Vielzahl von Instrumenten festlegen, mit denen
eine neue, gefährlichere Sars-CoV-2-Variante schnell einge-
hegt werden kann. Eine solche Vorbereitung bedeutet nicht,
dass diese Variante tatsächlich kommt. Auch nicht, dass alle
Instrumente gezückt werden müssen. Aber sie müssen griff-
bereit sein. Sich allenfalls auf die Maskenpflicht in Innen-
räumen zu beschränken, wie es die FDP will, wäre fahrlässig.
Wir wissen inzwischen, wie lange eine Pandemie dau-
ern kann. Die Hoffnung auf eine Herdenimmunität hat
sich als trügerisch erwiesen: Menschen stecken sich immer
wieder an. Um es mit den Worten des britischen Immu-
nologen Danny Altmann zu sagen: »Dieser Kampf ist
noch lange nicht beendet.«
Martin Knobbe n
TITEL

Dominic Lipinski / AFP

Ben Stansall / AP
1 5

Jessica Taylor / UK Parliament / AFP

4
Pippa Fowles / IMAGO

1 | Wahlkämpfer Johnson 2019 2 | Premier

nach Einigung mit der EU 2020 3 | Brexit-Ab-
stimmung 2019 4 | Mit Vorgängerin May 2021
5 | Mit Queen Elizabeth II. 6 | Hochzeit mit
2 Carrie Symonds 2021 7 | Mit Präsident Wolody-
myr Selenskyj 2022 8 | Rücktritt am 7. Juli

Rebecca Fulton / REUTERS

6

Ukrainian Presidential Press Office / AP / dpa

Jessica Taylor / UK PARLIAMENT / AFP

3 7

Der letzte Vorhang

GROSSBRITANNIEN Er wollte Churchill sein, aber womöglich reicht es nicht mal für die Geschichtsbücher:
Am Ende erlebten die Briten noch einmal ein Worst-of ihres Premierministers Boris Johnson.
Dann war es vorbei. Nach sechs Jahren Ausnahmezustand schließt sich ein Kreis. Von Jörg Schindler
10 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022

m Oktober 2003, als die politische
I Karriere des Journalisten Alexander
Boris de Pfeffel Johnson gerade Fahrt
aufnahm, wurde er in einem Inter-
view gefragt, was für ihn ein Rück-
trittsgrund wäre. »Ich bin ja eher
Optimist«, antwortete Johnson, »an einen
Rücktritt verschwende ich daher keinen Ge-
danken.« Es möge »ehrenwerte Leute« geben,
die gingen, wenn ihre Zeit gekommen sei.
»Aber ich neige dazu, Wege zu finden, die
Dinge mit Klebeband zusammenzuhalten und
irgendwie durchzukommen.« Knapp 19 Jah-
re später, am späten Mittwochabend dieser
Woche, saß Boris Johnson in 10 Downing
Street – zu diesem Zeitpunkt erstaunlicher-
weise noch immer sein Amtssitz – und hielt
verzweifelt Ausschau nach einer Großrolle
Tesafilm. Dass er die Dinge noch einmal wür-
de kitten können, glaubte in dieser Nacht nie-
mand mehr. Außer ihm selbst. Er hatte sich
an die Macht geklebt.
Aus der Londoner Regierungszentrale, die
nun tatsächlich wirkte wie ein schmucker
Bunker mit glänzend schwarzer Tür, drangen
wirre, fast schon wahnhafte Botschaften sei-
nes Insassen nach draußen. Er, Johnson, habe
ein Mandat von 14 Millionen Menschen, die
TITEL
Peter Nicholls / REUTERS
8
für die Tories gestimmt hätten. Nur er könne
seine Konservative Partei bei den nächsten
Wahlen wieder zum Erfolg führen. Ginge
er jetzt, werde Großbritannien im »Chaos«
versinken.
Dabei war es Boris Johnson, der Zeremo-
nienmeister des Chaos, der sein Land in den
Tagen zuvor wieder einmal an den Rand der
Funktionsuntüchtigkeit geführt hatte. Der ein-
fach nicht einsehen wollte, dass seine engsten
Vertrauten, seine Partei, seine Wähler sich
von ihm abgewandt hatten, dass seine Zeit
als Regierungschef nach nicht mal drei Jahren
abgelaufen war. Dass er, der einst »König der
Nr. 28 / 9.7.2022 DER SPIEGEL 11
TITEL
Welt« werden wollte, nur mehr ein blonder
König Ohneland war.
Und so vergingen diese letzten Tage des
Boris Johnson wie viele der gut 1000 Tage
zuvor: haarsträubend, anarchisch, voller Lü-
gen, bizarrer Volten und unglaublicher Wen-
dungen. Ein kondensiertes Worst-of Boris, der
im selbst angezettelten Tumult stets eine – sei-
ne – Chance sah, aber nun keine mehr hatte.
Am Donnerstagmorgen erkannte Johnson
das endlich auch. Er werde noch am selben
Tag zurücktreten, hieß es zunächst aus Dow-
ning Street. Am Mittag dann trat der Premier
selbst mit wehenden Haaren vor die Tür sei-
nes Amtssitzes, um kundzutun, dass er »den
besten Job der Welt« traurigerweise aufgeben
werde, obwohl er diese Forderung seiner Par-
teifreunde angesichts all seiner Erfolge für
einigermaßen »exzentrisch« gehalten habe.
Eigene Fehler oder Versäumnisse brachte
Johnson in der gut sechsminütigen Rede nicht
unter. Stattdessen spottete er: »Unser brillantes
und darwinistisches System wird nun einen
neuen Anführer hervorbringen.« Das kann bis
Herbst dauern. Bis dahin will er mit einem Not-
kabinett, das er über Nacht zusammengeschus-
tert hat, kommissarisch im Amt bleiben.
In London nahmen viele die Ankündigung
mit Entsetzen zur Kenntnis. Dominic Cum-
mings, einst Johnsons Stabschef, nun sein Intim-
feind, twitterte, man müsse den Noch-Premier
sofort vor die Tür setzen, sonst werde dieser
weiter für Tohuwabohu sorgen. So sieht es auch
der Ex-Regierungschef John Major.
Eine Gnadenfrist würde Johnson die
Schmach ersparen, kürzer als die von ihm aus
dem Amt gemobbte Vorgängerin Theresa
May an der Regierungsspitze gestanden zu
haben. Denn dass er sein vorzeitiges Aus vor
allem als persönliche Kränkung empfindet,
daran kann es keinen Zweifel geben.
Johnson war einst angetreten, es seinem
Vorbild Winston Churchill gleichzutun und
britischen Heldenstatus zu erringen. »Wie ein
Mann den Unterschied machte«: So lautete
der Untertitel seiner Churchill-Biografie, die
zugleich das längste politische Bewerbungs-
schreiben der Moderne war. Große Männer
vollbringen im Alleingang große Taten, war
eine seiner Grundthesen. Und er, Johnson,
war so ein Mann. Glaubte Johnson.
Anders als Churchill aber fand er in der
Krise nie zur Größe. Die Pandemie war ein
Gegner, dem er trotz einer erfolgreichen Impf-
kampagne nicht gewachsen war. Den Brexit
begriff er ohnehin nie als Krise.
Und als Russland im Februar die Ukraine
überfiel, sah Johnson zwar seine Chance als
eine Art Kriegspremier gekommen und erfüll-
te diese Rolle mit Verve. Aber da war es bereits
zu spät, um das daheim drohende Unheil noch
abwenden zu können. Am Ende stolperte die
promiske Frohnatur über einen wilden Cocktail
aus illegalen Partys, Lügen und Sex.
Für die Geschichtsbücher wird das womög-
lich nicht reichen.
Den Anfang vom Ende hatten am Diens-
tagabend zwei bis dahin ultraloyale Weg-
12 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022
gefährten Johnsons eingeläutet: Gesundheits-
minister Sajid Javid und Schatzkanzler Rishi
Sunak, ein Darling der Konservativen, der
gute Chancen hat, nun selbst auf dem Chef-
sessel zu landen. Binnen neun Minuten ver-
öffentlichten die beiden Kabinettsschwer-
gewichte ihre Rücktrittsschreiben, in denen
sie implizit erklärten, dass sie unter diesem
Anführer nicht weitermachen könnten, ohne
den letzten Rest ihrer Integrität aufgeben zu
müssen.
Anlass dieser offenbar koordinierten
Doppeldemission war der Fall Chris Pincher.
Der Tory-Abgeordnete hatte Ende Juni im
Londoner Carlton Club im Suff zwei junge
Männer begrapscht und war daraufhin als
»Whip« zurückgetreten, als einer jener par-
lamentarischen Einpeitscher, die in der kon-
servativen Fraktion für Anstand und Disziplin
sorgen sollen.
Die Causa Pincher war ein weiterer un-
appetitlicher Fall im nicht enden wollenden
»Pestminister«-Skandal um sexuelle Über-
griffe, der vor allem die Konservativen seit
Monaten in Atem hält. Zwei ihrer ehemaligen
Abgeordneten sind wegen sexuellen Miss-
brauchs gar im Gefängnis gelandet.
Es war ein offenes Geheimnis in Westmins-
ter, dass Pincher – der allen Ernstes eine regel-
mäßige Kolumne namens »On Drink«
schreibt – im Rausch zu sexuellen Fehltritten
neigt. Die Frage war daher: Wieso hatte John-
son ihn im Februar trotzdem zum Whip ge-
macht? Weil er ihn belohnen wollte? Der Pre-
mier hatte sich auf treu Ergebene wie Pincher
verlassen können, als er selbst Anfang des
Jahres wegen der Affäre um Corona-Lock-
down-Partys in die Bredouille gekommen war.
Wie immer in brenzligen Situationen setzte
Johnson auch diesmal auf seine bewährte Tak-
tik: ablenken, abwiegeln, abstreiten. Er habe
Eine Frage des Vertrauens
Misstrauensvoten der Tory-Fraktion
gegen Premiers (PM) der eigenen Partei,
Angaben in Prozent
für PM gegen PM Enthaltungen
Boris Johnson, Juni 2022*
59
41
Theresa May, Dezember 2018*
63
37
May tritt nach sechs Monaten zurück.
Margaret Thatcher, November 1990**
55
41
4 halten, wurde die schwindende Strahlkraft
Thatcher tritt innerhalb von Tagen zurück.
* parteiinternes Misstrauensvotum; einfache Mehrheit nötig
** Abstimmung über Parteivorsitz; min. 50% Zustimmung
und 15% Vorsprung zum Zweitplatzierten nötig
S Grafik
◆
von Pinchers Problemen nichts gewusst, ließ
er mitteilen. Als sich das nicht länger halten
ließ, räumte er ein, von Gerüchten, nicht aber
von »spezifischen« Vorfällen gehört zu haben.
Als ein ehemaliger Spitzenbeamter aus
dem Außenministerium in einem hochgradig
ungewöhnlichen offenen Brief selbst das als
Lüge entlarvte, teilte Johnson mit, er habe
die Unterrichtung aus dem Jahr 2019 schlicht
»vergessen«, bevor er sich schließlich am
Dienstag im Unterhaus für den »Fehler« ent-
schuldigte.
Auf der nach oben offenen johnsonschen
Skandalskala war das nicht einmal ein mittel-
schwerer Fall. Einer jener Art, an die sich das
Land seit der von Lügen durchwobenen Bre-
xit-Kampagne im Jahr 2016 gewöhnt hat.
Johnson hatte ja nie einen Hehl daraus ge-
macht, dass er Regeln, Anstand, Konventio-
nen für eher lästiges Beiwerk einer großen
Karriere hält, in der beim Hobeln nun mal
Späne fallen. Seine außerehelichen Eskapa-
den hatte er stets auf offener Bühne ausgelebt,
seine Fehltritte als Journalist und Politiker in
Indizien für seine Volksnähe umgedichtet.
Man hat es ihm, dem Charmeur, immer
verziehen, auch weil es oft urkomisch war,
ihm beim aaligen Herauswinden aus selbst
gestellten Fallen zuzuschauen.
Als er im Juli 2019 zum Regierungschef
aufstieg, gaben in Umfragen gerade mal
13 Prozent der Wählerinnen und Wähler an,
dass sie von Johnson ein gebrauchtes Auto kau-
fen würden; mehr als die Hälfte bezeichneten
den neuen Mann ganz oben als unmoralisch.
Gewählt wurde er ein knappes halbes Jahr spä-
ter trotzdem, mit einer absoluten Mehrheit und
sagenhaften 80 Parlamentssitzen Vorsprung.
Johnson durfte daher davon ausgehen, dass
ein Pincher noch keinen Untergang bedeutet.
Er rechnete offenbar nicht damit, dass sich in
seiner Partei, die ihm einst zu Füßen lag, der
Wind ganz fundamental gedreht hatte. Die
noch immer schwelende »Partygate«-Affäre
und die Tatsache, dass der Chef der konser-
vativen Law-and-Order-Partei als erster am-
tierender Premier der britischen Geschichte
des Gesetzesbruchs überführt worden war,
liegen vielen Tories schwer im Magen.
Nur mühsam hatte Johnson deshalb im
Juni ein Misstrauensvotum seiner Partei über-
standen. Anschließend verloren die Konser-
vativen krachend Nachwahlen in zwei eng-
lischen Wahlkreisen. Der Nimbus Johnsons
als ewiger Gewinner war dahin.
Die Anzeichen sind schon lange nicht mehr
zu übersehen: Auch die duldsamsten Wähler
schienen allmählich eines Mannes überdrüs-
sig, der lieber schwadroniert als regiert, sich
zunehmend in seinem Lügenkosmos verirrt
und für Fehler stets anderen die Schuld gibt.
Für die Mitglieder seines Kabinetts, von
denen sich ja etliche selbst für premiertauglich
des Chefs damit von Tag zu Tag zu einem
größeren Problem. Die Ministerinnen und
Minister – von Johnson weniger nach Kom-
petenzkriterien als nach Loyalität und Brexit-

Standfestigkeit ausgewählt – hatten
all seine Eskapaden, Vertrags- und
Gesetzesbrüche, Flunkereien und
faustdicken Lügen über Jahre hinge-
nommen oder goutiert. Sie waren
seine Komplizen.
Aber mehr und mehr begann den
Klügeren unter ihnen wohl zu däm-
mern, dass sie rechtzeitig Abstand
zwischen sich und den sinkenden
Tory-Star bringen müssen, wenn sie
ihre eigenen Karrierechancen nicht
vollends gefährden wollen.
Der Fall Pincher bot die Gelegen-
heit dazu.
Also setzten sich Gesundheitsmi-
nister Javid und Schatzkanzler Sunak
am Dienstagabend mit maximalem
Getöse von Johnson ab. Tags darauf
legte Javid, der einst bereits als John-
sons Finanzminister zurückgetreten
war, im Unterhaus mit einer »persön-
lichen Erklärung« nach.
Er sei eigentlich kein Hinschmei-
ßer, so der Tory, aber »genug ist ge-
nug«. Immer wieder habe Johnson
ihm und dem Land versprochen, nach
Skandalen den Reset-Knopf der Re-
gierungsmaschine zu drücken, nichts
sei passiert. Es sei daher nicht mehr
zu verleugnen, dass der Obermaschi-
nist in Downing Street »fundamental
falsch« agiere. An seine neben John-
son gequetschten Ex-Kollegen auf der
Regierungsbank richtete Javid
schließlich die Mahnung: »Nichts zu
tun ist eine aktive Entscheidung.«
Und spätestens damit trat der Ex-
Borisianer jene Lawine los, die John-
son schließlich überrollen sollte.
Im Lauf des Mittwochs schmissen
Johnsons Getreue beinahe im Zehn-
minutentakt hin. 48 Minister, Staats-
sekretäre und andere Regierungsmit-
arbeiter traten bis zum späten Abend
zurück. Die Funktionsfähigkeit der
Regierung war nicht länger garantiert.
Das Königreich erlebe offenbar erst-
mals einen Fall, »in dem das sinkende
Schiff die Ratte verlässt«, höhnte
Labourchef Keir Starmer.
Jedem wurde in diesen Stunden
klar, dass das Ende der Fahnenstange
erreicht war. Außer Johnson. Der spa-
zierte am Nachmittag äußerlich unge-
rührt ins Liaison-Komitee, in dem fast
alle Ausschussvorsitzenden des briti-
schen Parlaments versammelt sind.
Was folgte, war ein irrwitziger zwei-
stündiger Dialog, der das Zeug dazu
hat, neben den besten Sketchen Mon-
ty Pythons in Britanniens große Hu-
mor- und Satiregeschichte einzugehen.
Auf die Frage, wie seine Woche so
laufe, antwortete Johnson: »terrific«,
auf Deutsch: fantastisch – oder auch
umwerfend. Um hernach über all die
großartigen Dinge zu berichten, die
Oh, Boris!
Beliebtheit von Boris Johnson als Premierminister
Zustimmung Ablehnung
70 %
Beginn der
Coronapandemie
60 %
50 %
40 %
Großbritannien
tritt aus der
30 % EU aus.
Skandal um Lockdown-Reise
20 % von Johnsons Chefberater
Dominic Cummings
10 %
0%
Juli Januar
2019 2020
S Quelle: Politico; Mittelwert verschiedener Umfragen; * laut dem Bericht eines Unterhausausschusses
◆
er tun werde, wenn man ihn nur end-
lich ließe und »nicht immer vom The-
ma ablenken« würde. Gegen kurz vor
fünf unterrichtete dann einer der Ab-
geordneten Johnson vor laufender
Kamera über eine BBC-Meldung,
wonach ihn eine hochrangige Minis-
terriege in Downing Street erwarte,
um ihn zum Rücktritt zu zwingen.
»Was Sie nicht sagen«, antwortete
Johnson, der einmal mehr betonte,
dass er selbstverständlich weiter-
regieren werde.
In 10 Downing Street hatte sich zu
diesem Zeitpunkt tatsächlich eine il-
lustre Riege Regierender eingefunden,
nicht nur Johnson-Abtrünnige, son-
dern auch unbeirrbare Gefolgsleute
wie Kulturministerin Nadine Dorries.
Im Lauf des Abends empfing John-
son sie dem Vernehmen nach einzeln
und musste feststellen, dass selbst die
Treuesten der Treuen ihn aufgegeben
hatten. Innenministerin Priti Patel
war darunter, die Johnson nach be-
wiesenen Schikanevorwürfen gegen
Untergebene vor dem Rauswurf be-
wahrt hatte; der ergebene Politknecht
und Verkehrsminister Grant Shapps,
der Johnson in der »Partygate«-Affä-
re mehr als einmal rausgehauen hatte;
und sogar Nadhim Zahawi, den John-
son erst tags zuvor zum neuen Schatz-
kanzler ernannt hatte.
Unterdessen stellte das einfluss-
reiche 1922-Komitee, in dem sich die
Tory-Hinterbänkler organisiert ha-
TITEL
Johnson wird wegen
Lockdown-Partys mit
Bußgeld belegt.
Johnson erkrankt »Partygate«-Skandal
an Covid-19.
Johnsons Vertrauter
Chris Pincher tritt zurück,
weil er betrunken zwei
Männer begrapscht
haben soll.
Der Abgeordnete
Owen Paterson verstößt
gegen Lobbyregeln.*
Johnson versucht,
Paterson
die empfohlene
tritt zurück.
Suspendierung
auszusetzen. Russischer Angriff auf die Ukraine
Johnson übersteht das Misstrauensvotum.
Johnson tritt am 7. Juli als Parteivorsitzender der Tories zurück.
Juli Januar Juli Januar Juli
2021 2022
ben, hurtig die Weichen, um bereits
in der kommenden Woche die gängi-
gen Parteiregeln ändern und danach
umgehend ein weiteres Misstrauens-
votum gegen Johnson einleiten zu
können.
Auch Graham Brady, Chef des Ko-
mitees, tauchte schließlich in Downing
Street auf, um, wie es britisch vornehm
heißt, dem eingebunkerten Regie-
rungschef »weisen Rat« zu erteilen.
Das hatte er 2019 schon im Fall There-
sa Mays getan, die daraufhin umge-
hend unter Tränen zurückgetreten war.
Aber Johnson ist nicht May. Und
so kämpfte er wie der verstümmelte
Duellant in Monty Pythons »Ritter
der Kokosnuss« unverdrossen weiter.
Er werde auch weitere Misstrauens-
voten bestreiten und gewinnen, ließ
er einen seiner wenigen verbliebenen
Vasallen kundtun. In Londons politi-
schen Zirkeln wurde darüber speku-
liert, Johnson könnte am Ende gar
»die nukleare Option« wählen und
Neuwahlen in die Wege leiten.
Da er dafür formal die Zustim-
mung der Queen benötigt hätte, stand
für ein paar Stunden die Möglichkeit
Scherl / SZ Photo
im Raum, dass der Premier um des
Machterhalts willen das 96-jährige
Staatsoberhaupt mit in den politi-
schen Strudel reißen könnte.
Vorbild Churchill Alles besser als zurückzutreten?
1932: Große Männer
vollbringen im
Die Londoner »Times« zitierte einen
Alleingang große Boris-Gewährsmann, der Einblicke
Taten in das Seelenleben seines am Ab-
Nr. 28 / 9.7.2022 DER SPIEGEL 13
TITEL
Zurückgetretener
Johnson nach
seiner Rede
grund stehenden Chefs gewährte: »Er denkt
in klassischen Kategorien. Es ist wie eine Sze-
ne in der Serie ›Rome‹, als die Schlacht von
Philippi verloren ist, Brutus seine Rüstung
ablegt und in die Reihen der gegnerischen
Armee läuft. Wenn du schon sterben musst,
tu es aufrecht kämpfend.«
Nach einer kurzen Nacht und weiteren
Ministerrücktritten kam Boris Johnson doch
noch rechtzeitig zur Besinnung. Mit seinem
viel zu späten Rücktritt tat der Mann, der eine
Ära prägen wollte und wohl eine Episode blei-
ben wird, seinem Land einen Gefallen und
wendete eine mögliche Verfassungskrise im
letzten Moment ab.
Erstmals seit 2016 bietet sich in Großbri-
tannien damit die Möglichkeit, den politischen
Ausnahmezustand, der zum zermürbenden
Dauerzustand geworden ist, zu beenden. Kein
anderer hat diese sechs wilden Jahre, in denen
das Vereinigte Königreich seinen Ruf als Mus-
terdemokratie fahrlässig aufs Spiel setzte, der-
art geprägt wie Boris Johnson.
Er war es, der vor dem Referendum über
den EU-Austritt aus durchsichtigen per-
sönlichen Motiven seinem damaligen Partei-
und Regierungschef David Cameron in den
Rücken fiel und so das denkbar knappe Votum
maßgeblich zugunsten der EU-Verächter be-
einflusste.
Er wäre vermutlich damals schon Premier
geworden, hätte ihn sein wendiger Weggefähr-
te Michael Gove – der sich auch dieser Tage
wieder beizeiten von ihm abwandte – nicht hän-
gen lassen. Mit der Begründung, dass Johnson
für das Amt des Regierungschefs ungeeignet sei.
Seinerzeit musste Johnson Theresa May
den Vortritt lassen. Und tat fortan, als Außen-
minister und Hinterbänkler, alles dafür, ihre
Position zu schwächen. Während May sich in
den Austrittsverhandlungen mit Brüssel auf-
rieb, schlug sich Johnson auf die Seite der
rechten EU-Hasser in seiner Partei, denen nur
der härtestmögliche Bruch mit dem Staaten-
bund akzeptabel schien. Mit ihrer Hilfe dräng-
te er May 2019 aus dem Amt.
14 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022
Frank Augstein / AP
Und weil er bei den kompromisslosen Bre-
xiteers im Wort stand, schasste er als Premier
in der Folge auch etliche moderate Abgeord-
nete. Übrig blieb eine weit nach rechts ge-
rückte Partei, mit einem Vorsitzenden, dem
jedes Mittel recht schien, um seine Politik- und
Brexit-Vorstellungen durchzuboxen.
Schon einmal, im Herbst 2019, brachte er
sein Land damit an den Rand einer Verfas-
sungskrise. Er schickte das Parlament – illegal,
wie der Supreme Court befand – in eine
Zwangspause, belog dafür offenbar die
Queen, drohte der EU mit dem Bruch eines
völkerrechtlich verbindlichen Vertrags und
kam am Ende auch noch damit durch.
Schließlich, in einer scheinbar ausweglosen
Situation, gelang es ihm sogar, das Patt im
Parlament zu beenden und Neuwahlen aus-
zurufen, um hernach, frei von Bedenkenträ-
gern, durchregieren zu können.
Diese Wahlen im Dezember 2019 waren
Boris Johnsons Meisterwerk. Nach neun Jah-
ren Tory-geführter Regierungen gelang es
dem brillanten Rhetoriker, die Konservativen
als rechtspopulistische Kraft scheinbar neu
zu erfinden. Raider hieß nun Twix. Und mit
dem Slogan »Get Brexit Done« schmiedete
der Menschenfänger mit der Lausbubenmäh-
ne seine ganz persönliche Koalition mit zwei
grundverschiedenen Wählergruppen.
Hier die überdurchschnittlich alten und
überdurchschnittlich reichen Tory-Stammwäh-
ler im Süden Englands, die den klassisch ge-
bildeten Eton- und Oxfordzögling zwar merk-
würdig, aber als einen der Ihren empfanden.
Dort die sich abstrampelnden Menschen in
den einstigen Industrieregionen des Nordens,
denen der Gestaltwandler Johnson weisma-
chen konnte, in Wirklichkeit ein Arbeiterfüh-
rer zu sein, der die verlotterten Städte wieder
erstrahlen lassen werde, wenn das Königreich
endlich vom Brüsseler Joch befreit sei.
So erzielte Johnson – und er persönlich
war es, den die Menschen wählten – eine
Mehrheit wie schon lange kein Premierminis-
ter vor ihm. Was genau er mit diesem beein-
druckenden Mandat anfangen wollte, blieb
bis zum Ende vage und unausgegoren. Und
das lag nicht nur an der Pandemie, die weite
Teile des Landes von Anfang 2020 an lahm-
legte. Es lag vor allem an Johnson selbst, der
sein Leben immer schon als Wettkampf be-
griffen hatte, dessen vordringlicher – und ein-
ziger – Zweck darin besteht, besser, schneller,
wichtiger zu sein als andere. Und das idealer-
weise möglichst anstrengungslos.
Schon 1982 schrieb der Lehrer des damals
18-Jährigen in einem Brief an dessen Vater:
»Boris ist ziemlich beeindruckend, wenn Er-
folge mit purer Intelligenz und ohne harte
Arbeit erzielbar sind.« Er tendiere dazu an-
zunehmen, »dass ihm Erfolg und Ruhm in
den Schoß fallen werden«.
Der Autor Harry Eyres, wie Johnson einst
King’s Scholar im Eliteinternat Eton, be-
schrieb seinen ehemaligen Mitschüler im
»New Statesman« als jemanden, der immer
unbedingt gewinnen wolle, »sei es mit fairen
oder unfairen Methoden«. »Der Preis, den
andere dafür zahlen müssen, ist beträchtlich«,
so Eyres weiter. Er frage sich, ob Johnson je
darüber nachgedacht habe, »wofür Gewinnen
gut ist und warum er so süchtig danach ist«.
Innenpolitisch jedenfalls gelang Johnson
in den zweieinhalb Jahren seit seinem Wahl-
sieg kein großer Wurf mehr, sieht man von
der erfolgreichen Corona-Impfkampagne ab.
Er hatte, schon wahr, den Brexit formal »ge-
wuppt«, wie er nicht müde wurde zu betonen.
Anfang 2021 war sein Land endgültig raus aus
der EU. Das Königreich ist seither kein Mit-
glied mehr. Nur was es stattdessen sein will?
Johnsons Antworten dazu blieben kryp-
tisch. Als er zuletzt seine Brexit-Erfolge auf-
zählte, fanden sich darunter politische Groß-
taten wie die Aufhebung der Mehrwertsteuer
auf Tampons, die Rückkehr der Königskrone
auf britische Pint-Gläser und die Ankündi-
gung, dass britische Einzelhändler künftig
wieder in Imperialmaßen wie Unzen und Zoll
rechnen können. Ein »Ministerium für Brexit-
Chancen« gibt es inzwischen auch.
Zugleich, und mit dem Rückgang der Pan-
demie, begannen jedoch die wirtschaftlichen
und politischen Folgen des Brexits immer
sichtbarer zu werden. In Schottland, das mit
deutlicher Mehrheit gegen den EU-Austritt
gestimmt hatte, hat die Unabhängigkeitsbe-
wegung gerade wieder Aufwind. Dort werden
viele Johnsons Abgang bedauern. So verhasst
er in weiten Teilen des Landes auch war, so
konsequent trieb er den Sezessionisten Unter-
stützer zu.
Der Streit um den Sonderstatus Nordir-
lands, das faktisch im EU-Binnenmarkt ver-
blieben ist, paralysiert seit Monaten die dor-
tige Politik, was den heiklen Frieden in der
einstigen Unruheprovinz gefährdet. Und die
Städte in Nordengland, denen Johnson »die
größte Infrastrukturrevolution seit viktoria-
nischen Zeiten versprach«, sind größtenteils
noch immer so trist und abgehängt, wie sie
es zu EU-Zeiten waren. Nichts spricht dafür,
dass sich das bald ändert.

Denn die wirtschaftliche Lage ist prekär.
Nach Berechnung des Office of Budget Respon-
sibility frisst der Brexit mittelfristig vier Prozent
des Bruttoinlandsprodukts auf; die »Financial
Times« spricht von 40 Milliarden Pfund, die
den Steuerbehörden dadurch jährlich entgehen.
Kein anderes G7-Land erholt sich langsamer
von den Pandemiefolgen als das Vereinigte Kö-
nigreich. Die Inflationsrate stieg kürzlich auf
das 40-Jahres-Hoch von 9,1 Prozent, im Herbst
erwarten Experten sogar 11 Prozent.
Verheerender als all das war am Ende indes
»Partygate«, jene Affäre um etliche nächtliche
Besäufnisse im Zentrum der Macht, während
das Land sich über Monate im Corona-Lock-
down befand und Zusammenkünfte von Ge-
setzes wegen untersagt waren. Der Skandal
hatte im vergangenen Dezember seinen An-
fang genommen, und Johnson, der bei den
Dämmerschoppen mehrfach zugegen war, hat
sich nie davon erholt.
Konnte er auch nicht. Denn »Partygate«
strafte die wichtigste Botschaft Johnsons an
seine Wähler Lügen: dass er – mit all seinen
Schwächen, schlecht sitzenden Anzügen und
wirren Haaren, mit seinem pinocchiohaften
Verhältnis zur Wahrheit und seinem Hang
zum Faulenzertum – einer von ihnen ist. Für
Millionen Briten war »Partygate« der Beweis,
dass Johnson eben doch einer von »denen da
oben« ist. Der schlimmste Fauxpas, den ein
Populist sich leisten kann.
In der Folge sackten die Umfragewerte der
Tories nach unten. Der strahlende Immer-
Gewinner Boris Johnson war keiner mehr.
Deswegen bestand für seine Partei irgend-
wann auch kein Grund mehr, ihm durch dick
und dünn zu folgen.
Nun ist Boris Johnson Geschichte. Er ist,
wenn man so will, nach David Cameron und
Theresa May, das dritte Opfer des Brexits,
den er selbst angezettelt hat. Es schließt sich
ein Kreis.
Gegen die Wand gefahren
Rücktritte von Kabinettsmitgliedern im
Laufe der Amtszeit der letzten britischen
Premiers
Johnson May Cameron
Blair Major Thatcher
40
30
20
10
0 Jahre im Amt
0 1 2 3 4 5 6 7 8 9
S Quelle: Institute for Government
◆
TITEL
Für die Konservative Partei heißt das, sie
könnte das Schlachtfeld der vergangenen sechs
Jahre verlassen und einen Neuanfang zumin-
dest versuchen. Kommende Woche werden
DIE MAGIE
dafür die Weichen gestellt, dann beginnt die
mühsame Suche nach einem Nachfolger. DER
Jede und jeder Tory-Abgeordnete kann
sich auf den Posten bewerben, dann wird die
Parlamentsfraktion in mehreren Wahlrunden
DEUTSCHEN
jeweils einen Bewerber aussortieren, bis am
Ende zwei übrig bleiben. Danach werden
SPRACHE
die Tory-Mitglieder in einem geheimen
Wahlprozess eine oder einen von beiden
zum neuen Partei- und damit Regierungschef
küren.
Das wird Monate dauern, zumal das Be-
werberfeld groß und bunt werden dürfte.
Etliche Kabinettsmitglieder haben bereits an-
gedeutet, dass sie ins Rennen einsteigen wer-
den, auf den Hinterbänken laufen sich ein-
flussreiche Abgeordnete warm, darunter der
Erzbrexiteer Steve Baker und der moderate
Mitte-Mann und EU-Freund Tom Tugendhat.
Eine Gruppe junger Abgeordneter wiederum
hat sich zusammengeschlossen, um zu errei-
chen, dass jemand antritt, der nicht wieder
die Gräben von einst aufreißt.
Wer auch immer es am Ende wird, wird
von Tag eins an alle Hände voll zu tun haben.
Boris Johnson hinterlässt nicht nur ein zer-
strittenes und geschwächtes Land, sondern
auch eine zutiefst verunsicherte und gespal-
tene Partei.
Am Dienstag dieser Woche, kurz bevor
die politische Lawine durch Westminster zu
rollen beginnt, sitzt Tobias Ellwood in einem
fensterlosen Restaurant am Rande des Regie- 208 Seiten, gebunden � 18,00 €
rungsviertels und schnauft. Der Abgeordnete Auch als E-Book erhältlich
aus Bournemouth, ein Ex-Soldat mit ausge-
suchten Manieren, wurde 2005 erstmals ins
britische Unterhaus gewählt. In „Schöner Schreiben“
Er hat den schleichenden Verfall der dor-
tigen Gepflogenheiten, die Erosion parlamen- versammelt SPIEGEL-Redakteur
tarischer Abläufe, mit wachsender Sorge ver- Hauke Goos die besten Texte aus
folgt. Zumal, seit die Euroskeptiker im Parla- seiner gleichnamigen Kolumne:
ment vor zehn Jahren allmählich das Kom-
Jeder einzelne eine Einladung,
mando übernahmen. Und erst recht in den
vergangenen drei Jahren. eine Autorin, einen Autor,
»Wir waren über Jahrhunderte ein demo- ein Werk oder
kratisches Vorbild für die Welt«, sagt Ellwood,
Brown »andere Länder haben unser System kopiert.« eine Schreibschule
Irgendetwas sei dann im Königreich aus dem kennenzulernen und den Zauber
Ruder gelaufen, »und je mehr bei uns falsch der deutschen Sprache
läuft, desto leichter ist es für Länder wie
China und Russland zu sagen: Hört auf, uns immer wieder
zu belehren.« neu zu entdecken.
Mit Johnsons Abgang sei erstmals seit Lan-
gem die Gelegenheit da, Schiefes wieder ge-
radezurücken. »Irgendwo muss es demokra-
tische Ankerpunkte geben«, glaubt Ellwood,
der hofft, dass sein Land nun endlich wieder
zusammenwachsen kann.
Nach der entsetzlich langen Chaosphase
sei aber auch klar, dass das Zeit brauchen wird.
Alles steht und fällt zunächst mit der Fra-
ge, ob Ellwoods Partei nach drei Jahren unter
10 11 einem ausgebufften Entertainer wieder bereit
ist für einen ernsthaften Politiker. n
Nr. 28 / 9.7.2022 DER SPIEGEL 15
www.dva.de
TITEL
»Seine Memoiren dürften
spektakulär werden«
KONSERVATIVE Politikwissenschaftler Tim Bale spricht über das desaströse
Vermächtnis von Boris Johnson – und über die Gründe seines Scheiterns.
Bale, 56, lehrt an der Queen Mary
University of London und forscht zur
Parteipolitik Großbritanniens und
Europas, insbesondere zur Konser-
vativen Partei.
SPIEGEL: Herr Professor Bale, erleben
wir wirklich gerade das Ende von
Boris Johnson?
Bale: Natürlich ist es nicht sein Ende.
Es ist das Ende seiner Karriere als
Premierminister. Er wird weiterma-
chen: ein Vermögen als Redner ver-
dienen, als Journalist publizieren,
und natürlich wird er seine Memoiren
schreiben. Die werden vermutlich
ziemlich spektakulär, wenn man die
vergangenen Tage bedenkt.
SPIEGEL: Noch in der Nacht auf Don-
nerstag schien es, als wollte er nicht
zurücktreten.
Bale: Ich habe die Ereignisse mit
wachsender Ungläubigkeit verfolgt.
Am Abend dachte ich, der Druck auf
Boris Johnson sei so groß, dass er
16 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022
zugeben müsse: Das Spiel ist aus.
Dass er am Morgen noch immer auf
seinem Posten saß, traf mich wie ein
Blitzschlag. Johnson ist ein Narzisst
und ein Populist. Er glaubte, das Man-
dat, das den Tories bei der Wahl 2019
gegeben wurde, sei ein persönliches
Mandat. Er sah sich selbst eher als
Präsident denn als Premierminister,
wie er in der parlamentarischen De-
mokratie Großbritanniens verstan-
den wird.
SPIEGEL: Fürchteten Sie einen Mo-
ment wie bei Donald Trump, der den
Wahlsieg seines Konkurrenten Joe
Biden nicht anerkennen wollte?
Bale: Vergleichen zwischen Trump und
Johnson habe ich immer skeptisch
gegenübergestanden. Natürlich gibt
es Ähnlichkeiten zwischen den beiden
Männern: ihren Narzissmus, ihren
Populismus. Manche würden sagen,
sie haben beide soziopathische Ten-
denzen. Aber ich habe nie geglaubt,
dass Johnson einen gewalttätigen
Mob aufpeitschen würde, nur um an
der Macht zu bleiben. Seine Mittel
sind friedlicher, aber manipulativer.
Eher versucht er, seine Kollegen ein-
zuschüchtern, um seinen Job zu be-
halten.
SPIEGEL: Das hat anscheinend nicht
geklappt. Nach anfänglichem Wider-
stand hat Johnson am Donnerstag
seinen Rücktritt als Parteichef ver-
kündet.
Bale: Selbst die designierten Nach-
folger jener Minister, die aus Protest
gegen ihn zurückgetreten waren, kün-
digten an, zurücktreten zu wollen,
falls er das nicht tue. Boris Johnson
stand also ohne vollständiges Kabi-
nett da und hätte große Schwierig-
keiten gehabt, es glaubwürdig zu be-
setzen. Zudem wurde ihm wohl klar-
Jessica Taylor / UK Parliament / AP / dpa
gemacht, dass ihm nächste Woche in
der Partei das Vertrauen entzogen
werden würde, dass er krachend ver-
lieren würde. Er trat also zurück, um
eine vollständige Demütigung zu ver-
Premier Johnson hindern.
im Parlament am SPIEGEL: Teure Tapeten, Partys im
Mittwoch Lockdown und Pornos im Parla-
ment – es gab viele Skandale in John-
sons Amtszeit. Nun eskalierte die
Lage, weil herauskam, dass er den
Abgeordneten Chris Pincher beför-
dert hatte, obwohl ihm die gegen Pin-
cher erhobenen Vorwürfe wegen se-
xueller Belästigung bekannt waren.
Warum gab das den Ausschlag?
Bale: Die Unzufriedenheit unter sei-
nen Kollegen wuchs schon seit langer
Zeit. Der Pincher-Vorfall ist nur der
Tropfen, der das Fass zum Überlaufen
gebracht hat. Sexuelles Fehlverhalten
wird von den konservativen Abge-
ordneten deutlich ernster genommen
als Partys im Lockdown. Zudem gab
es einen altgedienten Beamten, der
offiziell bestätigen konnte, dass John-
son gelogen hatte. Machtpolitik spielt
ebenfalls eine Rolle. Gewiss sind
Schatzkanzler Rishi Sunak und Ge-
sundheitsminister Sajid Javid auch
zurückgetreten, weil das Verhalten
des Premierministers sie abgestoßen
hat. Aber außerdem wollten sie sich
bestimmt auch für den anstehenden
Machtkampf positionieren.
SPIEGEL: Es scheint, als wäre Johnson
letztlich über seine eigenen Metho-
den gestürzt.
Bale: Es sind oft die Charakterfehler
eines Menschen, die zugleich seine
Anziehung ausmachen. Johnsons Be-
Gar y Schwar tz
reitschaft, zu tun und zu sagen, was
andere Politiker nicht tun oder sagen
wollten, war eine seiner Stärken.
Tory-Experte Bale: Aber nur so lange, wie die Menschen
»Er trat zurück,
um eine vollständige
in Großbritannien um den Brexit ran-
Demütigung gen. Dieselben Eigenschaften haben
zu verhindern« sich nun gerächt: sein Unwille, sich

an Konventionen zu halten, und sein proble-
matisches Verhältnis zur Wahrheit.
SPIEGEL: Wie unterscheidet sich Johnson von
früheren konservativen Premierministern?
Bale: Es hat noch nie einen Premierminister
gegeben, der versucht hat, eine solche Krise
in der Downing Street einfach auszusitzen.
Und er agiert auch sonst untypisch. Tory-An-
führer haben in der Regel eine kohärente Sicht
auf die Welt, egal ob sie nun zentristisch oder
thatcheristisch ist. Ich glaube nicht, dass Bo-
ris Johnson auch nur einen ideologischen
Knochen in seinem Körper hat. Wie die meis-
ten Konservativen ist er natürlich für niedri-
ge Steuern, einen schlanken Staat und weni-
ger öffentliche Ausgaben. Aber wenn er gegen
seine eigenen Prinzipien verstoßen musste,
um an der Macht zu bleiben, dann tat er das.
Deshalb kannte die Regierung auch keine
Richtung, sprang herum wie der Ball in einer
Flippermaschine. Sie konnte nur auf Krisen
reagieren, statt eine eigene Agenda zu ver-
folgen.
SPIEGEL: Welcher politische Stil hat die Ära
Johnson geprägt?
Bale: Mit Johnson sind wir in eine Zeit ein-
getreten, in der Authentizität als eine der
wichtigsten Eigenschaften eines Anführers
gilt. Konventionen und Normen haben da-
gegen weniger Bedeutung. Weil Großbritan-
nien keine niedergeschriebene Verfassung
hat, sind unsere Regeln und Werte besonders
wichtig. Wir müssen uns fragen, wie lange wir
ein Land noch ohne Verfassung führen sollten,
wenn wir uns nicht darauf verlassen können,
dass sich die Mächtigen an die informellen
Regeln halten.
SPIEGEL: Welchen Schaden hat Johnson seiner
Partei, den Tories, zugefügt?
Bale: Viele hoffen, dass die Wähler zwischen
Johnson und der Partei unterscheiden kön-
nen. Ich weiß nicht, ob sich das bewahrheitet.
Die Abgeordneten sahen unglaublich schwach
aus in ihrer Unfähigkeit, Johnson zum Gehen
zu bewegen. Schwäche will die Öffentlichkeit
nicht sehen bei einer Regierungspartei. Trotz-
dem gibt es Hoffnung für die Tories: Sie haben
noch immer eine starke Mehrheit im Parla-
ment und ein paar Jahre bis zu den nächsten
Wahlen. Wenn man die Geschichte der Partei
betrachtet, sieht man eine unglaublich wand-
lungsfähige Institution. Sie waren stets eine
Organisation, die sich extrem verändern
kann, um ihre Beliebtheit zu wahren – selbst
in der größten Krise.
SPIEGEL: War Johnsons Zeit als Premiermi-
nister Symptom oder Ursache einer Krise der
Partei?
Bale: Ich glaube, beides. Die britische Politik
richtete sich zuletzt immer stärker auf den
Anführer aus als auf die Partei oder die Mi-
nister. Weil die Verbindung zwischen Bevöl-
kerung und Politik verloren geht, werden die
Menschen zudem anfälliger für populistische
Anführer, die behaupten, das Volk werde von
der Elite betrogen. Talentierte Demagogen
wie Boris Johnson, Donald Trump oder Viktor
Orbán wissen dies für sich zu nutzen.
TITEL
SPIEGEL: Ist jetzt, nach zwölf Jahren in der
Opposition, die Zeit für die Labourpartei ge-
kommen?
Bale: Wenn die regierende Partei ins Chaos
stürzt und das Land nicht mehr führen kann,
hilft das immer der Opposition. Unter Partei-
chef Keir Starmer konnte Labour einiges von
dem Schaden reparieren, den sein Vorgänger
Jeremy Corbyn der Partei zugefügt hatte.
Starmer müsste allerdings eine glaubhafte
Vision für einen Weg aus der Krise aufzeigen
können. Ich bin nicht sicher, ob er dafür der
Richtige ist. Er ist womöglich nicht charisma-
tisch oder inspirierend genug.
SPIEGEL: Inflation, Ukrainekrieg, Brexit-
Chaos – was bedeutet es für das Land in
einer Zeit der Krisen, den Premierminister
zu wechseln?
Bale: Ich glaube nicht, dass sich an der Politik
zunächst viel ändern wird. In der Außenpoli-
tik wird sich Großbritannien weiter auf die
Unterstützung der Ukraine konzentrieren.
Was die wirtschaftlichen Probleme angeht,
werden sich die möglichen Nachfolger wahr-
scheinlich als beständige Thatcherianer
präsentieren: Es wird viel Gerede darüber
geben, dass Steuern gesenkt und öffentliche
Ausgaben gekürzt werden. Ob das eine gute
Strategie ist, während die Menschen sich we-
gen der Inflation sorgen, darüber lässt sich
streiten.
SPIEGEL: Johnson galt stets als Brexit-Hard-
liner. Könnte sich das Verhältnis zur EU unter
einem anderen Premier verbessern?
Bale: Eine rationalere oder pragmatischere
Einstellung zur Europäischen Union halte ich
auch unter Johnsons Nachfolger für unmög-
lich. Ein Brexit-Hardliner zu sein ist zyni-
scherweise die Voraussetzung, um die Kon-
servativen überhaupt anführen zu können.
Ich erwarte bei seinem Nachfolger die gleiche
Kombination aus Täuschen und Toben wie
bei Johnson. Es besteht höchstens die Mög-
lichkeit, dass jemand sich während des
Kampfs um den Posten zwar so darstellt, als
Premierminister aber einen realistischeren
Ansatz gegenüber der EU wählt. Wir haben
eine Wirtschaftskrise, und zweifellos schaden
die Reibungen zwischen der EU und Groß-
britannien unserer Wirtschaft.
SPIEGEL: Welches politische Erbe hinterlässt
Johnson?
Bale: Abgesehen vom Chaos? Eine zerrüttete
Beziehung zu allen EU-Partnern. Eine kon-
servative Partei, die nicht mehr weiß, wohin
sie will. Eine Wählerkoalition aus wohlhaben-
den Orten im Süden und weniger wohlhaben-
den Orten im Norden, die die Tories kaum
werden zusammenhalten können – vor allem,
wenn sie künftig eine thatcheristische Politik
verfolgen sollten. Ich hoffe, dass Johnsons
schreckliches Verhalten der vergangenen Tage
dem Land eine Lehre sein wird. Eine War-
nung, was passiert, wenn man jemanden
wählt, der sich wenig um Wahrheit oder Re-
geln schert. Auf lange Sicht hat er uns also
vielleicht gar einen Gefallen getan.
Interview: Muriel Kalisch n
Nr. 28 / 9.7.2022 DER SPIEGEL 17
TITEL
Das Erbe des Clowns
ANALYSE Die Briten haben in Europa Chaos gestiftet, doch bei Krisen wie in
der Ukraine sind sie unverzichtbar. Ein neuer Premier wird
sich dem Kontinent auch aus eigenem Interesse annähern müssen.
roßbritannien hat turbulente
G Jahre hinter sich, und die
schlechte Nachricht lautet:
Auch die Zukunft sieht nicht beson-
ders rosig aus. Die Wirtschaftspro-
gnosen sind düster, das Gesundheits-
system steht vor der Überlastung, im
Herbst soll die Inflation auf mehr als
zehn Prozent steigen, und noch im-
mer weiß niemand, was der »Brexit«
genau bedeutet.
Für Deutschland und die anderen
Europäer stellt sich die Frage, ob das
Königreich als Partner mittelfristig
taugt: Wird die Insel, gebeutelt von
innenpolitischen Krisen und einer
ewigen Europadebatte, nach außen
endgültig unberechenbar?
Johnson ist dafür verantwortlich,
dass das Vertrauen in die britische
Regierung in vielen europäischen
Hauptstädten gegen null geht. Die Be-
ziehungen zwischen Berlin und Lon-
don liegen auf Eis. Für Großbritannien
ist es mehr als ein Imageproblem, dass
die Insel fast drei Jahre lang von einem
Clown zusammen mit Ideologen und
Spinnern regiert wurde – der Ruf des
Landes als pragmatische Mittelmacht
war spätestens mit seinem Amtsantritt
ruiniert. Gut möglich, dass im Élysée
und im Kanzleramt Seufzer der Er-
leichterung zu hören waren, als John-
son seinen Rücktritt ankündigte.
Und doch wird seine Partei weiter
darüber streiten, wie sich das Land
gegenüber dem Rest Europas positio-
nieren soll – denn auch sechs Jahre
nach dem EU-Referendum herrscht
darüber Uneinigkeit. Der Kampf zwi-
schen Ideologen, die alles Europäi-
sche ablehnen, und Moderaten, die
sich dem Kontinent aus wirtschaft-
licher Dringlichkeit nähern wollen,
wird mit Johnsons Abgang nicht en-
den. Der Brexit gefährdet nach wie
vor die innere Stabilität des Landes.
Dazu kommt, dass Schottland ver-
mutlich im kommenden Jahr erneut
über eine Abspaltung vom Rest des
Vereinigten Königreichs abstimmen
wird. Die Gefahr, dass die Nationa-
listen gewinnen und die Schotten sich
18 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022
Ana Brigida / AP
Flugzeugträger für die Unabhängigkeit entscheiden,
»Queen Elizabeth« ist bedeutend größer als beim ersten
Referendum im Jahr 2014.
Außerdem bleibt die Frage, was
der Brexit für Nordirland heißt: So-
wohl London als auch Brüssel wollen
um jeden Preis eine harte Grenze zwi-
schen dem Norden und dem Süden
der irischen Insel vermeiden. Eine
Lösung hat bislang niemand, auch
Im Nachteil weil in der Londoner Downing Street
immer wieder Zusicherungen und
EU-Außenhandel Verträge gebrochen wurden.
mit Großbritannien,
in Mrd. Euro Und doch bleibt Großbritannien
in Europa unersetzlich. Im Baltikum,
Export europäischer in Polen, Tschechien und anderen
Waren nach mittel- und osteuropäischen Ländern
Großbritannien
gilt London im Gegensatz zu Berlin
Import britischer als verlässlicher Partner. Johnsons
Waren in die EU
Auftritte in Kiew und seine aus Ber-
320 liner Sicht immer etwas zu wilden
und großen Gesten gegenüber dem
284
278 ukrainischen Präsidenten Wolodymyr
Selenskyj wurden dort mit Beifall auf-
genommen. Johnsons Kollegen Olaf
194 Scholz, Emmanuel Macron und Ma-
169 rio Draghi kamen einfach zu spät.
146 Seit Jahren bildet das britische
Militär ukrainische Soldaten aus, die
Unterstützung für das Land ist partei-
übergreifend groß. London hat sich
früh und sehr öffentlich gegen Wla-
dimir Putin positioniert.
Und trotzdem werden in der Ukrai-
2019 2020 2021 ne auch die Grenzen des britischen
S Quelle: Eurostat Engagements deutlich. Voriges Jahr
◆
hatte die britische Regierung in einem
lang erwarteten Strategiepapier zur
neuen Außen- und Sicherheitspolitik
einen Schwenk Richtung Pazifik an-
gekündigt: mehr Geld, mehr Schiffe,
mehr Waffen für eine Region, die in
Washington und London als Schau-
platz der kommenden Konfrontation
mit China gesehen wird.
Im Sommer schickte Johnsons Re-
gierung den neuen 65 000-Tonnen-
Flugzeugträger »Queen Elizabeth«
mit mehr als einem Dutzend F35-
Kampfjets, Zerstörern, Fregatten und
einem Atom-U-Boot in Richtung
Indopazifik. Es sollte eine Macht-
demonstration sein und zugleich der
Beweis für Stärke: Das »globale Bri-
tannien« war zurück, so sahen es die
Brexit-Kämpfer, die von imperialer
Bedeutung träumen.
Nun ist der Pazifikschwenk zum
Risiko geworden. Putins Krieg ver-
langt Großbritannien als einer von
zwei europäischen Atommächten viel
ab, britische Schiffe, Soldaten und
Waffen werden auf dem Kontinent
gebraucht. London hat schon ange-
kündigt, das militärische Engagement
im Baltikum zu verstärken, im April
schickte Verteidigungsminister Ben
Wallace Panzer, Artillerie und 8000
Soldaten auf Übungen in die Region;
dazu kommen Waffenlieferungen,
Aufklärungsflüge, nachrichtendienst-
liche Überwachung.
Die Gefahr ist groß, dass sich
Großbritannien zwischen Nordsee,
Atlantik und Pazifik zerreibt – das
Desaster des Irakkriegs von 2003, als
die Regierung von Tony Blair mehr
als 46 000 Soldaten in den Nahen
Osten schickte, wirkt noch immer als
Trauma im kollektiven Gedächtnis.
Inzwischen ist das Königreich ähnlich
kriegs- und interventionsmüde wie
die Vereinigten Staaten.
Für die Europäische Union und
Großbritannien wird es nun darum
gehen, nach Jahren der gegenseitig
zelebrierten Abneigung wieder ver-
stärkt zusammenzuarbeiten. Wenn
das Königreich ernst genommen wer-
den will, wenn es sich außenpolitisch
nicht übernehmen will, muss es mehr
Brücken bauen als einreißen.
Der PR-Slogan von »global Bri-
tain« ist nicht glaubwürdiger dadurch
geworden, dass die Regierung in Lon-
don die Entwicklungshilfe gekürzt
hat, aus dem Erasmus-Austauschpro-
gramm ausgestiegen ist und sogar ver-
sucht hat, Migranten gegen geltendes
Recht nach Ruanda abzuschieben.
Nach dem Ende der Johnson-Ära war-
tet auf britische Diplomaten eine gi-
gantische Aufgabe.
Christoph Scheuermann n
VOGELS KLIMACHECK:
WAS BEDEUTEN 200 ZÜGE MIT PAKETEN
FÜR DIE UMWELT?
„Also: Das sind lockere 10 Millionen Pakete, die per Schiene statt auf der Straße
ĸĶĥIJķĴijĶĸĭĩĶĸ�ĻĩĶĨĩIJ��Ďĥķ�ķĴĥĶĸ�ıĥİ�ĩĦĩIJ��ĦĩĶ�U�VTT�ĞijIJIJĩIJ�čę���ĚĶij�ėijIJĥĸ�
Und wir alle können mithelfen, dass es noch mehr werden: Denn für viele online
frankierte Pakete können wir schon selbst entscheiden, ob sie per Bahn transportiert
werden sollen. Läuft.“

GELB IST GRÜN.

Selber checken auf: VogelCheckt.de
DEUTSCHLAND

Florian Boillot
Einsatz mit Hammer und Meißel: Am Mittwoch versucht ein Polizeibeamter in Berlin, die Hand einer Demonstrantin von der Fahrbahn zu
lösen. Sie gehört zu einer Gruppe von Protestierenden der Bewegung »Letzte Generation«, die ihre Handflächen und Finger mithilfe von Klebstoff
oder einem Sand-Beton-Gemisch auf dem Straßenbelag befestigt haben. Mit der Blockadeaktion wollten die Aktivistinnen und Aktivisten
unter anderem ihrer Forderung nach einem Ölförderstopp in der Nordsee Nachdruck verleihen. Laut Augenzeugen kam es zu teils aggressiven
Reaktionen blockierter Autofahrer. Am Ende wurden alle festgeklebten Protestler von der Fahrbahn entfernt.

Zeitenwende auf dem Marktplatz

REGIERUNG Wegen der Kommunikation rund um den Ukrainekrieg steht Kanzler Scholz in der Kritik.
Nun soll eine ganze Reihe von Bürgerdialogen Abhilfe schaffen.

N ach deutlicher Kritik am Kommunikationsstil von Kanzler

Olaf Scholz (SPD) müht sich die Bundesregierung, die Ende
Februar ausgerufene »Zeitenwende« in der deutschen
Außen- und Sicherheitspolitik besser zu erklären. Ab dem Sommer
soll es eine Reihe von Bürgerdialogen geben, auf denen Politiker
und Experten die Auswirkungen der russischen Invasion in der
Ukraine mit dem Publikum diskutieren. Das Bundespresseamt för-
dert ein entsprechendes Projekt der Münchner Sicherheitskonfe-
renz (MSC) mit einer Million Euro. MSC-Chef Christoph Heusgen
hatte vorgeschlagen, in allen Bundesländern bis Mai 2023 unter
dem Motto »Zeitenwende on tour« gut 30 Town-Hall-Meetings zu
organisieren; unter anderem plant er eine Betriebsversammlung
bei VW, will in große Schulen oder auf den Marktplatz von Baut-
zen. Als Koordinator ist Nico Lange, der engste Vertraute von
Ex-Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, im Ge-
spräch. Außenministerin Annalena Baerbock reist im Sommer
ebenfalls mit dem Bus quer durch die Republik und will mit Bürge-
rinnen und Bürgern über die »Zeitenwende« ins Gespräch kom-
men. Geplant sind auch sogenannte war games, bei denen Bürger
sicherheitspolitische Szenarien konkret durchspielen können. Die
Idee von Bürgerdialogen stammt aus den USA, dort gehören
Town-Hall-Meetings zu jedem Wahlkampf. Zur Hochphase der
Flüchtlingskrise 2015 versuchte bereits die damalige CDU-Kanzle-
rin Angela Merkel, ihre Politik bei Bürgerdialogen besser zu er-
klären. Dabei musste sie jedoch auch feststellen, wie groß der Wi-
derstand gegen sie und ihre Politik war. CSC, MGB

20 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022

Familientreffen für von 1976 bis 2016 jährliche
DER GESUNDE MENSCHENVERSTAND
Winterklausuren abgehalten.
Christdemokraten Das EVP-Treffen würde nach
EUROPAPOLITIK Manfred We- Webers Plänen aber nicht dort, Respektlos
ber (CSU), Fraktionschef der sondern an wechselnden Orten
Europäischen Volkspartei im stattfinden – wo genau, ist noch
Europaparlament, plant eine offen. Die Klausur ist Teil von Von Markus Feldenkirchen habe ermöglicht. Nun sollen
jährliche Klausurtagung der Webers Vorhaben, die EVP zur die »Leistungen zur Einglie-
Partei- und Regierungschefin- Schaltstelle der Europapolitik s kommen härtere Tage. derung in Arbeit« um mehr
nen und -chefs der EVP. Die
erste soll bereits im Herbst statt-
finden. »Es wäre eine Art Wild-
der Christdemokraten zu for-
men. Bislang war deren wich-
tigste Aufgabe, die Treffen ihrer
E Die Preise für Lebens-
mittel und Energie sind
bereits drastisch gestiegen –
als 600 Millionen Euro ge-
kürzt werden. Das sieht der
mit dem SPD-geführten
bad Kreuth für die EVP«, sagt Staats- und Regierungschefs vor und ein Ende ist nicht abzuse- Kanzleramt und dem SPD-ge-
Weber, der seit Ende Mai EVP- EU-Gipfeln in Brüssel zu orga- hen. Vielen Menschen droht führten Arbeitsministerium
Präsident und damit Gastgeber nisieren. Diese Termine hatten der Abrutsch in die Armut, abgestimmte Haushaltsent-
des Treffens ist. »Die Partei- zuletzt an Glanz eingebüßt. vielen Armen der Abrutsch wurf fürs kommende Jahr vor.
und Regierungschefs wissen be- Nach einem längeren Nieder- ins Nichts. Es wird, das ist Es könnte sein, dass hier
reits davon und sind einverstan- gang und der Wahlniederlage klar, massive Hilfsprogramme ein doppeltes Missverständnis
den.« Im bayerischen Wildbad von CDU-Kanzlerkandidat geben müssen: für Gasversor- vorliegt. Man wolle Hartz IV
Kreuth haben die CSU-Landes- Armin Laschet stellt die EVP ger, für einzelne Industrie- überwinden, hatte insbeson-
gruppe im Bundestag und die nur noch 6 der 27 EU-Staats- zweige, aber auch für Bürge- dere die SPD versprochen.
bayerische Landtagsfraktion und Regierungschefs. MBE rinnen und Bürger, insbeson- Fast alle dachten, dass es da-
dere für Ärmere. Es darf durch sozialer zugehen sollte,
keine Frage des Geldbeutels nicht unsozialer. Und dann
Städtetag gegen Informationen in weiteren Spra- sein, ob Menschen den Win- war es Olaf Scholz, der vor
chen wie Türkisch, Spanisch, ter bei würdiger Raumtempe- allem mit einem Wort für
Englisch im Amt Arabisch oder Russisch sowie ratur verbringen.
KOMMUNEN Der Deutsche die Möglichkeit, sich von Dol- Diese Unterstützung wird Man wollte Hartz IV
Städtetag hat den Vorstoß der metschern helfen zu lassen. Im zig Milliarden Euro kosten,
FDP kritisiert, Englisch als Hinblick auf dringend benötigte Geld, das der Bund eigentlich
überwinden. Fast alle
zweite Verwaltungssprache in Fachkräfte aus dem Ausland nicht hat. Es muss also an an- dachten, es würde
Behörden einzuführen. Der fordert Jung, wie auch die FDP, derer Stelle gespart oder es dadurch sozialer, nicht
Vorschlag sei »jenseits allen die Beschleunigung von Visa- müssen neue Einnahmequel- unsozialer.
Realitätssinns«, sagte Vizepräsi- verfahren und die schnellere len erschlossen werden. Nahe-
dent Burkhard Jung (SPD). Anerkennung ausländischer Be- liegend wäre zum Beispiel, sich als Bundeskanzler warb:
»Um alle Menschen in den Ver- rufsabschlüsse. Die Liberalen den Spitzensteuersatz zu er- »Respekt!« Es stand auf vielen
waltungen in verhandlungssi- hatten am Montag Ideen zur höhen. Man könnte auch eine Wahlplakaten, war der Schlüs-
cherem Englisch weiterzubil- Einwanderungspolitik und zum Vermögensteuer einführen. selbegriff seiner Kampagne.
den, Gesetze, Verfahren und Fachkräftemangel vorgelegt. Oder einen Reichen-Soli. Weil Was damals fehlte, waren drei
unzählige Dokumente zu über- Durch die Einführung von Eng- ja erwiesen ist, dass Wohlha- Buchstaben: l, o und s. Denn
setzen, wäre der Aufwand rie- lisch als Verwaltungssprache bende nicht nur besser durch das ist die geplante Kürzung
sig.« Zudem hätten bereits wollen sie ausländischen Fach- Krisen aller Art kommen, son- für Langzeitarbeitslose: nicht
heute »alle großen Städte eng- kräften Behördengänge erleich- dern zum Teil sogar noch rei- nur instinkt-, sondern auch
lischsprachige Angebote für tern. Vor dem Städtetag hatte cher aus ihnen hervorgehen. respektlos. Gerade in Zeiten,
Fachkräfte, Geflüchtete und bereits der Beamtenbund den Die Ampelregierung hin- da die Regierung 100 Milliar-
Schutzsuchende«. Hinzu kämen FDP-Vorschlag abgelehnt. RED gegen hat einen anderen Kniff den als »Sondervermögen
gefunden, wo sich Geld ein- Bundeswehr« aus dem Ärmel
sparen lässt: bei Langzeit- schüttelt. Während man auf
arbeitslosen, den Ärmsten der das »Sondervermögen Sozia-
Nachgezählt Gesellschaft. Seit 2019 gibt es ler Frieden« bislang verge-
den Sozialen Arbeitsmarkt bens wartet.
Aktive Fußballspielerinnen und -spieler im DFB, Saison 2021/22
mit dem Teilhabechancen- Die Frage ist, ob dieser Re-
gesetz, das geförderte Arbeits- gierung vielleicht doch noch
plätze für Menschen schafft, bewusst wird, welch verhee-
die seit mindestens sechs Jah- rendes Signal sie mit der Kür-
ren ohne Job sind. Für Men- zung in ohnehin rauen Zeiten
187.000 schen, die auf dem regulären sendet. Vielleicht können
Mädchen und Frauen
sind aktuell in Vereinen aktiv,
Arbeitsmarkt keine realisti- Kanzler und Finanzminister
25 Prozent mehr als in der pandemie- sche Chance mehr haben, an diesem Wochenende am
gebeutelten Vorsaison. Bei den etwa weil sie unter psychi- Rande von Christian Lindners
Männern sind es in allen
Altersklassen über schen Problemen leiden. Es Hochzeit noch einmal über
2 Millionen. ist ein Programm, das den Ab- die Kürzungspläne plaudern.
gehängten dieses Landes Bei einem Gläschen Cham-
einen Rest an Würde und Teil- pagner in der Sylter Sansibar.

An dieser Stelle schreiben Anna Clauß, Markus Feldenkirchen und

Alexander Neubacher im Wechsel.
S Quelle: DFB, Stand: 30. Mai 1 Figur steht für 10.000 Personen
◆

Nr. 28 / 9.7.2022 DER SPIEGEL 21

CHAPPATTES WELT
Sterbehilfe-Verein
will weitermachen
ETHIK Auch nach dem erwarte­
ten Inkrafttreten eines strengen
Gesetzes zum sogenannten as­
sistierten Suizid will der »Verein
Sterbehilfe« in Deutschland ak­
tiv bleiben. »Wir werden ein
neues Modell in Angriff neh­
men, das juristisch hieb­ und
stichfest ist, und damit weiter­
hin Sterbehilfe leisten«, erklärt
der Vereinsvorsitzende und frü­
here Hamburger Justizsenator
Roger Kusch. Kusch, der ehe­
Sag es anders
SO GESEHEN Der
Siegeszug
der Taxonomie
22 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022
mals der CDU angehörte, geht
davon aus, dass der von einer
fraktionsübergreifenden Grup­
pe um den SPD­Abgeordneten
Lars Castellucci in den Bundes­
tag eingebrachte Entwurf noch
in diesem Jahr Gesetz wird.
Danach würde die geschäfts­
mäßige, also auf Wiederholung
angelegte Beihilfe zum frei ver­
antworteten Suizid prinzipiell
erneut unter Strafe gestellt und
nur nach Abschluss eines mehr­
stufigen Verfahrens erlaubt.
Das Bundesverfassungsgericht
hatte im Februar 2020 das da­
Nach dem großen Erfolg als
Label für ökologisch nachhalti­
ge Investitionsprojekte soll die
sogenannte Taxonomie nun
auf weitere Lebensbereiche
ausgedehnt werden. Noch ist
der Begriff vor allem für insti­
tutionelle Großanleger interes­
sant, die ihr Kapital klima­
freundlich vermehren wollen.
Die EU hat dafür mit der Taxo­
nomie einen verbindlichen
Maßstab geschaffen, der erst
nicht allen gefallen hat, denn
nun gelten auch Gaspipelines
und Atomkraftwerke unter be­
stimmten Umständen als um­
weltfreundliche Geldanlagen.
vor bestehende generelle Ver­
bot gekippt. Seither ist die Zahl
der Mitglieder des Vereins ra­
pide angestiegen. Davor waren
es rund 430, Ende 2021 dann
gut 1200; in der ersten Jahres­
hälfte 2022 bereits mehr als
1920. Die Zahl der vorgenom­
menen Suizidhilfen liegt mit
59 bis Ende Juni knapp über
Vorjahresniveau. Kusch rechnet
allerdings damit, dass ihre Zahl
in Erwartung der strengen
Regulierung »in den nächsten
Monaten nochmals stark an­
steigen wird«. HIP
Mittlerweile setzen sich je­
doch die Vorteile der taxono­
mischen Weltsicht durch – ist
sie doch geeignet, praktisch
alle Menschheitsprobleme zu
lösen. Denn sei die Angelegen­
heit privat oder allumfassend,
ist sie doch stets nur eine
Frage der Begrifflichkeit: Ihr
Kind hat ein schlechtes Zeug­
nis heimgebracht? Es beweist
damit sein großes Bildungs­
potenzial. Die Polizei hält Sie
an, weil Sie in Schlangen­
linien fahren? Aber was, Sie
üben doch nur kreatives
Fahren. Nikotinsucht treibt die
Menschen früh ins Grab?
Richterschelte im
Hohenzollern-Fall
ENTSCHÄDIGUNGEN Im Resti­
tutionsstreit der ehemaligen
Kaiserfamilie Hohenzollern
gegen das Land Brandenburg
hat der frühere Bundesverwal­
tungsrichter Georg Herbert
scharf Staat und Justiz kritisiert.
Die Dauer des Verfahrens sei
»rechtsstaatlich fragwürdig«;
die Öffentlichkeit habe An­
spruch auf eine zeitnahe Ent­
scheidung. Seit 2015 klagt
Georg Friedrich Prinz von Preu­
ßen, Sprecher der Hohenzol­
lern, vor dem Verwaltungs­
gericht Potsdam auf Entschädi­
gung für Immobilien, die von
den Sowjets enteignet worden
waren. Brandenburg lehnt Zah­
lungen mit der Begründung ab,
dass Erben bedeutender Nazi­
helfer nicht entschädigt wer­
den – und der Urgroßvater von
Prinz von Preußen dem Natio­
nalsozialismus einst »erheb­
lichen Vorschub« geleistet habe,
was Prinz von Preußen wie­
derum bestreitet. Über den
Ausschlusstatbestand müsse ein
Gericht entscheiden, fordert
Herbert, da gebe es keinen Er­
messensspielraum. Daher seien
auch die gescheiterten Vergleichs­
verhandlungen, in denen es vor­
rangig um Kunstwerke in öf­
fentlichen Einrichtungen ging,
teilweise »rechtswidrig« gewe­
sen. Der langjährige Bundesver­
waltungsrichter teilt die Rechts­
auffassung Brandenburgs. Es ist
wahrscheinlich, dass am Ende
sein ehemaliges Gericht in dem
Fall urteilen wird. KLW
Falsch, sie hält die Gesellschaft
jung.
Nur verbohrte Miesmacher
werden unken, dass die Taxo­
nomie nichts besser macht und
uns die Begriffsverdrehung
stattdessen beschleunigend in
den Untergang treibt, weil sich
unsere schöngeredeten Proble­
me nur ungelöst anhäufen.
Und es mag durchaus sein, dass
Flora und Fauna bald ausster­
ben, wenn sich die Menschheit
fortgesetzt selbst belügt. Aber
sagen wir es lieber taxono­
misch: Dann eröffnen sich ex­
zellente Chancen für ganz neue
Lebensformen. Stefan Kuzmany
Kein Geld für Orbán?
KORRUPTION Der Vorsitzende
des EU-Ausschusses im Bundes-
tag, Anton Hofreiter, fordert,
dass die EU sämtliche Zahlun-
gen an Ungarn einstellt. Der
Grünenpolitiker verweist auf
ein Rechtsgutachten, wonach
die Regierung von Ungarns Pre-
mier Viktor Orbán sich »funda-
mentaler, häufiger und verbrei-
teter« Verstöße gegen Demo-
kratie und Rechtsstaatlichkeit
schuldig gemacht habe. »Die
Studie legt offen: Alle EU-För-
»Auf Zeit gespielt«
Meron Mendel, 45, Leiter der
Bildungsstätte Anne Frank, will
die Documenta nicht länger im
Antisemitismus-Skandal beraten. und auch meine Bitte, mit den
SPIEGEL: Herr Mendel, Sie woll-
ten die Documenta retten. Ist
sie noch zu retten?
Mendel: Es gibt auf der Docu-
menta jede Menge Gutes, aber
bei der Auseinandersetzung mit Diskussionsveranstaltung anwe-
dem aktuellen Antisemitismus-
Skandal vermisse ich den ernst-
haften Willen, die Vorgänge
aufzuarbeiten und in einen ehr-
lichen Dialog zu treten. Daher
habe ich der Documenta-Lei-
tung Anfang der Woche mitge-
teilt, dass ich als Berater nicht nichts. Sehen Sie das mittler-
mehr zur Verfügung stehe.
SPIEGEL: Was genau war denn
Ihre Aufgabe?
Mendel: Wenn ich das wüsste!
Ich dachte, es sollte darum ge-
hen, die Kunstwerke zu begut-
achten und mit Ruangrupa, der
künstlerischen Leitung, in den
Dialog zu treten. Aber nach
mehr als zwei Wochen ist weder der Documenta, dass sie den
das eine noch das andere pas-
siert. Auch die Idee zur Grün-
dung eines hochkarätig besetz-
ten Beirats aus Antisemitismus-
Experten wurde abgelehnt.
Mir drängt sich der Eindruck
auf, dass hier auf Zeit gespielt zess gegeben sind. CSC
werden sollte, bis die Docu-
menta 15 vorüber ist.
SPIEGEL: Welchen Eindruck
haben Sie von der General-
direktorin Sabine Schormann
gewonnen?
Mendel: Als sie mich anfragte,
hatte ich den Eindruck, dass sie
die Schwere der Krise verstand.
Sie sagte, dass sie die Verant-
wortung für die Bearbeitung
des Antisemitismus-Skandals
dertöpfe sind in Ungarn von
Korruption betroffen«, so Hof-
reiter. Das EU-Geld sei nicht
dazu da, dass Orbán seine
Günstlinge finanziere. »Es fehlt
der EU-Kommission dabei nicht
an Instrumenten, sondern ganz
einfach am politischen Willen,
unsere gemeinsamen Regeln
und Werte auch umzusetzen. Die
Kommission muss jetzt 100 Pro-
Peter Schinzler / DER SPIEGEL
zent der Mittel an Ungarn
einfrieren.« Das Gutachten ha-
ben drei renommierte Juristen
aus den USA und den Nieder-
landen erstellt. RAN
mit der notwendigen Eile und
aller Entschiedenheit überneh- »Wir werden mehr
me. Aber dieser Ansage sind
keine Taten gefolgt. Telefonan- dichtmachen müssen«
rufe blieben unbeantwortet,
DIE AUGENZEUGIN Susanne Arnold, 56, ist Pflege-
Kuratoren um Ruangrupa zu
sprechen, wurde mit Ausreden direktorin an der Uniklinik Augsburg und Chefin von
auf die lange Bank geschoben. 2200 Pflegekräften. Viele von ihnen sind an
Wenn ich mich nicht selbst be-
müht hätte, wäre wohl kein Ver-
Corona erkrankt, Stationsschließungen drohen.
treter von Ruangrupa bei der
»Wir gehen demnächst in den Intensivbereich sehr viel mehr
send gewesen, die die Bildungs- dritten Coronawinter und ha- Kolleginnen schwanger ge-
stätte Anne Frank mitorgani- ben aktuell einen sehr hohen worden sind und sich so ins
siert hat. Krankenstand unter unserem Familiäre zurückgezogen
SPIEGEL: Doron Kiesel, der Ver- Pflegepersonal. Ganze Abtei- haben. Und dass Mitarbeiter
treter des Zentralrats der Juden, lungen oder Stationen, wie generell ihre Arbeitszeit redu-
sagte auf der Veranstaltung, ein man es aus Norddeutschland zieren. Im Moment trifft eine
Dialog führe im Moment zu hört, mussten wir noch nicht Infektionswelle auf Kollegen,
schließen, Teilschließungen die zweieinhalb Jahre lang
weile auch so? gibt es auch bei uns schon län- sehr stark strapaziert wurden.
Mendel: Nein, das sehe ich ger. Auf einer Station haben Infizierte Mitarbeiter hat-
überhaupt nicht so. Ein Dialog wir 20 von 40 Betten gesperrt, ten wir in der gesamten Pan-
ist notwendiger denn je, aber es im Intensivbereich punktuell demie. Aber jetzt gerade
braucht dafür einen Rahmen. Betten. Wenn Krankheitsaus- komme ich aus einer Bespre-
Allerdings scheint mir momen- fälle weiter zunehmen, wer- chung zu dem Thema: Wie ge-
tan, dass die Documenta-Lei- den wir mehr dichtmachen hen wir damit um, wenn die
tung sich schwertut mit einem müssen, auch ganze Stationen, Zahlen weiter steigen und an-
solchen Dialog. Ich wünsche weil dann die Belastungen für dere Erkrankungen, wie die
die verbliebenen Mitarbeite- Grippe, hinzukommen? Jedes
richtigen Umgang mit dem Kon- rinnen und Mitarbeiter zu Krankenhaus muss sich darauf
flikt findet. Aber ich beende an hoch sind. vorbereiten, wie es sein Perso-
dieser Stelle mein Engagement, Ich habe mein Pflege- nal entlasten kann.
weil weder die Rahmenbedin- examen 1989 gemacht, seit- Wichtig wäre jetzt, dass ein
gungen noch die Verbindlich- dem ist die Pflege technischer angepasster Impfstoff auf den
keit für einen erfolgreichen Pro- geworden, der Verwaltungs- Markt kommt. Je länger die
aufwand höher, die Liegezei- Booster-Impfungen zurücklie-
ten wurden kürzer, die Arbeit gen, umso mehr Infektionen
hat sich schon vor Corona treten auf. Wenn ich einen
verdichtet. Dann begann die Wunsch freihätte für meine
Pandemie: Hochaufwendige Kolleginnen und Kollegen,
Pflege auf den Intensivstatio- wäre es der, dass sie wieder
nen, viele Tote, das geht auch den Raum und die Zeit be-
an den Mitarbeitern eines gro- kommen, die gute Pflege ma-
Wolfgang Kumm / dpa
ßen Klinikums nicht spurlos chen zu können, die sie sich
vorbei. Viele Kündigungen wünschen.«
hatten wir zum Glück noch Aufgezeichnet von
Mendel nicht. Ich sehe aber, dass im Tobias Großekemper
Nr. 28 / 9.7.2022 DER SPIEGEL 23
DEUTSCHLAND

Lars Berg / DER SPIEGEL

Bundespolizisten mit sichergestellten Schlauchbooten bei Osnabrück: Ticket nach England – oder ins Jenseits

»Die Hydra lebt«

KRIMINALITÄT Es ist ein europäisches Drama, und jetzt enthüllt eine internationale Polizeiaktion: Viele der
Menschenschmuggler, die jedes Jahr Tausende Migranten über den Ärmelkanal schaffen, operierten zuletzt von
Deutschland aus. Sogar die Schlauchboote für das tödliche Geschäft kamen immer wieder aus dem Münsterland.

snabrück, Prießnitzhof. Ein beigefarben
O verputzter Häuserriegel aus den Drei-
ßigern, wie gebaut für die Unauffällig-
keit. In der Nacht vom 12. auf den 13. Novem-
ber sitzen zwei Männer in einem Auto vor
dem Gebäude. Sie warten auf Xamgin M. alias
Khamji Muhhamad alias Khmgin Latif. Ein
Kurde aus dem Irak, 33, illegal eingereist im
Juli 2021.
Um ein Uhr schreckt eine Nachbarin auf,
weil unten jemand gegen die Haustür bollert.
Fünf Minuten später liegt Xamgin M. auf dem
Boden, sechs Schüsse im Unterleib, auch in
die Genitalien, vermutlich eine Abrechnung
unter kurdischen Schleusern. Schwer verletzt
kommt er ins Krankenhaus – und packt spä-
ter bei der Polizei aus: über die Schleuser-
banden, die Migranten mit Schlauchbooten
über den Ärmelkanal nach England bringen,
und die mutmaßlichen Drahtzieher des An-
schlags auf ihn selbst. Außerdem verrät er,
wie die Struktur der Gruppen aussieht und
wo die Boote deponiert werden.
Ein halbes Jahr später: Am Dienstag dieser
Woche rammen allein in Deutschland über
900 Polizisten Türen ein, im Morgengrauen.
GSG 9, Spezialeinsatzkommandos, es ist das
ganz große Besteck des Rechtsstaats. 36 Durch-
suchungen und 18 Festnahmen gibt es hier-
zulande. Dazu kommen 21 Festnahmen und
weitere Beschuldigte in Frankreich, Belgien,
den Niederlanden und Großbritannien. »Mit
diesem Schlag haben wir eine der mächtigsten
Schleusergruppierungen gesprengt, die es je
in Europa gab«, sagt Helgo Martens, Einsatz-
leiter der Bundespolizei. Bis zu 10 000 Mi-
grantinnen und Migranten sollen die Men-
schenschmuggler seit Anfang 2021 auf die
lebensgefährliche Route nach England ge-
schickt haben. Geschätzter Gewinn: mindes-
tens 15 Millionen Euro. Eher das Doppelte,
sagen beteiligte Beamte.
Die Schüsse in Osnabrück und die Razzia
führen hinein in das verschlossene Milieu der
Schleuser. Eine Welt, in der ein neues Leben
in Großbritannien für 1500 bis 8000 Euro zu
haben ist – wenn zum Geld noch das Glück
kommt und es die Flüchtlinge im Schlauch-
boot tatsächlich über den Ärmelkanal schaf-
fen. Wenn nicht, kaufen sie für das Geld ein
Ticket in den Tod. So wie im November 2021,
als 27 Menschen, darunter eine Schwangere
und drei Kinder, mit ihrem Boot kenterten
und ertranken.

24 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022


Die internationale Razzia mit ihrem
Schwerpunkt in Niedersachsen zeigt nun: Die
Bundesrepublik spielt eine entscheidende
Rolle in einem der größten menschlichen Dra-
men, die sich auf dem europäischen Kontinent
abspielen. Nahezu unbemerkt von der Öf-
fentlichkeit sind Schlepperbanden entstan-
den, die von Deutschland aus ein zynisches
Geschäft organisieren, bei dem es offenbar
egal ist, auf welcher anderen Seite ihre Fracht
ankommt, in England oder im Jenseits.
Über hiesige Zwischenstationen kommen
nicht nur viele Migranten an die Atlantik-
küste. Die Bundesrepublik gilt auch als wich-
tigste Drehscheibe für kleine Boote, vor allem
aber für Schlauchboote, die just in time ans
Meer geschafft und dort mit Flüchtlingen ge-
füllt werden. 80 Prozent der Boote und Mo-
toren, so schätzen französische Ermittler,
haben eine deutsche Vorgeschichte.
Ein Team des SPIEGEL hat sich zusammen
mit Kollegen der französischen Zeitung »Le
Monde« auf die Spurensuche gemacht. Sie
beginnt in den Camps an der französischen
Küste, in denen Hunderte auf ihre Überfahrt
warten. Sie führt zu einem Schlauchboot-
händler in Westfalen, von dem Dutzende der
Boote stammen, die an englischen Stränden
gefunden wurden. Die Recherchen zeigen
auch das Dickicht der Ermittlungsbefugnisse,
das es Fahndern erschwerte, an die Banden
heranzukommen. Immer wieder gab es Vor-
würfe aus Frankreich, die Deutschen täten
nicht genug gegen den Bootshandel. Und es
scheint sicher, dass es noch viele Schlauch-
bootbanden gibt, die ungestört weiterma-
chen. »Die Hydra lebt«, sagt ein Beamter.
Eine Schotterstraße in Loon-Plage, in der
Nähe von Dünkirchen, am nördlichsten Zip-
fel Frankreichs. Kaputte Einkaufswagen mar-
kieren den Weg zu einem Lager mit Hunder-
ten Migranten, die in Zelten darauf warten,
dass es losgeht. 30 bis 60 Kilometer sind es
übers Meer nach England, je nach Startpunkt
an der Küste. Eine trügerische Nähe.
Im Lager glitzern klein getretene Scherben
im Boden, eine Wolke Schmeißfliegen
brummt um eine Kiste mit schimmelndem
Brot. Wie viele Camps es in der Region gibt,
kann niemand genau sagen. Manche werden
von der Polizei schon nach Tagen geräumt,
andere halten sich jahrelang. Manchmal wird
dort geschossen, häufig geht es um Konflikte
zwischen rivalisierenden Menschenhändlern.
So wie wohl Ende Mai, als ein junger Kur-
de, vermutlich ein Schleuser, erschossen wur-
de. Kurz vorher berichteten Flüchtlingshelfer
von einer wilden Schießerei im Camp Loon-
Plage, als sie gerade Mahlzeiten verteilten.
Die Helfer retteten sich mit einem Sprung in
einen Graben, Kugeln bohrten sich über ihnen
in einen Baum. Bei den Ermittlungen fanden
Beamte am Tatort »aus Kriegswaffen stam-
mende Munition«, wie die Staatsanwaltschaft
mitteilte, mutmaßlich aus einer Kalaschnikow.
Auch schon vorgekommen: Laut einem Ge-
heimbericht des britischen Innenministeriums
gibt es einen Hinweis darauf, dass ein bewaff-
Ausgefeilte Logistik
Wie Migranten und Boote
an den Ärmelkanal kommen
GROSS-
BRITANNIEN
Calais
Paris
FRANKREICH
Einzeilige BU oioppoipoipoipoi
Vermutete Lager für Bootsmaterial
Vermutete Lieferrouten für Bootsmaterial
Vermutete Fluchtrouten
S Quellen: Französisches Innenministerium; eigene Recherche
◆
neter Schleuser einem Geflüchteten die Beine
gebrochen habe. Das Opfer hatte den Schleu-
ser offenbar verraten.
Majid A., 37, kauert vor seinem Zelt auf
einem umgedrehten Einkaufswagen. Seit vier
Tagen ist er jetzt in Loon-Plage, er spricht
Deutsch. »Deutschland ist meine zweite Hei-
mat«, sagt der Iraker. Ab 2014 hatte er in Frei-
burg gelebt, war aber nur geduldet. Die ein-
zige Arbeit, die er bekam, war ein Praktikum
im Kindergarten, sagt er. Jetzt will er rüber-
machen, er hat in Großbritannien Familie.
Außerdem könne man dort für 10 000 Pfund
einen Aufenthaltstitel kaufen. Hat er gehört.
Also sitzt er jetzt hier und wartet auf einen
Platz in einem Schlauchboot. Und die ver-
teilen jene mächtigen irakisch-kurdischen
Schleuserbanden, die an der ganzen Küste bis
nach Holland den Ton angeben.
»Ich gehöre jemandem«, sagt Majid A.
leise. Einem Kurden, der sein Kontakt zu den
Schleusern sei. Er mache, was der Mann ihm
sage. Irgendwann werde der Kurde ihm eine
Nachricht schicken: Pack deine Sachen. So-
bald er drüben sei, schicke seine Familie in
England das Geld an Verwandte im Irak. Die
Flüchtlingsboot auf dem Ärmelkanal
DEUTSCHLAND
Lieferung im Kleintransporter,
Ankunft am Ärmelkanal
unmittelbar vor der Überfahrt
Osnabrück
Bielefeld
Hannover
DEUTSCH- In China produzierte Boote
LAND werden über die Türkei
nach Deutschland geliefert.
UNGARN
»Balkanroute«
ITALIEN
Istanbul
TÜRKEI
GRIECHENLAND
bezahlten dort die Chefs der Schleuserclans.
Das System basiert auf Vertrauen – und auf
Angst. Wer nicht bezahlt, bekommt Proble-
me. Hawala-Banking nennen Ermittler solche
Finanzströme, die kaum zu überwachen sind.
Ein junger Flüchtling im Lager von Loon-
Plage erklärt, wie eine Flucht abläuft: In den
Abendstunden nehmen die Flüchtlinge den
Linienbus zur Düne von Leffrinckoucke. In
den Küstenwäldern warten sie, bis die Nacht
kommt. Irgendwann, so habe er es selbst er-
lebt, bekommt jemand aus der Gruppe eine
Nachricht von den Schleusern: den Standort
eines Lieferwagens. Dessen Ladung: Boot,
Außenbordmotor, Rettungswesten und eine
Luftpumpe, um das Boot aufzublasen. Wenn
man nicht von den Patrouillen der Polizei er-
wischt wird, geht es im Stockdunklen aufs
Wasser. Er selbst, so der Mann, sei schon mehr-
mals erwischt und zurückgeschickt worden.
Betreuer einer Hilfsorganisation berichten
von grauenhaften Handyanrufen bei ihrer
Notfallhotline, von Dutzenden Flüchtlingen
auf offenem Meer, die um ihr Leben schreien.
Die Schleuser dagegen blieben am sicheren
Ufer. Gesteuert werden die Boote von den
Geflüchteten selbst, meist ohne nautische Er-
fahrung. Das Einzige, was sie haben, ist ein
Handy mit einem GPS-Standort an der eng-
lischen Küste. Bei Strömung, Wind und Wel-
lengang wird aus dem vermeintlich kurzen
Hüpfer über den Kanal ein Himmelfahrts-
kommando. Tausende geraten jedes Jahr in
Seenot. Für 51 kam nach einer Auswertung
der International Organization for Migration
Dan Kitwood / Getty Images
zwischen 2019 und 2022 jede Hilfe zu spät.
Bei manchen fanden sich die Leichen, andere
sind vermisst.
Dass es nicht noch mehr Tote gibt, liegt vor
allem an der Küstenwache, die das 150 Kilo-
meter lange Gebiet in Frankreich mit großem
Aufwand kontrolliert. Inzwischen, das sei ein
Nr. 28 / 9.7.2022 DER SPIEGEL 25
DEUTSCHLAND
Erfolg, fängt man mehr als die Hälfte
der Boote ab, schätzt ein Polizist.
Das rettet Menschenleben, führt
aber auch dazu, dass die Leute auf
den Booten immer verzweifelter wer-
den. Ein französischer Behörden-
bericht vom Jahresanfang deutet auf
eine neue Gefahr hin: Passagiere dro-
hen offenbar inzwischen, ihre Kinder
über Bord zu werfen, wenn die Polizei
das Boot stoppt. Das bringe die Be-
amtinnen und Beamten auf dem At-
lantik in ein Dilemma, heißt es in dem
Papier. Die Rettung der Kinder gehe
über alles.
Die Prognose? Düster, schließlich
ist damit zu rechnen, dass schon bald
andere Schleuser den Platz der Kur-
den einnehmen, die jetzt geschnappt
wurden. Seit Anfang des Jahres sind
die Zahlen schier explodiert. Frank-
reich zählte von Januar bis Ende Juni
22 758 Menschen, die von Nordfrank-
reich aus über das Meer flüchten woll-
ten – ein Plus von 82 Prozent gegen-
über dem Vorjahreszeitraum. Von
2019 bis 2021 hat sich die Zahl der
Bootsflüchtlinge von jährlich 3352 auf
36 763 sogar mehr als verzehnfacht.
Zudem kommen immer größere und
vollere Boote zum Einsatz. Zwängten
sich vor ein paar Jahren im Schnitt
12 Menschen auf die Gummigefährte,
sind es heute fast 30. Bis zu 75 000
Euro Nettogewinn pro Überfahrt
seien so für die Schleuser drin, be-
richtet ein Ermittler.
Warum England, warum Boote?
Die Sprache sei ein Faktor, so Ermitt-
ler. Viele Flüchtlinge sprächen Eng-
lisch und hätten bereits Familien-
angehörige auf der Insel. Und: der
Brexit. Die britischen Stellen können
illegal Eingereiste jetzt nicht mehr
einfach in das EU-Land zurückschi-
cken, in dem sie zuerst europäischen
Boden betreten haben.
Und nach Deutschland kann man
sich ohne Probleme günstig Boote aus
China liefern lassen oder sie gleich
bei deutschen Händlern erwerben.
Frankreich hingegen hat den Verkauf
bestimmter Boote und Motoren stark
eingeschränkt: Im Norden des Landes
muss man beim Kauf seinen Ausweis
zeigen und seine Telefonnummer an-
geben, große Händler wie Decathlon
in Calais haben die Ware gleich ganz
aus dem Sortiment genommen. Fran-
zösische Beamte klagten, dass die
Deutschen hingegen es den Men-
schenschmugglern leicht machten.
Pas amusés waren die Franzosen
auch wegen eines Vorfalls aus dem
vorigen Oktober. Wie aus französi-
schen Ermittlungsakten hervorgeht,
verhafteten Bundespolizisten zwei
Männer in Niedersachsen, als sie ge-
26 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022
rade verdächtige Fracht in einen Lie-
Flucht übers ferwagen luden. Die Beamten fanden
Wasser fünf Motoren, 100 Rettungswesten
und neun Schlauchboote, die, so der
Am Ärmelkanal Verdacht der Polizisten, womöglich
erfasste Migranten gestohlen waren. Als ein Kurier am
pro Jahr nach nächsten Tag eine Rechnung samt
Transportmittel
Lieferadresse in Paris vorbeibrachte,
LKW Boot ließ man die Männer laufen, gab ih-
2019 nen das Material zurück. An Schleu-
30.335 ser dachte in dem Moment offenbar
3352 keiner der deutschen Polizisten.
Es hätte wohl auch nichts genützt.
2020
Nach Paragraf 96 Absatz 4 des Auf-
22.296
enthaltsgesetzes ist zwar das Ein-
15.284
schleusen von Menschen in die EU
2021* verboten. Rausschleusen aber nicht.
15.073 Ein paar Tage nachdem die Män-
36.763 ner aus Niedersachsen wieder auf
freiem Fuß waren, tauchte einer ihrer
2019 Motoren erneut auf – montiert an
330 entdeckte Boote einem Flüchtlingsboot, das gerade die
englische Küste erreicht hatte. Die
Episode machte die Wochenzeitung
»Paris Match« öffentlich, aber auch
der französische Innenminister er-
zählte die Geschichte in der National-
versammlung.
Durchschnittlich Deutsche Fahnder schäumten. Zum
12 Personen an Bord
einen standen sensible Ermittlungs-
ergebnisse in der französischen Presse.
Zum anderen sah man sich schon län-
ger öffentlich als Sündenbock ge-
2021 brandmarkt für ein Problem, das nach
2162 entdeckte
Boote deutscher Lesart zwischen Franzosen
und Briten gelöst werden müsste. Der
Streit um die Boote erreichte in Berlin
höchste politische Kreise. Ende No-
1 Boot steht für vember lud der französische Innen-
100 Fluchtboote minister seinen damaligen Amtskolle-
gen Horst Seehofer nach Nordfrank-
reich ein, der schickte aber nur seinen
Parlamentarischen Staatssekretär. Ein
Affront. Schließlich konferierten im
Januar die Polizeiführer aus den be-
troffenen Ländern. Danach, so heißt
es aus dem Bundesinnenministerium,
besserte sich das Klima.
Das war auch dringend nötig. Mit
dem Anschlag am 13. November auf
Xamgin M. in Osnabrück hatte der
Schleuserkrieg Deutschland erreicht.
Bis dahin hatten die Schleuserclans
weitgehend ungestört das südwestli-
che Niedersachsen zum wichtigsten
Logistikzentrum des Netzwerks ent-
wickelt. Ihre Statthalter waren in der
örtlichen kurdischen Community fest
verankert. Jetzt erst brachte die
Durchschnittlich Staatsanwaltschaft zwei Verfahren
27 Personen an Bord
auf den Weg: Mit den Ermittlungen
zum Mordversuch beauftragte sie die
Kripo Osnabrück. Um das Schleuser-
verfahren kümmerte sich vor allem
* 2021 bezogen auf den
die Bundespolizei. Die Spezialisten
Zeitraum von Januar bis bildeten eine Sondereinheit mit dem
Oktober
Zoll und Beamten aus Osnabrück.
S Quelle: Französisches
Codename: »Kanal«.
◆
Innenministerium
Das Problem mit der deutschen
Rechtslage umgingen die Ermittler.
Eigentlich ist die deutsche Polizei für
Schleusungen aus der EU heraus nicht
zuständig. Da aber viele Flüchtlinge
auch über Deutschland an die fran-
zösische Atlantikküste gelangten,
konnten sich die hiesigen Beamten
doch einschalten. Sie hörten Telefone
ab, installierten versteckte Kameras,
observierten Verdächtige.
Entscheidend war aber auch: Im
Januar dockten Beamte aus der Son-
dereinheit »Kanal« bei einer Euro-
pol-Taskforce an, in der Frankreich,
Belgien, Großbritannien und die Nie-
derlande bereits zusammenarbeite-
ten. Die Partnerländer baten die Bun-
desrepublik um Rechtshilfe. Die Idee:
Deutschland liefert Informationen für
die Verfahren in den Partnerländern,
diese stellen dann Haftbefehle und
Durchsuchungsbeschlüsse aus. Damit
konnte die deutsche Polizei hierzu-
lande durchgreifen.
Wie die Ermittler bei ihren Recher-
chen erfuhren, war die Attacke auf
Xamgin M. in Osnabrück wohl ein
Racheakt unter Konkurrenten. Einige
Monate zuvor soll M., so der Ver-
dacht, in Frankreich einen Anschlag
auf einen Konkurrenten mit dem
Clan-Spitznamen »Nato« verübt ha-
ben. Nur war das Opfer ein Neffe des
kurdischen Schmugglerbosses Mirk-
ham A. Der junge Verwandte über-
lebte. Doch die Sache mochte der
Boss offenbar nicht auf sich sitzen
lassen.
Zwar saß er gerade in Le Havre im
Knast. Doch das schränkte seine
Macht wohl kaum ein. Französische
Ermittler hatten seine Zelle verwanzt
und hörten mit, als A. vor dem Atten-
tat in Osnabrück davon sprach, Pis-
tolen der Marke Glock im Raum Pa-
ris organisieren zu wollen, um seinen
Neffen zu rächen.
Im November soll er nach Polizei-
erkenntnissen aus der Haft heraus ein
Killerkommando auf Xamgin M. an-
gesetzt haben. Die Tat am Prießnitz-
hof soll er in seiner Zelle per Handy
eng verfolgt haben.
»Das Level an Kaltblütigkeit und
Brutalität, das wir in diesem Milieu
erleben, ist für deutsche Verhältnisse
außergewöhnlich«, sagt ein beteiligter
Beamter. Arbeitsteilig, abgeschottet
und flexibel, so müsse man sich die
Banden vorstellen.
Anschlagsopfer Xamgin M. bekam
noch am Krankenbett im Marienhos-
pital Besuch von der Kripo. Er nann-
te drei Namen von Männern aus Os-
nabrück, alle geboren in Arbil, Nord-
irak. Mutmaßliche Komplizen vom
Schleuserboss, die bei den Vorberei-
Dan Kitwood / Getty Images
tungen der Tat geholfen haben könn-
ten. Der Schütze, so die Ermittlungen,
befand sich nicht darunter, er ist wei-
ter flüchtig. Der Rechtsanwalt von
Mirkham A. teilte auf SPIEGEL -An-
frage mit, gegen seinen Mandanten
werde nicht wegen des Attentats er-
mittelt, sondern wegen Schleusungen.
Xamgin M. war für eine Stellungnah-
me nicht zu erreichen.
Bei den Vernehmungen durch die
Beamten lieferte Xamgin M. wichtige
Informationen über die Arbeitsweise
der Clans: etwa, in welchen Hallen
die Boote und Motoren lagerten. Die
kauften die Kurden offenbar vor al-
lem in China und der Türkei; sie wa-
ren oft von miserabler Qualität.
Stand eine Schleusung bevor, re-
krutierte das Osnabrücker Netzwerk
für ein paar Hundert Euro Fahrer, oft
direkt aus der kurdischen Commu-
nity. Sie fuhren zu einem GPS-Stand-
ort an einem der Strände in Frank-
reich oder Belgien. Bekamen Fahn-
der vorher Wind davon, informierten
sie ihre Kollegen im Ausland. Die
inszenierten dann auf den belgischen
und französischen Autobahnen eine
Kontrolle und zogen die Transporter
aus dem Verkehr. Die Lieferung von
elf Schlauchbooten konnte die Bun-
despolizei so laut Staatsanwaltschaft
in den vergangenen Monaten ver-
hindern, ohne dass das Netzwerk
von den verdeckten Ermittlungen
erfuhr.
Am vergangenen Dienstag holte
die Polizei schließlich in fünf Ländern
zeitgleich zum Schlag aus. »Die Tat-
verdächtigen haben sich in Deutsch-
land sehr sicher gefühlt. Diese Sicher-
heit haben wir ihnen mit der Aktion
genommen«, sagt Einsatzleiter Mar-
tens. Auf einem Bauernhof bei Osna-
Beschlagnahmte brück fanden seine Ermittler eines
Boote im englischen der Lager des Netzwerks. Den ganzen
Dover, Festnahme
von Verdächtigen in Vormittag waren die Beamtinnen und
Osnabrück: Sechs Beamten damit beschäftigt, Dutzende
Schüsse in Schlauchboote sicherzustellen. Dazu
den Unterleib Außenbordmotoren und Hunderte
Schwimmwesten.
Wenige Stunden nach dem Einsatz
steht die Ehefrau eines Beschuldigten
vor ihrer zersplitterten Wohnungstür
in Hasbergen nahe Osnabrück. Mit
einer Ramme seien die Polizisten ein-
gedrungen und hätten ihren Mann
gleich mitgenommen, klagt sie. »Ver-
dacht des gewerbs- und bandenmä-
ßigen Einschleusens« steht auf dem
gelben Protokoll, das die Polizei zu-
rückließ. Von Gangster-Glamour kei-
ne Spur, das große Geld machten of-
fenbar andere. Unter »Geldfunde«
notierten die Beamten auch die Si-
cherstellung von 3860 Euro. Fundort:
eine »Socke«.
Die 18 in Deutschland verhafteten
Verdächtigen sollen demnächst nach
Belgien oder Frankreich überstellt
werden. Doch das Geschäft gehe wohl
weiter, sagen Strafverfolger. Zu hoch
seien die Profite, zu einfach sei es, an
Boote zu kommen.
So wie bei einer unscheinbaren
Firma aus dem Münsterland. Im Netz
wirbt das kleine Unternehmen mit
einem Qualitätsversprechen. Man er-
fülle jeden Anspruch an »Vielseitig-
keit«, heißt es auf der Website. Schon
Aimée Thirion / DER SPIEGEL
ab 1500 Euro gibt es Modelle aus
PVC. Viele Dutzend Schlauchboote
im Wert von rund einer halben Mil-
lion Euro, so die Ermittlungen, soll
die Firma an Verdächtige aus dem
Osnabrücker Schleusernetz verkauft
Geflüchteter im haben. Laut britischen Ermittlern ist
Camp von Loon-
Plage: Im Linienbus die Firma Toplieferant jener Boote,
zur Düne die nach der Flucht verlassen an der
DEUTSCHLAND
Lars Berg / DER SPIEGEL
englischen Küste entdeckt werden,
und das mit großem Abstand. Dabei
wusste der Inhaber im Münsterland
wohl, mit wem er Geschäfte macht.
Bereits im vergangenen Jahr suchten
Beamte das Gespräch mit ihm. Doch
der Firmenchef gab sich offenbar we-
nig beeindruckt. Eine SPIEGEL -An-
frage zu den Vorwürfen ließ der In-
haber unbeantwortet.
Ihren Sitz hat die Firma im Gewer-
begebiet einer westfälischen Klein-
stadt. Hinterm Tresen sitzt der Ver-
kaufsleiter, ein junger Mann in ro-
tem Poloshirt. Ob es stimme, dass
hier mit Schleusern Kasse gemacht
wird: »Davon hab’ ich noch nie was
gehört.« Der Inhaber sei aber gerade
nicht da. Über seine Boote kann der
Verkaufsleiter mehr erzählen. Produ-
ziert werde in China, mit Material aus
Deutschland. Zwischen 100 und 120
Boote verkaufe man pro Jahr. Die
Kunden, die er kenne, seien Familien,
die Feuerwehr. Ach ja: und die Le-
bensretter von der DLRG.
Jürgen Dahlkamp, Hubert Gude,
Roman Lehberger, Hannes Schrader n
Schleusern auf der Spur
Vor Monaten erreichten den SPIEGEL
Hinweise, dass sich Osnabrück
offenbar zum Logistikzentrum einer
mächtigen Schleusermafia ent­
wickelt hatte. Gemeinsam mit Kol­
legen der französischen Zeitung
»Le Monde« recherchierte ein
SPIEGEL­Team an der französischen
Atlantikküste und bei europäischen
Sicherheitsbehörden. Die Reporter
sprachen mit Flüchtlingen sowie
Fahndern und werteten vertrauliche
Ermittlungsakten aus.
Nr. 28 / 9.7.2022 DER SPIEGEL 27
DEUTSCHLAND
Gebührend
geknickt
DIPLOMATIE Im April lud die Selenskyj-Regierung
den Bundespräsidenten aus, als der schon
auf halber Strecke nach Kiew war. Jetzt zeigen
Details, wie Steinmeier am Telefon auf den
Eklat reagierte.
ergangene Woche haben sie
V wieder telefoniert. Eine knappe
Stunde lang sprachen Frank-
Walter Steinmeier und der ukraini-
sche Präsident Wolodymyr Selenskyj
über den Krieg, die russische Aggres-
sion, einen möglichen Besuch des
Bundespräsidenten in Kiew. Ein
Datum fehlt noch, aber die Absicht
ist klar: Wir machen das.
Die Absprache der Präsidenten ist
Teil des Versuchs, neues Vertrauen zu
schaffen, ein Eklat von Mitte April
wirkt noch nach. Damals wollte Stein-
meier auf Initiative seines polnischen
Kollegen Andrzej Duda nach einem
Stopp in Warschau mit Duda und drei
weiteren Staatschefs nach Kiew reisen,
wurde aber im letzten Moment von
der ukrainischen Regierung ausgela-
den. Das Klima zwischen Berlin und
Kiew gefror kurzzeitig.
Die Hintergründe des Einreise-
stopps seien bis heute rätselhaft, heißt
es in Berlin. Den Bundespräsidenten
soll der Fall so beschäftigt haben, dass
er Selenskyj offenbar persönlich kon-
frontierte. Der SPIEGEL konnte in
vielen Gesprächen mit beiden Seiten
nachzeichnen, wie sich die Krise ab-
spielte – und wie das erste Telefonat
der beiden Präsidenten verlief.
Fest steht, dass die Ausladung für
Steinmeiers Stab völlig überraschend
kam. In den Tagen vor der Abreise
nach Warschau am 12. April kündig-
te Dudas Team die geplante Mitreise
Steinmeiers nach Kiew dort an – ein-
mal mündlich, einmal schriftlich.
»Awesome!«, toll!, soll die Reaktion
von Andrij Jermak gelautet haben,
dem Chef von Selenskyjs Präsi-
dialverwaltung. Dieses Signal wurde
in Berlin als freudige Einladung
gedeutet.
Am Tag vor Steinmeiers Abreise
kippte die Stimmung. Jermak soll
plötzlich Polens Botschafter kontak-
28 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022
tiert und ihm davon abgeraten haben,
Steinmeier mitzunehmen. Der war-
tete fast zeitgleich im Schloss Belle-
vue stundenlang auf ein verabredetes
Telefonat mit Selenskyj. Doch der
Ukrainer ließ das Gespräch platzen.
Was derweil in Kiew passierte, das
wüsste man in Berlin gern. In der
ukrainischen Regierung will sich auf
Anfrage niemand konkret zu den De-
tails der Absage äußern. Der Bundes-
präsident kennt nur ein kleines
Schriftstück, das ihn erreichte, als er
in Warschau auf die Weiterreise war-
tete. In der Note der ukrainischen
Regierung an die deutsche Botschaf-
terin Anka Feldhusen hieß es, der Be-
such Steinmeiers sei »substanzieller
und akzeptabler«, wenn er »unab-
hängig« stattfände. Auch Sicherheits-
bedenken wurden angeführt.
Ukrainian Presidential Press Office / IMAGO
Nun hatte der Bundespräsident
seine Ausladung schriftlich – er reiste
perplex und getroffen zurück nach
Berlin. Der Fall schlug international
Wellen. Bundeskanzler Olaf Scholz
sprach von einem »irritierenden«
Verhalten Kiews, womit er später
auch seine Zurückhaltung begründe-
te, selbst schnell nach Kiew zu reisen.
Sofort begannen Bemühungen, die
Präsident Selenskyj:
Was genau Kiew zur Lage zu befrieden. Steinmeiers Ver-
Ausladung ver- traute baten Botschafterin Feldhusen,
anlasste, das wüsste ein Telefonat der zwei Präsidenten zu
man in Berlin gern organisieren, sie spannten Selenskyjs
außenpolitischen Berater ein, sprachen
mit dem Botschafter in Berlin, Andrij
Melnyk. Ergebnis: Das Telefonat wur-
de für den 5. Mai terminiert. 45 Minu-
ten, ein Dolmetscher übersetzte, Mit-
arbeiter auf beiden Seiten hörten mit.
Dominik Butzmann
Staatsoberhaupt Steinmeier
Offiziell hieß es später, für die Prä-
sidenten sei der Austausch »sehr wich-
tig« gewesen. Steinmeier habe Selen-
skyj seine Solidarität ausgesprochen
und eine Einladung nach Kiew erhal-
ten. Der Konflikt schien beendet. Da-
bei kam es in dem Telefonat offenbar
fast zum nächsten Eklat – diesmal we-
gen Steinmeier.
Selenskyj, so die Schilderung meh-
rerer Beteiligter, soll zu Beginn sein
Bedauern ausgedrückt und von einem
Missverständnis gesprochen haben.
Er könne sich das Ganze auch nicht
richtig erklären. Er sei dankbar für
die deutsche Hilfe und würde sich
freuen, wenn Steinmeier bald nach
Kiew käme. Zum Beispiel am Wo-
chenende des 8. Mai, wenn man ans
Ende des Zweiten Weltkriegs erinne-
re. Doch dies hätte eine Abreise Stein-
meiers schon wenige Tage später
bedeutet. Und für diesen Tag hatte
schon Bundestagspräsidentin Bärbel
Bas eine Reise nach Kiew geplant.
Man finde sicher bald einen anderen
Termin, soll Selenskyj ergänzt haben.
Doch so leicht ließ sich der Bun-
despräsident nicht besänftigen. Vor
der gemeinsamen Zukunft müsse man
erst über die Vergangenheit sprechen,
soll er gefordert haben. Die Aus-
ladung sei ein historischer Affront
gewesen, beispiellos gegenüber einem
Staatsoberhaupt eines Verbündeten.
Ein so massiver Bruch der diploma-
tischen Usancen sei inakzeptabel, er
hätte gern eine Erklärung.
Als Selenskyj beteuerte, von dem
Vorgang nichts gewusst zu haben, soll
Steinmeier unwirsch geworden sein.
Er habe den gesamten Schriftverkehr
vor sich liegen. »Bitte ersparen Sie sich
selbst und mir, dass ich das jetzt alles
vorlese.« Nach einer weiteren Be-
schwichtigung Selenskyjs habe Stein-
meier sogar ein drittes Mal nachgehakt,
heißt es, und dann eine zwar auswei-
chende, aber wohl gebührend geknick-
te Reaktion des Ukrainers bekommen.
Darauf habe der Bundespräsident ein-
gelenkt. Gut, lassen wir das Thema.
Im Präsidialamt ist mancher noch
heute überrascht darüber, mit welcher
Beharrlichkeit der ansonsten so vor-
sichtige Steinmeier den Ukrainer
stellte. Aber auch ein wenig stolz,
dass der Chef die Schmach der Aus-
ladung nicht einfach geschluckt hat.
Offiziell teilte das Präsidialamt auf
Anfrage mit, man berichte nicht aus
vertraulichen Gesprächen. Niemand
in Bellevue will die jüngste Annähe-
rung wieder gefährden. Denn klar ist:
Es soll bald eine Reise des Präsiden-
ten nach Kiew geben. Und diesmal
soll sie wirklich »awesome« werden.
Melanie Amann, Veit Medick n
Deals, Tricks
und Skandale
Die Redaktionen von SPIEGEL und STANDARD beleuchten gemeinsam die politischen
Abgründe in Österreich:
Im wöchentlichen Podcast »Inside Austria« rekonstruieren Journalistinnen und
Journalisten beider Redaktionen die großen und kleinen Skandale Österreichs. Jeden
Samstag neu. Kostenlos auf spiegel.de/audio und überall, wo es Podcasts gibt.
Wenn Sie lieber lesen statt hören: Im Newsletter »Die Lage: Inside Austria« erhalten
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DEUTSCHLAND

SPIEGEL: Herr Asselborn, mit fast 18 Jahren

im Amt sind Sie der dienstälteste Außen-
minister der EU. An wie vielen Tagen sind
Sie mit der Frage aufgestanden, wie Sie es
wieder in die Nachrichten schaffen könnten?

»Die barbarische Realität Asselborn: (lacht) Ganz so schlimm ist es ja

nicht.
Baerbock: (lacht) Er ist öfter in den Nachrich-

des Krieges anerkennen« ten als ich.

SPIEGEL: Steigert das Ihren Einfluss in Europa,
Herr Asselborn?
Asselborn: Natürlich ist die Breitenwirkung
eine andere, wenn ich auch in den deutschen
»Kühlen Kopf bewahren, Nachrichten auftauche. Aber ich tue meine
Arbeit und rede so, wie ich es tun muss, um
europäische Werte zu verteidigen. Im besten
wenn das Herz brennt« Fall gibt es Momente, in denen man etwas
sagt, das bleibt.
SPIEGEL: So wie Ihr berühmtes »Merde alors«,
was so viel bedeutet wie: »Scheiße noch mal!«
SPIEGEL-GESPRÄCH Der Luxemburger Jean Asselborn, 73, Das haben Sie 2018 dem italienischen Innen-
dienstältester Außenminister der EU, und seine deutsche Kollegin minister Matteo Salvini entgegengeschleu-
Annalena Baerbock, 41, über undiplomatische dert, als dieser gegen Flüchtlinge hetzte.
Asselborn: Das war ein Tiefpunkt, an dem
Schlagzeilen, Momente der Ohnmacht und Sport als Ausgleich
sich gezeigt hat, wie weit wir in Europa in der
Migrationspolitik auseinanderliegen. Aus
einem ähnlichen Grund habe ich 2016 öffent-
lich gefragt, ob man einen Politiker wie
Ungarns Regierungschef Viktor Orbán in der
EU noch mitschleppen muss, nachdem er in
seinem Land Presse und Gerichte gegängelt
und Flüchtlinge hinter Stacheldraht gebracht
hat. Solche Sätze sind keine Kriegserklärun-
gen. Aber sie zeigen den Menschen zuge-
spitzt, dass ein Problem besteht.
SPIEGEL: Für das Auswärtige Amt arbeiten
rund 12 000 Bedienstete, im Luxemburger
Außenministerium sind es weniger als 1000.
Was sind die Vor- und Nachteile eines großen
Apparats?
Asselborn: Luxemburg hat den Deutschen im
14. und 15. Jahrhundert zwar vier Kaiser ge-
geben, aber seine Erdmasse ist heute rund
140-mal kleiner als die von Deutschland. Als
ich 2004 als Außenminister anfing, hatten wir
weltweit nur etwa 90 Diplomaten. Jetzt sind
es immerhin 160.
Baerbock: Dafür habt Ihr einen Herzog.
Asselborn: Einen Großherzog! Und unsere
Diplomaten haben den Vorteil, dass sie nicht
zu sehr spezialisiert sind, sondern in vielen
Ländern und Fachbereichen arbeiten können.
SPIEGEL: Frau Baerbock, wann haben Sie
Herrn Asselborn zum ersten Mal als politische
Stimme wahrgenommen?
Baerbock: 2004. Der Name Asselborn war
schon damals eng mit der europäischen Inte-
gration verbunden. Ich habe zur selben Zeit
»Wir werden zum ersten Mal Brüsseler Luft geschnuppert
– als Praktikantin im Europäischen Parlament.
dafür bezahlt, Er war in den Momenten, in denen Europa zu
dass wir an scheitern drohte, beispielsweise nach dem Nein
Carlos Alba / DER SPIEGEL

der Franzosen und Niederländer zum Verfas-

die Diplomatie sungsvertrag, der Fels in der europäischen
glauben.« Brandung – und ist es für mich auch heute, nicht
Jean Asselborn
Das Gespräch führten die Redakteure Markus Becker
und Christoph Schult in Madrid.

30 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022

 DEUTSCHLAND

nur als Neue, sondern gerade als ähnliche Herz-

bluteuropäerin wie er. Die Außenminister in
der EU sind sicher ohnehin alle etwas mehr
europäisch als national orientiert. Man über-
nimmt diesen Job nicht, wenn das Herz nicht
wenigstens ein bisschen für Europa schlägt –
aber: Unsere große Gemeinsamkeit ist, dass
wir aus Überzeugung handeln. Wir können
gerade als große und kleine Länder, als Jean
und ich, als sehr erfahrener Außenminister und
neue Außenministerin, gut über Bande spielen.
Das haben Jean und ich in den vergangenen
Monaten auch ein paarmal getan.
SPIEGEL: Sie meinen, Herr Asselborn sagt in
Absprache mit Ihnen Dinge, die Sie als deut-
sche Außenministerin nicht ohne Weiteres
sagen könnten?
Baerbock: Ja.
SPIEGEL: Ein Beispiel, bitte!
Baerbock: (lacht) Das geht nicht, da würden
wir ja unsere Strategie verraten.
Asselborn: Sagen wir es einmal so: Es gibt
Themen, über die ein Luxemburger klarer
sprechen kann.
SPIEGEL: Und zwar?
Asselborn: Vor allem Israel und Polen. Stellen
Sie sich eine Sekunde lang vor, Frankreichs
Regierung würde ein Gebiet in Deutschland
beschlagnahmen, Siedlungen darauf bauen
und Stacheldraht drum herum ziehen. Un-
vorstellbar, nicht? Aber Israels Regierung tut
genau das seit vielen Jahren in den Palästi- »Wir dürfen
nensergebieten. Darüber kann ich als Luxem- keinen ex-
burger Klartext reden – anders als ein Deut- klusiven Klub
scher, der die Last der Geschichte auf seinen
Carlos Alba / DER SPIEGEL

Schultern trägt. Mit Polen ist es ähnlich: Als innerhalb der

Luxemburger kann man sagen, dass auch in
Polen der Rechtsstaat funktionieren muss und
die Gerichte unabhängig zu sein haben, was
sie derzeit nicht sind. Wenn ein Deutscher
das sagt, reagieren viele in Polen reflexartig
mit dem Hinweis auf den Zweiten Weltkrieg.
SPIEGEL: Frau Baerbock, sind diese Einschät-
zungen zur Politik Israels und Polens Bei-
spiele für das Spiel über Bande, das Sie eben
erwähnt haben?
Baerbock: Ich habe zwar an andere Themen
gedacht, aber natürlich gibt es unter den
Außenministern ein Verständnis darüber, dass
jeder außen- und innenpolitisch andere Rollen
spielt. Für Deutschland wird Israels Sicherheit
aus gutem Grund immer an erster Stelle ste-
hen. Aber wenn wir in der Sache ähnlicher
Meinung sind, können wir diese unterschied-
lichen Rollen nutzen. Das Thema Rechtsstaat
ist dafür ein passendes Beispiel. Da sind
Deutschland und Luxemburg ein eingespiel-
tes Duo, auch was den Rechtsstaatsmechanis-
mus im EU-Haushalt angeht …
SPIEGEL: … der es neuerdings ermöglicht, ein-
zelnen Mitgliedsländern bei Verstößen För-
dergelder zu kürzen.
Baerbock: Richtig. Da haben wir im Rat der
Mitgliedsländer und im Europaparlament
deutlich gemacht, dass Verstöße teuer werden
können.
SPIEGEL: Als es um Flüchtlinge aus Syrien
oder Afrika ging, haben einige Länder im Os-
ten der EU jede Solidarität bei der Aufnahme
verweigert. Einige von ihnen sind nun mit
einer noch größeren Zahl von Flüchtlingen
aus der Ukraine konfrontiert. Kann das hel-
fen, eine EU-weite Lösung für das Migrations-
und Asylproblem zu finden?
Asselborn: Das wird sich noch zeigen. Was
ich aber schon jetzt sagen kann: Es hat mich
schockiert, wie in manchen Ländern auf
Flüchtlinge aus Syrien oder Eritrea reagiert
wurde und wie man dort nun auf Ukrainer
reagiert. Für einige besteht offenbar ein
Unterschied, ob Bomben auf Menschen in
Syrien oder in der Ukraine fallen. Da gibt es
einen tiefen Graben quer durch die EU. Den
müssen wir überwinden. Wir können nicht
Menschenrechte nach Nationalität, Kultur
oder Religion gewähren.
SPIEGEL: Frau Baerbock, im September 2015
– Luxemburg hatte die EU-Ratspräsident-
schaft inne – ließ Jean Asselborn im Minister-
rat über die Verteilung von Flüchtlingen in
der EU abstimmen. Ungarn, Tschechien, Ru-
mänien und die Slowakei wurden überstimmt,
die EU wurde gespalten. War es das wert?
Baerbock: Auch wenn viele Lebens- und
Amtsjahre zwischen uns liegen, sind wir
EU gründen.«
Annalena Baerbock
uns einig darüber, wie man die EU weiterbaut.
Und dazu gehört, dass man Dinge beim
Namen nennt. Wir kommen nur voran, wenn
sich einige Länder zusammentun. Und wenn
nicht alle mitmachen wollen, dann müssen
eben die Länder vorangehen, die gemeinsam
die Werte der EU leben wollen. Eine meiner
ersten Botschaften in Italien war: Wir akti-
vieren den Malta-Mechanismus wieder.
Auch wenn andere nicht mitmachen, ver-
pflichten wir uns endlich wieder, Geflüchtete
von der südlichen EU-Außengrenze auf-
zunehmen.
SPIEGEL: Herr Asselborn, in diesem Monat
werden Sie länger im Amt sein als der legen-
däre deutsche Außenminister Hans-Dietrich
Genscher. War es für Sie ein Reiz, Genschers
Rekord zu knacken?
Asselborn: Das war für mich ein Spiel. Man
kann das ja auf den Tag genau ausrechnen.
Der am längsten dienende Außenminister war
Prinz Saud Bin Faisal aus Saudi-Arabien mit
40 Jahren. Das schaffe ich nicht mehr, auch
an die knapp 30 Jahre des sowjetischen
Außenministers Andrej Gromyko komme ich
nicht mehr heran. Aber Genscher, das war
machbar.

Nr. 28 / 9.7.2022 DER SPIEGEL 31

DEUTSCHLAND
Baerbock: (lacht) 40 Jahre Außenminister,
lieber Jean, das solltest du dir nicht zum Ziel
nehmen!
SPIEGEL: Wie wichtig ist Erfahrung in dem
Job?
Asselborn: Sie kann ein großer Gewinn, aber
auch schrecklich ermüdend sein.
Baerbock: Als Jüngere kann man von Erfah-
renen lernen, sollte sich aber hüten, andere
zu kopieren. Denn dann hätte man nicht nur
keine eigenen Ideen und Haltung, sondern
verstünde auch nicht, dass Zeiten sich ändern
und Dinge, die mal richtig waren, heute falsch
sein können, weil die Welt oder auch Regime
sich ändern. Wir haben ja im Verhältnis zu
Russland gerade erlebt, wie gefährlich es sein
kann, wenn man einfach die alte Politik fort-
setzt. Wie oft habe ich vor dem 24. Februar
in Deutschland gehört, »Ja, aber Ostpolitik
zu Zeiten Willy Brandts …«. Und damit wur-
de das blinde Ja zu Nord Stream 2 begründet.
Wobei man übersah, dass Putin im Jahr 2021
eher nicht der Putin war, der 2001 im Deut-
schen Bundestag sprach.
SPIEGEL: Genschers Politikstil ging als Gen-
scherismus in die Geschichte ein. Ist das für
Sie beide ein Schimpfwort oder ein Vorbild?
Baerbock: Er war damals sehr erfolgreich. Wie
er die Wiedervereinigung durch Diplomatie
ermöglicht hat, das wird unvergessen bleiben.
Damals ging es darum, den europäischen
Partnern die Angst vor der Wiedervereini-
gung zu nehmen. Daher war es ratsam, sich
als deutscher Außenminister in Europa zu-
rückzuhalten. Ich bin aber froh, dass wir die
Zeit der Scheckbuchdiplomatie hinter uns
gelassen haben. Den Unwillen, sich außen-
politisch zu engagieren, durch Geld zu kom-
pensieren ist der deutschen Rolle in der Welt
nicht mehr angemessen. Heute fordern viele
unserer Nachbarländer von uns Deutschen
eine Führungsrolle. Unsere Verantwortung
ist, so wie andere mutig unsere Wiederver-
Außenminister Genscher (3. v. l.) 1975 in Brüssel*: »Er war damals sehr erfolgreich«
32 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022
einigung ermöglicht haben, jetzt mit Impulsen
voranzugehen.
SPIEGEL: Genscher plädierte auch bis zu sei-
nem Tod für einen Dialog mit Russland. In
einem seiner letzten Interviews 2015, also nach
der russischen Besetzung der Krim, kritisierte
er die westlichen Sanktionen und sagte, es sei
am Westen, auf Russland zuzugehen. Er habe
den russischen Präsidenten Wladimir Putin als
»durchaus pragmatisch« erlebt, so Genscher.
Asselborn: Ich bekenne, dass ich diesem Irr-
glauben auch anhing. Ich war nach allem, was
ich seit 2004 gesehen habe, fest davon über-
zeugt, dass man Russland einbinden und ein
normales Verhältnis zu Moskau aufbauen
kann. »Wandel durch Handel«, dieser Satz
von Egon Bahr – ich kenne wenige, die nicht
daran geglaubt haben.
SPIEGEL: Sie haben eine enge Beziehung zum
russischen Außenminister Sergej Lawrow ge-
pflegt, er kam wenige Monate vor Ihnen ins
Amt.
Asselborn: Ich war zwei Wochen vor der Be-
setzung der Krim in Moskau. Ich hatte keine
Ahnung, was passieren würde, und ich glau-
be, Lawrow auch nicht. Trotzdem bin ich sehr
enttäuscht, wir haben uns immer gut verstan-
den, Lawrow hat mich 2009 bei meinem 60.
Geburtstag in meinem Heimatort Steinfort
besucht.
SPIEGEL: So viel Vertrauen haben Sie Lawrow
nicht entgegengebracht, Frau Baerbock.
Baerbock: Ich möchte mir nicht anmaßen
vorauszusehen, wie Leute in zehn Jahren über
meine Politik urteilen werden. Rückblickend
kann man immer einfach sagen: »Hättet ihr
mal«. Es zeichnet Jean aus, dass er heute sagt:
Ich lag da falsch. Das schaffen nicht viele. Ich
hatte Lawrow viel später getroffen, wenige
Wochen vor dem russischen Angriffskrieg
und im Bewusstsein der Besetzung der Krim
– auch überzeugt davon, dass der Ansatz
»Wandel durch Handel« bei dem mittlerweile
Presspix
autoritären russischen Regime vollkommen
falsch ist. Aber dennoch habe ich versucht,
eine vernünftige Gesprächsbeziehung aufzu-
bauen. Ob er von Putins Plänen wusste, kann
ich nicht sagen. Aber auch ich musste fest-
stellen, dass einiges offensichtlich gelogen war.
Asselborn: Wenn Lawrow nichts davon wuss-
te, wäre es ein weiterer Grund, sich große
Sorgen zu machen. Putin hat die Demokratie
abgestellt, es gibt in Russland keine freie Pres-
se und keine unabhängigen Gerichte mehr.
Deshalb müssen wir den jungen Menschen
erklären, wie wichtig der Rechtsstaat ist. Da
geht es um das Fundament unserer Freiheit.
Wir werden den Frieden in Europa nicht
sichern durch Verträge, sondern durch Werte
und wie sie gelebt werden.
SPIEGEL: Für die Zukunft Europas hat in den
vergangenen Jahren vor allem der französi-
sche Staatspräsident Emmanuel Macron Vor-
schläge gemacht – wie jüngst mit der Idee
einer Gemeinschaft für Länder, die noch nicht
EU-Mitglied werden können oder wollen.
Baerbock: Die Diskussion über ein Europa der
zwei Geschwindigkeiten hatten wir schon mal,
Jean war dabei und mein Vorgänger Joschka
Fischer. Ich habe schon damals, ehrlich gesagt,
wenig davon gehalten. Wir haben jetzt durch
diesen furchtbaren Krieg die einmalige Chan-
ce und Verantwortung, Europa weiterzubauen,
aber wir müssen höllisch aufpassen, dass wir
es nicht spalten. Wir dürfen keinen exklusiven
Klub innerhalb der EU gründen. Der Kandi-
datenstatus für die Ukraine bedeutet nicht,
dass es eine Abkürzung zur Vollmitgliedschaft
gibt. Das ist die Lehre aus vorherigen Erwei-
terungen: Es darf bei unseren Werten keinen
Rabatt geben. Aber es darf eben auch nicht zu
einem leeren Versprechen werden.
SPIEGEL: Warum haben Sie sich neulich von
der Idee eines Konvents für eine EU-Verfas-
sung distanziert, obwohl die Ampel sich im
Koalitionsvertrag klar dazu bekennt? Darin
steht sogar das Ziel eines europäischen Bun-
desstaats.
Baerbock: Das war keine Absage an einen
Konvent. Er bleibt die Idealvorstellung für die
große Reform, auch als visionärer Weg hin zu
einem europäischen Bundesstaat. Ich will aber
nicht nur mit Visionen Politik machen. Dann
könnten wir uns bequem zurücklehnen und
sagen: Deutschland hat zuerst heroisch die
Idee eines Konvents eingebracht, aber leider
haben wir keine Mehrheit dafür. Ende des
Versuchs. So ticke ich aber nicht. Ich will,
dass sich in Europa etwas verändert. Und so-
lange ich nicht alle an meiner Seite habe – und
das braucht es für den großen Wurf –, arbeite
ich daran, wie auch bereits innerhalb der
bestehenden Verträge viel zum Besseren
verändert werden kann. Ein Beispiel: Mehr-
heitsentscheidungen in der Außenpolitik.
SPIEGEL: Haben Sie als Vertreter eines kleinen
Landes nicht die Sorge, bei Mehrheitsent-
* Mit seinen Amtskollegen Jean Sauvagnargues (Frank-
reich), James Callaghan (Großbritannien) und Henry
Kissinger (USA).

scheidungen überstimmt zu werden, Herr
Asselborn?
Asselborn: Nein, aber wir können Mehrheits-
entscheidungen in der Außenpolitik nur ein-
führen, wenn wir das einstimmig beschließen.
Diesen Konsens gibt es derzeit nicht.
Baerbock: Einspruch, Euer Ehren. Es braucht
diese Einstimmigkeit eben nur einmal. Und
dafür könnte es ein Momentum geben.
Asselborn: Zweites Problem: Selbst wenn wir
Mehrheitsentscheidungen hätten, stünde es
jedem Land der EU frei, bei den Vereinten
Nationen zu stimmen, wie es will. Die Frage
ist also, was es bringt, in der EU mit Mehrheit
für eine Position zu stimmen, wenn wir nicht
kontrollieren können, dass diese Position von
allen EU-Mitgliedern auch in den Gremien
der Uno vertreten wird. Ich fürchte, dass Euro-
Yves Herman / REUTERS
pa ohne eine große Reform unregierbar wird.
SPIEGEL: Was meinen Sie?
Asselborn: Wir sind jetzt 27 EU-Mitglieder.
Auf dem Balkan warten sechs Länder auf
Beitrittsverhandlungen. Hinzu kommen die
Türkei, Moldau, die Ukraine und Georgien.
Dann wären wir zusammen 37 EU-Mitglieder.
Ich nenne jetzt kein Jahr, in dem das passiert,
aber du wirst es erleben, Annalena, ich wahr-
scheinlich nicht mehr. Wir werden irgend-
wann nicht nur einen Konvent brauchen,
sondern eine völlig andere Struktur. Das
heißt: Die EU braucht einen richtigen Prä-
sidenten, einen Premierminister mit einer
Regierung, ein Parlament, das Gesetze vor-
schlagen kann, und einen Senat neben dem
Parlament, in dem jedes Land vertreten ist.
Die Länder werden weiter bestehen, aber das
Budget wird dann in Brüssel beschlossen.
Baerbock: Ich finde es wichtig, eine solche
Vision zu formulieren, damit man weiß, wo-
hin man will. Schon um denjenigen etwas
entgegenzuhalten, die das Gegenteil wollen
und ein Zurück zum Nationalstaat ja auch
ganz offen propagieren. Das darf nur nicht
dazu führen, dass man sich in der Zeit verliert,
bis ich so alt bin wie Jean jetzt, und nichts
passiert. Für mich ist das kein Widerspruch,
große Ziele zu haben und zugleich zu sagen:
Was sind die Schritte, die wir jetzt, heute,
gehen können auf dem Weg dahin. Und zu
dem Punkt in der Uno: Europäische Außen-
politik findet ja nicht nur in den Vereinten
Nationen statt. Ich hätte es zum Beispiel sehr
gut gefunden, wenn wir beim sechsten Sank-
tionspaket viel schneller entschieden hätten.
SPIEGEL: Genscher hatte während seiner
Amtszeit zwei Herzinfarkte. Wie halten Sie
beide sich fit?
Asselborn: Auf dem Rennrad. Wenn man mir
das Fahrrad wegnehmen würde, könnte ich
keine Politik mehr machen. Jeden Tag, den
man auf dem Fahrrad sitzt, merkt man, wie
schwach man ist. Und jedes Jahr werden die
Berge ein Prozent steiler. Aber du bist ja eine
Sportlerin, Annalena.
Baerbock: Ich war eine. Leider habe ich gera-
de zu wenig Zeit für Sport. Daher nehme ich
mir simple Dinge vor. Treppe statt Aufzug.
Und in meinem Büro steht ein Minitramp.
Außenministerin Baerbock mit Nato-Politikerinnen: »Erschüttert, wie oft ich erschüttert war«
SPIEGEL: Wie lange wollen Sie den Job noch
machen, Herr Asselborn?
Asselborn: Wir haben in Luxemburg Wahlen
im Oktober 2023. Da muss ich noch mal ran,
das bin ich auch meiner Partei schuldig. Wenn
ich so weit wäre, dass ich keinen Spaß mehr
an meiner Aufgabe hätte, dann würde ich auf-
hören. Aber so weit ist es zum Glück noch
nicht.
SPIEGEL: Zu Ihrem 60. Geburtstag vor 13 Jah-
ren bekamen Sie vom früheren ARD-Korres-
pondenten Rolf-Dieter Krause das Buch
»Höhenrausch« des ehemaligen SPIEGEL -
Journalisten Jürgen Leinemann geschenkt,
darin geht es um die Sucht der Politikerinnen
und Politiker nach Aufmerksamkeit. Sind Sie
süchtig, Herr Asselborn?
Asselborn: Nur nach dem Fahrrad. Ansonsten
mache ich meine Arbeit. Es gibt Tage, an
denen kein Mensch weiß, dass ich existiere.
Baerbock: (lacht) Außer wenn man den
Deutschlandfunk anschaltet.
SPIEGEL: Als Mittel gegen die Sucht zitiert
Leinemann einen Rat des Dichters Peter
Rühmkorf: »Bleib erschütterbar und wider-
steh!« Wann waren Sie zuletzt erschüttert?
Asselborn: Am 24. Februar, dem Tag des rus-
sischen Überfalls. Manchmal erdrückt einen
als Außenminister das Weltgeschehen.
Baerbock: Ich bin erschüttert, wie oft ich in
den ersten sechs Monaten als Außenminis-
terin erschüttert war. Einer der schlimmsten
Momente war, als mir die ukrainische Gene-
ralstaatsanwältin bei meinem Besuch in
Butscha eine Mappe mit Fotos gezeigt hat,
darunter eines von einem kleinen Kind,
das ganz eindeutig auf einer Kellertreppe
erschossen wurde, und eines von einem
16-Jährigen, mit einem Schuss direkt in die
Brust. Das sagt alles darüber, dass man mit
diesem Putin derzeit nicht verhandeln kann.
Es geht ihm um Vernichtung. Selbst von
Kindern.
DEUTSCHLAND
SPIEGEL: Und wann haben Sie zuletzt einer
Versuchung widerstanden?
Baerbock: Ach, des Öfteren. Einfach mal
sagen, was einem durch den Kopf geht, geht
als Außenministerin nicht. Am schwierigsten
ist es, wenn das Herz etwas anderes will,
als der Kopf sagt. Ich hätte zum Beispiel gern
versprochen, dass wir humanitäre Korridore
aus den umkämpften Gebieten in der Ukrai-
ne garantieren. Aber wir können das nicht
leisten. Ein solches Versprechen müsste mi-
litärisch abgesichert werden. Daher musste
ich klar sagen: Es wird keine Flugverbots-
zonen geben. Gute Außenpolitik heißt eben
auch, einen kühlen Kopf zu bewahren, auch
wenn das Herz brennt. Ertragen zu müssen,
dass man nichts tun kann – das ist manchmal
auch die Brutalität von Außenpolitik.
Asselborn: Man muss die Realität des Krieges
anerkennen, auch wenn sie barbarisch ist.
Andererseits werden wir beide dafür bezahlt,
dass wir an die Diplomatie glauben.
SPIEGEL: Frau Baerbock, Herr Asselborn, wir
danken Ihnen für dieses Gespräch. n
Madrid statt Berlin
Nicht in Berlin oder Luxemburg, sondern in
einem Hotel in Spaniens Hauptstadt Madrid
trafen die SPIEGEL-Redakteure Markus
Becker und Christoph Schult die deutsche
Außenministerin Annalena Baerbock und
ihren Amtskollegen Jean Asselborn. Als das
Doppelinterview vereinbart wurde, ahnte
ein Mitarbeiter des Auswärtigen Amts einen
»logistischen Albtraum«. Tatsächlich wäre
das Treffen am Rande des Nato-Gipfels ver-
gangene Woche beinahe geplatzt, weil
Asselborns Flug aus Luxemburg verspätet
in München landete. Baerbock hingegen
konnte sich wie immer auf die Flugbereit-
schaft der Bundeswehr verlassen.
Nr. 28 / 9.7.2022 DER SPIEGEL 33
DEUTSCHLAND

Mit Kriegsverbrechern reden

AUSSENPOLITIK Der Umgang mit Wladimir Putin entwickelt sich zum Eiertanz auf höchstem Niveau.
Joe Biden spricht nicht mehr mit dem Aggressor, Olaf Scholz versucht es noch, denn die
Forderungen nach diplomatischen Initiativen werden lauter. Aber was ist wichtiger: Moral oder Realpolitik?

enn der Bundeskanzler mit Wladimir dürfte es praktisch unmöglich sein, den mer nicht aufgearbeitet. Da will sich niemand
W Putin telefoniert, zeigt sich der rus-
sische Präsident stets von ausgewie-
sener Höflichkeit. Seine Stimme, so berichten
Machthaber im Kreml argumentativ zu er-
reichen, so lautet ein verbreitetes Argument.
Einem Mann, der einen Krieg auf Lügen baut
dabei erwischen lassen, schon wieder auf
Dialog mit Putins Regime zu setzen – es wür-
de wirken, als hätte man nichts gelernt. Statt-
es Eingeweihte, sei eher leise, der Ton weniger und über Jahre daran gearbeitet hat, den Wes- dessen setzen die meisten Beteiligten auf ma-
belehrend als bei öffentlichen Auftritten. ten zu täuschen, sei schlicht nicht mehr zu ximale Distanz zu Russland. Der Druck auf
Meist spricht Putin zur Begrüßung ein paar trauen. Als »sinnlos« werden die Telefonate Putin müsse »aufrechterhalten« werden, be-
Sätze Deutsch, dann wechselt er ins Russi- von Scholz und Macron mit Putin etwa in tonte der Kanzler dieser Tage. Die Botschaft:
sche, ein Dolmetscher übersetzt. Polen und im Baltikum abgetan. Jetzt ist nicht die Zeit für eine Annäherung.
Insgesamt achtmal hat der Kanzler seit Auch das Erbe der deutschen Russland- Trotzdem hat in der Regierungszentrale
dem russischen Angriff auf die Ukraine mit politik spielt eine Rolle. Die Blauäugigkeit, längst das Nachdenken darüber begonnen,
dem Kremlherrscher telefoniert, mal allein, mit der mehrere Bundesregierungen versuch- wie das künftige Verhältnis zu Russland aus-
mal gemeinsam mit Frankreichs Staatspräsi- ten, Moskau Brücken zu bauen, ist noch im- sehen könnte. Es gibt zu viele Themen, die
dent Emmanuel Macron. Mal ging die Initia-
tive von Putin aus, mal von Scholz.
Über weite Strecken verlaufen diese Tele-
fonate seit Kriegsbeginn nach demselben
Muster: Der Kanzler kritisiert das brutale
Vorgehen der russischen Truppen, fordert ein
Ende der Kampfhandlungen und macht Mos-
kau für die weltweiten Folgen des Krieges
verantwortlich. Putin rechtfertigt die Inva-
sion, spricht von Selbstverteidigung und
schiebt alle Schuld auf Kiew.
Beim bislang letzten bilateralen Telefonat
Mitte Mai aber fiel ein Satz, der den Kanzler
und seine Berater aufhorchen ließ: Beide Sei-
ten hätten Fehler gemacht, sagte Putin in dem
75-minütigen Gespräch. Beide Seiten? Also
auch er, Wladimir Wladimirowitsch Putin?
War das nur eine Floskel, oder meinte der
russische Präsident es ernst?
Momente wie dieser bestärken den Kanz-
ler darin, dass es richtig sei, weiter mit dem
Kremlchef zu telefonieren. Scholz will Putin
immer wieder damit konfrontieren, was er
mit dem Invasionsbefehl in der Ukraine und
weltweit angerichtet hat. Und er will ausloten,
ob Moskau irgendwann von seinen grotesken
Vorstellungen eines Diktatfriedens abrückt –
und sei die Chance auch noch so klein. So
wird es in Regierungskreisen erklärt.
Erin Schaff / The New York Times / Redux / laif

Die Frage nach Gesprächen mit Russland

ist äußerst sensibel, sie berührt ein Tabu. Das
hat mehrere Gründe, der Krieg ist einer davon.
Wladimir Putin führt die Angriffe mit unver-
änderter Brutalität fort, der Westen stützt
Kiew mit schwerem Gerät und Milliardenüber-
weisungen. Ausgerechnet jetzt den Kontakt
zu Moskau zu suchen wäre halsbrecherisch –
so zumindest sehen es viele in Berlin.
Dann ist da, zweitens, Putin selbst. Solan-
ge er seinen imperialen Fantasien anhängt, Präsident Putin beim G20-Gipfel 2019 in Japan: Stunde null der Diplomatie

34 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022


besprochen werden müssen, neben dem Krieg
in der Ukraine. Was ist mit anderen Konflik-
ten, in denen Russland eine zentrale Rolle
spielt: Syrien, Libyen, die Atomverhandlun-
gen mit Iran? Kann man mit der russischen
Regierung noch über die Klimapolitik ver-
handeln – oder wäre das eine diplomatische
Aufwertung, die man Putin angesichts der
Kriegsverbrechen gegen ukrainische Zivilis-
ten nicht zugestehen will?
Es geht um Realpolitik auf der einen und
Moral auf der anderen Seite.
Vorrangiges Ziel müsse sein, den »barba-
rischen und völkerrechtswidrigen Angriffs-
krieg« Russlands schnellstmöglich zu been-
den, sagt Sachsens Ministerpräsident Michael
Kretschmer (CDU). Dazu seien auch Ge-
sprächsversuche mit dem Kreml unverzicht-
bar, »aber aus eigener Stärke und mit klaren
Botschaften«. Deutschland und der Westen
brauchten darüber hinaus eine langfristige
Russlandstrategie, sagt der CDU-Vize. »Die
Bundesregierung muss klar sagen, wie sie sich
die Beziehungen zu Russland künftig vor-
stellt – auch mit Blick auf eine mögliche Zeit
nach Putin.«
Kürzlich zeigte sich, auf welch dünnem Eis
sich Scholz bewegt. Mitte Juni trat sein außen-
Kanzler Scholz: Auf dünnem Eis
DEUTSCHLAND
politischer Berater Jens Plötner bei der Deut- Natürlich war es unvorsichtig, solche Ge-
schen Gesellschaft für Auswärtige Politik in danken öffentlich zu äußern. Andererseits
Berlin auf. Der Karrierediplomat dachte öf- gehört es zur Aufgabenbeschreibung eines
fentlich darüber nach, wie Deutschland in jeden Diplomaten, Szenarien durchzuspielen
Zukunft mit Russland umgehen sollte. Weni- und Optionen für Gespräche zu prüfen. So
ge machten sich die Mühe, den gesamten Vor- schlimm ein Krieg ist – und Russlands Vor-
trag anzuhören – einfacher war es, einen Satz gehen in der Ukraine ist barbarisch –, so gilt
aus dem Zusammenhang zu reißen, der sich es immer, noch Schlimmeres zu verhindern:
in den sozialen Netzwerken rasch verbreitete: humanitäre Katastrophen, eine Ausweitung
»Mit 20 Mardern kann man viele Zeitungs- des Krieges auf andere Länder, eine atomare
seiten füllen«, sagte Plötner über die mögliche Eskalation. Deshalb pflegten Russen und
Lieferung deutscher Schützenpanzer, »aber Amerikaner den gesamten Kalten Krieg über
Artikel darüber, wie wird in Zukunft unser Kontakt, deshalb verhandelte die Bundes-
Verhältnis zu Russland sein, gibt’s jetzt ir- regierung jahrelang mit den afghanischen Ta-
gendwie weniger.« liban, obwohl diese Tausende Menschenleben
Nicht nur aus der Opposition musste sich auf dem Gewissen hatten.
der Kanzlerberater Kritik anhören. Es hand- Im Verhältnis zu Russland aber sind alle
le sich um die »Fortsetzung des Irrtums, dass diplomatischen Aktivitäten zum Erliegen ge-
Deutschland sich selbst, zugunsten eines posi- kommen. Außer Scholz und Macron spricht
tiven Verhältnisses zu Russland, Zurückhal- kein westlicher Politiker mehr mit Putin.
tung gegenüber der Ukraine auferlegt«, Wenn US-Präsident Joe Biden wissen will,
schimpfte CDU-Außenpolitiker Norbert Rött- wie der Kremlchef gerade gestimmt ist, fragt
gen. Die FDP-Verteidigungsexpertin Marie- er den Bundeskanzler oder den französischen
Agnes Strack-Zimmermann, Vorsitzende des Präsidenten. Ein verlässlicher Draht von Wa-
Verteidigungsausschusses, twitterte, die Aus- shington nach Moskau besteht nur zwischen
sagen Plötners offenbarten das »Denken, das den beiden Generalstabschefs. Der Amerika-
uns in den letzten Jahrzehnten in diese furcht- ner ruft seinen russischen Amtskollegen regel-
bare Situation gebracht hat«. mäßig an, schon um einer nuklearen Eskala-
tion vorzubeugen.
Die einzigen Diplomaten, die noch mit-
einander reden, sind Scholz’ Berater Plötner
und sein russischer Counterpart Juri Uscha-
kow. Die Gespräche sind jedoch ernüchternd,
jenseits der Kontakte zwischen Kanzleramt
und Kreml drehen deutsche Diplomatinnen
und Diplomaten im Leerlauf. Weder be-
kommt Russlands Botschafter in Berlin Ter-
mine im Auswärtigen Amt, noch wird
der deutsche Botschafter in Moskau, Géza
Andreas von Geyr, von russischen Regie-
rungsvertretern empfangen. Von einer »Stun-
de null« der Diplomatie ist in Berlin die Rede.
Je länger der Krieg dauert, desto lauter
werden jedoch die Rufe nach Verhandlungen.
»Deutschland und Europa brauchen eine
langfristige strategische Perspektive, wie mit
Russland und dem Regime Putins umgegan-
gen werden soll«, sagt etwa FDP-General-
sekretär Bijan Djir-Sarai, der nicht im Ruf
steht, ein Russlandversteher zu sein. »Ich ge-
höre nicht zu jenen, die prinzipiell sagen, es
dürfte keine Gespräche mehr mit wichtigen
Persönlichkeiten der russischen Führung ge-
ben«, sagt der FDP-Außenexperte. »Auch
wenn uns die Gesprächspartner nicht gefallen:
Es ist richtig und wichtig, solche Kanäle offen
zu halten.« Allerdings müsse die Botschaft
glasklar sein: »Wir sind nicht neutral, sondern
auf der Seite der Ukraine.«
Außerhalb des Parlaments, in der außen-
Andreas Chudowski / DER SPIEGEL
und sicherheitspolitischen Community, ist
die Debatte bereits weiter. Dort plädieren
einige offen für direkte Gespräche mit Russ-
land. »Schon zum Schutz unserer eigenen
Sicherheit müssen wir den Kontakt mit Mos-
kau suchen«, sagt etwa Wolfgang Richter,
Oberst a. D. und Forscher an der Stiftung
Wissenschaft und Politik in Berlin. An den
Nr. 28 / 9.7.2022 DER SPIEGEL 35
DEUTSCHLAND
Big Player
Die G20-Mitglieder und deren Anteil an den russischen Gesamtexporten 2020 (= 337 Mrd. Dollar)
Großbritannien
Kanada
USA 3,3
Frankreich 1,4
EU** 23,9
Mexiko
Anteil an den
Exporten aus
Russland 2020,
in Prozent*
10 Brasilien
5 wie sie mit dem heiklen Termin um-
1 gehen sollten. Einige äußerten Zwei-
G20-Staaten Argentinien
Europäische Union
Sanktionen
gegen Russland
* Auswahl der G20-Mitglieder mit relevantem Handel mit Russland;
** Die EU ist eigenständiges G20-Mitglied; russische Exporte in die EU ohne Deutschland, Frankreich und Italien
S Quelle: WTO, Deutsch-Russische Auslandshandelskammer
◆
langen Nato-Grenzen mit Russland
und Belarus stünden sich viele Sol-
daten gegenüber, die Gefahr militä-
rischer Zwischenfälle sei »sehr hoch«.
»Das verlangt einen Austausch zu
Sicherheitsfragen mit Russland. Man
muss reden und militärische Kontak-
te halten, um Zwischenfälle zu ver-
hindern oder zu deeskalieren. Wir
können das nicht davon abhängig
machen, ob Putin noch im Amt ist
oder nicht.«
»Der Druck wird steigen, mal vor-
zufühlen, wann ein Waffenstillstand
möglich ist. Und der muss verhandelt
werden«, sagt der Soldat im Ruhe-
stand. Dass dabei die Unabhängigkeit
der Ukraine nicht zur Disposition
stehe, sei klar. »Dagegen könnte die
Neutralität der Ukraine mit realisti-
schen Sicherheitsgarantien eine er-
wägenswerte Option sein.« Richter
sagt: »Es mag schmerzen. Aber man
muss akzeptieren, dass auch die an-
dere Seite Sicherheitsinteressen hat.
Und dann muss man schauen, ob es
Kompromisse geben kann.«
Thorsten Benner, Direktor des
Global Public Policy Institute in Ber-
lin, sieht die Situation an einem ent-
scheidenden Punkt. Gespräche müss-
ten »von zwei klaren Prinzipien« ge-
leitet sein, sagt er: »Die Ukraine muss
entscheiden. Und es darf keinen deut-
schen Alleingang geben. Die größte
Gefahr ist, dass wir uns jetzt wieder
einen eigenen Plan ausdenken. Das
ist schon bei Minsk schiefgegangen,
wenn auch mit guten Absichten.«
Und dann rückt noch ein ganz spe-
zieller Termin näher und näher.
36 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022
6,9
Deutschland
5,5
Türkei 4,7
Italien
3,0
Saudi-Arabien
Südafrika
Als der Kanzler vergangene Wo-
che den US-Präsidenten und die an-
deren Staats- und Regierungschefs
der G7 auf Schloss Elmau in Bayern
empfing, platzte die Meldung he-
rein, dass Wladimir Putin die Einla-
dung Indonesiens zum G20-Gipfel
im November auf Bali angenommen
habe.
Auf einer Bühne mit Putin? Nicht
alle Anwesenden waren sofort über-
zeugt, dass man angesichts dieser
neuen Entwicklung noch auf Bali er-
scheinen sollte. Dem Vernehmen
nach drängten vor allem die beiden
Deutschen in der Runde, Kanzler
Scholz und EU-Kommissionspräsi-
dentin Ursula von der Leyen, auf eine
einheitliche Linie. Sie lautete: Wir
nehmen die Herausforderung an.
Es sei wichtig, Putin »ins Gesicht
zu sagen, was wir von ihm halten«,
sagte von der Leyen. Italiens Minis-
terpräsident Mario Draghi behaupte-
te zwar, der indonesische Präsident
Joko Widodo habe eine physische
Teilnahme des russischen Präsidenten
ausgeschlossen – aber wer weiß
schon, was bis November noch alles
passiert? Vom heutigen Standpunkt
aus gesehen, sagte der Bundeskanzler
in Elmau, laute die Entscheidung der
G7-Staaten, »dass sie sich dahin be-
geben«. Der ukrainische Präsident
Wolodymyr Selenskyj hatte bereits
zuvor zugesagt.
Politikberater Benner sieht für
Scholz und andere Staats- und Regie-
rungschefs eine Chance darin, auf
den russischen Machthaber zu tref-
fen. »Auf dem G20-Gipfel sollte Putin
klar konfrontiert werden«, fordert er.
»Der Krieg gehört als Thema auf den
Tisch. Parallel müssen wir möglichst
viele Staaten in den G20 von unseren
Positionen überzeugen. Verständnis
für diese Positionen gibt es nicht,
Russland wenn wir den Gipfel boykottieren,
nur weil Putin kommt.«
Wie kompliziert das werden kann,
Japan 2,7 zeigten die Vorbereitungen für das
China
14,6 Treffen der G20-Außenministerinnen
und -Außenminister, das Ende dieser
Südkorea 3,7
Woche auf Bali stattfand.
Indien Der russische Außenminister Ser-
1,7
gej Lawrow hatte den indonesischen
Gastgebern im Vorfeld zugesagt,
Indonesien
daraufhin berieten die G7-Staaten,
Australien fel, ob man überhaupt anreisen soll-
te. Andere schlugen vor, demonstra-
tiv den Sitzungssaal zu verlassen,
wenn Lawrow sprechen sollte. Bei
den Vereinten Nationen kommen sol-
che »Walk-outs« aus Protest immer
wieder vor.
Die Deutschen, derzeit Vorsitzen-
de der G7, pochten hingegen darauf,
die Schwellenländer auf Bali nicht
kampflos Lawrows rhetorischem
Talent zu überlassen. Schließlich
glaubt man in vielen Ländern Afrikas,
Asiens und Lateinamerikas dem Nar-
rativ Putins, wonach die westlichen
Sanktionen an explodierenden Ener-
gie- und Nahrungsmittelpreisen
schuld seien.
Es wurde beschlossen, Lawrow mit
den Lügen des Kreml zu konfrontie-
ren. Die G7-Länder setzten bei den
Indonesiern durch, dass direkt nach
dem russischen Außenminister ein
Redner aus ihrem Kreis sprechen
würde. Mit den Indonesiern wurde
zudem vereinbart, dass kein G7-Ver-
treter neben Lawrow sitzen müsse.
Alles vermeiden, was Nähe sugge-
riert, so lautete die Devise.
Außenministerin Annalena Baer-
bock (Grüne) dürfte sich an einen Rat
erinnert haben, den sie schon bei
ihrem ersten Treffen mit Lawrow be-
herzigte: bloß nicht lächeln.
Baerbock will auf Distanz bleiben,
Verhandlungen mit Putin schließt
»Schon zum sie wegen der russischen Gräueltaten
in Butscha und anderen Orten aus:
Schutz un­ »Das sagt alles darüber, dass man
serer eigenen mit diesem Putin derzeit nicht ver-
Sicherheit handeln kann«, sagte Baerbock dem
SPIEGEL (siehe Seite 30). »Es geht
müssen wir ihm um Vernichtung. Selbst von
den Kontakt Kindern.«
Dafür wird man wohl miteinander
mit Moskau reden müssen.
suchen.« Florian Gathmann, Matthias Gebauer,
Wolfgang Richter, Veit Medick, Christoph Schult,
Oberst a. D. Severin Weiland n

Tag des
Jammers
JUSTIZ Bund und Länder müssen
neue Gesetze für den Verfassungs-
schutz aufstellen. Geheimdienstler
sind beunruhigt: Werden sie behin-
dert beim Einsatz gegen Extremis-
ten oder ausländische Agenten?
ür Kerem Schamberger war es ein Tag
F des Jubels. »We did it«, twitterte der
Kommunist, nachdem er als Kläger dem
Geheimdienst in Bayern eine Niederlage bei-
gebracht hatte. Weite Teile des dortigen Ver-
fassungsschutzgesetzes, so entschied Karls-
ruhe Ende April, seien mit dem Grundgesetz
unvereinbar.
Für Vertreter des Sicherheitsapparats war
es ein Tag des Jammers. In Bayern, in den
anderen Ländern, auch im Bund. Denn das
Urteil der höchsten deutschen Richter bedeu-
tet, dass sich die Arbeit der Geheimen ändern
muss. Im ganzen Land müssen nun die Ge-
setze reformiert werden.
Die Unruhe bei den Diensten ist jetzt groß.
Welche Mittel zur Überwachung welcher Grup-
pen werden sie in Zukunft einsetzen dürfen?
Sechsmal schalteten sich auf Initiative des
Bundesinnenministeriums seit dem Frühjahr
Beamtinnen und Beamte in einer Bund-Län-
der-Arbeitsgruppe zusammen, um die Folgen
des Urteils abzuschätzen. Inzwischen liegt
ein interner Bericht vor, der Grundlage für
die Reformen sein soll. Doch das mehr als
130 Seiten starke Papier dürfte der Politik und
den Behörden noch Kopfzerbrechen bereiten.
Bei manchen Fragen räumen die Fachleu-
te offen ein, trotz intensiver Lektüre des
Urteils ratlos zu sein. Aus der Entscheidung
ergäben sich »Herausforderungen von hoher
Praxisrelevanz«, die »eher angerissen als ab-
schließend geklärt scheinen«, klagen sie.
Karlsruhe hat gleich für mehrere zentrale
Instrumente der Dienste die Hürden erhöht:
für das Beschatten von Extremistinnen und
Extremisten etwa. Oder für den Einsatz be-
zahlter Informanten, sogenannter V-Leute,
die bislang oft Details aus dem Inneren mut-
maßlich verfassungsfeindlicher Gruppen lie-
fern. Vor allem in nicht gewaltbereiten Zirkeln
dürfte es viel schwieriger werden, geheime
Zuträgerinnen und Zuträger einzusetzen, so
die Sorge – etwa im Fall der AfD.
Die Dienste werden nicht nur ausführlich
begründen müssen, warum das Anwerben von
V-Leuten im konkreten Fall nötig und verhält-
nismäßig ist. Eine neue Kontrollinstanz wird
solche Operationen vorab absegnen müssen.
Für das von Thomas Haldenwang geleite-
te Bundesamt könnte das der Unabhängige
Kontrollrat sein. Er besteht aus Bundesrich-
terinnen und Bundesrichtern und prüft be-
reits, wie der Auslandsdienst BND Daten aus
den weltweiten Internetströmen abfängt.
Doch in den 16 Bundesländern gibt es sol-
che Instanzen nicht. Hier kämen Ermittlungs-
richterinnen für die Aufgabe infrage oder
Kontrolleure in den Parlamenten. Vielleicht
aber müssen die Länder ebenfalls neue Ein-
richtungen schaffen.
Wie das in der Praxis funktionieren soll, ist
Geheimdienstlern schleierhaft. »Wenn wir uns
erst an eine externe Kommission wenden müs-
sen, um operative nachrichtendienstliche Maß-
nahmen durchführen zu können, kann das
wertvolle Zeit kosten«, sagt Thüringens Ver-
fassungsschutzchef Stephan Kramer. »So eine
Kommission müsste an 365 Tagen im Jahr rund
um die Uhr entscheidungsfähig sein.«
Die Bund-Länder-AG wägt in ihrem Be-
richt verschiedene Ideen ab. So seien Ermitt-
lungsrichter zwar »grundsätzlich entschei-
dungskompetent« und arbeiteten schon jetzt
im Bereitschaftsdienst. Doch durch häufige
Wechsel fehle die Kontinuität, weshalb das
Modell für die komplizierte Kontrolle des
V-Leute-Einsatzes »ungeeignet« erscheine. Bei
einem Parlamentsgremium wiederum mange-
le es an »Distanz zum politischen Raum«. Die
Beamtinnen und Beamten befürchten »Offen-
barungsrisiken«. Gemeint ist, dass Geheim-
informationen durchsickern könnten.
Kritisch blicken Praktiker auch auf einen
zweiten zentralen Punkt des Karlsruher Grund-
satzurteils. Das Gericht pocht schärfer auf das
Trennungsgebot zwischen Geheimdiensten
und Polizei, ein Gegenentwurf zur »Geheimen
Staatspolizei« im Nationalsozialismus.
So sollen Verfassungsschützer den Polizei-
behörden nur bei einer »konkretisierten Ge-
Filip Singer / EFE / epa
Verfassungsschutzpräsident
Haldenwang
DEUTSCHLAND
fahr« ihre geheim gesammelten Informatio-
nen übermitteln können, etwa um einen Ter-
roranschlag zu verhindern.
»Für uns macht es das schwieriger, weil
man Menschen nur schwer in den Kopf schau-
en kann«, sagt der bayerische Innenminister
Joachim Herrmann (CSU). Oft erkenne man
die Gefahr, die von jemandem ausgehe, erst
dann, wenn man die Erkenntnisse aller Be-
hörden nebeneinanderlege.
Das war eine Lehre aus den islamistischen
Anschlägen vom 11. September 2001 und dem
Versagen der Sicherheitsbehörden im Fall der
rechtsextremen Terrorzelle NSU. Die Behör-
den sollten ihr Wissen nicht voneinander ab-
geschottet horten, sondern austauschen.
Droht mit dem Karlsruher Urteil jetzt eine
Kehrtwende? Mehrere Minister und Verfas-
sungsschutzchefs befürchten das.
»Nach dem Auffliegen des NSU war es ein
großes Anliegen, dass Verfassungsschutz und
Polizei ihre Zusammenarbeit intensivieren«,
sagt Bayerns Verfassungsschutzchef Burkhard
Körner. Nun sei man »gezwungen, einen
Schritt zurückzutreten«. Hessens Innenminis-
ter Peter Beuth (CDU) wiederum glaubt: »Die
wiederholt angemahnte bessere Zusammen-
arbeit deutscher Sicherheitsbehörden wird mit
dem Urteil nicht einfacher.«
Bei enger Auslegung der Entscheidung er-
geben sich für die Bund-Länder-Arbeitsgrup-
pe sogar »massiv irritierende Ergebnisse«.
Demnach wäre es den Diensten nur dann er-
laubt, Informationen an die Strafverfolger
weiterzugeben, wenn es um »besonders
schwere Straftaten« gehe. Dazu zähle nach
einem gängigen Deliktkatalog aber keine ge-
fährliche Körperverletzung, etwa ein Knüp-
pelüberfall von Neonazis auf Asylbewerbe-
rinnen. Auch Spionage für fremde Mächte wie
Russland sei hiervon nicht abgedeckt.
Wenn die Dienste in diesen Fällen keine
Daten an Polizei und Staatsanwaltschaft über-
mitteln dürften, warnen die Fachleute, käme
das »einem faktischen Verzicht auf jegliche
Strafverfolgung gleich«. Hinweise auf aus-
ländische Agenten kämen fast immer vom
Verfassungsschutz.
Unmittelbare Auswirkungen der Karlsru-
her Entscheidung bekommt bislang nur Bay-
ern zu spüren. Bis ein neues Gesetz vorliegt,
muss der Freistaat einige seiner Spitzel ab-
schalten. Momentan darf das Landesamt
V-Leute nur zur Aufklärung gewaltbereiter
Gruppen einsetzen, nicht aber um sogenann-
te legalistische Organisationen zu beobach-
ten. Zumindest für einige Zeit werde der Ver-
fassungsschutz Einblicke verlieren, etwa bei
der Muslimbruderschaft, den Grauen Wölfen
und der AfD, heißt es.
Für die Praktiker ist vor allem wichtig, dass
Klarheit herrscht. Er habe nichts gegen stär-
kere Kontrolle, sagt ein Geheimdienstler.
Aber er müsse wissen, welche Mittel er noch
anwenden könne. »Es ist nun wichtig, zügig
Handlungssicherheit zu schaffen«, sagt Bay-
erns Verfassungsschutzchef Körner.
Ann-Katrin Müller, Wolf Wiedmann-Schmidt n
Nr. 28 / 9.7.2022 DER SPIEGEL 37
DEUTSCHLAND

mal, Miersch werde Mützenich beerben. Der

Fraktionschef wäre damals nach eigenem Be-
kunden gern Bundestagspräsident geworden,
auch als Minister wurde er gehandelt.
Aus beidem wurde nichts, Olaf Scholz ach-
tete bei der Vergabe der Spitzenposten streng
auf die Parität zwischen Männern und Frauen.
Und so steht Mützenich weiter an der Spitze der
Kanzlerfraktion, Miersch dreht Warteschleifen.
Schon länger, spätestens seit dem russi-
schen Überfall auf die Ukraine wirkt Mütze-
nich jedoch ausgelaugt, mehr noch: amts-
müde. Als offenes Geheimnis gilt in der SPD,
dass er nicht die gesamte Legislaturperiode
Fraktionschef bleiben will. Gewählt ist er bis
September nächsten Jahres, also für die Hälf-
te der Legislatur. Doch wann der Machtwech-
sel erfolgt, ist unklar. Für die größte Fraktion
wird das zunehmend zum Problem, denn die
SPD wirkt im Bundestag blass, wie gelähmt.

snapshot-photography / ullstein bild

Das ist auch ein Problem für den Kanzler.
Alles lastet öffentlich auf ihm, der Druck, die
Erwartungen. Und den Ärger über die Regie-
rungspolitik bekommt meist er ab. Zudem
steigt mit jeder Woche der Unklarheit das
Risiko eines Machtkampfs um die Mützenich-
Nachfolge. Ein Hauen und Stechen in der
Fraktion ist das Letzte, was Scholz jetzt ge-
Fraktionsvorsitzender Mützenich (2. v. l.), SPD-Parlamentarier im Bundestag 2021: Erosion der Macht brauchen kann.
Wer ein starker Kanzler sein will, braucht
eine starke Person an der Spitze der Fraktion,
die Abgeordnete zusammenhält, zur Ord-
nung ruft oder tröstet. Willy Brandt und Hel-

Wie gelähmt mut Schmidt hatten Herbert Wehner, auch

wenn der eher selten tröstete.
Und Scholz?
Öffentlich will niemand aus der Fraktion
SPD Die Sozialdemokraten stellen die meisten Abgeordneten im Bundes- Druck auf Mützenich machen. Zu heikel ist
die Lage angesichts der Vielzahl an Krisen,
tag, aber ihr Fraktionschef wirkt amtsmüde, und ein Nachfolger mit denen die Koalition konfrontiert ist.
steht noch nicht fest. Für Kanzler Scholz könnte das zum Problem werden. Doch die Stimmung verschlechtert sich. In
der Fraktionssitzung am Dienstag machten
zahlreiche Parlamentarierinnen und Parla-
m Dienstagmittag wirkt es vor dem Mützenich, 63, hat acht Stellvertreterinnen mentarier ihrem Unmut über die Reform des
A Otto-Wels-Saal im Bundestag kurz so, und Stellvertreter, Miersch wird seit Monaten Wahlrechts Luft. Käme das Modell wie ge-
als wäre der Machtwechsel in der SPD- als Kandidat für die Nachfolge gehandelt. Der plant, müssten direkt gewählte Abgeordnete
Fraktion bereits vollzogen. Matthias Miersch Umweltpolitiker aus Hannover ist einer der bei- fürchten, den Einzug ins Parlament zu ver-
tritt vor die Kameras und spricht darüber, was den Dienstältesten unter den Fraktionsvizes – passen – also ausgerechnet solche Volksver-
die Koalition in der letzten Sitzungswoche und er hat sich über die Jahre breiten Rückhalt treter, die im Wahlkreis erfolgreich sind.
vor der Sommerpause umtreibt. Gaskrise, unter den Kollegen erarbeitet. Direkt nach der In der Sitzung sprach sich auch Mierschs
Wahlrechtsreform, Ausbau erneuerbarer Bundestagswahl hieß es in der SPD schon ein- Co-Sprecherin bei der Parlamentarischen Lin-
Energien: In knapp 20 Minuten umreißt ken, Wiebke Esdar, gegen die Pläne aus. Es
Miersch, 53, die Agenda der Ampel. Er macht sei nicht zu erklären, wenn ein Kandidat die
das nicht schlecht. Zwei Nachfolgekandidaten meisten Stimmen im Wahlkreis erhalte und
Der Auftritt könnte ein Ausblick in die trotzdem nicht gewählt würde, sagte sie laut
Zukunft sein. Teilnehmern. Am Ende stimmten 30 Abge-
Denn eigentlich müsste da jemand anderes ordnete gegen die Pläne – obwohl es eine
stehen. Miersch ist stellvertretender Frak- klare Ansage der Fraktionsspitze gab. So be-
tionsvorsitzender, normalerweise tritt am ginnt oft die Erosion von Macht.
Jens Gyarmaty / laif

Dienstag in Sitzungswochen der Chef selbst Unter der Bedingung, nicht zitiert zu wer-
Marco Urban

vor die Presse, ein Ritual im Berliner Betrieb.
Aber wo ist Rolf Mützenich?
Der Fraktionschef sitzt, so wird es kurz nach
Mierschs Auftritt erklärt, mit Corona-Verdacht Matthias Miersch, 53, Dirk Wiese, 38,
zu Hause. Er leitet zwar die anschließende ist Sprecher der
Fraktionssitzung vom Bildschirm aus, doch Parlamentarischen
Linken (PL) und seit
zum Pressetermin hat er Miersch geschickt. Dezember 2017
Solche Termine funktionieren nicht digital. Fraktionsvize.
den, sprechen Sozialdemokraten die Proble-
me offen an. Die Fraktion sei nicht sichtbar,
heißt es, neben Mützenich sei auch die Erste
Parlamentarische Geschäftsführerin Katja
ist Sprecher des Mast überfordert. Sie könne die Schwächen
konservativen
Seeheimer Kreises
des Fraktionschefs nicht ausgleichen, wie es
und seit Mai ihrem Vorgänger Carsten Schneider noch ge-
2020 Fraktionsvize. lungen sei. Der Erfurter hatte die Fraktion

38 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022


Strömungen in der SPD
Mitglieder der Gruppierungen
innerhalb der SPD-Bundestagsfraktion
95
86
50
Parlamen- konservativer pragmatisches
tarische Seeheimer Netzwerk
Linke Kreis Berlin
S Quelle: eigene Recherche; teilweise Doppelmitgliedschaften
◆
nach dem Rücktritt von Andrea Nahles dis-
zipliniert und nach außen vertreten, häufig
im Konflikt mit der damaligen Koalitions-
partnerin Union. Mittlerweile ist Schneider
Ostbeauftragter der Bundesregierung. Katja
Mast konnte nach sieben Monaten im Amt
noch kein Profil gewinnen.
Die wichtige Rolle des Fraktionsmanagers
hatten in der Vergangenheit Sozialdemokra-
ten wie Scholz, Peter Struck und der 2020
gestorbene Thomas Oppermann inne – alle-
samt politische Großkaliber. Heute schäme
er sich manchmal, wenn ein Mitglied des
Fraktionsvorstands im Plenum rede, sagt ein
Abgeordneter.
Für den Kanzler ist vor allem wichtig, dass
die Fraktion geschlossen hinter ihm steht. Im-
merhin hat Mützenich es geschafft, die Zahl
der Abweichler gering zu halten, als das
Sondervermögen für die Bundeswehr zur
Abstimmung stand. Gerade mal neun SPD-
Abgeordnete stimmten gegen das 100-Mil-
liarden-Euro-Aufrüstungsprogramm.
Bislang war die Fraktion still, auch von den
49 Jusos ging keine Gefahr für den Kanzler
aus, das ist vor allem Mützenichs Verdienst.
Für die Stabilität nach innen mache der Frak-
tionschef einen guten Job, heißt es.
Aber wie lange noch?
Als öffentliche Stimme der SPD tritt Müt-
zenich kaum noch in Erscheinung. Genossin-
nen und Genossen aus der Fraktion weisen
darauf hin, dass es nahezu ausschließlich Par-
teichef Lars Klingbeil und Generalsekretär
Kevin Kühnert seien, die öffentlich den Kurs
der Regierung verteidigten. In den Umfragen
ist die SPD auf Platz drei hinter Union und
Grüne zurückgefallen.
Woher kommt die Schwäche der Fraktion?
Sie sei gegenüber der Bundesregierung »träge
»Viele Abgeordnete schauen
nicht über den Tellerrand
Deutschlands hinaus.«
Johannes Melcher, Ex-Sprecher der PL
DEUTSCHLAND
und führungslos«, sagt Johannes Melcher,
bis kurz vor der Bundestagswahl war er
Pressesprecher der Parlamentarischen Linken FASZINATION
(PL), also letztlich von Miersch. Melcher ist
im vergangenen Jahr nach Kiew gezogen. Er ERDE
verließ die Stadt kurz vor dem russischen An-
griff. »Viele Abgeordnete schauen nicht über
den Tellerrand Deutschlands hinaus«, kriti-
siert er. Die SPD-Fraktion habe sich innen-
politisch viel vorgenommen, doch seit Febru-
ar überlagere der Krieg in der Ukraine alles.
»Die Kommunikation ist nur darauf bedacht,
Scholz nicht in die Quere zu kommen.«
Melcher glaubt, dass Miersch ein guter
Fraktionsvorsitzender wäre. Er könnte der
Fraktion »neues Selbstvertrauen geben«,
hofft Melcher, »eine eigene Stimme neben
der Regierung zu sein«.
Auch mancher Unterstützer von Miersch
in der Fraktion wünscht sich nun einen schnel-
leren Machtwechsel. Noch mehr als ein Jahr
zu warten, bis Mützenichs Wahlperiode ab-
läuft, sei riskant, sagt ein Abgeordneter.
Miersch könne dem Fraktionschef jederzeit
sagen, dass er nun übernehmen wolle. Müt-
zenich würde sich da nicht verschließen.
Doch der mögliche Nachfolger wartet ab,
will den richtigen Zeitpunkt für den Wechsel
erwischen. Wie lange kann Mützenich noch
beeinflussen, wer ihn beerbt?
Neben Miersch wird der Sprecher des kon-
servativen Seeheimer Kreises, Dirk Wiese,
als nächster Fraktionschef gehandelt. In der
Fraktion wurde aufmerksam registriert, dass
der Sauerländer nach der Wahl auf einen
möglichen Posten in der Regierung verzich-
tete und als stellvertretender Vorsitzender in 288 Seiten, durchgehend vierfarbig,
der Fraktion blieb. gebunden � 24,00 €
Wagen die Seeheimer den Machtkampf
mit der größten Strömung, der von Miersch
geführten Parlamentarischen Linken? Für
Scholz wäre es das unangenehmste Szenario.
Wie gefährlich eine ungeordnete Fraktion Qualmende Vulkane,
sein kann, zeigte sich vor vier Jahren in der einsame Wüsten,
Union. Volker Kauder, treuer Unterstützer traumhafte Atolle
der damaligen Kanzlerin Angela Merkel,
verlor die Wahl im September 2018 über- und pulsierende Metropolen:
raschend gegen Herausforderer Ralph Brink- Über 50 faszinierende
haus – nach fast 13 Jahren an der Spitze der Aufnahmen aus dem All und
Fraktion. Er und Merkel hatten unterschätzt,
wie sich die Stimmung unter den Abgeord- die spannenden Geschichten
neten gewandelt hatte. dahinter präsentiert
Eine öffentliche Kampfansage von Miersch dieses Buch, basierend auf der
muss Mützenich nicht fürchten. Doch auch
beim Sommerfest der Parlamentarischen Lin- beliebten SPIEGEL-Kolumne
ken am Dienstagabend zeigt Miersch sein »Das Satellitenbild
neues Selbstbewusstsein. Er steht auf der der Woche«.
Bühne der »Alten Pumpe« in Berlin-Tiergar-
ten und hält als Gastgeber seine Rede, er
wirkt entspannt, souverän.
Er wolle dem Kanzler jetzt nicht 500 Vor-
schläge machen, sagt Miersch. »Aber wenn
es darum geht, wie der Staat finanziert wird,
hast du uns an deiner Seite, Olaf.« Das klingt
wie eine Ansage an Finanzminister Christian
Lindner und die FDP. Und es klingt, als fände
Miersch Gefallen am Platz auf der Bühne.
Christian Teevs n
Nr. 28 / 9.7.2022 DER SPIEGEL 39
www.dva.de
DEUTSCHLAND
Deutschland?
Nein danke!
MIGRATION Das deutsche Einwanderungsrecht für ausländische Fach-
kräfte gehört zu den liberalsten der Welt. Trotzdem kommen nur wenige
hierher. Nun will die Bundesregierung die Grenzen noch weiter öffnen.
er Film ist in Schwarz-Weiß und dauert
D weniger als zwei Minuten. Ein türkischer
Gastarbeiter steht vor einem Markt-
stand, irgendwo in Deutschland, hält eine
Melone in der Hand, riecht daran. »Hey, Sie
da«, blafft ihn die Verkäuferin an. »Lassen Sie
mal Ihre Finger davon.« Aus dem Off kommt
eine Stimme und sagt auf Türkisch: »Ali, was
machst du da!? Leg die Melone wieder an
ihren Platz.« Es folgen Erklärungen darüber,
dass die Deutschen es nicht mögen, wenn man
unverpacktes Obst auf dem Markt einfach so
anfasst – und dass es, anders als in der Türkei,
nicht üblich sei, die Preise zu verhandeln.
Das seltsam anmutende Schulungsvideo
sei 1970 für Gastarbeiter produziert worden,
schreibt die Rechercheplattform Diaspora-
Türk, die den Film im Juni über die sozialen
Netzwerke verbreitete. Wer ihn damals in
Auftrag gab, ist unklar. Die ehrenamtlichen
Macher von DiasporaTürk sammeln und ver-
öffentlichen Dokumente aus den Anfangs-
jahren der Gastarbeiterzeit in Europa. Fotos,
die zeigen, wie Kinder ihre Väter am Bahnhof
in Istanbul verabschieden, wie türkische Ar-
beiter in deutschen Fabriken schuften.
Seitdem die Bundesregierung vor mehr als
60 Jahren mit der Türkei, Italien und Spanien
Anwerbeabkommen schloss, hat sich viel
getan. Die Kinder und Enkelkinder der da-
maligen Gastarbeiter sind Ärztinnen gewor-
den, Lehrerinnen oder Handwerker, sogar
Minister. Inzwischen hat gut jeder Vierte hier-
zulande einen Migrationshintergrund. In den
letzten zehn Jahren wanderten 4,7 Millionen
Menschen mehr zu als fort.
Und doch hofft Deutschland jetzt erneut,
die Türkei möge Arbeiter schicken. Dieses
Mal, um an den Flughäfen Engpässe beim
Check-in und der Gepäckabfertigung aufzu-
lösen. Bis zu 2000 Aushilfskräfte sollen dem-
nächst anreisen, damit Reisende wieder ohne
Chaos in den Urlaub fliegen können. Und wie
bei der ersten Gastarbeitergeneration geht
die Regierung davon aus, dass ihre Zeit in
Deutschland befristet sein wird. Nach drei
Monaten soll die Notfalltruppe in ihre Heimat
zurückkehren.
Ob der Plan aufgeht? Selbst in der Regie-
rung zweifelt man daran. Die Sicherheitsüber-
40 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022
prüfung für Flughafenbeschäftigte dauert
Wochen. Sicher ist nur: Für den Einsatz der
potenziellen Hilfskräfte aus der Türkei haben
die Bundesarbeitsagentur und Arbeitsminis-
ter Hubertus Heil, SPD, bereits eine »Global-
zustimmung« erklärt, damit die Hilfskräfte
schneller eine Arbeitserlaubnis bekommen.
Vor allem sollen sie nicht schlechter gestellt
sein als die inländischen Beschäftigten.
Dennoch weckt der Plan Vorbehalte. So
warnt die Integrationsbeauftragte der Bun-
desregierung, Reem Alabali-Radovan, die
Fluggesellschaften vor einer Ausbeutung aus-
ländischer Hilfskräfte. Bei den Airlines sei
»einiges schiefgelaufen«. Die Unternehmen
müssten »unbedingt alle Sozialstandards und
Tariflöhne einhalten«, sagt Alabali-Radovan.
»Es darf nicht zu Lohndumping kommen.«
Die Politik dürfe die Fehler der Vergangenheit
nicht wiederholen. »Es kommen keine Arbei-
ter:innen zu uns, sondern Menschen«, mahnt
Alabali-Radovan.
Seit Jahren mühen sich wechselnde Bun-
desregierungen, die Einwanderung zu erleich-
tern, weil es an Fachkräften mangelt. Und
Mäßig attraktiv
Nach Deutschland Zugewanderte,
ausgewählte Gruppen
Studierende aus dem Ausland
Asylantragsteller
Arbeitskräfte aus Drittstaaten
EU-Ausländer
1,5 Mio.
1,0
0,5
2010 2015 2020
S Quelle: BIBB-Datenreport
◆
trotzdem kommen viel weniger qualifizierte
Menschen als erhofft.
Woran liegt das? Hat dieses Land zu wenig
zu bieten? Oder sind die rechtlichen Hürden
noch immer zu hoch?
Versuche, spezialisierte Arbeitskräfte hier-
herzuholen, gibt es viele. Mit dem Spruch
»Make it in Germany« wirbt die Bundes-
regierung auf einem Internetportal für
Deutschland. Wer einwandern will, kann in
mehreren Sprachen nachlesen, dass Pflege-
kräfte und Ingenieurinnen besonders gefragt
sind. Und in einem »Quick-Check« prüfen,
wie die eigenen Chancen stehen: EU-Bür-
gerinnen und -Bürger dürfen uneingeschränkt
einreisen und arbeiten. Menschen aus Dritt-
staaten können in der Regel ein Jobangebot
in Deutschland annehmen, sofern sie als
Fachkraft gelten – also ein Studium oder
eine anerkannte Berufsausbildung abge-
schlossen haben. Wenn zudem der Lebens-
unterhalt gesichert ist, kann man auch für
sechs Monate zur Arbeitssuche einreisen.
Auch wer die Zusage für einen Ausbildungs-
platz hat, darf sich Chancen auf ein Visum
ausrechnen. »Das deutsche Recht zur Ein-
wanderung für ausländische Fachkräfte ge-
hört mittlerweile zu den liberalsten weltweit«,
sagt Wirtschaftswissenschaftler Panu Pout-
vaara vom Münchner Ifo Institut und Mitglied
im Sachverständigenrat für Integration und
Migration (SVR).
Es war ein langer Weg dorthin. Nach dem
Anwerbestopp für Gastarbeiter 1973 hatten
es einwanderungswillige Arbeitskräfte jahr-
zehntelang ziemlich schwer. Die Wende be-
gann erst mit dem Zuwanderungsgesetz 2005,
das unter Kanzler Gerhard Schröder (SPD)
entwickelt worden war. Seither sind schritt-
weise Hürden gefallen. So machte es die Re-
gierung etwa ausländischen Studierenden
leichter, nach ihrem Abschluss in Deutschland
zu arbeiten. 2012 folgte die »Blaue Karte EU«
für gut verdienende Akademiker von außer-
halb der EU, die Anerkennung von Abschlüs-
sen wurde vereinfacht. 2020 schließlich öff-
nete das Fachkräfteeinwanderungsgesetz
Menschen mit anerkannten Berufsausbildun-
gen ähnliche Chancen wie Akademikern.
Vor der Pandemie waren es zuletzt 64 000
Menschen, die über die »Blaue Karte EU«
oder ähnliche Regelungen ein Aufenthalts-
recht zur Erwerbstätigkeit erhielten. Während
Deutschland für Studierende und Unterneh-
mer als besonders attraktives Ziel gilt, wie die
OECD 2019 feststellte, liegt es für hoch qua-
lifizierte Akademiker »nur im Mittelfeld inter-
nationaler Attraktivität«. Länder, in denen
Englisch gesprochen wird, haben es leichter.
Dazu kommt laut OECD, »dass ausländische
Abschlüsse auf dem deutschen Arbeitsmarkt
häufig stark abgewertet werden«. Zugewan-
derte Lehrer können davon ein Lied singen,
genauso wie Medizinerinnen.
Auch der SVR sieht Nachbesserungs-
bedarf. Nicht in allen Branchen sei ein offiziell
zertifizierter Bildungsabschluss wirklich nö-
tig, Berufserfahrung sei mitunter viel wichti-

ger als eine nach deutschen Standards an-
erkannte Ausbildung, heißt es beim SVR.
Zumal die Verfahren zur Anerkennung der
Abschlüsse teilweise lange dauerten. Es sei
für die Betroffenen nur »schwer zu verstehen,
wer wofür zuständig ist«.
Die große Zahl hartnäckig unbesetzter
Stellen hat die Ampelkoalition jetzt auf-
geschreckt. Allein mit der Beschäftigung von
mehr Älteren, Frauen oder Weiterbildungs-
angeboten wird sich die Lücke nicht füllen
lassen. Noch in diesem Jahr will die Regierung
daher nach SPI EGEL -Informationen die
nächste Reform des Einwanderungsrechts auf
den Weg bringen. »Wir brauchen mehr quali-
fizierte Zuwanderung in Deutschland, um den
Fachkräftebedarf zu decken. Dafür müssen
wir schneller und agiler werden bei der Ge-
winnung von ausländischen Fachkräften«,
sagt Arbeitsminister Heil.
Die Idee: Der formelle Abschluss soll künf-
tig weniger wichtig sein. Bisher gilt, dass ein-
Spanische Gastarbeiter in Hannover um 1967: Seitdem hat sich viel getan
reisen darf, wer eine Jobzusage hat und außer-
dem einen anerkannten Bildungsabschluss.
»Zukünftig wollen wir es schaffen, dass auch
ein Arbeitsvertrag ausreicht, um hier anzu-
fangen und die nötigen Qualifikationen dann
zu erwerben«, so der SPD-Politiker. »Wie
bereits bei IT-Kräften sollen auch in anderen
Branchen berufspraktische Erfahrungen für
eine langfristige Beschäftigung in Deutschland
ausreichen.«
Auch das Visum zur Arbeitssuche soll er-
weitert werden: Wer seinen Lebensunterhalt
selbstständig sichern kann, so die Überlegun-
gen, soll künftig auch ohne Arbeitsvertrag zur
Jobsuche für mehr als sechs Monate nach
Deutschland kommen können – auch ohne
berufliche Anerkennung. »Unser Arbeits-
markt ist aufnahmefähig«, sagt Heil. Wenn
jemand die nötige Berufserfahrung mitbringe
und Potenzial habe, dann solle diesen Fach-
kräften die Arbeitsplatzsuche über einen län-
geren Zeitraum erleichtert werden. Gedacht
WIlhelm Hauschild
DEUTSCHLAND
ist dabei auch an die Einführung eines Punk-
tesystems über eine sogenannte Chancen-
karte, die im Idealfall sogar Unternehmens-
gründer anlocken soll.
Im Herbst könnte das Kabinett die Pläne
auf den Weg bringen. Innenministerin Nancy
Faeser hat schon Zustimmung signalisiert:
»Wir werden jetzt die Chance nutzen, ein
modernes Einwanderungsrecht zu schaffen.«
Ein erstes Migrationspaket mit Erleichterun-
gen für Fachkräfte sei gerade beschlossen
worden. Während sich Deutschland bislang
schwer damit tat, High Potentials aus Dritt-
staaten anzulocken, zählt es für Geflüchtete
zu den wichtigsten Zielen in Europa. Seit
Russland seinen Angriffskrieg gegen die
Ukraine gestartet hat, kamen Hunderttau-
sende Ukrainerinnen und Ukrainer hierher.
Bei diesen Neuankömmlingen sind Experten
zuversichtlich, dass sie sich langfristig gut
in den Arbeitsmarkt integrieren ließen, falls
sie nicht in ihre Heimat zurückkehren. Ihr
Bildungsniveau ist vergleichsweise hoch. He-
rausfordernder ist die Lage bei Geflüchteten
aus Ländern wie Afghanistan, dem Irak oder
Somalia.
Insgesamt haben knapp zwei Millionen
Menschen seit 2015 einen Asylantrag in
Deutschland gestellt. Mehr als ein Drittel der
erwachsenen Geflüchteten haben maximal
die Grundschule besucht. Nach Angaben des
Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsfor-
schung (IAB) hat zwar die Hälfte der Geflüch-
teten nach fünf Jahren eine Arbeit gefunden,
darunter fallen allerdings auch Minijobs und
Praktika. Laut IAB-Zuwanderungsmonitor
bezieht fast die Hälfte der Menschen aus Asyl-
herkunftsländern Hartz-IV-Leistungen. Am
mangelnden Angebot liegt das nicht. Gastro-
nomen oder Logistiker etwa suchen verzwei-
felt – auch nach gering Qualifizierten.
Für jene, die schon lange hier sind, aber
nur geduldet werden, etwa weil ihr Asylantrag
abgelehnt wurde, plant die Bundesregierung
mit einem neuen Chancen-Aufenthaltsrecht
Erleichterungen. Wer zum Stichtag 1. Januar
2022 bereits seit fünf Jahren in Deutschland
lebt, soll für ein Jahr eine Aufenthaltsgeneh-
migung erhalten. Das betrifft mehr als
130 000 Menschen. Dauerhaft bleiben kann,
wer in dieser Zeit Arbeit findet, gut Deutsch
spricht und dessen Identität geklärt ist. Man
könne es sich nicht mehr leisten, auf diese
Menschen zu verzichten, argumentiert die
Regierung. Bayerns Innenminister Joachim
Herrmann (CSU) findet den Gesetzentwurf
hingegen »gefährlich«, weil er zusätzliche An-
reize für illegale Migration schaffe.
Petra Bendel, Politikprofessorin an der
Universität Erlangen-Nürnberg und Vor-
sitzende des SVR, begrüßt den Plan. »Es ist
gut, dass wir versuchen, auch jene, die schon
hier sind und nicht zurückgeführt werden
können, für den Arbeitsmarkt zu gewinnen
und sie aus dem Sozialhilfesystem zu holen«,
sagt sie.
Susmita Arp, Katrin Elger, Cornelia Schmergal,
Christian Teevs n
Nr. 28 / 9.7.2022 DER SPIEGEL 41
 DEUTSCHLAND
»Lassen Sie Ihr Dach vermoosen«
KLIMAANPASSUNG Im Kampf gegen Hitze und Starkregen zählt jedes bisschen Grün.
Landschaftsarchitekt Tim Kaysers erklärt, was Hausbesitzer tun können und warum dafür nicht viel Zeit bleibt.
Kaysers, 48, arbeitet in
Überlingen am Bodensee.
Er ist Autor des neu erschie-
Yamira Kaisler
nenen Buchs »Phyto for Fu-
ture – mit Pflanzen aus der
Klimakrise«*.
SPIEGEL: Herr Kaysers, Hitze bereits im Früh-
sommer, Überschwemmungen durch Stark-
regen: Sind die deutschen Städte gewappnet
für die Auswirkungen des Klimawandels?
Kaysers: Unsere Städte sind immer noch stark
versiegelt, und die Zahl der Hitzetage wird
weiter steigen. Wo die Bebauung dicht ist und
die Straßen schlecht belüftet sind, wo es vie-
le dunkle Beläge gibt, da heizen sich Luft und
Oberflächen schneller auf. Daher spüren die
Menschen in naturfernen Städten die Folgen
der Klimaerhitzung besonders stark – ganz
anders als im Wald. Dort ist es auch an einem
heißen Sommertag angenehm kühl.
SPIEGEL: Was folgt daraus für die Politik?
Kaysers: Es gilt, die Qualitäten und Prinzipi-
en des Waldes in die Städte zu tragen. Die
können wir in Zukunft kaum mit Klimaanla-
gen kühlen. Mehr Grün, mehr Blattschatten
und mehr Verdunstungskühlung sind da die
einzige Option.
SPIEGEL: Ist das nicht längst Allgemeinwissen?
Kaysers: Leider zu wenig. Seit Jahrzehnten
dominiert das Prinzip der autogerechten
Stadt. Dazu hat man angesichts des knappen
Wohnraums innerstädtisch nachverdichtet –
wieder, ohne an Pflanzen zu denken. Das
wirkt sich auch bei Starkregen negativ aus.
SPIEGEL: Inwiefern?
Kaysers: Wir wissen schon lange, dass ein
Baum sehr viel Wasser aufnehmen kann, pro
Kubikmeter durchwurzelter Erde sind es Hun-
derte von Litern. Doch anstatt auf diese Stär-
ke zu setzen, wird das Wasser noch zu häufig
über die Kanalisation gesammelt und abge-
leitet. Wir bräuchten aber Schwammstädte,
die das Wasser speichern können.
SPIEGEL: Haben die Planer nichts gelernt?
Kaysers: Es passiert viel, doch häufig nur auf
dem Papier. Zum Beispiel sind in Konzepten
für den öffentlichen Raum sogenannte Reten-
tionsbäume vorgesehen, zu denen das Wasser
hinfließen soll. Doch dann fehlt es an Mut in
der Umsetzung, an technischen Regelwerken
und Erfahrungen. Das konventionelle Den-
ken ist noch stark in den Köpfen. Und es ist
* Büchner; 220 Seiten; 22 Euro.
42 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022
einfacher, Kanäle und Leitungen zu bauen, pflanze, die im Boden wächst, braucht einen
als Baumbeete. Unterdessen vertrocknen die Kubikmeter Substrat und eine Kletterhilfe,
Bäume in den Städten. mehr nicht. Und vertikale Pflanzwände brin-
SPIEGEL: Was muss passieren? gen ein ganzes Ökosystem ans Haus, da leben
Kaysers: Wir müssen die Städte entsiegeln, Insekten, da nisten Vögel.
das Auto muss Platz abgeben. Und wir müs- SPIEGEL: Machen Kletterpflanzen nicht die
sen massiv begrünen. Im jüngsten Bericht des Fassaden kaputt?
Bundesverbandes Gebäudegrün hieß es etwa Kaysers: Nur wenn sie falsch ausgesucht sind.
gerade, dass im vergangenen Jahr acht Mil- Efeu kann in Ritzen gehen und eignet sich
lionen Quadratmeter an neu gebauten Flach- besser für glatte Fassaden. Eine Schling-
dächern begrünt wurden. Das hört sich nach pflanze sucht keine Fugen und Spalten, die
viel an, es sind aber nur acht Prozent der neu- möchte zum Licht. Das Geißblatt zum Bei-
en Flachdachflächen. spiel ist geeignet, Waldreben klettern schnell,
SPIEGEL: Angesichts hoher Strompreise den- es können auch exotischere Pflanzen wie
ken Eigentümer eher daran, dort eine Solar- Kiwi funktionieren. Sein eigenes Gemüse in
anlage zu installieren. Ist das falsch? Pflanztrögen auf dem Balkon zu ziehen hilft
Kaysers: Sonnenstrom ist sinnvoll, so gewin- auch. Wem das zu viel ist: Lassen Sie einfach
nen auch die Pflanzen ihre Energie. Aber Ihr Dach vermoosen oder die Belagsfugen in
Fotovoltaikanlagen sind dunkle Oberflächen, der Einfahrt grün wachsen. Das heißt nicht,
und der Versiegelungsgrad bleibt gleich. Da dass ein Haus schmutzig oder vernachlässigt
ist es besser, das Dach zu begrünen und dar- wäre, es ist der natürliche Begrünungsprozess
auf die Solaranlage zu errichten, das senkt der Natur. Dafür sollte es Architekturpreise
auch die Maximaltemperaturen. So läuft es geben.
leider häufig: Wir sehen nur technische Lö- SPIEGEL: Welche Länder machen es besser?
sungen und missachten die Mittel der Natur. Kaysers: Kopenhagen ist mit der Idee der
Dabei brauchen wir Pflanzentechnik und Schwammstadt schon weiter. Ein Vorreiter
Kreisläufe, wie im Wald. bei der Begrünung ist Singapur. Dort be-
SPIEGEL: Efeu gegen den Klimawandel? kommt man keine Baugenehmigung mehr,
Kayers: Fassaden bieten ein Riesenpotenzial, wenn man nicht die Fassade begrünt.
mehr Grün in die Stadt zu bringen, ungefähr SPIEGEL: Wie sieht es mit der Prävention
das Vierfache der Dachflächen. Eine Kletter- gegen Klimafolgen außerhalb der Städte aus?
Kaysers: Dasselbe Prinzip, auch wenn es sich
seltsam anhört: Wir müssen begrünen und
Schwammlandschaften schaffen. Also Bäume
pflanzen, Heckenriegel anlegen, Ackerwirt-
schaft und Wald kombinieren, Stichwort Ag-
roforstwirtschaft. Leider sind Subventionen
an die bewirtschafteten Flächengrößen ge-
koppelt. Hier ließen sich auch andere Kenn-
zahlen wie der Biodiversitätsfaktor oder die
Wasserspeicherung einbringen.
SPIEGEL: Sie plädieren für Phytoarchitektur
und Phytopädagogik. Was soll das heißen?
Kaysers: Die Pflanzen können uns in vielem
Lehrmeister sein. Ein Baum nimmt nur so
viele Nährstoffe aus dem Boden, wie er
Sascha Steinach / picture alliance / ZB
braucht, er breitet sich nur dort aus, wo Platz
ist. Er ist genügsam. Mit dieser Strategie ha-
ben die Pflanzen jede Klimakrise auf diesem
Planeten überlebt. Die Schweiz hat als eines
der ersten Länder die Würde der Pflanzen in
ihre Verfassung aufgenommen. Das finde ich
nicht zu hoch gegriffen. Ohne die Pflanzen
wären wir gar nichts.
Fassade in Berlin Interview: Jan Friedmann n
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 DEUTSCHLAND

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Marginalie
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fünf Zeilen
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Zitat Autor
Milos Djuric / DER SPIEGEL

Milos Djuric / DER SPIEGEL

Paar Sousa, Dov, Hufeisensiedlung: »Du weißt nie, was kommt als Nächstes?«

Angst im Idyll
BRANDANSCHLÄGE Jahrelang fackelten mutmaßlich Neonazis Autos in der Berliner Hufeisensiedlung
ab. Nach einer Pause brennt es nun wieder. Und ein deutsch-israelisches Paar
findet ein Hakenkreuz an seinem Haus. Eine Geschichte über den alltäglichen Terror.

ür sie, sagt Shani Dov, fing alles schon
F Monate vor dem Reizgasangriff auf
ihren Bruder an. Es fing an, lange bevor
jemand ein Hakenkreuz an ihre Hauswand
schmierte und ein Auto vor ihrem Wohnzim-
merfenster ausbrannte.
Für Dov fing es mit der silbernen Cha-
nukkia an. Den kleinen, neunarmigen Ker-
zenleuchter hatte sie ins Wohnzimmerfenster
gestellt, wo man ihn von der Straße gut sehen
konnte. Nicht weil sie gläubig ist, sondern
weil sie den Leuchter einfach schön findet.
Eines Tages, erzählt Dov, habe ihr Freund
die Chanukkia ins Regal gestellt. Weil er ge-
sehen habe, dass immer wieder Leute im
Vorbeigehen den Leuchter ein bisschen zu
lang anschauten. »Das war ein Wendepunkt«,
sagt Dov heute. »Dieses Gefühl, das ich in
meinem Zuhause hatte, in dem wir uns so
schön eingerichtet hatten, uns gut und sicher
fühlten.«
Dieses Gefühl, sagt Dov, sei plötzlich weg
gewesen.
Shani Dov heißt eigentlich anders. Ihr Le-
bensgefährte soll hier Benjamin Sousa heißen.
Weil beide Sorge vor weiteren Angriffen ha-
ben, werden ihre echten Namen nicht genannt.
Diese Geschichte handelt von der Macht
rechten Terrors. Wie er wirkt, sogar Jahre
nachdem er begangen wurde. Und wie mäch-
tig er ist, selbst wenn er die, die er trifft, nicht
verletzt.
Shani Dov und Benjamin Sousa leben in
der Hufeisensiedlung im Berliner Ortsteil
Britz, der zu Neukölln gehört. Ein junges Paar,
sie ist Ende zwanzig, er Mitte dreißig. Sie
arbeitet als Künstlerin, er ist Frühpädagoge
und Musiker. Dov ist in Israel geboren, sie
kam vor einigen Jahren nach Berlin. Das Haus
der beiden ist bunt und gemütlich eingerich-
tet. Sousas Halbschwester hatte den beiden
erzählt, dass hier ein Haus zu vermieten war,
mit Vorgarten. Sie schauten es sich an. Am
folgenden Tag unterschrieben sie den Miet-
vertrag. »Es fühlte sich an wie Butter«, sagt
Dov, so leicht ging es.
Die Hufeisensiedlung wurde zwischen
1925 und 1933 gebaut. Sie gilt als eines der
wichtigsten Beispiele des »Neuen Bauens«,
inzwischen ist sie Weltkulturerbe. Mit der
U-Bahn ist man in wenigen Minuten am Her-
mannplatz, mitten im hippen und lauten Neu-
kölln. Doch hier ist es so ruhig, dass man den
Wind hört, der die Kiefern sanft wiegt. Ende
Mai duftet es nach Kartoffelrosen. Die Fassa-
den sind rot und blau und grün gestrichen,
die Fensterrahmen blau und gelb. Die schma-

44 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022


len Häuschen haben lang gezogene
Vorgärten, in denen Hollywood-
schaukeln stehen, hüfthohe Garten-
tore trennen die Grundstücke vom
Gehweg. Ein Idyll in der Großstadt.
Wäre da nicht der rechte Terror.
Von 2016 bis 2019 wurden in der
Gegend insgesamt 72 Anschläge vor
allem auf Menschen verübt, die sich
gegen Rechtsextremismus engagie-
ren. 23-mal wurden Brände gelegt,
angezündet wurde unter anderem das
Auto einer SPD-Politikerin und eines
Linkenpolitikers. Die Täter terrori-
sierten auch einen Buchhändler. Im
August soll der Prozess gegen zwei
mutmaßliche Täter beginnen: einen
Neonazi und einen AfD-Politiker.
Anwohner vermuten, dass die
Hufeisensiedlung zur Zielscheibe
wurde, weil hier so viele Menschen
aus dem links-alternativen Milieu
leben.
Die Polizei verknüpfte einige der
Taten lange nicht miteinander, die
Opfer fühlten sich nicht ernst genom-
men. Demnächst steht ein Berliner
Polizist vor Gericht, AfD-Mitglied,
der mit einem der Tatverdächtigen
der Anschlagserie in einer Chatgruppe
war. Außerdem wohnte der Beamte
selbst in der Hufeisensiedlung.
Die Serie fing laut Polizei 2016 an,
doch der Terror begann schon frü-
her – 2011 wurde eine Anwohnerin
zum Ziel von Neonazis, weil sie kei-
ne NPD-Wahlwerbung haben wollte.
Nazis sprengten ihren Briefkasten,
schmierten Drohungen an Fassaden,
warfen ihre Fenster ein – insgesamt
zehnmal wurde die Frau angegriffen.
Sie engagierte sich jahrelang gegen
rechts, bekam einen Preis verliehen
für ihren Mut. Doch im Sommer ver-
gangenen Jahres zog sie weg. Sie
habe sich nicht mehr sicher ge-
fühlt, sagte sie dem Rundfunksender
RBB.
»Als wir herzogen, hatten wir kei-
ne Ahnung, was hier alles vor sich
ging«, sagt Sousa. Sie wussten auch
nichts von der Frau aus der Hufeisen-
siedlung, die es nicht mehr ausgehal-
ten hatte. Die beiden genossen die
Ruhe, das Grün. »Wo in Berlin kön-
nen Leute wie wir sich ein Haus mit
Garten leisten?«, fragt Dov. Und auch
noch so zentral.
Der erste Angriff auf sie kam im
vergangenen Oktober. Sousa erinnert
sich: Es war ein lauer Abend, er saß
mit Dov und ihrem Bruder im Vor-
garten. Sie tranken Wein und genos-
sen den Abend, da machte es aus der
Hecke, die das Haus vom Gehweg
trennt, plötzlich »Pfffffft«. Dovs Bru-
der begann zu husten, erzählt Sousa,
rieb sich die Augen, sprang auf.
Sousa rannte aus dem Garten. Am
Ende der Straße, sagt er, habe er ein
Auto gesehen, das gerade losfuhr.
Sonst nichts. »Das hätte auch einfach
zufällig da stehen können.«
Sousa ging zurück zum Haus, sie
spülten dem Bruder das Reizgas aus
den Augen und dem Gesicht. Sousa
und seine Freundin wunderten sich –
wer macht denn so was?
»Mein Bruder fragte sofort etwas
in die Richtung: ›War das ein anti-
semitischer Angriff?‹«, sagt Dov.
Doch sie glaubten nicht daran. Heute
sagen sie: Der Gedanke war natürlich
da, riesengroß. Aber sie hätten es
nicht glauben wollen. Also schoben
sie es weg.
Etwa eine Woche später habe er
einem Nachbarn davon erzählt, sagt
Sousa. Der habe ihm einen Artikel
geschickt: Wenige Tage nach dem An-
griff auf den Bruder war im Berliner
Osten ebenfalls ein Mann mit Reizgas
besprüht worden. Er hatte einen Pul-
li mit dem Symbol der israelischen
Streitkräfte getragen.
»Was ich mich bis heute frage: Wo-
her wussten die, dass meine Freundin
und ihr Bruder Israelis sind?«, sagt
Sousa. Sie hätten sich an dem Abend
auf Englisch unterhalten, ab und zu
habe seine Freundin für ihren Bruder
etwas ins Hebräische übersetzt, weil
dessen Englisch nicht so gut sei. Sou-
sa vermutet, dass sie wohl länger
beobachtet worden sein müssen.
Sie wollten Anzeige erstatten, aber
dann kam erst mal der Urlaub, es wa-
ren andere Dinge wichtiger. Bis zum
zweiten Vorfall.
Es war am 9. November, dem Jah-
restag der Pogromnacht von 1938,
gegen 15.45 Uhr. Sie wissen das
noch so genau, weil sie das Haken-
kreuz gleich fotografierten: Mit
schwarzer Farbe offenbar eilig ge-
sprüht, prangte es an ihrer Hauswand.
Sousa schickte seiner Schwester das
Bild per WhatsApp. Sie erstatteten
Anzeige, es kamen zwei Polizisten, die
das Hakenkreuz grün übersprühten.
Die Nachbarinnen und Nachbarn
solidarisierten sich mit dem jungen
Paar. Sie bekamen Besuche, Anrufe.
Dov sagt, sie habe sich unterstützt
gefühlt.
Aber trotzdem begann Dov, über
ihr Verhalten nachzudenken: Ob sie
wirklich den israelischen Radiosender
anmachen sollte, in dem Hebräisch
gesprochen wird, während sie lüftete.
Ob sie, wenn sie aus der U-Bahn aus-
stieg, wirklich auf Hebräisch telefo-
nieren sollte. Jemand könnte sie ja
belauschen und bis nach Hause ver-
folgen. Auch die Polizei tat den bei-
den keinen Gefallen: In der gesamten
DEUTSCHLAND
Siedlung verteilten sie Zettel mit der
U-Bahnhof Bitte um Hinweise, inklusive der ge-
Hermannplatz nauen Adresse des Paares.
Natürlich, sagt Dov, habe sie schon
U
vorher Antisemitismus in Berlin er-
Neukölln lebt. Aber die Schmiererei habe sie
Sp erstmals wirklich getroffen. Weil es
re
e in ihrem Zuhause war. »Es ist schon
ein Eindringen, ein gewalttätiger
Britz
Übergriff, weil es mir dieses Gefühl
der Geborgenheit nimmt.«
Shani Dov und Benjamin Sousa
sind nun nicht mehr bloß ein junges
Hufeisensiedlung Pärchen, das gern im Grünen leben
will. Sie sind offenbar auch ein Ziel.
Nach dem Vorfall mit dem Haken-
BERLIN kreuz bot die Polizei den beiden eine
Sicherheitsberatung an. Die großen
Fenster zur Straße hin sind jetzt ein
Risiko. Eine »Schwachstelle«, sagt
Sousa. Auf zwei knittrigen Blättern
3 km sind die Empfehlungen angekreuzt:
»Für die Fenster und Fenstertür(en)
S Karte: OpenStreetMap
werden geprüfte, einbruchhemmende
Elemente der Widerstandsklasse 2 ge-
mäß DIN EN 1627-1630 empfohlen.«
Darunter »Sicherheitsfolie WK P2A
nach DIN EN 356«. »Dann kann man
keinen Stein mehr ins Fenster werfen
und direkt einen Molotowcocktail
hinterher.« Auch die Türen haben sie
nun verstärkt.
Sousa erzählt das, und dann sagt
er, fast beiläufig: »Ach ja, und der
Baseballschläger.« An der Wand des
Wohnzimmers lehnt ein Baseball-
schläger aus Aluminium, matt und
silbern, mit schwarzem Griff. Ein
Freund habe ihm den geschenkt.
»Halb im Spaß, halb im Ernst. Es ist
absurd.«
Die Chanukkia, das Reizgas, das
Hakenkreuz, die Folie, der Baseball-
schläger, die geänderten Namen – all
das sollte man wissen, bevor es nun
darum geht, was am Samstag, dem
21. Mai, neben dem großen Wohn-
zimmerfenster des Paares passierte.
Es war gegen 22.30 Uhr. Sousa saß
im Wohnzimmer, schaute eine Serie
auf dem Laptop. Plötzlich, sagt er,
habe er laute Rufe auf der Straße ge-
hört. Er ging zum Fenster: Ein Auto
stand in Flammen, lichterloh.
Es gibt ein Video des Brandes,
72
Anschläge
eine Anwohnerin hat gefilmt. Die
Flammen züngeln die haushohe
Kiefer hinauf, unter der das Auto
parkt. Nach wochenlanger Trocken-
heit brennt der Baum wie Zunder.
wurden von Die Dächer der Häuser in diesem
Bereich der Siedlung sind aus geteer-
2016 bis 2019 ter Dachpappe, die Treppen aus Holz.
in der Gegend Sollte das Dach Feuer fangen, könn-
des Berliner ten die Flammen schnell von einem
Haus auf das nächste übergreifen.
Hufeisenvier- Sousa erzählt, wie er aus dem
tels verübt. Haus rannte und den Gartenschlauch
Nr. 28 / 9.7.2022 DER SPIEGEL 45
DEUTSCHLAND
Milos Djuric / DER SPIEGEL
Baseballschläger im Flur
holte. Wie er ihn über die Hecke hielt und
nicht mal sehen konnte, ob er das Auto tat-
sächlich traf. »Aber es fühlte sich besser an,
etwas zu tun, als nichts zu tun.« Die Feuer-
wehr kam und löschte den Brand. Sousa hatte
den Eindruck: gerade noch rechtzeitig.
Auch die Polizei kam. Sousa sagt, er habe
die Beamten gefragt, ob das etwas für ihn
bedeute. Sie hätten gesagt, er sei »nicht un-
mittelbar gefährdet«, erzählt er.
Was Sousa erst später erfuhr: Seit Oktober
hat es in der Siedlung 19-mal gebrannt. Vor
allem Altpapiertonnen, aber auch Autos, An-
hänger, ein Altkleidercontainer. Die Polizei
geht dennoch nicht von einer Serie aus. Dafür
unterschieden sich die Taten und Tatzeiten
zu stark. Für einen politischen Hintergrund
gebe es keine Anhaltspunkte. Eine Verbin-
dung zu den Taten bis 2019 sieht die Polizei
nicht. Im vergangenen Jahr erfasste die Poli-
zeistatistik 771 Brandstiftungen in der Haupt-
stadt – also zwei pro Tag. Brandstiftung ist
nichts Ungewöhnliches in Berlin.
Rechte Angriffe aber auch nicht. Die Poli-
zei teilt auf Anfrage mit, dass seit November
2021 bis Ende Mai im Ortsteil Britz 25 politisch
motivierte Straftaten angezeigt wurden. Die
Aufzählung liest sich wie eine Neonazi-To-do-
Liste. Zwölfmal schmierten die Täter Haken-
kreuze an Fassaden. Kurioserweise fehlt der
Vorfall vom 9. November auf der Liste der
Polizei, es sind also mindestens 26 Fälle. Auf
Nachfrage teilt die Polizei mit, das habe damit
zu tun, dass die Fälle von unterschiedlichen
Beamten bearbeitet würden. Doch der Ein-
»Ich möchte nicht glauben,
dass diese Dinge
gegen mich gerichtet sind.«
Shani Dov, Anwohnerin
46 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022
druck drängt sich auf, dass die Polizei selbst
nicht den Überblick hat, was in Britz alles
passiert. Wiederholt sich, was schon bei der
letzten Brandserie geschah: Nimmt die Polizei
die Taten nicht ernst genug?
Dass der Autobrand einen politischen Hin-
tergrund haben könnte, schloss die Polizei
zunächst aus. Es gebe kein Bekennerschrei-
ben, das Ziel sei unspezifisch. Das Auto, das
abbrannte, gehörte einem Besucher. Kurz
darauf änderten die Beamten ihre Einschät-
zung. Die Polizei teilte mit, ein politischer
Hintergrund könne nicht ausgeschlossen wer-
den. Nun ermittelt der Staatsschutz. Doch
selbst wenn kein Zusammenhang besteht,
lösen die Brände hier etwas aus.
Benjamin Sousa sagt, er habe in der Brand-
nacht erst um drei Uhr früh einschlafen
können. Die Tage danach sei er nachts immer
wieder hochgeschreckt und ans Fenster ge-
rannt. Man kann mit Shani Dov und Benjamin
Sousa lange über die Dinge sprechen, die pas-
siert sind, ohne dass das Wort »Angst« fällt.
Aber in diesen Nächten habe er Beklemmung
gespürt, sagt er.
Dov und Sousa sagen beide, sie seien sich
nicht sicher, ob der Brand tatsächlich gegen
sie gerichtet gewesen sei. Auch bei der
Hakenkreuzschmiererei sind sie unsicher –
vielleicht hat jemand einfach zufällig ihre
Wand gewählt?
»Ich möchte nicht glauben, dass diese Din-
ge gegen mich gerichtet sind«, sagt Dov.
»Nur wenn ich Leuten davon erzähle und
sie extrem alarmiert reagieren, dann trifft es
mich plötzlich«, sagt sie. Sousa nennt es
eine »Bewusstseinserweiterung«. Er sieht
plötzlich einen Teil der Welt, der ihm lange
verborgen war.
Das junge Paar ist nicht allein mit seiner
Angst. Wer sich mit Anwohnerinnen unter-
hält, erfährt, dass einige regelmäßig mit Gieß-
kannen die Altpapiertonnen wässern. Damit
man sie nicht so schnell anzünden kann. Man
erfährt, dass sich darüber unterhalten wird,
ob es wirklich gut sei, das Feuerholz für den
Kamin direkt an der Hausfassade zu lagern.
Dass die Menschen in der Siedlung auf-
merksamer durch die Straßen gehen, die
Laternenpfähle nach Stickern mit rechten
Parolen absuchen und sie abpulen. Und man
hört mehrfach: Bitte schreiben Sie nicht, wo
genau ich wohne, nennen Sie keine Details,
wie mein Vorgarten aussieht, nennen Sie
meinen Namen nicht. Aus Angst, selbst zum
Ziel zu werden.
»Terror«, das klingt nach blutverschmier-
ten Leichen, nach explodierenden Spreng-
stoffwesten, Nagelbomben, Lastwagen, die
zu Waffen werden. Doch der Terror in der
Hufeisensiedlung ist nicht laut. Er flüstert.
»Wer diese Dinge tut, möchte Angst er-
zeugen, auch ohne mich direkt zu verletzen«,
sagt Dov. »Du weißt nie, was kommt als
Nächstes? Wann passiert etwas? Werde ich
zu Hause sein?«
Der Terror wirkt.
Hannes Schrader n wie der Nationale Bildungsbericht belegt. Die
Zwischen
drei Welten
BILDUNG Rund 140 000 ukrainische
Kinder gehen in Deutschland zur
Schule. Damit das ohnehin
schon gebeutelte Bildungssystem
nicht kollabiert, helfen
Lehrerinnen aus der Ukraine.
ie rechte Hand auf dem Herzen, ernste
D Miene. So stehen die ukrainischen Kin-
der nebeneinander in der Aula der Inte-
grierten Gesamtschule (IGS) Wunstorf in Nie-
dersachsen. Aus einem Lautsprecher erklingt
die ukrainische Hymne. Es ist das Intro zu
einer rund 20-minütigen Aufführung, die vor
allem eines wird: eine Liebeserklärung an die
Heimat. Viele Lieder und Gedichte handeln
vom Glück, in der Ukraine zu leben.
Im Publikum sitzt Tamara Chaukina, 29.
Sie ist selbst vor dem russischen Angriffskrieg
geflüchtet und arbeitet seit Mai als Deutsch-
lehrerin für fast 40 ukrainische Kinder an der
IGS. Die evangelische Schule ist besser als
viele andere auf die Neuankömmlinge ein-
gestellt. Hier gibt es schon lange eine ukraini-
sche Schulsozialarbeiterin und neuerdings
noch eine weitere ukrainische Lehrerin.
Aus deutscher Sicht mag die patriotische Auf-
führung in der IGS befremdlich wirken. Für die
Kinder sei dies jedoch »ein Stück Ukraine«, er-
klärt Chaukina. Sie kennt solche Auftritte aus
der ehemaligen Sowjetrepublik als festen Be-
standteil des Schullebens – bis zu Putins Invasion.
In Gedanken sind die Kinder und ihre Leh-
rerin noch oft in der Ukraine, die Sehnsucht
nach der Heimat ist groß. Umso belastender
ist für sie die Ungewissheit, wann und ob sie
jemals zurückkehren können. Hinzu kommt
die Sorge um die Väter. All dies aufzufangen
ist eine pädagogische Herausforderung.
Chaukina ist für die IGS und auch den
deutschen Staat deshalb ein Glücksfall. Nicht
nur, weil sie Ukrainisch und fließend Deutsch
spricht und die Gefühlslage der Kinder ver-
steht. Lehrerinnen wie Chaukina sollen
Deutschland bei der Mammutaufgabe helfen,
den inzwischen etwa 140 000 geflüchteten
Kindern aus der Ukraine sinnvollen Unter-
richt zu bieten. Denn nach der Coronakrise
droht die Massenflucht aus Osteuropa das
ohnehin gebeutelte Schulsystem an die Gren-
zen seiner Belastbarkeit zu bringen. In Nie-
dersachsen beginnen bald die Sommerferien.
Der Lehrermangel ist seit Jahren eklatant,

Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft
warnt vor einem »drohenden nationalen
Notstand«. Der Arbeitsmarkt ist wie leer
gefegt.
Die Hoffnung, ukrainische Lehrerinnen
könnten aushelfen, ist deshalb groß. Wie vie-
le von ihnen bundesweit bereits eingestellt
wurden, wird von der Kultusministerkonfe-
renz nicht erfasst. In Baden-Württemberg
sind es – Stand Ende Juni – bisher mehr als
170, in Sachsen mehr als 300. Niedersachsen
beschäftigt 10 ukrainische Lehrkräfte und
202 ukrainische pädagogische Mitarbeiterin-
nen. Die Zahl der ukrainischen Schüler vari-
iert ebenfalls. Fest steht: Die meisten Schulen
suchen dringend Verstärkung.
An der IGS unterrichtet Tamara Chaukina
die ukrainischen Schüler in einer Art Schicht-
system täglich in Kleingruppen, getrennt nach
Jahrgängen. Dabei lässt sie ihnen auch Raum,
um Sorgen loszuwerden. Es sind berührende
Geschichten, die die Kinder erzählen.
»Ich habe drei Nächte in der Badewanne
geschlafen«, sagt ein Zwölfjähriger aus Kiew.
Das Bad habe keine Fenster gehabt und sei bei
Bombenangriffen der sicherste Raum gewesen.
»Ich vermisse meinen Vater. Meine Mutter
ruft ihn jeden Morgen an«, erzählt eine Elf-
jährige, »dann wissen wir, dass er noch lebt.«
»Meine Schule in Charkiw ist kaputt,
zerbombt«, sagt ein Junge. »Meine Klasse
treffe ich im Onlineunterricht. Manchmal
müssen wir abbrechen, weil Luftalarm ist.«
Der Zwölfjährige möchte, »dass dieser
Glatzköpfige endlich mal krepiert«. Ge-
meint ist Putin.
Chaukina studierte in Charkiw Germanis-
tik auf Lehramt, arbeitete für eine IT-Firma,
genoss das Großstadtleben. Sie traf Freunde,
ging ins Theater, saß in Cafés. Putins Bomben
zerstörten all das. Als die Angriffe immer
Lehrerin Chaukina in Wunstorf: »Die Kinder brauchen jetzt Routine«
»Zu Gast sein ist gut.
Zu Hause sein ist besser.«
Ein Schüler der IGS Wunstorf
schlimmer wurden, packte Chaukina zwei
T-Shirts, zwei Jeans und einen Pullover in
einen Rucksack und verließ die Stadt. Über
ihre Firma bekam sie das Angebot, bei einem
Ehepaar in Deutschland zu wohnen, in der
Nähe von Wunstorf. Nur wenige Wochen spä-
ter fing sie ihren Job an der IGS an.
Chaukina gefällt der Austausch mit Men-
schen aus anderen Kulturen in Wunstorf,
darunter etliche, die aus Ländern wie Afgha-
nistan, Syrien oder Eritrea kamen.
Viele dieser geflüchteten Kinder hätten sich
gegenüber den ukrainischen Neuankömm-
lingen besonders hilfsbereit gezeigt, sagt
Schulleiterin Elke Rothämel. Gleichzeitig
würden sie wahrnehmen, dass die Ukrainer
Privilegien hätten: Unterricht in eigenen
Gruppen, Lehrerinnen, die ihre Mutterspra-
che sprechen. Sie organisiere deshalb nun
verstärkt entsprechende Angebote für Kinder
nicht deutscher Herkunft an ihrer Schule, sagt
sie.
Es klingelt. Chaukina geht in ihren Klas-
senraum. Die Wände sind kahl, ganz weiß,
wie bei einer Wohnung, die gerade erst be-
zogen wurde. Es geht um »haben oder sein«.
Die Siebt- und Achtklässler sollen in Lücken-
texten jeweils das passende Verb einsetzen,
richtig konjugiert. »Die Kinder brauchen jetzt
Routine«, sagt sie.
Wenn das ganze Leben von Ungewissheit
geprägt ist, können andere Gewissheiten hel-
Gesche Jäger / DER SPIEGEL
DEUTSCHLAND
fen. Klare Strukturen wie: Ich bin, du bist …
Für Kinder, die noch keine Deutschkenntnis-
se haben, hat Chaukina Übungshefte mit dem
Titel »Willkommen in Deutschland« verteilt.
Auf Deutsch und Ukrainisch sind dort Sätze
wie diese zu lesen: »Wir freuen uns, dass du
bei uns bist.« Darunter ist ein rotes Herz ab-
gebildet, das ein kleineres, gelb-blaues Herz
umarmt.
Klar, er sei froh, hier zu sein, in Sicherheit,
sagt ein Schüler. Aber: »Zu Gast sein ist gut,
zu Hause sein ist besser.« Virtuell haben die
meisten Kinder die Ukraine ohnehin nie ver-
lassen. Wenn der Schultag in Wunstorf für sie
zu Ende geht, lernen sie über das ukrainische
System online weiter. Von ihren Lehrern in
der Ukraine bekomme sie viele Hausaufgaben,
auch Klausuren schreibe sie online, sagt eine
13-Jährige. »Ich sitze oft bis spät in die Nacht
da und lerne.« Sie fühle sich sehr gestresst.
Das System an der IGS Wunstorf sieht wie
an vielen deutschen Schulen vor, dass die
ukrainischen Schülerinnen und Schüler stun-
denweise auch am regulären Unterricht der
übrigen Klassen teilnehmen, etwa in Musik,
Kunst, Sport, Mathematik, Englisch. So sollen
sie sich in Deutschland integrieren, Freunde
finden. Aber damit bewegen sich die Kinder
in drei Schulwelten, müssen dreifach Erwar-
tungen erfüllen: im Onlineunterricht, in der
deutschen Regelklasse und im Deutschunter-
richt bei Chaukina.
Tamara Chaukina sagt, diese Ungewissheit,
wie es weitergeht, auszuhalten falle ihr viel-
leicht leichter als manch anderen. Ihre Kolle-
gin Jaroslava Triapizyna, die gut Englisch
spricht, aber kaum Deutsch, erzählt, sie müsse
bis zum Ende der Sommerferien entscheiden,
ob sie zurückgehe. So lange halte die ukrai-
nische Schulbehörde ihre Stelle für sie frei,
dann nicht mehr. Einerseits wolle sie zu ihrem
Mann zurück. Andererseits: »Für mein Kind
wäre es jetzt besser, erst mal in Deutschland
zu bleiben.« Triapizyna hat eine siebenjährige
Tochter.
Tamara Chaukina ist nicht verheiratet. Ihre
Freunde leben inzwischen auch nicht mehr
in Charkiw. Einmal habe sie ihre Straße im
Fernsehen gesehen, sagt sie. Die sei stark zer-
stört gewesen. »Ich mache keine Pläne, das
ergibt zurzeit keinen Sinn für mich.«
Beim Elterncafé trifft Chaukina gegen Mit-
tag einige Mütter ihrer Schülerinnen und Schü-
ler. Die Frauen sind allesamt in Sorge, was aus
ihren Kindern wird, wenn sie im ukrainischen
Schulsystem den Anschluss verlieren, im deut-
schen Unterricht mangels Sprachkenntnissen
aber auch nicht mithalten können. So sollen
die Kinder möglichst schnell Deutsch lernen,
gern auch in den Sommerferien. Tamara
Chaukina hält sich dazu erst mal bedeckt. »Ich
kann gern unterrichten«, sagt sie später, »aber
ich weiß nicht, ob die Kinder wirklich Inte-
resse daran haben. Vielleicht könnten sie mal
eine Pause gebrauchen.«
Und sie selbst? »Einfach Ferien machen«,
sagt sie, »ja, das wäre auch schön.«
Silke Fokken n
Nr. 28 / 9.7.2022 DER SPIEGEL 47
DEUTSCHLAND
Mit Krönchen und
Weißwurstzepter
BRAUCHTUM Hunderte Frauen in Deutschland engagieren sich als »Produkt­
königinnen«. Sie müssen auch Spott und Anmache ertragen. Was treibt sie an?
itte Juni in Traunstein hatte
M der Deutsche Königinnentag
seinen MeToo-Moment.
»Ein blöder Spruch, wieder einmal«,
sagt Katharina II. Was die bayerische
Honigkönigin aber noch mehr ärgert:
»Das Interesse gilt dem, was ein Mann
über uns gesagt hat, nicht unserem
Anliegen.« Bei seinem Grußwort hat-
te der CSU-Landtagsabgeordnete
Klaus Steiner den jungen Frauen
angesichts der Temperaturen für die
Abendveranstaltung empfohlen: »Er-
scheinen Sie einfach im Bikini oder
im String.« Das werde auch bei der
Suche nach einem Prinzen helfen.
Ein Filmteam hielt den Ausrut-
scher fest und strahlte ihn aus, die
SPD prangerte auf Twitter die pein-
lichen Zitate an. Steiner musste sich
entschuldigen, doch die Sache ging
bis zum Ministerpräsidenten. »Ab-
solut deplatziert« seien die Äußerun-
gen, kommentierte CSU-General-
sekretär Martin Huber öffentlich, und
sein Parteichef Markus Söder ergänz-
te: »So ist es.« Für Katharina Gegg
ist die Sache damit erledigt – doch
sie kennt viele ähnliche Sätze: »Oh,
eine Honigkönigin, so süß, da könnte
man dran lecken.« Ihre Diagnose:
»Die Kombination von junger Frau
und öffentlichem Auftreten, da setzt
es bei einigen Männern einfach aus.«
Gegg, 28, von Beruf leitende Inge-
nieurin in der Entwicklung von Air-
bag-Systemen, ist eine von Hunderten
amtierenden Produktköniginnen in
Deutschland. Die Frauen repräsentie-
ren landwirtschaftliche Erzeugnisse
oder ländliche Regionen. Sie heißen
Friederike I. oder Lara II., einige we-
nige Männer und Doppelspitzen gibt
es auch in dem Job. Für die dynasti-
sche Anmutung sorgen die vielen Vor-
gängerinnen, meist regiert eine Köni-
gin für zwei Jahre. Landläufig bekannt
sind nur die Weinköniginnen. Aber es
existieren auch Kartoffel-, Kohl- und
Zuckerrübenköniginnen, eine Bern-
steinkönigin von Rügen und eine
Lammkönigin aus Schleswig-Holstein.
48 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022
Amt ist darauf ausgelegt, eine gewisse
Aufmerksamkeit zu erzeugen.«
Aber ist das Amt auch noch zeit-
gemäß? Und warum wollen Frauen
überhaupt Produktköniginnen sein?
Bei Katharina Gegg ist es einfach:
Sie interessiert sich für Bienen. Die
Honigkönigin stammt von einem Voll-
erwerbsbauernhof in der Nähe von
Neuburg an der Donau. Als die Brü-
der sich ihre Hobbys suchten, der eine
Jäger, der andere Fischer, der dritte
Entenzucht, besann sich Gegg wäh-
rend des Studiums auf einen früheren
Zeitvertreib ihres Vaters, die Imkerei.
Der habe gesagt: »Ja, gern wieder
Die meisten Königinnen arbeiten Bienen, aber dann kümmerst du dich
ehrenamtlich. Gerade in den großen
Bundesländern verbringen sie viele
Stunden unterwegs, um zu ihren Ter-
auch darum, es ist ein Haufen Arbeit.«
Inzwischen hat die Qualitätsinge-
nieurin fünf eigene Völker auf dem
minen zu gelangen. Vorher müssen heimischen Hof. »Wenn ich vor mei-
sie noch die Outfits anlegen, meist ein nen Bienen stehe, komme ich kom-
Dirndl mit Schärpe, dazu das obli- plett runter«, sagt Gegg. Sie geht nor-
gatorische Krönchen. So ausstaffiert, malerweise ohne Schutzkleidung zu
besuchen sie Agrarmessen, Kunst- den Insekten: »Mir ist es wichtig, dass
handwerksmärkte oder Sommerfeste ich an den Bienen dran bin und auch
der Landesregierungen mit vielen An- ein gewisses Gefühl für sie habe.«
zugträgern. Sie halten Ansprachen, Als Honigkönigin vertritt Gegg
signieren Autogrammkarten und wer- zwei Organisationen, den Verband
ben auf Facebook oder Instagram. Bayerischer Bienenzüchter und den
Neben Zuspruch und Stolz in den Landesverband Bayerischer Imker.
Familien gehört zum Jobprofil auch, Sie kommt auf rund 70 Termine pro
mit Spott und Anmache umzugehen, Jahr. Die Honigkönigin besucht Mes-
Imkerin Gegg: zum Beispiel für die Spargel- und die sen, Märkte, Imkervereine, Schulen
»Mir ist es wichtig, Gurkenkönigin. »Ignorieren, konfron- und Kindergärten, dort gibt sie den
dass ich an den tieren, weglächeln, ich habe die beste Kindern zum Kennenlernen stachel-
Bienen dran bin und
auch ein gewisses Lösung noch nicht gefunden«, sagt lose männliche Bienen auf die Hand.
Gefühl für sie habe« Katharina Gegg. Jedenfalls: »Unser Erwachsene lässt sie die verschiede-
nen Arten sortenreinen Honigs ver-
gleichen, von Raps bis Kastanie.
So trifft, wer Produktköniginnen
befragt, auf viel Expertise. Ein Fort-
schritt gegenüber der ursprünglichen
Marketingidee, die aus den USA
stammt. Dort halfen die Pumpkin-
oder die Turkey-Queen schon Mitte
des vergangenen Jahrhunderts dabei,
landwirtschaftliche Produkte zu ver-
kaufen, mit starken Anklängen an
Misswahlen oder Messehostessen.
Anne Schmauch, die hessische
Milchkönigin, klingt trotz ihrer 23
Jahre wie eine routinierte Standes-
vertreterin. »Milch und Milchproduk-
te bekommen zu wenig Wertschät-
zung«, sagt Schmauch. Sie wolle den
Verbrauchern nahebringen, »dass es
sich lohnt, mehr für den Liter Milch
zu bezahlen und darauf zu achten,
dass das Geld auch beim Bauern an-
kommt«. Zum Beispiel indem man
regionale Produkte kaufe, idealerwei-
Peter Schinzler / DER SPIEGEL
se aus dem Direktvertrieb oder am
Milchautomaten des Bauern.
Schmauch kommt von einem land-
wirtschaftlichen Betrieb in Bebra und
besuchte die landwirtschaftliche
Fachschule in Fritzlar. Bei ihrer Be-
 DEUTSCHLAND

werbung um den Titel der Milchkönigin

setzte sie sich gegen mehrere Mitbewerberin-
nen durch. Doch dann fegte die Pandemie fast
alle geplanten Termine aus dem Kalender.
Anne I. durfte ihre Regentschaft verlängern,
vorerst um ein Jahr.
»Während Corona ging gar nichts«, sagt
auch die baden-württembergische Braunvieh-
königin Regina Dilger, 25. Sie hat Schmauch
auf dem Königinnentag kennengelernt. Was
bei Schmauch der Milchpreis ist, sind bei Dil-
ger die Freiluft-Laufställe für Kühe, darauf
werde sie häufig auf Agrarmessen und Vieh-
schauen angesprochen. Dilger ist stolz darauf,
dass sie für zwei Wochen in die USA fliegen
darf, um dort ihre Branche auf einem Kon-
Uwe Lein / picture alliance / dpa
gress zu vertreten.
Und dann? Auf ihre Lebensziele angespro-
chen, klingen viele Königinnen zielstrebig
und pragmatisch: Im Fach bleiben, etwas auf-
bauen, eine Familie gründen. »Wünschens-
wert ist, dass ich einen Partner mit Hof finde«,
sagt Dilger. »Das wäre der Traum.« In die
Landwirtschaft der Eltern sind schon die zwei Königinnentreffen in Bayern: »Erscheinen Sie einfach im Bikini oder im String«
älteren Brüder eingestiegen.
Überhaupt scheint der Königinnenjob et- zu stärken«, erklärt ein Sprecher des Land- termine mit Dirndl und Flechtfrisur, wenig
was für Frauen zu sein, die einen Plan haben. wirtschaftsministeriums auf Anfrage. Sie »be- Inhalte, viele Männereden, wenig von Frauen.
Sie machen schon in relativ jungem Alter stechen zumeist durch ihr hohes Fachwis- So sieht das Bild auch im Kleinen aus. Die
die Erfahrung, wie es ist, in der Öffentlichkeit sen zu dem jeweiligen Produkt und sind Repräsentantinnen würden von den Branchen
zu stehen, sich auf unterschiedliche Ge- oft auch selbst beruflich in der Branche ver- nach eigenen Regeln ernannt, heißt es aus dem
sprächspartner einzulassen. »Das Ehrenamt wurzelt«. Bundeslandwirtschaftsministerium. »Initiati-
hilft mir sehr in meinem Beruf«, sagt etwa Wie kommt es also, dass die Königinnen ven zur Reformierung oder Weiterentwicklung
Honigkönigin Gegg. »Dadurch habe ich ge- außerhalb ihrer jeweiligen Branche so unbe- sind daher auch Sache der jeweiligen Interes-
lernt, komplexe Dinge anschaulich zu erklä- kannt sind? Obwohl sie für große aktuelle sen- oder Branchenvertretungen.« Doch die
ren und mich auf verschiedene Zuhörergrup- Themen stehen könnten: Regionalität, Er- Regeln scheinen vielfach überholt. Mancher-
pen einzustellen.« nährung, dazu weibliches Selbstbewusstsein? orts dürfen nur unverheiratete Frauen antre-
Die CSU-Bundestagsabgeordnete Emmi Vielleicht weil die Wechselmonarchien ten, oder es gibt bestimmte Altersgrenzen.
Zeulner war mit 19 Jahren Korbstadtkönigin nicht so recht in das Bild passen, das sich Zumeist entscheiden männerlastige Gremien,
in ihrer Heimatstadt Lichtenfels in Oberfran- Großstadtbewohner von akzeptablem Frei- nicht überall dürfen Königinnen selbst mit aus-
ken. Die ist bekannt für das Flechthandwerk, willigen-Engagement machen. Es kann aber wählen. »Ich würde mir wünschen, dass die
es gibt eine Korbflechtschule, die den Nach- auch daran liegen, wie sich die Königinnen jungen Frauen sich ihres eigenen Wertes stär-
wuchs ausbildet. »Ich habe den Umgang mit noch immer organisieren und präsentieren. ker bewusst sind und Mitbestimmung einfor-
Menschen immer geliebt, das war damals wie Der Deutsche Königinnentag wird von der dern«, sagt Zeulner. »Denn sie leisten Heraus-
heute so«, sagt Zeulner, die aus einer Gast- Arbeitsgemeinschaft Deutsche KönigInnen ragendes für ihre Heimat.«
wirtsfamilie stammt. e.V. organisiert, mit Binnen-I, das war zum Für mehr Eigeninitiative plädiert auch die
Die Ex-Königin zieht Parallelen zum Beruf Gründungszeitpunkt 2003 die fortschrittlichs- amtierende bayerische Weißwurstkönigin.
der Politikerin, nach dem Amt ging sie in die te Schreibweise. »Wir wählen nicht eine Miss »Ich muss nicht bei jedem Fest mitfeiern, ich
Kommunalpolitik. »Ich habe das als große Wet T-Shirt oder nach Körbchengröße«, so gehe dorthin, wo es meinem Handwerk nützt«,
Chance empfunden«, erzählt Zeulner am grenzt sich der Vorsitzende Matthias Roeper sagt Franziska Hollandt-Schalk, 25-jährige
Telefon. Den Umgang habe sie als wertschät- gegen Chauvisprüche ab. »Die Idee der Pro- Metzgermeisterin aus Weilheim. Ihre Mission
zend erlebt. Bei Jubiläen der örtlichen Feuer- duktköniginnen ist nicht frauenfeindlich, die sei es, Vorurteile gegen den Beruf abzubauen.
wehr sei sie etwa neben dem Bürgermeister Königinnen wachsen im Gegenteil an ihren »Der besteht nicht darin, stumpf Tiere zu tö-
und dem Feuerwehrkommandanten an der Aufgaben, denn sie repräsentieren ehrenamt- ten, da geht es um Respekt und Wertschät-
Spitze des Zuges gelaufen. lich und aus Überzeugung ihre Heimat.« zung vor dem Tier.«
Vor der Coronapandemie hatten die Kö- Das Programm des Königinnentags indes: Gemeinsam mit drei Kolleginnen initiierte
niginnen ihren wichtigsten Termin alljährlich Schifffahrt auf dem Chiemsee, Umzug durch Hollandt-Schalk den Produktköniginnen-Ka-
in Berlin: Knapp 200 von ihnen kamen im die Innenstadt, Autogrammstunde mit Foto- lender 2022. Der setzt sich von der Heustadl-
Januar 2020 auf der Grünen Woche zusam- kärtchen, Rundgang über die Traunsteiner Erotik ländlicher Pin-up-Kalender ab: Die
men, in der Halle des Bundeslandwirtschafts- Rosentage, Tourismus und Feiern. Viele Foto- Königinnen sind in ihrer jeweiligen Hand-
ministeriums. werkskluft abgebildet. Bei offiziellen Anläs-
Das Ministerium ist mittlerweile grün ge- sen, so erzählt Hollandt-Schalk, trage sie im
führt, doch hält man grundsätzlich am Köni- Sinne der Sache auch ihr Weißwurstzepter,
ginnentum fest. Die Repräsentantinnen und einen goldenen Holzstab mit einer Weiß-
Repräsentanten stünden »mit ihrem oft eh-
Mancherorts dürfen nur wurstnachbildung obendrauf.
renamtlichen Engagement für regionale Viel- unverheiratete Frauen Lieber würde die Weißwurstkönigin auf
falt und können mit ihrem Eintreten für ein ein anderes Accessoire verzichten: »Ich bin
bestimmtes Produkt einen Beitrag leisten,
antreten, oder es gibt be- kein Fan von Krönchen.«
die Wertschöpfung in ländlichen Regionen stimmte Altersgrenzen. Jan Friedmann n

Nr. 28 / 9.7.2022 DER SPIEGEL 49

DEUTSCHLAND
Der Plan des
Generals
ZEITGESCHICHTE Eine neue Studie zeigt:
Frankreich wollte nach Ende des Zweiten
Weltkriegs das Saargebiet annektieren
und bis zu 800 000 Menschen deportieren.
ie rechte Hand an das Käppi
D gelegt, den Blick in die Ferne
gerichtet, so schritt Charles de
Gaulle am 3. Oktober 1945 die Ehren-
formation der französischen Truppen
in Saarbrücken ab. Fünf Monate nach
dem Sieg über Nazideutschland kon-
trollierte der erste Mann Frankreichs
höchstpersönlich, wie es im besetzten
Saargebiet stand.
Zur allgemeinen Überraschung
gab sich der hünenhafte Präsident der
Provisorischen Regierung trotz Krieg
und Holocaust versöhnlich. Er bot
den Honoratioren im Rathaus die
Hand, wechselte ins Deutsche, das er
in der Kriegsgefangenschaft während
des Ersten Weltkriegs gelernt hatte,
und verkündete den Besiegten: »Die
französische Regierung steht bereit,
Ihnen zu helfen.«
Doch Hilfe wozu? Seit Langem
debattieren Historiker, was General
de Gaulle mit der Saarregion – dem
Kerngebiet des späteren Saarlands –
vorhatte. Wollte er sie annektieren?
Oder zeichnete sich schon die Hin-
wendung Frankreichs zu einer euro-
päischen Integrationspolitik ab?
Nun legt der renommierte Zeithis-
toriker Wilfried Loth eine Studie vor,
die die französische Saarpolitik bei
Kriegsende rekonstruiert.* Loth prä-
sentiert eine Indizienkette aus Denk-
schriften, Gesprächsvermerken, Tage-
bucheinträgen, die allenfalls der Fach-
welt bekannt sind. Sein Befund ist
eindeutig: Paris »zielte auf eine An-
nexion des Saargebiets« – und erwog
sogar die Vertreibung Hunderttausen-
der Deutscher von dort. Sie sollten
durch Italiener, Franzosen oder Polen
ersetzt werden.
Die Beweisführung beginnt 1932.
Der katholisch-konservative Berufs-
* Wilfried Loth: »Die unvollendete Annexion.
Frankreich und die Saar 1943 bis 1947«; Vier-
teljahrshefte für Zeitgeschichte; 3/2022.
50 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022
offizier de Gaulle plädierte dafür, im
Fall eines erneuten Krieges mit
Deutschland die französische Ostgren-
ze in Richtung Rhein zu verschieben
und damit auch das Saargebiet zu über-
nehmen. 13 Jahre später war de Gaulle
Regierungschef und kam auf die Idee
in abgespeckter Version zurück. Einem
Diplomaten sagte er, Frankreich werde
im Westen des besiegten Deutschlands
nichts annektieren – außer das Saar-
gebiet. Eine sehr populäre Forderung,
wie Meinungsumfragen belegten.
Ende Oktober 1945 wies de Gaulle
an, den Anschluss des linksrheinischen
Eisenbahnnetzes an die französische
Eisenbahngesellschaft vorzubereiten.
Auch steuerte er die Übernahme der
saarländischen Kohlegruben an und
die Vereinigung der saarländischen
Unter
Kontrolle
mit der französischen Verwaltung.
De Gaulle handelte vorwiegend aus
wirtschaftlichen Motiven. Frankreich
Alliierte Besatzungs- war einer der größten Kohle-Impor-
zonen in Deutschland teure weltweit. Die Saargruben sollten
nach dem Zweiten die Stahlindustrie Lothringens belie-
Weltkrieg
fern, mit der bereits ein enges Geflecht
Sowjetunion
bestand, und zudem die Strom- und
Großbritannien
Gasversorgung Ostfrankreichs sicher-
USA
stellen. Schon nach dem Ersten Welt-
Frankreich
krieg hatte Paris die Ausbeutung der
Gruben durchgesetzt; der Völkerbund
verwaltete damals das Saargebiet.
Allerdings mussten die Franzosen
aufgrund ihrer Erfahrungen aus der
Zwischenkriegszeit mit Widerstand
rechnen. Denn 1935 hatten die Saar-
länder über ihre Zukunft abstimmen
dürfen und mit über 90 Prozent für
das »Dritte Reich« votiert.
Saarland Die Wirtschaftsabteilung des Pari-
S Grafik ser Außenministeriums plädierte des-
◆
halb Ende 1944 dafür, die Saarländer
zu vertreiben. Begründung: »Die Saar-
Bevölkerung bildet einen Block, der
dpa / ullstein bild
Parade französischer
Truppen in
Saarbrücken 1946
der französischen Annexion feindlich
gegenübersteht …« Die Diplomaten
gingen davon aus, etwa 800 000 Men-
schen umsiedeln zu müssen.
Was nach abwegigen Fantasien von
Technokraten klingt, war bei Kriegs-
ende 1945 ein gängiges Mittel natio-
naler Interessenpolitik. »Transfers«
nannten die Alliierten solche Zwangs-
umsiedlungen. Millionen Deutsche
wurden aus Ostpreußen, Pommern
oder Schlesien brutal vertrieben.
Historiker Loth zitiert mehrere
Dokumente aus Politik und Verwal-
tung Frankreichs mit Vertreibungs-
vorstellungen. Mal sollten 200 000
Einwohner ausgewiesen werden, mal
die Hälfte. Den Franzosen ging es um
Nazis und deren Sympathisanten, um
Feinde Frankreichs, um jene Deut-
schen, die nach der Volksabstimmung
1935 ins Saargebiet gezogen waren:
Sie sollten ihre Häuser zu bestimmten
Bedingungen verkaufen, ihre Habe
teilweise mitnehmen dürfen und in
Südwestdeutschland, Frankreich oder
den Kolonien siedeln.
Eine eher milde Variante stammte
von Maurice Schumann, Gründungs-
präsident der christdemokratischen
Partei MRP und ab 1969 Außenminis-
ter. Er wollte es jedem Einwohner des
Saargebiets freistellen, für Frankreich
oder Deutschland zu stimmen. Wer
für Frankreich votierte, sollte grund-
sätzlich bleiben dürfen.
Von de Gaulle sind umfassende
Vertreibungspläne nicht überliefert.
Das hing offenbar mit dessen Sicht
auf das Saargebiet zusammen, so
Historiker Loth. De Gaulle sprach der
Region die Bindekraft einer historisch
gewachsenen Nation ab. Er nahm da-
her an, die Saarländer wären leicht
zu assimilieren – und wollte wohl nur
die nach Deutschland orientierte Füh-
rungsschicht ausweisen.
Am Ende wurde aus all den Plänen
nichts. Denn die Besatzer brauchten
die deutschen Arbeitskräfte, um die
Kohle zu fördern. Bis 1947 wies die
Militärregierung lediglich einige Hun-
dert Personen aus. Und die Annexion
scheiterte maßgeblich am Widerstand
von Briten und Amerikanern.
Anfang 1946 trat de Gaulle aus
innenpolitischen Gründen zurück.
Seinen Nachfolgern gelang es immer-
hin, eine Wirtschafts- und Währungs-
union des Saargebiets mit Frankreich
durchzusetzen. Doch 1955 votierten
mehr als zwei Drittel der abstimmen-
den Saarländer bei einer Volksbefra-
gung indirekt für die Bundesrepublik,
der sich das Saarland bald anschloss.
Zeitgenossen sprachen von einer klei-
nen Wiedervereinigung.
Klaus Wiegrefe n
Dein SPIEGEL
Tolle Ideen für den Sommer
Diesen Sommer kommt keine Langweile auf. In vielen Bundes­
ländern stehen die Sommerferien an: sechs Wochen Freizeit, in
denen die Schulkinder beschäftigt werden wollen. »Dein SPIEGEL«,
das Nachrichten­Magazin für Kinder, bietet Hilfe und bringt ein
Extraheft für den Sommer heraus. Es wurde gebastelt, geklebt,
fotografiert und ausprobiert. Das Ergebnis: 33 tolle Ideen und
Projekte und Freizeittipps, die Kindern Spaß bringen, vom Regen­
bogenpicknick bis zur Wassermelonentorte.
Veranstalte ein Regenbogenpicknick
Du brauchst:
• ein Büfett in Regenbogenfarben: zum Beispiel Himbeeren und
Tomaten für Rot, Karotten und Honigmelone für Orange,
Bananen und Ananas für Gelb, Gurken für Grün, Trauben für Lila,
Blaubeeren für Blau
• bunte Teller und Tischdekoration
So geht’s:
• Das Essen nach Farben ordnen. Obst und Gemüse klein
schneiden und nach Farbe anrichten. Die Reihenfolge eines
Regenbogens ist meistens: Lila, Blau, Gelb, Grün, Orange, Rot.
Neues aus der SPIEGEL-Welt: Zu den Ferien bringt »Dein SPIEGEL« ein Extraheft
voller Freizeit-, Bastel- und Beschäftigungstipps für Kinder heraus.
Weitere Themen im Heft
• Juwelenraub im Grünen Gewölbe: Kinder­Interview
mit Marion Ackermann, Museumsdirektorin
der Dresdner Kunstsammlungen
• Tolle Preise zu gewinnen: Das große
Sommer­Rätsel für die ganze Familie
Leseprobe
• Den Tisch decken. Mit bunten Tellern oder Dekoration wird es
noch hübscher. In der Mitte das Regenbogenbüfett anrichten.
Stell Samenbomben her
Du brauchst:
• 200 g Tonerde (zum Beispiel Heilerde aus der Drogerie)
• 200 g torffreie, feinkrümelige Blumenerde
• drei Päckchen Blumensamen
• eine große Schüssel
So geht’s:
• Die Blumenerde in die große Schüssel geben und auflockern. Alle
groben Teile wie kleine Äste und Wurzeln entfernen.
• Tonerdepulver und Samen dazugeben und alles sorgfältig
vermischen.
• Wasser dazugeben, bis sich die Masse formen lässt – nicht zu
viel auf einmal.
• Kugeln formen und diese trocknen lassen, dabei immer wieder
wenden.
• Nach etwa zwei Tagen sind die Samenkugeln gut durch­
getrocknet. Dann kann man sie dorthin werfen, wo man sich
Blumen wünscht.
»Dein SPIEGEL« ist das monatliche Nachrichten­
Magazin für Kinder zwischen 8 und 14 Jahren.
JETZT ERHÄLTLICH IM ZEITSCHRIFTENHANDEL,
UNTER AMAZON.DE/SPIEGEL UND MEINEZEITSCHRIFT.DE.
68 SEITEN; 4,70 EURO; AUSGEWÄHLTE TEXTE AUF
SPIEGEL.DE/DEINSPIEGEL

REPORTER
Privat
Unterwegs, 1962
FAMILIENALBUM Albertine Strecker, 64, aus Buxheim
D rei Räder, zehn PS und der Stolz meines
Vaters. Das Foto hängt bei meiner Mutter
im Wohnzimmer. Es zeigt meine Eltern
Anton und Martina in ihrem ersten Auto, einem
Messerschmitt Kabinenroller KR 200. Hinter
meinem Vater sitze ich, damals fünf Jahre alt,
neben mir steht meine Schwester Elfriede.
Mit einer Spitzengeschwindigkeit von etwa
90 Kilometern pro Stunde besuchten wir damit
unsere Verwandtschaft in ganz Bayern. Die wei-
teste Strecke, die wir je zurückgelegt haben, war
von Erding bis Würzburg. Die knapp 300 Kilo-
meter glichen damals einer Weltreise. Das Auto,
es war hellgrün und hatte dunkelgrüne Kotflügel,
hatte mein Vater 1958 gekauft, weil das Motorrad
auf der Hochzeitsreise meiner Eltern kaputt-
gegangen war und ich geboren wurde.
Unsere Kleider hatten wir in einem Koffer ver-
staut, der hinten auf dem Fahrzeug festgeschnallt
wurde, darin für uns Mädchen je ein Alltagskleid
und eines für festliche Anlässe. Für mehr war kein
Platz.
Der KR 200 wurde auch Schneewittchensarg
genannt, wegen seiner Form, aber auch weil man
das durchsichtige Plexiglasdach über die Kabine
klappte. Der Einstieg glich einem Ritual: zuerst
meine Mutter, dann wir Kinder, zum Schluss
unser Vater. Weil der Innenraum nur für maximal
52 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022
drei Personen ausgelegt war – auf der Rückbank
war Platz für zwei Personen –, saßen meine
Schwester und ich abwechselnd auf einem kleinen
Kinderschemel zwischen den Sitzen. Gruselig,
wenn man an die heutigen Sicherheitsauflagen
denkt!
Die Sitzordnung war übrigens auch der Grund
dafür, dass meine Mutter keinen Führerschein
machen durfte; mein Vater wollte partout nicht
auf der Rückbank sitzen. Und dass sie den Wagen
ohne ihn fuhr – unvorstellbar.
Was aus unserem geliebten Kabinenroller wur-
de, weiß ich leider nicht. Irgendwann haben ihn
meine Eltern verkauft. Es war wohl eines der
zuletzt gebauten Fahrzeuge der Messerschmitt-
Werke, die Produktion wurde 1964 eingestellt.
Manchmal denke ich: Hätten wir ihn doch behal-
ten. Nicht nur weil er heute ein kleines Vermögen
wert wäre, sondern weil er so viel Freude berei-
tet. Wo immer dieser Oldtimer heute auftaucht,
zaubert er ein Lächeln auf die Gesichter.
Mein Vater ist Anfang des Jahres gestorben.
Dass dieses Bild im SPIEGEL erscheint, hätte
ihm sehr gefallen.
Aufgezeichnet von Antje Windmann
‣ Sie haben auch ein Bild, zu dem Sie uns Ihre
Geschichte erzählen möchten? Schreiben Sie an:
familienalbum@spiegel.de
NAMENSSTREIT
Ȁndern Sie den
Namen Ihres Pubs,
Herr Graham?«
SPIEGEL: Herr Graham, Sie
haben Post aus London
bekommen. Sie sollten den
Namen ihres Pubs ändern.
Graham: Ich dachte erst, da
wollen mich ein paar Mistkerle
aus meinem Dorf verarschen.
Machen sie ständig. Aber dann
las ich den Brief wieder und
wieder. Ich zeigte ihn meiner
Frau. Ich googelte den Ab-
sender. Coste, Condste. Wie
war es doch gleich?
SPIEGEL: Condé Nast, der Ver-
lag, der die »Vogue« herausgibt.
Graham: Dann checkte ich:
Oh, das ist kein Scherz. In dem
Brief stand, es gebe ein Problem
mit dem Namen meines Pubs:
The Star Inn at Vogue. Man
könne meinen Pub mit dem
Modemagazin »Vogue« ver-
wechseln.
SPIEGEL: Kann man?
Graham: Blödsinn. Vogue ist
ein Dorf mit sechs Häusern in
Cornwall, mehr als 450 Kilo-
meter von London entfernt.
Meine Gäste und ich trinken
Pale Ale und reden über Trak-
toren und Rugby. Letztens
haben wir nachts im Fernsehen
einen Boxkampf gesehen,
dann waren wir zusammen
nackt schwimmen.
SPIEGEL: Was haben Sie Condé
Nast geantwortet?
Graham: Ich schrieb: »NO«. Der
Name bleibt. Ich lasse mich
nicht von einem Konzern mit
Milliardenumsatz herumkom-
mandieren – bloß weil es die
Kohle und die Anwälte hat.
Mittlerweile hat sich der Verlag
entschuldigt. Sie hätten besser
recherchieren müssen.
SPIEGEL: Haben Sie schon ein-
mal die »Vogue« gelesen?
Graham: Vielleicht mal in
einem Wartezimmer beim Arzt.
Da fliegen die Dinger ja
rum. Mode ist nicht so mein
Ding. Die meiste Zeit
trage ich Arbeitskleidung, eine
schwarze Kochjacke. Mein
Lieblingskleidungsstück
ist ein Hawaiihemd. Finde ich
lustig. MIH
Mark Graham, 60, ist
Besitzer des Pubs The Star
Inn at Vogue.
 rück. Mit der Zeit gewann sie sein
Vertrauen. Sie habe fast jeden Tag
seinen Körper massiert, sagt sie, ihn

Das herrlichste Geschöpf gestreichelt und liebkost. Nach drei

EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE Wie Mr Happy Face zum
hässlichsten Hund der Welt wurde
iemand auf der Welt, auch Ihre Worte wählt sie mit Bedacht. Die Ohren
N nicht Mr Happy Face selbst,
hätte ahnen können, dass
der 21. August 2021 der Tag seiner
Wenn man sie nach Mr Happy Face
fragt, strahlt sie in die Handykamera
und sagt: »Mr Happy Face ist das
einer
Fledermaus.
Rettung sein würde. Es war ein Sams- wunderbarste und herrlichste Ge- Das Haar von
tag, und Jeneda Benally betrat ein schöpf, das je erschaffen wurde.«
Tierheim in Prescott, Arizona, einer In einem Podcast beschrieb sie Robert Smith.
Kleinstadt mit 46 000 Einwohnern, ihn einmal so: die Ohren einer Fleder- Die Zunge
und fragte nach einem Hund, den maus. Das Haar von Robert Smith,
keiner will. dem Sänger von The Cure. Die Zun-
von Gene
Zwei Tiere präsentierte ein Mit- ge von Gene Simmons, dem Bassisten Simmons.
arbeiter ihr an diesem Tag. Der erste von Kiss, nur länger.
Hund pinkelte dem Mann direkt ans Wenn man so will, hat die Pande-
Bein. Vor dem zweiten wurde Benally mie die beiden zusammengebracht.
gewarnt, bevor sie ihn sah. Der Hund Sie füllte die Tierheime der Welt mit
sei sehr alt und sehr hässlich. Vermut- Hunden, und in Benally, so sagt sie,
lich eine schlecht geratene Inzucht. sei in dieser Zeit ein Wunsch gereift.
Er schaue aus wie ein Alien. Sie habe gedacht: Ich will ein Baby
Dann sah sie ihn. Mr Happy Face. oder einen Hund.
Ungefähr 30 Zentimeter hoch und Nach dem Kennenlernen im Tier-
fast ohne Fell. Seine Zunge hing zen- heim fuhr Benally mit Mr Happy Face
timeterlang schief aus seinem Mund- zu ihrer besten Freundin. Die blickte
winkel. Auf dem Kopf stand ein wei- auf den Hund. »Oh mein Gott, Jene-
ßes Büschel Haar in die Höhe. Die da«, habe sie gesagt, »du hast dir im-
Schulter wirkte krumm, wie ausge- mer die schlimmsten Männer aus-
kugelt. Der Schwanz war abgeknickt. gesucht, ich weiß. Aber das geht zu
Ein Chinesischer-Schopfhund-Misch- weit.« Danach traf Mr Happy Face
ling, ungefähr 16 Jahre alt und krebs- Benallys Vater. Der sei sprachlos
krank. Lebenserwartung: ein paar gewesen. Auf der Straße wurde sie
Wochen, höchstens sechs, hieß es. von Fremden gefragt: »Was ist das?«
Es war Liebe auf den ersten Blick. Manche hatten Angst vor ihm.
Mr Happy Face humpelte und Aber nicht nur die Menschen wa-
wankte in Richtung Jeneda Benally. ren voller Misstrauen, auch der Hund
Benally mit
Sie dachte: was für eine wunderschö- traute der Sache nicht. Er scheute an- Mr Happy Face,
ne Persönlichkeit. Und dann dachte fangs jede Berührung. Wenn Benally Screenshot von der
sie: Hier, in diesem Tierheim, darf ihn streichelte, schreckte er oft zu- Website Heute.at
sein Leben nicht enden.
Inzwischen ist Mr Happy Face
wahrscheinlich einer der bekanntes-
ten Hunde überhaupt, am 24. Juni
2022 wählte ihn eine Jury im kalifor-
nischen Petaluma zum hässlichsten
Hund der Welt. Medien weltweit be-
richteten.
Jeneda Benally, 48 Jahre alt,
Josh Edelson / AFP / Getty Images
Monaten habe er begonnen, die Füße
von Benally zu küssen. Irgendwann
folgte er ihr überallhin. Wenn es ihm
gut geht, grunze er wie ein alter Die-
sel-Truck, der gerade angeschmissen
wird, sagt Benally. Ihm wuchsen
plötzlich mehr Haare. Im Schlaf
schnarchte und bellte er.
Sie fand heraus, was er mag: alles,
was entsetzlich stinkt, tote Vögel, tote
Mäuse. Ein Bett für sich allein. Ge-
tragen werden. Schnarchen. Sein
Lieblingsspielzeug, ein Schweinchen,
das so grunzen kann wie er.
Und was er nicht mag: seine Win-
deln, denn er ist nicht so wirklich stu-
benrein, und Treppenstufen.
Man weiß nicht viel über die
Vorgeschichte von Mr Happy Face.
Sie habe gelesen, erzählt sie, dass er
zusammen mit ungefähr 50 anderen
Tieren bei einem Messie gehaust
habe. »Mr Happy Face wurde ver-
nachlässigt und misshandelt«, sagt
sie. Das Haus, in dem er gelebt hat,
sei voller Fäkalien gewesen, einige
Tiere hätten verwest auf dem Boden
gelegen. Angeblich wurde das Haus
beschlagnahmt, und die Hunde ka-
men ins Tierheim in Prescott.
Benally sagt, als ihre sechsjährige
Nichte vorgeschlagen habe, Mr Hap-
py Face beim Wettbewerb zum häss-
lichsten Hund der Welt anzumelden,
habe sie gesagt: »Dazu ist er doch viel
zu schön.« Die Liebe hatte sie ein we-
nig blind gemacht.
Die Kategorien des Wettbewerbs:
»erster Eindruck«, »Persönlichkeit«,
»Zuschauerwirksamkeit«, »natürli-
che Hässlichkeit« und »andere Talen-
te«.
Neun andere Hunde traten gegen
Mr Happy Face an, darunter der blin-
de und haarlose Liberace und Jinny
Lu, ein koreanischer Mops. Mr Hap-
py Face gewann.
Nach etwa einer Stunde klingelt
es an der Hoteltür in Lima. Während
Benally sich die Schuhe bindet, ant-
wortet sie auf die zugegebenermaßen
gemeine Frage nach der Gemein-

hauptberuflich Bassistin der indi- samkeit zwischen dem hässlichsten

genen Punkrockband Sihasin, erzählt Hund der Welt und seinem Frauchen:
den Moment des Kennenlernens bei »Ich habe darüber mit niemandem
einem Videotelefonat in einem Hotel- gesprochen, weil es sehr persönlich
zimmer in der peruanischen Haupt- ist.« Aber auch sie habe Missbrauchs-
stadt Lima. Sie ist hier auf Einladung erfahrungen gemacht. Durch den
der US-Botschaft. Gestern Nacht sei Hund könne sie die Schönheit der
sie angereist, ohne Mr Happy Face. Welt klarer sehen, sagt sie. Für einen
Er sei bei ihrer Familie in Arizona Moment klingt es so, als hätte der
geblieben. Benally hat nicht viel Zeit, Hund auch sie gerettet. Dann muss
gleich muss sie zu einer Veranstaltung sie los.
mit Archäologen und Diplomaten. Miguel Helm n

Nr. 28 / 9.7.2022 DER SPIEGEL 53

 54
REPORTER

DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022

Illustration: Florian Bayer / DER SPIEGEL

»Es tut mir so weh«
FAMILIE Sie verliebten sich und gründeten eine Familie. Als ihre Ehe zerbrach, wollten beide weiter
für ihre Kinder da sein. Sieben Jahre später möchten der Sohn und die Tochter
ihre Mutter nicht mehr sehen. Die Geschichte einer gescheiterten Liebe. Von Heike Klovert
Ein geschiedenes Paar. Sie ist etwa 40,
er etwa 50 Jahre alt. Sie haben 2006
geheiratet, die Ehe hielt rund zehn
Jahre, danach stritten sie vor Gericht
um das Umgangsrecht. Die Kinder,
13 und 15 Jahre alt, wohnen heute
beim Vater. Für diese Recherche
konnte der SPIEGEL mit den Eltern
mehrere Gespräche führen sowie
Protokolle von Kindesanhörungen,
ein Gutachten, Gerichtsbeschlüsse und
andere Unterlagen einsehen. Um die
Kinder zu schützen, werden keine
Namen und Orte genannt.
Kapitel I: Anfang
Ihm gefiel ihr Blick. Als könnte sie in
ihn hineinschauen. Er sagt, er möge
es nicht, wenn Menschen abgelenkt
wirken, während er spricht.
Sie erinnert sich, dass sie sich in
einem Musikladen die Percussions
anschaute, als jemand neben ihr einen
Spruch darüber machte, dass Frauen
zwischen solchen Instrumenten ja
eher selten anzutreffen seien. Sie
habe nichts dazu gesagt. Sie spielte
schon länger Saxofon. Sie kannte vie-
le Frauen, die Musik machten.
Sie ahnte damals, im Sommer
2000, nicht, dass sie gerade ihrem
künftigen Ehemann begegnet war.
Er besorgte sich von einem ge-
meinsamen Freund ihre Nummer. Die
Saxofonistin seiner Band war kurz
vor einem Auftritt ausgefallen, er
fragte sie, ob sie einspringen wolle.
Er zeigte ihr seinen Bandraum, sie
tranken Tee und redeten bis in die
Nacht. Er war bereits berufstätig. Sie,
gerade volljährig geworden, stand
kurz vor dem Abitur.
Er schrieb ein Lied für sie: »You
don’t need to speak, I will just be here
for you«.
Sie sagt, er habe ihr Halt gegeben.
Sie hatte jahrelang neben der Schule
gejobbt und in Bands und Orchestern
gespielt. Sie litt unter Bauchschmer-
zen und Durchfall, hatte gerade eine
Milchallergie diagnostiziert bekom-
men. »Ich war durch mit meinen
Kräften.«
Er sagt, er habe dieses Gefühl ge-
kannt, habe Ähnliches kurz zuvor in
seinem Job erlebt. »Ich habe sie ge-
warnt: ›Es ist echt gefährlich, was du
da machst. Du musst Nein sagen, du
darfst nicht über deine Grenzen hin-
weggehen.‹ Aber sie war noch so un-
erfahren. Sie dachte, sie kriegt das
alles hin.«
Kapitel II: Vorahnung
Beide erinnern sich an viele Details
aus der Zeit, in der sie sich noch ge-
liebt haben. Wann sich die ersten Ris-
se in ihrer Beziehung auftaten, erzäh-
len sie sehr unterschiedlich.
Sie sagt, es war ein Jahr nach
ihrem Kennenlernen. Im Sommer
2001 wollte sie mit fünf Schulfreun-
dinnen und -freunden nach Italien
fahren.
Sie sagt: »Ich saß an einem der
schönsten Strände der Welt und fühl-
te mich elend, weil ich wusste, wie
sehr er mich vermisst. Ich wollte
einen Tag früher zurückkommen,
doch meine Freunde wollten das
nicht. Statt mich darin zu unterstüt-
zen, die Tage trotzdem zu genießen,
sagte er: ›Wenn du jetzt nicht heim-
kommst, habe ich das Gefühl, ich
kann dir nicht vertrauen.‹ Ich bezahl-
te von meinen Ersparnissen ein Taxi
nach Rom und flog von dort zurück.
Ich schäme mich bis heute, dass ich
mich dazu habe nötigen lassen.«
Sie sagt, da habe es begonnen,
Die beiden schwierig mit ihm zu werden.
Die Sache mit der Italienreise habe
erinnern sie zusammengeschweißt, sagt er. Er
sich an Details habe sie davor bewahrt, sich zu über-
nehmen. Und sie habe ihm gezeigt,
aus der dass sie zu ihren Versprechen stehe.
Zeit, in der sie Sie hätten vorher vereinbart, dass sie
sich geliebt früher nach Hause komme, wenn es
ihr im Urlaub nicht gut gehe. Und es
haben. Wann sei ihr nicht gut gegangen. Am Tele-
sich die fon habe sie fast nur geweint.
Einige Monate später zog sie zu
Risse auftaten, ihm, nach einem Streit mit ihren El-
erzählen tern. 2005 wurde sie schwanger. Sie war
Anfang zwanzig und er Mitte dreißig,
sie sehr unter- sie lebten in einer Doppelhaushälfte
schiedlich. am Rande einer deutschen Großstadt.
REPORTER
Er sagt, da habe es begonnen,
schwierig mit ihr zu werden: »Als
unser Sohn zur Welt kam, hatte sie
einen Notkaiserschnitt. Als sie nachts
aufwachte, lag sie leergeerntet und
an ein Bett getackert in der Intensiv-
station, und niemand sagte ihr, wo ihr
Baby war. Ich denke, dass dieses Ge-
burtstrauma dazu geführt hat, dass
sie irgendwohin abgebogen ist, ohne
mich mitzunehmen.«
Sie sagt: »Das war eine einsame,
schmerzhafte Nacht.« Ein Trauma?
»Nein.«
Kapitel III: Glück
Beide schaukelten und wickelten das
Baby und sangen ihm vor. Sie freuten
sich, als es ohne Schläuche atmen
konnte. »Ich hatte das Gefühl, ich tue
in jeder Sekunde, in der ich mich um
diesen winzigen Menschen kümmere,
etwas Sinnvolles«, sagt er.
Er war selbstständig und hatte sich
angewöhnt, nachts zu arbeiten und
bis mittags zu schlafen. Er hatte nicht
geglaubt, dass sein Rhythmus mit
Kindern vereinbar wäre, bis sie vor-
geschlagen hatte, den Tag aufzutei-
len: Vormittags würde sie zuständig
sein, nachmittags er.
Sie sagt, er habe damals schon sei-
ne Bedürfnisse vor die aller anderen
gestellt. »Ich habe mich so oft für ihn
verbogen. Aber ich dachte noch, wir
können an uns arbeiten.«
Sie sagt auch, sie hätten oft bei-
einandergesessen und Tee getrunken,
während sie den Kleinen gestillt habe.
Es sei eine gute Zeit gewesen.
Zweieinhalb Jahre später wurde
ihre Tochter geboren.
Sie: »Er tat viel für die Kinder,
wenn er wach war. Aber das Einkau-
fen, das Putzen, die Besuche beim
Kinderarzt, das war alles meine Auf-
gabe. Ich habe das akzeptiert, er hät-
te es nicht machen wollen. Doch er
kritisierte mich gleichzeitig dafür,
dass ich es gemacht habe. Das tat
weh.«
Er: »Oft sagte ich zu ihr: ›Schau
mal, was die Kinder Tolles entdeckt
haben! Setz dich doch kurz zu uns,
Nr. 28 / 9.7.2022 DER SPIEGEL 55
REPORTER
den Tisch können wir nachher ge-
meinsam abräumen.‹ Doch sie wollte
es sofort erledigen. In den ersten Jah-
ren war sie locker, wir nahmen unse-
ren Sohn mit auf Konzerte und Feste.
Aber sie geriet zunehmend in die Rol-
le der perfektionistischen Hausfrau,
nachdem unsere Tochter geboren war.
Dabei hatten wir beide solche getrie-
ben peniblen Eltern immer grässlich
gefunden.«
Sie: »Solange es nur um mich ging,
konnte ich über vieles hinwegschauen.
Doch als die Kinder da waren, begann
ich, für meine Werte zu kämpfen, zum
Beispiel für Sauberkeit und Ordnung.
Unser Haus war verrümpelt mit In-
strumenten und Dingen, aus denen er
irgendwann Kunst machen wollte.
Wenn die Kinder über Kabel krabbel-
ten, musste ich fürchten, dass ein Ver-
stärker auf sie drauffällt.«
Kapitel IV: Trennung
In ihrem Wohnzimmer stand ein
Tisch, an dem acht Leute hätten sitzen
können. Beide berichten, dass darauf
seine Malsachen lagen und sein Rech-
ner stand. Sie wollte, dass dieser Tisch
frei blieb, um daran mit der Familie
und mit Gästen essen zu können. »Er
warf mir vor, es gehe mir um den
äußeren Schein«, sagt sie. »Nein! Ich
wünschte mir einfach ein Zuhause, in
dem wir uns wohlfühlen konnten.«
Über dem Esstisch hing eine Lam-
pe. Er hatte aus Papier und Alufolie
einen Schirm dafür gebastelt. Er wirft
ihr vor, dass sie diesen Schirm abge-
hängt habe, wenn Besuch kam. »Sie
ließ immer wieder Sachen von mir
verschwinden. Wenn es mir auffiel,
gab es Streit.«
Sie sagt, sie könne sich an den
Lampenschirm nicht erinnern, aber,
ja, sie habe Dinge von ihm heimlich
entsorgt. »Er hat so viel angehäuft,
von dem er sich nicht trennen konnte,
selbst die Kinder litten darunter, es
ging nicht anders.«
Im Sommer 2011 begannen sie eine
Paartherapie, etwas mehr als drei Jah-
re später fuhren sie in den Skiurlaub.
Sie sagt, in der Skihütte habe sie
die nassen Sachen der Kinder zum
Trocknen ausgebreitet und seine
Hose auf den Teppich gelegt, damit
er sie mit in sein Zimmer nehmen
konnte, weil auf der Heizung kein
Platz mehr war. Er habe sie ange-
schnauzt, sie könne seine Hose auch
aufhängen, schließlich zahle er für
diesen Urlaub. »Ich ging ins Bad und
schaute in den Spiegel und fragte
mich: ›Warum machst du das freiwil-
lig an jedem Tag deines Lebens mit?‹«
Einige Wochen später sagte sie
ihm, dass sie sich trennen wolle. Die
56 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022
Kinder waren acht und fünf Jahre alt. sie nicht aus Versehen zwicken, sonst
»Ich sagte ihm, dass mich so viele müsse sie es dem Papa sagen.«
Dinge furchtbar verletzt hätten, aber In ihrem Tagebuch schildert die
dass ich möchte, dass wir es mit den Mutter eine Szene aus dem zweiten
Kindern gut hinkriegen. Ich schlug Jahr nach der Trennung: Die Kinder
vor, er könne jeden Tag zu uns zum hätten sich morgens im Treppenhaus
Abendessen kommen und die Wo- gestritten. Ihr Sohn sei noch mal
chenenden mit den Kindern verbrin- hochgekommen, um etwas zu holen.
gen. Er wirkte überrascht. Ich glaube, Sie habe ihm eine Ansage gemacht,
er hatte es wirklich nicht kommen wie die beiden ihren Streit friedlicher
sehen.« hätten lösen können. Mit einem Klaps
»Es war wie in einem Horrorfilm«, auf den Rücken habe sie ihn wieder
sagt er. »Du gehst in einen vertrauten nach unten geschickt. »Nun schlägst
Raum hinein, und etwas ist anders.« du mich auch noch!«, habe der knapp
Die Trennung sei das größte Rätsel Zehnjährige gerufen.
seines Lebens. Er wirkt verletzt, Ein weiterer Tagebucheintrag aus
wenn er davon erzählt. derselben Zeit: »Ich liebe die Kinder
Sie wirkt erleichtert, wenn sie da- so sehr. Es schmerzt zu spüren, wie
von erzählt. Sie hatten einen Thera- sie manipuliert werden und mir auf
peuten gefragt, wie man den Kindern eine Art entgleiten. Aber es ist für
sagt, dass man sich trennen wird. Sie mich eine Selbstverständlichkeit,
machten es so, wie er empfahl: Sie nicht an ihnen zu zerren. Ich nehme
setzten sich mit ihnen auf die Couch, mir vor, sie loszulassen, ihnen den-
sie sagten ihnen, dass sie sie immer noch zu zeigen, dass ich sie liebe, sie
lieben würden und dass sie keine gut zu behandeln, keine Retourkut-
Schuld hätten an dem, was gerade schen zu fahren: ihren Vater nicht vor
passiert. ihnen schlecht zu machen …«
Die Mutter fand, die Kinder hätten Der Vater sagt, sie habe den Kin-
es gut aufgenommen. dern ihren Willen aufgezwungen, seit
Der Vater fand das Gespräch ihr Sohn mit etwa drei Jahren seinen
zynisch. »Wir kehrten vermeintliche eigenen Kopf entwickelt habe. »Er
Vorteile hervor, zum Beispiel, dass hat gespürt: Meine Mama mag mich,
wir uns nicht mehr so viel streiten wenn ich meine Jacke artig anziehe.
würden. Dabei hatten wir uns gar Und wenn ich das nicht tue, knallt es.«
nicht so viel gestritten. Die Krönung Im Herbst 2016 zog sie in eine
war, wie sie ihnen anpries, dass sie eigene Wohnung, und sie begannen,
zwei Kinderzimmer bekommen wür- das paritätische Wechselmodell zu
den. Und in ihrer neuen Wohnung leben. Es lagen rund 15 Kilometer
hatte unsere Tochter dann gar kein zwischen ihnen, die Kinder waren
eigenes Zimmer. Darüber ist sie bis an zwei Werktagen beim Vater, an
heute stinksauer.« zweien bei der Mutter und am Wo-
chenende abwechselnd bei einem
Kapitel V: Entfremdung Elternteil.
Nach der Trennung wohnte die Mut- Der Vater: »Eigentlich wollte ich
ter anderthalb Jahre lang weiter im gar nicht von den Kindern getrennt
gemeinsamen Haus. »Ich habe ihr das sein. Aber ich konnte ihre Mutter
angeboten, damit die Kinder länger nicht zwingen, mit mir weiter Familie
beide Eltern um sich haben können«, zu spielen. Ich hätte die Kinder auch
sagt er. zu 70 Prozent betreuen können, ich
Sie schlief mit den Kindern in arbeite von zu Hause aus, und sie
einem Zimmer. »Ich fand es unerträg- wollte zu Ende studieren und sich
lich, wie er in dieser Zeit um sie buhl- einen Job suchen. Ich hätte ihr den
te«, sagt sie. Sie habe durchgesetzt, Rücken freihalten können. Doch sie
dass sie an zwei Nachmittagen pro wollte das nicht. Also habe ich mit-
Woche ohne ihn unterwegs sein konn- gespielt. Ich wusste, ich mache alles
ten. Sie besuchten Freunde, gingen nur noch schlimmer, wenn ich meine
Eis essen oder auf den Spielplatz. inneren Widerstände gegen dieses Be-
»Oft fiel es unserem Sohn schwer, den treuungskonstrukt erkennen lasse.«
Papa zurückzulassen, weil der sonst Die Mutter: »Mir war es wichtig,
Illustration: Florian Bayer / DER SPIEGEL
allein und traurig sei.« dass die Kinder mit jedem Elternteil
Kurz nach der Trennung, sagt sie, gleich viel Zeit verbringen können.
habe er ihr zum ersten Mal vorgewor- Ich wusste, wenn sie seltener bei mir
fen, dass sie die Kinder grob behand- sind, würden sie es nicht schaffen, in-
le. Daraufhin hätten die Kinder be- nerlich hier anzukommen.«
gonnen, das selbst immer wieder zu Der Vater fand die Kinder, nun
thematisieren. »Ich lag mit unserer zehn und sieben Jahre alt, zu jung,
Tochter im Bett, und wir kitzelten um von der Wohnung der Mutter mit
uns, und sie sagte plötzlich, ich dürfe der U-Bahn zur Schule zu fahren.

»Ich hätte sie hingebracht, aber sie
bezog mich nicht ein. Die Kinder er-
zählten, dass ihre Mutter wenig Zeit
für sie habe und sie oft bei der Oma
oder Tante seien. Ich bot ihr an: ›Ich
komme abends gern vorbei und lese
den Kindern vor, wenn du eine Ver-
abredung hast.‹ Doch sie vermittelte
den Kindern, dass jede Stunde ohne
den Papa gut für sie sei, denn der habe
seine Macken.«
Sie sagt, im Jahr nach der Tren-
nung habe sie ein Buch über Narziss-
ten in die Hände bekommen. »Plötz-
lich sah ich viel klarer, warum die
Beziehung mit ihm so schwierig ge-
wesen war.«
Er sagt: »Sie hat in unserem
Freundes- und Bekanntenkreis herum-
erzählt, dass ich eine Borderline-
Störung hätte. Das ist völlig abwegig.«
Zwei Jahre lang, bis vor knapp vier
Jahren, pendelten die Kinder zwi-
schen beiden Haushalten hin und her.
Sie seien darüber immer unglück-
licher geworden, sagt der Vater.
Aus dem Protokoll eines Hausbe-
suchs der gerichtlich bestellten Ver-
fahrensbeiständin im Januar 2019:
Die Tochter finde die Wechsel »blöd
und stressig«. Beim Papa gefalle es
ihnen besser, er sei nicht so »streng
und brutal«. Der Sohn berichtete, er
müsse bei seiner Mutter ständig den
Müll raustragen und in die Schule ge-
hen, obwohl er sich krank fühle. Sie
komme einfach zu ihm ins Zimmer
und wolle, dass er aufräume. An
einem Nachmittag, als es ihm schlecht
gegangen sei, habe sie ihn am Arm
gepackt und aus dem Zimmer ge-
schleift und gesagt: Wer Pudding es-
sen könne, dem könne nicht so
schlecht sein, dass er nicht zum Mu-
sikunterricht gehen könne. Er wolle
bei seinem Vater leben und seine
Mutter nur noch jedes zweite Wo-
chenende besuchen.
Er sagt, sie habe die Kinder kör-
perlich und seelisch misshandelt. Sie
habe sie angebrüllt, durch die Woh-
nung gezerrt, sie aufs Bett gedrückt
und sich auf sie draufgesetzt. Die Kin-
der hätten ihm davon berichtet. Seine
Tochter habe mehrmals Hämatome
an den Oberarmen gehabt, wo die
Mutter zu fest zugedrückt habe. Das
habe jedoch nicht als gravierend ge-
nug gegolten, um Hilfe von staatli-
chen Stellen zu bekommen, die die
Kinder hätten schützen können.
Sie sagt, sie habe viele entspannte
und schöne Tage mit den Kindern er-
lebt. Das Ankommen sei jedoch zu-
nehmend schwierig geworden: Die
Kinder hätten sie immer öfter be-
schimpft und sogar getreten. Sie habe
sich in solchen Momenten bemüht,
REPORTER
Ruhe zu bewahren. »Ich habe mich
so oft gefragt, ob ich vielleicht gewalt-
tätig sein könnte. Aber ich bin es ein-
fach nicht. Ich bin eine ganz normale
Mama.«
Im gerichtlichen Gutachten wird
später stehen: Die Kinder hätten eine
»übermäßige Sensibilität« in Bezug
auf das Thema »Gewalt« entwickelt.
Diese sei zumindest teilweise auf die
»ausgeprägte Loyalität der Kinder
gegenüber dem Vater« zurückzufüh-
ren. Sie akzeptierten von der Mutter
»keinerlei Erziehungsmaßnahmen«.
Im Sommer 2017 verbrachten die
Kinder einige Tage mit ihr an der
Nordsee, danach waren sie zwei Wo-
chen mit dem Vater im Urlaub.
Dann hatte sie die Kinder wieder,
sie holte sie ab, und sie fuhren mit
dem Auto zu ihrem Bruder in den Sü-
den. »Auf der Fahrt fing es plötzlich
an: Sie schimpften, wie unglücklich
sie an der Nordsee mit mir gewesen
seien und dass die Trennung so
Illustration: Florian Bayer / DER SPIEGEL
schrecklich für sie sei und dass sie so
nicht mehr leben wollten. Ich fuhr
langsamer und bat sie, je drei Dinge
aufzuzählen, die ihnen an der Nord-
see Freude bereitet haben. Danach
sagte meine Tochter: ›Mama, ich weiß
gar nicht, wie es passieren konnte,
dass ich vergessen habe, wie schön es
dort war.‹«
Bei ihrem Bruder googelte sie zum Aus dem Tagebuch der Mutter:
ersten Mal den Begriff Eltern-Kind- »Ich weinte den ganzen Abend. Im-
Entfremdung. Sie erfuhr, dass es sich mer wieder.«
um »regelmäßige Begleiterscheinun-
gen« konflikthafter Trennungsstreite Kapitel VI: Prozess
handelt: Kinder, die zwischen beiden Im Januar 2019 beantragte er das
Eltern stehen, versuchen, sich aus alleinige Aufenthaltsbestimmungs-
ihrer Zerrissenheit intuitiv zu be- recht. Das darauffolgende Verfahren
freien, indem sie sich auf eine der dauerte anderthalb Jahre. Kindesan-
beiden Seiten schlagen. »Mir war so- hörungen, Interaktionsbeobachtungen,
fort klar, dass ich da mittendrin ste- testpsychologische Untersuchungen
cke«, sagt die Mutter. und ein 102 Seiten langes Gutachten
Der Vater: »Ich kann gut nachvoll- sollten klären, welcher Elternteil die
ziehen, dass sich die Kinder von ihrer Kinder besser betreuen könne.
Mutter distanziert haben. Sie hat sie In dem Gutachten steht: Die Kin-
so oft schlecht behandelt und ihre der hätten grundsätzlich zu beiden
Grenzen überschritten.« Eltern eine gute und liebevolle Be-
Weihnachten 2018 verbrachten die ziehung. Ihr Verhältnis zur Mutter sei
Kinder beim Vater. Am ersten Weih- derzeit jedoch stark belastet, und ihr
nachtstag öffnete die Mutter ihr Mail- Wille, beim Vater zu leben, sei »ein-
postfach. Sie fand eine Nachricht: Der Die Mutter deutig, stabil und autonom«.
Vater wolle vor Gericht erstreiten, In dem Gutachten steht auch: Der
dass die Kinder ganz bei ihm leben beschränkt Vater habe einen weitaus größeren
können. sich nun darauf, erzieherischen Einfluss auf die
Der Vater: »Die Kinder haben sich Kinder. Somit trage er die größere
von mir zu Weihnachten nur ge-
zu Geburts­ Verantwortung, die Beziehung zwi-
wünscht, dass wir vor Gericht ziehen. tagen und schen den Kindern und der Mutter
Mein Sohn hatte von einem Klassen- anderen An­ nicht nur zu akzeptieren, sondern
kameraden gehört, dass das der ein- aktiv zu unterstützen. Dieser Verant-
zige Weg sei, um durchzuboxen, dass lässen Karten wortung komme er nicht ausreichend
sie bei mir leben können. Ich konnte zu schreiben nach.
ihren Wunsch nicht dauerhaft über- »Ich hatte mir fest vorgenommen,
gehen. Sie haben ein Recht auf eine und Geschenke einen guten Kontakt zur Mutter zu
gewaltfreie Erziehung.« zu packen. halten und sie vor den Kindern positiv
Nr. 28 / 9.7.2022 DER SPIEGEL 57
REPORTER

darzustellen«, sagt der Vater. »Doch sie nicht dazu zwingen, Zeit mit ten sind ihnen zu viel. Sie bitten
dann erzählten die Kinder von den einer Person zu verbringen, die sie darum, ihnen mal etwas Raum zu
Übergriffen, und damit musste ich sie so gequält hat.« lassen.«
ernst nehmen.« Zu ihren Großeltern, Tanten und Ende März schickte die Mutter
Weihnachtskarte des Sohnes an Onkeln mütterlicherseits, mit denen ihrer Tochter ein Geschenk zum
die Mutter, ein Jahr nach Prozessbe- sie früher in Urlaub fuhren oder Fa- Geburtstag. Persönlich überreichen
ginn: »Frohes Fest und einen guten milienfeste feierten, haben die Kinder konnte sie es nicht. Die Tochter wol-
Rutsch ins neue Jahr! Ich wünsch’ mir, seit dem Prozess keinen Kontakt le das nicht, schrieb der Vater. Sie sei
dass du uns in Ruhe beim Papa woh- mehr. noch damit beschäftigt, die letzte Be-
nen lässt und nicht mehr unnötig An- Die Mutter glaubt nicht, vor Ge- gegnung zu verarbeiten.
waltskosten zahlen musst.« richt noch etwas erreichen zu können. Der Vater: »Die Kinder wollen,
Im März 2020 schlossen die Eltern Sie steht im Austausch mit anderen dass sich ihre Mutter bei ihnen ent-
eine gerichtliche Vereinbarung: Die Eltern, meistens Vätern, die ihre Kin- schuldigt. Vorher können sie nichts
Kinder sollten »ihren gewöhnlichen der ebenfalls gern öfter treffen wür- damit anfangen, wenn sie ihnen
Aufenthalt« beim Vater haben. Nach den. »Manche haben schon 30 Pro- schreibt, dass sie sie liebt. Solche
einer Anlaufphase sollten sie ihre zesse geführt. Das macht alle kaputt, Nachrichten stressen sie. Sie soll end-
Mutter an jedem zweiten Wochen- aber mehr Zeit mit ihren Kindern lich loslassen und sich nicht mehr
ende sehen. haben sie auch nicht.« melden. Dann kommen die Kinder
Stichhaltige Hinweise darauf, dass Sie glaubt, dass die Entfremdung vielleicht eines Tages von sich aus auf
die Mutter gewalttätig oder der Vater hätte verhindert werden können, sie zu.«
psychisch gestört sei, finden sich in wenn ein Gericht direkt nach der Die Mutter: »Es ist mir lieber, ich
den Gerichtsunterlagen nicht. An den Trennung entschieden hätte, dass die nerve sie, wenn ich ihnen schreibe,
Vorwürfen, die sich die Eltern ma- Kinder vornehmlich bei ihr leben sol- als dass sie denken könnten, ihre
chen, ändert das nichts. len. Nun sei es dafür zu spät. Die Kin- Mama habe sie vergessen. Ich hoffe,
Ende März dieses Jahres schickte der hätten das schlechte Bild, das der dass wir uns eines Tages über all die
der Vater eine E-Mail an den SPIEGEL, Vater von ihr habe, zu ihrem eigenen Momente aussprechen können, in
in der er über seine Kinder schrieb: gemacht. denen ich nicht so reagiert habe, wie
»Manchmal werden die beiden von Die Mutter beschränkt sich nun sie sich das gewünscht hätten. Aber
irgendwelchen Erwachsenen aus dem darauf, zu Geburtstagen und anderen ich lasse mir von ihrem Vater keine
Umfeld der Mutter angesprochen, so Anlässen Karten zu schreiben und Entschuldigung abpressen für Dinge,
als ob sie nur deshalb beim Vater le- Geschenke zu packen. Ihrem Sohn die ich nicht getan habe.«
ben wollten, weil es dort lustiger zu- hat sie in den vergangenen Monaten Sie hat ihre Kinder seit fünf Mo-
ginge. Wie sie bei der Mutter gequält immer mal wieder eine Chatnachricht naten nicht gesehen.
wurden, wird häufig ganz übergan- aufs Handy geschickt, obwohl der sie Beide glauben, so gut und richtig
gen. Das Gefühl, etwas erlitten zu mehrmals darum gebeten hatte, das gehandelt zu haben, wie es ihnen
haben, das dann auch später nicht nicht zu tun. möglich war, und beide glauben, dass
aufgearbeitet und klar benannt wird, Chat zwischen Sohn und Mutter, der andere viel falsch gemacht habe.
ist elementarer Bestandteil ihres September 2021: Sie weint oft, während sie erzählt. Er
Traumas.« Sohn: »Wir sind bis Ende der Fe- wählt Worte hart wie Waffen.
Die Mutter sagt: »Es tut mir so rien am See.« Sie hat bei dieser Recherche mit-
weh, dass ich nur mich selbst aus die- Mutter: »Würdet Ihr Euch freuen, gemacht, weil sie will, dass staatliche
ser Beziehung retten konnte.« wenn ich Euch besuchen käme?« Instanzen einschreiten, sobald ein
Sohn: »Nö.« Elternteil nach der Trennung damit
Kapitel VII: Scheitern Mutter: »Dann wünsche ich Euch beginnt, die Kinder gegen den Ex-
Die gerichtliche Vereinbarung führte schöne, harmonische, entspannte Partner oder die Ex-Partnerin auf-
nicht dazu, dass die Kinder ihre Mut- Spätsommertage dort und hoffe, dass zubringen.
ter alle zwei Wochen sehen. wir uns bald nach eurer Ankunft wie- Er hat mitgemacht, weil er fand,
»Seit dem Prozess lagen immer der sehen. Ich hab’ Euch lieb.« dass er und die Kinder auch gehört
mindestens einige Wochen zwischen Chat zwischen Sohn und Mutter, werden sollen, wenn die Mutter an
unseren Treffen«, sagt sie. »Ich kon- Februar 2022: die Öffentlichkeit geht.
taktierte den Vater, und wenn ich kei- Mutter: »Ich möchte Dich gar nicht Der Schmerz, sagt sie, überkomme
ne Absage bekam, verabredeten wir mit vielen Worten nerven. Ich möch- sie in Wellen. Neulich sei es nachts
uns draußen in einem Gartengrund- te Dir nur einmal wieder nach vielen passiert. Sie habe sich aufs Sofa ge-
stück. Wir tranken Tee oder spielten Tagen ohne Kontakt sagen, dass ich setzt und auf dem Saxofon gespielt,
Karten, der Vater war immer dabei. an Dich denke, dass ich hoffe, dass es leise, um die Nachbarn nicht zu
Ich spürte, dass sie mir vor ihm nicht Dir gut geht, dass ich Dich lieb habe wecken.
zeigen können, dass sie mich lieben. und immer für Dich da bin. Deine Der Vater sagt, er spüre immer
Trotzdem fühlte ich mich mit ihnen Mama.« noch eine tiefe Traurigkeit darüber,
verbunden. Er hat es nicht geschafft, Sohn: »Kannst du’s lassen?« dass das alles kaputtgegangen sei. Sei-
Illustration: Florian Bayer / DER SPIEGEL

uns das zu nehmen.« Am 23. März schrieb die Mutter ne Kinder stöberten gern durch alte
Der Vater: »Die Kinder haben dem Vater: Ob sie den Kindern ihre Videos. Sie schauten dann zusammen
von sich aus nicht das Bedürfnis, ihre Ostergeschenke überreichen dürfe? Aufnahmen an aus einer Zeit, als sie
Mutter zu treffen. Sie hassen sie und »Wie wär’s die Tage mit einem Tee noch zu viert in dem Haus mit Garten
haben Angst vor ihr. Ich begleite im Garten?« wohnten. »Die Kinder fragen mich
sie zu den Treffen, weil sie das wol- Der Vater antwortete: »Das ist ja manchmal, ob ihre Mutter, so ent-
len. Hinterher haben sie oft Kopf- nett. Sie möchten aber nicht. Sie brau- spannt und liebevoll, wie sie früher
oder Bauchschmerzen. Sie stehen chen eine Pause und wollen in nächs- war, noch irgendwo sei. Ich sage ih-
schon unter genug Druck, ich kann ter Zeit keine Treffen. Die Nachrich- nen: ›Ich weiß es auch nicht.‹« n

58 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022

 REPORTER

in ihren fliegenden Kisten« wird der

Offizier, der Deutschland bei einem
Flugwettstreit vertritt, gefragt: »Kön-
nen Sie überhaupt fliegen?«
»Es gibt nichts, was ein deutscher
Offizier nicht kann«, brüllt der Mann

Trolle auf der Strecke mit der Pickelhaube. Wenig später

trudelt sein Flugzeug ins Meer.
Ich rief beim Radio an, um zu sa-
gen, dass ich es nicht schaffe. Mein
LEITKULTUR Alexander Osang fragt sich, wer ihm noch die Wahrheit sagt. Zug habe Verspätung. Der Experte
zum Vermächtnis von Angela Merkel
hat Verspätung. Klang wie ein Witz.
as erste Opfer im Krieg ist die Vergangenen Sonntag, wieder
D Wahrheit, lautet ein Zitat, das
gerade wieder populär ist. Mei-
ner Erfahrung nach ist die Wahrheit
kurz vor zehn, stand ich auf dem
Platz vorm Hamburger Hauptbahn-
hof, der mich an das Bühnenbild von
fast immer das erste Opfer, wenn es »Les Misérables« erinnerte. Den
irgendwo Probleme gibt. Abend zuvor hatte ich auf dem Som-
Vor drei Wochen, es war kurz vor merfest eines Mannes verbracht, dem
zehn, stand ich auf dem Hauptbahn- ich viel zu verdanken habe. Am Tele-
hof in Frankfurt am Main und sah, fon erzählte mir eine Kollegin, die
dass mein Zug nach Berlin fünf Mi- auch da war, gerade, dass sie den ers-
nuten Verspätung hatte. Er sollte um ten Morgenzug genommen habe. Sie
10.14 Uhr abfahren. Ich hätte in den hatte nicht geschlafen, war dafür aber
Zug einsteigen können, der ursprüng- schon in Berlin. Ein Vorteil.
lich um 9.14 Uhr abfahren sollte. Der Mein ICE rollte pünktlich ein,
hatte 45 Minuten Verspätung. Ich be- stoppte aber nicht dort, wo es die An-
Michael Gstettenbauer / IMAGO

schloss, dass ein Zug, der bereits so
viel zu spät war, kein Glück bringt.
Um 10 Uhr, als der 9.14-Uhr-Zug ab-
fuhr, erhöhte sich die Verspätung des
10.14-Uhr-Zuges auf 10 Minuten, we-
nig später auf 20. Als Grund wurden
Probleme bei der Einstiegshilfe ge-
nannt. Zugknappheit. Die Zeitenwende. Die Information für
Das Wort Einstiegshilfe stimmte Energiekrise. Russland. Putin, Schrö- Reisende
mich milde. Ich hatte einst beobach- der. Hitze, Stürme, Platzregen. Wasch-
tet, wie Helmut Schmidt an Gleis 8 bären. Es gibt sicher ein Team im
des Berliner Hauptbahnhofs im Roll- Berliner Bahntower, das den ganzen
stuhl sanft in einen ICE nach Ham- Tag über Verspätungsgründe nach-
burg gehoben wurde. Dann sprang denkt. Die Trolle der Deutschen
die Verspätung auf 45 Minuten. Da- Bahn. Wie das Team der Mercedes-
mit änderte sich auch die Begrün- Werkstatt, das die Bauteile zu erfin-
dung, auf »Baustellen«. den scheint, die in meinem Auto aus-
Am Nachmittag sollte ich ein Ra- gewechselt werden müssen. Wie die
diointerview zum Vermächtnis von Spezialisten von der Flugsicherheits-
Angela Merkel geben. Es war ein kontrolle, die entscheiden, wie viel
Telefoninterview, aber im Zug ging Milliliter Flüssigkeit man mit ins
das nicht. Die Verbindung bricht Handgepäck nehmen darf.
ständig ab, und das WLAN der Bahn Der Verkehr bringt diese Leute
ist eher ein symbolisches Angebot. hervor. Er ist nicht kontrollierbar. Je-
Die Verspätung hielt sich, bis kurz der, der es versucht, wirkt am Ende
vor Bitterfeld. Da blieben wir stehen. wie Günther Krause oder Andreas
Ich fragte die Zugbegleiterin, was los Scheuer. Volker Wissing merkt es ge-
sei. rade. Das Wort Verkehrsminister ist
»Kabeldiebstahl«, sagte sie. ein Widerspruch in sich. Das Wort Es gibt sicher
»Kabeldiebstahl?«, fragte ich. Fahrplan ebenfalls. ein Team
»Irgendeen Schlaumeia hat Strom- In der New Yorker Subway gibt es
kabel jeklaut«, sagte sie und muster- keine festen Abfahrtszeiten. Es gibt
im Berliner
te mich, als wäre ich irgendwie invol- das grundsätzliche Versprechen, dass Bahntower, das
viert. Sie schüttelte den Kopf und lief irgendwann ein Zug kommt. Man den ganzen
weiter. Vielleicht denken sie sich die steht da und wartet. In Deutschland,
Entschuldigungen aus. Einstiegshilfe, das den Dieselmotor und die elektri- Tag über
Kabeldiebstahl. Tiere auf dem Gleis. sche Straßenbahn hervorgebracht Verspätungs-
Kühe. Pferde. Schafe. Äste in der hat, ist das natürlich schwer zu akzep-
Oberleitung. Wildschweine. Corona. tieren. Wir haben konzertierte Aktio- gründe
Personalmangel. Arzteinsatz. Wölfe. nen. Im Film »Die tollkühnen Männer nachdenkt.
sage behauptet hatte. Die Fahrgäste
irrten auf der Suche nach ihren Wag-
gons über den Bahnsteig. Danach:
zehn Minuten Verspätung. Grund:
»Die Wagenreihung«. Die wirklichen
Herausforderungen für die Bahntrol-
le begannen aber erst später, in Berlin
Ostkreuz. Mein Zug nach Branden-
burg hatte zunächst sieben Minuten
Verspätung und fiel dann aus. Alle
Züge in die Richtung, auch die zum
BER, fielen aus. Das Einzige, was sich
noch bewegte, waren die Begründun-
gen. Waldbrände, Feuerwehreinsatz,
Menschen auf der Strecke. Die Bahn-
steige füllten sich, es war sehr heiß.
Auf einer Treppe im Schatten stand
ein junges Bahnpolizistenduo. Ich
fragte sie nach den Menschen auf der
Bahnstrecke.
»Na ja«, sagte die Polizistin. »Da
sitzt eener uffm Leitungsmast und
will nich runterkommen.«
Ich habe mich selten besser infor-
miert gefühlt. Und ruhiger. Ich ging
zurück auf den Bahnsteig und warte-
te eine Stunde. Alle wirkten erstaun-
lich gelassen. Der nächste Zug zum
Flughafen wurde gestrichen. Auf
Deutsch und auf Englisch. Eine Frau
sagte: »Macht nüscht. Die Flugzeuge
fliegen ja auch nich.« Die Ersten
steckten sich Zigaretten an, während
aus Lautsprechern an das Rauchver-
bot erinnert wurde. Am nächsten Tag
erklärte der Kanzler, dass wir uns auf
eine lang anhaltende Krise einstellen
müssten.
Die Menschen auf dem Bahnsteig
schienen das bereits zu wissen. n

Nr. 28 / 9.7.2022 DER SPIEGEL 59

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WIRTSCHAFT
Grüne Bedenken gegen Uniper-Einstieg
GASKRISE Die Koalition erwägt einen Einstieg beim kriselnden Energiekonzern Uniper. Der Staat würde damit
auch Teilhaber von AKW in Schweden und Kohlekraftwerken in Russland. In der Ökopartei sorgt das für Ärger.
rüne Parlamentarier sind besorgt
G über den geplanten Einstieg des Bun-
des beim kriselnden Gasversorger
Uniper. Der Konzern aus Düsseldorf ist
auch Betreiber von Atomkraftwerken in
Schweden und Gas- sowie Kohlekraftwer-
ken in Russland. Mit einer stillen Einlage
würde der deutsche Staat Teilhaber an die-
sem Geschäft. Uniper dürfe zwar nicht plei-
tegehen, sagt Anton Hofreiter, Vorsitzender
des Europaausschusses im Bundestag. Aber
der Bund solle im Falle eines Einstiegs sei-
nen Einfluss geltend machen. »Wir sollten
den deutschen Teil übernehmen, dann aber
dafür sorgen, dass der Rest des Unterneh-
mens mit den umstrittenen Geschäftsteilen
verkauft wird«, sagt der bayerische Grüne.
62 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022
Uniper-Kohlekraftwerk in Datteln, Nordrhein-Westfalen
Ähnlich äußert sich auch der baden-
württembergische Grüne Sebastian Schäfer:
»Mit einem Staatseinstieg bei Uniper wür-
den wir gleichzeitig weitere Risiken in Form
von AKW auf unsere Bilanz nehmen«, so
der Bundestagsabgeordnete. Es müsse da-
her ein Weg gefunden werden, der die Ver-
sorgungssicherheit erhält, ohne weitere Ri-
siken einzugehen.
Die Bundesregierung will mithilfe einer
neuen Regelung im Energiesicherungsgesetz
die Möglichkeit schaffen, Energiekonzerne
wie Uniper zu stützen. Derzeit verhandelt
das Bundeswirtschaftsministerium mit dem
Konzern bereits darüber, Firmenanteile zu
erwerben. Uniper steht wegen des Ukraine-
kriegs und ausbleibender russischer Gaslie-
Hans Blossey / euroluftbild / ullstein bild
ferungen unter starkem finanziellem Druck.
Der Konzern muss Erdgas an den Spot-
märkten für viel Geld einkaufen, bedient
aber Privat- und Großkunden mit günstigen
Lieferverträgen. Das kostet den Konzern
täglich einen zweistelligen Millionenbetrag.
Auch im Bundeswirtschaftsministerium gibt
es Bedenken gegen eine Übernahme ohne
Bedingungen. Dort wird noch diskutiert, ob
der Bund mit einem Kredit aushilft, oder
nur das Gasgeschäft übernimmt. Eine Spre-
cherin des Ministeriums erklärte auf Anfra-
ge, alle Optionen würden geprüft. Man sei
sich der Problematik bewusst, heißt es aus
dem Umfeld von Wirtschaftsminister Robert
Habeck, der eine längere Laufzeit der drei
deutschen Atomkraftwerke klar ablehnt. GT
 »Das ist historisch«
Lars Rückert, 57, ist
Geschäftsführer der
Rückert Firmen-
Florian Quandt
gruppe in Ham-
burg. Mit 150 Mit-
arbeiterinnen und
Mitarbeitern be-
treut sie rund 4000 Heizungs-
anlagen.
SPIEGEL: Herr Rückert, gerade
wächst die Sorge um Energie-
engpässe. Wie macht sich das in
Ihrem Betrieb bemerkbar?
Rückert: Was wir derzeit in den
Heizungskellern erleben, ist his-
torisch. Viele haben Angst, dass
das Gas knapp wird, und wollen
sich jetzt unabhängig machen.
Das treibt mitunter kuriose Blü-
ten. Immer häufiger bestehen
Kunden auf dem Einbau einer
neuen elektrischen Wärmepum-
pe, obwohl sie erst vor zwei
oder drei Jahren einen neuen
Gaskessel eingebaut bekommen
haben. Da blutet mir das Herz,
denn wir schmeißen noch voll
funktionstüchtige Geräte auf
den Schrott.
SPIEGEL: Das heißt, Sie kom-
men den Aufträgen kaum noch
hinterher?
Rückert: Ganz so schlimm ist es
noch nicht. Unsere Bestands-
kunden können wir recht zeit-
nah bedienen, Neukunden nur
noch mit langen Wartezeiten.
Zahl der Lufthansa-
Geisterflüge steigt
LUF TVERKEHR Die Zahl der
sogenannten Geisterflüge bei
der Lufthansa steigt weiter. Ge-
meint sind damit Leerflüge, die
nur Gepäck oder Crewmitglie-
der transportieren, aber keine
Passagiere. In einem internen
Papier der Airline heißt es, von
diesem Freitag an bis mindes-
tens kommenden Donnerstag
sollten neue Maßnahmen grei-
fen, um den derzeit chaotischen
Flugplan zu stabilisieren. Dem-
Björn Trotzki / IMAGO
Lufthansa-Jet
Im Winter dürfte sich die Lage
noch verschlimmern.
SPIEGEL: Aber in einem Notfall
helfen Sie weiterhin?
Rückert: Bisher konnten wir
Öl- oder Gaskessel bei Notfäl-
len meist binnen einer Woche
tauschen. Jetzt kann selbst die
Lieferung eines konventionellen
Heizkessels bis zu acht Wochen
dauern. Auf Wärmepumpen
muss man zurzeit zwischen
sechs und neun Monate warten.
Wir haben für diese Notfälle
elektrische und sogar heizöl-
betriebene Heizmobile, die wir
vor die Häuser stellen. Die wer-
den wohl eine längere Zeit aus-
gebucht sein.
SPIEGEL: Ein Gasmangel im
Netz könnte dazu führen, dass
bei Hunderttausenden Gas-
thermen im Land die Sicherun-
gen anspringen.
Rückert: Wir können nur
hoffen, dass es nicht so weit
kommt. Tatsächlich geht ein
Gasgerät bei Gasmangel
automatisch in Störung. Nur ein
Installateur kann dann die
Gasleitung entlüften, um es
wieder in Gang zu bekommen.
Dann müssten wir wohl mit
Blaulicht durch die ganze
Stadt fahren. Es würde lange
dauern, die Wärmeversorgung
flächendeckend wiederher-
zustellen, gerade in Quartieren
mit vielen Mehrfamilien-
häusern. HEJ
nach sollen in dem Zeitraum
105 weitere Streichungen und
364 Geisterflüge ab dem Dreh-
kreuz Frankfurt erfolgen. Dies
diene der »Stabilisierung der
Crews« und einer Verbesserung
der Gepäcksituation. Damit
wären bis zu 76 tägliche abge-
hende Verbindungen betroffen.
Über eine mögliche Verlänge-
rung der Maßnahme wolle man
kommende Woche entscheiden.
Besonders betroffen sind Flüge
am Abend (rund 37 Prozent)
und am Nachmittag (etwa
17 Prozent). Die Geisterflüge
könnten sowohl ohne Fracht
und Gepäck als auch mit Leer-
containern oder nur mit Fracht
stattfinden. Ein Grund für die
intern »Ferryflights« genannten
Leerflüge ist, dass die Flug-
zeuge zu einem anderen Ab-
flugort gebracht werden müs-
sen, damit nicht weitere Flüge
ausfallen. MGB, MUM
Merkel soll Stiftungs-
pläne kritisch
gesehen haben
AFFÄREN Die damalige Bun-
deskanzlerin Angela Merkel
(CDU) soll Manuela Schwesigs
Pläne zur Gründung der Stif-
tung Klima- und Umweltschutz
MV früh kritisch gesehen
haben. Die im Januar 2021
gegründete Institution war von
Anbeginn umstritten. Anders
als ihr Name suggerierte, diente
sie vor allem dem Ziel, die
Fertigstellung der russischen
Erdgaspipeline Nord Stream 2
abzusichern. Am 18. Dezember
2020 hatte es ein Gespräch zwi-
schen Merkel und der Regie-
rungschefin Mecklenburg-
Vorpommerns gegeben. Einge-
weihte berichten, Merkel habe
stets moniert, dass die Grün-
dung einer staatlichen Stiftung
im Widerspruch zur Haltung
der Bundesregierung stehe. Die-
se habe immer argumentiert, es
Hamsterkäufe bei
Braunkohlebriketts
ENERGIE Aus Angst vor einem
Gas-Lieferstopp decken sich
viele Haushalte in diesem Jahr
früh mit Braunkohlebriketts ein.
Der Absatz ist laut Sächsischem
Brennstoff- und Mineralölhan-
delsverband (SBMV) gegenüber
dem Vorjahr um fast 50 Prozent
gestiegen. Vor allem in Ost-
deutschland und Bayern sei die
Nachfrage groß. »Unsere Händ-
ler haben sehr viele Anfragen
von Stammkunden, die oft die
doppelte Menge an Briketts
bestellen, aber auch von vielen
Neukunden«, so Verbandschef
Raimond Senzel; er spricht von
»Hamsterkäufen«. Kaminhänd-
handle sich um ein rein privat-
wirtschaftliches Projekt. Zudem
soll die Kanzlerin die Kopplung
von Umweltschutz und Pipe-
linebau als durchsichtiges
Manöver kritisiert haben, das
den Deckmantel-Charakter der
Stiftung nicht verhehlen werde.
Ein Sprecher der Staatskanzlei
in Mecklenburg-Vorpommern
bestätigt den Termin auf An-
frage, betont aber: »Das Ge-
spräch diente der Information
und nicht der Einholung einer
Zustimmung.« Die Bundes-
regierung habe später erklärt,
»dass sie keine Bewertung des
Vorhabens vorgenommen hat«.
Eine Sprecherin der Altbundes-
kanzlerin teilte auf Anfrage mit,
man äußere sich nicht zu den
Inhalten persönlicher Gesprä-
che. Nach dem russischen
Einmarsch in die Ukraine hatte
der Landtag im Mai die Auf-
lösung der Stiftung beschlossen.
Auch Schwesig distanzierte
sich und sprach von einem
Fehler. GLA, KLW
Andre Lenthe / IMAGO
Anwohner beim Brikettbunkern
ler und Ofenbauer erhielten
ebenfalls deutlich mehr Auf-
träge. Die erhöhte Nachfrage
wirke sich auf die Preise aus:
»Auch Holzbriketts, Holzpellets
und Scheitholz haben sich preis-
lich fast verdoppelt.« Hinzu
kommt, dass der RWE-Konzern
in diesem Jahr die Veredelung
von Braunkohle einstellt. Damit
bleibt nur die LEAG-Brikett-
fabrik im brandenburgischen
Spremberg als heimische Liefe-
rantin übrig. Man habe die Pro-
duktion schon um 60 Prozent
erhöht, so ein Sprecher. »Wir
sind darauf eingerichtet, auch
über den Sommer mit voller
Kapazität in drei Schichten an
sieben Tagen in der Woche zu
produzieren.« MXW
Nr. 28 / 9.7.2022 DER SPIEGEL 63
WIRTSCHAFT

Kopieren als Konzept

Links das Originalkleid
von Zara, rechts der
Klon von Shein.
Sieht gleich aus, riecht
bloß anders.

TikTok für Klamotten

KONSUM Shein ist der Shootingstar der Modebranche.
Der chinesische Konzern verdient Milliarden
mit superschnell geschneiderter Billigstkleidung.
Nachhaltigkeit spielt keine Rolle, aber
das scheint die junge Kundschaft nicht zu stören.

64 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022


uf den ersten Blick gleichen
A sich die Kleider wie ein Klon
dem anderen: grün-braun-
beigefarben gemustert, ein wenig
wie Omas Gardine. Links ein langer
Schlitz, oben ein kurzer Rollkragen.
Alles sehr, sehr ähnlich – wäre da
nicht der Geruch: Das eine riecht,
wie neue Kleidung eben riecht, ein
wenig nach dem Karton, in dem sie
geliefert wurde. Das andere stinkt.
Nach Plastik.
Das erste Kleid ist von Zara, einem
der größten Fast-Fashion-Hersteller
der Welt. Das zweite ist von Shein,
einem chinesischen Konzern und Pio-
nier dessen, was sich Ultra-Fast-Fa-
shion nennt, oder auch: Echtzeit-
mode. Es ist die absolute Steigerung
von dem, was einst Zara und H&M groß
werden ließ: schneller, billiger, inno-
vativer zu sein. Shein macht das noch
konsequenter. Und bedenkenloser.
Das Kopieren gehört zum Kon-
zept – und wird zugleich frech ge-
leugnet. Die Kopie einer Handtasche
des Designers Marc Jacobs etwa be-
zeichnet Shein auf seiner Site als »ein-
zigartige Tasche«.
Der Konzern kupfert nicht nur bei
den Großen der Branche ab. Er ver-
kauft auch Kopien eines Vintage-Pul-
lunders, den eine Nutzerin auf einer
Secondhand-Plattform anbot, oder
das Shirt einer kleinen Countryband
aus South Carolina. Von einer US-
Designerin, die viele ihrer Teile per
Hand häkelt, soll Shein über 40 De-
signs nachgeahmt haben.
Der Konzern ist mit diesem Kon-
zept unfassbar erfolgreich. Shein ver-
doppelt seine Verkäufe im Schnitt
Jahr für Jahr. Während H&M und
Zara in der Coronapandemie mit-
unter Kunden verloren, maßen
Marktforscher in den USA in gleich
mehreren Monaten über 200 Prozent
jährliches Wachstum der »Unique
Shoppers per Month« für Shein. Bin-
nen zwei Jahren konnte das Unter-
nehmen den durchschnittlichen Um-
satz seiner US-Kundschaft fast ver-
doppeln: auf 89 Dollar im Monat.
Den Chinesen sei da etwas »wirklich
Großes« gelungen, sagt Michael Ma-
loof, Marktanalyst der Handelsfor-
schung Earnest. »So etwas habe ich
noch nie gesehen.«
Allein im vergangenen Jahr soll
Shein 16 Milliarden Dollar weltweit
Marcus Wiechmann / DER SPIEGEL
umgesetzt haben. Das entspricht
einem Viertel des gesamten deut-
schen Modemarkts. Das Unterneh-
men selbst veröffentlicht keine Zah-
len. Investoren bewerten es mittler-
weile mit 100 Milliarden Dollar, mehr
als H&M und der Zara-Mutterkon-
zern Inditex zusammen; unter den
wertvollsten Start-ups der Welt steht
es auf dem dritten Platz, gleich nach
Elon Musks Raumfahrtfirma SpaceX.
So richtig in die Zeit passt diese
Erfolgsstory nicht. Allenthalben ver-
sucht die Modeindustrie, das Image
der Umweltsünderin abzustreifen,
redet ständig von besseren Arbeits-
bedingungen und nachhaltigem Kon-
sum. Ist Shein am Ende die ehrliche-
re Antwort auf das, was Kundinnen
und Kunden wirklich wichtig ist:
Hauptsache, billig – und nach uns die
Sintflut?
Womöglich ist Shein keine Weiter-
entwicklung der Fast-Fashion-Idee,
sondern der erste Modekonzern, der
sich für Mode gar nicht mehr interes-
siert. Im Kern also ein Technologie-
konzern, für den Kleidungsstücke nur
noch Datenpunkte sind. Wachstums-
potenzial liegt nicht mehr in der Ver-
besserung der Qualität, sondern in
der Genauigkeit der Empfehlungs-
algorithmen. Die Kids sollen nicht nur
kaufen, sondern möglichst lange in
der App verweilen, zum Teil einer
Community werden.
Vielleicht ist das auch der Grund,
warum Shein in weniger als 20 Jahren
so erfolgreich werden konnte – und
kaum jemand über 30 es bemerkte.
Sheins Entstehungsgeschichte liegt,
wie alles bei der Firma, im Ungefäh-
ren. Gegründet wurde sie – je nach
Quelle – 2008 oder 2012 in der ost-
chinesischen Stadt Nanjing. Damals
hieß die Site noch »SheInside« und
verkaufte Brautmode. Auch über den
Gründer Xu Yangtian, der sich Chris
nennt, ist wenig bekannt.
Chinesische Zeitungen schreiben,
Xu stamme aus der Küstenprovinz
Shandong und habe dort in Qingdao
studiert, Erfahrungen im Suchmaschi-
WIRTSCHAFT
nenoptimieren gesammelt. Andere
Von 0 auf 100
Marktwert in
Medien meinen zu wissen, er sei in
den USA geboren und habe an der
Washington University seinen Ab-
Milliarden Dollar
schluss gemacht. Interviews geben
weder er noch das Unternehmen.
Shein Inditex Einer chinesischen Zeitung ließ Xu
100* (Zara)
72 2020 angeblich ausrichten: »Was auch
immer Sie schreiben, wenn es nicht
20
H&M wahr ist, werde ich definitiv klagen.«
2014 zog seine Firma nach Guang-
Umsatz in Milliarden
Dollar
zhou. Im Jahr darauf strich der Grün-
der die letzten vier Buchstaben des
Inditex (Zara)
H&M
Namens. Aus SheInside wurde Shein,
Shein** das Geschäft ausgeweitet auf Män-
ner-, Kinder- und Frauenkleidung,
30 suchmaschinenoptimiert und ultra-
25 billig. Den chinesischen Markt be-
20 diente Shein nie, die Zielgruppe wa-
15
ren stets junge Menschen im Ausland,
die wenig Geld für Mode ausgeben
10
wollen. Zu Hause war der Konkur-
5 renzdruck wohl zu hoch.
0 Shein setzte schnell auf Influencer.
Addison Rae etwa, TikTok-Star der
2016 2021
ersten Stunde, wirbt für das Billig-
* vorbörslich; ** Schätzung
label, ebenso die deutsche YouTuberin
S Quellen: Unternehmen, Bianca Claßen alias Bibi von Bibis-
◆
Businessofapps.com, BeautyPalace. Genauso wichtig wie
Bloomberg/Refinitiv
Datastream (Stand: 6. Juli) die Megastars – und preiswerter –
sind die kleinen Sternchen, die Meso-
und Mikroinfluencer mit weniger als
100 000 Followern. Meist junge Frau-
en, die im Tausch gegen Polyester-
bikinis oder Kunstlederhandtaschen
vor ihrem Wohnzimmerspiegel im
Outfit des Tages tanzen. Inhalte,
denen man kaum ansieht, dass es um
Werbung geht, stünde in der Profil-
beschreibung nicht ein Code, mit dem
Käuferinnen bei die Follower 15 Prozent Rabatt be-
Shein-Event in kommen und die Influencerin eine
London 2019: Der
erste Modekonzern, bescheidene Provision.
der sich für Mode Die Strategie hat Shein auf TikTok
gar nicht interessiert zur am häufigsten erwähnten Marke
des Jahres 2020 gemacht. Videos mit
dem Hashtag Shein wurden auf der
Plattform mehr als 32 Milliarden Mal
angeschaut. Den englischsprachigen
Instagram-Kanal haben 25 Millionen
Nutzer abonniert.
»Jemand trägt ein bestimmtes
Kleid, und plötzlich wollen alle genau
so etwas«, sagt Bloggerin Alexandra
Hildreth, 24. »Mikrotrends« nennt
sie den Chic, der einem einzelnen
Foto oder Video entspringt und sich
über die gesamte Plattform verbrei-
tet. Doch genauso schnell, wie ein
David M. Benett / SHEIN / Getty Images
Trend entstanden ist, kann der Hype
auch wieder vorbei sein. »Es ist leicht,
sich zu fühlen, als wäre man zu spät
dran«, sagt sie. »Dann geht’s los zum
nächsten Trend.«
Shein schafft es besser als die eta-
blierten Marken, diese Hypes zu er-
spüren – und daraus ein Milliarden-
geschäft zu machen. Entsprechend
Nr. 28 / 9.7.2022 DER SPIEGEL 65
WIRTSCHAFT
1,3 Millionen neue Produkte bringt Shein
jedes Jahr auf den Markt. Fast-Fashion-Konkurrent Zara
kommt auf 35 000, H&M auf 25 000 neue Teile. Quelle: Wired/Sheng Lu
hoch ist der Output an neuen Klei­
dungsstücken, den das Unternehmen
produziert: In der letzten Juniwoche
erschienen jeden Tag mehr als 1000
neue Teile im Onlineshop.
Gesprächsanfragen lehnt Shein ab.
Marketingchefin Molly Miao erläutert
in einem Beitrag für den Techblog
Techonomy die Konzernphilosophie
so: »In einer idealen Welt sollten
Modefirmen eine unendliche Anzahl
an Styles anbieten«, schreibt sie, aus
denen Kunden »je nach individueller
Präferenz« aussuchen könnten. Jedes
Kleidungsstück müsse dann nur »ein
einziges Mal« hergestellt werden.
Wie Shein diesem Ideal näher­
kommt, zeigt sich in Guangzhou. In
der südchinesischen Provinzhaupt­
stadt hängen überall rote Werbeta­
feln: »Arbeiter für eine internationa­
le Modemarke gesucht«, steht darauf.
In heruntergekommenen Industrie­
bauten, in Lagerhallen von Super­
märkten oder direkt in den verwin­
kelten Gassen werden Vier­Euro­Tops
und Plastikhandtaschen genäht.
Shein ist als Auftraggeber bei den
Bossen der Hinterhofnähereien ge­
fragt: Der Konzern garantiert, die
gesamte Produktion aufzukaufen und
innerhalb von zwei Wochen zu zah­
len. Rechnungen werden in der Bran­
che sonst oft erst nach drei Monaten
beglichen, manchmal gar nicht.
Nachschub bestellt Shein in win­
zigen Mengen, mal 100, mal auch nur
50 Stück. Nachdem die Teile im On­
linestore landen, analysiert die fir­
meneigene Software in Echtzeit, was
auf Website und App gesucht und ge­
66 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022
Sequoia Capital, der einst Techno­
logieriesen wie Apple, Google oder
Airbnb groß machte. Auch Tiger Glo­
bal, einer der ambitioniertesten Geld­
geber der letzten Jahre, investierte
Millionen.
Genaue Zahlen gibt es kaum.
Selbst David Hachfeld, der sich
monatelang mit Shein beschäftigt hat,
ist auf Schätzungen angewiesen. Er
arbeitet für die Schweizer NGO
Public Eye, die Firmen weltweit auf
Menschenrechtsverletzungen unter­
sucht. Shein, sagt Hachfeld, sei ein
»schwarzes Loch«.
Hachfeld hält das Geschäftsmodell
für rückschrittlich: Kleidung, zumeist
aus Polyester, in kleinen Chargen von
Wanderarbeitern in chinesischen Hin­
Marcus Wiechmann / DER SPIEGEL
terhoffabriken herstellen zu lassen,
die Teile dann einzeln in Plastikbeu­
tel zu verpacken und per Luftfracht
nach Europa und in die USA zu flie­
gen, »kann niemals ein nachhaltiges
Geschäftsmodell sein. So wird man
schnell groß. Klar. Aber den Preis da­
für zahlen Menschen und Umwelt«.
Plastikhandtaschen kauft wird. Geht ein Tanktop viral, Offenbar hat man bei Shein er­
von Shein, Zara: wird am nächsten Tag in der Näherei kannt, dass hier eine Schwachstelle
Das Original kostet
knapp 50 Dollar –
um die Ecke eben dieses Top genäht. liegt. Zwischen blinkenden Rabatt­
rund dreimal so viel Entpuppt es sich als Ladenhüter, hat codes und ablaufenden Countdowns
wie das Imitat Shein im Idealfall lediglich ein paar für Sonderaktionen findet sich das
Teile zu viel bestellt. Minimales Risi­ Label »Shein Cares«: »Wir sind im
ko, maximale Flexibilität. Durch die ›Gutes Tun‹­Geschäft«, heißt es da.
enge Anbindung der Nähereien an »Indem wir nachhaltige Methoden
Sheins Software geht der ganze Pro­ und Materialien verwenden, tun wir
zess schwindelerregend schnell: Drei unseren Anteil dafür, den Planeten so
bis fünf Tage soll es angeblich dauern, gut wie möglich aussehen zu lassen.«
bis ein entworfenes – oder kopiertes – Ende April startete Shein gar eine
Teil verkauft werden kann. »nachhaltige« Linie, »EvoluShein«:
Für chinesische Unternehmen sei Produkte, die zumindest teilweise aus
es selbstverständlich, so datengetrie­ recyceltem Polyester bestehen. Auf
ben zu arbeiten, sagt Techanalystin Anfrage des SPIEGEL listet das Unter­
Rui Ma. Die Kundschaft sei »extrem nehmen mehrere Nachhaltigkeits­
divers«, die Unterschiede zwischen initiativen auf, an denen Shein be­
Stadt und Land, zwischen Arm und teiligt ist.
Reich seien enorm. »Shein tut nicht In einem Markenreport der NGO
so, als wüssten sie, was ein Kunde Remake, die sich mit Menschen­
will«, sagt Ma. »Sie experimentieren rechtsverletzungen in der Mode­
einfach, in kleinen Stückzahlen – und industrie beschäftigt, erhielt Shein
analysieren dann genau die Daten, jüngst allerdings einen Nachhaltig­
Queen of was gekauft wird.« keitsscore von null, aus 150 mögli­
Social Media Das Unternehmen beschränkt sich chen Punkten. Zara etwa bekam für
längst nicht mehr auf Kleidung, son­ seine Unterstützung von Gewerk­
TikTok-Aufrufe, dern stellt auch Möbel, Kosmetik, schaften immerhin 24 Punkte, die
in Milliarden Haustierzubehör her. Viele Beobach­ H&M­Gruppe 39 Punkte. Sheins Aus­
#Shein
ter halten deshalb den Vergleich mit sagen seien »extrem irreführend«
anderen Modekonzernen nicht mehr und, in vielen Fällen, ganz einfach
32,5
für treffend. Shein, sagt der Handels­ unbewiesen, heißt es bei Remake.
#Zara experte Gerrit Heinemann, sei eher Die Näherinnen in Guangzhou
10,0 auf dem Weg, »das nächste Alibaba wissen meist nicht einmal, für wen sie
#Primark oder Amazon« zu werden. schuften. Irgendeine Marke aus dem
2,2
Zumindest die Geldgeber scheinen Ausland, sagt eine Wanderarbeiterin
dies zu erkennen. In der letzten Finan­ aus Hubei. Seit zwei Jahren näht sie
#HM zierungsrunde sammelte Shein von im Akkord: sieben Tage die Woche,
2,2 Investoren eine Milliarde Dollar ein. oft bis tief in die Nacht im schumm­
S Quelle: TikTok,
Unter den Investoren waren Top­ rigen Licht der Neonröhren. Ihre
Stand: 7. Juli Adressen wie der Risikokapitalgeber Nähmaschine steht im ersten Stock

eines Industriekomplexes. Am Eingang sta-
peln sich Shein-Tüten, man hört das mono-
tone Rattern der Maschinen, ab und zu zirpt
der Nymphensittich, den der Chef in einen
Vogelkäfig gesperrt hat. Wie in einer Mine.
Der Arbeitstag der Näherin beginnt um
8 Uhr, um 11.30 Uhr machen sie und ihre Kol-
leginnen Mittagspause, ab 13.30 Uhr geht es
weiter. Abendessen: 17.30 Uhr, ab sieben
dann Spätschicht bis halb zwölf. Nur an Sonn-
tagen leistet sie keine Überstunden, zwei Tage
im Monat hat sie frei. Einen Arbeitsvertrag,
erzählt die Frau, habe sie nicht. Mal bekommt
sie 5000, mal 6000 Yuan pro Monat, umge-
rechnet rund 800 Euro. Fällt der Strom aus,
wie im vergangenen Herbst, stehen die Ma-
schinen still, niemand verdient dann Geld.
Wie geht es ihr damit? »Es ist schön. Ich bin
einfach jeden Tag glücklich«, sagt sie. »Wel-
che anderen Möglichkeiten habe ich auch?«
Näherinnen und Näher, die für Shein tätig
sind, arbeiten oft mehr als 70 Stunden pro
Woche – und das offenbar meist ohne Arbeits-
verträge. Das zeigen Interviews, die Public
Eye in insgesamt sechs Fabriken in Guang-
zhou durchgeführt hat. Eigentlich sind das
eindeutige Verstöße gegen die Arbeitsgesetze
der Volksrepublik. Danach ist die durch-
schnittliche Wochenarbeitszeit auf 40 Stunden
begrenzt. Pro Monat sind maximal 36 Über-
stunden zulässig, und jeder Mitarbeiter muss
einen Arbeitsvertrag bekommen. Arbeits-
rechtsverstöße betreffen die gesamte Branche,
Zulieferer von Shein genauso wie viele ande-
re Betriebe, die für große Marken in Südchina
produzieren.
Schriftlich teilt Shein mit, die Zulieferer
würden regelmäßig von unabhängigen Prü-
fern kontrolliert. »Wenn Verstöße festgestellt
werden, ergreifen wir weitere Maßnahmen,
die bis zur Kündigung reichen können.« Wie
oft überprüft wird und welche Verstöße bis-
lang entdeckt wurden, dazu schweigt Shein.
In der Bundesregierung zeigt man sich ent-
schlossen, Shein damit nicht davonkommen
zu lassen. Unternehmen könnten nicht länger
Verantwortung auf Dritte übertragen, »weder
auf ihre Zulieferer noch auf externe Zertifi-
zierer«, sagt Anosha Wahidi vom Bundes-
ministerium für wirtschaftliche Zusammen-
arbeit und Entwicklung (BMZ). Das neue
Lieferkettengesetz, das 2023 in Kraft tritt,
ziele genau darauf und »zwingt Unternehmen
zu einem Perspektivwechsel«. Auch die ge-
plante europäische Regulierung sei ein »star-
kes Instrument«.
Tatsächlich wird Shein von den beschlos-
senen Regeln kaum erfasst, da es hierzulande
keinen Hauptsitz unterhält. Ein EU-Gesetz
tritt frühestens 2024 in Kraft. Die Details wer-
den gerade erst verhandelt.
Die Vereinigten Staaten und Großbritan-
nien denken bereits über Gesetzesverschär-
fungen nach. Vor allem Sheins Praxis, Ein-
fuhrzollgrenzen zu umgehen, indem es große
Bestellungen in einzelne Pakete teilt und dann
per Luftfracht verschickt, stößt in den USA
auf Widerstand. Der »New York Fashion Act«
lässt sich gar als »Lex Shein« lesen: Der Bun-
desstaat und die Millionenstadt wollen Unter-
nehmen vom Markt ausschließen, die ihrer
Transparenzpflicht nicht nachkommen. Alle
Firmen ab 100 Millionen Dollar Jahresumsatz
sollen darunter fallen. Allein das, sind Exper-
ten im politischen Berlin überzeugt, werde
Shein »deutliche Schwierigkeiten bereiten«.
Und der Designklau? Auf SPIEGEL-An-
frage teilt Shein mit, alle Lieferanten müssten
gewährleisten, dass ihre Produkte geistiges
Eigentum nicht verletzen. Man investiere wei-
ter in Reviewprozesse. Bis dahin, scheint es,
müssen sich die Marken selbst kümmern.
Ralph Lauren reichte eine Klage ein, genau
wie die Firma hinter Doc Martens. Weniger
bekannten Designern bleibt oft nur der Weg
über die Öffentlichkeit – vielleicht reagiert
Shein ja nach einem Shitstorm.
Den direkten Konkurrenten, so Handels-
experte Heinemann, bleibe nur die »Flucht
nach vorn. H&M oder Zara müssen es schaf-
fen, der jungen Zielgruppe klarzumachen,
warum sie mehr kosten«.
Das sollte eigentlich nicht schwer sein. Eine
Untersuchung, die ein Team der Hochschule
Niederrhein für den SPIEGEL durchgeführt
hat, zeigt deutliche Unterschiede zwischen
den Shein-Kopien und seinen Fast-Fashion-
Vorbildern. Fünf Kleidungsstücke wurden
ausführlich analysiert.
Eine grüne Umhängetasche riecht intensiv
nach Kunststoff, ein geblümtes Oberteil mit
Herzausschnitt verströmt den Duft einer
Tankstelle. Das könne daran liegen, dass die
Produkte keine Zeit zum Auslüften hatten,
sagt Maike Rabe, die das Forschungsinstitut
für Textil und Bekleidung leitet.
Die Shein-Teile sind allesamt aus Polyester.
Der »billigste Rohstoff, der in der Textilindus-
trie eingesetzt werden kann«, sagt Rabe, »rein
auf Erdölbasis«. Bei den Konkurrenzproduk-
ten kommen auch Textilmischungen zum Ein-
satz, beispielsweise aus Viskose.
Mafalda Fonseca / Instagram
Influencerin Fonseca
WIRTSCHAFT
Bei der ausführlichen Untersuchung wer-
den noch mehr Unterschiede sichtbar. Die
Nähte bei den Shein-Produkten sind unsau-
berer, Reißverschlüsse nicht in Stoff einge-
fasst. Statt die Passform mit vergleichsweise
aufwendigen Schnitt- und Nähtechniken zu
fixieren, werden bei einigen Shein-Teilen ein-
fach Gummis eingesetzt.
Auch die Muster, auf den ersten Blick iden-
tisch, unterscheiden sich beim genaueren Hin-
sehen. Mal sehe der Druck »verpixelt« aus,
mal seien die Farbverläufe »weniger flie-
ßend«. Als hätte jemand die Zara-Teile ab-
fotografiert und das Muster nachdrucken las-
sen. »Dreiste Kopien« nennt Rabe die Pro-
dukte. »Die Teile sind auf einem Level mit
Karnevalsbekleidung«, lautet ihr vernichten-
des Urteil.
Noch scheint das die Kundinnen und Kun-
den nicht sonderlich zu stören. In einem Hin-
terhof in Covent Garden, der Einkaufs- und
Amüsiermeile Londons, hat Shein für das
Wochenende einen Pop-up-Store eingerich-
tet. Die Schlange reicht bis zum nächsten
Block, fast eine Stunde brauchen die Warten-
den bis zum Eingang. Solche Events sind rar.
Der Raum ist kaum größer als ein Wohn-
zimmer. Ein DJ legt auf. 200, vielleicht 250
Menschen drängeln sich um die Kleiderstän-
der. Einige lassen sich von einer Kalligrafin in
ihrem neuen Lieblingsoutfit malen. Andere
posieren im neuen Oberteil für die Kameras,
»für TikTok«.
Teenager lieben das Label vor allem wegen
der Preise: Ein bauchfreies Top kostet im Son-
derangebot gerade mal 2 Euro, Sneaker 15.
Selbst Wintermäntel gibt es hier für 23 Euro.
Oft kommt noch ein Rabatt dazu.
Mafalda Fonseca, 30, ist eine der zahlrei-
chen Instagrammerinnen, die für Shein Wer-
bung machen. Sie postet Spiegelselfies aus
ihrem Schlafzimmer, manchmal zusammen
mit einem riesigen Plüschteddy. Natürlich
wisse sie, »dass Shein nicht der ethischste
Konzern ist«, sagt sie. »Die wollen nur Geld
verdienen, da bin ich nicht naiv.« Aber sie
könne dort endlich Kleidung finden, »die mir
passt und die ich mir leisten kann«, sagt die
Frau, die meist Kleidergröße 2XL trägt. Plus-
größen seien sonst »langweilig oder teuer,
oder beides«. Bei Shein sei das anders.
Auch das Umweltargument zieht bei der
jungen Käuferschicht mitunter nicht mehr.
Jahrelang hätten Marken die Botschaft ver-
breitet: »Kauft nachhaltiger, dann könnt ihr
die Welt retten«, sagt Madeleine Alizadeh.
Die 33-Jährige galt unter @Dariadaria als eine
der ersten deutschsprachigen »Sinnfluence-
rinnen«. Jahrelang habe es negative Kom-
mentare gehagelt, wenn man sich neue Klei-
dung zulegte oder mit dem Flugzeug in den
Urlaub flog. Heute ist sie überzeugt: Indivi-
dueller Konsum Ȋndert nichts daran, dass in
der Modeindustrie so viel schiefläuft«. Statt
Käuferinnen und Käufer müsse man die Kon-
zerne zur Rechenschaft ziehen, hier müsse
politisch gesteuert werden.
Simon Book, Christoph Giesen, Janne Knödler n
Nr. 28 / 9.7.2022 DER SPIEGEL 67
WIRTSCHAFT

»Als ob die Rentenkasse einen

Haufen Lotterielose kauft«
DIGITALWÄHRUNGEN Die Kryptokritikerin Molly White über den Crash von Bitcoin und Co., zockende
Pensionskassen und ihre Aufklärungsarbeit in einer toxischen, frauenfeindlichen Branche

White, 29, ist Informatikerin und Blockchain-

Expertin. Sie arbeitete acht Jahre lang als Ent-
wicklerin und Teamleiterin für das Software-
unternehmen HubSpot und beriet den demo-
kratischen US-Senator Sheldon Whitehouse
bei der Regulierung von Kryptowährungen.
Durch ihre Website »Web3 is going just great«
und ihre Blogposts wurde sie zu einer gefrag-
ten Kritikerin von Kryptowährungen und
Wortführerin der Blockchain-Skeptiker.
Nebenbei entwickelt sie Open-Source-Soft-
ware und ist aktive Wikipedianerin. Sie lebt
in Massachusetts.

SPIEGEL: Ms White, kennen Sie das deutsche

Wort Schadenfreude?
White: Ja, das kenne ich.
SPIEGEL: Auf Ihrer Website listen Sie jeden
Tag neue Betrugsfälle, Hacks und sonstige
Pannen aus der Welt der Kryptowährungen,
Blockchain-Anwendungen und NFTs auf, gar-
niert mit hämischen Emojis. Ein mit lodern-
den Flammen animierter Zähler beziffert die
Gesamtschadenssumme. Die übersteigt mitt-
lerweile zehn Milliarden Dollar. Empfinden
Sie Schadenfreude bei Ihrer Arbeit?
White: Hinter vielen dieser Fälle stehen Men-
Webb Chappell

schen, die Geld verlieren, das sie eigentlich

brauchen. Da empfinde ich Mitgefühl und
hätte ihnen gewünscht, nicht hineingeraten
zu sein. Aber es trifft auch sehr reiche Men-
schen, die Geld verlieren, auf das sie nicht
angewiesen sind. Da fühle ich zugegebener-
maßen ein wenig Schadenfreude.
SPIEGEL: Sind die Opfer zu gierig oder zu
leichtgläubig?
White: Es gibt da so viel Hype! Die Leute
sehen Angebote, die eigentlich verdächtig
wirken, finden aber, dass die nicht anders
daherkommen als angeblich seriöse Projekte.
Wenn jemand bei klassischen Anlageproduk-
ten 40 Prozent Jahresrendite verspricht, wür-
den die meisten Menschen denken, oh, das
muss ein Schneeballsystem sein. Bei Krypto-
Cristobal Herrera-Ulashkevich / epa

währungen stellen viele Anbieter ähnliche

Renditen in Aussicht, ohne dass die Mechanis-
men dahinter klar würden. Deshalb sind vie-
le bereit, die Warnzeichen zu übersehen.
SPIEGEL: Lassen sich die Leute von Mode-
begriffen blenden? Blockchain, Krypto,
Web3 – das klingt ja so schön nach Zukunft.
White: Web3 ist in erster Linie eine Marke-
Informatikerin White, Besucher der Bitcoin-Konferenz in Miami 2021: »Es gibt da so viel Hype« tingphrase für Projekte, die in irgendeiner

68 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022


Form Blockchain-Technologie ver-
wenden und irgendetwas mit dem
Internet der Zukunft zu tun haben
sollen. Als ich anfing, mir das genauer
anzuschauen, fiel mir die Lücke zwi-
schen Anspruch und Wirklichkeit auf:
Viele Menschen behaupteten, die
Technik werde die Finanzwelt und
die Gesellschaft verändern, bald wür-
den alle sie benutzen. Aber ich fand
ein Beispiel nach dem anderen, das
einfach furchtbar schiefging.
SPIEGEL: Es gibt auch Positivbeispiele?
White: Ja, Einzelfälle, aber die offen-
baren meist nur die Schwächen ande-
rer Systeme. Wenn jemand seiner Fa-
milie, die unter staatlichen Sanktionen
leidet, mit Kryptotechnologie Geld
überweisen kann, zeigt das vor allem
eines: Sanktionen tun einzelnen Men-
schen weh, dabei sollten sie eigentlich
Regierungen unter Druck setzen.
SPIEGEL: Viele Veteranen der Tech-
industrie und Programmierer glauben
an Kryptowährungen. Fragen Sie sich
manchmal, ob die irgendetwas ver-
standen haben, was Sie nicht sehen?
White: Ich habe lange danach gesucht
und bis heute nicht viel gefunden.
Außerdem gibt es ja viele kluge Men-
schen, die meine Bedenken teilen.
SPIEGEL: Selbst Profi-Investoren und
sogar Pensionskassen investieren viel
Geld in Kryptoprojekte. Sind die alle
bescheuert?
White: Investoren behaupten, dass sie
großes Potenzial in der Technologie
erkennen. Ich weiß nicht, wie viel
davon sie selbst glauben. Aber es ist
in ihrem ureigensten Interesse, über
ihre Investments zu reden, als sei es
das nächste große Ding. Und es
stimmt ja: Mit Kryptoprojekten kann
man in sehr kurzer Zeit sehr viel Geld
machen. Die Investoren, die daran
gut verdienen, warten in der Regel
nicht zehn Jahre, was aus den Projek-
ten wird, die gehen schnell rein und
schnell wieder raus.
SPIEGEL: Bei den Rentenkassen indes
geht es um Geld, das Menschen später
brauchen.
White: Das finde ich extrem beun-
ruhigend. Manche Leute nennen es
Investment, ich würde eher sagen: Es
ist, als ob die Rentenkasse einen Hau-
fen Lotterielose kauft.
SPIEGEL: Hat der aktuelle Kryptocrash
etwas Gutes, Heilsames für den Markt?
White: Viele glauben, dass dadurch
diejenigen aussortiert werden, die nur
schnelles Geld machen wollen: Leute,
die sich nicht wirklich für die Techno-
logie interessieren. Vielleicht stimmt
das. Es ändert nur nichts daran, dass
ich wenig Potenzial in der Technik
erkennen kann. Ich hatte gehofft, dass
fallende Kurse zumindest Betrug und
Abzocke weniger attraktiv machen.
Diese Hoffnung hat sich bisher nicht
erfüllt. Der Crash hat verheerende
Auswirkungen auf Menschen, denen
Kryptowährungen als Investment mit
hohen Renditechancen versprochen
wurden, als Fahrkarte in die finan-
zielle Freiheit.
SPIEGEL: Würden Sie sich zutrauen,
die künftige Kursentwicklung von
Bitcoin vorauszusagen?
White: Die Zukunft ist immer schräger
als alles, was ich vorhersehen könnte.
Grundsätzlich durchlaufen Krypto-
währungen Hochphasen und Tief-
punkte. Ohne große Veränderungen,
beispielsweise über gesetzliche Vor-
schriften, sind sie wohl dazu ver-
dammt, dass das Auf und Ab immer
so weitergeht.
SPIEGEL: Welche Rolle spielt die
schlechte Umweltbilanz von Krypto-
währungen bei Ihrer Kritik?
White: Das ist ein sehr ernstes Pro-
blem. Bitcoin, Ethereum und einige
andere verbrauchen unvorstellbare
Mengen Strom für etwas, das wenig
echten Gegenwert liefert. Ich ver-
suche dennoch, das nicht überzube-
tonen. Sonst würden die Befürworter
suggerieren, das Umweltproblem las-
se sich schon noch lösen. Und der
Rest bliebe, wie er ist.
SPIEGEL: Warum wird der Diskurs um
Kryptowährungen eigentlich so er-
bittert geführt? Es fühlt sich fast an
wie auf dem Schlachtfeld: Man muss
sich für eine Seite entscheiden.
White: Krypto war von Anfang an poli-
tisch. Die Ursprünge von Bitcoin sind
sehr libertär, es ging in erster Linie um
individuelle Freiheit. Natürlich ist
nicht jeder, der mitmacht, libertär oder
vom rechten Flügel. Die Technologie
stammt trotzdem aus der Ecke.
SPIEGEL: Lassen sich die Gegner auch
so leicht in eine Schublade stecken?
White: Viele Kryptoskeptiker sind si-
cherlich ein bisschen links.
SPIEGEL: Erinnern Sie sich, wann Sie
zum ersten Mal von Bitcoin hörten?
White: Das war im College, 2013 viel-
leicht. Ich wurde durch die Wikipe-
dianer und die Free-Software-Be-
wegung darauf aufmerksam, es gab
viele Überschneidungen etwa zu
Anti-Überwachungs-Aktivisten. Ich
fand die Idee interessant, Geld an Dis-
sidenten schicken zu können, ohne
dass dies so einfach nachvollzogen
werden kann. Mit dem bisschen Geld,
das ich damals hatte, wollte ich aller-
dings nicht spekulieren.
SPIEGEL: Als etwas potenziell Welt-
veränderndes haben Sie Bitcoin nicht
wahrgenommen?
White: Nein, die darunterliegende
Technologie fand ich immer über-
WIRTSCHAFT
bewertet. Tatsächlich funktionieren
Krypto-Krise Blockchains für viele der angedachten
Zwecke nicht besonders gut. Sie sind
Kurse von Krypto- eher eine Lösung auf der Suche nach
währungen gegen-
über dem 11. Juli
einem Problem.
2021, in Prozent SPIEGEL: Sie sind eine aktive Wikipe-
Solana
dianerin. Mehr als 100 000 Änderun-
Bitcoin
gen gehen auf Ihr Konto.
Ethereum XRP
White: Ja, ich habe mit 13 Jahren an-
gefangen.
800 SPIEGEL: Waren Sie in der Schule ein
Supernerd?
600 White: Ich war definitiv ein bisschen
nerdig.
SPIEGEL: In der Kryptowelt tummeln
400 sich überwiegend Männer. Warum?
White: Diese Gender-Kluft gibt es in
200
der gesamten Tech-Industrie. Es ist
also nicht verwunderlich, dass auch
viele der frühen Bitcoin-Fans männ-
0 lich sind. In den vergangenen Jahren
−100 ist dort dann eine stark toxische,
frauenfeindliche Kultur entstanden.
11. Juli 7. Juli
2021 2022 Das stößt Frauen ab.
SPIEGEL: Bekommen Sie als junge Kri-
tikerin besonders viel Hass ab?
Ausgewählte Hacks White: Ich erhalte eine Menge Hass-
und Betrugsfälle
bei Kryptowährungen mails. Weniger wegen meiner Web-
und Blockchains site zum Web3 als für meine län-
2022, Schadenshöhe geren, kritischen Blogposts. Oft sind
in Millionen Dollar es unangenehme Nachrichten oder
Axie Infinity Twitter-Kommentare, aber immerhin
(Blockchain-Spiel) nichts Extremes wie Todes dro-
625 hungen.
SPIEGEL: Wie schützen Sie sich gegen
Wormhole
(Blockchain-Brücke*) den Hass?
326 White: Meistens blocke ich die Ab-
sender einfach nur und mache weiter.
Beanstalk Ich treffe aber viele Vorkehrungen,
(Kryptogeld-Plattform)
182
was den Schutz meiner Privatsphäre
angeht. Ich sage zum Beispiel nie, wo
Maiar genau ich lebe. Das mache ich schon
(Kryptogeld-Börse)
sehr lange so. Ich wurde belästigt, seit
113 ich Wikipedianerin bin.
Horizon SPIEGEL: Würden Sie andere Reaktio-
(Blockchain-Brücke*) nen bekommen, wenn Sie ein Mann
100 wären?
White: Wahrscheinlich. Viele gehen
* ermöglicht Transaktionen
zwischen verschiedenen einfach davon aus, dass ich wenig
Blockchains
Ahnung von Technik habe und in
S Quellen: Investing.com,
Wahrheit gar keinen Informatik-
◆
Web3isgoinggreat.com
abschluss. Die sagen, ach, das ist diese
Quotenfrau, die kann gar nicht pro-
grammieren.
SPIEGEL: Würden Sie sich eher als
Pessimistin oder als Optimistin be-
zeichnen?
White: Als Optimistin.
SPIEGEL: Versuchen wir es also zum
Abschluss mit etwas Optimismus: Hat
das Web3 vielleicht nur Wachstums-
schmerzen?
White: Das sehe ich nicht so. Die
Technologie hatte genug Zeit, um zu
wachsen und Kinderkrankheiten zu
überwinden. Im Großen und Ganzen
hat sie das nicht geschafft.
Interview: Patrick Beuth, Janne Knödler n
Nr. 28 / 9.7.2022 DER SPIEGEL 69
WIRTSCHAFT
Beauftragte für
unbequeme Wahrheiten
AUTOINDUSTRIE Die VW-Managerin Kerstin Waltenberg soll künftig
schärfer kontrollieren, ob der Autobauer überall auf der
Welt die Menschenrechte einhält. Wird es für den Konzern jetzt
ungemütlich – oder ist die neue Aufpasserin nur Staffage?
n den vergangenen Monaten war Kerstin
I Waltenberg, 45, eher eine Art Kummer-
kasten. Die VW-Managerin durfte Briefe
beantworten, in denen Kundinnen und Kun-
den kritische Fragen stellten. Zum Beispiel,
ob der VW-Konzern wirklich garantieren
könne, dass seine Autos ohne Kinderarbeit
entstehen. Im Februar war sie zur »Men-
schenrechtskoordinatorin« ernannt worden,
ein wohlklingender Posten, nur leider ohne
jede Macht. Das soll sich ändern.
Waltenberg trägt bei VW künftig den Titel
Human Rights Officer, erhält ein eigenes
Team, voraussichtlich mit mehreren Dutzend
Leuten, und berichtet direkt an den Konzern-
vorstand. Das Topmanagement kommt an
der Frau und ihren Empfehlungen künftig
nicht mehr vorbei.
Die neue Menschenrechtsbeauftragte steht
vor einer heiklen Mission: Kunden, Aktio-
näre und Mitarbeiter drängen darauf, dass
Konzerne wie Volkswagen nicht nur ihre
Gewinne maximieren, sondern auch aktiv für
Menschenrechte eintreten. Ihnen muss sie
beweisen, dass sie mehr ist als ein moralisches
Feigenblatt. Und dass sie keine Konflikte
scheut, nicht mal mit dem machtbewussten
Vorstandschef Herbert Diess.
Für Ärger sorgte zuletzt das Werk im chi-
nesischen Xinjiang, das VW zusammen mit
dem Staatskonzern SAIC betreibt. Die Region
ist für die systematische Diskriminierung der
muslimischen Minderheit der Uiguren be-
rüchtigt. Unweit der Autofabrik befinden sich
Internierungslager. Jörg Hofmann, IG-Metall-
Chef und Vizevorsitzender des VW-Aufsichts-
rats, warf zuletzt offen die Frage auf, »ob nicht
eine Beendigung der Aktivität dort richtig
wäre«. VW-Boss Diess hat das Werk bis zu-
letzt verteidigt, trotz wachsenden politischen
Drucks: Das Bundeswirtschaftsministerium
gewährt VW neuerdings keine Investitions-
garantien für China mehr.
Waltenberg ist gewillt, Konflikte auszu-
fechten: »Es ist unser Job, unbequeme Wahr-
heiten zu sagen.« Noch vor ihrem offiziellen
Amtsantritt am 1. August empfängt sie in der
Wolfsburger Konzernzentrale. Besonders kra-
wallig wirkt sie nicht, die gebürtige Berlinerin
70 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022
tritt charmant und bescheiden auf. Anders als
andere VW-Manager fährt sie keinen dicken
SUV, sondern einen Passat.
Vor ihrer Zeit bei VW wirkte die promo-
vierte Juristin ab 2011 als Aufräumerin im
Daimler-Konzern, der damals von einem Kor-
ruptionsskandal durchgeschüttelt wurde. Wal-
tenberg half, ein Compliance-System für gute
Unternehmensführung aufzubauen. Sie war
Sparringspartnerin von Louis Freeh, dem ge-
fürchteten Ex-FBI-Chef, der Daimler im Auf-
trag der US-Behörden beaufsichtigte. 2017,
in der Hochphase der Dieselaffäre, wechselte
Waltenberg zu VW nach Wolfsburg, um ähn-
liche Strukturen aufzubauen. Sie begleitete
dort die Arbeit des von der US-Justiz ent-
sandten Monitors, Larry Thompson. Nach
dessen Rückzug vor knapp zwei Jahren blieb
sie in der Compliance-Abteilung.
Volkswagen, verspricht sie, solle weltweit
Vorreiter für die Einhaltung von Menschen-
rechten werden. Ihr neues Team sei so etwas
wie »der Beipackzettel, der auf Risiken im
Wirtschafts- und im Menschenrecht hin-
weist«. Und Risiken gibt es im VW-Konzern
zuhauf, nicht nur in China.
Mario Wezel / DER SPIEGEL
Juristin Waltenberg
Auch die E-Offensive birgt Gefahren. Für
seine Stromer benötigt der Konzern Kobalt
oder Lithium aus Regionen wie dem Kongo
oder Chile, die wegen Kinderarbeit und um-
weltschädlicher Abbaumethoden am Pranger
stehen. Die Arbeit mit Batterie- oder Roh-
stofflieferanten, die solche Praktiken dulden,
kann sich VW bald nicht mehr erlauben.
Ab 2023 sieht das neue Lieferkettengesetz
empfindliche Geldstrafen für Unternehmen
vor, deren Partner oder Zulieferer gegen Men-
schenrechte oder Umweltgesetze verstoßen.
Im Extremfall müssen Konzerne bis zu zwei
Prozent ihres Umsatzes zahlen, im Fall von
Volkswagen wären das rund fünf Milliarden
Euro. Zudem droht der Ausschluss von öf-
fentlichen Aufträgen für bis zu drei Jahre. Die
Armada von weltweit rund 64 000 VW-Zu-
lieferern zu überwachen dürfte für Walten-
berg und ihre vergleichsweise kleine Truppe
die größte Herausforderung werden.
Die zwölf VW-Vorständinnen und Vorstän-
de hat sie schon in Einzelgesprächen ein-
geschworen. Sie präsentierte ihnen das Bild
einer Pyramide, darin die »Three Lines of
Defense«, die drei Verteidigungslinien des
VW-Konzerns. Auf der unteren Ebene agiert
die mächtige Einkaufsorganisation. Ihr Job
ist es, die richtigen Lieferanten auszuwählen.
Darüber steht, als zweite Verteidigungslinie,
die Compliance-Abteilung. Sie soll gezielt
nach Risiken in der Zusammenarbeit fahnden.
An der Spitze schweben Waltenberg und ihr
Team als übergeordnete Kontrollinstanz. Sie
soll sicherstellen, dass VW seine Lieferanten
und Partner zu Gesetzestreue und Integrität
drängt – und vor allem den Vorstand alarmie-
ren, sobald es Probleme gibt.
An dem umstrittenen Werk in der Unruhe-
region Xinjiang wird sich zeigen, wie ernst
VW den »moralischen Anspruch« nimmt, den
Waltenberg formuliert: »Wenn wir Menschen-
rechtsverstöße vor unseren Werkstoren er-
kennen, werden wir den Dialog mit unseren
Partnern und den zuständigen Behörden vor
Ort suchen.« Sprich: Volkswagens Verant-
wortung soll nicht an der Grenze des Fabrik-
geländes enden.
VW-Chef Diess hat angekündigt, möglichst
bald nach Xinjiang reisen zu wollen. Vergan-
gene Woche sagte er dem SPIEGEL, Chinas
Führung könne auch »mit harten europäi-
schen Positionen umgehen«. Im kleinen Kreis
deutete der Vorstandschef an, erstmals sogar
Journalisten in die Fabrik lassen zu wollen.
Waltenberg plant ebenfalls einen Besuch des
Werks, um mit Mitarbeitern und Vertretern
des VW-Partners SAIC zu sprechen.
Dass VW auf die Forderungen von Men-
schenrechtsorganisationen und Politikern ein-
geht und die Krisenregion verlässt, ist kaum
anzunehmen. Man könne aus den langfris-
tigen Verträgen mit SAIC nicht einfach aus-
steigen, heißt es im Konzern. Was VW aller-
dings könnte: genauer hingucken. Bislang
haben sich die Wolfsburger ganz auf ihren
chinesischen Geschäftspartner verlassen.
Simon Hage n
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WIRTSCHAFT
Sturmwarnung aus Holland
ENERGIE Mit einem schnellen Ausbau der Windkraft will Deutschland sich vom russischen Gas lösen
und seine Klimaziele erreichen. Doch ein Großprojekt des niederländischen
Versorgers Tennet zeigt, dass eine neue Abhängigkeit droht: vom Systemkonkurrenten China.
or gut zwei Jahren waren sie
V
bei Tennet noch in Feierlaune.
Da verkündete der niederlän-
dische Netzbetreiber stolz eine »In-
novationspartnerschaft«: Gemein-
sam mit drei europäischen und zwei
chinesischen Firmen werde Tennet
künftig Windparks in der Nordsee an
das Stromnetz anschließen. Millionen
Haushalte in Deutschland und den
Niederlanden würden so mit grüner
Elektrizität versorgt.
Von der Kooperation ist inzwi-
schen keine Rede mehr. Im Gegenteil:
Bei einer neuen Großausschreibung
von Tennet sollen die einstigen Part-
ner aus China auf Wunsch der nieder-
ländischen Regierung nun außen vor
bleiben. Es geht dabei um sensible
Technik, sogenannte Hochsee-Kon-
verterplattformen. An ihnen laufen
die Stromkabel der Windparks zu-
sammen, wird der Strom umgewan-
delt und an Land weitergeleitet.
Die »geopolitischen Beziehungen«
hätten sich geändert, lässt die Regie-
rung in Den Haag wissen. Nach dem
russischen Überfall auf die Ukraine
ist die Sorge offenbar groß, dass Chi-
na seinem Partner in Moskau zur
Seite springt. Oder noch schlimmer:
seinen Zugriff auf Europas Energie-
infrastruktur nutzen könnte, um den
Westen zu erpressen.
Es steht viel auf dem Spiel, für die
Niederlande wie für Deutschland:
Die Windkraft spielt eine tragende
72 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022
Rolle bei der Energiewende. Die Not-
wendigkeit, vom russischen Gas los-
zukommen, hat den Druck noch er-
höht. Bis 2030 sollen 80 Prozent des
deutschen Bruttostromverbrauchs
aus erneuerbaren Quellen stammen,
ein wesentlicher Teil aus Offshore-
Windkraft. Die Nordsee könne »Euro-
pas grünes Kraftwerk der Windener-
gie« werden, hatten die Regierungs-
chefs der Nordsee-Anrainerstaaten
im Mai im dänischen Esbjerg erklärt.
Dafür müsste der Ausbau drastisch
beschleunigt werden. Das stürzt
Deutschland in ein Dilemma: 10 der
15 größten Hersteller von Windturbi-
nen kommen aus China. Und auch
bei der Infrastruktur – Umspannwer-
ken, Konvertern und Hochspan-
nungsleitungen – führt an den Chine-
sen kaum mehr ein Weg vorbei. Es
droht die nächste Abhängigkeitsfalle.
Zumal in der Netzinfrastruktur
sensible Software steckt. Sie steuert
die Spannung und die Verteilung des
Stroms. Der potenzielle Schaden
wäre groß, läge sie in der Hand eines
Feindes. Und als solchen betrachten
die Regierenden in Berlin, Den Haag
und Brüssel China zunehmend.
»Die Bundesregierung steht vor
der schwierigen Frage, wie sie die be-
schleunigte Energiewende und den
Schutz kritischer Infrastruktur in Ein-
klang bringt«, sagt Tim Holt, Vor-
stand von Siemens Energy. Über Kon-
verter und Umspannplattformen, in
Paul Langrock / Zenit / laif
denen Millionen Zeilen Software-
Windpark in der
Nordsee: Code steckten, könne theoretisch das
»Schurkenstaaten
von Kernbereichen
ganze Stromnetz zum Absturz ge-
kritischer Infra­ bracht werden, warnt der Siemens-
struktur fernhalten« Manager.
Das von Tennet verantwortete
Projekt ist schon aufgrund seiner Grö-
ße heikel. Viele Millionen Haushalte
sollen über den Nordseewind mit
Strom versorgt werden. Bis 2030 sol-
len 30 Gigawatt ans Netz, was der
Leistung von mehr als 20 Kernkraft-
werken entspräche. Nötig sind dafür
15 bis 20 Netzanschlusssysteme, ein
Auftragsvolumen von 30 Milliarden
Euro. So viel gebündelte alternative
Energie gab es in Europa noch nie.
Die Chinesen von der Ausschrei-
bung auszuschließen ist schwierig.
Daran ändert auch der Umstand
nichts, dass Tennet dem niederländi-
schen Staat gehört. Das liberale EU-
Wettbewerbsrecht sieht vor, dass
selbst Unternehmen aus Diktaturen
nicht diskriminiert werden dürfen.
Weder Bundeswirtschaftsminister
100
Windpark­
Robert Habeck noch sein niederlän-
discher Kollege Rob Jetten scheinen
bisher über eine juristisch wasserdich-
te Handhabe zu verfügen, um China
projekte aus den Stromnetzen herauszuhalten.
Die Regierung in Den Haag inter-
werden off­ venierte bereits im vergangenen Jahr
shore bis 2027 wegen »potenzieller Sicherheits-
risiken«, als die Ausschreibungen für
neu aus­ zwei Umspannplattformen an ein
geschrieben. chinesisches Unternehmen zu gehen

drohten. Eine sichere rechtliche Grundlage
für ein derartiges Vorgehen muss allerdings
erst noch gefunden werden. Mitte Juni ließ
Energie- und Klimaminister Jetten auf eine
parlamentarische Anfrage hin wissen, sein
Land setze sich für die »frühzeitige Er-
kennung und Identifizierung von Risiken und
Bedrohungen der nationalen Sicherheit« ein.
Man wolle die Gefahren »unerwünschter
strategischer Abhängigkeiten« mindern. Zwei
Gesetze hat er dazu auf den Weg gebracht,
ein verschärftes Energiegesetz sowie ein
neues Investment-Screening-Gesetz. Beide
bieten in Zukunft Blockademöglichkeiten und
müssten bei Ausschreibungen angewendet
werden. Inzwischen sei »auch Deutschland
auf dieses Thema aufmerksam geworden«, so
Jetten.
Tatsächlich schien man in Berlin bis Mitte
Februar 2022 noch weniger besorgt. Damals
erhielt ein Konsortium mit zwei Tochterfirmen
des chinesischen Staatskonzerns State Grid
Corporation of China (SGCC) von Tennet den
Zuschlag für die deutsche Offshore-Netzanbin-
dungsplattform Borwin 6. Die sensiblen Kon-
verter samt Elektro- und Computertechnik
werden in China gefertigt. Die SGCC-Firmen
sollen deutlich günstigere Angebote vorgelegt
haben als westliche Wettbewerber wie Sie-
mens Energy oder Hitachi.
Holger Berens, Vorstandschef des Bundes-
verbands für den Schutz Kritischer Infrastruk-
turen, kritisiert die Entscheidung scharf. »Sol-
che Transformatoren können überwacht,
absichtlich überlastet oder abgeschaltet
werden«, sagt Berens. Er fordert klare Rege-
lungen zum Schutz der Energie-Infrastruk-
tur – nach dem Vorbild des im vergangenen
Jahr verschärften IT-Sicherheitsgesetzes, das
den chinesischen Netzwerkausrüster Huawei
faktisch vom Bau der 5G-Netze ausschloss.
»Schurkenstaaten, die Menschenrechte ver-
letzen«, müssten benannt und von den Kern-
bereichen kritischer Infrastruktur ferngehal-
ten werden.
Bislang bietet das Außenwirtschaftsgesetz
lediglich Schutz gegen Firmenübernahmen
aus China, hilft aber bei Ausschreibungen
nicht. Bundeswirtschaftsminister Habeck bes-
sert nun nach. In letzter Minute nahm die
Koalition einen Passus in die Novelle des
Windenergie-auf-See-Gesetzes auf, die am
Donnerstag verabschiedet wurde. Die für die
Ausschreibung von Offshore-Anbindungen
zuständige Bundesnetzagentur kann danach
im Einvernehmen mit dem Wirtschaftsminis-
terium einen Bieter ausschließen, wenn dieser
von außerhalb der EU kommt und die Auf-
tragsvergabe an ihn die öffentliche Ordnung
oder Sicherheit Deutschlands voraussichtlich
beeinträchtigt.
Bis Mai 2023 soll zudem definiert werden,
welche Komponenten nach dem BSI-Gesetz,
das die Belange des Bundesamts für Sicher-
heit in der Informationstechnik regelt, als
kritische Infrastruktur gelten. Auf der Basis
könnte das Bundesinnenministerium staatlich
kontrollierte chinesische Anbieter von öf-
fentlichen Ausschreibungen ausschließen,
analog zur »Huawei-Klausel« für die Mobil-
funknetze.
Für die aktuelle Mega-Auktion von Tennet
müssen die Deutschen noch auf die Nieder-
länder hoffen: Tennet hat angekündigt, die
Ausschreibung zu verschärfen und nach den
neuen niederländischen Gesetzen vorzuneh-
men. Sofern das mit den EU-Wettbewerbs-
regeln im Einklang steht.
In einem ersten Schritt plant der Energie-
versorger ein »Präqualifizierungsverfahren«.
Schon damit, so glauben Experten, ließen
sich chinesische Bieter aussieben. So wurde
etwa vorgeschrieben, dass ein Konzern schon
Offshore-Konverter für mehrere Hundert
Megawatt in Betrieb genommen haben muss,
um überhaupt teilnehmen zu dürfen. Damit
blieben quasi nur Hitachi Energy (ein Ge-
meinschaftsunternehmen der japanischen
Hitachi und der schweizerisch-schwedischen
ABB), GE Renewable Energy (USA/Frank-
reich) und Siemens Energy übrig. Nähme
trotzdem ein chinesischer Anbieter diese
erste Hürde, wäre spätestens bei einem
Securitycheck Schluss.
Vollständig gebannt wäre die Gefahr selbst
damit nicht. Die journalistische Investigativ-
plattform »Follow the Money« hat gerade
ermittelt, dass allein ABB über 27 Unterneh-
men in China verfügt, die unter anderem Ma-
terialien für die Stromübertragung herstellen.
GE habe im Jahr 2002 ein Joint Venture für
den Bau von Umspannplattformen in China
gegründet. Und auch Siemens Energy unter-
halte dort vielfältige Partnerschaften. Das
chinesische Nationale Geheimdienstgesetz
von 2017 bietet Peking die Möglichkeit,
Unternehmen in China zur Herausgabe wich-
tiger Daten und Informationen zu zwingen.
Das gilt auch für Zulieferer.
GE äußert sich dazu nicht. Hitachi Energy,
das sich wie Siemens Energy für die Tennet-
Auktion bewerben will, erklärt, die Techno-
logie für die betroffene Hochspannungs-
Gleichstrom-Übertragung (HGÜ) werde
Boom auf dem Meer
Installierte Kapazität von Offshore-
Windanlagen, in Gigawatt
2018 2030* 2040*
0 25 50 75 100
EU
China
USA
Südkorea
Indien
Japan
restliche
Welt
* Szenario auf Grundlage bereits wirksamer und spezifischer,
aktuell angekündigter politischer Rahmenbedingungen
S Quelle: IEA
◆
WIRTSCHAFT
»vorwiegend aus Europa« geliefert, ins Detail
könne man aufgrund von Geschäftsgeheim-
nissen nicht gehen. Siemens Energy bestätigt,
dass für seine Konverter, die im spanischen
Cadíz zusammengebaut werden, einzelne
Produktteile auch aus China stammen kön-
nen. Dabei gehe es jedoch nicht um kritische
Komponenten. Siemens Energy selbst sei für
die Cybersicherheit der Netzanbindung ver-
antwortlich, die sensible Software werde von
eigenen Programmierern in Erlangen ge-
schrieben.
Nur sind die Europäer überhaupt in der
Lage, all die Aufträge verlässlich abzuarbei-
ten? Siemens Energy etwa setzt pro Jahr ein
bis zwei von rund einem halben Dutzend
weltweit ausgeschriebenen Windpark-Vor-
haben um, für mehr Tempo sind die Kapazi-
täten nicht ausgelegt.
»Wir sehen jetzt rund 100 Offshore-Wind-
park-Projekte, die bis 2027 zur Ausschreibung
kommen sollen«, sagt Vorstand Holt, etwa
dreimal so viele wie bisher. Auch andere Län-
der wie die USA oder Großbritannien wollten
Offshore-Windkraft ausbauen. Die Ressour-
cen dafür seien schlicht noch nicht vorhanden.
Siemens Energy wird sich daher voraussicht-
lich nur auf maximal zwei Drittel der Aus-
schreibungen bewerben. »Deutschland wür-
den wir aber natürlich gern machen«, sagt
Holt.
Für die deutschen Ausbauziele könnte es
dennoch eng werden. Die rasant gestiegenen
Preise für Materialien und Rohstoffe wie Stahl
oder Kupfer setzen den europäischen Turbi-
nenbauern zu, hinzu kommen teils hausge-
machte Probleme. Die Siemens-Energy-Toch-
ter Gamesa, die Hamburger Nordex oder die
dänische Vestas – sie alle schreiben derzeit
rote Zahlen. Und müssen sich gegen staatlich
subventionierte chinesische Konkurrenten
wie Goldwind oder Envision behaupten.
In der EU ist die Sorge mittlerweile groß,
dass es Europas Windkraftindustrie ergehen
könnte wie einst der deutschen Solarindus-
trie. Sie wurde vor zehn Jahren von chinesi-
schen Wettbewerbern an die Wand gedrückt.
Auch Siemens-Energy-Manager Holt bemän-
gelt, dass China den eigenen Markt abschot-
te und zugleich, staatlich gepäppelt, seine
Energietechnik in alle Welt exportiere.
Auch dagegen will die EU-Kommission
vorgehen. Vergangene Woche einigten sich
125
EU-Parlament und Ministerrat darauf, dass
künftig jeder Bieter in einer Ausschreibung
offenlegen muss, woher er staatliche Unter-
stützung erhält. Kommt die Kommission zu
dem Schluss, dass diese Subventionen euro-
päische Firmen benachteiligen, kann sie
Gegenmaßnahmen ergreifen. Wie die aus-
sehen? Ist noch zu klären.
Sicher ist dagegen, dass die zusätzliche
Bürokratie, die hohen Rohstoffpreise und die
knappen Kapazitäten die Kosten der Energie-
wende in die Höhe treiben. »Am Ende«, sagt
Manager Holt, »wird wohl jeder Verbraucher
mehr für den Strom zahlen müssen.«
Martin Hesse, Nils Klawitter, Gerald Traufetter n
Nr. 28 / 9.7.2022 DER SPIEGEL 73
WIRTSCHAFT

bitionen meist nur für ein einsames Basilikum

am Küchenfenster reichen.
Das Buch der »Tagesschau«-Sprecherin
Judith Rakers über ihren Einstieg in die Au-
tarkie gehörte zu den Ratgeber-Bestsellern

Ackern gegen Putin des vergangenen Jahres. 61 Prozent der Men-

schen in Deutschland würden am liebsten auf
dem Land leben. 48 Prozent derer, die sich
für einen Kleingarten interessieren, geben als
HAUSHALTE Selbstversorger und Minimalisten wurden in der Vergangen- Motiv »ökologisches Gärtnern« an, 40 Pro-
zent »gesunde Ernährung«.
heit oft belächelt. Doch in Zeiten steigender Preise für Lebensmittel Früher wurden Selbstversorger häufig be-
und Energie träumen immer mehr Menschen davon, sich aus dem eigenen lächelt, als Hippies, Spinner und Entrückte. Ein
Garten zu ernähren oder dem Konsum gleich ganz zu entsagen. Schicksal, das sie mit anderen Aussteigern teil-
ten. Mit Minimalisten, die dem Konsum ent-
sagen, oder Frugalisten, die sich in jungen Jah-
in Schwein. Das wär’s, was ihr noch flation steigt, desto mehr lohnt es sich zurzeit ren nichts gönnen, um mit 40 in Rente zu gehen.
E fehlte zum großen Glück. Jedes Früh-
jahr würde sie eines anschaffen, es den
Sommer über in ihrem Schrebergarten mäs-
auch finanziell.« In ihrer Lebensführung fühlt
sie sich angesichts der geopolitischen Lage
bestätigt: »Wer sich selbst zu helfen weiß, hat
Seit Russland gegen die Ukraine Krieg
führt, hat sich das geändert – angesichts einer
Teuerung von mehr als sieben Prozent und
ten, im Herbst müsste es dran glauben. Doch in Krisen weniger zu befürchten.« Erzeugerpreisen für landwirtschaftliche Pro-
nachdem sie die behördlichen Auflagen für Selbstversorger sein, eine Mischung aus dukte, die binnen eines Jahres um 40 Prozent
die Schweinezucht studiert hatte – Beschaf- Landfrau und Peter Lustig. Schon seit Länge- gestiegen sind. Wer sein Essen selbst anbaut,
fenheit des Unterstands, Abstand zum Futter- rem ist das eine diffuse Sehnsucht vieler Städ- womöglich noch eigenen Strom erzeugt, sei-
trog, Anmeldung beim Veterinäramt, Spe- ter, auch wenn ihre landwirtschaftlichen Am- nen Konsum drastisch einschränkt, gilt in
zialkenntnisse des Schlachters –, sah Patricia
Chrominski ein, »dass das als Privatperson
nicht zu leisten ist«. Stattdessen will sie sich
nun Hühner zulegen, allerdings ausschließ-
lich als Eierlieferanten. Derzeit füttert sie
schon mal übungshalber das Federvieh der
Nachbarin.
Potsdam-Bornim, an einem Samstagnach-
mittag. Draußen sind es 35 Grad. In dem klei-
nen Gewächshaus, in dem Chrominksi gerade
ihre Chilipflanze gießt, noch mal zehn Grad
mehr. Der Garten, den sie seit mehr als einem
Jahr bewirtschaftet, gehört einer Freundin.
330 Quadratmeter mit Bäumen und Beeten,
bezahlen muss sie lediglich fürs Wasser. »Ein
Traum ist wahr geworden«, sagt sie.
Chrominski, 34, hat rosafarbene Haare
und auf dem linken Oberarm Tattoos von Susi
und Strolch, Bambi und Dumbo. Sie arbeitet
im Callcenter und stammt aus der Punkszene.
Schon immer spürte sie den Drang nach Un-
abhängigkeit. Sie will sich, so gut es geht, frei
machen von der Lebensmittelindustrie mit
ihren Zusatzstoffen und einer Landwirtschaft,
die nicht ohne Pestizide auskommt. Nach dem
Verzehr von Supermarktobst habe sie häufig
Pusteln und dicke Lippen davongetragen, sagt
sie. Als sie in ihren ersten eigenen Pfirsich
biss, »vom Baum in die Schnute«, seien ihr
vor Freude die Tränen gekommen.
Den Großteil ihrer Ernte verarbeitet
Tamara Eckhardt / DER SPIEGEL

Chrominski: Pflaumen, Rhabarber und Bee-

ren zu Kuchen, Äpfel zu Saft, Tomaten zu
Ketchup, Kartoffeln zu Suppe, die sie in
Weckgläsern in einem Regal lagert. »Ich
möchte, dass mein Kind vernünftige Sachen
zu sich nimmt.« Sogar Salami hat sie schon
hergestellt, im Räucherofen einer Bekann-
ten, mit Wild vom befreundeten Jäger:
»Fleisch durch den Wolf, rein in den Darm, »Wer sich selbst zu helfen weiß,
ab in den Rauch, fertig.«
Geld zu sparen sei nicht ihr primärer An- hat in Krisen weniger zu befürchten.«
reiz, sagt Chrominski. »Aber je höher die In- Patricia Chrominski

74 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022


Serie Die neue Unabhängigkeit – Teil III: Pandemie
und Ukrainekrieg haben sichtbar gemacht, wie
verflochten die Wirtschaft weltweit ist – und wie
anfällig für Störungen. Viele Nationen, Unternehmen
und selbst private Haushalte streben nun nach
Unabhängigkeit. Aber wer kann sich schon wirklich
Kriegs- und Krisenzeiten nicht mehr als eigen-
willig, sondern als ziemlich clever. Autarkie
erscheint als Idealzustand, das Private ist poli-
tisch, die Tomate auch.
Wie mühsam es jedoch ist, Selbstversorger
zu sein, lässt sich den Facebook-Gruppen ent-
nehmen, in denen sich Tausende von ihnen
austauschen, auch zahlreiche Einsteiger. Sie
sorgen sich wegen fauliger Blätter (»Was ist
bloß mit meiner Stangenbohne Blauhilde
los?«), erbitten Rat im Kampf gegen Nackt-
schnecken und spenden einander Trost, wenn
der Hagel ihre Beete zerstört hat. Ihre erste
Zucchini oder besonders edel gewachsene
Gurken präsentieren sie stolz wie Eltern ihr
Neugeborenes (»551 g schwer«, »Ich bin sehr
glücklich«). Vereint gärtnert es sich leichter,
wenngleich das alternative Leben einem auch
in der Gemeinschaft einiges abverlangt.
In Deutschlands größter Landkommune
geben Neuankömmlinge mitunter nach ein
paar Monaten auf. Nachwuchs wird dringend
gesucht in Niederkaufungen im Landkreis
Kassel. So verlockend der Traum vom ruralen
Zusammenleben sein mag, den Schritt wagen
dann doch nur wenige. Zeitweise existierten
in Deutschland Hunderte solcher politischen
Gemeinschaften, übrig geblieben sind ein
paar Dutzend.
Die Kommune Niederkaufungen gibt es
seit 1986, sie ist ein Dorf im Dorf. Nahe dem
Waldrand, auf einem früheren Gutshof, woh-
nen und arbeiten derzeit 75 Menschen, links,
ökologisch, freiheitsliebend. Man duzt sich,
Entscheidungen werden basisdemokratisch
getroffen. Die Kommune ist ihr Versuch eines
richtigen Lebens im falschen. 10 000 Quadrat-
meter Sozialismus mitten in Hessen.
Die Kommunarden teilen sich acht Autos,
drei Waschmaschinen, ein gemeinsames Ver-
mögen und Leitsätze wie jenen auf dem Pla-
kat neben dem Zucchinifeld: »Gemüse und
Wald statt Beton und Asphalt«. Sie betreiben
Ackerbau und Viehzucht, den Hofladen »Rote
Rübe« und den Bio-Partyservice »Komm-
Menü«, es gibt eine Schlosserei, eine Schrei-
nerei sowie eine Tagespflege für Demente,
alles wichtige Einnahmequellen. Als die Ge-
meinschaft in den Achtzigerjahren eine eige-
ne Kita eröffnete, wurde das im Ort zunächst
skeptisch beäugt, später schickten sogar der
Pfarrer und Mitglieder fast aller Gemeinde-
ratsfraktionen ihre Kinder dorthin.
Ein Nachmittag im Juni, ein paar Kommu-
narden hocken mit einer Flasche Wein vor
der Schlosserei. Eine Bewohnerin führt die
Abordnung einer Genossenschaft aus Vene-
zuela über das Gelände, die sich anschauen
will, wie Kollektive im kapitalistischen
DIE NEUE
selbst versorgen? Wie viel internationale Vorarbeit
steckt in einem Auto? Wie kommt ein Haus ohne
fossile Energien aus? Ist Autonomie in Europa denk-
bar? Das SPIEGEL-Wirtschaftsressort geht diesen
Fragen in einer Serie nach und beschreibt, wie viel
Autarkie möglich ist – und wo sie an Grenzen stößt.
UNABHÄNGIGKEIT
Deutschland funktionieren. In der Bibliothek
sitzt Uli Barth, 68, weiche Stimme, weißer
Rauschebart, Sandalen. Er zählte mit seiner
Frau zu den Gründern der Kommune. Der
Diplom-Ingenieur ist bis heute für die Ver-
waltung zuständig.
So sanft Barth wirkt, so hart klingt die mar-
xistische Ideologie, die sich immer wieder in
seine Sätze mischt. Barth sagt, er sei von jeher
überzeugt gewesen, »dass der Neoliberalis-
mus in die Katastrophe führen wird«. Die
»imperiale Lebensweise« erzeuge »zwangs-
läufig« Konflikte. Als junger Mann war er von
der Idee fasziniert, eine andere, bessere Welt
zu erschaffen.
Er ging demonstrieren, gegen Atomkraft,
gegen die Startbahn West. Manche Linke setz-
ten damals auf den Marsch durch die Institu-
tionen, andere auf Waffengewalt. Die Barths
und ihre Mitkommunarden hingegen wollten
zeigen, wie ein Leben aussehen kann, das
nicht vom Profitstreben diktiert wird. Von
den 17 Gründungsmitgliedern leben noch
5 hier. Ein Dutzend Bewohner ist bereits im
Rentenalter. Im Haupthaus wird gerade ein
Aufzug eingebaut, denn längst nicht mehr alle
sind gut zu Fuß.
Der Kommune droht die Überalterung.
Barths eigene Kinder haben sie verlassen,
kaum dass sie erwachsen waren, zu seinem
Bedauern. Sie leben nun in Kleinfamilien.
Auch eine Art der Rebellion.
Barths Büro ist das Finanzzentrum der
Kommune, dort steht eine Kasse mit Geld-
scheinen, daraus darf sich jeder nehmen, was
Was alles teurer wird
Preisveränderungen in Deutschland gegenüber
Januar 2021, in Prozent
Energie Nahrungsmittel Wohnen
Bekleidung Alkohol und Tabak
40
30
20
10
0 Fotovoltaikanlage auf ihren Dächern. Eine
Jan. Jan. Mai
2021 2022
S Quelle: Destatis
◆
WIRTSCHAFT
er für den täglichen Bedarf benötigt. Un-
geachtet dessen, wie viele Stunden er arbeitet
oder wie viel Geld er in die Gemeinschaft
einbringt. Ausgaben über 150 Euro sind auf
einer Liste am Schwarzen Brett anzumelden,
damit alle sich dazu äußern können, doch
Einwände sind selten. Eine Bewohnerin hat
»Urlaub Ostsee« eingetragen, »ca. 1200 Euro,
16 Tage, ganze Familie, Zug – Essen – Unter-
kunft«.
Ums Geld gestritten werde dann, wenn
wenig da sei, sagt Barth. Es gebe gute Mona-
te, da liege die Kommune mit mehreren Tau-
send Euro im Plus. Und schlechte, mit einem
ähnlich hohen Minus. Aktuell läuft es so lala.
In die gemeinsame Kasse wird nicht nur
eingezahlt, was die eigenen Betriebe erwirt-
schaften. Auch das Vermögen der Bewohner
wird beim Einzug vergemeinschaftet, ebenso
die Gehälter derer, die weiterhin einem Beruf
in der Außenwelt nachgehen. Die meisten
jedoch geben mit ihrer Ankunft ihren alten
Job auf. So wie die Bankkauffrau oder der
junge Lehrer, die bei Barth in der Verwaltung
arbeiten.
Die Kommune bewirtschaftet 45 Hektar
Acker- und Grünland. Pro Jahr fallen 2,5 Ton-
nen Kernobst ab und 600 Kilogramm Weiß-
kohl, 2000 Liter Apfelsaft werden gepresst,
140 Kilo Marmelade gekocht. Seit einiger
Zeit baut die Gemeinschaft auch Weizen an.
Der ist richtig wertvoll, seit die Ukraine, Euro-
pas Kornkammer, kaum noch Getreide ex-
portieren kann.
Auf einem weiteren Hof hält die Gemein-
schaft neun Milchkühe und zwölf Kälber, elf
Schweine und vier Ziegen. Bis vor zwei Jah-
ren gab es zudem 220 Legehennen. Da die
Kommunardin, die sie betreute, krank wurde,
landeten die Tiere im Schlachthof. Nun soll
es mit neuen Hennen weitergehen.
Autarkie sei nie das vorrangige Ziel der
Gruppe gewesen, sagt Barth. »Sonst wären
wir nicht mitten in einen Ort gezogen, son-
dern auf eine Südseeinsel.« Deshalb wider-
spreche es nicht ihrem Selbstverständnis, dass
das Küchenteam Lebensmittel zukauft; Fisch,
Nudeln, Reis oder Bananen. Sogar der Hof-
laden behilft sich bisweilen mit Früchten vom
Biogroßhändler. Manchmal funktioniert So-
zialismus halt nur mit Trickserei.
Dennoch leben die Kommunarden deutlich
unabhängiger als viele Privathaushalte, gera-
de jetzt, in Zeiten hochschnellender Energie-
preise. Strom erzeugen sie selbst, mit der
Ölheizung schafften sie im Jahr 2000 ab,
unter dem Eindruck des ersten Irakkriegs und
der Parole »Kein Blut für Öl«. Seither wird
Nr. 28 / 9.7.2022 DER SPIEGEL 75
WIRTSCHAFT
»Ich wollte mich mit Shoppen
unbewusst belohnen.«
Kristina Ricken
mit Holz aus dem angrenzenden Wald ge-
feuert. Die Debatte über die richtige Art zu
heizen zog sich damals über ein Jahr lang hin,
im dienstäglichen Plenum war sie ein Ever-
green. Der Holzofen macht Barth in der ak-
tuellen Krise gelassener, weil sie es »immer
noch warm haben, wenn andere Energien
ausfallen«.
Kristina Ricken erzeugt keinen Strom, sie
baut nichts an, sie hält auch keine Tiere. Sie
hat einen anderen Weg gewählt, ihr Leben zu
verbessern und ein klein wenig auch die Welt,
und der ist deutlich radikaler. Ricken, 36, ist
Minimalistin. Sie will nicht »anders« konsu-
mieren, sondern am besten gar nicht.
Dass sie ihre Ausgaben einschränken wol-
len, weil die Preise gestiegen sind, sagen seit
ein paar Monaten fast alle Deutschen. Bei
einer YouGov-Umfrage im April waren es
81 Prozent, bei einer Befragung von »Bild am
Sonntag« zuletzt 91 Prozent. Bei Ricken geht
es um etwas anderes: Sie will so wenig zu
Hause rumstehen haben wie möglich; ihr
Kleiderschrank macht sie umso glücklicher,
je leerer er ist. Und nachhaltiger ist es auch.
Ricken kann auf Anhieb aufsagen, wie
viele Klamotten sie besitzt: drei lange Hosen,
zwei kurze, sechs T-Shirts, drei Strickpullis,
zwei Strickjacken, zwei Röcke, drei Kleider,
drei Blusen, zwei Kapuzenpullover, Unter-
wäsche, Socken. Und 6 Paar Schuhe, anstatt
wie früher 30. Sie hat keinen Wäschekorb
und keinen Nachttisch, keine Shampoofla-
sche und kein Duschgel, sie wäscht sich mit
Seife.
Im Nebenjob ist Ricken Fotografin, doch
an den Wänden hängt kein einziges ihrer
Fotos. »Daran würde ich mich nur sattsehen«,
sagt sie. Selbst Weihnachten begeht sie mini-
malistisch. Einen Christbaum kauft sie schon
76 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022
Max Slobodda / DER SPIEGEL
»Der Neoliberalismus
wird in die Katastrophe führen.«
lange nicht mehr, ihre Dekoration besteht aus
einer schwarzen Kerze, zwei Pflanzen und
einer Klangschale zum Meditieren.
Früher sei sie ein »Konsumjunkie« gewe-
sen, sagt sie, wobei sie eigentlich nur lebte
wie die meisten Deutschen. Samstags kaufte
sie sich ein neues Kleid, mittwochs einen
Deko-Artikel, hin und wieder ein Paar Ohr-
ringe – »ich wollte mich mit Shoppen unbe-
wusst belohnen«. Doch was sie anschaffte,
waren keine Geschenke für sich selbst, son-
dern neue Verpflichtungen, so sieht sie es
heute. Schließlich musste sie »Verantwortung
für all die Dinge übernehmen«. Besitz als
Ballast. Wer nichts besitzt, ist von nichts ab-
hängig.
Rickens Reise zum Minimalismus begann
mit einer Fernsehsendung. Sie saß in dem
150 Quadratmeter großen Haus, das sie da-
mals bewohnte, und schaute eine Dokumen-
tation über Menschen, die das Konsumieren
nahezu aufgegeben hatten. Einer von ihnen
packte für eine längere Reise seinen Koffer.
Danach war sein Schrank leer. Alles, was
er besaß, trug er bei sich. »Magisch«, fand
Ricken das. Plötzlich spürte sie, wie viele Din-
ge sie erdrückten.
Sie begann auszusortieren, räumte Schrän-
ke leer und den Keller aus. Wenig später
trennte sie sich von ihrem Mann. Ricken zog
in eine 42-Quadratmeter-Wohnung, verkauf-
te Möbel und ihren Fernseher und gab sich
Regeln, nach denen sie leben wollte.
Sie versuchte erstens die »100-Dinge-Chal-
lenge«, in der man sich im Alltag auf 100 Sa-
chen beschränkt, die man wirklich braucht –
etwa: »1 Couch, 1 Staubsauger, 1 Zahnbürste,
1 Teesieb«.
Zweitens schrumpfte sie über die Jahre
ihren Bestand an Kleidung so, dass jedes Teil
Heiko Meyer / DER SPIEGEL
Uli Barth
nur eine von drei Farben hat – Schwarz, Weiß-
grau oder Kakigrün – und mit jedem anderen
kombinierbar ist.
Und, Regel drei, sie zog die »No-buy-Chal-
lenge« durch, in der man bis auf Lebensmittel
und Hygieneartikel monatelang nichts kauft.
Nur für Bettwäsche zog sie einen Joker. »Eine
ganz besondere Zeit« sei das gewesen, sagt
Ricken. Heute arbeitet sie nur noch an zwei
Tagen die Woche in ihrem alten Job als Con-
trollerin, den Rest der Zeit gibt sie Kurse für
Leute, denen es ähnlich geht wie ihr damals.
Auf Menschen, die so konsumieren wie sie
früher, blickt sie wie eine Therapeutin. Ricken
sieht, was alles falsch läuft, nicht erst seit
Krieg und Krise herrschen. Sie klingt, als wür-
de sie über Süchtige sprechen, die über die
Jahrzehnte von der Marktwirtschaft abhängig
geworden sind. Einkaufen könne unersättlich
machen, sagt sie, es sei ein Dopaminschub
auf Bestellung. Sie wolle jedoch weder urtei-
len noch missionieren.
»Bei meinen Freunden räume ich nur auf,
wenn sie mich darum bitten«, sagt Ricken.
Sie hat ihnen beigebracht, dass sie zum Ge-
burtstag keine Geschenke mehr möchte.
Höchstens Tee oder ein paar Biokräuter, zum
baldigen Verbrauch.
Seit einiger Zeit hat Ricken einen neuen
Partner. Als sie ihn kennenlernte, war er ein
großer Fan von Spontankäufen bei Amazon,
er shoppte Akkus und Computermäuse und
neue Pflanzen für den Balkon. Ricken war
sich zunächst unsicher, ob sie mit einem »Ma-
ximalisten« wie ihm zusammen sein könnte.
Der Mann blieb, sein Konsum ließ mit der
Zeit nach, er hatte verstanden. Nur die Sham-
pooflaschen hat er sich bis heute nicht abge-
wöhnt.
Alexander Kühn, Alexander Preker, Anton Rainer n

»Das würde die
Inflation nur
befeuern«
INFLATION Lars Feld, 55, Wirtschaftsberater von
Finanzminister Lindner, kritisiert die EZB
und warnt vor großzügigen Entlastungspaketen.
SPIEGEL: Herr Professor Feld, seit
Monaten steigen die Zinsen. An den
Finanzmärkten gibt es schon wieder
Investoren, die auf einen Ausstieg
Italiens aus der Währungsunion wet-
ten. Ist die Eurokrise zurück?
Feld: Nein. Im Vergleich zu 2011 und
2012 sind die Zinsen aktuell nur mo-
derat gestiegen. Von einer krisen-
haften Entwicklung sind wir ein gutes
Stück entfernt. Wenn ich Hedge-
fondsmanager wäre, würde ich nicht
darauf spekulieren, dass ein Staat die
Währungsunion verlässt. Es hat sich
für Investoren noch nie gelohnt,
gegen die EZB zu wetten.
SPIEGEL: In jedem Fall muss Italien in
den nächsten Jahren mehr Geld für
seine Schulden aufwenden als bisher.
Kann das Land die Lasten tragen?
Feld: Davon gehe ich aus. Italien hat
noch immer viele Schulden aus Jah-
ren, in denen die Zinsen deutlich hö-
her lagen als heute. Deshalb wird sich
die Zinslast des Landes nur sehr lang-
sam erhöhen. Die Tragfähigkeit der
öffentlichen Finanzen Italiens steht
derzeit nicht infrage.
SPIEGEL: EZB-Chefin Christine La-
garde hat allerdings schon angekün-
digt, dass sie gegen zu hohe Risiko-
aufschläge für italienische Anleihen
vorgehen wird. Ist das sinnvoll?
Feld: Die EZB muss den Zusammen-
halt der Eurozone im Blick haben und
dafür sorgen, dass kein Land aus der
Währungsunion gedrängt wird. Ob es
schon jetzt geboten ist, über solche
Gegenmaßnahmen nachzudenken,
würde ich indes bezweifeln.
SPIEGEL: Warum?
Feld: 2012 musste Italien Zinsen von
sieben Prozent und mehr zahlen. Das
ist eine andere Hausnummer als die
drei Prozent, die heute im Durch-
schnitt fällig werden. Ich halte es des-
halb für verfrüht, dass die EZB schon
wieder mit dem Einsatz aller Abwehr-
instrumente droht. Das ist mir zu alar-
mistisch.
SPIEGEL: Wenn die EZB die italieni-
schen Zinsen drücken will, bleibt ihr
kaum etwas anderes übrig, als weiter
Anleihen des Landes kaufen.
Feld: Die EZB muss aufpassen, dass
sie sich nicht von den Finanzpoliti-
kern vereinnahmen lässt. Der Noten-
bank ist es aus guten Gründen verbo-
ten, Kredite eines Landes unmittelbar
aufzukaufen. Setzt sie sich darüber
hinweg, kann sie nicht mehr wir-
kungsvoll gegen die Inflation kämp-
fen, was ihre Hauptaufgabe ist. Infla-
tion ist sozialer Sprengstoff, weil sie
die unteren Einkommen stärker trifft
als die oberen. Da muss eine Noten-
bank mit aller Macht gegenhalten.
SPIEGEL: Lagarde hat den Kampf
gegen die Teuerung zu ihrer Priorität
Im grünen erklärt. Zweifeln Sie etwa daran?
Bereich – Feld: Fest steht, dass die EZB die
Inflationsentwicklung verschlafen
noch hat. Sie hat im vergangenen Jahr zu
spät gehandelt und läuft nun erneut
Renditen auf
Staatsanleihen*, in Gefahr, zu zögerlich vorzugehen. Da-
Prozent durch kann sich die Inflation ver-
festigen, was es umso schwerer macht,
Griechenland
sie unter Kontrolle zu bringen.
Italien Spanien
SPIEGEL: Für einen deutschen Finanz-
Portugal minister ziemt es sich nicht, die un-
40
abhängige Notenbank zu kritisieren.
Schickt Sie Christian Lindner vor?
35 Feld: Nein. Ich bin unabhängig und
Höhepunkt übe diese Beratung ehrenamtlich aus.
der Griechen-
30 land-Krise Insofern bin ich frei, mich zu wirt-
schaftspolitischen Fragen zu äußern.
25 Dazu gehört auch die Geldpolitik der
EZB. Meine Meinung muss sich der
20 Minister nicht als seine eigene anrech-
nen lassen.
15 SPIEGEL: Die Währungsunion lief schon
mal Gefahr, an der hohen Verschuldung
10 einiger Staaten zu zerbrechen. Der da-
malige EZB-Chef Mario Draghi wehr-
5 te sich mit einem Anleihekaufpro-
gramm namens OMT. Die deutschen
0 Wirtschaftsweisen, denen Sie zu der
2010 2015 2020
Zeit angehörten, kritisierten die Ent-
scheidung. Sehen Sie das heute anders?
* mit 10-jähriger Laufzeit
S Quelle: Refinitiv
Feld: Es war im Rückblick richtig, dass
Datastream die EZB damals alles getan hat, um
die Integrität der Währungsunion zu
sichern. Man mag das eine oder ande-
Finanzökonom Feld re am OMT-Programm kritisieren; sein
großer Vorzug ist, dass es rechtssicher
ist: Sowohl der Europäische Gerichtshof
als auch das Bundesverfassungsgericht
haben es als vertrags- beziehungsweise
verfassungsgemäß anerkannt.
SPIEGEL: Das Programm knüpfte An-
leihekäufe daran, dass die Regierun-
Patrick Seeger / dpa
gen politische Reformen umsetzten.
Viele Staaten lehnten das ab.
Feld: Damals waren weitreichende
Reformen nötig, die Länder wie Spa-
WIRTSCHAFT
nien oder Portugal auch durchgeführt
haben, übrigens zu ihrem Vorteil.
Selbst Italien hat viel unternommen,
um seine Wettbewerbungsfähigkeit
zu stärken. Daran muss das Land
anknüpfen. Der frühere italienische
Ministerpräsident Mario Monti hat
jüngst weitere Reformen angemahnt.
Es gibt zudem vorsorgliche Hilfs-
programme des Europäischen Ret-
tungsschirms ESM, deren Vorgaben
wesentlich leichter zu erfüllen sind.
SPIEGEL: Der ESM ist verhasst, weil
seine Auflagen oft zur Abwahl der
amtierenden Regierung führten. Muss
die EZB darauf Rücksicht nehmen?
Feld: Wer außer der Reihe Geld von
der Zentralbank will, muss bereit
sein, eine Gegenleistung zu bringen.
Dazu gehören Reformen, die von un-
abhängigen Institutionen überwacht
werden. Alles andere würde die Sta-
bilität der Währungsunion gefährden.
SPIEGEL: Was können die Regierun-
gen der Eurostaaten tun, um einer
neuen Eurokrise vorzubeugen?
Feld: Sie müssen sich bewusst ma-
chen, dass ihre expansiven Ausgaben-
programme der vergangenen Jahre
die Inflation befördert haben. Umso
gefährlicher ist der Versuch, jetzt mit
Entlastungen aller Art die Preisstei-
gerungen auszugleichen. Das würde
die Inflation nur weiter befeuern.
SPIEGEL: Die Koalition hat, maßgeb-
lich auf Drängen von Minister Lind-
ner, einen Tankrabatt eingeführt, um
die Bürger an der Zapfsäule zu ent-
lasten. Hat er nicht auf Sie gehört?
Feld: Die Maßnahme läuft bald aus.
Eine dauerhafte Subventionierung
von Energiepreisen ist nicht sinnvoll
und außerdem viel zu teuer. Diese
Erkenntnis muss sich auch in Europa
verbreiten.
SPIEGEL: Erst mal hat die EU die Fis-
kalregeln des Maastricht-Vertrags, die
eine Schuldengrenze von 60 Prozent
der Wirtschaftsleistung vorschreiben,
wegen des Ukrainekrieges für ein
weiteres Jahr ausgesetzt.
Feld: Es hat mich gewundert, dass die
EU diesen Beschluss so rasch getrof-
fen hat, obwohl die Wirtschaft nach
aktuellen Prognosen nächstes Jahr
noch wächst. Umso wichtiger, dass
sich alle an die Regel halten, wenn sie
2024 wieder in Kraft gesetzt wird.
SPIEGEL: EU-Kommissar Paolo Gen-
tiloni will künftig jedem Mitgliedstaat
Vorgaben für die Haushaltspolitik
machen. Was halten Sie davon?
Feld: Nichts. Das wäre eine Verschie-
bung finanzpolitischer Kompetenzen
auf die EU, die nicht akzeptabel ist.
Das würden auch die Bürger nicht
mitmachen.
Interview: Michael Sauga n
Nr. 28 / 9.7.2022 DER SPIEGEL 77
AUSLAND

Mohammed Salem / REUTERS

Drei muslimische Pilger ruhen sich aus auf dem Berg Nur mit seinen 1750 Stufen nördlich der Stadt Mekka in Saudi-Arabien. Auf diesem
etwa 640 Meter hohen »Berg des Lichts«, so die islamische Tradition, soll der Prophet Mohammed in einer Höhle meditiert und
die erste Offenbarung durch den Erzengel Gabriel empfangen haben. Die Pilgerfahrt nach Mekka, Hadsch genannt, ist Pflicht eines jeden
gläubigen Muslims, einmal im Leben sollte er sich auf die Reise gemacht haben.

zum offiziellen Ende der Legislaturperiode im Frühjahr 2023

Chaostage im Palazzo Chigi
ANALYSE In Italien rauft sich die Regierung
zusammen, doch wie lange hält der Burgfriede?
Es war ein Showdown angesagt, als Giuseppe Conte am Mitt-
woch seine alten Büros im Palazzo Chigi besuchte. Im Amtssitz
der Ministerpräsidenten in Roms historischem Zentrum traf der
Ex-Premier seinen von ihm wenig geschätzten Nachfolger Mario
Draghi. Die Stunde der Rache schien gekommen. Vieles deutete
darauf hin, dass Conte die Koalition sprengen wollte. In Rom
überschlugen sich die Gerüchte. Draghi habe versucht, seinen
Vorgänger loszuwerden und dafür zu sorgen, dass die Fünf-Ster-
ne-Bewegung einen fähigeren Parteichef installiert, hieß es.
Draghi dementierte. Und beim Treffen im Regierungssitz
gab sich Conte überraschend staatstragend. »Wir bleiben in der
Regierung«, sagte er, allerdings sei das »Unbehagen« bei seinen
Leuten groß. Ist die von fast allen Parteien im Parlament getra-
gene »Regierung der Besten«, wie sie anfangs in Italien genannt
wurde, gerettet? Kann der parteilose Draghi für sein Land bis
dringend notwendige Reformen durchsetzen?
Die Chancen dafür schwinden. In der italienischen Politik lie-
gen die Nerven blank: Neben der Fünf-Sterne-Bewegung sorgt
auch Lega-Chef Matteo Salvini regelmäßig für Chaos. Beide Par-
teien hatten 2018 die erste reine Populistenregierung Westeuro-
pas gebildet. Später haben sie sich zwar zerstritten – aber jetzt
hadern sie mit einem ähnlichen Schicksal: Frühere Wählerinnen
und Anhänger wenden sich enttäuscht ab, wie die jüngsten Kom-
munalwahlen zeigten. Conte und Salvini reagieren mit einem
Schlingerkurs: Offiziell unterstützen sie die Koalition, doch im
Alltag überbieten sie sich mit Forderungen, Aktionen und Kritik
an der eigenen Regierung. Mal plant Salvini ohne Absprache
einen Trip nach Moskau. Mal bremst er ein für milliardenschwe-
re EU-Subventionen erforderliches Wettbewerbsgesetz, um alte
Monopolrechte von Strandbadbetreibern zu schützen.
Die Fünf-Sterne-Bewegung verknüpft unterdessen das Schick-
sal des ganzen Landes mit dem Bau einer Müllverbrennungsan-
lage in Rom, den sie unbedingt verhindern will. Fünf Sterne und
Lega fürchten, dass sie im kommenden Wahlkampf nur verlieren
können. Für die Populisten bleibt die Versuchung groß, Draghis
»Regierung der nationalen Einheit« zu beenden. Frank Hornig

78 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022

 »Es braucht nur einen Funken,
um die Wut neu zu entzünden«
FR ANKREICH Der Politologe Antoine Bristielle über die
Probleme von Emmanuel Macrons zweiter Amtszeit
Bristielle, 28, leitet
die Meinungs-
F. Jean-Jaurès
beobachtung der
Jean-Jaurès-Stiftung
in Paris.
SPIEGEL: Herr Bristielle, nach
seinem Wahlsieg bei den Präsi-
dentschaftswahlen im April hat
Macron eine neue Methode des
Regierens versprochen. Davon ist
nicht viel zu sehen, warum nicht?
Bristielle: Macron hat den Wan-
del und die politische Disrup-
tion zu seinem Markenzeichen
gemacht. 2017 ging es um den
Bruch mit dem alten System,
um das Ende der klassischen
Rechts-links-Lager. Angesichts
der vielen Stimmen für den
rechten Rassemblement Natio-
nal in diesem Jahr hätte er
schlecht sagen können: Wir ma-
chen weiter wie bisher. Denn
gerade das wollen die Wähler
Eingesperrt im
Gazastreifen
ISR AEL Seit mehr als 15 Jahren
hält Israel seine Grenzen zum
Gazastreifen weitgehend ge-
schlossen, es gibt weder einen
See- noch Luftverkehr dorthin.
Ein Bericht der Vereinten Natio-
nen fasst nun die Folgen für die
Menschen in dem bettelarmen
Küstenstreifen zusammen. Nicht
nur seien rund 2,1 Millionen Pa-
lästinenserinnen und Palästinen-
ser faktisch »eingesperrt«. Zu-
dem sei die Blockade ein maß-
geblicher Grund für die hohe
Arbeitslosigkeit und die unsi-
chere Versorgungslage. Im ersten
Quartal dieses Jahres waren den
palästinensischen Behörden zu-
folge 46,6 Prozent der arbeits-
fähigen Bevölkerung ohne Job,
unter jungen Menschen zwischen
15 und 29 Jahren liegt die Quote
sogar bei mehr als 60 Prozent.
Israel hatte die Blockade 2006
verhängt, nachdem der israe-
lische Soldat Gilad Schalit von
palästinensischen Extremisten
entführt worden war. Schalit
wurde mittlerweile gegen mehr
nicht, wie sie bei den Parla-
mentswahlen im Juni gezeigt
haben – da hat Macron einen
harten Rückschlag erlitten.
SPIEGEL: Warum also ist von Er-
neuerung so wenig zu spüren?
Bristielle: Es stimmt, wir sehen
gerade viel Kontinuität. Auch
die Regierungsumbildung diese
Woche hat daran nichts geän-
dert. Es gab keine einzige No-
minierung eines Ministers oder
einer Ministerin, die für etwas
Neues steht. Mein Eindruck
ist, die Franzosen glauben nicht
mehr an Wandel, sie wenden
sich ermüdet von der Politik ab.
Anders ist die hohe Enthaltung
bei den Parlamentswahlen
nicht zu erklären, dabei hätte
man bei diesen Wahlen wirklich
etwas verändern können.
SPIEGEL: Macron hat nach
30 Jahren erstmals wieder eine
Premierministerin ernannt.
Mohammed Abed / AFP
Bewohnerin in Gaza-Stadt
als 1000 palästinensische Häft-
linge ausgetauscht – der Ein-
schluss des Gazastreifens aber
weiter verschärft. Seit 2007
herrscht in dem Küstenstreifen
die islamistische Hamas. Die
Blockade sollte auch dazu die-
nen, die von der EU als Terror-
organisation eingestufte Gruppe
zu schwächen – was nicht gelang.
Stattdessen sieht die Uno Zei-
chen einer »Kollektivbestrafung«
der Bevölkerung. Besonders be-
troffen sind offenbar Kinder:
Laut Save the Children leiden
vier von fünf Mädchen und Jun-
gen im Alter von 12 bis 17 unter
Ängsten und Depressionen. ARV
Kabinett bei Sitzung im Élysée-Palast
Warum wird selbst das nicht als
Erneuerung wahrgenommen?
Bristielle: Weil Élisabeth Borne
seit Langem Teil des Macht-
apparates ist und keine Figur,
die für etwas Neues oder
Revolutionäres steht. Sie gilt
als Technokratin, dieses Image
überlagert ihre Berufung
als Frau auf den Posten der
Regierungschefin.
SPIEGEL: Wann werden sich
Borne und ihre Regierung zum
ersten Mal beweisen müssen?
Bristielle: Gut möglich, dass bis
zum Herbst eine Art Waffenstill-
stand zwischen der Regierungs-
Flugverbot für Retter
LIBYEN Die privaten Seenotret-
ter von Sea-Watch können vor
der libyschen Küste nicht mehr
aus der Luft nach schiffbrüchi-
gen Flüchtlingen suchen. Die
deutsche Nichtregierungsorga-
nisation hat ihre Flüge über der
libyschen Such- und Rettungs-
zone einstellen müssen, weil die
Behörden in Tripolis für den
Überflug nun eine Genehmi-
gung verlangen. »Das ist ein
harter Schlag für die zivile See-
notrettung«, sagt Sea-Watch-
Sprecher Felix Weiß. Im vergan-
genen Jahr hätten die zwei Sea-
Watch-Flugzeuge rund 12 000
Schiffbrüchige entdeckt. Die
Route über das zentrale Mittel-
meer ist eine der tödlichsten
Grenzregionen der Welt. Nach
Angaben der Internationalen
Organisation für Migration sind
dort in diesem Jahr mehr als
800 Flüchtlinge ertrunken. Die
EU hat eine eigene Rettungs-
mission eingestellt und unter-
stützt die libysche Küstenwache
mit Ausrüstung. Diese schleppt
Bootsflüchtlinge gegen ihren
Christophe Petit Tesson / AFP
partei und der erstarkten Op-
position gilt. Danach könnte es
zu Kämpfen um Gesetzestexte
kommen. Dafür brauchte die
Regierung Mehrheiten im Parla-
ment, was schwierig werden
wird. Das alles birgt ein doppel-
tes Risiko für Macron. Seine
Gegner sitzen zum einen in der
Nationalversammlung, und es
gibt immer noch welche, die er-
neut auf die Straße gehen. Die
Wut gegen Macron, die sich in
seiner ersten Amtszeit so gewalt-
sam Bahn brach, ist weiterhin
da. Es braucht nur einen Funken,
um sie neu zu entzünden. BSA
Willen nach Libyen zurück, wo
viele in Lagern misshandelt
werden. Das Vorgehen der liby-
schen Behörden ist im Fall
von Sea-Watch nicht rechtens.
Zu diesem Ergebnis kommt ein
Gutachten des Wissenschaft-
lichen Dienstes des Bundestags,
das die Linkenabgeordnete
Clara Bünger in Auftrag gege-
ben hat. Der fragliche Luftraum
über hoher See unterliege nicht
der Hoheit einzelner Staaten.
Im Koalitionsvertrag habe sich
die Ampel klar zur zivilen See-
notrettung bekannt, so Bünger.
»Das skandalöse Flugverbot
muss beendet werden.« SLÜ
Renata Brito / picture alliance / AP
Sea-Watch-Helfer auf Rettungsflug
Nr. 28 / 9.7.2022 DER SPIEGEL 79
AUSLAND
Frauenrechtlerin
bei Protest vor dem
Supreme Court
Unter Schock
USA Eine religiöse Minderheit feiert nach der Abtreibungsentscheidung ihren Sieg.
Sie hofft auf weitere konservative Urteile, während liberale Frauen
um ihre Freiheit fürchten. Ein Besuch in Texas, wo der Kulturkampf heftig tobt.
ür Elvia Leyva ist es einer der glück-
F lichsten Tage ihres Lebens. Sie steht vor
einer Frauenklinik in Houston, Texas,
in einem langen Rock, um den Hals trägt sie
ein Kreuz, zwischen den Fingern hält sie einen
Rosenkranz.
Seit sechs Jahren sind sie und ihre Mit-
streiter ständig hierhergekommen, haben in
der Hitze ausgeharrt, um zu verhindern, was
sie »Mord an Babys« nennen. Sechs Jahre
lang mussten sie zusehen, wie Frauen in die
Klinik hineingingen und mit einer kleinen
Plastiktüte wieder herauskamen, darin Ab-
treibungspillen.
Heute sind sie gekommen, um ihren Sieg
zu feiern: Seit Neuestem prangt ein Schild am
Zaun vor dem Haus aus rotem Backstein:
80 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022
»Wegen der Entscheidung des Obersten Ge-
richtshofes ist die Klinik geschlossen.« Und
Leyva, 54, gläubige Katholikin, Hausfrau und
Mutter von fünf Söhnen, hat vor Freude Trä-
nen in den Augen.
Den 24. Juni 2022, erzählt sie, werde sie
nie vergessen. Leyva kam aus der Kirche, öff-
nete ihren Computer und sah die Nachricht:
Der Oberste Gerichtshof der Vereinigten
Staaten hatte das landesweit geltende Recht
auf Abtreibung gekippt. »Ich weinte, dann
rief ich meine Freunde an«, erzählt sie. »Es
war wie 9/11, nur umgekehrt.«
Während für Leyva ein Traum wahr ge-
worden ist, stehen weite Teile des liberalen
Amerikas unter Schock. Sie fühlen sich un-
freiwillig in eine düstere Vergangenheit zu-
Nathan Howard / Getty Images
rückkatapultiert. Vor knapp 50 Jahren hatten
die Richter mit ihrem Grundsatzurteil zu »Roe
gegen Wade« einen Meilenstein der weibli-
chen Selbstbestimmung geschaffen und den
konservativen Bundesstaaten die Möglichkeit
genommen, Schwangerschaftsabbrüche zu
verbieten. Noch vor ein paar Jahren wäre die
Vorstellung als absurde Schwarzmalerei er-
schienen, dass der Oberste Gerichtshof sein
Urteil aus dem Jahr 1973 vollständig aufheben
könnte – jetzt ist sie Realität geworden.
Nun fürchten viele Liberale, insbesondere
viele Frauen, dass der Supreme Court eine
Zeitenwende im großen amerikanischen Kul-
turkampf eingeläutet haben könnte: Weil Ex-
Präsident Donald Trump während seiner vier
Jahre im Amt gleich zwei Richter und eine

Richterin auf Lebenszeit am Obersten
Gericht installieren konnte, hat er auf
viele Jahre eine klare konservative
Mehrheit etabliert. Und was der
Oberste Gerichtshof derzeit in atem-
beraubender Geschwindigkeit auf
den Weg bringt, liest sich wie eine
Wunschliste christlich-fundamenta-
listischer Lobbygruppen: Das Waffen-
recht wurde bereits weiter gelockert,
die Befugnisse der US-Umweltbehör-
de eingeschränkt, den CO2-Ausstoß
zu regulieren – und das Lehrpersonal
darf jetzt an öffentlichen Schulen vor
den Schülern laut beten. Waren die
fortschrittlichen Vereinigten Staaten
für Millionen ihrer Bürgerinnen und
Bürger nur eine Episode?
Der konservative Richter Clarence
Thomas deutete schon an, dass man
als Nächstes Verhütung und die
gleichgeschlechtliche Ehe verbieten
könnte. Von einem »juristischen
Staatsstreich« sprach die progressive
Kongressabgeordnete Alexandria
Ocasio-Cortez. Die Autorin Margaret
Atwood, Autorin des Bestsellers »Der
Report der Magd«, in dem eine dys-
topische Zukunft geschildert wird, in
der eine christliche Theokratie Frau-
en kontrolliert und zum Gebären
zwingt, schrieb gar: Der Supreme
Court mache ihre Fiktion zur Realität.
Und der Verfassungsrechtler Jon
Gardner nennt den Obersten Ge-
richtshof »eine Gefahr für die US-De-
mokratie«.
Es ist der Abend des 4. Juli, Tag
der amerikanischen Unabhängigkeit.
Vor dem örtlichen Gerichtsgebäude
in San Antonio, Texas, haben sich ein
paar Dutzend Frauen und Mädchen
versammelt. Auf Plakate haben sie
geschrieben: »Wir verlangen die
Trennung von Staat und Vagina.« Die
Organisatorinnen sammeln in einer
Kühlbox Schwangerschaftstests für
bedürftige Frauen und rufen zu einem
»Sommer der Wut« auf.
Im ganzen Land protestieren seit
dem Abtreibungsurteil Frauenrecht-
lerinnen, Klimaschützer und Mitglie-
der der LGBTQ-Gemeinde. Sie be-
fürchten, dass dies nur der Anfang
war, dass eine Art antiliberale Revo-
lution folgt, ihre Freiheiten immer
weiter eingeschränkt werden.
Eine 17-Jährige tritt ans Mikrofon:
»Ich gehe gern aus, habe gern Spaß.
Aber jetzt traue ich mich nicht mehr
raus. Es ist irre, dass ich in dieser Rea-
lität leben muss.« Eine 13-Jährige be-
richtet, wie sie nach dem Urteil zwei
Tage lang weinend zu Hause im Bett
lag. Eine 19-Jährige spricht mit zit-
ternder Stimme: »Man sagt uns, wir
sollen unsere Beine geschlossen hal-
ten. Aber was, wenn jemand sie mit
AUSLAND
staaten in Kraft ist – und in weiteren
Fatale Entscheidung erwartet wird. Die möglichen Strafen
Wo in den USA Schwangerschaftsabbrüche nach dem Urteil für Ärzte sind drakonisch, ihnen
des Obersten Gerichtshofs weitgehend verboten sind droht der Verlust ihrer Zulassung bis
verboten in Kürze verboten ab der 15. Woche verboten hin zu 99 Jahren Gefängnis. Einzig,
umstritten Verbot blockiert legal wenn ein medizinischer Notfall vor-
ME liegt, sollen sie einen Abbruch noch
durchführen dürfen – wobei nicht ein-
AK VT NH deutig geklärt ist, was als Notfall gilt.
Ausnahmen für Opfer von Vergewal-
WA ID MT ND MN MI NY MA RI tigungen oder Inzest gibt es nicht.
»Jetzt sind wir Futter für die Raub-
OR UT WY SD IA WI OH PA NJ CT
tiere«, sagt eine junge Aktivistin, die
CA NV CO NE IL IN WV VA MD DE
sich Destynee L. nennt. Die 19-Jähri-
ge ist Teil des Netzwerkes »Be The
AZ NM KS MO KY TN SC NC DC Change, Texas«. Seit sie zwölf war,
sagt sie, werde sie auf der Straße stän-
HI OK LA AR MS AL GA dig angemacht, »auch wenn ich Ka-
puzenpulli und Jogginghose trage«.
TX FL Jetzt befürchte sie, dass die neue Ge-
setzeslage männliche Belästiger erst
S Quelle: »Politico«, Stand: 6. Juli
recht ermutigen könnte, weil sie ih-
◆
nen ein Gefühl von Macht über weib-
Gewalt aufdrückt? Jetzt sollen wir liche Körper gebe: »Es ist wirklich
gezwungen werden, ihre Kinder zu beängstigend, in diesem Land eine
gebären!« Eine Mutter sagt: »Ich Frau zu sein.«
schäme mich für meine nutzlose Ge- L. ist bisexuell. Eigentlich habe sie
neration. Wir waren bequem und ha- als Kämpferin für Tierrechte, Klima-
ben unsere Töchter im Stich gelassen. schutz und die LGBTQ-Gemeinde
Ich hätte nie gedacht, dass sie weniger angefangen. Nun hilft sie einer Kol-
Rechte haben würden als wir.« legin, die Frauen über Wege infor-
Da taucht am Rand der Veranstal- miert, um trotz des Verbots an Ab-
tung ein Paar auf. Er trägt ein T-Shirt treibungspillen heranzukommen.
mit der Abbildung eines Fötus darauf. Mit neun Geschwistern wuchs sie
Sie eines mit Trumps Konterfei. Der als Tochter einer alleinerziehenden
Mann ruft der 13-Jährigen zu, sie sol- Mutter auf, die in einem Callcenter
le doch einfach einen Kleiderbügel arbeitete. »Wenn uns die Lebens-
benutzen. mittelmarken ausgingen, hatten wir
In Texas gilt derzeit die sogenann- nichts zu essen«, erzählt sie. Interes-
te Heartbeat Bill, ein Gesetz, das bei siert habe das keinen. L. sagt, sie ver-
seiner Einführung im vergangenen stehe nicht, warum der Staat »all
Jahr noch als extrem galt: Danach ist diese Kinder« wolle, um die er sich
Abtreibung nur bis etwa zur sechsten dann doch nicht kümmere. Die USA
Schwangerschaftswoche erlaubt; vie- haben im Vergleich zu anderen In-
le Frauen wissen bis zu diesem Zeit- dustrieländern eine ausgesprochen
punkt allerdings gar nicht, dass sie hohe Müttersterblichkeit, in Texas
schwanger sind. Doch mit dieser liegt sie noch über dem US-Durch-
Pastor Lovett in
Übergangsregelung soll bald Schluss Waskom: »Wir haben
schnitt.
sein. Dann kommt ein totales Verbot, hier eine Kultur Es ist dunkel geworden in San An-
wie es bereits in fünf anderen Bundes- des Lebens etabliert« tonio. L. bittet darum, mit ihr auf ein
Uber-Taxi zu warten, sie hat Angst,
inzwischen eigentlich vor allem: den
Männern, der Politik, der Luftver-
schmutzung, davor, dass sie ihren
Traum, Psychologin zu werden, nicht
verwirklichen können wird, weil ir-
gendwas dazwischenkommt. »Wenn
wir jetzt nichts tun, dann werden die-
se Leute einfach 150 Jahre Fortschritt
ausradieren und alles kaputt ma-
chen«, sagt sie, schließt die Autotür
hinter sich und fährt davon in Rich-
Zach Chambers / DER SPIEGEL
tung eines Mittelschichtvorortes.
Laut Umfragen sind heute fast
zwei Drittel der Amerikanerinnen
und Amerikaner dafür, dass Abtrei-
bung in allen oder den meisten Fällen
erlaubt ist. Auch in Texas wünschen
Nr. 28 / 9.7.2022 DER SPIEGEL 81
AUSLAND
sich 78 Prozent der Menschen, dass sie zu-
mindest in einigen Fällen legal ist. Eine mäch-
tige Minderheit versucht, der Mehrheit ihren
Willen aufzuzwingen.
Wie das funktioniert, lässt sich etwa am
Beispiel der Kleinstadt Waskom an der Gren-
ze zum Bundesstaat Louisiana zeigen. Der
ländliche Osten von Texas gilt als »Trump-
Land«. Die Interstate 20 führt vorbei an Pi-
nienwäldern, mobilen Holzhäusern mit Well-
blechdächern und Trailer Parks. Alle paar
Hundert Meter findet sich eine evangelikale
Kirche.
Die Kleinstadt Waskom hat rund 2000 Ein-
wohner, dem Augenschein nach sind sie fast
alle weiß. Vor einem Haus weht die Südstaa-
tenflagge, ein Symbol für White Supremacy
und Rassismus. Vor den Kirchen sind Plaka-
te aufgestellt, darauf lächelnde Babys und
Aufschriften wie »Wähle das Leben«.
Als »erste Schutzstadt der Ungeborenen«
in Texas erlangte Waskom eine gewisse Be-
rühmtheit. Die Heartbeat Bill, dieser Etap-
pensieg auf dem Weg zum Abtreibungsver-
bot, hatte hier ihren Auftakt. Der Aktivist
Mark Lee Dickson von Texas Right to Life,
bekannt für seine Teddybären, die Ultra-
schallaufnahmen fetalen Herzschlages abspie-
len, stellte der Stadt eine Idee vor, die er ge-
meinsam mit dem Anwalt Jonathan Mitchell
entwickelt hatte: ein Abtreibungsverbot, das
nicht der Staat durchsetzen sollte, sondern
besorgte Bürger, die sich als eine Art Hilfs-
sheriffs betätigen sollten. Der Stadtrat von
Waskom, bestehend aus fünf weißen Män-
nern, verabschiedete die Verordnung. Später
brachte der republikanische Politiker Bryan
Hughes einen ähnlichen Entwurf in den Senat
ein; er wurde Gesetz.
Religiöse Organisationen arbeiten bereits
an einer neuen Version, die verhindern soll,
dass Frauen zu Abtreibungen in andere Bun-
desstaaten reisen können. Auch hier könnte
das Hilfssheriff-Prinzip zum Einsatz kommen.
Der evangelikale Pastor Doug Lovett emp-
fängt in seiner Faith Independent Baptist
Church. Er trägt ein knallblaues Hemd und
eine Krawatte mit einer US-Flagge und einem
Adler darauf. »Wir haben hier eine Kultur des
Lebens etabliert«, sagt Lovett. Er ist Adoptiv-
vater zahlreicher Kinder: Abtreibung lässt er
auch im Falle von Inzest oder Vergewaltigung
nicht durchgehen. »Wir glauben nicht an
Menschenopfer«, sagt er. Ein dunkel geklei-
deter, offenbar bewaffneter Mann bleibt stets
in seiner Nähe.
Weiße Evangelikale entdeckten Abtrei-
bung als Thema erst recht spät für sich. »Bis
in die Achtzigerjahre interessierten sie sich
kaum dafür«, erklärt die Rechtswissenschaft-
lerin Mary Ziegler von der Florida State Uni-
versity, eine Expertin für die Geschichte der
Abtreibung, »es war eine katholische Sorge.«
Doch dann erkannten sie, dass sich mit dem
Thema Wähler mobilisieren ließen. »Und
außerdem bestand die Chance, wirklich etwas
zu erreichen.« So wurde Abtreibung eines
der wichtigsten Symbolthemen eines Kultur-
82 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022
Aktivistin L. in San Antonio
kampfes, in dem Katholiken und Evangelika-
le fortan auf der gleichen Seite kämpften.
Zwischen der religiösen Rechten und den Re-
publikanern habe es eine Abmachung gege-
ben: Würden Letztere an die Macht kommen,
würden sie im Gegenzug Richterinnen und
Richter am Supreme Court installieren, die
das Abtreibungsrecht kippen. Trump, der den
religiösen Rechten schon früh im Wahlkampf
signalisierte, dass er für sie kämpfen würde,
und der 2016 von knapp 80 Prozent der wei-
ßen Evangelikalen gewählt wurde, erfüllte
ihren Traum von Ende des liberalen Abtrei-
bungsrechtes schließlich.
Die Republikanische Partei wird, nicht erst
seit Trump, zunehmend zu einer autoritären
Partei von Extremisten. Dahinter steht auch
eine straff organisierte, finanzstarke religiöse
Rechte. Sie weist starke Überschneidungen
mit der White-Supremacy-Bewegung auf, die
für die Vormacht Weißer gegenüber Minder-
Rechte Mehrheit
Politische Ausrichtung der aktuellen Richter*
am Obersten Gerichtshof der USA
von Demokraten nominiert Republikanern
−4 −2 0 2
liberal konservativ
Sotomayor
Breyer
Kagan
Roberts
Kavanaugh
Barrett
Gorsuch
Alito
Thomas
* Martin-Quinn-Punktzahl; ermittelt durch die Abstimmungs-
ergebnisse im Gerichtsjahr 2020 (ab Oktober)
S Quelle: Andrew D. Martin, Kevin M. Quinn
◆
heiten im Land kämpft. Eine republikanische
Kongressabgeordnete sprach nach dem Ab-
treibungsurteil auf offener Bühne von einem
großen Sieg für das »weiße Leben«.
Die Wunschliste der religiösen Nationalis-
ten ist noch lang – und sie hat das Potenzial,
die Vereinigten Staaten zu zerreißen. Ihre
Chancen, weitere Anliegen ihrer Agenda
durchzusetzen, stehen im Moment aber gut.
»Was politisch möglich ist, ändert sich gerade
ziemlich schnell«, sagt die Rechtswissen-
schaftlerin Ziegler. Zumal die konservativen
Richterinnen und Richter des Obersten Ge-
richtshofes bei ihren Entscheidungen auf den
sogenannten Originalismus setzen, also auf
eine Denkschule, die sich nah am wörtlichen
Text der US-Verfassung von 1787 orientiert
Lisa Krantz / DER SPIEGEL
und eine zeitgemäße Weiterentwicklung von
Rechtsnormen ablehnt.
Verhütung war lange Zeit eingeschränkt;
Oral- oder Analsex verboten. In der Verfas-
sung steht weder etwas von LGBTQ-Rechten,
noch ist eine Trennung von Kirche und Staat
festgeschrieben – auch wenn diese von der
Generation der Gründungsväter, die sich am
europäischen Liberalismus eines John Locke
oder Thomas Hobbes orientierten, offensicht-
lich gewollt war.
Es ist Sonntag in Waskom. Die First Bap-
tist Church, ein kantiger Flachbau, liegt
gegenüber einem Waschsalon und einer Rei-
fenwerkstatt. Frauen kommen in Kleidern,
Kleinkinder tragen Cowboystiefel. Ein
freundlicher Mann namens Leonard Johnson,
72, ist auf dem Parkplatz als freiwilliger Hel-
fer für die Sicherheit zuständig. Er zeigt die
Pistole in der Hintertasche seiner Jeans. Zu
Hause, erzählt er freudig, habe er eine AR-15,
halb automatisch, mit einem 65-er Magazin.
Man wisse nie, was hinter der nächsten Ecke
lauere.
Die Blumendekoration in der Kirche ist
in Weiß, Blau und Rot gehalten, Kreuze,
Fahnen, Adler, religiöse und nationale Sym-
bole verschmelzen zu einem Potpourri. Um
der US-Flagge zu huldigen, müssen alle
aufstehen. Dann tritt ein junger Mann im
orangefarbenen Poloshirt und mit Gitarre
auf die Bühne und singt fröhliche Country-
lieder, in denen es darum geht, die Dunkel-
heit zu besiegen und »die Nation zurück-
zuerobern«.
4 Pastor Mark Smith hält einen Vortrag da-
rüber, wie die USA vom rechten Weg abge-
kommen seien, wie sie sich immer weiter von
Gott entfernt hätten. Eine Fehlentwicklung,
seit den Fünfzigern. Die Trennung von Kirche
und Staat, darin sieht er die größte Sünde. Sie
sei niemals von den Gründungsvätern gewollt
gewesen. Er hoffe, dass das Oberste Gericht
bald die gleichgeschlechtliche Ehe abschaffe
und den Transgenderismus sowieso. Gott la-
che sich tot.
Die Veranstaltung gleicht weniger einem
Gottesdienst als einem politischen Protest,
unterfüttert von Psalmen. Am Ende ruft Smith
zum Wählen auf.
Nicola Abé n
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AUSLAND
Die Frontstadt
POLEN Der Bürgermeister von Rzeszów hat seinen Ort zum Vorposten des Westens gemacht:
Es kommen Flüchtlinge aus der Ukraine, nachts landen Flugzeuge voller Waffen aus
dem Westen. Amerikanische Soldaten schieben Wache – nur die EU lässt die Polen im Stich.
s wird ein eher ruhiger Tag, sagt
E der Bürgermeister – aber was
heißt das schon, wenn man eine
Stadt regiert, die nur 100 Kilometer
vom Krieg entfernt liegt: Rzeszów,
Ostpolen, rund 200 000 Einwohner.
Die Gemeinde in den Vorkarpaten
ist plötzlich Frontstadt, so wie ganz
Polen sich seit dem russischen Angriff
als Frontstaat sieht. Und Bürgermeis­
ter Konrad Fijołek wirkt wie viele im
Land davon zugleich erschüttert und
beflügelt.
Fijołek nimmt ein Glas selbst ge­
machte Grapefruitlimonade und eine
Handvoll Nüsse, eilt aus seinem Amts­
zimmer und lässt sich ins Gewerbe­
gebiet fahren. Der erste Termin heute:
Ein wohlhabender Bürger hat der
Stadt ein Gebäude zur Verfügung ge­
stellt. Es steht gleich hinter dem Obi­
Markt. Heute zieht hier eine Anlauf­
stelle des Flüchtlingshilfswerks der
Vereinten Nationen (UNHCR) ein.
Der Mann vom UNHCR liest eine
längliche Rede ab: Es geht um Men­
schenrechte, Schutz, Pflicht, Hilfe.
Fijołek tritt auf und ab, der Bürger­
meister hat nicht viel Zeit, auch wenn
heute ein eher ruhiger Tag ist, gibt es
viel zu tun.
Rzeszów trägt den stolzen Titel
»Stadt der Retter«, verliehen vom
ukrainischen Präsidenten Wolodymyr
Selenskyj. Denn Rzeszów hat im
März, kurz nach dem russischen
Überfall auf die Ukraine, um die
100 000 Flüchtlinge beherbergt. »Die
Polen haben ihre Nachbarn mit offe­
nem Herzen empfangen«, sagt Bür­
germeister Fijołek, privat, in Hotels,
in Pensionen. Polen hat in Europa
den Großteil der Menschen aus der
Ukraine aufgenommen, ohne große
Debatten.
30 000 etwa sind noch in Rzeszów.
Es gibt keine Registrierung, die Men­
schen können ohne Visum ins EU­Ge­
biet kommen, lediglich ihre Pässe
werden kontrolliert. Manchmal gehen
einige zurück, andere bleiben zu­
nächst, reisen später Richtung Westen
weiter. Wieder andere kommen ein
84 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022
zweites Mal. Deshalb dürfte die Zahl Kinder mit Mistgabeln auf, mordeten,
POLEN
Warschau
schwanken. Die meisten ukrainischen
Geflüchteten sind Frauen mit Kin­
dern, die Männer kämpfen im Krieg.
vergewaltigten und brandschatzten,
ließen mindestens 60 000 Todesopfer
zurück. »Diese Geschichte haben wir
Karpatenvorland
Mittlerweile kommen kaum noch Ge­ zurückgestellt, die Menschen hier
flüchtete über die Grenze. haben verstanden, dass die Ukrainer
Die Ukrainer sind nicht die einzi­ jetzt für unsere Freiheit kämpfen«,
Rzeszów gen Neuankömmlinge in Rzeszów: sagt Fijołek.
Einwohner: 200.000 Seit Anfang Februar sind die Ame­ Neulich hat Fijołek Bielefeld be­
ukrainische Flüchtlin- rikaner in der Stadt, Soldaten der sucht, Rzeszóws Partnerstadt. Thema
ge: geschätzt 30.000 82. Luftlandedivision aus Fort Bragg, der Gespräche waren die Flüchtlinge:
North Carolina, sind im Messezen­ »Ihr in Deutschland habt viel mehr
trum untergekommen. Sie sichern Erfahrungen, die Gastarbeiter, die
Rzeszóws Flughafen, denn dort lan­ Flüchtlinge aus Jugoslawien, dann
den wohl die meisten westlichen Waf­ 2015. Ihr wisst, wie man so etwas
fenlieferungen. handhabt. Für uns Polen ist es das
Fijołek hastet zum Auto, der erste Mal.« Rzeszów boomt seit Jah­
Grundstein einer Polizeiwache muss ren, es herrscht Vollbeschäftigung, es
gelegt werden. »Ich kann nicht fest­ mangelt an Arbeitskräften. Aber
stellen, dass den Polen wegen der trotzdem ist das mit den Jobs für die
Flüchtlinge die Puste ausgeht«, sagt Ukrainer nicht so einfach.
Fijołek. Die Hilfsbereitschaft sei un­ Rzeszów ist das Zentrum des so­
gebrochen. genannten Aviation Valley. Der Be­
Dabei gilt gerade das Karpaten­ griff soll an das Silicon Valley in
vorland als Hochburg des polnischen Kalifornien erinnern, die amerikani­
Bürgermeister Nationalismus, viele hier haben noch sche Heimat vieler Technologieunter­
Fijołek: »Ich kann eine historische Rechnung mit den nehmen, nur dass hier Flugzeugteile
nicht feststellen, dass
den Polen wegen
Ukrainern offen. Im Zweiten Welt­ gebaut werden. Die Technische Uni­
der Flüchtlinge die krieg fielen ukrainische Kämpfer über versität ist auf Triebwerkstechnik und
Puste ausgeht« die Polen in der Gegend her, spießten Aerodynamik spezialisiert. Rzeszów
ist das Musterbeispiel eines gelunge­
nen Aufbaus Ost: Westinvestoren
treffen auf hervorragend ausgebilde­
te Fachkräfte mit nicht allzu hohen
Lohnerwartungen. Pratt & Whitney
baut hier Triebwerke, Lockheed Mar­
tin in der Region Teile für den Black­
hawk­Hubschrauber, die deutsche
Firma MTU hat hier einen Standort.
In seiner Stadt sieht der Bürger­
meister tagtäglich, was die Geflüch­
teten auf sich nehmen müssen – aber
auch, wie viel seine eigenen Lands­
leute gerade dazulernen: Mehr als vier
Millionen Ukrainer haben seit Kriegs­
beginn die Grenze nach Polen über­
Brendan Hoffman / DER SPIEGEL
quert, rund zwei Millionen sind der­
zeit etwa im Land. »Wir wissen jetzt,
dass wir helfen können, dass unsere
Gesellschaft nicht zerbricht«, sagt er.
Dabei hatten noch im vergangenen
Herbst ein paar Tausend Flüchtlinge,
die der belarussische Diktator Ale­

Patriot-Luftabwehrraketen, ukrainische Geflüchtete in Rzeszów: »Ein freieres, offeneres Land«
xander Lukaschenko an die Grenze des Lan-
des hatte bringen lassen, ganz Polen in Auf-
ruhr versetzt. Ein Teil Europas schaute damals
halb empört, halb herablassend auf Polen und
seinen Umgang mit den Menschen am Grenz-
zaun. Fijołek schüttelt den Kopf: »Polen wird
in Zukunft ein freieres, offeneres Land sein«,
und es klingt so, als wollte er sagen: Wir schaf-
fen das.
Zurück im Rathaus schleppt seine Assis-
tentin die EU-Flagge vom Arbeitszimmer in
den Sitzungssaal. Heute ist ein besonderer
Tag: Rzeszów wird eine Städtepartnerschaft
abschließen – mit dem zerschossenen Tscher-
nihiw in der Nordukraine. Viele in der Stadt
hätten Angst, dass sich einmal eine russische
Rakete auf den Flughafen hier in Rzeszów
verirrt.
Von dort starten Flieger nach Venedig,
nach Antalya und nach London. Und es lan-
den regelmäßig Transportflugzeuge. Rzeszów
Brendan Hoffman / DER SPIEGEL
Brendan Hoffman / DER SPIEGEL
und das Flugfeld im nahen Mielec sind wich-
tige Drehscheiben für den Waffenexport ins
Kriegsgebiet. Über die Flugzeuge mit den
Waffenlieferungen weiß auch Fijołek nichts
Genaues. Vieles geht wohl per Lastwagen
weiter über die nahe Grenze.
Vom Alltag des Bürgermeisters dürften die
Angehörigen der 82. Luftlandedivision aus
Fort Bragg nicht sehr viel mitbekommen. Hin
und wieder sieht man hinter Behelfszäunen
des Messezentrums trainierte Typen beim Jog-
gen. Ihre Aufgabe ist es, den Flughafen zu si-
chern. Mannschaftscontainer, Feuerleitstände
und Radaranlagen sind unter den Tarnnetzen
am Rande des Rollfeldes kaum auszumachen.
Gut zu sehen aber sind längliche Kisten, die
drohend in den Himmel nach Osten ragen.
Ryanair landet und startet hier durch ein Spa-
lier von Patriot-Luftabwehrraketen.
Einen Monat nach Beginn des russischen
Angriffs auf die Ukraine hat der amerikani-
AUSLAND
sche Präsident Joe Biden seine Truppen hier
im Karpatenvorland besucht. Die Soldaten
boten Biden ein Stück Pizza von ihrem Lieb-
lingsitaliener an: Die Nummer 22 mit Salami
und Jalapeños von der Pizzeria Gusto. Besit-
zer Damian Drupka konnte sein Glück kaum
fassen, die Nummer 22 ist jetzt sein Bestseller.
Auch Bürgermeister Fijołek sieht in der
Anwesenheit der Soldaten noch Chancen für
seine Stadt. Wenn es nach ihm ginge, würde
Rzeszów ein dauerhafter Standort der Nato.
Seltsam abwesend ist hier dagegen die EU.
»Die Flüchtlingshilfe haben wir weitgehend
allein gestemmt«, sagt Fijołek, der sich selbst
als »Proeuropäer« bezeichnet. Die Regierung
in Warschau zahlte jedem, der sein Haus für
Geflüchtete öffnete, 40 Złoty pro Person
(rund acht Euro) am Tag. Aber dieses Hilfs-
programm lief Ende Juni aus. Konrad Fijołek
hätte sich gewünscht, dass die EU sich im An-
gesicht des Krieges einmal weniger bürokra-
tisch gebärdet.
Seit Jahren sind Warschau und Brüssel
über Fragen der Rechtsstaatlichkeit zerstrit-
ten. Dem Land wurden rund 36 Milliarden
Euro an Corona-Wiederaufbauhilfen noch
nicht ausgezahlt – Fijołek sieht sich als Leid-
tragenden: »Wenn Warschau die Beziehungen
zur EU nicht systematisch demoliert hätte,
wäre vieles jetzt viel einfacher.«
Eigentlich sollte der Bürgermeister heute
noch Besuch von Wladyslaw Atroschenko
bekommen, dem Amtskollegen der künftigen
Partnerstadt Tschernihiw. Doch die ukraini-
schen Grenzschützer haben den Mann nicht
nach Polen gelassen. Ukrainische Männer,
die zwischen 18 und 60 Jahre alt sind, sollen
kämpfen, sie dürfen ihr Land nur mit Sonder-
genehmigung verlassen. Wurde die nicht
ausgestellt? In Rzeszów weiß man nichts
Genaues.
Also nimmt Fijołek sein Mobiltelefon und
öffnet WhatsApp. »Hallo Władek, wie
geht’s?« Der Bürgermeister der »Stadt der
Retter« ist per du mit seinem Kollegen in der
»Stadt der Helden«, diesen Titel hat Tscher-
nihiw wegen seines Abwehrkampfs gegen die
Russen erhalten: »Wir sind Freunde ge-
worden.«
»Ich passe gut auf deine Leute auf. Du
kriegst sie in gutem Zustand wieder«, ver-
sichert Fijołek. 77 Prozent der Infrastruktur
dort sind zerstört, Schienen, das Elektrizitäts-
werk, Krankenhäuser, Schulen und Kinder-
gärten. »Wenn wir schon dabei sind«, sagt
Atroschenko, »dann sollten wir den Wieder-
aufbau gleich klimafreundlich machen.« –
»Wir helfen euch«, sagt Fijołek.
Um 14.30 Uhr tagt die Gemeindever-
sammlung, Atroschenko ist zugeschaltet. Er
berichtet, dass mehr als 700 Bürger in Tscher-
nihiw im russischen Bombenhagel ums Leben
gekommen seien. In der Region Tschernihiw
wurden 68 Kinder getötet, berichten andere
Quellen.
Der hohe Rat von Rzeszów spricht sich für
die Partnerschaft aus – einstimmig.
Jan Puhl n
Nr. 28 / 9.7.2022 DER SPIEGEL 85
AUSLAND
Im Todestunnel
ZEITGESCHICHTE Wie lange wirkt ein Krieg nach? Rechte Abenteurer haben
in Frankreich einen verschütteten Tunnel aus dem Ersten Weltkrieg
geortet, in dem mehr als 100 deutsche Soldaten starben. Berlin und Paris
müssen nun entscheiden, was mit den Leichen passiert. Von Leo Klimm
ierre Malinowski bewegt sich
P an Grenzen, gern auch an den
Grenzen des Erlaubten. Er
sagt: »Ich bin immer am Limit. Ich
mache spezielle Sachen. So ist mein
Leben.« In der Nacht vom 1. auf den
2. Januar 2020 zum Beispiel hat er
eine spezielle Sache gemacht, die
heute die Regierungen Frankreichs
und Deutschlands beschäftigt.
Mit ein paar Freunden, darunter
Ex­Fremdenlegionäre, wie er selbst
einer war, macht er sich in dieser
Nacht heimlich auf den Weg in einen
Wald nahe der ostfranzösischen Stadt
Reims. Sie haben einen Bagger dabei,
Schaufeln und Stirnlampen. Mali­
nowskis Vater Alain, ein pensionier­
ter Metro­Fahrer, hat als Hobbyhis­
toriker jahrzehntelang in Militärarchi­
ven Vorarbeit geleistet, um den Ort
des sogenannten Winterbergtunnels
zu bestimmen. Jetzt will der Sohn
diesen Tunnel finden – ein verschüt­
tetes Massengrab deutscher Soldaten
aus dem Ersten Weltkrieg. Am 4. Mai
1917 hatte eine großkalibrige Granate
der Franzosen den Eingang des
Schutzschachts der Deutschen so hef­
tig getroffen, dass mehr als 100 Sol­
daten eingeschlossen wurden. Sie
wurden lebendig begraben: Sie er­
stickten oder verdursteten qualvoll.
Manche töteten sich selbst.
Der Krieg pflügte die Landschaft
um. Als er vorbei war, wuchs dichter
Wald über den Todestunnel. Der Un­
glücksort geriet in Vergessenheit.
Mehr als ein Jahrhundert später
sitzt Pierre Malinowski in einem schi­
cken Pariser Café, um zu erzählen,
wie er den Tunnel aus der Vergessen­
heit holte. Er redet schnell, manchmal
durcheinander, seine Hände fahren
ständig durch die Luft. Aus dem Au­
genwinkel mustert er jeden Gast, der
das Lokal betritt, für das er mit sei­
nem Sweatshirt eigentlich nicht gut
genug angezogen ist. Aber so etwas
ist Malinowski egal. Er ist einer, der
in der Erde nach Leichen wühlt, und
einer, der Staub aufwirbelt. Als er ein­
86 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022
Auf den Spuren mal einen Bürojob beim Rechtsex­
des Dramas:
1 | Tunnelentdecker
Pierre Malinowski
2 | Bericht über
tremisten Jean­Marie Le Pen hatte,
fühlte er sich zwar in der Nähe Le
Pens wohl, aber unwohl im Büro. »Ich
Einsturz des Winter- brauche Aufregung«, sagt er und er­
bergtunnels zählt also von jener aufregenden
3 | In Karlsruhe
ausgestellter Nacht im Januar 2020.
Uniformmantel »Wir hatten uns vier Meter tief ge­
4 | Historisches graben, alles rutschiger Sandboden«,
Bild der Anhöhe sagt Malinowski. »Und auf einmal
Winterberg
unter Trommelfeuer hieß es: Bingo total!« Eine Glocke,
5 | Deutscher Bajonette, Kisten mit Munition und
Stahlhelm aus dem Gasmasken, Stützbalken des Tunnels
Tunnel und »zwei Dinge, die ein Gemisch
6 | Erkundungen
am verschütteten von Uniformen und Überresten wa­
Tunnel bei Craonne ren« seien zum Vorschein gekommen,
behauptet er. »Wir waren am Tunnel­
eingang, ganz klar. Aber wir haben
nichts mitgehen lassen.« Gegen 3.30
Uhr habe sein Team das Loch wieder
zugeschüttet, »fein säuberlich«.
In den Wochen nach seiner gehei­
men Kommandoaktion sorgt Mali­
nowski selbst dafür, dass Behörden
und Lokalmedien von seiner Entde­
ckung erfahren – auch wenn er sich
damit vorübergehend Ermittlungen
wegen illegaler Ausgrabungen einhan­
delt. Belege für die spektakulärsten
seiner Funde bleibt er zwar schuldig,
insbesondere von den angeblich ent­
deckten Gebeinen kann er keine Fotos
vorzeigen. Allerdings: dass Mali­
nowski tatsächlich den Eingang des
Winterbergtunnels erreicht hat, wird
auch von berufsmäßigen Weltkriegs­
archäologen im Gebiet von Reims
nicht bestritten. »Ich hatte die Eier zu
beweisen, dass mein Vater richtiglag«,
sagt Malinowski und grinst. Dann
muss er los, er ist ja in seiner Heimat
Frankreich bloß zu Besuch. Er wohnt
jetzt in Russland, wo ein Oligarch ihn
dafür bezahlt, auf dem früheren
»Wir hatten Schlachtfeld von Stalingrad nach den
Leichen von Soldaten zu graben.
uns vier Meter Die Geschichte von der Wieder­
tief gegraben. entdeckung des Winterbergtunnels
Und auf ein- ist voll von solchem makabren Irr­
witz. Sie handelt vom Grauen der
mal hieß es: Kriege und davon, wie eine rechte
Bingo total.« Hobbyforscherfamilie Politik und
Profihistoriker vorführt. Der Tunnel
ist wie eine Zeitkapsel, die plötzlich
im Hier und Heute aufpoppt. Wie
eine Konserve voll schwieriger Ver­
gangenheit, mit der Deutschland und
Frankreich von den Malinowskis kon­
frontiert werden. Vom Vater, dem
Hobbyhistoriker Alain Malinowski,
65, seinem jüngeren Sohn Erik, 32,
der sich nicht öffentlich äußert, und
dem umso lauteren Draufgänger
Pierre, 34, der Jean­Marie Le Pen
»wie einen Großvater« sieht.
Es schien den Regierungen beider
Länder recht, dass die Toten vom
Winterberg 100 Jahre lang unter einer
dicken Erdschicht begraben lagen.
Jetzt könnte das Mysterium des Tun­
nels gelüftet werden. Nur: Muss das
sein? Pierre Malinowskis Buddelei
wirft heikle Fragen auf. Sollen die Ge­
beine der deutschen Soldaten gebor­
gen und ordentlich bestattet werden?
Oder ist der Tunnel als archäologi­
sches Objekt zu betrachten und zu
erforschen, wie französische Histori­
ker verlangen? Beides ist schwer mit­
einander vereinbar.
Auf der bewaldeten Anhöhe von
Craonne bei Reims geht es demnach
auch darum, wie lange ein Krieg in
die Gegenwart nachwirkt, wie lange
uns die Vergangenheit einholen
kann – und wann sie nur noch ein
Sediment der Geschichte ist. Eine ak­
tuelle Frage in Zeiten, in denen mit
dem Ukrainekrieg in Europa wieder
so erbittert um Stellungen gekämpft
wird wie 1917 in Craonne.
Es ist 11.45 Uhr am 4. Mai 1917, als
ein schweres Geschütz der Franzosen
den Eingang des Winterbergtunnels
trifft. Die Munition, die von den
Deutschen dort gelagert wird, zündet
wie ein apokalyptisches Feuerwerk.
Der Tunneleingang kracht sofort in
sich zusammen. Ein großer Teil des
badischen Reserve­Infanterie­Regi­
ments 111 wird in dem 250 Meter lan­
gen Gang eingeschlossen. Die explo­
dierende Munition entwickelt giftige
Dämpfe. Auch die Luftschächte des
Tunnels sind zerbombt.
»Die Decke stürzt herunter, Baum­
wurzeln legen sich darüber. Erde
rutscht nach. Das Massengrab ist ge­
schlossen. Der Gastod geht um«, be­
schreibt der Vizefeldwebel Leo Weiß
das Inferno. Er gehört zu den ganz
wenigen, denen es gelingt, sich aus
eigener Kraft aus dem Tunnel zu ret­
ten. SPIEGEL ­Recherchen bei einem
seiner Enkel fördern Weiß’ bisher un­
bekannten Augenzeugenbericht »In
der Hölle von Craonne« zutage.
Im vorderen Teil des Tunnels kön­
nen Pioniertrupps noch Soldaten ret­
ten. Zwei Kompanien, auch die von
 Landesarchiv Baden-Wür ttemberg Uli Deck / ARTIS / Generallandesarchiv Karlsruhe Jérôme Bonnet / modds

4
Uli Deck / dpa / picture alliance
2

Uwe Zucchi / Volksbund Deutscher Kriegsgräber fürsorge e.V. Uli Deck / dpa / picture alliance

Nr. 28 / 9.7.2022 DER SPIEGEL

AUSLAND

87
AUSLAND
Weiß, flüchten aber in den hinteren Teil des
Schachts. Sie bauen dort eine Barrikade aus
Stoff und Sand, so wollen sie den Dämpfen
entkommen. Doch der vermeintliche Schutz-
raum wird zur dunklen, quälend heißen To-
desfalle. »Die Pulse hämmern und rasen. Der
Atem geht wild und stockweise«, schreibt
Weiß. »Die Zunge bleibt am Gaumen. Rufe
nach Wasser gellen durch den Stollen.«
Weiß berichtet, wie sich manche in ihrer
Verzweiflung erschießen. Und wie er sich,
zunächst begleitet von einem Kameraden, in
einer Art Wahnzustand nach vielen Stunden
ins Freie kämpft: Gegen die Weisung seines
Leutnants robbt er sich durch die Dunkelheit
Richtung Tunneleingang. »Es geht über die
Leichen toter Kameraden. Bald fühle ich Haa-
re, bald greifen die Hände in kaltes Fleisch«,
heißt es in Weiß’ Bericht. Schließlich schafft
er es hinaus – über einen verborgenen, von
einem toten Körper versperrten Seitengang.
Die Zahl der Männer, die im Winterberg
verendet sind, liegt bei 100 bis 150, schätzt
der Historiker Rainer Brüning. »Letzte Ge-
wissheit könnte da nur die Öffnung des Tun-
nels bringen«, sagt er. Brüning ist Kurator
einer Ausstellung im baden-württember-
gischen Generallandesarchiv Karlsruhe, in
der zurzeit erstmals Grabungsfunde vom Tun-
neleingang gezeigt werden; darunter ein
zerborstener Helm und ein Mantel, der einst
dem Unteroffizier Jakob Knöpfle aus dem
Schwarzwalddorf Riedböhringen gehörte.
Die Funde wären nicht aufgetaucht, hätte
Pierre Malinowski nicht alle aufgeschreckt
und damit Profigrabungen ausgelöst. Ohne
seine illegale Aktion hätte es der Tunnel auch
nicht auf die Tagesordnung des deutsch-fran-
zösischen Ministerrats geschafft. Den Volks-
bund Deutsche Kriegsgräberfürsorge (VDK)
hat Malinowski ebenfalls auf den Plan geru-
fen. Der Verein, der mit der Bergung der
Überreste deutscher Soldaten beauftragt ist,
zeigte sich anfangs bestürzt, warnte zunächst
vor einer »Plünderung der Gräber«.
In der Hölle von Craonne
Die Westfront im Ersten Weltkrieg
Grenzen 1914
BELGIEN DEUTSCHES
REICH
Karten- LUXEMBURG
ausschnitt (besetzt)
Paris
FRANKREICH
bedeutende Schlachten
mutmaßlicher Frontverlauf Anfang Mai 1917
weitestes Vordringen der Deutschen 1914
Waffenstillstandslinie 1918
S Quellen: Bayerischer Schulbuch-Verlag, Louis Nebert Verlag (linke Karte); Kriegsgeschichtliche Forschungsanstalt des Heeres
◆
(rechte Karte); Landesarchiv BW
88 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022
Jetzt gräbt der Volksbund selbst nach dem
Tunnel. An einem Tag im Frühjahr 2022 ste-
hen zwei Dutzend Männer in Gummistiefeln
an einem Abhang im Wald von Craonne und
starren in ein Loch. Ein Spezialbagger, eigens
aus dem Münsterland herangeschafft, dreht
dröhnend einen Bohrkopf in den Schlamm.
Gendarmen wachen darüber, dass niemand
von den abgesteckten Wegen abkommt. Noch
immer ist der Untergrund hier mit scharfer
Munition durchsetzt. Im Frühling 2021 muss-
te eine Erkundung sogar abgebrochen wer-
den, als Granathülsen mit explosiver Säure
entdeckt wurden.
Zum vierten Mal seit Pierre Malinowski
hier auf eigene Faust zu Werke ging, ist der
VDK jetzt schon mit einem Team da. »Wir
müssen das Allerletzte versucht haben, um
die Toten zu bergen«, erklärte der VDK im
Sommer 2021. Als die Malinowskis den Ver-
ein vorher über Jahre hinweg auf den mut-
maßlichen Ort des Schachts hinwiesen, zeig-
te der Volksbund noch wenig Interesse. Des-
wegen war Pierre Malinowski schließlich
selbst mit dem Bagger angerückt.
»In dem Augenblick, in dem die Toten-
ruhe gestört wurde, mussten wir handeln«,
rechtfertigt Arne Schrader, der die Erkundung
leitet, den Schwenk des Volksbundes. Auf
seinem grauen Overall steht »Umbettungs-
dienst«, Schrader ist vom Fach. Für ihn sind
die Malinowskis »Grabräuber«. Sie als die
Tunnelentdecker anzuerkennen, widerstrebt
ihm, weil die ungefähre Lage des Stollens ja
immer bekannt war. Davon ungeachtet treibt
der Volksbund die Suche jetzt mit deutscher
Gründlichkeit voran.
Per Georadar ist es dem VDK gelungen,
zwei Hohlräume zu orten, die von dem Tun-
nel übrig sind. Der Rest, so viel ist schon ein-
mal sicher, ist verschüttet. Geklärt werden
soll, ob die Hohlräume begehbar sind und ob
sterbliche Überreste darin lagern. Dazu bohrt
der Volksbund-Bagger ein Loch, durch das
eine Kamera eingeführt wird: 16 Meter unter
Am 4. Mai 1917 traf eine französische
Granate den Eingang des sogenannten
Winterbergtunnels, Hunderte deutsche
Soldaten wurden eingeschlossen,
geschätzt 100 bis 150 Männer starben.
10 km
Laon
Winterberg
Ais n e Craonne
Frontverlauf am
3. Mai 1917
Reims
die Erdoberfläche und 67 Meter in die Hori-
zontale schraubt sich der Bohrkopf. Er trifft
tatsächlich den vorderen der beiden Hohl-
räume. Das ist eine kleine Sensation.
An diesem Abend stoßen die deutschen
Grabwächter im Wald von Craonne mit den
französischen Archäologen und Gendarmen
an. Es wirkt wie eine späte Verbrüderungs-
szene, just an der Stelle, an der sich einst Deut-
sche und Franzosen gegenseitig in den Tod
schickten. Heute überwuchert dichter Wald
die Bombentrichter und Schützengräben.
In vielen Kriegen sind Franzosen und
Deutsche an der Anhöhe aufeinandergeprallt,
der deutsche Militärs den Namen Winterberg
verpassten. Nie aber war das Gemetzel so
furchtbar wie im Frühjahr 1917. Damals tobte
eine Schlacht, bei der rund 350 000 franzö-
sische und deutsche Soldaten umkamen, ver-
letzt oder gefangen genommen wurden.
»Wenn man in dieser Gegend lebt, ist der
Erste Weltkrieg sehr präsent«, sagt Alain
Malinowski, der Senior. Der Hobbyforscher
aus Orainville, einem Dorf inmitten der frü-
heren Schlachtfelder, war 1995 in einem Mi-
litärarchiv auf eine Karte gestoßen. Darauf
war die Lage des Tunnels eingezeichnet. Er
begann, genauer nachzuforschen – bis er die
Stelle des verschütteten Eingangs einkreisen
konnte.
Die Faszination für den Krieg sitzt tief bei
den Malinowskis – und Leichenklauben ist
eine Familientradition. Alain Malinowskis
Großeltern wanderten in den Zwanzigerjah-
ren als Landarbeiter aus Polen in Ostfrank-
reich ein. »Auf den Feldern stießen sie ständig
auf tote Soldaten«, erzählt er. »Bei mir wurde
es dann zur Leidenschaft, nach Relikten zu
graben.« Als seine Söhne sechs und vier Jah-
re alt waren, grub Alain Malinowski mit ihnen
erstmals eine französische Soldatenleiche aus.
Pierre Malinowskis spätere Buddelei am
Winterberg kann als doppelte Ehrerbietung
an den Vater verstanden werden: Er wandte
das Erlernte an und vollendete zugleich das
Forscherwerk des Vaters. Denn im Streit um
den Tunnel geht es auch um gekränkte Fami-
lienehre. »Ich habe mir oft anhören müssen,
dass ein kleiner Metro-Fahrer doch keine so
bedeutende Entdeckung machen könne«, sagt
Alain Malinowski. Sein Sohn Pierre sagt: »Ich
will, dass mein Vater für 25 Jahre Arbeit An-
erkennung erhält.« Er, der Sohn, mag man-
chen »als Krimineller gelten«, wie er selbst
sagt. »Das ist mir egal. Aber es darf nicht auf
meine Familie abfärben.«
Pierre Malinowski hat einen schillernden
Lebenslauf. Mit 17 Jahren geht er zur Frem-
denlegion, 2014 heuert er als Assistent des
Holocaust-Relativierers Le Pen im Europäi-
schen Parlament an. Le Pens ebenfalls rechts-
radikale Enkelin Marion Maréchal war lange
Malinowskis Freundin. Und er sieht sich als
Abenteurer: 2015 gehört Pierre Malinowski
zu einem Kommando, das unter undurchsich-
tigen Umständen zwei Franzosen aus der
Dominikanischen Republik befreit, die auf
der Karibikinsel wegen Kokainschmuggels
 AUSLAND

verurteilt worden waren. Etwas spä-

ter endet ein Versuch Malinowskis,
zum bewaffneten Kampf gegen den
»Islamischen Staat« nach Syrien zu
reisen, auf einem Polizeirevier am
Münchner Flughafen.
Seit einigen Jahren hat er einen
Weg gefunden, die vom Vater über-
nommene Leidenschaft für die Suche
nach Toten in Geld umzumünzen.
Pierre Malinowski bietet in Russland
seine Dienste an, um dort auf frühe-
ren Schlachtfeldern Kriegsopfer zu
bergen. Eine »Stiftung französisch-
russischer historischer Initiativen«,
die er gegründet hat, wird vom Berg-
Landesarchiv Baden-Wür ttemberg

bauoligarchen Andrej Kosizyn ge-

sponsert. Vizepräsidentin der Stiftung
ist Elisaweta Peskowa, die Tochter
des Kremlsprechers Dimitrij Peskow,
der tagtäglich den Krieg gegen die
Ukraine mit einem Informationskrieg
begleitet. Peskow sei »ein Freund«,
sagt Pierre Malinowski. Seine Bewun-
derung für Wladimir Putin verhehlt scher Sicht womöglich ein Schatz ge- Badische Soldaten
er kaum. hoben werden, um das Wissen über am Winterbergtunnel
1917: Nie war das
2019 landete Pierre Malinowski den Ersten Weltkrieg zu erweitern. Gemetzel so furchtbar
seinen größten Coup. In einem Park Nachdem Pierre Malinowskis Um-
der Stadt Smolensk entdeckte er die triebe am Tunnel bekannt geworden
Überreste des Generals Charles- waren, hatte eine Gruppe namhafter
Étienne Gudin, der 1812 bei Napo- Historiker in »Le Monde« den ersten
leons Russlandfeldzug umgekommen Zugriff verlangt, sollte man tatsächlich
war. Ein DNA-Abgleich mit Gudins in den Stollen vordringen. Die sterb-
Nachkommen in Frankreich bestätig- lichen Überreste einfach auf einen
te die Identität des Toten. Das Skelett Soldatenfriedhof umzubetten bedeu-
wurde im Dezember 2021 mit Billi- te, »mit ihnen auch das historische und
gung von Präsident Emmanuel Ma- wissenschaftliche Wissen zu begraben,
cron im Pariser Invalidendom bestat- das sie in sich bergen«, schrieben die
tet. Das war wenige Wochen vor dem französischen Experten. »Eine lange
russischen Überfall auf die Ukraine. archäologische Arbeit ist unerläss-
Der Krieg, den Malinowskis Gönner lich.« Das jedoch steht in Konflikt mit
führen, ist das einzige Thema, bei dem Auftrag des Volksbundes, gefal-
dem der sonst sehr redselige Mann lene Soldaten zu identifizieren und
wortkarg wird. »Darüber kann ich ihnen eine würdige Ruhestätte zu ge-
nicht sprechen«, sagt er. ben. Es ist eine diffizile Frage, ob ein
Man kann also verstehen, dass Mensch, der seit 100 Jahren tot ist,
manche Pierre Malinowski für einen noch als Mensch zu behandeln ist oder
zweifelhaften Gesellen halten. Arne eben nur als Fundstück.
Schrader vielleicht, der Grabungschef Die Meinung der Angehörigen der
vom Volksbund. Einige Wochen nach Toten kennt man nicht. Sie müssten
der Bohrung am Winterberg im Mai erst ausfindig gemacht werden. Doch
2022 schickt Schrader einen Bericht beim Volksbund, der vor einem Jahr
an das Auswärtige Amt in Berlin. Das noch »das Allerletzte« versuchen
Ministerium ist für die Volksbund- wollte, lässt die Motivation nach der
Grabungen im Ausland zuständig. So Enttäuschung vom Frühjahr merklich
spektakulär die Horizontalbohrung nach: Der VDK will nicht mehr wei-
war, so ernüchternd ist ihr Ergebnis. terbohren – und begründet das mit
Die in den vorderen Hohlraum des den Kosten. Zwei Millionen Euro sei-
Winterbergtunnels eingeführte Sonde en nötig, um die Toten aus dem Inne-
liefert nur verschwommene Bilder. ren des Winterbergs zu holen und
Ob Gegenstände oder sogar mumi- zugleich den archäologischen Aufla-
fizierte Leichen eingeschlossen sind, gen zu genügen. Das übersteige die
ist nicht zu erkennen. Doch der hin- Ressourcen des Volksbundes. Etwas
»Die Kerle
tere Hohlraum wurde noch gar nicht anderes wäre es, würde die Bundes- wollen
erreicht. In den hinteren Teil des Tun- regierung ein Extrabudget bereitstel- herausgeholt
nels hatten sich die Soldaten des len, macht der VDK klar.
111. Reserve-Infanterie-Regiments ge- Wie es weitergeht, wird zurzeit werden, das
flüchtet. Hier könnte aus archäologi- beraten. Doch nicht nur das Geld des ist eindeutig!«
VDK, auch der politische Wille zu
neuen Grabungen scheint aufge-
braucht. »Weitere Bohrungen oder
eine Bergung der Kriegstoten wären
technisch bedingt nach jetzigem
Stand nicht mehr durchführbar«,
teilt das Auswärtige Amt mit. Das
Pariser Verteidigungsministerium,
auf französischer Seite zuständig,
verweist darauf, dass die Toten durch
die dicke Sandschicht gut geschützt
lägen.
Und so zeichnet sich ein typischer
deutsch-französischer Kompromiss
ab. Der Konflikt zwischen Archäo-
logie und Umbettung wird gar nicht
gelöst. Stattdessen wird eine dritte
Möglichkeit gefunden: Der Winter-
bergtunnel als Ganzes soll als Kriegs-
gräberstätte gekennzeichnet werden,
ein Gedenkzentrum wird gebaut wer-
den, auch ohne das Wissen, wer ge-
nau an dieser Stelle umgekommen ist.
Vielleicht liegt der Erfolg der Versöh-
nung von Deutschen und Franzosen
gerade darin, die Dinge irgendwann
ruhen zu lassen.
Die Malinowskis, die mit ihrer Ver-
sessenheit alle aufgescheucht haben,
finden diese Vorstellung empörend.
»Der ganze Aufwand kann doch nicht
umsonst gewesen sein«, sagt Alain
Malinowski, der Hobbyforscher. »Die
Kerle wollen herausgeholt werden,
das ist eindeutig!«, sagt sein Sohn
Pierre.
Womöglich taucht der rechte Ha-
sardeur bald wieder am Winterberg
auf. Denn im Osten hindert ihn der
Ukrainekrieg an der Arbeit: Neue
französisch-russische Projekte rund
um die Toten der Vergangenheit seien
»für eine ganze Weile undenkbar«,
sagt er. Verdammter Krieg. n

Nr. 28 / 9.7.2022 DER SPIEGEL 89

AUSLAND

»Wir sind die Fahnenträger

der Menschenrechte«
SPIEGEL-GESPRÄCH Der afghanische Taliban-Führer Anas Haqqani spricht über das
militante Netzwerk seiner Familie, die Frage nach seiner Verstrickung in
Attentate – und darüber, warum er für die Rechte von Männern und Vögeln kämpfen will.

Der Weg zu Haqqani führt über eine Treppe Haqqani, den Qaida-Chef Osama Bin Laden SPIEGEL: Die Trainingseinrichtungen für
in den Kellerraum eines Gebäudes im gut nach Afghanistan eingeladen. Selbstmordattentäter Ihrer Organisation be-
gesicherten Regierungsviertel von Kabul. Haqqani: Mein Vater hat Bin Laden nie ein- fanden sich in Miranshah, am langjährigen
Haqqani gilt wie sein Bruder Sirajuddin, der geladen, die beiden kannten sich vom Krieg Wohnort Ihrer Familie. Die strategische und
neue Taliban-Innenminister und Chef des gegen die sowjetischen Besatzer. Als damals militärische Führung für diese Einrichtungen
sogenannten Haqqani-Netzwerks, als äußerst die Bomben fielen, mussten wir fort. Wir flo- unterliegt dem heute amtierenden Innen-
pressescheu. Erst durch Vermittlung verschie- hen nach Miranshah in Waziristan ... minister Afghanistans, Ihrem Bruder Sira-
dener Fürsprecher und Diplomaten ließ sich SPIEGEL: ... eine Stadt in Pakistan. juddin Haqqani. Es ist schwer vorstellbar,
der 28-Jährige auf ein Treffen mit dem Haqqani: Dort verbrachte ich dann die meis- dass Sie große Teile Ihres Leben dort ver-
SPIEGEL ein. Das Haqqani-Netzwerk mit Sitz te Zeit meines Lebens, als Emigrant. Die Er- bracht haben, aber nicht wussten, was dort
im pakistanischen Miranshah galt bis zur innerung an die Kinderjahre in Kabul blieben geplant wurde.
Übernahme Kabuls durch die Taliban vor fast immer ein glücklicher Traum. Haqqani: Sie stellen Fragen wie eine Ermitt-
einem Jahr als militärisches Zentrum des SPIEGEL: Das Haqqani-Netzwerk gilt laut lerin. Gedenken Sie, am Ende ein Verfahren
Kampfes gegen die westlichen Truppen im internationalen Sicherheitsexperten als ge- gegen mich zu eröffnen? Keine Sorge, ich
Land. Von Pakistan aus soll das Haqqani- walttätigster Arm der afghanischen Taliban. scherze nur …
Netzwerk mit die schwersten Anschläge in Es heißt, Sie hätten maßgeblich das Geld für SPIEGEL: Bevor Sie vergangenes Jahr mit den
Afghanistan geplant haben. Dort sollen diese Organisation beschafft und seien ein- Taliban zurückkehrten nach Afghanistan, als
Selbstmordattentäter auf ihre tödlichen Mis- geweiht in Attentatspläne. Sieger, verbrachten Sie noch einige Jahre un-
sionen vorbereitet worden sein. Anas Haqqa- Haqqani: Das sogenannte Haqqani-Netz- freiwillig in Kabul …
ni gilt als einer der wichtigsten Anführer der werk, von dem der Westen immer wieder Haqqani: Richtig. 2014 wurde ich im Auftrag
Gruppe und gehörte dem Team an, das mit spricht, hat es nie gegeben. Das ist reine der damaligen Regierung im Ausland verhaf-
den USA in Doha die Abzugsverhandlungen Propaganda unserer Feinde. Und ich war tet und nach Kabul ausgeliefert. Dies geschah
führte. nur ein Religionsschüler. Unterscheiden Sie vollkommen unrechtmäßig. Ich bin jahrelang
also bitte zwischen der theoretischen Unter- in einer winzigen Zelle in Einzelhaft gehalten
SPIEGEL: Herr Haqqani, wir treffen uns hier, stützung bestimmter Ziele und dem prakti- worden, erst in einem Geheimdienstgefängnis,
im Keller eines mit Stahlgitter gesicherten Rau- schen Tun. Natürlich wollte ich unser Land dann in Bagram. Das war gegen alle Gesetze
mes gegenüber einer Geheimdiensteinrichtung von der Besatzung befreien, damit wir un- und Regeln, die damals auch in diesem Land
in Kabul. Was genau ist das für ein Ort? abhängig und in Würde, Frieden und Wohl- herrschten.
Haqqani: Das ist das Gästezimmer, in dem stand leben können, in einem unabhängigen SPIEGEL: Sie wurden von zwei Gerichten zum
wir unsere Besucher empfangen. Dieses Haus Staat. Tode verurteilt, wegen Mitverantwortung für
haben wir von den Besatzern übernommen, SPIEGEL: Jetzt reden Sie die Rolle Ihrer Fami- schwere Terroranschläge. Das Urteil wurde
ein Überbleibsel der Amerikaner. lie in diesem Krieg und auch die eigene aber aber nie vollstreckt, wegen der guten inter-
SPIEGEL: Seit wann sind Sie in Kabul? gewaltig klein. nationalen Beziehungen Ihrer Familie.
Haqqani: Ich kam am Abend nach der Be- Haqqani: Mit vielen der Anschläge, die meiner Haqqani: Ich war wirklich unschuldig, ein jun-
freiung Kabuls, am 16. August. Das war ein Familie angelastet werden, haben die Haqqa- ger Religionsschüler im achten Studienjahr. Ich
großer Moment. Endlich herrschte Frieden, nis nichts zu tun. Ja, wir waren im Krieg, und war lediglich in den Ferien in Katar. Dort be-
nach 20 Jahren Krieg. Wissen Sie, die ersten ich gehörte einer Seite an. Beide Seiten haben suchte ich Freunde und Verwandte, die gerade
Jahre meines Lebens habe ich in Kabul ver- sich gegenseitig angegriffen. Es gab Aktionen aus Guantanamo entlassen worden waren.
bracht, im Stadtteil Wazir Akbar Khan. Dann, und Reaktionen, aber ich selbst habe nie ge- SPIEGEL: Dem Haqqani-Netzwerk werden
als ich sieben Jahre alt war, begann die Bom- kämpft. Attentate mit unzähligen unschuldigen Op-
bardierung durch die westlichen Koalitions- fern angelastet, und es heißt, dass Sie von den
streitkräfte … Attentatsplänen wussten. Zu den Atten-
SPIEGEL: … das war 2001, nachdem al-Qaida tatszielen gehörte 2017 auch die Deutsche
das World Trade Center und andere Ziele in Botschaft in Kabul. Dabei starben weit über
den USA angegriffen hatte. Zuvor hatte Ihr
»Die Deutschen sollen hundert Menschen.
Vater, der Mudschahidin-Führer Jalaluddin sich nicht immer Haqqani: Diese Behauptungen entbehren je-
der Grundlage. Auch alle Anschuldigungen,
Das Gespräch führte die Redakteurin Susanne Koelbl in
nur um Probleme der die damals in diesem Gerichtsverfahren gegen
Kabul. Frauen kümmern.« mich erhoben wurden, sind falsch.

90 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022

 AUSLAND

SPIEGEL: Nach fast fünf Jahren Ge-

fangenschaft wurden Sie 2019 gegen
zwei Dozenten der Kabuler Ameri-
kanischen Universität ausgetauscht.
Der Amerikaner Kevin King und der
Australier Timothy Weeks waren nur
für diesen Zweck vom Haqqani-Netz-
werk gekidnappt worden. Beide Män-
ner waren lange in Gefangenschaft.
Tut es Ihnen heute leid, was den bei-
den angetan wurde?
Haqqani: Ich bin nicht glücklich über
das, was damals geschah. Ich hatte
aber auch keine Kenntnis von dem
Plan, die Professoren zu entführen,
um sie gegen mich auszutauschen.
Anderseits wurde ich entgegen aller
Normen und Regeln über Jahre in
Einzelhaft gehalten. Irgendwann sah
sich die Führung des Islamischen
Emirats Afghanistan gezwungen,
nachdem alle Wege versperrt schie-
nen, besondere Schritte zu unterneh-
men, um seinen Bürger, also mich,
freizubekommen.
SPIEGEL: Rechtfertigt eine Ungerech-
tigkeit eine andere?
Haqqani: Ich bitte Sie, wir haben die-
sen Krieg nicht gewollt. Er wurde uns
aufgezwungen. Ich hoffe, dass wir
diese Dinge, die wir in diesen Jahren
erlitten haben, nie wieder erleiden
müssen.
SPIEGEL: Der damalige Geheimdienst-
chef Rahmatullah Nabil berichtet,
dass er Sie nach Ihrer Überstellung
nach Kabul in ein Auto setzte und an
die Orte fahren ließ, an denen die
Attentäter des Haqqani-Netzwerks
ihre mörderischen Anschläge verübt
hatten. Zurück in der Geheimdienst-
zentrale, hätten Sie, dann tief beein-
druckt von den Zerstörungen, die Sie
gesehen haben, bereitwillig ein Ge-
ständnis unterschrieben. Stimmt das?
Haqqani: Nichts dergleichen ist
wahr. Ich habe mich zu keinen Selbst-
mordattentaten bekannt. Viele An-
griffe, die meiner Familie angelastet
werden, sind nicht von uns verübt
worden. Der Name unserer Familie
wurde oft von Absolventen der
Haqqania-Madrassa (einer alten
Koranschule –Red.) in Pakistan ge-
nutzt, ohne unser Wissen. Jeder kann
diesen Namen nutzen, wenn er in
dieser Koranschule studiert hat.
SPIEGEL: Zwei Ihrer Familienangehö-
rigen bekleiden in der Taliban-Regie-
rung hohe Ämter. Sie sind weiter
ohne offiziellen Posten und dennoch
Christian Werner / DER SPIEGEL

sehr einflussreich. Was genau ist Ihre

Rolle im Islamischen Emirat Afgha-
nistan?
Haqqani: In unserer Kultur gilt Ver-
trauen mehr als hohe Ämter. Ich be-
Talib Haqqani rate die Taliban in den Ministerien
und helfe überall aus, wo Hilfe be-

Nr. 28 / 9.7.2022 DER SPIEGEL 91

AUSLAND
nötigt wird. Ich bin außerdem Teil
einer Kommission, die sich um die
Durchsetzung der Generalamnestie
kümmert. Wir wollen alle Afghanen,
die nach der Befreiung das Land ver-
ließen, ermutigen zurückkehren.
SPIEGEL: Warum sollten diese Lands-
leute Ihre Regierung unterstützen?
Frauen, die einst als Ärztinnen, Poli-
zistinnen und Richterinnen arbeiteten,
dürfen ihren Beruf unter Ihrer Regie-
rung nicht mehr ausüben. Zahllose
Sicherheitskräfte, Aktivisten und libe-
rale Geister flohen aus Furcht vor Ver-
folgung, Verhaftung und Tod. Im Nor-
den und Osten des Landes kämpfen
inzwischen größere bewaffnete Grup-
pen gegen die Taliban. Soll auch die
bewaffnete Opposition zurückkehren?
Haqqani: Ja, die Amnestie gilt für alle,
ohne Ausnahme, auch für die bewaff-
nete Opposition. Der Führer des Is-
lamischen Emirats Afghanistan, Emir
Haibatullah Akhundzada, hat dies so
angeordnet. Wir fordern deshalb alle
Afghanen auf, in ihr Heimatland zu-
rückzukehren.
SPIEGEL: Noch mal: Warum sollten
Afghanen, die kritisch über die Tali-
ban denken, Ihnen Glauben schen-
ken? In einem von uns recherchierten
Fall kehrte ein Oberst an seinen
Arbeitsplatz im Innenministerium
zurück, dann wurde er plötzlich ver-
haftet und drei Tage später seine Lei-
che der Familie zurückgegeben, ohne
jede Erklärung. Der Offizier zeigte
Folterspuren. Unter vielen ehemali-
gen Beamten herrscht Angst.
Haqqani: Der Führung des Emirats ist
es mit der Amnestie sehr ernst. Gegen
alle, die gegen diese Generalamnestie
verstoßen, werden Maßnahmen er-
griffen. Sie werden verfolgt und hart
bestraft. Der Emir hat die Einrichtung
92 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022
von Militärgerichten angeordnet.
Wenn Sie von Beispielen ungerechter
Verfolgung Kenntnis haben, sollten
Sie uns diese bitte melden. Es darf
keinerlei Rache geübt werden, die
Vertreter der Vorgängerregierung Re-
pressalien ausgesetzt werden.
SPIEGEL: Viele der schiitischen Haza-
ra in Kabul wagen kaum noch, ihr
Stadtviertel zu verlassen, aus Furcht
vor den Schikanen der meist sunniti-
schen Taliban. Minderheiten glauben,
sie wären nicht mehr erwünscht. Wer
kann, verlässt das Land. Gibt Ihnen
das zu denken?
Haqqani: Die schiitischen Brüder wer-
den seit Langem von extremen Ele-
menten im gesamten Nahen Osten
und in Afghanistan verfolgt. Die Posi-
tion des Islamischen Emirats gegen-
über diesen Elementen ist ganz klar:
Die derzeitige Regierung unterdrückt
die Hazara nicht, im Gegenteil, sie
nimmt jegliche Bedrohung oder Be-
lästigung unserer Hazara-Brüder sehr
ernst. Unsere Regierung ist natürlich
nicht perfekt. Nach so vielen Jahren
des Krieges gibt es zwischen einzel-
nen Personen Probleme. Es gibt alte
Rechnungen, die beglichen wurden,
Familienstreitigkeiten. Aber der
Hauptgrund dafür, warum viele Men-
schen weggehen, ist die Not. Die wirt-
schaftliche Katastrophe in Afghanis-
tan ist eine Folge der US-Sanktionen.
Dafür sind nicht wir verantwortlich,
sondern die internationale Gemein-
schaft, die Amerikaner. Das kommt
einer kollektiven Bestrafung unseres
Volkes gleich. Warum arbeitet die
internationale Gemeinschaft denn
nicht mit uns zusammen?
SPIEGEL: In Deutschland sind die
Menschen entsetzt über die Verlet-
zung und Einschränkung der Men-
schenrechte in Afghanistan, vor allem
gegenüber Mädchen und Frauen. Ist
das nötig?
Haqqani: Afghanen und Deutsche
verbindet eine über hundert Jahre
alte historische Beziehung. Während
der Verhandlungen der Taliban in
Doha haben die Deutschen eine be-
sonders positive Rolle gespielt, damit
wir zu einer friedlichen Lösung ge-
langen konnten, vor allem der deut-
sche Diplomat Markus Potzel. Des-
halb erwarten wir von den Deutschen,
dass sie sich auch künftig engagieren
und unsere Beziehung in der gewohn-
ten bilateralen Stärke erneuern. Und
Christian Werner / DER SPIEGEL
wir erwarten, dass die Deutschen
einen mutigen Schritt machen und
über kleine Probleme hinwegsehen,
um die Beziehungen zu verbessern.
SPIEGEL: Die Deutschen möchten ihre
Steuergelder an einem Ort investie-
ren, an dem Mädchen zur Schule ge-
Angehörige eines hen und auch Bürgerinnen ein selbst-
von Taliban ge- bestimmtes Leben führen können.
töteten Beamten:
»Es darf keinerlei Haqqani: Sie scheinen vergessen zu
Rache geübt werden« haben, wir selbst wurden von den
USA unter dem Vorwand der Men-
schenrechte angegriffen. Dabei sind
wir die wahren Fahnenträger der
Menschenrechte. Menschenrechte
Grenzenlose sind Teil unseres Glaubens. Unsere
Gräueltaten Religion kennt nicht nur Rechte für
Menschen, sondern sogar Tierrechte,
Terrorgruppen*, die für zum Beispiel, dass man Vögel nicht
die meisten Todesopfer aus sportlichem Ehrgeiz jagen darf,
im Jahr 2020 verant- sondern nur, wenn man sie auch isst.
wortlich waren
Deshalb haben wir die Amnestie aus-
Taliban (Afghanistan) gerufen, deshalb setzen wir uns für
7417 Gewaltfreiheit ein.
IS DR Kongo
SPIEGEL: Die Realitäten sehen doch
1435
ganz anders aus. Frauen werden ver-
haftet und gedemütigt, wenn sie für
IS Core (Algerien, Indo- ihr Recht auf Bildung und Berufstätig-
nesien, Irak, Russland,
Syrien, Jemen, Libanon) keit demonstrieren. Frauen und Mäd-
1434 chen werden zunehmend aus dem
öffentlichen Leben verbannt.
Al-Shabab (Somalia, Haqqani: Es gibt noch Probleme, aber
Kenia)
1393
wir werden all diese Probleme lösen.
SPIEGEL: Offenbar gibt es auch inner-
Boko Haram (Nigeria, halb der Taliban unterschiedliche
Kamerun, Tschad,
Niger) Auffassungen darüber, was Frauen
1286 künftig dürfen sollen. Die Haqqanis
gelten zwar als ultrakonservativ, aber
IS Westafrika
der Innenminister, Ihr Bruder, hat die
982
Beamtinnen seiner Behörde immer-
Codeco (DR Kongo) hin gebeten, ihren Dienst wieder auf-
658 zunehmen.
militante Fulani Haqqani: Die Dinge brauchen Zeit.
(Westafrika) Und bitte sagen Sie den Deutschen in
487 Ihrer Heimat, dass sie sich nicht im-
IS Mosambik mer nur um die Probleme der Frauen
(Mosambik, Tansania) kümmern sollen, sondern auch um
457 Männerrechte. Auch Männer leiden,
und sie machen schließlich doch mehr
* Wirkungsgebiete in
Klammern
als die Hälfte der Bevölkerung aus.
SPIEGEL: Herr Haqqani, wir danken
S Quelle:: Global Terrorism
Trends and Analysis Center Ihnen für dieses Gespräch. n
SPORT Kevin De Bruyne,
Manchester City

Das Fußball-Imperium
Fußballvereine der
City Football Group
seit 2008
seit 2019
Manchester
City Sichuan
England Jiuniu FC
seit 2013 China
seit 2014
New York Yokohama

11
Fußballklubs
City FC
USA
seit 2020
Lommel SK
Belgien
F. Marinos
Japan

weltweit ge-
hören mittler- seit 2020
weile zur City ES Troyes AC
Football Group. Frankreich
Mit Abstand
wichtigster Klub seit 2014
ist Manchester Melbourne
City, der aktuelle seit 2017 seit 2022 seit 2019 City FC
Meister in der Montevideo Palermo FC Mumbai Australien
englischen City Torque Italien City FC
Premier League. Uruguay Indien

IMAGO / PA Images
seit 2017
Girona FC
Spanien
S Grafik
◆

Die City Football Group ist der bedeutendste Investor im Profifußball, jetzt hat die Holding mit dem FC Palermo ihren elften Klub übernommen. Damit
ist die Firma in allen großen Märkten Europas vertreten – ausgenommen Deutschland, hierzulande macht die 50+1-Regel den Kauf von Vereins-
anteilen unattraktiv. Die City Football Group gehört zu drei Vierteln einem Unternehmen, das im Besitz der Herrscherfamilie des Emirats Abu Dhabi
ist. Weitere Anteile hält ein chinesischer Fonds. Vor drei Jahren hatte sich die amerikanische Beteiligungsgesellschaft Silver Lake eingekauft.

GUT ZU WISSEN
Warum verletzen sich so viele
Kinder beim Sport?
Rund eine Million Kinder in
Deutschland verletzten sich
zwischen April 2021 und März
2022 bei Sportunfällen, das
ergab eine repräsentative Um-
frage unter Eltern im Auftrag
der Stiftung Sicherheit im Sport.
»Wir hatten nicht mit einer
so hohen Zahl gerechnet und
waren erschüttert«, sagt der
Sportwissenschaftler David
Schulz. Die aktuellen Zahlen
könnten noch höher liegen, weil
die Umfrage in Coronazeiten
durchgeführt wurde, als der
Sport- und Spielbetrieb noch
(30 Prozent) und dem Vereins-
sport (17 Prozent). Besonders
überrascht waren die Fachleute
über die vielen schweren Ver-
letzungen, in 5 Prozent der
Fälle waren dauerhafte Schäden
zurückblieben, jährlich sind
mehr als 50000 Kinder und Ju-
gendliche davon betroffen.
Nach Angaben der Eltern
hätten 85 Prozent der Unfälle
vermieden werden können –
wenn die Kinder weniger Risi-
ko eingegangen und Sportanla-
gen sicherer wären, wenn es
mehr und besser ausgebildetes
»müssen für uns ein Hallo- zeigen, dass die Zahlen im
wach-Erlebnis sein«, sagt Verhältnis geringer sind.
Unfallexperte Schulz. Die Poli- Dort haben Kinder beim Ski-
tik müsse erkennen, wie groß und Radfahren und beim
das Problem ist, und dafür sor-
gen, dass Unfallprävention fes-
Rodeln öfter einen Sturzhelm
auf, Trampolins haben häufi-
ter Bestandteil der Ausbildung ger Sicherheitsnetze, mehr
zum Beispiel von Lehrern und Kinder tragen Schwimmhilfen.
Übungsleiterinnen werde. Auch In den Nachbarländern gibt
bei der Sicherheit von Sport- es Kompetenzzentren, die
stätten gebe es noch viel zu tun. sich um die Prävention von
Paralleluntersuchungen in Verletzungen in der Freizeit
der Schweiz und in Österreich bemühen.
Schulz will als Konsequenz
jedoch den Bewegungsdrang
nicht bremsen. »Kinder dürfen
nicht in Watte gepackt wer-
den«, es müsse aber die Zahl
der vermeidbaren Verletzun-
gen und der daraus resultieren-
den Dauerschäden reduziert
werden. Unfallprävention sei
immer auch Bewegungsförde-
Leo Preisinger

eingeschränkt war. Laut der Er- Personal zur Aufsicht gegeben rung: »Wer sich im Sport nicht
hebung ereigneten sich die meis- oder wenn Kinder Schutzaus- verletzt, bleibt ihm dauerhaft
ten Unfälle auf dem Spielplatz rüstungen etwa beim Skaten erhalten, bestenfalls ein Leben
(32 Prozent), gefolgt vom Schul- getragen hätten. Die Ergebnisse Skateboarder lang.« ULU

Nr. 28 / 9.7.2022 DER SPIEGEL 93

SPORT
»Ihr versaut uns die Frauen«
FUSSBALL Der »Islamische Staat« tötete und versklavte Tausende Jesiden. Die Überlebenden kampieren
in überfüllten Flüchtlingslagern im Nordirak. Ein deutsches Fußballprojekt will den
Mädchen und jungen Frauen dort ein wenig Ablenkung verschaffen. Für die ist es oft der letzte Halt.
n einem Dienstagmorgen im
A Juni, bevor die Sonne hoch am
Himmel steht und es unerträg­
lich heiß wird, streift sich Berevan
Sabry ein Sportshirt über, schlüpft in
eine lange Trainingshose und Turn­
schuhe. Sie bindet ihre aschblonden
Haare zu einem Zopf zusammen,
zieht sich ein Basecap auf und tritt
aus dem verwitterten Wohncontainer
eines Flüchtlingscamps im Norden
des Irak.
Zügig läuft sie ein paar Meter über
einen staubigen Weg und hofft, dass
schon jemand das Tor zu einem über­
dachten Sportplatz mit zwei netz­
losen Torpfosten aufgesperrt hat; der
Maschendrahtzaun um das Spielfeld
ist mit einem mannshohen grünen
Stoff umspannt – er soll gegen neu­
gierige Blicke schützen.
Zwei Stunden lang jagt Sabry
zusammen mit zwei Dutzend anderen
Mädchen und jungen Frauen einem
Ball hinterher, sie kreischen, klat­
schen, lachen. Zwei Stunden, in de­
nen Sabry und ihre Teamkolleginnen
Leid, Frust und die Angst vor der
Zukunft vergessen. In denen sie keine
Vertriebenen, sondern nur Fußballe­
rinnen sind. Sabry sagt: »Auf Diens­
tag warte ich die ganze Woche.«
Berevan Sabry, 18, ist eine nach­
denkliche Frau, die ihre Worte leise
und bedächtig spricht. Sie gehört zur
Religionsgemeinschaft der Jesiden,
deren historische Siedlungsgebiete im
heutigen Nordirak, in Syrien und der
Türkei liegen. In den Augen vieler
Muslime sind Jesiden Ungläubige,
weil sie keine heilige Schrift wie den
Koran besitzen und in Richtung Son­
ne beten. Über Jahrhunderte wurden
sie ausgegrenzt, verfolgt, getötet.
Wohin dieser Hass auf Jesiden
führen kann, erlebten Sabry und ihre
Familie am 3. August 2014, einem
Sonntag, als sie in ihrer Heimatstadt
Sindschar gegen drei Uhr morgens
von Mörsereinschlägen und den
Schüssen aus Maschinenpistolen ge­
weckt wurden. »Da wussten wir so­
fort, die Daisch sind hier«, sagt Sabry.
94 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022
»Daisch« ist eine arabische Ab­
kürzung für den IS, die Terrormiliz
»Islamischer Staat«.
Die Islamisten erschossen und ent­
haupteten jesidische Männer, die sich
weigerten, zum Islam zu konver­
tieren. Ältere Jungen wurden zum
Kriegsdienst gezwungen, Frauen und
Mädchen auf Märkten in Mossul oder
Tal Afar als Sexsklavinnen an IS­
Kämpfer verkauft. Insgesamt tötete
die Terrormiliz in jenem Sommer
etwa 5000 Jesiden und verschleppte
7000 Frauen und Mädchen, von
denen bis heute Tausende vermisst
bleiben.
Nur mit den Kleidern an ihrem
Leib, umgebundenen Wasserflaschen
und ein paar Dokumenten, so erzählt
Sabry, seien sie, ihre Mutter und ihre
Geschwister zum Sindschar­Gebirge
gelaufen. Sie quälten sich im Zickzack
bei mehr als 40 Grad Celsius hinauf,
am Wegesrand die Leichen der vor
Erschöpfung Zusammengebroche­
nen. Gegen den Hunger schlachteten
sie unterwegs ein Schaf, schliefen im
Freien am Boden unter Plastikplanen,
»mein Kopfkissen war die Schulter
meiner Mutter«, sagt Sabry.
Tagelang harrte die Familie völlig
TÜRKEI
Dohuk
IRAN
entkräftet mit anderen Vertriebenen
auf dem Berg aus, bevor ihnen auf der
Ladefläche eines Pick­ups zunächst
Autonome die Flucht nach Syrien und später in
Region Kurdistan
die Autonome Region Kurdistan ge­
Bagdad lang, wo sie monatelang in einer Bau­
ruine wohnte. Bis auf zwei vermisste
IRAK
Verwandte hätten alle überlebt. Sabry
nennt es ein »großes Glück«.
SAUDI-ARABIEN Seit mehr als sieben Jahren leben
500 km
sie und ihre Familie etwa 40 Auto­
minuten entfernt von der Stadt Do­
S Karte: OpenStreetMap
huk, in einem umzäunten Flüchtlings­
lager auf ödem Land, wo sich mehr
als 12 000 Menschen drängen. Wo oft
der Strom ausfällt. Wo im Sommer
die Hitze in den Containern steht und
im Winter die Kälte in jede Ecke
kriecht. Wo es nicht genügend Gas
zum Heizen gibt.
Was viele Menschen im Camp füh­
len, beschreibt ein arabischer Spruch,
den jemand mit schwarzer Farbe auf
eine dreckige Garagenplane gepinselt
hat: »Es ist ein Jammer, ein Land zu
bewohnen, in dem du nur vom Fort­
Organisatorin Tekkal:
»Ich wusste sofort,
gehen träumst.«
dass wir etwas Anfangs hat Sabry geglaubt, sie
tun müssen« würde bald wieder nach Sindschar zu­
rückkehren. Doch die Region ist nach
wie vor umkämpft. Ihr früheres Haus,
so erfuhr sie später, wurde bei einem
Luftangriff zerstört. »Unsere Heimat
ist wie ein verbrannter Baum«, sagt
Sabry. Im Camp, das unter anderem
von den Vereinten Nationen finanziert
wird, sei man vor Verfolgung sicher.
Vorerst zumindest.
Zum Aufwärmen auf dem Fußball­
platz lässt die Trainerin Sipal Rasheed,
26, die auch für das irakische National­
team antritt, die jungen Fußballe­
rinnen um das Feld traben, anschlie­
ßend Sprints machen. Rasheed ist
Muslimin, gehört also jener Religion
Christian Werner / DER SPIEGEL
an, die viel Unheil über die Jesiden
gebracht hat, aber das interessiert
keine der Sportlerinnen. »Sie ist die
Beste, die wir uns wünschen können«,
sagt ein kleines Mädchen, das noch
jung genug ist, kurze Hosen tragen zu
dürfen.
Christian Werner / DER SPIEGEL
Trainerin Rasheed (M.), Fußballerin Sabry, Mitspielerin Tekkal auf dem Sportplatz im Camp: »Berevan hat ihre Lebensfreude zurück«
Rasheed trägt einen glitzernden Haarreif
und eine Trillerpfeife um den Hals, sie gibt
den Fußballerinnen klare Anweisungen. »Hal-
tet die Position«, ruft sie bei einem Übungs-
spiel, »nicht alle gleichzeitig auf den Ball ge-
hen!« Rasheed sagt, es ergebe keinen Sinn,
die Spielerinnen im Schongang zu trainieren.
»Die merken das, und dann verlierst du ihren
Respekt.«
Sie vermeide es, die Mädchen nach ihren
Sorgen zu fragen, erzählt Rasheed, sie ge-
hörten nicht ins Training. Gerade den älteren
Spielerinnen falle es ohnehin schwer genug
abzuschalten. Einige fürchteten, für immer
im Flüchtlingslager bleiben zu müssen.
Nach dem Fußballtraining trottet Sabry
mit Schweiß auf der Stirn zurück zu ihrem
Wohncontainer, in dem ein brummender Luft-
kühler kaum für Erfrischung sorgt. An der mit
Blumenfolie verzierten Wand hängt ein Foto
ihres Vaters, ein früherer Polizist mit dickem
Schnauzbart. Er wurde von Terroristen er-
schossen, da war sie drei Jahre alt. Später
spielten sie und ihre Geschwister mit Wasser-
pistolen, wie sie die Täter zur Strecke bringen.
Im Container teilt sich Sabry rund fünf
Quadratmeter Wohnfläche mit ihrer Mutter,
Schwester und Tante, nebenan wohnt der
Bruder mit Frau und Kind. Manchmal wäre
sie gern mehr für sich, sagt Sabry und reicht
schwarzen Tee. Dann hockt sie sich neben
ihre Mutter im Schneidersitz auf den Teppich-
boden und beginnt zu erzählen, wie der Fuß-
ball in ihr Leben kam.
In den ersten Monaten im Lager sei sie oft
traurig gewesen, erzählt Sabry. Nachts habe sie
davon geträumt, dass IS-Kämpfer sie gefangen
nehmen. Bis vor nicht allzu langer Zeit litt sie
unter Schlaflosigkeit, fühlte sich morgens wie
erschlagen, der Kopf dröhnte. Stundenlang
habe sie am Boden herumgelungert und sich
bei Instagram in eine bessere Welt gewünscht.
»Du warst nicht die Berevan von früher«, sagt
ihre Mutter. »Du warst nur ihr Schatten.«
SPORT
So ist es vielen Jesidinnen ergangen.
»Die traumatischen Fluchterfahrungen und
die IS-Gefangenschaft machen viele Über-
lebende des Genozids depressiv«, sagt der
deutsch-kurdische Traumaexperte Jan İlhan
Kızılhan, 56. Betroffene litten häufig an post-
traumatischen Belastungsstörungen, Magen-
beschwerden, Kopf- und Rückenschmerzen.
Das liege auch an den fehlenden Perspek-
tiven.
Über Jahrhunderte lebten die Jesiden von
Ackerbau und Viehzucht, was in den Camps
nicht möglich ist. Viele können weder lesen
noch schreiben, die Arbeitslosigkeit ist hoch.
Immer mehr NGOs verlassen das Lager, vie-
le Bewohner fühlen sich vergessen. Eine poli-
tische Lösung ist nicht in Sicht.
»Die Suizidrate ist zuletzt gestiegen«, sagt
Kızılhan, »vor allem unter jungen Frauen, die
in der IS-Gefangenschaft vergewaltigt wur-
den.« Sie schnitten sich aus Verzweiflung die
Pulsadern auf oder schluckten eine Überdosis
Nr. 28 / 9.7.2022 DER SPIEGEL 95
SPORT
Tabletten, weil sie glaubten, nichts
mehr wert zu sein.
Kızılhan, der die meiste Zeit des
Jahres in Baden-Württemberg lehrt,
hat deshalb das Institut für Psycho-
therapie und Psychotraumatologie an
der Universität Dohuk gegründet.
Dort bildet er Therapeuten aus, die
Betroffene in den Lagern betreuen
sollen. Bei insgesamt 21 Camps in der
Region gleiche das einem aussichts-
losen Kampf. Den Fußball sieht er als
große Chance. »Er hilft, positive Ge-
danken in die Köpfe der Menschen
zu pflanzen.«
Was der Sport bewirken kann, er-
lebte Berevan Sabry vergangenen
Dezember, als Männer begannen, nur
wenige Meter neben ihrem Wohn-
container einen Sportplatz zu bauen.
Als eine der Ersten, schrieb sie sich
zum Training ein. Seither würde sie
am liebsten auch auf der Straße spie-
len, aber der einzige Ball, den sie
besitzt, ist platt.
Ihre Trainerin Rasheed sagt, Sabry
sei mittlerweile eine der besten Ab-
wehrspielerinnen im Camp. Eine, die
sich wenig über Fehler ärgere und ihre
Mitspielerinnen antreibe. »Fußball
hat sie selbstbewusster gemacht.«
Sabrys Mutter sagt, seit ihre Tochter
Sport mache, sei sie ein aktiverer
Mensch. »Berevan hat ihre Lebens-
freude zurück.«
Die Frau, die den Fußball in das
Camp brachte, heißt Tuğba Tekkal.
An einem Montag im Juni steht Tek-
kal, 37, in sandfarbenem Hemd und
Badeschlappen neben dem Sport-
platz und hievt aus einem Kleinbus
einen Koffer mit Fußballschuhen und
Trikots, auf denen der Name »Scoring
Girls« gedruckt ist. Es ist der Name
des Fußballprojekts, das Tekkal wäh-
96 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022
rend der Flüchtlingskrise zunächst
in Köln und später in Berlin eta-
blierte.
Neun Jahre lang war Tekkal Fuß-
ballprofi, spielte im Mittelfeld. Sie ist
eine resolute Frau mit schwarzen Lo-
cken. »Der Sport soll geflüchteten
Mädchen zeigen, dass sie etwas drauf-
haben. Dass sie nicht schwach sind.«
Und er solle ihnen ein Gefühl von
Selbstwert und Zugehörigkeit geben.
Tekkal selbst kannte lange Zeit
weder das eine noch das andere. Sie
ist die Tochter kurdisch-jesidischer
Gastarbeiter, die in den Siebziger-
jahren nach Deutschland kamen. Auf-
gewachsen in Hannover, als siebtes
von elf Kindern, brauchte sie eine
lange Zeit, um herauszufinden, wer
sie ist und wohin sie will. Bei den
Deutschen sei sie immer die Türkin
gewesen, bei den Türken die Kurdin.
Erst durch den Fußball habe sie zu
sich und ihrem Platz in der Gesell-
schaft gefunden, erzählt Tekkal.
Gegen den Willen der Eltern, die fan-
den, dass kurze Hosen und aufge-
schürfte Knie nichts für Mädchen
sind, kickte sie heimlich mit ihren
Brüdern. »Der Schweiß, das Gegröle
nach einem Tor – das war Freiheit.«
Für ihr Ballgefühl erntete Tekkal
auf dem Bolzplatz Respekt. Sie mach-
te eine Ausbildung zur Sport- und
Fitnesskauffrau, spielte beim Ham-
burger SV in der Bundesliga, fand ihr
Glück in der zweiten Liga beim 1. FC
Köln, bevor die Nachricht vom Geno-
zid an den Jesiden um die Welt ging.
»Ich wusste sofort, dass wir etwas tun
müssen«, sagt Tekkal.
Mit drei ihrer Schwestern gründe-
te sie Hawar.help, einen Verein, der
sich für die Rechte jesidischer Frauen
einsetzt und der im Camp von Be-
revan Sabry das Bildungszentrum
»Back to life« aufgebaut hat, in dem
Frauen Englisch lernen oder Compu-
terkurse belegen können. Seit ver-
gangenem Dezember ist Tekkal mit
ihrer Fußballinitiative auf dem Sport-
platz nebenan vertreten. Ein zweiter
Standort wurde kürzlich eröffnet.
Am zweiten Tag ihres Besuchs im
Camp bahnt sich Tekkal den Weg
zum Sportplatz, umringt von Mäd-
chen mit erwartungsfrohen Gesich-
tern. Als sie zeigt, wie man aus dem
Dribbling heraus schießt, wirft ein
kleiner Junge von außen eine Flasche
gegen den Zaun. »Die sind neidisch,
Christian Werner / DER SPIEGEL
dass die Girls hier kicken dürfen«,
sagt Tekkal.
Den organisierten Fußball für Mäd-
chen im Lager gibt es noch nicht lan-
ge. Auch in der Lokalpolitik gefalle
nicht jedem, dass ihr Projekt die Mäd-
chen auf den Sportplatz hole. »Ihr
Mädchen des versaut uns die Frauen«, heißt es öfter,
Fußballprojekts im erzählt Tekkal. Anfeindungen auf
Camp: Nicht nach
den Sorgen fragen Social Media seien nicht selten.
Der Andrang auf einen der bis zu
40 Plätze im dreimonatigen Fußball-
kurs ist groß, die Warteliste lang. Die
meisten jungen Frauen kennen nicht
viel mehr als Krieg, Vertreibung und
das Camp. Wenn die Mädchen Tekkal
fragen, wie es in Deutschland ist, ant-
wortet sie trotzdem: »In Kurdistan ist
es schöner.«
Am Nachmittag sitzt Berevan
Sabry in einem Klassenraum, vor ihr
ein kopiertes Physiklehrbuch, das mit
Klebeband zusammengehalten wird.
Im Chor wiederholt die Gruppe For-
meln. Keiner wendet seinen Blick
vom Lehrer, der in Socken vor einer
Tafel doziert.
Sabry nimmt Nachhilfe, um sich
auf ihren Abschluss vorzubereiten.
Sie wolle studieren, Ingenieurin in der
Ölindustrie werden. Vor allem wolle
sie raus aus dem Camp. Am liebsten
würde sie ins Ausland, aber das sei
beinahe so aussichtslos wie ihr frühe-
rer Traum von einer Karriere als
Künstlerin oder Musikerin.
Wenn Sabry nicht zur Schule
muss, steht sie morgens um vier Uhr
21
Flüchtlings-
auf, fährt mit dem Bus raus auf ein
Feld, wo sie bei sengender Sonne Kar-
toffeln erntet. Sieben Stunden lang
Bücken für umgerechnet vier Euro
camps am Tag. Sabry hasst diesen Job und
die Rückenschmerzen, die manchmal
für Jesidinnen so stark sind, dass sie nicht zum Fuß-
balltraining kann.
und Jesiden Sie habe gelernt, keine zu großen
gibt es in Erwartungen zu haben, sagt Sabry,
der Region nur eines wünsche sie sich. »Es wäre
schön, wenn meine Mutter mir einmal
um Dohuk im beim Fußballspielen zuschaut.«
Nordirak. Matthias Fiedler n

Mit Mamas
Geld zu Gold
SPORTFÖRDERUNG 254 Deutsche
kämpfen bei den World Games um
Medaillen. Für viele ist es der
Wettkampf ihres Lebens – und ein
Zuschussgeschäft. Denn staatliche
Unterstützung wird blockiert.
anupolo sei eine »spektakuläre Sport-
K art«, sagt Leonie Wagner. Wenn die
Spielerinnen oder Spieler in ihren Boo-
ten um den Ball kämpften, gebe es rasante
Duelle, schnelle Paddelsprints und viele Tore.
Die 25-Jährige hat mit ihrer Mannschaft,
dem PSC Coburg-Schney, bei den Finals in
Berlin den deutschen Meistertitel geholt. Ge-
paddelt wurde auf der Spree, um für die
Sportart zu werben. Nun geht es für die Sport-
studentin zum wichtigsten Wettkampf ihrer
Karriere, den World Games, die bis zum
17. Juli in den USA stattfinden. Nationalspie-
lerin Wagner hat große Ambitionen: »Wir
holen den Titel.«
In Deutschland wird man davon wenig mit-
bekommen. Bis zuletzt blieb offen, ob es
überhaupt Fernsehbilder der World Games
geben wird. Nun berichtet immerhin Sport1.
3600 Aktive aus mehr als hundert Ländern
werden in Alabama erwartet. Mit 34 Sport-
arten und 223 Wettbewerben gelten die World
Games als größtes Multi-Sportereignis nach
Kanupolospielerin Wagner: Rasante Duelle, viele Tore
den Olympischen Spielen. Sie finden stets ein
Jahr nach den Sommerspielen statt – und sind
quasi ein Gegenentwurf.
Es werden nur bestehende Sportstätten
genutzt. Während die Sommerspiele in Tokio
nach offiziellen Angaben 13 Milliarden Dollar
verschlungen haben, beträgt der Etat für die
World Games gerade mal 75 Millionen.
Zu sehen sind Sportarten, die nicht oder
nicht mehr zum olympischen Programm ge-
hören. So wie Kanupolo. Oder Tauziehen,
bis 1920 noch olympisch. Oder Renndrohnen-
fliegen, was mal olympisch werden könnte.
Vor allem unterscheidet sich die Welt der
Sportler. Denn ohne das Prädikat Olympia
fehlen sowohl Medienpräsenz als auch Spon-
soren, was eine Teilnahme an den World
Games für die Athletinnen und Athleten
schnell zu einem Zuschussgeschäft macht.
»Wir werden leider fast nicht unterstützt«,
sagt Wagner. Wenn sie zu internationalen
Turnieren fahre, müsse sie die Fahrkosten
selbst tragen und sogar ein Trikot kaufen.
Statt im Hotel werde im Zelt übernachtet.
Immerhin gibt es für die World Games eine
kostenlose Ausstattung. Die Kanutin hat zu-
dem das Glück, als eine von nur zwei deut-
schen Kanupolospielerinnen von der Sport-
hilfe ein paar Hundert Euro im Monat zu er-
halten. Trotzdem müsse sie neben ihrem
Studium noch arbeiten, um ihren Sport zu
finanzieren. Sie jobbt als Arzthelferin.
World-Game-Athleten dürfen nicht auf
Olympiastützpunkten trainieren, bestimmte
Sportschulen nicht besuchen. Eine Anstellung
im Förderkader von Zoll- oder Bundespolizei
bleibt ihnen verwehrt. Der Mangel macht sich
auch in Vereinen und Verbänden bemerkbar.
Es fehlt an Personal und Geld, um professio-
nelle Strukturen aufzubauen.
Der Olympische Sportbund behandelt die
Sportarten seit Langem stiefmütterlich. Laut
Satzung versteht sich der DOSB zwar als
Dachorganisation des gesamten Sports. Tat-
Dominik Asbach / DER SPIEGEL
SPORT
sächlich spielen World-Game-Athleten prak-
tisch keine Rolle. Nur drei Mitarbeitende
kümmern sich um die Anliegen der 28 nicht
olympischen Verbände.
Der Haushaltsausschuss des Bundestags
wollte diese Situation längst ändern. Um
knapp 10 Millionen Euro hob er 2019 die bis
dahin dürftige Förderung von gerade einmal
4,1 Millionen Euro jährlich an. Dies war wohl
maßgeblich Martin Gerster (SPD) zu verdan-
ken, bis 2014 war der Haushälter selbst Prä-
sident des Sportakrobatik-Verbands, eines
der betroffenen Verbände.
Der »massive Aufwuchs« habe nicht oben
auf der Prioritätenliste gestanden, räumte der
damalige DOSB-Präsident Alfons Hörmann
in einem Brief an einen Abgeordneten ein.
Wir können »uns jedoch vorstellen, die Mittel
zielführend, sachgerecht und zur Stärkung
der bislang vernachlässigten« Verbände ein-
zusetzen, schrieb er.
Zugleich erreichte Hörmann, dass auch die
Förderung der Olympioniken im ähnlichen
Umfang angehoben wurde – um die »Tekto-
nik im DOSB« zu bewahren. Dabei erhalten
die olympischen Sportarten im Vergleich fast
20-mal so viel Geld.
Das viel größere Problem der World Ga-
mer: Bis heute steckt ein Großteil der Mittel
im Verwaltungsdickicht fest. Gerade einmal
8,2 Millionen wurden 2021 in Anspruch ge-
nommen.
Nach Auffassung des Bundesinnenminis-
teriums fehlt es an der Fördergrundlage. Der
DOSB müsse begründen, wo ein »erhebliches
Bundesinteresse« an der Förderung von
Sportarten wie Faustball, Football oder La-
crosse liege. So wird etwa Beachvolleyball
(Olympia) finanziell unterstützt, während
Beachhandball (World Games) weitgehend
leer ausgeht.
Auch die Konzepte für zusätzliches Perso-
nal und neue Trainingsstützpunkte erschienen
den Ministerialen nicht akzeptabel. »Trotz
vielfacher Nachfrage« seien »keine konzep-
tionellen Grundlagen« entwickelt worden,
heißt es in einem Protokoll aus dem Frühjahr.
Es herrscht Stillstand.
Bis heute können sich DOSB und die be-
troffenen nicht olympischen Sportverbände
nicht einigen, wohin das Geld fließen soll.
Beispielhaft ist der Streit über den Aufbau
einer eigenen Geschäftsstelle, für die die
Abgeordneten 800000 Euro im Jahr sprin-
gen lassen wollten. Der DOSB beharrt da-
rauf, dass die Anlaufstelle unter ihrem Dach
entstehen muss. Also passierte erst mal:
nichts.
Immerhin, einen kleinen Erfolg konnten
die Funktionäre der nicht olympischen Ver-
bände erzielen. Ursprünglich sollte jeder Ak-
tive, der Deutschland bei den World Games
vertritt, einen Eigenanteil zahlen. Davon
wurde dann wieder Abstand genommen.
Zum Glück, sagt Leonie Wagner, »ich hätte
sonst meine Eltern fragen müssen, ob sie mir
das zahlen können«.
Michael Fröhlingsdorf n
Nr. 28 / 9.7.2022 DER SPIEGEL 97
WISSEN

Siphiwe Sibeko / REUTERS

Dieses Horn gehört zu einem betäubten Breitmaulnashorn, dem Artenschützer der südafrikanischen Peace Parks Foundation eine neue Zukunft
bescheren wollen. Insgesamt 19 Exemplare der seltenen Art reisten in den vergangenen Wochen von einem Wildnisgebiet in Südafrika aus in
den Zinave-Nationalpark in Mosambik. Über 1600 Kilometer erstreckte sich der Nashornumzug, der die Art weiterverbreiten und damit deren Zukunft
sichern soll. In den kommenden zwei bis drei Jahren hoffen die Artenschützer, mehr als 40 Breit- und Spitzmaulnashörner umsiedeln zu können.

verbrauchs von etwa 1000 Terawattstunden jährlich eingespart

Warum Kernenergie in der
Gaskrise nicht hilft
ANALYSE AKW könnten höchstens ein Prozent des
Erdgases ersetzen. Wer für die Laufzeitzeitver­
längerung streitet, muss andere Argumente finden.
Wer Atomenergie kritisch sieht, hat es gerade nicht leicht. Das
Europaparlament stufte diese Woche Atom- und Gaskraftwerke
in der EU-Taxonomie als klimafreundlich ein. Im Deutschen
Bundestag wurde über eine Laufzeitverlängerung hiesiger AKW
diskutiert. Die Gaskrise, heißt es, verlange dringend nach mehr
Atomstrom. Doch das ist ein Irrtum.
Die Meiler nämlich taugen nicht als Gaskraftwerkersatz. Eine
Studie des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft
weist für den Fall der Laufzeitverlängerung eine Reduktion der
Stromerzeugung aus Erdgas um nur rund drei Terawattstunden
aus. Bei einem 50-prozentigen Wirkungsgrad der Erdgasanlagen
könnten somit ernüchternde 0,6 Prozent des deutschen Erdgas-
werden. Auch ein Gutachten der Firma Energy Brainpool im
Auftrag des Ökostromversorgers Green Planet Energy kommt
jetzt zu einem ähnlichen Ergebnis. Ließe man alle drei noch akti-
ven deutschen Kernreaktoren weiterlaufen, könnten sie zu-
sammen im Jahr 2023 maximal rund ein Prozent des deutschen
Jahresverbrauchs einsparen, heißt es.
Der Befund kommt zustande, weil in Deutschland der Groß-
teil des Erdgases direkt verbrannt wird, etwa um Gebäude zu
heizen oder um hohe Temperaturen für die Lebensmittel- oder
Chemieindustrie bereitzustellen. Kraft-Wärme-Kopplungsan-
lagen, die Wärme und Strom herstellen, verbrauchen weitere rund
zwölf Prozent des Erdgases. Lediglich rund sieben Prozent
werden in Kraftwerken verbrannt, die wie AKW nur Strom be-
reitstellen und deshalb theoretisch durch Kernkraftwerke ersetzt
werden könnten. Allerdings haben auch diese sogenannten
Spitzenlast-Gaskraftwerke eine besondere Funktion im Energie-
markt. Sie springen sehr flexibel ein, wenn der Wind nicht
weht oder die Sonne nicht scheint. Kernkraftwerke sind für eine
solche Stabilisierung der Stromversorgung nicht geeignet, da
sie nicht oder sehr begrenzt innerhalb von wenigen Minuten hoch-
und heruntergefahren werden können. Philip Bethge

98 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022

 Werden Killermaschinen
verboten?
RÜSTUNG Die Kriegsparteien in der Ukrai-
ne setzen mutmaßlich autonome Waffen
ein, die in der Lage sind, vollautomatisch
Ziele anzufliegen und Menschen zu töten.
Militärexperten fürchten, dass damit
ein Uno-Abkommen immer unwahrschein-
licher wird, das solche Roboterdrohnen
international verbieten sollte. »Waffen, die
automatisch angreifen. Auf russischer Seite
sind Drohnen des Herstellers Kalaschnikow
vom Typ KUB-BLA im Einsatz, die ähn-
liche Fähigkeiten besitzen sollen. Fachleute
betrachten solche Systeme mit Argwohn,
weil sie keinen direkten Schießbefehl des
Menschen mehr benötigen. Bei den Verein-
ten Nationen wird deshalb seit Jahren dis-
kutiert, das Übereinkommen über konven-
tionelle Waffen (CCW) zu erweitern, um
solche Kampfmaschinen zu ächten oder zu-
zess blockieren. Am Ende brauche es
möglicherweise neue Gespräche außerhalb
des CCW, sagt Sauer. Eine erste Initiative
dazu gab es bereits im vergangenen Dezem-
ber nach einem ergebnislosen Treffen. Zu
den Staaten, die neue Verhandlungen ange-
regt hatten, gehörten auch europäische
Länder – unter anderem Deutschland. JOE
Switchblade-Drohne

Alexis Moradian / U.S. Marine / ZUMA Wire / IMAGO

selbstständig Ziele suchen, auswählen und
bekämpfen, sind längst auf dem Schlacht-
feld angekommen«, sagt Frank Sauer von
der Universität der Bundeswehr München.
Deren Ächtung sei damit in weite Ferne
gerückt. Auf ukrainischer Seite kommen so-
genannte Switchblade-Drohnen zum Ein-
satz, die von den USA geliefert wurden. Sie
können so programmiert werden, dass sie
Ziele mittels künstlicher Intelligenz selbst-
ständig auswählen und auch Menschen voll-
mindest zu regulieren. Doch bisher konnte
keine völkerrechtliche Einigung erzielt wer-
den. Ende Juli soll es in Genf nun erneut
Gespräche bei der Uno geben. Aber eine
Einigung werde immer unwahrscheinlicher,
sagt der Sicherheitsexperte Sauer. »An-
gesichts der verfahrenen Situation durch
Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine
erwarte ich in Genf gar nichts«, sagt er. Ge-
rade die großen Militärmächte wie Russ-
land, China und die USA würden den Pro-

sorgt. Aber es ist nicht so, dass Huss: Dieses Jahr ist es wirklich
»Dieses Jahr ist es wirklich alle Gletscher zusammenstür- dramatisch. Wir hatten an der
zen, nur weil gerade eine Hitze- Alpensüdseite sehr wenig
dramatisch« welle herrscht. Die Situation an Schneefall im Winter. Dadurch
der Marmolata hat sich über fehlt dem Eis die Schutzschicht.
Jahre, vielleicht sogar Jahrzehn- Außerdem gab es Hitzewellen
KLIMAWANDEL Der Glaziologe Matthias Huss, 42,
te aufgebaut. schon ab Mai, das hat den
Leiter des Schweizerischen Gletschermessnetzes SPIEGEL: Müssen wir mit weite- Schnee weiter reduziert. Wenn
Glamos, erklärt den Gletscherbruch in den Dolomiten. ren solchen Ereignissen rechnen? das Eis frei liegt, absorbiert es
Huss: Das ist eine schwierige wegen seiner dunkleren Farbe
SPIEGEL: Herr Tragisch ist, dass sich der Ab- Frage. Es gibt einige Gletscher mehr Sonnenlicht – und
Huss, hat Sie die bruch ausgerechnet an einem in den Alpen, die ganz ähnlich schmilzt durch die intensive
Nachricht vom Sonntag ereignet hat, als die aussehen, bislang jedoch Einstrahlung noch stärker. Und
Eisabbruch am Menschen auf dem Weg den nicht als gefährlich betrachtet im März hatten wir massive
Marmolata-Glet- Berg hinauf waren. Nur wenige wurden. Für mich zeigt das, Ablagerungen von Saharastaub
privat

scher überrascht?
Huss: Gletscherabbrüche sind
eigentlich nichts Besonderes.
Gerade in höheren Lagen pas-
siert das an Hängegletschern
sehr regelmäßig. Bei der niedri-
ger liegenden Marmolata gab es
aber bislang offenbar keine An-
haltspunkte, dass instabile Eis-
blöcke herunterfallen könnten.
SPIEGEL: Wie kam es zu dem
Abbruch?
Huss: Ich interpretiere die mir
vorliegenden Bilder so, dass
sich im unteren Teil dieses klei-
nen Gletschers eine Spalte
mit Wasser gebildet hat. Wäh-
rend des heißen Frühsommers
muss sich dort besonders viel
Wasser angesammelt haben.
Das Wasser konnte dann wohl
nicht abfließen. Irgendwann
Stunden zuvor wäre die Gegend
menschenleer gewesen.
SPIEGEL: Am nahen Berggipfel
wurde kurz zuvor ein Tempe-
raturrekord gemessen. Gibt es
einen Zusammenhang?
Huss: Natürlich. Die hohen
Temperaturen haben für beson-
ders viel Schmelzwasser ge-
wie wichtig die Überwachung in den Alpen. Dadurch kann
möglichst vieler Gletscher noch einmal weniger einfallen-
ist. Dann kann man rechtzeitig des Sonnenlicht zurückgestrahlt
Warnungen aussprechen, Alpin- werden.
routen sperren und not- SPIEGEL: Ist die Situation eine
falls sogar Dörfer evakuieren. Folge der Klimakrise?
SPIEGEL: In welchem Zustand Huss: Man darf Wetter und
sind die Alpengletscher ins- Klima nicht durcheinander-
gesamt? bringen. Einzelne Jahre unter-
scheiden sich in ihrem Wetter-
verlauf, das Klima beschreibt
das langfristige Mittel. Das ver-
gangene Jahr war zum Beispiel
nicht ganz so schlimm. Dieses
Jahr sieht es nun wieder
deutlich schlechter aus, so wie
übrigens auch in den Jahren
vor 2021. Die Klimamodelle
haben schon lange vorhergesagt,
dass wir eine Häufung von
Extremereignissen bekommen.
Und das ist es, was wir jetzt
ANSA / ZUMA Press / action press

wurde der Druck zu groß, die sehen. Wir müssten das Klima-
Eismasse wurde abgeschert. abkommen von Paris, also
SPIEGEL: Hatten die mindestens das 1,5-Grad-Ziel, voll einhal-
sieben getöteten Bergwanderer ten. Dann könnten nach un-
eine Chance? seren Berechnungen 40 Prozent
Huss: Nein. Innerhalb weniger Marmolata-Gletscher in den Dolomiten der Eismasse der Alpenglet-
Sekunden kam alles herunter. scher überleben. CHS

Nr. 28 / 9.7.2022 DER SPIEGEL 99

WISSEN
Der Untergang des Paradieses
KLIMAKRISE Das Schicksal einer idyllischen Insel im US-Bundesstaat Virginia zeigt, wie absurd viele
Amerikaner auf den Klimawandel reagieren. Tangier Island versinkt, die Bewohner wollen
von der wahren Ursache nichts wissen – und setzen auf Mauern, die auf Dauer nicht helfen werden.
on oben betrachtet, aus den
V Fenstern einer Propellerma­
schine, ist Tangier Island der
perfekte Ort für ein unbeschwertes
Leben. Im Hafen schaukeln Fischer­
boote auf den Wellen, das Wasser der
Chesapeake Bay schimmert in der
Sonne. Um die Holzhäuser liegen
sattgrüne Salzwiesen. In der Mitte der
Insel steht ein historischer Wasser­
turm.
Doch für die Menschen, die dort
wohnen, läuft die Zeit ab. Die Insel
ist dem Untergang geweiht, das Meer
nagt an ihrer Substanz. Nach und
nach rücken die Wellen weiter vor,
Salzwasser drückt durch den sandigen
Boden.
Tangier Island, mit seinen vorge­
lagerten Inseln nur rund drei Qua­
dratkilometer groß, wurde im 18. Jahr­
hundert von britischen Bauern be­
100 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022
siedelt und liegt zwischen den US­
Bundesstaaten Virginia und Mary­
land. Inmitten der größten Flussmün­
dung der USA, die auf den Atlantik
zuläuft. Haupteinnahmequelle ist die
Fischerei.
Die etwas mehr als 400 Einwohner
dürften schon bald zu Amerikas ers­
ten Klimaflüchtlingen zählen.
Der Anstieg des Wasserspiegels
hat dazu beigetragen, dass die Insel
seit 1850 mehr als zwei Drittel ihrer
Fläche verloren hat. Der Meeresbio­
loge David Schulte hat diese Zahlen
vor ein paar Jahren in einer Studie
errechnet. Wenn die Fluten nun im­
mer weiter ansteigen, so die Progno­
se des Wissenschaftlers, könnte Tan­
gier Island 2065 fast vollständig ver­
schwunden sein, unbewohnbar wird
das Eiland im schlimmsten Fall schon
innerhalb der nächsten 18 Jahre.
Greg Kahn / DER SPIEGEL
Im Kleinen wird auf Tangier schon
heute eine Frage verhandelt, die in
der nahenden Klimazukunft rund um
den Erdball immer drängender wird –
ob wegen zunehmender Hitzewellen
und Dürren, Wirbelstürmen oder des
Anstiegs des Meeresspiegels: Wie lan­
29,9
Zentimeter
ge lohnt es sich, gegen die vom Men­
schen angefachte Kraft der Natur auf­
zubegehren? Und ab wann muss man
sich anpassen und seine Heimat auf­
geben?
Einer, der noch kämpft, ist James
soll der Eskridge, 64 Jahre alt und Fischer wie
so viele Männer auf der Insel. Seit
Meeresspie- mehr als 15 Jahren ist er der Bürger­
gelanstieg meister von Tangier Island. Der Geg­
ner, den Eskridge vor Augen hat, ist
um Tangier allerdings ein anderer, als ihn For­
scher David Schulte sieht. Er sei kein
Island Wissenschaftler, sagt der Bürgermeis­
betragen. ter, aber ein genauer Beobachter. Er

sehe, wie die Insel schrumpfe, das Wasser die
Küste nach und nach abtrage.
»Mag schon sein, dass der Klimawandel
existiert. Ich glaube aber nicht, dass wir Men-
schen dafür verantwortlich sind. Kalte und
warme Winter, die hat es schon immer ge-
geben.« Eine Sichtweise, die zwar allen wis-
senschaftlichen Belegen widerspricht, die
aber noch immer Fürsprecherinnen und Für-
sprecher hat. Der ehemals mächtigste Mann
der Welt war einer von ihnen.
2017 haben die beiden telefoniert, Donald
Trump und er. Genauer: Der US-Präsident hat
ihn angerufen. Eskridge, ein Mann mit pfeffer-
kornfarbenem Schnauzbart und grau-blauen
Augen, stand mittags in der Küche und rührte
im Kaffee, als das Telefon klingelte: »Herr Bür-
germeister, hier ist das Weiße Haus. Wir haben
den Präsidenten für Sie am Apparat.«
Als das Untergangsszenario von Schulte
damals durch die Medien ging, äußerte Es-
kridge auf CNN seine Zweifel an der For-
schung. Trump jedoch, den liebe er »wie sei-
ne eigene Familie«, sagte er im landesweiten
Fernsehen. Der Angehimmelte versprach ihm
daraufhin am Telefon vollmundig »mehrere
Hundert Jahre« Sicherheit – mit einem für
ihn typischen Rezept: dem Bau einer Mauer.
Nach dem Gespräch, sagt Eskridge, sei alles
ganz schnell gegangen.
Auf Tangier Island fahren die Fischer schon
vor Sonnenaufgang raus, um Krebse und Aus-
tern zu fangen. Tagsüber sind die Straßen leer,
nur vereinzelt trifft man entlang der zwei
Hauptstraßen auf Insulanerinnen und Insu-
laner in Golfmobilen oder auf Fahrrädern. In
den Vorgärten vieler Häuser hier wehen
»Trump 2024«-Flaggen. Auf dem Wasserturm
in der Mitte der Insel prangt ein Kreuz. Reli-
gion ist hier so wichtig, wie schwimmen zu
können. Sonntags sind die Kirchenbänke voll
besetzt.
Wenn man sich umhört, bestreitet hier
kaum jemand, dass die Insel ein Problem
habe. Aber auf den Begriff für das, was nach
Kinder beim Footballspiel: Die Jüngeren müssen mit den Folgen leben
»Ich glaube, dass Gott auf
uns herabschaut und
uns beschützt, solange
wir hier sind.«
Susan Parks, Inselbewohnerin
den Analysen von Forscher Schulte den
Untergang der Insel maßgeblich vorantreibt,
reagieren die meisten Einwohner allergisch:
sea-level rise, Meeresspiegelanstieg. Auf Tan-
gier Island will man vom Klimawandel nichts
wissen.
Ed Parks, 86, Fischer im Ruhestand, sagt:
»Mit dem Anstieg des Meeresspiegels be-
schäftigen wir uns nicht. Die Erosion der
Insel, das ist das wahre Problem.«
Richard Pruitt, 81, ebenfalls früher Fischer
auf der Insel, sagt: »Erosion ist mein ganzes
Leben ein Thema hier. Gewaltige Fluten
hatten wir auch, als ich noch ein Kind war.
Ich sehe keinen großen Unterschied zu da-
mals. Vielleicht fehlen ein paar Zentimeter
hier oder da.«
Susan Parks, 67, und nicht näher verwandt
mit Ed Parks, sagt: »Ich gehe nicht davon aus,
dass wir noch einmal von hier umziehen. Ich
glaube, dass Gott auf uns herabschaut und
uns beschützt, solange wir hier sind.«
Doch früher oder später werden aus den
bebauten Bereichen unbewohnbare Feucht-
gebiete, auch Gott kann das nicht verhindern.
Ein nasser, sumpfiger Untergrund, vollgeso-
gen wie ein Schwamm. Gebaut werden kann
auf ihm nicht, schon vorhandene Häuser wer-
den dann selbst ohne Sturmflut Zentimeter
um Zentimeter einsinken.
»Die Mehrheit der Einwohner leugnet die
Auswirkungen, die der Klimawandel und der
Meeresspiegelanstieg auf die Insel haben«,
sagt der Gegenspieler von Eskridge, Wissen-
Greg Kahn / DER SPIEGEL
Bürgermeister Eskridge: Bei einer Tasse Kaffee mit Trump telefoniert
WISSEN
schaftler David Schulte, ein unaufgeregter
Typ mit Halbglatze und Henriquatre-Bart.
»Selbst wenn man Steine rundherum auf-
schütten und damit die Küste vor weiterer
Erosion schützen würde, wäre das keine
Langzeitlösung. Das Wasser drückt weiterhin
durch den sandigen Boden.«
Die Überzeugung der Inselbewohner,
nicht der menschengemachte Meeresspiegel-
anstieg, sondern die altbekannte Erosion
verursache die Schäden an ihrer Insel, zeigt
exemplarisch, wie schwierig es sein kann,
klimawandelbedingte Phänomene einer brei-
ten Bevölkerung zu vermitteln. Selbst wenn
sie ganz offensichtlich vor der eigenen Haus-
tür zu beobachten sind.
Der durchschnittliche globale Anstieg des
Meeres beträgt zurzeit mehr als drei Milli-
meter im Jahr. Das klingt geradezu lächerlich.
Was sind schon drei Millimeter, fragen sie hier.
Im Grunde: nichts. Zwei 1-Cent-Stücke über-
einandergelegt.
Für das empfindliche Ökosystem entlang
der flachen Küsten, für Fische und Pflanzen
ist dagegen jedes bisschen eine kleine Kata-
strophe.
Eine kürzlich von der US-Regierung ver-
öffentlichte Studie erwartet zudem, dass es
nicht bei den drei Millimetern pro Jahr bleibt.
In den kommenden 30 Jahren könnten die
Vereinigten Staaten laut der Nationalen
Ozean- und Atmosphärenbehörde einen ver-
gleichbaren Meeresspiegelanstieg erleben wie
in den vergangenen 100 Jahren, zwischen
25 und 30 Zentimetern.
Das eine gehe mit dem anderen einher,
sagt David Schulte bei einem Spaziergang
über die Insel. Der Meeresspiegelanstieg be-
schleunige die Erosion von Tangier Island.
Vergangenes Jahr erst hat er zusammen mit
seinem Sohn Zehao Wu eine neue Studie mit
frischen Berechnungen veröffentlicht. Für die
Insel verheißt sie nichts Gutes.
Die verschiedenen Szenarien, die Schulte
in der ersten Studie durchgespielt hat, der
Greg Kahn / DER SPIEGEL
Nr. 28 / 9.7.2022 DER SPIEGEL 101
WISSEN
wahrscheinliche Untergang der Insel bei we­
niger starkem, mittelstarkem und starkem
Anstieg des Meeresspiegels, bestätigen sich
auch sechs Jahre später – nur, dass es immer
wahrscheinlicher wird, dass die schlimmste
Variante eintreten wird. Den lokalen Gege­
benheiten angepasst, hat Schulte für die Che­
sapeake Bay um Tangier Island einen Anstieg
von 29,9 Zentimetern in den kommenden
30 Jahren errechnet.
Studien um Studien, sagen viele hier, hät­
ten sie gemacht. Getan habe sich jedoch kaum
etwas – egal wie man die Ursache nun nenne.
Es ist nicht so, dass David Schulte die Men­
schen nicht versteht. Er sitzt in Lorraine’s
Seafood Restaurant, am nördlichen Zipfel der
Insel. Mit Bürgermeister Eskridge ist er hier
zum Mittagessen verabredet. »Die Bewohner
sagen, dass die Insel zu Tode studiert wurde.
Eine gewisse Resignation kann man ihnen
nicht vorwerfen.«
Schon Ende der Achtzigerjahre kam Geld
für eine Seemauer auf der Westseite gegen
die Wellen, fertiggestellt wurde sie allerdings
jahrzehntelang nicht. Bis, ja bis der Bürger­
meister den Präsidenten am Telefon hatte.
»Nach dem Gespräch war der Rest der Mauer
in zwei Jahren fertig.«
Ob das wirklich allein auf Trumps Anwei­
sung hin passierte, kann niemand so richtig
sagen. Zwei Jahre sind allerdings eine kurze
Zeit, wenn man vorher Jahrzehnte warten
musste.
In Lorraine’s Seafood Restaurant stehen
die Stühle auf den Tischen. Die Tische wie­
derum sind in eine Ecke geschoben. Die letz­
te Sturmflut hat den Laden unter Wasser ge­
setzt. Jamie, die Tochter der Besitzerin, sagt,
dass der Schaden sie zwischen 8000 und
10 000 Dollar kosten werde.
Eskridge, Schulte und dessen Sohn sitzen
im Halbkreis, balancieren ihre Essensbestel­
lungen auf den Knien. Neben ihnen haben
Jodi Smith und ihr Mann Ron Kesner Platz
genommen, der Pilot und ein enger Freund
von Eskridge ist. Er hat die Gruppe nach Tan­
gier geflogen.
Kesner und Smith kommen seit vielen Jah­
ren auf die Insel. Vor einiger Zeit haben sie
mal überlegt, ein Ferienhaus auf Tangier zu
kaufen, sich dann aber dagegen entschieden.
Nur 39 000 Dollar hätte eine Bleibe im be­
drohten Paradies gekostet.
Würde man alle Bewohnerinnen und Be­
wohner umsiedeln wollen, wird im Stuhlkreis
erzählt, wäre das zwar teuer, aber theoretisch
machbar. 100 bis 200 Millionen Dollar wären
nötig, um alles abzumontieren, die Umzüge
zu organisieren und die kritische Infrastruktur
wie etwa das Klärwerk zurückzubauen. 250
bis 350 Millionen Dollar würden fällig, um
Tangier Island vor dem Untergang zu retten,
wozu man die bewohnten Teile der Insel
künstlich anheben müsste.
Viel Geld für ein Fleckchen Erde – vor
allem wenn man weiß, dass schon bald an
vielen weiteren Küstenorten ähnliche Ent­
scheidungen getroffen werden müssen.
102 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022
Nach dem Essen nimmt Bürgermeister Es­
Land unter kridge die Gruppe mit auf sein Boot. Die
Gebietsverlust von Tangier Island seit 1850 Nachmittagssonne strahlt, das Schiff zieht
ruhig durchs Wasser, ein leichter Wind weht.
Eskridge beschleunigt, die Häuser der Insel
werden schnell kleiner und kleiner.
New York
Die Kindheit auf der Insel sei unbeschwert
Washington, gewesen, sagt er. Über seinem Bett hingen
D.C.
Poster von den Eagles und Creedence
Küstenlinie Clearwater Revival, nach der Schule ging er
um 1850
mit Freunden schwimmen und angeln. Sein
Urgroßvater war der erste Fischer in der Fa­
milie. Auf Tangier helfe man sich gegenseitig,
Tangier sagt Eskridge. Wenn ein Fischer krank sei,
Island würden die anderen für ihn mitfangen, damit
er trotzdem Essen auf den Tisch bringen
könne.
An der ehemals bewohnten Nordspitze
ankert Eskridge. Alle gehen von Bord, den
Strand entlang. Hier gibt es keine Sandbänke,
USA
die die Wellen abfedern könnten. Sie klat­
schen gegen die schutzlose Küste. Die Ab­
bruchkanten, an denen die Insel stückweise
ins Wasser fällt, sind gut zu erkennen. Früher,
als das Land noch intakt war, erzählt Eskridge,
sei hier der alte Friedhof gewesen.
Und tatsächlich, ein paar verwaschene
Grabsteine mit Daten aus dem 19. Jahr­
hundert liegen dort herum. Die Inschriften
sind kaum noch zu erkennen. Irgendwann
wird das Meer sie vollständig verschluckt
haben.
Der fehlende Nachwuchs ist ein weiteres
Problem der Insel. Viele Jugendliche sind
weggezogen, aufs Festland. Bessere Jobs,
mehr Freizeitmöglichkeiten, mehr Sicherheit.
Andere sind noch da, wie Amanda Parks
und ihr Bruder Eli, beide Anfang dreißig. Eli
arbeitet auf einem Schiff, Amanda seit Kur­
zem in einem Restaurant auf der Insel.
»Es wäre schade, wenn es das alles hier
bald nicht mehr gäbe«, sagt sie. Aber bleiben,
das wollen beide nicht, vielleicht ahnen sie,
GOOGLE EARTH
1 km
dass das ohnehin nicht ihre freie Entscheidung
S Quelle: »Scientific Reports« sein wird. Eli träumt davon, als Kfz­Mecha­
◆
niker zu arbeiten. Amanda will eines Tages
als Ernährungsberaterin erfolgreich werden,
vielleicht nach Europa ziehen.
Auch das zeigt der drohende Untergang
von Tangier Island im Kleinen: Die Älteren
können es sich leisten, sich mit den Ursachen
der Katastrophe nicht zu befassen, sie gar zu
leugnen. Denn zu ihren Lebzeiten werden sie
mit den schlimmsten Auswirkungen kaum
mehr konfrontiert sein. Den Jüngeren ist das
nicht vergönnt, sie müssen mit den Folgen
leben.
Ed Parks, der 86 Jahre alte Fischer im
Ruhestand, der bis auf vier Jahre bei der Navy
sein ganzes Leben auf Tangier Island ver­
bracht hat, sagt: »Die Insel wird bestimmt in
20 oder 25 Jahren immer noch hier sein. Nur
Greg Kahn / DER SPIEGEL
bin ich dann schon lange weg.«
Die einzige Vorsorge, die er noch treffen
muss, gilt seiner Grabstätte. Die hat er sich
auf einem Friedhof etwas weiter weg schon
reserviert: drüben, auf dem Festland.
Meeresbiologe Schulte (r.), Sohn Daniel C. Schmidt n

Expeditionslabor in
Montenegro
Hobby auf
hohem Niveau
LAIENFORSCHUNG Sie sammeln Umweltdaten,
zählen Insekten oder finden sogar
unbekannte Arten: warum Amateure in der
Wissenschaft immer wichtiger werden.
ick de Vries ist Redakteur an
R der University of Applied
Sciences in Amsterdam – und
nun auch offizieller Mitentdecker
einer bislang unbekannten Nackt-
schneckenart. Im Durmitor-National-
park von Montenegro erspähte der
Niederländer das Weichtier in einer
Spalte des Kalksteinmassivs. Dunkel-
braun war es, knapp 20 Zentimeter
lang und zusammengerollt wie eine
Lakritzschnecke. »Ich dachte erst, das
wäre ein Pilz«, sagt de Vries, »aber
dann hat es sich bewegt.«
Im Juni erschien in einem Fach-
blatt für Biodiversitätsforschung der
Bericht über Limax pseudocinereo-
niger – so heißt die nahe Verwandte
des Schwarzen Schnegels. De Vries’
Name steht neben denen von Biolo-
ginnen und Biologen aus Italien,
Großbritannien und den Niederlan-
den. Für ihn hat sich ein Kindheits-
traum erfüllt. »Die Entdeckungen der
Naturforschung haben mich schon
immer fasziniert«, sagt er, »ich hätte
nie gedacht, dass ich mal selbst ein
Teil von so etwas sein könnte.«
Dabei stehen die Chancen dafür
gar nicht schlecht. Gerade mal zehn
Prozent der Tierarten, schätzt Evo-
lutionsbiologe Menno Schilthuizen
vom Naturalis-Biodiversitätszentrum
in Leiden, sind wissenschaftlich be-
schrieben. Wohl Hunderttausende
Spezies von Insekten, Pilzen, Spin-
nen und Wirbeltieren dürften bereits
ausgestorben sein, ohne dass der
Mensch sie je zur Kenntnis genom-
men hätte. »Wir müssen schneller
werden bei der Inventur der Arten«,
sagt Wissenschaftler Schilthuizen,
»ein Weg dazu ist, dass mehr Leute
mitmachen.«
Weil ihn auf seinen Exkursionen
mit Studierenden oft Interessierte
Clister Pangantihon
fragten, ob sie nicht auch an For-
schungstrips teilnehmen könnten,
organisiert Schilthuizen inzwischen
auch kommerzielle Expeditionen.
Dann machen sich Taxonomietouris-
ten wie de Vries zusammen mit Fach-
leuten für die jeweilige Fauna in Ita-
lien oder Montenegro auf die Suche
nach neuen Arten.
Wohl nur die wenigsten Menschen
würden Geld dafür ausgeben, zusam-
men mit Forschenden durch unweg-
sames Gelände zu stapfen und Schne-
cken oder Käfer zu suchen, könnte
man denken. Doch immer mehr Frei-
zeitwissenschaftlerinnen und -wissen-
schaftler sammeln ehrenamtlich Da-
ten für die Wissenschaft.
Der Boom zeigt sich am starken
Anstieg qualitativ hochwertiger Pu-
blikationen, an denen Amateure
beteiligt sind. In Hunderten soge-
P. Escoubas
nannten Citizen-Science-Projekten
Bislang unbekannter
in Europa sammeln Laien in ihrer
Umgebung Daten zu Wasserqualität,
Plastikmüll oder Lichtverschmut-
Schnegel: »Ich
dachte erst, das wäre zung, sie suchen auf Fotos aus dem
ein Pilz« Weltall nach unentdeckten Asteroi-
den, sie identifizieren, inzwischen oft
mithilfe von künstlicher Intelligenz
Vögel, Schmetterlinge, Spinnen, Kä-
fer, Würmer oder Fische, sie analy-
sieren Regenwasser oder zeichnen
Stadtlärm auf.
Nie war es so einfach, als Laie auf
hohem Niveau zu forschen. Schlaue
Forscher- Apps ersetzen taxonomisches Spe-
drang zialwissen, das Smartphone dient als
Messinstrument, und selbst Erbgut-
Citizen-Science- analysen sind nicht mehr wenigen
Veröffentlichungen Laboren vorbehalten. Bei de Vries’
laut der wissenschaft-
lichen Datenbank
Schnegel etwa konnte das Entdecker-
»Scopus« team noch während der Expedition
DNA-Vergleiche mit verwandten Ar-
nicht frei 2019: ten anstellen.
zugänglich 1995
Die Forschung profitiert davon,
frei dass Laien ihre Beobachtungen in
zugänglich
große Datenbanken einspeisen kön-
nen. »Citizen Science hat riesiges
Potenzial«, sagt Luigi Ceccaroni vom
1990: Umweltforschungsinstitut Earthwatch
57 Europe in Oxford. Er weiß: Bürger-
wissenschaften sind immer dann un-
S Quelle: David Roldán
schlagbar, wenn es darum geht, mit
relativ simplen Methoden große Men-
◆
Álvarez, CS Track
WISSEN
gen von Daten an vielen Orten der
Welt zu erheben, bei Biodiversitäts-
oder Ökoprojekten etwa. So liefern
Hobbyornithologen laut Ceccaroni
inzwischen rund 90 Prozent der
Daten zu Verbreitung und Migration
von Vögeln in Europa.
Vor Jahren hat der Umweltwissen-
schaftler die App Eyeonwater mit-
entwickelt. Damit können Freiwillige
Meerwasser oder Wasser in großen
Seen per Handyfoto analysieren und
ihre Daten teilen. Faktoren wie Far-
be und Transparenz lassen Rück-
schlüsse auf den Sauerstoffgehalt zu
oder darauf, ob das Wasser mit Öl
oder Algen kontaminiert ist. For-
schende können dann sehen, wie sich
die Wasserqualität im Laufe der Zeit
verändert.
Im Auftrag der Europäischen
Union hat Ceccaroni ein Schema er-
sonnen, mit dem sich jedes Projekt
nach festen Kriterien bewerten lässt.
Was bewirkt die Bürgerforschung je-
weils für Wissenschaft, Gesellschaft,
Umwelt, Wirtschaft und Politik? Ende
des Monats werden der Forscher und
sein Team die Open-Access-Plattform
Mics (Measuring Impact of Citizen
Science) für alle zugänglich machen.
Zeigt sich dann etwa, dass bei man-
chen Projekten die gesammelten
Daten wenig taugen, können die
Laienforscher besser in der Methodik
geschult werden.
Oft sind die aber begabter als an-
genommen, wie soeben eine Studie
im Chicagoer Field Museum ergab.
Dort soll das Museumspublikum zum
Beispiel bei der Vermessung von vie-
len noch kaum erforschten Arten von
Moosen helfen. Bei ersten Probe-
läufen konnten rund 60 Prozent der
Beteiligten die Messung korrekt
durchführen. Die Erfolgsquote lag
höher als erwartet, Kinder schnitten
ebenso gut ab wie Erwachsene.
»Wichtiger als für die Wissenschaft
insgesamt«, sagt Ceccaroni, »ist Citi-
zen Science für die Menschen, die sich
dabei engagieren.« Viele Bereiche
kämen zwar weiterhin ohne den Bei-
trag der Amateure aus. Doch Men-
schen, die Flora und Fauna um sich
herum erforschten, seien motivierter,
sich für deren Schutz einzusetzen.
Wer selbst ein neues Tier entde-
cken will, sagt Biologe Schilthuizen,
sollte sich auf eher eklige Spezies
konzentrieren. Würmer, Pilze oder
Fliegen seien auf den ersten Blick
wenig attraktiv, dafür gebe es in deren
Reich aber noch jede Menge unbe-
kannte Arten. »Vogelfreunde«, sagt
Schilthuizen, »haben wir schon mehr
als genug.«
Julia Koch n
Nr. 28 / 9.7.2022 DER SPIEGEL 103
WISSEN
Der teuerste Crashtest
der Welt
PHYSIK Nach dreijähriger Pause hat die Teilchenschleuder am Cern bei Genf
ihren Betrieb wieder aufgenommen. Gelingt den Forschern endlich der Aufbruch
in eine neue Physik – oder geht die Zeit der Superbeschleuniger zu Ende?
eit Dienstag lassen es die Physi-
S kerinnen und Physiker wieder
krachen am Forschungszentrum
Cern an der französisch-schweizeri-
schen Grenze. Mit Wucht schleudern
sie winzige Teilchen aufeinander und
hoffen, dass irgendetwas Neues dabei
herauskommt. 11 200-mal pro Sekunde
flitzen die Protonen durch die 27 Kilo-
meter lange Röhre des Ringbeschleuni-
gers LHC – nur um sich irgendwann in
gewaltigen Frontalcrashs zu zerstören.
Über drei Jahre lang herrschte Ex-
perimentierpause am Cern. Die Wis-
senschaftler und Ingenieure haben die
Instrumente repariert, gewartet und
verbessert. Sie haben die Detektoren
verfeinert, den Teilchenstrahl stärker
fokussiert und seine Energie gestei-
gert. Damit sei das »Entdeckungs-
potenzial« jetzt erhöht, ließ das Cern
verlauten. Das wird auch nötig sein.
Denn bisher fiel die Ausbeute am
LHC enttäuschend aus.
104 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022
Längst ist die Euphorie verflogen,
die bei der Inbetriebnahme vor zwölf
Jahren herrschte. Als »Kathedrale der
Physik« hatte Hans Magnus Enzens-
berger das Cern beschrieben, die For-
scher dort galten als Hohepriester der
Wissenschaft, die nichts Geringeres
versprachen, als die tiefsten Rätsel
des Universums zu lösen.
Tatsächlich verkündete das LHC-
Team nach nur zwei Jahren Regel-
betrieb, fast auf den Tag genau vor
zehn Jahren, seine große Entdeckung:
Es gelang der Nachweis des soge-
nannten Higgs-Bosons und damit des
letzten Bestandteils der bekannten
Materie. Die Physiker hofften, damit
werde nun der Vorstoß ins Neuland
beginnen. Sie rechneten fest damit,
dass sich ihnen im Sprühfeuer der zer-
platzenden Protonen eine Vielzahl
noch unbekannter Teilchen offenba-
ren werde. Doch so sehr sie sich auch
mühten, sie fanden nicht eines davon.
Wird jetzt, dank der Nachrüstung
von Beschleuniger und Detektoren,
endlich die ersehnte neue Physik
aufscheinen? Der nächste Experi-
mentierlauf, der bis zum Jahr 2025
angelegt ist, wird für die Cern-
Physikerinnen und Physiker zur
Schicksalsfrage. »Wenn sie jetzt
nichts finden, dann ist dieses For-
schungsfeld tot«, sagte der Teilchen-
Physiker Juan Collar von der Univer-
sity of Chicago dem Wissenschafts-
magazin »Science«.
Kein Zweifel: Die Hochenergie-
physik ist in Erklärungsnot geraten.
Mehr als drei Milliarden Euro hat der
Bau des LHC gekostet, das Jahres-
budget des Cern beläuft sich auf
1,2 Milliarden Franken. Für Antwor-
ten auf die Rätselfragen des Univer-
sums ist das nicht viel Geld; dafür, nur
vergebens nach solchen Antworten
Julien Marius Ordan / CERN
zu suchen, jedoch eine Menge.
Hinzu kommt die Frage, ob es
nicht eine Verschwendung von Talen-
ten ist, wenn Tausende hochbegabte
Physiker ihre Zeit damit verbringen,
mit großem Aufwand nichts zu
finden. Die Namen aller an einem
LHC-Experiment beteiligten Wissen-
schaftlerinnen und Wissenschaftler
aufzulisten, ist umfänglicher als eine
SPIEGEL -Titelgeschichte. Sollten die-
se Besten der Besten in einer Zeit, in
der die Welt aus den Fugen gerät, ihre
Begabung nicht dringlicheren Auf-
gaben widmen?
Über viele Jahrzehnte war das
Verfahren, mit dem Physiker den
Geheimnissen der Materie auf den
Grund gingen, ebenso simpel wie ef-
fizient: Sie beschleunigten geladene
Teilchen – bevorzugt Elektronen,
Protonen oder auch Positronen – auf
immer höhere Energien und ließen
Teilchendetektor am
Cern: Die Hochener-
giephysik ist in
Erklärungsnot geraten
sie dann aufeinanderkrachen. Mit ge-
eigneten Detektoren fingen sie die
beim Crash entstehenden Splitter auf
und suchten darunter nach solchen,
die ihnen noch unbekannt waren.
Man mag diese Methode einfalls-
los finden, doch der Erfolg gab den
Physikern recht. In den 1940er-,
1950er- und 1960er-Jahren bescherte
die Natur ihnen fast unerschöpflich
Neues. Pionen, Sigma-, Omega-, Del-
1,2
Milliarden
ta-Teilchen – bald waren es so viele,
dass man von einem ganzen »Teil-
chenzoo« sprach. Die Theoretiker
hatten arge Mühe, Ordnung in den
Wirrwarr zu bringen.
Franken In den 1970er-Jahren schließlich
gelang ihnen das. Die Quintessenz
umfasst ihrer Erkenntnis: Die Welt besteht
das Jahres- aus insgesamt 12 verschiedenen
Quarks, Elektronen und Neutrinos,
budget die vermittels insgesamt 13 verschie-
des Cern. dener sogenannter Bosonen auf-

einander einwirken. Diese Wechselwirkungen
beschrieben die Forscher mithilfe mathema-
tischer Gleichungen, die alles in sich vereinen,
was die Welt der Teilchen zu bieten hat. Die-
ses »Standardmodell der Teilchenphysik« gilt
bis heute.
Doch je höher die Kollisionsenergie, desto
mühseliger wurde die Suche. Immer seltener
ließen sich neue Teilchen blicken, und so
waren die Physiker froh, als bis zum Jahr
2000 endlich auch das Top-Quark und
das Tau-Neutrino entdeckt waren. Die Teil-
chen des Standardmodells waren damit kom-
plett – alle bis auf das letzte, das 13. der Bo-
sonen. Es war zugleich das massereichste und
eigenartigste von ihnen: das Higgs-Boson.
Als dann die LHC-Physiker die Signatur
auch dieses Teilchens in ihren Daten fanden,
durften sie es als Triumph feiern. Sie hatten
dem Standardmodell gleichsam die Krone
aufgesetzt. Nur ein Jahr später wurde die Ent-
deckung mit dem Nobelpreis geadelt.
Und doch war das Higgs für die LHC-Ge-
meinde nur die Pflicht. Die Kür sollten neue
Teilchen sein. Solche, für die sich kein Platz
im Standardmodell findet. Solche, die eine
neue Physik begründen sollten. Stattdessen
jedoch stießen die Forscher in eine teilchen-
lose Ödnis vor, und niemand weiß, wie weit
diese Wüste noch reicht.
Es mag erstaunlich anmuten, dass sich die
Physikerinnen und Physiker nicht mit der Ent-
deckung des Higgs-Teilchens begnügen mö-
gen. Warum reichen ihnen die Wunder-
formeln des Standardmodells nicht, die doch
alles umfassen, was es in der Welt der Teilchen
zu beobachten gibt? Ob Kernspintomograf,
Laser, Atombombe oder radioaktiver Zerfall:
All das lässt sich mithilfe des Standardmodells
erklären.
Doch die Physiker wollen mehr, und sie
haben recht, mehr zu wollen. Denn so unfehl-
bar die Formeln des Standardmodells auch
bei der Beschreibung der Mikrowelt sind, so
kläglich versagen sie dabei, die Welt als Gan-
zes zu erklären. Zum Beispiel gilt es inzwi-
schen als erwiesen, dass rund 80 Prozent der
Materie des Universums aus unsichtbarer so-
genannter dunkler Materie besteht, und die-
se kommt im Standardmodell der Teilchen-
physik nicht vor. Eine Theorie aber, die vier
Fünftel des Universums verleugnet, kann
nicht vollständig sein.
Ein anderes Problem betrifft die Anti-
materie. Im Standardmodell ist sie das exakte
Gegenstück zur Materie: Zu jedem Teilchen
gibt es ein Antiteilchen, das ihm in all seinen
Eigenschaften gleicht, nur dass seine elektri-
sche Ladung ein umgekehrtes Vorzeichen hat.
Tatsächlich ist die exakte Entsprechung von
Materie und Antimaterie genau das, was die
Teilchenphysiker beobachten. Kein Experi-
ment, das sie bisher durchgeführt haben, steht
im Widerspruch zu dieser Symmetrie.
Und doch sieht die Wirklichkeit anders
aus. Denn wäre die Symmetrie zwischen
Materie und Antimaterie wirklich perfekt,
dann hätten sich beide schon kurz nach dem
WISSEN
»Wenn sie jetzt nichts Die Hoffnung, mit diesem Beschleuniger
wirklich neue Teilchen zu finden, ist inzwi-
finden, ist dieses schen gedämpft. Für wahrscheinlicher halten
Forschungsfeld tot.« es die meisten Physiker, dass sie auf Hinwei-
se stoßen werden, die auf das indirekte Wir-
Juan Collar, Teilchenphysiker ken solcher Teilchen schließen lassen. In der
Tat gibt es erste Messdaten, die darauf hin-
deuten, dass sich Risse im Gefüge des Stan-
dardmodells auftun. Wenn alles nach Wunsch
verläuft, dann werden die Forscher mithilfe
Urknall wechselseitig vernichtet. Das heutige des nachgerüsteten LHC diese Hinweise ge-
Universum wäre öd und leer, bestehend nauer studieren können.
nur aus inzwischen erkalteter Strahlung; Möglich ist allerdings auch, dass sich diese
Materie – Galaxien, Sterne, Planeten – gäbe Indizien als bloße Schimäre erweisen, und
es nicht. Mit anderen Worten: Das Stan- dass die Cern-Physiker am Ende des kom-
dardmodell beschreibt zwar präzise das Ver- menden dreijährigen Experimentierzyklus
halten aller Elementarteilchen, doch vermag wieder mit leeren Händen dastehen. In einem
es nicht zu erklären, dass es diese überhaupt solchen Fall wäre es kaum mehr vorstellbar,
gibt. dass sie noch Geldgeber für ihren Wunsch-
Solche Mängel zeigen, dass das Standard- traum eines LHC-Nachfolgers finden werden.
modell unvollkommen ist; dass es eine Physik 100 Kilometer lang soll der Tunnel dieses
jenseits der bekannten Formeln geben muss. »Future Circular Colliders« (FCC) sein, auf
Und diese neue Physik wollen die Cern-For- 20 Milliarden Euro werden die Baukosten
scher finden. geschätzt.
Sie sind überzeugt davon, dass die Wahr- Doch wenn dieser Traum platzt, was dann?
heit irgendwo jenseits der Teilchenwüste liegt, Dass die Physiker aufgeben, ist auszuschlie-
die sich im Energiebereich oberhalb des ßen. Sie betrachten es als ihren Auftrag, die
Higgs-Bosons auftut. Die Frage ist nur: Wird Rätsel der Materie zu knacken. Diese für un-
das brachiale Zertrümmern von Teilchen mit lösbar zu erklären, käme einem Scheitern
immer größeren Schleudern wirklich ins ge- ihrer Wissenschaft gleich.
lobte Land der neuen Physik führen? Der Also würde ihnen nichts anderes übrig blei-
nächste Experimentierzyklus des LHC wird ben, als nach anderen Wegen zu suchen, wie
es zeigen. sich die Teilchenwüste durchqueren lässt –
wie praktisch, dass sie so gut im Überwinden
scheinbar unüberwindlicher Hindernisse sind.
Zum Beispiel tüfteln einige derzeit an Ver-
fahren, wie sich Elektronen auch auf sehr
kurzen Wegstrecken mit extrem hohen Ener-
gien aufpumpen lassen. Noch steht die Ent-
wicklung am Anfang, doch falls sich das Prin-
zip der sogenannten Kielfeld-Beschleuniger
bewährt, könnte dies ein Weg sein, wie sich
bis ins FCC-Terrain vordringen lässt, ohne
einen Gutteil des Juragebirges nahe dem Cern
Maximilien Brice / CERN
untertunneln zu müssen.
Eine andere Möglichkeit besteht darin, auf
kosmische Experimente zurückzugreifen. In
Neutronensternen, Supernova-Explosionen,
schwarzen Löchern und besonders im Urknall
Arbeit an Strahlrohr des LHC
selbst ist Materie Extrembedingungen aus-
gesetzt, wie sie sich in keinem irdischen Labor
herstellen ließen. Die immer leistungsstärke-
ren Teleskope der Astrophysiker erlauben
es, die Vorgänge in diesen natürlichen Labo-
ren in immer größerer Detailgenauigkeit zu
studieren.
Tatsächlich hat sich die Astronomie in den
vergangenen Jahren zu einer Art Leitwissen-
L. Taylor / T. McCauley / CMS Collaboration
schaft für die Teilchenphysik entwickelt. Es
zeigt sich: Antworten auf viele Fragen zur
Welt der Quarks und Neutrinos sind am Him-
mel zu finden. Schon in der nächsten Woche
werden die Astronomen erneut unter Beweis
stellen, wie rasch ihre Erkenntnisse derzeit
fortschreiten: Am Dienstag wollen sie die
ersten Aufnahmen des neuen »Webb«-Welt-
raumteleskops präsentieren.
Higgs-Teilchen-Zerfall (Computerdarstellung) Johann Grolle n
Nr. 28 / 9.7.2022 DER SPIEGEL 105
WISSEN
Rabiate Methode
GASFÖRDERUNG Kann das umstrittene Fracking Deutschland vor dem Gasnotstand bewahren? Jahrelang
galt es als zu gefährlich und zu schmutzig – doch die Technik hat sich weiterentwickelt.
Und theoretisch liegt unter der Republik genug Gas für fast 30 Jahre. Es gibt jedoch einen Haken.
as »Zeitenwende« bedeutet, das zeigt
W sich auch in der Nordsee. Nahe der
Urlaubsinsel Borkum liegt in nieder-
ländischen und deutschen Gewässern ein Gas-
feld in bis zu vier Kilometern Tiefe. Ingenieu-
re haben es »N05-A« genannt, hier wären 7,5
Milliarden Kubikmeter Erdgas zu holen, nicht
übermäßig viel, aber immerhin. Und wahr-
scheinlich liegt in der Umgebung noch mehr.
Soll dieser Schatz gehoben und zwischen
beiden Staaten geteilt werden? Die Nieder-
lande nutzen bewusst auch kleine Vorkom-
men, um von Importen weniger abhängig zu
sein. Der niedersächsische Landtag hingegen
sprach sich im Oktober 2021 klar gegen das
Gasprojekt aus.
Politiker, Inselbewohner und Umweltver-
bände waren sich einig: So dicht am National-
park Wattenmeer wollten sie keine Förder-
anlagen dulden müssen; warum auch, auf
billiges russisches Pipelinegas war ja Verlass.
Dann kam der Krieg – und nun ist alles
anders: Nur Wochen später kassierte das Lan-
desparlament in Hannover seinen noch fri-
schen Entschluss.
Jetzt ist das Nordseegas hochwillkommen,
vielleicht schon ab Ende 2024 soll es die gro-
ße Gasnot lindern helfen, zumindest ein biss-
chen: Über eine Milliarde Kubikmeter könn-
ten die Gasfelder vor Borkum dann jährlich
für Deutschland produzieren. Zum Vergleich:
Der Jahresbedarf hierzulande liegt bei mehr
als 90 Milliarden Kubikmetern.
Darüber, woher der große Rest kommen
soll, ist in den vergangenen Wochen in
Deutschland eine Diskussion entbrannt. Weil
Putin jederzeit den Gashahn zudrehen kann,
soll neu gedacht werden. Noch vereinzelt
zwar, aber zuletzt deutlich hörbar, fordern
einige nun, in das als riskant geltende Fra-
cking einzusteigen, die unkonventionelle För-
derung von Erdgas mithilfe von Chemikalien,
die in die Böden gepresst werden. Aus Angst
vor Verunreinigung des Grundwassers wurde
die Technik in Deutschland bislang abgelehnt.
Politiker wie der grüne Wirtschaftsminister
Robert Habeck konzentrieren sich vorerst
noch auf die Suche nach potenten Gasliefe-
ranten im Ausland. Bundeskanzler Olaf
Scholz (SPD) denkt sogar darüber nach, die
Erschließung der Gasfelder etwa vor dem Se-
negal mit deutschem Geld zu unterstützen.
Im Eiltempo werden an der Nordseeküste
Deutschlands erste provisorische Terminals
106 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022
für den Import von Flüssiggas aus Übersee
errichtet. Die schwimmenden Anlagen sollen
rasch durch stationäre ergänzt oder ersetzt
werden. Frühere Bundesregierungen haben
eine solche Infrastruktur stets für unnötig und
viel zu teuer gehalten – während Nachbar-
staaten wie die Niederlande, Belgien, Frank-
reich oder Polen schon vor Jahren gebaut
haben, was Deutschland jetzt so schmerzlich
fehlt.
Das rettende Flüssiggas kommt allerdings
mit einem Makel daher: Wichtigster Lieferant
dürften die USA werden, die ihr Gas vor allem
mit der verpönten Fracking-Fördertechnik
gewinnen. Durch den Wechsel des Handels-
partners würde Deutschland schlagartig zum
Fracking-Großkunden aufrücken.
Die USA haben eindrucksvoll belegt, dass
die Methode zwar tatsächlich riskant ist, aber
eine zuvor ungeahnte Energiesicherheit ver-
leihen kann.
Noch um 2006 war das Riesenland zuneh-
mend auf Energieimporte angewiesen. Mitt-
lerweile fördern die USA so viel Gas, dass sie
es in mehr als 40 Staaten exportieren können.
Reserven unter Tage
Frackinggebiete für Erdgas in Deutschland
Mecklenburg-
Vorpommern
Niedersachsen
folgt
Nordrhein-
Westfalen
fi k
Gra Schiefergasressourcen*:
technisch förderbare
zwischen
320 und 2030
Mrd. Kubikmeter
zum Vergleich deutscher
Jahreserdgasverbrauch:
ca. 90 Mrd.
Kubikmeter
Baden-
Württemberg
* in einer Tiefenlage von 1000 bis 5000 Metern, Schätzung
S Quelle: Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe
◆
Fracking hat die Gaspreise in den USA sinken
lassen, es hat entlegenen Regionen Jobwun-
der verschafft und zahlreiche Landbesitzer
reich gemacht.
Dieser Erfolg lässt manchen jetzt neidisch
werden. Bayerns Ministerpräsident Markus
Söder (CSU) etwa oder FDP-Vize Wolfgang
Kubicki rufen dazu auf, dass auch Deutsch-
land angesichts der Gaskrise in das Fracking
einsteigen solle. Ähnlich hat sich Michael
Hüther eingelassen, der Chef des Instituts der
Deutschen Wirtschaft. Der Beschluss des EU-
Parlaments, Investitionen in Erdgas (und
Kernkraft) als nachhaltig einzustufen, dürfte
weitere Begehrlichkeiten wecken.
Tatsächlich könnte sich die Fördermetho-
de auch hierzulande lohnen: Vor allem in
Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen,
aber auch in Baden-Württemberg birgt der
Untergrund nach Schätzungen von Geologen
theoretisch mehr als 2 Billionen Kubikmeter
Schiefergas – genug, den derzeitigen Bedarf
der Nation mindestens 25 Jahre lang zu decken.
In Deutschland hat Fracking allerdings
einen desaströsen Ruf. Wo immer vor mehr
als zehn Jahren erste Probebohrungen auch
nur angedacht wurden, formierten sich schnell
Bürgerinitiativen, um diese zu verhindern.
Die Kritiker haben sich durchgesetzt: Seit
2017 ist das sogenannte unkonventionelle
Fracking gesetzlich verboten, kein Unterneh-
men in Deutschland hat es je angewandt.
Die Fördermethode gilt vielen als rabiat
und unberechenbar. Beim Fracking wird eben
keine Gasblase unter Tage angestochen. Viel-
mehr wird ein Gemisch aus viel Wasser, Sand
und Chemikalien unter sehr hohem Druck
durch ein Bohrloch in Hunderte bis Tausende
Meter Tiefe gepresst. Der Strahl zertrümmert
Kohleflöze, dichtes Schiefer-, Mergel- und
Tongestein. Durch die vielen dabei entste-
henden Risse kann Erdgas nach oben strö-
men, das seit Jahrmillionen im Gestein ein-
geschlossen war.
Die Methode hat bereits zu lokalen Erd-
beben geführt und zu massiven Freisetzungen
des klimaschädlichen Methans, des Haupt-
bestandteils von Erdgas. Die verwendeten
Chemikalien gelten zum Teil als krebs-
erregend, sie könnten zudem, wie Kritiker
fürchten, durch die vielen neuen Risse auch
das höher gelegene Grundwasser erreichen.
Oben am Bohrloch kommt nicht nur das
aufsteigende Gas an, sondern auch die mit

Druck von oben
Neben der konventionellen Erdgasförderung
können Gasvorkommen in sehr dichten
Gesteinsschichten, z. B. Schiefer, durch
Fracking erschlossen werden.
1 Hierfür werden von einer Bohrstelle
in der Tiefe die Bohrungen in mehrere
Richtungen horizontal abgelenkt.
2 Zunächst werden Wasser, Sand und
Chemikalien in das Bohrloch gepresst.
Der hohe Druck öffnet Risse und Klüfte
im Gestein, die durch den Sand offen
gehalten werden.
3 Der Großteil des Wassergemischs
strömt nach der Druckentlastung zurück
an die Oberfläche, und das Gas kann
gefördert werden.
S Grafik
◆
allerlei Schadstoffen belastete Fra-
ckingflüssigkeit. Diese muss aufwen-
dig aufgefangen und gereinigt wer-
den, damit sie nicht in die Natur ent-
weicht.
Die Liste der Gefahren hat in vie-
len europäischen Ländern Eindruck
gemacht. Auf dem dicht besiedelten
Kontinent scheuen die Menschen Ri-
siken, die in den Weiten Amerikas
eher akzeptabel erscheinen. Dort
frackt man erst und schaut dann auf
die Umweltfolgen – hier ist es um-
gekehrt. Nicht nur Deutschland, auch
die Niederlande, Frankreich und
Großbritannien haben sich prinzipiell
gegen diese Art der Gasgewinnung
entschieden.
Die Bundesregierung hat sich al-
lerdings ein kleines Fenster zur Neu-
bewertung der Streitfrage offengehal-
ten. 2018 hat sie ein kaum bekanntes
Fachgremium eingesetzt. Es sollte auf
Basis eigener Studien und der wissen-
schaftlichen Literatur die wahren Ri-
siken der Technik erkunden.
Die sechs Männer und Frauen von
der »Expertenkommission Fracking«
haben vergangenes Jahr ihren Ab-
schlussbericht fertiggestellt. Auf sei-
ner Grundlage sollte der Bundestag
eigentlich noch 2021 prüfen, ob er das
Fracking-Verbot beibehalten will. Die
Fachleute unter Vorsitz der Potsda-
mer Geophysikerin Charlotte Kraw-
czyk haben pünktlich geliefert – nur
stieß ihr Werk im Parlament bislang
auf wenig Interesse, was auch daran
liegen mag, dass vor dem 24. Februar
kaum ein Politiker das F-Wort in den
Mund nehmen mochte.
Die wichtigsten Erkenntnisse der
Experten: Die Gefahren des Frackings
seien bei hinreichender Sorgfalt auf
ein Minimum reduzierbar, wenn auch
ein Restrisiko immer bleibe. Die Tech-
Grundwasserspiegel
undurchlässige
Gesteinsschicht
500 m
konventionelle Erdgasvorkommen,
z. B. im Sandstein
2 3
1 Risse
1000 m
gashaltiges, Bohrloch
dichtes Gestein,
z. B. Schiefer
nologie habe im vergangenen Jahr-
zehnt große Fortschritte gemacht. Die
mittlerweile eingesetzten Fracking-
Chemikalien seien weniger giftig,
außerdem würden geringere Mengen
davon benötigt. Inzwischen werden
die meisten Fracking-Flüssigkeiten
schon aus Kostengründen aufbereitet
und wiederverwendet.
Mittlerweile bohren die Firmen
nicht nur nach unten, sondern von
dort aus in oft Dutzenden Abzwei-
gungen auch kilometerweit seitwärts.
Während vor einigen Jahren noch un-
bekannt war, wie weit die Risse rei-
chen und welche Schäden sie auslösen
würden, scheint nun klar: Der Erfah-
rungsschatz aus mehr als zwei Millio-
nen »Fracs« allein in den USA ermög-
licht es, die Rissentwicklung mithilfe
von Sensoren und Modellen vorher-
zusagen und zu steuern.
Zwei Voraussetzungen für sicheres
Fracking benennt die Kommission:
Die Auswahl geeigneter Standorte er-
fordert viel Vorbereitung und Auf-
wand. Überdies müssten die Boh-
rungen kontinuierlich mit Über-
wachungstechnik beobachtet werden,
auch nach dem Ende der Gasförde-
rung. Dies sei in den USA vor allem
zu Beginn der Fracking-Ära missach-
tet worden, weshalb Methan entwei-
chen konnte.
Mittlerweile »Wir haben zur Versachlichung
bohren der Diskussion beigetragen«, sagt die
Vorsitzende Krawczyk. Aus ihrem
die Firmen Bericht wird deutlich, dass Fracking
nicht nur keine Glücksritterwette aus dem Wil-
den Westen mehr ist, sondern eine
nach unten, Technologie, die ihre Sicherheitsstan-
sondern von dards auch noch weiter verbessern
dort aus auch kann.
Die Experten halten sich in ihrem
kilometerweit Bericht dennoch zurück in der Frage,
seitwärts. ob Deutschland denn nun in das Fra-
WISSEN
Bohrturm
cking einsteigen sollte. Dies könne
nur die Politik entscheiden, sagt
Krawczyk. Die müsse dabei auch kli-
mapolitische, wirtschaftliche und ge-
sundheitliche Belange abwägen.
Nur: Auf die Schnelle wird das
nichts.
Allein die geologische Prüfung ge-
eigneter Lagerstätten und die Geneh-
migungsverfahren dürften »einige
Jahre dauern«, sagt Geophysikerin
Krawczyk. Die Firmen können auch
nicht einfach loslegen, sondern müs-
sen zunächst Probebohrungen unter-
nehmen und daraus lernen.
Die Gasunternehmen müssten da-
rüber hinaus viele Milliarden Euro in
die Infrastruktur investieren. Ob sie
dazu bereit wären, ist fraglich, denn
lange würden sie ihre neuen Förder-
anlagen kaum nutzen können: Spä-
testens 2045 soll Deutschland klima-
neutral sein und so gut wie gar kein
Erdgas mehr verbrennen oder aus
dem Boden holen.
Wer die Kriegskrise mit heimi-
scher Förderung dämpfen will, der
sollte es wie die Niederländer ma-
chen und kleinere, konventionelle
Gasfelder anzapfen. Deutschland
verfügt über sichere und wahrschein-
liche Gasreserven von rund 42 Mil-
liarden Kubikmetern, fast alles davon
liegt unter Niedersachsen.
Die Gasproduktion sinkt aller-
dings seit Jahren. Noch zur Jahrtau-
sendwende deckte Deutschland mehr
als 20 Prozent seines Bedarfs aus
eigenen Vorkommen. Jetzt fördern
die Firmen gerade noch ein Viertel
davon, etwa 5,2 Milliarden Kubikme-
ter. Die Reserven gehen zur Neige –
und die Suche nach neuen Lagerstät-
ten ist ins Stocken geraten; auf Putins
Gas war ja immer Verlass.
Marco Evers n
Nr. 28 / 9.7.2022 DER SPIEGEL 107
 KULTUR
Tresor 31
Ausstellungsplakat für »Tresor 31 – Techno, Berlin und die große Freiheit« (Ausschnitt)
Aus Sand gebaut
POP Mit einer großen Ausstellung feiert der Berliner Technoklub Tresor seine
Geschichte und die Bedeutung des Nachtlebens für die deutsche Hauptstadt.
D ie Bedeutung von Techno für die kulturelle
Identität der deutschen Hauptstadt lässt
sich gar nicht groß genug einschätzen. Was
war Berlin, als die Mauer fiel? Eine historische
Resterampe ohne zeitgenössisches Bild von sich
selbst. Es waren die Subkulturen, die die Stadt als
Kreativzentrum Europas erfanden. Nicht zuletzt
Techno – eine Musik, die aus den USA einwan-
derte und im Berlin der Nachwendezeit eine Hei-
mat fand. Noch bevor die Investoren sich der
leer stehenden Häuser annahmen, waren es Sub-
kultur-Aktivisten, die ihnen neues Leben gaben.
Nirgendwo spektakulärer als im Tresor, einem
Technoklub, der 1991 an der Leipziger Straße
eröffnete, in den verrosteten ehemaligen Tresor-
räumen des Kaufhauses Wertheim. 14 Jahre
hielt er sich dort, bevor er weichen und ins Kraft-
werk in der Köpenicker Straße umziehen musste.
Dort eröffnet nun die Ausstellung »Tresor 31 –
Techno, Berlin und die große Freiheit« über die
108 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022
Geschichte des Klubs und was sie mit der Ent-
wicklung Berlins zu tun hat – lustigerweise an
demselben Wochenende, an dem der Loveparade-
Mitbegründer Dr. Motte wieder mit Tausenden
Ravern durch Berliner Straßen ziehen wird. Bis
zum 28. August sind Filme zu sehen, Fotos aus
der Nachwendezeit Berlins und viele Dokumente
aus der Geschichte des Tresors. Den Klubgrün-
dern scheint früh klar gewesen zu sein, dass sie an
etwas Besonderem arbeiten, also haben sie aufge-
hoben, was ihnen wichtig schien, die Faxwechsel
mit den Detroiter Technopionieren etwa. Die be-
eindruckendste Installation befindet sich im zwei-
ten Stock: Für »Stomping Ground« hat Anne de
Vries die alte Tanzfläche des Tresors in Original-
größe aus vielen Tonnen Sand als verwunschene
Ruine nachmodelliert, als subkulturelle Sand-
burg, die jederzeit in Gefahr ist, zu verrieseln oder
von einer Welle weggewischt zu werden – und
doch immer wieder neu gebaut wird. RAP
Jeder gegen jede
BELLETRISTIK Serenata und
Remington sind über 60 und
seit Jahrzehnten verheiratet.
Während ihn Sport immer kalt-
ließ, lief sie täglich ihre Kilome-
ter, formte Körper und Selbst
und fühlte sich stets über die
Faulen erhaben. Doch nun ist
der Knorpel im Knie futsch:
»Schmerz machte einsam, denn
wer ihn nicht spürte, glaubte
nicht an ihn, und wer ihn spür-
te, glaubte eigentlich an nichts
anderes mehr.« Gleichzeitig,
auch das schmerzt, will Serena-
tas Ehemann plötzlich für einen
Marathon trainieren. Die Fit-
nesstrainerin, eine Enddreißige-
rin mit Barbiefigur, hat ihn in
ihren Fängen. Die Schriftstelle-
rin Lionel Shriver liefert mit
ihrem neuen Roman »Die Letz-
ten werden die Ersten sein«
eine satirische Erzählung vom
Clash der Generationen und Le-
bensstile in der westlichen Wohl-
standsgesellschaft. Das Paar
driftet auseinander – und wird
vom Zeitgeist eingeholt: Re-
mington ist wegen eines Streits
um »Antidiskriminierungsmaß-
nahmen« von seiner neuen Vor-
gesetzten in Frührente geschickt
worden. Serenata fällt als weiße
Synchronsprecherin in Ungnade,
weil sie Dialekte von Schwarzen
nachahmt. Auch der Sohn der
beiden ist nicht politisch korrekt.
Mit düsterer Schönheit gesegnet,
benutzt er Frauen »wie Klee-
nex«, dealt – und lässt überra-
schende Weisheiten durchblit-
zen: »Du warst – was, 45 Jahre
lang? – eine heiße Braut«, sagt er
zu seiner Mutter. »Lass los.« Alt
gegen jung, hässlich gegen schön,
gesund gegen krank: Shriver
stachelt alle gegeneinander auf,
unterhaltsam und bissig. FEL
Lionel Shriver: »Die
Letzten werden die
Ersten sein«. Aus
dem amerikanischen
Englisch von Bettina
Abarbanell und
Nikolaus Hansen.
Piper; 432 Seiten;
24 Euro.
 »Radikale Verweigerung«
LITER ATURFESTIVALS Der Schriftsteller Frank Witzel, 66,
über das »Literaricum Lech« in Österreich
In Lech am Arlberg
werden von Don-
nerstag an Witzel
und Autorinnen
und Autoren, unter
IMAGO
anderem Elke Hei-
denreich, vier Tage lang über den
170 Jahre alten Literaturhelden
Bartleby diskutieren, den Her-
man Melville mit der Erzählung
»Bartleby, der Schreiber« erschuf.
SPIEGEL: Herr Witzel, 1853 ließ
Melville den Bürodiener Bartle-
by die berühmte Floskel »I pre-
fer not to« – »Ich möchte lieber
nicht« – formulieren und sich
in seiner Schreibstube verkrie-
chen. Warum diskutieren im
Jahr 2022 Autorinnen und Au-
toren über diesen Antihelden?
Witzel: Bartleby ist schon länger
in Mode. Es gab in jüngerer Zeit
Angriff der
Gentleminions
TRENDS Es ist ein eigenartiges
Spektakel, das sich gerade vor
und in einigen Kinos abspielt.
Dutzende Jungs in Anzug und
Krawatte drängeln sich, um
die neueste Folge der »Mini-
ons«-Filmreihe zu schauen, in
Deutschland bislang als »Ich –
einfach unverbesserlich« be-
kannt. Der neue Animations-
film lief bei uns unter dem Titel
»Minions – Auf der Suche
archie.barber / TikTok
Szene aus TikTok-Clip
Bartleby-Interpreten, die ihn als
unser aller Bruder feierten und
sogar als neuen Jesus bezeich-
net haben. So weit würde ich
nicht gehen wollen. Für unsere
Gegenwart finde ich Bartlebys
Weigerung interessant, sich
in eine Dichotomie von Meinun-
gen einspannen zu lassen. Da
fällt mir spontan der Streit um
Waffenlieferungen für die
Ukraine ein, in dem angeblich
jeder vortreten und sich für
eine Position entscheiden muss.
SPIEGEL: Bartleby will nicht,
dass ihm geholfen wird, er blockt
den Versuch seines Arbeitgebers
ab, ihn aus seiner Bürohöhle zu
holen, weshalb er zuletzt sogar
im Gefängnis landet. Was ist für
Sie daran modern?
Witzel: Zu jedem Bartleby ge-
hört immer auch ein Gegenspie-
nach dem Mini-Boss« an. In
den USA spielte er am ver-
gangenen Wochenende 123 Mil-
lionen Dollar ein. Was auch
mit den »Gentleminions« zu
tun hat, so werden die Fans im
Anzug genannt. Weil sie in
den Kinosälen manchmal mit
Bananen werfen, verbieten
ihnen einige Kinos mittlerweile
den Zutritt, wenn sie im Anzug
zur Vorführung erscheinen,
etwa in Hamburg.
Im Film spielen Anzüge kei-
ne Rolle, warum die Jugend-
lichen sich ausgerechnet diese
Verkleidung ausgesucht haben,
ist einigermaßen unklar. Es hat
sicher mit der Plattform TikTok
zu tun, über die sich der Hype
ausbreitete, nachdem ein junger
Brite sich gefilmt hatte, wie er
im Anzug ins Kino ging. Und
möglicherweise mit einem Song
des Soundtracks, »Rich Minion«
des Rappers Yeat, in dem er
von dem Luxusleben erzählt, das
er als Freund der Minions führe.
Vielleicht leben wir aber auch
einfach in verrückten Zeiten.
Vor 15 Jahren waren es die New
Yorker Werber der Serie »Mad
Men«, die den Anzug wieder
popularisierten. Nun sind es die
kleinen Stöpsel des »Minions«-
Franchise. RAP
ler, der offen dafür ist, sich mit
der Weigerung des anderen
auseinanderzusetzen. Die Ge-
schichte macht deutlich, dass
selbst eine radikale Verweige-
rung von Kommunikation den
anderen miteinbezieht.
SPIEGEL: Was haben Melville
und seine berühmte Erzählung
mit Ihrem eigenen Schreiben
zu tun, etwa mit Ihrem 2015
mit dem Deutschen Buchpreis
gekürten Roman »Die Er-
findung der Roten Armee Frak-
tion durch einen manisch-
depressiven Teenager im Jahr
1969«?
Coronageld für
einen Abriss
ERINNERUNGSKULTUR Die
geplante Gedenkstätte für das
einstige Konzentrationslager
Sachsenburg ist um eine Grotes-
ke reicher: Für den umstrittenen
Abriss der Kommandanten-
villa des KZ will die zuständige
sächsische Stadt Frankenberg
30 000 Euro aus genehmigten
Coronamitteln des Landes
verwenden, wie eine Sitzungs-
vorlage vom 29. Juni zeigt.
Die Mittel seien, so ist aus dem
Kreis des Stadtrats zu hören,
nicht zweckgebunden. Der Rück-
bau der Villa, eines zentralen
Täterorts in einem der ersten
Konzentrationslager der Natio-
nalsozialisten, ist vielfach kriti-
siert worden. Renommierte
Historiker wie Wolfgang Benz
oder Norbert Frei hatten sich
ebenso dagegen ausgesprochen
wie der Künstler Gerhard Rich-
ter und Karl Stauffenberg, En-
kel des Hitler-Attentäters Claus
Schenk Graf von Stauffenberg.
Frankenbergs Bürgermeister
Thomas Firmenich (parteilos)
beharrt dennoch auf einem
Rückbau, zum Abriss gebe es
wegen der Baufälligkeit der Villa
keine Alternative, betonte er.
Hanno Mackowitz
Lech am Arlberg
Witzel: Auf einer biografischen
Ebene könnte man sagen, dass
es bei mir genau umgekehrt war
wie bei Melville, der erst erfolg-
reich war und dann regelrecht
verkannt. Bevor ich ein wenig
bekannter wurde, hatte ich be-
reits viele Jahre und Jahrzehnte
hinter mir, in denen ich in mei-
ner Schreibstube saß und meiner
Arbeit nachging. Um eine Zu-
friedenheit in meiner Arbeit zu
finden, hatte ich mich gegen ge-
wisse Ansprüche an mich abzu-
grenzen, ähnlich wie Bartleby.
Glücklicherweise mit einem an-
deren Ergebnis als bei ihm. HÖB
Hendrik Schmidt / picture alliance / dpa
Einstige KZ-Kommandantenvilla
Der Stadtrat hatte nach einigem
Hin und Her im vergangenen
Jahr einen Gedenkstättenent-
wurf favorisiert, der zwar nicht
prämiert worden war, aber
dem Rückbauwillen des Bürger-
meisters entgegenkommt. Ob-
wohl ein von der Stadt beauf-
tragter Gutachter den Erhalt der
Villenmauern für möglich hält,
hat nun auch Kulturstaatsminis-
terin Claudia Roth (Grüne) eine
Förderung des strittigen Kon-
zepts in Aussicht gestellt. »Der
Bund riskiert hier, ein ahistori-
sches Abrisskonzept zu för-
dern«, sagt Anna Schüller von
der Geschichtswerkstatt Sach-
senburg. »Da sollte Frau Roth
vielleicht noch mal genauer
hinsehen.« NKL
Nr. 28 / 9.7.2022 DER SPIEGEL 109
KU LT U R

Jan Philip Welchering / DER SPIEGEL

Politiker Sonneborn
in der Berliner
»Partei«-Zentrale

110 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022


Jetzt wird’s ernst
SATIRE Martin Sonneborn ist bekannt als politischer Spaßvogel. Wie kann der Chef der Spott-Truppe
»Die Partei« angesichts des Krieges in der Ukraine noch links und lustig bleiben?
tomwaffen? Ja bitte!« steht auf dem
A klassischen Aufkleber, nur mit grin­
sendem Atompilz statt lächelnder Son­
ne. Zum Bild eines Zapfenstreichs mit Fackel­
zauber und Gefechtshelmen wird spekuliert,
hier werde gerade der »Ostermarsch 2022«
vom Heeresmusikkorps gespielt. Ein anderes
Motiv zeigt einen fröhlichen Heiland, im Hin­
tergrund stehen Panzer. Dazu der Text: »Jesus
würde Waffen liefern!«
Es ist nicht so, als hätte die Satirepartei
»Die Partei« vor dem Krieg die Waffen ge­
streckt. Es ist aber auch nicht so, dass der
russische Überfall auf die Ukraine ihre Krea­
tivität besonders angestachelt hätte. Ein paar
müde Gags in den sozialen Medien, viel mehr
haben ihre professionellen Pointenprodu­
zenten in mehr als vier Monaten zu dem The­
ma nicht in Umlauf bringen können.
Dabei nutzen sie das Gemetzel im Osten
als Spiegel, um die Verhältnisse im Westen
bis zur Kenntlichkeit zu verzerren. Die Grü­
nen? Eine Partei der Bellizisten. Die Friedens­
bewegung? Umgedreht mit militaristischer
Marschmusik. Die Lieferung schwerer Waf­
fen? Ein Gebot des Gewissens. Sarkasmus ist
nicht einmal in Friedenszeiten mehrheits­
fähig. In Zeiten des Krieges zeigt sich auch
das Stammpublikum irritiert.
Dem Witz mit Jesus wird in sozialen Netz­
werken zwar applaudiert – es finden sich aber
auch ätzende Seitenhiebe auf die Ukraine und
enttäuschte Kommentare: »Die Partei war
auch mal besser …«. Martin Sonneborn, Mit­
gründer und Parteichef, antwortet darauf, wie
so oft, mit aufreizender Lakonie: »Alles war
mal besser … Smiley«.
Es war auch mal leichter, lustig zu sein.
Seit 2014 sitzt Sonneborn, 57, fraktionslos
im EU­Parlament. Dort ist er einerseits Hof­
narr, der sich über Ursula von der Leyen lus­
tig machen kann. Andererseits hat er privi­
legierte Einblicke in einen aufgeblasenen
Apparat, über den er als Autor regelmäßig in
der »Titanic« berichtet. Darüber hinaus ist er
aber auch gewählter Volksvertreter, dessen
Stimme zählt.
Die Dreifachrolle aus Spaßvogel, Whistle­
blower und Politiker war auch schon mal
leichter zu spielen.
Noch im vergangenen Herbst, vor der Bun­
destagswahl, war es mit symbolischen Gesten
getan. So benutzt Sonneborn in Straßburg nur
selten die Fahrbereitschaft, die ihm als Abge­
ordnetem zusteht. Er bevorzugt den einstün­
digen Spaziergang von seinem Büro nordöstlich
des Zentrums zur Mietwohnung, die er sich für
die jeweilige Sitzungswoche genommen hat.
Sein Gang ist von der stelzenden Storchenhaf­
tigkeit eines hochgewachsenen Menschen. Im­
mer leicht vornüber geneigt und sehr zügig.
Er schwärmt von Festen bei Arte, dem
Fernsehsender, an dessen Zentrale der Weg
vorbeiführt. An einer Ampel spricht er über
seine Abneigung gegen Olaf Scholz wegen
dessen Rolle als Bürgermeister von Hamburg.
Im Gewusel der Rue des Frères beim Straß­
burger Münster wird er das erste Mal erkannt,
von einem jungen Paar beim Flammkuchen.
Sonneborn erkennt schon von Weitem, dass
er erkannt worden ist – am »Dreh dich jetzt
nicht um, ich glaube, da kommt der Sonne­
born«­Gesicht des Mannes. Die Frau dreht
sich um. »Nicht lachen!«, ruft er. Das Paar
lacht, natürlich. Und natürlich lässt er sich
mit den Touristen fotografieren, wirft sich in
die übliche Pose – Händedruck und ein auf
das Gegenüber gerichteter Zeigefinger.
In solchen Situationen fällt die Dreifach­
rolle leicht. Hier ist er ganz Kunstfigur. Es geht
um nichts.
2019 hat Sonneborn als Politiker im
EU­Parlament gegen ein Verbot sogenannter
Konversionstherapien gestimmt, mit denen
Homosexuelle »geheilt« werden sollen. Ver­
sehentlich, weil er als Spaßvogel prinzipiell
bei Abstimmungen mit klaren Mehrheiten
abwechselnd mit Ja oder Nein stimmte. Das
Votum ist heftig kritisiert worden, auch von
der eigenen – progressiven – Wählerschaft.
Da musste er sich erklären.
Abgestimmt wird im EU­Parlament, unter
pandemischen Bedingungen geht das auch
aus der Ferne – per Tabletcomputer aus der
Cafeteria. Sonneborn muss sich nur einlog­
gen, die jeweiligen Vorlagen lesen und dann
entweder Plus oder Minus drücken. Politische
Arbeit im Akkord, zwischen Orangensaft und
Croissant. Vom Tisch nebenan grüßt Sven
Sarkasmus ist nicht einmal
in Friedenszeiten mehr-
heitsfähig. In Zeiten des
Krieges zeigt sich auch das
Stammpublikum irritiert.
KU LT U R
Giegold. Sonneborn ruft etwas Neckisches,
der Grüne winkt ab, lächelt.
Mit am Tisch sitzt Dustin Hoffmann, ohne
den Sonneborn »aufgeschmissen« wäre, wie
er sagt. Hoffmann heißt wirklich fast so wie
der Schauspieler und hält als Büroleiter die
Fäden zusammen. Wenn Claudia Latour,
Sonneborns Frau und »politische Beraterin«,
das Herz der Kunstfigur Sonneborn ist, dann
ist Hoffmann so etwas wie das logistisch­pro­
grammatische Rückgrat. Der Jurist ist nicht
humorlos, aber staubtrocken. Und beängsti­
gend konzentriert.
Während Sonneborn abstimmt, ja, nein, ja,
nein, informiert ihn seine rechte Hand über an­
stehende Termine und Anfragen. Eine Initiative
gegen die Privatisierung von Autobahnen
wünscht sich eine Schirmherrschaft der »Par­
tei«? Wird gemacht. Ein LGBTQ­Radiosender
möchte wissen, was die »Partei« für die Queeren
zu tun gedenkt? »Polen und Ungarn aus der EU
werfen«, sagt Sonneborn, das müsse reichen.
Als wären sie Influencer, checken die bei­
den, was sich in den sozialen Medien gerade
so tut. Wie ihre Tweets ankommen, was ihre
Gegner wieder gepostet, was ihre Freunde ge­
teilt haben. Die »sogenannten sozialen Netz­
werke«, wie Sonneborn betont, werden auch
hier in der Cafeteria des EU­Parlaments immer
wichtiger. Ein ausführliches Gespräch mit dem
Redaktionsnetzwerk Deutschland hatte nur
43 Likes, ein Gag der »Partei« hingegen schon
mehr als 3800. Da sieht man mal wieder.
Er ist das satirische Sandkorn im Getriebe
eines Getriebes, das er als irreparabel kennen­
gelernt hat. Um es der Lächerlichkeit preis­
zugeben, muss Sonneborn nur die Wahrheit
sagen. Aber welche ist das?
Am Morgen des 15. September 2021 hält
Ursula von der Leyen ihre Rede zur »Lage
der Union«, ein aus den USA entlehntes
Format zur politischen Positionsbestimmung.
Es ist eine Tour d’Horizon von 118 Minuten.
Sicherheit, Soziales, Klima. Das Übliche. Der
russische Krieg gegen die Ukraine ist an die­
sem Tag noch nicht einmal eine ferne Ahnung.
Erst am Nachmittag hat Sonneborn das
Wort. Für 90 Sekunden. Er spricht im Herzen
der Institution, die er kritisiert. Das ist, im
Vergleich zu Rezo oder Jan Böhmermann,
ein Unterschied nicht nur der stilistischen Mit­
tel. Es ist ein Unterschied zwischen Publizis­
tik und Politik.
Vor einem weitgehend leeren Saal referiert
er die Machenschaften mancher Repräsen­
Nr. 28 / 9.7.2022 DER SPIEGEL 111
KU LT U R
tanten und nennt die EU einen »gut
geschmierten Apparat zur Umschich­
tung von Steuergeldern an die Privat­
wirtschaft«. Ursula von der Leyen
kommt zu spät, und im Abgang fragt
Sonneborn: »Hey, wo waren Sie
denn?«
Über die 118 Minuten der Kom­
missionspräsidentin wurde an diesem
Tag auf allen Kanälen berichtet, das
ist Pflicht. Auf dem Kanal der Deut­
schen Welle bei YouTube ist ihre
staatstragende Rede bis heute knapp
50 000­mal angeklickt worden.
Die 90 Sekunden von Sonneborn
schaffen es natürlich nicht in die
»Tagesschau«. Bei YouTube hat der
kurze Clip inzwischen aber mehr als
1,7 Millionen Klicks. Ginge es nur um
digitale Reichweite und Popularität,
Sonneborn wäre Kommissionspräsi­
dent. Da sieht man mal wieder.
Allerdings sind die Künste des
Hofnarren nur dann gefragt, wenn die
Burg nicht gerade von einem feind­
lichen Heer belagert wird. Derzeit ist
es nicht leicht, lustig zu sein. Noch
schwerer als sonst ist es, links zu sein.
Schier unmöglich aber ist es, im An­
gesicht des Krieges gleichzeitig lustig
und links zu sein.
Mit kritischem Blick auf die USA
und deren geopolitische Interessen
fordern linke Intellektuelle wie Noam
Chomsky eine Verhandlungslösung.
Ein linker Philosoph wie Slavoj Žižek
wiederum erklärt mit ebenso kriti­
schem Blick auf die geopolitischen
Interessen Russlands den Pazifismus
für die »falsche Antwort«. An der
Frontlinie im Osten scheinen, als Kol­
lateralschaden, auch hierzulande
langjährige ideologische Gewisshei­
ten unter Beschuss geraten zu sein.
In Deutschland hat eine ganze
Reihe von linken Autorinnen und
Autoren erklärt, »warum wir nicht
mehr für ›Konkret‹ schreiben«, weil
nämlich das linke Magazin noch im
März die angebliche »Nato­Aggres­
sion gegen Russland« zum Titel
machte und damit »Kriegspropagan­
da« für Russland betreibe. Auf der
Gegenseite hat der rechtskonserva­
tive Publizist Henryk M. Broder
seine Mitarbeit für die rechtskon­
servative Schweizer »Weltwoche«
aufgekündigt – aus vergleichbaren
Gründen.
Den Unterzeichnern offener Brie­
fe, die etwas anderes fordern als
unverzügliche Lieferungen schwerer
Waffen, schlägt auf breitester Front
offene Feindseligkeit entgegen.
Die allgemeine Unerbittlichkeit
hat im aktuellen »Merkur« der Philo­
soph Gunnar Hindrichs analysiert. Es
herrsche im zivilgesellschaftlichen
112 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022
Diskurs ein Bekenntnisdrang, der
»nur das Pro und Contra der Kriegs­
parteien« dulde, »nichts Drittes«. In
dieser aufgeladenen Atmosphäre
würden jene der »Zeugnisverweige­
rung« angeklagt, »die sich zu keiner
Kriegspartei bekennen«. Nach dieser
Logik werde selbst »die Ablehnung
des Krieges als ein Bekenntnis im
Krieg« gewertet: »Weil man sich mit
seiner Neutralität oder seiner Ableh­
nung des Krieges weigert, Position im
Krieg zu beziehen, lässt man die ge­
rechte Seite im Stich.«
Was Hindrichs Bekenntnisdrang
nennt, ist kein theoretisches Kon­
strukt. Jede Leserin und jeder Leser
wird ihn schon an sich selbst verspürt,
ihm nachgegeben und sich entspre­
chend bekannt haben. Ratlosigkeit ist
keine Option, Ratschläge an die An­
gegriffenen sind eine Unverschämt­
heit, und jedes Räsonieren über eine
Zeit danach bereits Defätismus. Das
ist die Lage. Und daher auch das Un­
verständnis und die Verachtung, die
all jene trifft, die auf dem pazifisti­
schen Feldherrenhügel verharren.
So wie Martin Sonneborn, als er
sich am 1. März bei einer Resolution
des EU­Parlaments zu »Russlands
Aggression gegen die Ukraine« der
Stimme enthielt. Den Überfall, sagt
Mar tin Sonneborn / Twitter (4)
er, verurteile er, möchte aber die
ebenfalls im Text enthaltenen Erklä­
rungen zu Aufrüstung und dem Aus­
bau von Infrastrukturen für Fracking­
Gas nicht mittragen. Bei Twitter sah
er sich prompt dem Vorwurf ausge­
setzt, er habe sich mit seiner Enthal­
»Partei«-Propaganda tung »für den Despoten Putin und
auf Twitter: Es war seine Aggressionen entschieden«, es
schon mal leichter,
lustig zu sein gebe in dieser Frage »für einen Deut­
schen keine zwei Meinungen«.
»In den vergangenen Wochen bin
ich immer wieder aufgefordert wor­
den, mich zu Putin zu äußern«, er­
zählt Sonneborn: »Irgendwann habe
ich geschrieben: Putin ist doof, ob
das reichen würde?« Selbstverständ­
lich verurteile er den Krieg. Und
ebenso selbstverständlich bezeichne
er sich als Pazifisten, erst recht »wenn
schon im SPIEGEL gegen sogenannte
Lumpenpazifisten polemisiert wird«.
Auch hier versucht er, das Wider­
ständige in einen Witz zu verwan­
deln: »Ich würde meinen Pazifismus
bis zum Letzten verteidigen«, sagt
»Ich würde er, »notfalls mit der Waffe in der
meinen Hand.«
Vielleicht versucht Sonneborn, an­
Pazifismus gesichts der Lage einfach nur bei Trost
verteidigen zu bleiben.
– notfalls Allerdings ist er längst kein Solo­
künstler mehr – sondern Vorsitzender
mit der Waffe einer Partei mit rund 50 000 Mitglie­
in der Hand.« dern und Mandatsträgern im ganzen
Land, vor allem auf kommunaler Ebe­
ne. Wer es mit einem parodistischen
Wahlkampf in den Stadtrat schafft,
ist in der Politik angekommen. Dort
stehen dann ganz konkrete Ent­
scheidungen etwa darüber an, ob
250 000 Euro in die marode Kita oder
einen neuen Kreisverkehr an der ge­
fährlichen Kreuzung gesteckt werden.
Da hilft Ironie nicht weiter, muss Far­
be bekannt werden. Und die ist im
Zweifel rot.
Ein Insider berichtet, dass sich die
Strukturen der »Partei« in manchen
Landstrichen »von einem ganz nor­
malen ländlichen CSU­Gepränge in
keinster Weise unterscheiden«. Wo
Macht sei, entwickle sich zwangsläu­
fig bald ein innerer Zirkel, ein Hof­
staat, eine Hoffnung auf noch mehr
Macht. Eine ganz normale Partei, da
sieht man mal wieder.
Wie andere Parteien gründet nun
auch »Die Partei« eine Stiftung. Ur­
sprünglich sollte das Projekt das
Stiftungsunwesen in der Politik kari­
kieren, bald wird die »T. Willibald
Adorno Stiftung« aber tatsächlich die
Arbeit aufnehmen. Geht es nach
Sonneborn, sollen künstlerische Be­
mühungen um »mehr Dialektik« ge­
fördert werden.
Früher, erzählt er, habe »Die
Partei« die Leute politisieren wollen.
Inzwischen gehe es auch darum,
»politische Standpunkte in die Öf­
fentlichkeit zu tragen und die Leute
zu irritieren«. Wenn es für diese
Standpunkte – zur Ukraine, zu Co­
rona – Beifall von der falschen Seite
gibt, kümmert Sonneborn das wenig:
»Als Argument ist das zu kurz, das
taugt nur als Phrase bei Twitter. Wenn
man überzeugt ist oder eine begrün­
dete Position hat, ist es egal, wer die­
se Position sonst noch vertritt.«
Wenn er nicht in Straßburg, Brüs­
sel oder Berlin unterwegs ist, zieht er
sich zum Schreiben in die ländliche
Provinz zurück, wo er mit seiner
Familie wohnt. Bei schönem Wetter
stellt er den Tisch vor die Tür und
arbeitet direkt an der Straße. Beim
Tippen macht Sonneborn ein ernstes
Gesicht. Er macht eigentlich immer
ein ernstes Gesicht, auch in den ab­
surdesten Momenten. Es ist nicht
leicht, gleichzeitig lustig und links zu
sein. Die »taz« nannte ihn einmal den
»Buster Keaton der deutschen Poli­
tik«, das hat ihm gefallen.
Ein Anwohner schleicht mit sei­
nem Auto die Straße herauf und er­
späht Sonneborn am Rechner sitzend.
Er hält kurz an, lässt die Scheibe
runter und ruft: »Na, Herr Nachbar?
Wieder mal witzig?«
Arno Frank n
Die lauteste Meinung
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leiseste Ahnung.
BEREIT FÜR NEUES DENKEN.

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KU LT U R

»Das moderne sexuelle Subjekt ist

in Berlin geboren«
SPIEGEL-GESPRÄCH Vor 100 Jahren kartierte ein Arzt die sexuelle Artenvielfalt Berlins.
Der Medizinhistoriker Rainer Herrn erklärt, was sich daraus heute noch lernen lässt.
Es geht um die Novelle des Transsexuellengesetzes, Genitalchirurgie und Alice Schwarzer.

Herrn, 65, arbeitet als Medizin- SPIEGEL: Wie im Museum. SPIEGEL: In Ihrem Buch erzählen Sie
historiker an der Berliner Charité, Herrn: Die Disziplin ist für die meisten vom weltweit ersten Institut für Se-
sein Schwerpunkt: die Geschichte ein Hobby geblieben, für mich auch. xualwissenschaft, eröffnet 1919 im
geschlechtlicher und sexueller Min- Studieren lässt sich Sexualwissen- Tiergarten. Wie sexy war Berlin vor
derheiten. In seinem neuen Buch schaft heute nur an einer öffentlichen 100 Jahren?
erzählt er von Magnus Hirschfeld, Hochschule, der in Merseburg, und Herrn: Berlin war ein Ort vitaler se-
dem jüdischen Arzt, der 1919 im das Studium dort zielt auf Sexual- xueller und geschlechtlicher Diver-
Berliner Tiergarten das weltweit pädagogik und Sexualberatung. An sität. Das moderne sexuelle Subjekt
erste Institut für Sexualwissenschaft
der Berliner Charité und am Ham- ist in Berlin geboren.
eröffnete*. burger Universitätsklinikum Eppen- SPIEGEL: Wie meinen Sie das?
Warum ist ein Mensch homo- dorf gibt es wichtige sexualwissen- Herrn: Berlin ist der Gründungsort
sexuell? Was unterscheidet Schwule schaftliche Institute. Aber Sexualwis- der Emanzipationsbewegung, der
von Transmenschen? Und wo verläuft senschaft im Sinne eines akademi- sexuellen Bürgerrechte. Schon 1897
eigentlich die Grenze zwischen Wis- schen Studienganges gibt es in ganz hat Magnus Hirschfeld hier die erste
senschaft und Aktivismus? Das waren Deutschland nicht. homosexuelle Organisation initiiert:
die Fragen, die Hirschfeld umtrieben.
SPIEGEL: Was unterscheidet die Gen- das Wissenschaftlich-humanitäre
Aus den Antworten von damals lässt derstudies denn von den Sexualwis- Komitee. Das klingt heute betulich,
sich viel lernen über die hitzigen senschaften? aber es war mutig. 1898 hat das WhK
LGBTQI-Debatten heute. Herrn: Die Genderstudies sind oft fe- eine Petition im Reichstag einge-
Herrn ist seit dem Mauerfall in ministisch orientiert, Sexualität ist da reicht, den Paragrafen 175 abzuschaf-
der Berliner Schwulenszene unter- ein Thema unter vielen. Die Sexual- fen.
wegs, sein Buch sollte einst seine wissenschaft hingegen ist auf Sexua- SPIEGEL: Der Paragraf 175 stellte
Habilitation werden. Nun, da es lität fokussiert. Homosexualität unter Strafe.
nach Jahrzehnten Arbeit endlich SPIEGEL: Und das ist ein Nachteil? Herrn: Ausschließlich die Sexualität
erscheint, wird er in sechs Monaten Herrn: Es geht um intime Dinge, zwischen Männern, jene zwischen
pensioniert. und gegen die gibt es im akademi- Frauen nicht. Das lag daran, dass
schen Betrieb immer noch Vorbe- weibliche Sexualität gar nicht als
SPIEGEL: Herr Herrn, als Magnus halte. Die Sexualwissenschaft ist Teilnehmer eigenständige Form gedacht wurde.
Hirschfeld sein Institut eröffnete, ein unanständiges Fach. Die Diszi- des Christopher Die Sexualität der Frau sollte, so die
Street Days in
schien der jungen Disziplin die Zu- plin, die durchs Schlüsselloch guckt. Düsseldorf: »Sexual-
Vorstellung, erst durch den Mann ge-
kunft zu gehören. Täuscht der Ein- Da hat sich seit Hirschfeld wenig wissenschaft ist ein weckt werden.
druck, oder haben die Genderstudies geändert. unanständiges Fach« SPIEGEL: Auch wenn Liebe zwischen
der Sexualwissenschaft heute den Männern verboten blieb, entwickelte
Rang abgelaufen? sich in Berlin bis 1919 eine vitale
Herrn: Eindeutig ja. Noch in den Homosexuellenszene, schreiben Sie.
frühen Neunzigerjahren dachte ich, Wie passt das zusammen?
dass die Sexualwissenschaften sich Herrn: Berlin wuchs in der Gründer-
ähnlich professionalisieren wie die zeit extrem schnell, die Stadt explo-
Genderstudies. Ein Irrtum, leider. dierte regelrecht. Eine Megacity, wie
2006 wurde sogar das berühmte man heute sagen würde. Die Stadt
Institut für Sexualwissenschaft in wurde anonymer, das Leben privater.
Frankfurt am Main aufgelöst. Seine Soziale Kontrolle war nicht mehr
Bibliothek steht nun hier, in den gewährleistet. Hirschfeld hat für
Räumen der Magnus-Hirschfeld-Ge- die Stadt sogar eine Art Gay Guide
Ying Tang / NurPhoto / IMAGO

sellschaft. veröffentlicht, »Berlins drittes Ge-

schlecht«.
* Rainer Herrn: »Der Liebe und dem Leid. Das SPIEGEL: Was steht darin?
Institut für Sexualwissenschaft 1919–1933«. Herrn: Hirschfeld beschreibt die
Suhrkamp; 681 Seiten; 36 Euro.
Das Gespräch führten der Redakteur Tobias Milieus, die es gibt, und die Lokale,
Becker und die Redakteurin Eva Thöne. in denen sie sich treffen. Auch in-

114 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022

 KU LT U R

Buchautor Herrn
Bundestag sitzen, ihr Weiblichsein abgespro­
chen. Dieser Essenzialismus im Jahr 2022!
Unglaublich.
SPIEGEL: Schwarzer hat zeitlebens für die
Sache der Frauen gekämpft. Vielleicht war
dafür ein essenzialistischer Geschlechter­
begriff unerlässlich. Aktivismus lässt keine
Ambiguität zu.
Herrn: Den Transfrauen im Bundestag wird
sogar unterstellt, dass sie ihr Transsein be­
nutzen würden, um die männliche Hege­
monie im Bundestag weiter zu stärken. Dass
sie also sogenannten Biofrauen die Sitze weg­
nehmen. Simone de Beauvoir hat geschrie­
ben: »Man wird zur Frau nicht geboren, man
wird dazu gemacht.« Über das Zitat könnte
Alice Schwarzer noch mal nachdenken.
SPIEGEL: Was trieb Hirschfeld damals an?
Echtes Erkenntnisinteresse oder Aktivismus?
Herrn: Es kann schon sein, dass manche
seiner Theorien aus einem emanzipatorischen
Impetus entstanden ist. Sein Kerngedanke:
Wenn alle sexuellen Identitäten und Orien­
tierungen naturgegeben sind, dürfen sie mo­
ralisch nicht verurteilt, also auch nicht bestraft
werden. Die ersten Jahre des Instituts waren
geprägt von der Frage, ob Homosexualität
angeboren ist. Hirschfeld sagte: eindeutig ja.
Er hat zum Beispiel versucht, Homosexualität
in den Hoden und Eierstöcken nachzuweisen.
SPIEGEL: Hirschfelds Mitarbeiter haben auch
das Verhältnis von Schulter­ zu Beckenbreite
und Beinlänge vermessen und daraus Rück­
schlüsse darauf gezogen, ob jemand homo­
oder heterosexuell ist. Das alles klingt absurd.
Herrn: Heute wären Hirschfelds Ansätze rück­
schrittlich, weil er versuchte, Sexualität und
Geschlecht immer an die Biologie zurückzu­
Hermann Bredehorst / DER SPIEGEL

binden. Zu seiner Zeit waren seine Ideen aber

sehr progressiv. Die Medizin richtete sich in
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an
der Biologie als Leitwissenschaft aus. Hirsch­
feld hat versucht, die sexuelle Diversität, die
er beobachtete, mit Darwin zu erklären:
Männlich und weiblich, so seine Theorie, ver­
mischen sich im Zuge der Evolution immer
offizielle schwule Hochzeiten, die in Hinter­ SPIEGEL: Wie erklären Sie sich das? wieder neu und bringen neue Formen hervor,
zimmern stattfinden. Oder das Strichermilieu Herrn: Ich sage es mal flapsig: Die Lederschwu­ eine riesige sexuelle Artenvielfalt. Jeder
im Tiergarten. Sein eigenes Institut be­ len wollen mit den Fummeltrinen nichts zu Mensch, so Hirschfelds Postulat, ist eine ein­
schrieb er öffentlich übrigens immer wieder tun haben. malige Mischung aus männlichen und weib­
nicht nur als Forschungs­ und Lehrstätte, SPIEGEL: Wer um seine Identität kämpfen lichen Eigenschaften.
sondern als Zufluchtsort. Dort sind sich muss, grenzt sich umso entschlossener von SPIEGEL: Hirschfelds Theorie ordnet jeden
Homosexuelle, Transvestiten und Intersexu­ anderen ab? Menschen auf einem Kontinuum zwischen
elle begegnet. Herrn: Kann sein. Zum Glück ist die Bewe­ »Vollweib« und »Vollmann« ein, jede und
SPIEGEL: Die ganze große LGBTQI­Familie. gung in den vergangenen Jahren aber viel­ jeden auf einem ganz individuellen Punkt.
Herrn: Ja, aber das klingt harmonischer, als stimmiger geworden. Alle halten Ambivalenz Herrn: Dass Sexualität völlig individuell und
es war. Viele Transvestiten waren hetero­ heute besser aus als zu Hirschfelds Zeiten. die sexuelle Diversität potenziell unendlich
sexuelle Männer. Sie haben Hirschfeld regel­ Aber es stimmt: Die Friktionen zwischen ist – das ist auch heute noch ein relevanter
recht bekniet, sie nicht als homosexuell zu Homo und Trans existieren auch heute noch Gedanke. Aber für Hirschfeld existierten
klassifizieren. Hirschfeld schuf daher 1910 und haben eine lange Tradition. eben zwei konstante Geschlechterpole. Das
eine eigene Kategorie für sie. Andersherum SPIEGEL: Einige derjenigen, die unsere ist die Aporie dieser hirschfeldschen Zwi­
war das Abgrenzungsbedürfnis nicht kleiner: tolerante Gesellschaft erstritten haben, wen­ schenstufentheorie: Sie will die Binarität der
Der schwule Schriftsteller Christopher Isher­ den sich heute gegen die weitere Diversi­ Geschlechter überwinden, baut gleichzeitig
wood beschrieb einmal, wie er beim Mittag­ fizierung. Sie bestehen auf einem biologi­ aber auf ihr auf. Da sind wir heute weiter.
essen im Institut einem Transvestiten gegen­ schen Geschlechtsbegriff, der nicht verhan­ SPIEGEL: Auch heute basiert doch jede Ge­
übersaß und sich physisch unwohl fühlte – delbar ist. schlechtsidentität zumindest implizit auf
mit solchen Leuten wollte er nichts zu tun zu Herrn: Alice Schwarzer! Ich bin völlig von einer Auseinandersetzung mit den Polen
haben. den Socken. Sie hat Transfrauen, die im »männlich« und »weiblich«.

Nr. 28 / 9.7.2022 DER SPIEGEL 115

KU LT U R
Herrn: Aber wir können darauf pfeifen,
in welche Kategorie wir eingeordnet
werden. Ja, wir können sogar darauf
verzichten, uns selbst einzuordnen.
SPIEGEL: Die Koalition will dieses
Jahr das Transsexuellengesetz ab-
schaffen und durch ein Selbstbestim-
mungsgesetz ersetzen, dann reicht
ein Gang zum Standesamt, um Vor-
namen und Geschlecht in Ausweis-
dokumenten ändern zu lassen. Fin-
den Sie das richtig?
Herrn: Eindeutig ja. Menschen sollten
ihre Geschlechtsidentität selbst aus-
suchen können. Als das Transsexuel-
lengesetz 1980 verabschiedet wurde,
wollten Gesellschaft und Staat noch
genau über Geschlechtszuschreibun-
gen wachen.
SPIEGEL: Damals galt das Gesetz als
progressiv.
Herrn: Das stimmt, die Idee des
Gesetzes war es, Menschen auch vor
sich selbst zu schützen. Wer seinen
Personenstand und seinen Vornamen
ändern oder sich gar einer genital-
chirurgischen Operation unterziehen
wollte, konnte das prinzipiell tun,
musste dafür aber Gutachten vor-
legen, die Geld kosteten und für die
lange, intime Gespräche mit Thera-
peuten notwendig waren. Es gab also
eine Art Zugangsbeschränkung. Heu-
te geht man davon aus, dass sich nie-
mand aus Jux und Tollerei zu einem
solchen Schritt entscheidet. Und dass
der Staat nicht das Recht hat, diese
Entscheidung zu reglementieren.
SPIEGEL: Der Gesetzentwurf sieht vor,
dass auch Minderjährige ab 14 Jahren
künftig ihr Geschlecht selbst aussu-
chen können, nötigenfalls gegen den
Willen ihrer Eltern. Finden Sie auch
das richtig?
Herrn: Ja. Aber noch wichtiger wäre
es, genitalchirurgische Operationen
bei Intersexuellen so lange wie mög-
lich hinauszuzögern, also Babys und
Kinder nicht zu zwingen, sich ins bi-
näre System einzuordnen. Das richtet
viel Leid an. Als Erwachsene sind
viele nicht zufrieden mit der Entschei-
dung, die Ärzte und Eltern einmal für
sie getroffen haben.
SPIEGEL: Sie plädieren dafür, keine
Eindeutigkeit herzustellen, wo keine
Eindeutigkeit ist?
Herrn: Zumindest nicht zu früh. Aber
klar, das setzt viel Aufklärungsarbeit
in den Schulen voraus. Kinder sind
brutal, wenn die Zuordnung Junge/
Mädchen nicht eindeutig funktioniert.
Sie müssen lernen, mit Unterschied-
lichkeit umzugehen.
SPIEGEL: Liegt nicht ein Paradox da-
rin, dass Operationen zur Geschlechts-
angleichung alte Geschlechterstereo-
type bestärken?
116 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022
Herrn: In gewisser Weise ja. Bis in
die Siebzigerjahre war die möglichst
hundertprozentige Verkörperung des
Wunschgeschlechts ein Must in der
Szene. Transfrauen wollten Super-
frauen sein. Seither werden vermehrt
Ecken und Kanten akzeptiert, also
Zeichen des sogenannten Herkunfts-
geschlechts.
SPIEGEL: Die Zahl junger Transper-
sonen steigt seit einigen Jahren stark.
Warum?
Herrn: Weil sich die Grenzen dessen
verschieben, was als normal gilt oder
unnormal, als gesund oder krank. Die
Gesellschaft ist offener für das, was
ich sexuelle Bürgerrechte nenne.
SPIEGEL: Die Genderstudies lehren
seit Jahrzehnten, dass Geschlecht pri-
mär ein soziales Konstrukt sei und
die Geschlechterpolarität ein Aus-
laufmodell. Und trotzdem wächst
der Wunsch nach biologischer Ge-
schlechtsanpassung?
Herrn: Es gibt heute auch sehr viele
Transpersonen, die keine Hormon-
behandlung und keine genitalchirur-
gische Operation wünschen, weil sie
sich nicht binär fühlen, weder männ-
lich noch weiblich. Dieses Dazwi-
schen auszuhalten: Das ist die He-
rausforderung, der sich die Gesell-
schaft stellen muss.
SPIEGEL: Wer genau?
Herrn: Wir alle. Das gilt für den He-
tero-Mainstream wie für die Trans-
personen selbst. Alle brauchen mehr
Sinn für Ambiguität.
SPIEGEL: Der Münchner Kinder- und
Jugendpsychiater Alexander Korte
spricht von einem »Hype«.
Herrn: Homosexualität wurde schon
in den Siebzigerjahren entpatholo-
gisiert, im Moment gibt es eine ähn-
liche Entwicklung für Trans- und
Intersexualität. Das ist alles. Die Ge-
sellschaft wird pluraler, toleranter.
SPIEGEL: Was wäre passiert, wenn
zu Hirschfelds Zeiten ein Mann in
Frauenkleidern über den Kudamm
flaniert wäre?
Herrn: Dann hätte die Polizei ihn fest-
genommen, wegen groben Unfugs
und Erregung öffentlichen Ärgernis-
ses. Zumindest bis 1910. Dann gelang
es Hirschfeld, einen Deal mit dem
Photothek Willy Römer / Kunstbibliothek / SMB / / bpk
Polizeipräsidenten zu schließen. Er
attestiert betreffenden Personen, dass
sie im medizinischen Sinne Trans-
vestiten sind, wie das damals hieß,
dass es also für ihr seelisches Wohl-
befinden nötig ist, die Kleidung des
anderen Geschlechts zu tragen. Mit
diesem Attest konnten sie bei der
Polizei einen sogenannten Transves-
titenschein bekommen: einen Aus-
weis mit ihrem Bild in der Kleidung
des Wunschgeschlechts. Wer den
Weibliche, männ- Ausweis hatte, wurde nicht mehr fest-
liche Transvestiten genommen.
in Berlin 1921: SPIEGEL: Das klingt nach einem Fort-
»Erregung öffentlichen
Ärgernisses« schritt.
Herrn: Das war es auch, aber gleich-
zeitig war es ein System doppelter
sozialer Kontrolle: Die Menschen
mussten sich einer medizinischen Ex-
pertise unterwerfen – und dann auch
noch zur Polizei gehen.
SPIEGEL: Sie berichten in Ihrem Buch
auch von den ersten genitalchirurgi-
schen Operationen in den Zwanziger-
jahren. Waren die erfolgreich?
Herrn: Leider liegen uns keine Lang-
zeitbeobachtungen vor. Gut möglich,
dass Körper inkontinent wurden,
wenn in ihnen eine neue Vagina aus-
geformt worden war. Genitalchirur-
gische Operationen waren Experi-
mente am Menschen – mit unsiche-
rem Ausgang. Aber die Patientinnen
und Patienten haben die Ärzte vor
sich hergetrieben, einige haben sogar
mit Suizid gedroht, um Operationen
zu erzwingen.
SPIEGEL: Hirschfeld hat auch homo-
sexuelle Männer kastrieren und dann
neue Hoden unter die Bauchdecke
implantieren lassen – um ihre Homo-
sexualität zu überschreiben.
Herrn: Homosexualität war ein Stig-
ma, unter dem viele extrem litten. Sie
kamen zu Hirschfeld und flehten ihn
an, sie zu »heilen«. Hirschfeld glaub-
Sexualwissen- te damals, dass manche Männer
schaftler Hirschfeld homosexuell sind, weil ihre Hoden
um 1920:
Deal mit dem Polizei­ weibliche Hormone produzieren. In
präsidenten der Logik musste es durch den Aus-
tausch der Hoden gelingen, jemanden
zu heterosexualisieren.
SPIEGEL: Wie haben die Männer die
Operationen überstanden?
Herrn: Es wird Abstoßungsreaktio-
nen gegeben haben, und natürlich
haben die Operationen ihren Zweck
nicht erfüllt: Die Männer waren
nachher genauso homosexuell wie
vorher.
SPIEGEL: Und woher kamen die ver-
meintlich heterosexuellen Hoden?
bpk
 KU LT U R

Herrn: Organhandel. Es gibt einen Bericht

eines Arztes darüber, dass junge Proletarier
Anfang der Zwanzigerjahre ihre Hoden ver-
kauft haben. Da gestattet zum Beispiel ein
Vater seinem Sohn, zumindest einen seiner BELLETRISTIK SACHBUCH
beiden Hoden meistbietend zu verkaufen,
der Erlös: 200 Mark. Medizinethisch war Serienmörderin Catherine Dior war die
das hoch fragwürdig. Aber gleichzeitig war Grace sitzt im Gefängnis Schwester des berühmten
und sinnt auf Rache. Designers, Namensgebe­
der Leidensdruck vieler ungeheuer groß, Nach der Entlassung will rin des Parfüms »Miss
trotz der Anonymität der Großstadt. Durch sie ihren reichen Fami­ Dior« – und sie wurde als
den Paragrafen 175 waren Homosexuelle lienclan väterlicherseits Widerstandskämpferin
ermorden und beerben, im KZ Ravensbrück inhaf­
erpressbar, eine Gefahr, die ihr Leben be- doch irgendjemand tiert. Justine Picardie
stimmte. scheint diesen Plan be­ legt eine überraschende
SPIEGEL: Hirschfeld glaubte, dass Homo- reits zu kennen. | Platz 19 Biografie vor. | Platz 20
sexualität angeboren ist. Welche Erklärung
ist heute wissenschaftlich up to date? 1 (2) Bonnie Garmus 1 (4) Brianna Wiest 101 Essays, die dein Leben
Eine Frage der Chemie Piper; 22 Euro verändern werden Piper; 22 Euro
Herrn: Es gibt auch heute noch Theorien zu
hormonellen Faktoren und sogar Theorien 2 (1) Heinz Strunk 2 (1) Kurt Krömer Du darfst nicht alles glau-
über den Zusammenhang zwischen Körper- Ein Sommer in Niendorf Rowohlt; 22 Euro ben,
maßen und sexueller Orientierung. Da geht was du denkst Kiepenheuer & Witsch; 20 Euro
es dann zum Beispiel um die Fingerlängen. 3 (3) Susanne Abel
Immer mal wieder gibt es auch steile Be- Was ich nie gesagt habe dtv; 23 Euro 3 (3) Marietta Slomka
hauptungen zur genetischen Determination. Nachts im Kanzleramt Droemer; 20 Euro

Nehmen Sie die Thesen von Dean Hamer, der 4 (4) Lucinda Riley
Die Toten von Fleat House Goldmann; 22 Euro 4 (2) Andreas Sturm
in den Neunzigerjahren behauptete, ein Ab- Ich muss raus aus dieser Kirche Herder; 18 Euro
schnitt auf einem X-Chromosom, Xq28, ver- 5 (5) Donna Leon
schlüssele Homosexualität. Die Presse springt Milde Gaben Diogenes; 25 Euro 5 (5) Christiane Hoffmann
auf solche Studien an wie der pawlowsche Alles, was wir nicht erinnern C. H. Beck; 22 Euro
Hund. 6 (6) Susanne Abel
Stay away from Gretchen 6 (6) Neven Subotić / Sonja Hartwig
SPIEGEL: Das klingt ja auch sensationell. dtv; 20 Euro
Alles geben Kiepenheuer & Witsch; 22 Euro
Herrn: Ja, aber bislang ließ sich keine der
7 (8) Michael Kobr / Volker Klüpfel
Theorien erhärten. Wir hatten das auch hier 7 (7) Klaus von Dohnanyi
Affenhitze Ullstein; 24,99 Euro
in Berlin an der Charité. Der Mediziner Nationale Interessen Siedler; 22 Euro
Günter Dörner behauptete, dass Homo- 8 (7) Ildikó von Kürthy
sexualität durch eine pränatale Prägung Morgen kann kommen Wunderlich; 22 Euro
8 (9) Vincent Klink Ein Bauch spaziert
des Gehirns verursacht werde, insbesondere durch Venedig Rowohlt; 25 Euro

durch vermehrte Östrogenausschüttungen 9 (13) Jan Weiler

Der Markisenmann 9 (–) Andreas Englisch
gestresster Mütter während der Schwanger- Heyne; 22 Euro
Mein geheimes Rom C. Bertelsmann; 24 Euro
schaft. Nachuntersuchungen bestätigten sei-
10 (–) Jay Kristoff
ne Studie nicht. Das Reich der Vampire Fischer Tor; 26 Euro
10 (8) Peter Hahne
SPIEGEL: Der Lady-Gaga-Song »Born This Das Maß ist voll Quadriga; 12 Euro
Way« ist längst ein Slogan der queeren Com- 11 (10) Miranda Cowley Heller
munity. Die Idee des Angeborenseins schützt 11 (12) Catherine Belton
Der Papierpalast Ullstein; 23,99 Euro
Putins Netz HarperCollins; 26 Euro
davor, zum Therapeuten geschickt zu werden.
Herrn: Absolut. Es gibt übrigens auch homo- 12 (11) Carsten Henn 12 (16) Doris Dörrie
sexuelle Wissenschaftler, die biologistische Der Geschichtenbäcker Piper; 15 Euro
Die Heldin reist Diogenes; 22 Euro
Thesen gerade jetzt im Zuge der queeren
13 (14) Carsten Henn 13 Egon Krenz
Diversifizierung vertreten. Sie versichern Der Buchspazierer Piper; 15 Euro
(–)

ihrer eigenen Peer Group so: Wir Homose- Aufbruch und Aufstieg Das Neue Berlin; 24 Euro

xuellen werden immer eine Gruppe bleiben. 14 (17) Mona Kasten 14 (11) Richard David Precht
Das biologische Argument hat also eine dop- Lonely Heart Iyx; 18 Euro Freiheit für alle Goldmann; 24 Euro
pelt stabilisierende Funktion – die Gesell-
schaft versichert sich, dass die anderen die 15 (9) Sarah J. Maas Crescent City – 15 (10) Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt
anderen bleiben, die Minderheit versichert Wenn ein Stern erstrahlt dtv; 24 Euro Bewegung Insel; 26 Euro
sich ihres Minderheitenstatus.
16 (12) Martin Walker 16 (14) Florian Illies
SPIEGEL: Hirschfeld trug aus Nazisicht damals Tête-à-Tête
ein dreifaches Stigma: homosexuell, jüdisch,
Diogenes; 25 Euro Liebe in Zeiten des Hasses S. Fischer; 24 Euro

Sozialdemokrat. 17 (15) Micky Beisenherz / Sebastian Fitzek 17 (15) Angela Merkel

Herrn: Seinen Mut finde ich bewundernswert, Schreib oder stirb Droemer; 19,99 Euro Was also ist mein Land? Aufbau; 8 Euro
seine Chuzpe. Er war einer, der standgehalten
hat. Und trotzdem war Hirschfeld kein Held, 18 (16) Bernhard Schlink 18 (–) Gregor Gysi
auch er sprach sich zum Beispiel für Kastra- Die Enkelin Diogenes; 25 Euro Was Politiker nicht sagen Econ; 22 Euro

tion von Sexualverbrechern aus und war Eu- 19 Bella Mackie

(–) 19 (–) Laura Malina Seiler
geniker. Das waren viele Mediziner damals, How to kill your family Heyne; 22 Euro Zurück zu mir Rowohlt; 15 Euro
aber dennoch. Auch in seinem Leben gab es
viel Ambivalenz, die wir aushalten müssen. 20 (19) Renate Bergmann Dann lassen wir eben 20 (–) Justine Picardie
SPIEGEL: Herr Herrn, wir danken Ihnen für die Heizdecke weg! Ullstein; 10,99 Euro Miss Dior Aufbau; 26 Euro
dieses Gespräch. n Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin »buchreport« (Daten: media control); Informationen unter spiegel.de/bestseller

Nr. 28 / 9.7.2022 DER SPIEGEL 117

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zem ein schrulliger Independent-Filmer vom

Ende der Welt war, sind enorm.
Vor fünf Jahren verwandelte er die bisher
eher öde und behäbige Thor-Saga in eine wil-
de Achterbahnfahrt voller hinreißend anar-
chischer Gags und tollkühner Einfälle. Mit
»Thor: Tag der Entscheidung« zog der Holly-
wood-Außenseiter damals das Superhelden-
Genre durch den Kakao und landete einen
Überraschungserfolg. Weltweit spielte der
Film über 850 Millionen Dollar ein.
Danach drehte Waititi die nicht minder
absurde NS-Satire »Jojo Rabbit«, trat darin
selbst als Hitler-Parodie auf und gewann einen
Oscar für das beste adaptierte Drehbuch. Seit-
dem gilt er als Erbe von Chaplin, Lubitsch

Bianca de Marchi / AAP / IMAGO

und Spielberg, ein Spezialist für großes, ko-
mödiantisches Kinospektakel, das seine Ener-
gie aus dem Nukleus intimer Dramen zieht.
Als Nächstes will er einen eigenständigen
Kinohoffnung »Star Wars«-Film für Disney drehen.
Waititi
Es ist, als wäre der elegant grau melierte
Erwachsene, der sich ein infantiles Gemüt
bewahrt hat, in Hollywoods Spielzeugladen
eingeladen worden, um sich mal richtig aus-

Kindskopf im zutoben. »Time« wählte ihn kürzlich in seine

Liste der 100 einflussreichsten Persönlich-
keiten des Jahres 2022, nicht als Künstler,

Spielzeugladen sondern als Innovator. Er steht für ein moder-

HOLLYWOOD Der neuseeländische Filmemacher Taika Waititi wird
für seinen kindlich-radikalen Comedystil gefeiert, jetzt läuft
sein Marvel-Spektakel »Thor: Love and Thunder« im Kino. Wie wurde
er zu Hollywoods neuer Wunderwaffe?
er große Alfred Hitchcock machte
D sich einen Spaß daraus, in fast jedem
seiner Filme auch selbst aufzutreten,
inkognito, nur für einen flüchtigen Moment.
Für Taika Waititi wäre das nicht genug. Der
neuseeländische Regisseur schafft in seinen
Filmen viel Raum für kuriose Nebenfiguren
– die er dann selbst verkörpert. In seinem
Kino ist er selbst sein liebster Star.
Am Tag vor dem Deutschlandstart seines
neuen Films sitzt Waititi in einem Londoner
Hotelzimmer und gibt Interviews. Man redet
über Zoom, noch immer wirft die Corona-
pandemie ihren langen Schatten über die
Entertainment-Industrie. Waititi wünscht
sich, dass man bald wieder persönlich zusam-
mentreffen kann, denn der Regisseur fühlt
sich am wohlsten, wenn er wie ein Märchener-
zähler an einem imaginären Lagerfeuer sitzt
und irrwitzige, aber auch herzwärmende Ge-
schichten zum Besten gibt.
Sie handeln zumeist von Kindern oder
sein Lagerfeuer gebildet hat, ist inzwischen
sehr, sehr groß.
Der 46 Jahre alte Schauspieler, Comedian
und Filmemacher gehört zurzeit zu den ge-
fragtesten Regisseuren in Hollywood. Für
Marvel und Disney drehte er nun seinen zwei-
ten Film über den hammerbewehrten Super-
helden und Gottessohn Thor. »Thor: Love
and Thunder«, so die Hoffnung, soll einer der
größten Blockbuster des Jahres werden. Die
Erwartungen an Waititi, der noch bis vor Kur-
Jasin Boland / Mar vel Studios
nes, diverses, Popkultur-vernarrtes und auf
unschuldige Weise lustiges Familienkino, die
Zukunft des Blockbuster-Geschäfts.
Waititi scheint in der Aufmerksamkeit
zu baden. In der Öffentlichkeit lässt er sich
gern mit leuchtend bunter Garderobe als Dan-
dy oder coole Stilikone inszenieren. Rastlos
scheint er überall mitmischen zu wollen. Zu-
letzt spielte er für die HBO-Serie »Our Flag
Means Death« eine homoerotische Version
des Piraten Blackbeard, erhielt eine Emmy-
Nominierung für die Stimme des Roboters
IG-11 in einer Folge der Serie »The Manda-
lorian« – und natürlich spielt er auch in »Thor:
Love and Thunder« wieder selbst mit, als ul-
kiges Felsenmonster Korg.
Das Bild mit dem Spielzeugladen gefällt
ihm. »Ich bin der Boss in meinen Filmen, also
warum darf ich nicht auch mit all dem Spiel-
zeug spielen?«, sagt Waititi über seine scham-
lose Selbstbesetzung. Er finde sich eben in
jedem seiner Filme wieder. »Ich weiß nicht
einmal mehr, ob das eine Sache der Eitelkeit
ist. Ich glaube, es ist einfach ganz natürlich.
Ich denke, dass ich wirklich gut bin.«
Er weiß aber auch um die Gefahr, die sich
durch seine Erfolge ergibt. »Sie haben auch
meiner Arroganz Tür und Tor geöffnet«, sagt
er lachend. Eine Woche vor dem Start seines
Thor-Films postete er trotzig auf Instagram:
»Wenn Sie diesen Film nicht sehen, bedeutet
das, dass Sie Spaß, Kunst und unabhängiges

Kind gebliebenen Erwachsenen, die nach
Zusammenhalt suchen, einer Familie. In
Waititis Filmen können sie die Gestalt von
Vampiren, Hitlerjungen oder nordischen Göt-
tern annehmen. Sie werden inzwischen von
Millionen Menschen auf der ganzen Welt
gesehen und bejubelt. Der Kreis, der sich um
Kino hassen.« Natürlich ein Witz: Waititi ist
bewusst, dass ein Marvel-Blockbuster Licht-
jahre von den kleinen Filmen entfernt ist, die
er noch daheim in Neuseeland drehte, da-
runter das Vater-Sohn-Abenteuer »Boy« und
die Vampir-Mockumentary »5 Zimmer, Kü-
»Thor«-Stars Portman, Hemsworth che, Sarg« über eine Blutsauger-WG. Sie mün-

118 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022

 KU LT U R

dete in eine erfolgreiche TV-Serie und mach-

te ihn in Hollywood bekannt. SPIEGEL TV Programm
In seinem zweiten Marvel-Film, in dem
Chris Hemsworth und Natalie Portman beide
als Thor auftreten, gelingt ihm das Kunst-
stück, seinen eigenen Wahnwitz noch einmal G EL T V
zu übertreffen. Als wäre er selbst einer jener SPIE
Götter, die er auf der Leinwand inszeniert,
wirbelt er Gags und absurdeste Actionszenen
scheinbar willkürlich durcheinander. Es ist
sehr unterhaltsam, aber es wirkt auch größen-
wahnsinnig. Und eitel. Hält er sich für un-
besiegbar? »Ja«, sagt er, »aber ich bin nicht
so arrogant zu glauben, ich könnte nicht schei-
tern. Dieses Gefühl und die Angst davor, mich
zu wiederholen, bringt mich dazu, mich noch
mehr anzustrengen.«
So gebe es auch in seinen »Thor«-Filmen
neben aller Lust am Spektakel ein Motiv der
Demut, sagt er: »Es geht um die Illusion, dass

ich unsterblich werde, weil man sich an mich
erinnern wird. Die Realität ist, dass niemand
von uns in Erinnerung bleiben wird. Und des-
halb sollten wir unser Ego loslassen. Verbrin-
gen Sie die Zeit, die Sie haben, damit, anderen
zu helfen. Keiner weiß, was uns im Himmel
erwartet, also müssen wir versuchen, den
Himmel auf Erden zu schaffen.« Comedy,
sagte Waititi einmal, gelte immer als unter-
schätzte Kunstform. In seinen Filmen diene
Komik auch dazu, das Publikum zu ent-
waffnen: »Wenn man lacht, hört man mehr
zu, man ist empfänglicher. Dann kann man
eine Botschaft vermitteln, die tiefgründiger
ist.«
Seine Filme, das gibt er zu, handeln immer
auch von seiner emotional zerrissenen Kind-
heit in Neuseeland nach der frühen Trennung
seiner Eltern, einer jüdischen Lehrerin mit
russischen Wurzeln und einem libertären
Maori, der eine Motorradgang anführte. Die
größte Herausforderung für Taika Waititi
wäre es wohl, daraus einen seriösen Arthouse-
film zu machen, wie er auf großen Festivals
gezeigt wird. Er muss lachen: »Wenn ich nach
Cannes gewollt hätte, dann hätten die Kinder
in ›Jojo Rabbit‹ nicht überleben dürfen. Ich
kann keine Filme drehen, bei denen man noch
deprimierter rausgeht, als man reingegangen
ist. Die Welt ist im Moment so abgefuckt, dass
es so etwas wie meine Filme geben muss, für
nur ein kleines bisschen Freude.«
Wenn er einmal nicht an einem seiner
zahlreichen Projekte als Darsteller, Produzent,
Autor und Regisseur arbeitet, erzählt er im
Interview, dann koche er zu Hause in Los
Angeles »alles, was mit Fleisch zu tun hat«
oder lädt zum Barbecue für einen kleinen
Kreis – vielleicht seine aktuelle Freundin, die
Popsängerin Rita Ora, oder seine in Neu-
seeland lebenden beiden Töchter aus erster
Juwelier Peter Schupp in seinem von der Flut zerstörten Geschäft
SPIEGEL TV
MONTAG, 11. 7., 23.25 – 0.00 UHR, RTL
»Nichts ist mehr wie früher!« –
Der lange Weg zurück ins Leben
Ein Jahr nach der Flut warten viele
Betroffene immer noch auf finanzielle
Unterstützung. Manche können nicht
in ihre Häuser zurück, andere leben in
Bauruinen, und alle fühlen sich allein-
gelassen. Vor allem von der Politik. Der
Frust im Ahrtal, er wächst mit jeden Tag.
Von Afghanistan bis nach
Calw – Die Odyssee einer
Flüchtlingsfamilie
Dreieinhalb Jahre und 3000 Kilometer
liegen hinter der Familie Jacobi. Jetzt
ist sie angekommen in ihrer neuen
Heimat in der schwäbischen Provinz.
KABEL EINS
SONNTAG, 10. 7., 20.15 – 22.15 UHR, KABEL EINS
Deutschlands größte Geheim-
nisse – Die faszinierendsten 13
Warum zahlen Hausbewohner in einer
bayerischen Stadt einen Mietpreis, von
SPIEGEL TV
dem alle Deutschen nur träumen
können? Welches 150 Jahre alte Objekt
war damals eine technische
Revolution und schlummert heute im
Archiv eines Museums? Welches
Geheimnis teilt eine Stadt in Baden-
Württemberg mit New York City?
In welchem europaweit einmaligen
Zuhause wohnt ein Ehepaar aus Sach-
sen? Die Show präsentiert 13 schräge
Orte, Rekorde, Geschichten und
lädt zum Miträtseln ein: Es gilt, Hinweise
zu kombinieren und so die Geheim-
nisse zu lüften. Zahlreiche Prominente
knobeln mit.
SPIEGEL GESCHICHTE
MITTWOCH, 13. 7., 21.10 – 21.40 UHR, SKY
Breakthrough: Die Marsmission
des Rovers »Perseverance«
Die Landung von »Perseverance« auf
dem Roten Planeten war ein Ereignis für
die Geschichtsbücher: Mit Spannung
verfolgte die Welt seine Landung auf dem
Mars. Der Mission ging eine jahrelange
akribische Vorbereitung voraus. Zum
Einsatz kam dabei innovative Technologie
wie der erste Marshelikopter.
2019 CuriosityStream Inc.

Ehe, die er viel zu selten sieht. Selbst wenn

er etwas nur für sich tun könnte, tut er es also
auch für andere, für das beglückende Erlebnis,
SPIEGEL TV

wenn das von ihm am heimischen Lagerfeuer

zubereitete Mahl nicht nur ihm, sondern der
ganzen Familie schmeckt.
Unterdruckkammer des ehemaligen Marsrover »Perseverance« kurz vor der
Andreas Borcholte n
DDR-Leistungszentrums Landung

Nr. 28 / 9.7.2022 DER SPIEGEL 119

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Nicht von dieser Welt
DIGITALISIERUNG Kunstgenuss im Metaversum: In virtuellen Spielwelten zeigen körperlose Kreative ihre
Ausstellungen, spielen Theater und geben Konzerte. Ist das die Zukunft des Kulturkonsums?
a Turbo Avedon trägt Undercut,
L die Schläfen rasiert, das hell-
blonde Haar wie mit Gel aus der
Stirn gekämmt. Manchmal aber auch
Glatze, das kostet nur ein paar Maus-
klicks. Hauptsache androgyn, denn
La Turbo Avedon möchte keinem
Geschlecht zugeordnet werden. »Das
würde mich nur einschränken«, tippt
Avedon in einen Chat. »Im virtuellen
Raum ist viel mehr möglich als im
echten Leben. Es gibt dort Platz für
Widersprüchliches.«
Dazu gehört, dass sich Avedons
Aussehen und Persönlichkeit regel-
mäßig ändern. »Meinen Charakter zu
erschaffen ist ein Prozess. Auch weil
ich aus so vielen Rollen wählen kann.
In manchen Nächten hänge ich in di-
gitalen Gothic-Clubs herum, in ande-
ren entwickle ich Spiele zu philoso-
phischen Themen«, schreibt der Ava-
tar über die Gamingplattform
Discord, die er für ein Gespräch mit
dem SPIEGEL gewählt hat.
Wer mit La Turbo Avedon zu tun
hat, muss sich zunächst an einen
sperrigen Gedanken gewöhnen: Es
handelt sich um ein Künstlerwesen,
das es nur in digitalen Welten gibt,
die früher Cyberspace genannt wur-
den und heute Metaversum heißen.
Kunsthistoriker und Kuratoren spre-
chen trotzdem von Avedon, als
handelte es sich nicht um einen Ava-
tar, sondern um einen Menschen.
Gerade ist Avedons erste Einzel-
120 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022
ausstellung im deutschsprachigen
Raum zu sehen.
Das Wiener Museum für Ange-
wandte Kunst ist eine ehrwürdige In-
stitution. Das 150 Jahre alte Gebäude
ist im Stil der Neorenaissance gebaut.
Besucher betreten zunächst eine herr-
schaftliche Säulenhalle, auf den Ga-
lerien gibt es Deckenmalerei. Das
Museum beherbergt Sammlungen
von alten Teppichen, böhmischen
Gläsern und flandrischer Spitze.
Doch neuerdings hat hier auch das
Metaversum seinen Platz. La Turbo
Avedon zeigt im Keller des Gebäudes
eine Videoinstallation. In einem dunk-
len Raum liegen Besucher auf dem
Boden zwischen großen Monitoren,
auf denen computergenerierte Bilder
in Dauerschleife ineinanderfließen.
Fast jeder, der dort liegt, zückt sein
Mobiltelefon, um das, was aus der
virtuellen Welt ins analoge Museum
kam, zu filmen und wieder ins Inter-
net zu schicken. Das zeigt, wie sehr
die Welten jetzt schon ineinander ver-
woben sind. Zu Klangflächen hört
man eine fremdartig metallische Frau-
enstimme. La Turbo Avedon spricht
ein Gedicht über die Existenz im
Internet, wo alles schnelllebig ist,
aber doch auch unsterblich. Übersetzt
lauten einige Zeilen: »Ich kopiere
Objekte in mich und füge mich ein, in den Schat-
Ausstellung »KAWS
– New Fiction« in
ten dieser gekauften Bäume, um sie
London: Auch online zweifach zu genießen, eine Nachmit-
zu besuchen tagsdatei.« Es ist Metaversum-Poesie.
Es klingt kompliziert, wird aber
wohl Normalität werden: Es gibt Kul-
turprodukte, die physisch nicht exis-
tieren, erschaffen von Urhebern, die
lieber digitale Stellvertreter vorschi-
Heathcliff O‹Malley / Telegraph / Camera Press / Picture Press
cken, als sich als Mensch zu zeigen.
Zieht die Kultur nun um ins Virtu-
elle – womöglich schneller als ge-
dacht, als Folge der Coronapande-
mie? Was für manche vielleicht noch
nach abseitiger Spielerei von Tech-
Nerds klingt, ist mitnichten eine Ni-
sche. Millionen Menschen nutzen
bereits das Metaversum, und auch die
Kultur breitet sich dort jetzt aus. Es
gibt Ausstellungen, Theaterauffüh-
rungen, Konzerte. Wer sich darauf
einlässt, bekommt einen Vorge-
schmack auf das, was die Zukunft
bereithält.
Avatare wie La Turbo Avedon sind
zunächst nicht mehr als Pseudonyme.
Anonymes Schaffen hat Tradition,
heute sind etwa Streetart-Künstler
Banksy oder Romanautorin Elena
Ferrante sehr bekannte Decknamen.
La Turbo Avedon treibt das Spiel mit
der Identität auf die Spitze, es ist eine
Kunstfigur, die spricht und handelt
und behauptet, eine Persönlichkeit zu
haben. Möglich machen das Virtual
Reality und das Metaversum.
Der Begriff kommt aus der
Science-Fiction-Literatur und steht
für Onlineumgebungen, in die Nutzer
mit einer Spielfigur, ihrem Avatar,
eintauchen und in ihr agieren. Aus-
sehen und Eigenschaften von Avata-
ren können oft bis hin zu Augenfarbe
oder Schmuck von den Nutzern de-
finiert werden. Sie verständigen sich
über Chats oder eingebaute Sprach-
funktionen. Jeder kann dort sein, wer
er will. In den virtuellen Räumen
können Nutzer dann gemeinsam
Kunstausstellungen besuchen oder
Simulationen von Konzerten.
Es ist eine riesige Spielwiese, ein
Testgelände. Künstler und Kompo-
nisten experimentieren mit diesen
Parallelwelten, um sich von Zwängen
des Körperlichen zu befreien. Sie
schaffen Werke, die nur mit einem
Online-Ich hörbar oder erlebbar sind.
Avatar-Kunst könnte die Mona Lisa
aus Leonardos Bild herausklettern
und leben lassen. Oder die digitalen
Körper der Besucher deformieren.
Die vielleicht ohnehin schon in Tier-
gestalt erschienen sind.
Neun Stunden Zeitverschiebung
liegen zwischen Deutschland und der
Person, die den Avatar Avedon
steuert. In Chats oder Spielen ist Ave-
don erreichbar, verrät aber nur wenig
über seinen menschlichen Hinter-
grund. Es wäre auch denkbar, dass
hinter dem Projekt La Turbo Avedon
mehrere Personen stecken, möglich
wäre sogar, dass eine künstliche In-
telligenz auf Fragen antwortet. Kura-
toren, die mit Avedon arbeiten, be-
stätigen aber, dass es sich um eine
 KU LT U R

Einzelperson handelt. Man habe kürzlich

Dantes »Göttliche Komödie« gelesen, chattet
Avedon, und während des Interviews höre
man den Eurodance-Song »Nur geträumt«
des deutschen Popsternchens Blümchen. Das
klingt wie gezielte Desinformation, so wenig
scheinen diese Auskünfte zusammenzupas-
sen. Vielleicht ist es aber auch wahr.
Der Kunstbetrieb respektiert dieses Spiel
mit dem virtuellen Ich, denn das Erschaffen
und Steuern des Avatars Avedon ist Teil des
künstlerischen Projekts. Als Avatar spricht er
auf Podien, kuratiert eigene Ausstellungen
und verhalf kürzlich einem Kunstfestival in
Manchester zu einer virtuellen Dependance.
Auch wenn es noch ein paar Jahre dauert,
bis es ein Massenphänomen wird: Virtual
Reality hat sich von der Gamingbranche
emanzipiert und nimmt Kurs auf alle Lebens-
bereiche, auch die Kunst. »Zukunft kennt nur
eine Richtung, nämlich nach vorn. Und wir
wissen, wohin das führt: ins Metaversum«,
sagt die in New York lebende Digitalkünst-
lerin Olive Allen. Auch Marina Abramović,
deren radikale Performancekunst von physi-
scher Präsenz lebt, wendet sich dem Meta-
versum zu. Die Starkünstlerin befand, junge
Menschen leisteten dort Pionierarbeit, so wie
sie selbst früher mit ihren Performances. »Es
ist zweifellos die Zukunft«, sagt Abramović.
Dass Kunstschaffende wie Abramović, Al-
len und La Turbo Avedon so überzeugt von
der Idee des Metaversums sind, liegt auch
daran, dass riesige Techkonzerne in diese Ent-
wicklungen viel Geld stecken. Das garantiert
Wachstum, und beide Seiten profitieren da-
von: Der Kultur erschließen die Investitionen
neue Experimentierfelder und Ausdrucks-
formen, für die Techriesen eignet sich Kultur-
förderung überdies zur Imagewäsche. Google
etwa betreibt das »Arts and Culture«-Projekt,
die Facebook-Mutterfirma Meta bietet Künst-
La Turbo Avedon

lern unter anderem das Residenzprogramm

»Open Arts« an. Insgesamt zehn Milliarden
Euro will Meta in diesem Jahr in die Entwick-
lung des Metaversums stecken.
Lukrativ dürfte das Metaversum für jene
werden, die mit Daten Geld verdienen. Was
bisher Timelines und Klicks verrieten, werden
dann auch Bewegungen und Blicke offenba-
ren. Die Gefahr erkennen auch Tech-Enthu-
siasten. »Internetnutzer geben Daten weg,
bevor definiert worden ist, was damit gemacht
werden darf«, sagt Avedon und wünscht sich,
dass jeder das Metaversum erreiche, ohne
ausspioniert zu werden. »Dann können sie
Manuel Carreon Lopez / kunst-dokumentation.com

entscheiden, wie weit sie sich in das hinein-

wagen, was als Nächstes kommt.«
Ist das nun die schöne neue Kulturwelt?
Für eine technikaffine Szene hat es Vorteile,
dorthin zu gehen, wohin nicht alle folgen kön-
nen oder folgen wollen. Als Beschränkungen
empfundene Festlegungen der analogen Welt
wie Alter, Geschlecht oder Nationalität, aber
auch tradierte Gatekeeper wie Galeristen
oder Veranstalter schütteln sie einfach ab.
Abgeschüttelt dürften sich aber auch Kul-
La-Turbo-Avedon-Selbstporträt, 2021, -Installation in Wien: Dante und Blümchen-Pop turinteressierte über 40 fühlen, die nicht mit

Nr. 28 / 9.7.2022 DER SPIEGEL 121

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Ariana-Grande-Avatar in Spiel »Fortnite«: Ästhetik zwischen Barbie und der Eiskönigin
dem Internet aufgewachsen sind. Diese Ge-
neration findet sich in sozialen Netzwerken
zwar noch zurecht. Den Boom von immer-
siven Welten und Kryptowährungen oder ein
Dasein als Avatar – all das ist ihnen aber
fremd, manche empfinden es gar als Kapitu-
lation vor der Gamingkultur. Ob man die Idee
des Metaversums als relevant bewertet, hängt
oft schlicht vom Alter ab oder davon, ob man
einen Teil seines Lebens dort sieht. Laien
neigen dazu, sie zu unterschätzen.
Wenn diskutiert wird, ob Kultur im Meta-
versum Quatsch ist oder genial, wird oft das
Spiel »Second Life« aus dem Jahr 2003 er-
wähnt, mit dem Hinweis, es sei heute so gut
wie verwaist. Diese virtuelle Welt gestalten
Nutzer frei nach ihren Ideen, sie arbeiten und
handeln darin. In der Hochphase gab es Le-
sungen, lyrische Workshops und Ballettaben-
de. Auch die Gemäldegalerie Alte Meister der
Staatlichen Kunstsammlungen Dresden wur-
de nachgebildet.
Der Hype ging vorbei, die Idee des Meta-
versums aber blieb. Facebook-Gründer Mark
Zuckerberg schilderte im Herbst vergangenen
Jahres seine Vision, dass sich Menschen in
etwa zehn Jahren im Metaversum treffen wür-
den, um zu arbeiten, zu spielen und Konzer-
ten zu lauschen.
Das ist keine Science Fiction. Denn junge
Menschen tun längst genau das, nur eben
nicht mehr in »Second Life«. Knapp 50 Mil-
lionen von ihnen besuchen täglich »Roblox«.
In »Minecraft« sind es monatlich 140 Mil-
lionen Nutzer, die im Durchschnitt 27 Jahre
alt sind.
Die Menschen sind dort nicht nur, um zu
spielen. Die Plattformen sind für sie auch
soziale Treffpunkte.
Es ist ein fester Teil ihrer Realität, dort ech-
tes Geld auszugeben, um ihr Online-Ich mit
neuen »Skins« einzukleiden oder sich ein vir-
tuelles Haustier zuzulegen. Sie bauen emo-
tionale Bindungen zu ihrem Zweit- oder auch
122 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022
Epic Games
Drittdasein auf. Wenn sich Avatare in virtu-
ellen Umgebungen treffen, fühlen sich ihre
Besitzer in realer Gesellschaft. Schulkinder
verabreden sich dort, statt sich gegenseitig zu
besuchen. Sie wachsen in dem Bewusstsein
auf, dass sich ein Teil ihres Lebens im Meta-
versum abspielt.
Ausstellungsmacher und Galeristen testen
mit eigenen Projekten das Potenzial für ihr
Geschäft. Doch nicht alles funktioniert. Wer
sich in virtuelle Ausstellungsräume wie Musee
Dezentral oder Decentraland einloggt, findet
wenig mehr als einen verlängerten Arm des
Kunsthandels vor. Kaum jemand verirrt sich
dorthin. Als Nutzer läuft man durch verwais-
te Räume.
Die erfolgreichen Kulturprojekte finden
sich dort, wo ohnehin Millionen Menschen
sind: in Computerspielen. Noch bevor die
spanische Sängerin Rosalia ihr aktuelles Al-
bum »Motomami« herausbrachte, hörte man
ihre Musik im Spiel »Grand Theft Auto«. Der
neuseeländische Künstler Simon Denny, der
an der Hamburger Hochschule für Bildende
Künste unterrichtet, ließ einen Teil seiner letz-
ten Ausstellung im Düsseldorfer Museum K21
auch in »Minecraft« stattfinden.
Seit der amerikanische Pop-Art-Künstler
KAWS Anfang dieses Jahres in der Londoner
Serpentine Gallery ausstellte, ist die Schau
auch kostenfrei im Spiel »Fortnite« zu sehen.
Statt sich Gefechte zu liefern, verlassen die
Avatare den normalen Spielmodus und ren-
nen durch die Nachbildung des Museums. Mit
Das Metaversum
ist längst real
und gut besucht: in
Computerspielen.
mehr als 350 Millionen registrierten Accounts
ist das Spiel eines der populärsten der Welt.
Das ist eine Reichweite, von der Kultur-
manager träumen.
»Fortnite« ist ein Vorreiter in Sachen
Kultur. Regelmäßig verwandelt sich das Spiel
in eine gigantische virtuelle Konzertbühne.
Ein Konzert des Rappers Travis Scott ver-
folgten nach Angaben von Hersteller Epic
Games 12,3 Millionen Menschen – das
war im Frühling 2020 ein Nutzerrekord für
»Fortnite«.
Im vergangenen Jahr folgte ein Konzert
von Ariana Grande: Drei Tage lang war ein
Spektakel quasi in Dauerschleife zu sehen,
eine Ästhetik irgendwo zwischen Barbie und
der Eiskönigin. Computergenerierte Figuren
turnten durch eine bonbonbunte Fantasie-
welt, Ariana Grande flog gemeinsam mit den
Spielern in Seifenblasen durch die Luft. Es
gibt Gerüchte, dass bald auch Billie Eilish in
»Fortnite« auftreten werde.
Für junge Gamer ist das ein großes Ver-
gnügen, weil sie diese Shows nicht nur passiv
betrachten, sondern sich als Figur darin be-
wegen können. Wer zehn Jahre in die Zukunft
denkt, ahnt, wie junge Erwachsene dann Kul-
tur konsumieren könnten. Bestimmt nicht
ausschließlich online – aber zum Teil.
Die Komponistin und Multimediakünst-
lerin Wen Liu, 34, will die alte und die neue
Welt in einem Hybridwerk zusammenführen.
Ihre Oper »Speculum Maius« soll im Dezem-
ber im Kunstmuseum Bonn mit echten Sän-
gern und Musikern uraufgeführt werden und
gleichzeitig im Metaversum vor Avataren
stattfinden. Die Onlinezuschauer sollen dabei
mit einer App den Ablauf auf der realen Büh-
ne mitbestimmen: Sie fällen Entscheidungen,
die Darsteller richten sich danach. Es ist ein
ehrgeiziger Plan, an der Technik feilt das
Team der Komponistin noch.
Sicher ist, dass Wen Liu mit Traditionen
bricht: Handys werden in dieser Oper erlaubt
sein. »Ich möchte Smartphones nicht aus dem
Zuschauerraum verbannen. Ich will sie in mei-
ner Oper haben«, sagt Wen Liu. Schon wäh-
rend ihres klassischen Musikstudiums in
Shanghai, Wien, Graz und San Diego sei tra-
ditionelles Musiktheater für sie und ihre Kom-
militonen uninteressant gewesen. »Oper ist
zu weit weg von unserem digital geprägten
Leben«, findet Wen Liu.
Die digitale Prägung ist nicht mehr weg-
zudenken, und der Einfluss des Digitalen
wird weiter voranschreiten. Dass Musik und
Theater im Metaversum ersetzt werden wie
Briefe durch E-Mails, ist zwar unwahrschein-
lich. Dafür ist das Erlebnis eines Live-Events
mit allen Sinnen zu eindrucksvoll. Für Kunst
und Kultur kann das Metaversum aber ein
bereicherndes Extra sein, denn auf dieser
Spielwiese entsteht fortwährend Neues. Wer
sich für das kulturelle Leben kommender
Generationen interessiert, sollte deshalb
ins Metaversum schauen. Die schöne neue
virtuelle Welt wird kommen.
Carola Padtberg n

Ein falscher Wiener geht
nicht unter
BUCHKRITIK Bestsellerautor Dirk Stermann schildert im Roman »Maksym«
die Abenteuer eines späten Vaters.
olles Fallbeispiel für die An-
T fängerstunde beim Paarthera-
peuten. Klagt die Frau, dass sie
über ihre berufliche Situation nicht
glücklich sei, antwortet der Mann:
»Du hattest doch keinen Schlaganfall.
Du hast ein Kind bekommen.«
Es ist ein Buch zum Gruseln, das
der in Wien lebende deutsche Kaba-
rettist und Schriftsteller Dirk Ster-
mann über einen alternden weißen
Mann, seine junge Frau und ihren
Kampf um kleinfamiliäres Glück und
berufliche Erfüllung geschrieben hat.
Es gibt auch eine Menge zu lachen.
Der Held des Romans ist ein in Wien
lebender deutscher Kabarettist und
Autor namens Dirk Stermann. Er er-
zählt von seiner Beziehung zu einer
deutlich jüngeren Künstlerin und von
Erziehungsversuchen am gemeinsa-
men vierjährigen Sohn. Von Eifersucht,
Haushaltsstress, Dreikäsehoch-Sprü-
chen, Streit um die Kinderbetreuung.
»Nenn mich nicht Banksy. Sag Papa«,
fordert der Held von seinem Sohn.
Doch das Kind spricht seinen Vater be-
harrlich mit dem Namen eines anderen
Mannes an, »der immer weg ist«.
Als Autor bekannt geworden ist
Stermann, 56, durch einen phänome-
nalen Bestsellererfolg. »6 Österrei-
cher unter den ersten 5« erschien
2010. Das Buch erzählt von der Be-
geisterung des in Düsseldorf aufge-
wachsenen Deutschen Stermann für
seine Wahlheimat Wien. Gemeinsam
mit dem Kollegen Christoph Grisse-
mann moderiert er im ORF-Fernse-
hen seit vielen Jahren die Satiresen-
dung »Willkommen Österreich«.
Der Held bestaunt darin allerlei
komische austriakische Eigenheiten
und den Zauber der Wiener Medien-
und Kleinkunstwelt, vor allem aber
das eigene Leben: wie ein humoris-
tisch halbwegs begabter junger
Mensch aus dem Rheinland es in Wien
Dirk Stermann: »Maksym«. Rowohlt;
320 Seiten; 23 Euro. Erscheint am 19. Juli.
zu einem in Radio und TV beliebten,
bei Liveauftritten bejubelten und für
politische Frechheiten berüchtigten
Kabarettstar schaffen konnte. Und was
ihm dabei nebenher im Privaten an
Glück und Abstürzen widerfuhr.
Für die Fortsetzung des Erfolgs-
buchs, von dem mehr als 200 000 Ex-
emplare verkauft wurden, hält sich
Stermann an eine ähnliche Mixtur. »Du
bist nicht Knausgård«, wird der Held
im neuen Werk zwar von einer Ex-Frau
angeschrien. »Du hast nur einen von
Motten zerfressenen Norwegerpulli.«
Trotzdem wirkt es nah am Auto-
biografischen, was Stermann berich-
tet: wie er tagein, tagaus von Auftrit-
ten in kleinen und größeren österrei-
chischen Städten, in denen ihn auch
mal ein Marder attackiert, zu Fern-
sehterminen ins Studio hetzt. Wie er
sich mit seiner Künstlergattin Nina
um die Betreuung des Sohnes zofft,
als sie für ein paar Monate einen Job
in einem österreichischen Kulturins-
titut in New York annimmt und er sich
in Wien allein um den Kleinen küm-
mern soll. Wie er sich mit seinem bes-
ten Freund Robert, einem erfolglosen
Schriftsteller, betrinkt, während sie
über Glanz und Elend später Vater-
schaft diskutieren. Und wie ihm die
Verlagsleute aus Hamburg während
KU LT U R
aller Kalamitäten stets im Genick sit-
zen und endlich die Ablieferung eines
neuen Romans fordern.
Lange existiert vom Buchmanu-
skript keine Seite. Dann wird Ster-
mann geraten, über sich zu schreiben.
Der Rat kommt von einem aus der
Ukraine stammenden Babysitter na-
mens Maksym. Er ist der Joker dieses
grandios komischen Buchs. »Mak-
sym« ist auch der Titel von Stermanns
Roman. Der ukrainische Kinderbe-
treuer mit abgeschlossenem Jurastu-
dium wird nach einer absurden Suche
unter diversen Kandidatinnen und
Kandidaten ausgewählt und zieht,
weil er auch kochen und den Haushalt
besorgen soll, bei Vater und Sohn ein.
Er bildet den Kleinen unter ande-
rem zum Meisterdieb und zum Box-
könig aus. Er schafft es, die Katze
einer Nachbarin, die mit ihren Klage-
schreien seit Monaten den Wohn-
block terrorisiert, sanft zum Schwei-
gen zu bringen. Und er teilt Weishei-
ten, die den Vater seines Schützlings
verblüffen: »Wenn du nicht trainierst,
wird dein Körper schlaff wie ein Re-
genwurm«, zum Beispiel.
Zu den Eigentümlichkeiten des Er-
zählers wie des Kabarettisten Ster-
K. Piles / IMAGO
mann gehört es, dass er zwar mit
schönen Pointen jongliert, aber stilis-
tisch zu einer freundlichen Betulich-
keit neigt. Da wird dann behauptet,
Autor Stermann Deutsche seien von Wiens Prachtbau-
ten so verzückt, weil ihre Städte im
Zweiten Weltkrieg so übel zerstört
wurden. »Weil die Alliierten sicher-
gehen wollten, dass da niemals wie-
der etwas Hausähnliches stehen kann.
Sie behielten recht.«
Oder ein Szenelokal am Nasch-
markt wird so angepriesen: »Vielver-
sprechende junge Schriftsteller waren
zu viel trinkenden alten Schriftstel-
lern geworden, Nachwuchsschauspie-
ler zu vertragslosen arbeitslosen
Schauspielern und bildende Künstler,
die es geschafft hatten, zu eingebilde-
ten Künstlern. Über allen Tischen
schwebte ein Ablaufdatum.«
Der Charme dieses Buchs entsteht
aus einer Grundstimmung der amü-
sierten Erschöpfung, mit der hier ein
Held die Geschichte seines Nieder-
gangs beschreibt. Seine Begeisterung
fürs Vatersein, sein Selbstmitleid fürs
erlittene Liebesunglück – und schon
auch die Zuneigung für die Menschen,
Spaß an die er mal geliebt hat. Unterm Strich:
Altersschmerz eine absolut wienerische Mischung.
In einem Anfall von Poesie dichtet
und Liebes- Stermann einen Blues: »Allein kom-
leid – eine men wir auf diese Welt, alleine gehen
wir. Allein kommen wir nach Wien,
wienerische allein bleiben wir.«
Mischung. Wolfgang Höbel n
Nr. 28 / 9.7.2022 DER SPIEGEL 123
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124 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
 Joe Turkel, 94 in Peking (2008) und London
NACHRUFE Er gehörte zu jenen Nebendar- (2012). Zudem war die gebürti-
stellern in Hollywood, die nur ge Pfaffenhofenerin für die
wenige Szenen und ein paar Regionalsendung »Die Abend-
Dialogsätze brauchen, um den schau – der Süden« als Modera-
Zuschauern auch noch Jahr- torin und Reporterin im Ein-
zehnte später in Erinnerung zu satz. Ihren journalistischen Ein-
sein. Joe Turkels Auftritt als stieg absolvierte die gelernte
Barkeeper, der dem von Jack Buchhändlerin über das Radio.
Nicholson gespielten Helden Für Bayern 3 und BR5 ordnete
in Stanley Kubricks Horrorfilm sie vor allem Wintersportereig-
»The Shining« (1980) einen nisse vor dem Mikro ein, ab
Bourbon einschenkt und sich 2007 stand sie dann für den BR-
stoisch sein Gerede anhört, oder Dauerbrenner »Blickpunkt
als gottgleicher Konzerngründer Sport« vor der Kamera. Schon
Eldon Tyrell in »Blade Runner« 2020 hatte sie sich aus gesund-
(1982) schrieben Filmgeschichte. heitlichen Gründen eine Auszeit
Turkel, der in Brooklyn zur verordnet. Andrea Otto starb

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Welt gekommen war und schon nach langer Krankheit am
in den späten Vierzigerjahren 1. Juli. RED
erste Kinorollen übernommen
hatte, arbeitete mit Starregis- Zhang Sizhi, 94
seuren wie Kubrick, Robert Wise Er hat zeitlebens keinen spekta-
oder William Wyler zusammen. kulären Freispruch erwirkt und
Der notorische Perfektionist gilt doch als der bedeutendste
Kubrick setzte ihn in gleich drei Rechtsanwalt des modernen
Filmen ein. Weil der Regisseur China. In einem Land, in dem
Peter Brook, 97 dazu neigte, Aufnahmen extrem fast jeder Prozess mit einer
Er war ein Prediger der Schlichtheit und der Askese, das machte oft zu wiederholen, musste Verurteilung endet, verteidigte
seine Theaterarbeiten revolutionär und mitunter auch ganz schön der Schauspieler neben seinem Zhang Sizhi Dutzende Dissi-
langweilig. »Der leere Raum« heißt das 1968 erschienene Buch, Talent auch eine gewisse Lei- denten, stets in Gefahr, selbst
in dem der bereits früh erfolgreiche Bühnen- und Filmregisseur Peter densfähigkeit mitbringen. Er er- ins Fadenkreuz des Regimes zu
Brook Vorträge zusammenfasste und für die Theaterkunst eine zählte später, wie Kubrick ihn geraten. Berühmt wurde Zhang
Reduktion aufs Wesentliche forderte. »Wir müssen in der nachbrech- bei den Dreharbeiten zu »The als Anwalt einer Gruppe von
tischen Epoche einen Weg vorwärts finden, der zu Shakespeare Angeklagten, die nach Maos
zurückführt«, lautet eine für Brooks Dialektik typische Botschaft. Tod für die Verbrechen der Kul-
Seine Lehren beeinflussten Theaterregisseurinnen und -regisseure turrevolution verantwortlich
in aller Welt. Brook war in einer aus Lettland nach Großbritannien Warner Bros. / mauritius images gemacht wurden, darunter die
ausgewanderten russisch-jüdischen Familie aufgewachsen und galt sogenannte Viererbande. Auch
nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zunächst als begabter in diesen Schauprozessen er-
Shakespeare-Regisseur. Neben Opern und Kinofilmen, darunter die wirkte Zhang keinen Freispruch,
Literaturadaption »Herr der Fliegen« (1963), inszenierte er mit doch es gelang ihm, das Straf-
klugem, genauem Blick Stücke zeitgenössischer Dramatiker wie Jean maß eines seiner Mandanten zu
Genet, Jean-Paul Sartre und Peter Weiss. Anfang der Siebziger reduzieren. Als Jugendlicher
gründete er in Paris eine der Erforschung von möglichst ursprüng- von der Armee der chinesischen
lichen Darstellungsformen verpflichtete Truppe aus Bühnenkünst- Nationalisten rekrutiert und in
lern asiatischer, afrikanischer und westlicher Herkunft, die den Shining« an den Rand der Er- den Fünfzigerjahren als »Rechts-
Arbeitsort, das Théâtre des Bouffes du Nord, weltberühmt machte. schöpfung gebracht habe. Im abweichler« eingestuft, blieb
Eine »Carmen« (1981), deren Bühnenbild praktisch aus einem Laufe der Jahre wurde Turkel Zhang bis ins hohe Alter kritisch.
Haufen Sand bestand, und Brooks in Avignon uraufgeführte Ver- auch ein gefragter Fernseh- 2008 unterzeichnete er das
sion des indischen Epos »Mahabharata« (1985) tourten durch schauspieler und wirkte in Se- Manifest, für das der spätere Frie-
viele Länder. Peter Brook starb am 2. Juli in Paris. HÖB rien wie »Die Unbestech- densnobelpreisträger Liu Xiaobo
lichen«, »Bonanza« oder »Der zu elf Jahren Haft verurteilt
Chef« mit. »Ich hatte eine ver- wurde. Auch im China Xi Jin-
Willie Lee Morrow, 82 dammt gute Karriere«, sagte er pings setzte er sich für Dissi-
Es war nur ein kleiner Kamm, den Willie Morrow, ein Friseur in einmal. Joe Turkel starb am denten ein. Zhang Sizhi starb
San Diego, 1962 aus Afrika mitgebracht bekam. Er sollte einen gro- 27. Juni in Santa Monica. LOB am 1. Juli in Peking. ZND
ßen Unterschied ausmachen. Frisuren spielen eine wichtige Rolle
im schwarzen Amerika, wie man seine Haare trägt, ist ein Symbol Andrea Otto, 47
der Selbstbestimmung. Anfang der Sechziger gab es ein großes Be- Den präzisen Sportkommentar
dürfnis danach, die Haare einfach wachsen zu lassen – und Morrow und die überdrehte Ortsbe-
Greg Baker / AFP / Getty Images

war der Erste, der den passenden Kamm dazu hatte. Er ermöglichte sichtigung – sie beherrschte bei-
eines der wichtigsten Symbole der schwarzen Emanzipation: des. Als Sportmoderatorin
den Afro. Morrow brachte den Kamm auf den Markt und verkaufte berichtete Andrea Otto für den
Hunderttausende Exemplare. Im Auftrag der U. S. Army gab er Bayerischen Rundfunk und
auch zahlreiche Workshops, um angehenden Friseuren beizubrin- die ARD von den Winterspielen
gen, wie man einen Afro stylt. Am 22. Juni starb Willie Morrow in in Vancouver (2010) und Sot-
seinem Haus in San Diego an einer Lungenentzündung. RAP schi (2014), den Sommerspielen

Nr. 28 / 9.7.2022 DER SPIEGEL 125

 PERSONALIEN

Verrückt nach
Perfektion
Karamellblond, schimmernd,
glatt, die Haarspitzen streifen
knapp das Kinn, der gerade Pony
rahmt die Augenbrauen: Anna
Wintours Frisur ist mindestens so
populär wie ihr Modegeschmack.
Der Bob der »Vogue«-Chefin
wirkt mitunter so akkurat, dass
man ihn für eine Perücke halten
könnte. Kein Wunder, denn der
Friseur Andreas Anastasis, 47,
klingelt jeden Werktag um acht
Uhr morgens bei Wintour in
New York. Dann färbt, schneidet
oder föhnt er das Haar seiner
Klientin zur Perfektion. Das
erzählte Anastasis jetzt der
»New York Times«. Er sei mehr
als Wintour von ihrer Frisur be-
sessen. »Wenn sie nicht perfekt
sitzt, werde ich verrückt.« Fliegt
seine Kundin etwa nach Europa,
gibt Anastasis eine Anleitung für
ihre Frisur mit. Anastasis wuchs
als Kind zypriotischer Einwande-
rer in Großbritannien auf. Schon
früh habe er sich für Frisuren in-
teressiert und heimlich die Haare
von Barbiepuppen geflochten,
sagte er. Worüber er mit Wintour
in den vielen gemeinsamen Stun-
den redet, verriet er nicht. Ver-
schwiegenheit gehört zum Job.

Mark Elzey / NYT / Redux / laif

Eines sagte er dann aber doch: Er
würde es hassen, Wintours Frisur
verändern zu müssen. »Das wäre,
als hätte Karl Lagerfeld seinen
Zopf abgeschnitten. Oder Mari-
lyn Monroe sich brünett gefärbt.
Der Bob ist, wer sie ist.« EVH

Malen gegen den
Terror
Der Name lastet schwer auf der
Familie – und bringt viel Auf-
merksamkeit: Omar Bin Laden,
41, der viertälteste Sohn des
Jean-François Monier / AFP
lockdown damit begonnen, sich
intensiver mit der Malerei zu
beschäftigen, erzählt Bin Laden
in einem Interview. Sie helfe
ihm dabei, die traumatisierende
und von Gewalt dominierte
Kindheit wenigstens zeitweise
schon davor mit seinem Vater
gebrochen. Heute fühle er sich
befreit von der Verantwortung
für die Taten seines Vaters.
Die bunten Bilder erinnern Bin
Laden an die Landschaften
seiner Kindheit. Bilder aus

2011 getöteten Al-Qaida-Anfüh-
rers Osama Bin Laden, zieht
mit einer Ausstellung Journalis-
ten und Kunstinteressierte in
das Städtchen Le Teilleul in der
Normandie. Er habe im Corona-
ein wenig zu vergessen. Man
habe ihn und seine Familie in
aller Welt mit den Terror-
anschlägen vom 11. September
2001 in Verbindung gebracht
und verurteilt, dabei habe er
Afghanistan, wo er zum Kämp-
fer ausgebildet wurde, sind
rot wie Blut. Zwischen 800 und
2500 Euro sollen sie kosten.
Für den Herbst ist eine Ausstel-
lung in Paris geplant. PE

126 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022

 Eine grüne Lunge für
Notre-Dame
Eher selten, dass man an einer
so historischen Stelle einer
Stadt etwas Neues wagen kann.
Ohne den verheerenden Brand
von Notre-Dame im April 2019
wäre es undenkbar. Nun aber
darf der belgische Landschafts-
architekt Bas Smets, 47, den
Vorplatz der Pariser Kathedrale
um die Fassade der Kirche zur
Geltung zu bringen. Die vielen
Bäume, die er pflanzen lassen
will, sollen Wind begünstigen,
aber auch die Temperaturen an
diesem Ort der Stadt senken.
Ein kleiner Wasserlauf, den
sein Entwurf ebenfalls vorsieht,
dient demselben Zweck – die
Verdunstung schafft Kühlung in
den heißen Monaten des Jahres.
Das steinerne Paris, in dem
Die Botschafterin
Die Modewelt lechzt unauf-
hörlich nach Neuem, nach
Abwechslung und Überraschun-
gen. Maria Grazia Chiuri, 58,
Kreativdirektorin von Dior, igno-
rierte dieses Bedürfnis während
ihrer Haute-Couture-Show am
vergangenen Montag in Paris –
und trug ein altes T-Shirt. Aller-
dings nicht irgendeins, sondern

Estrop / Getty Images

umgestalten, der seit drei Jahren
eine Großbaustelle ist. Smets’
puristischer Entwurf gewann
den international ausgeschrie-
benen Wettbewerb, weil er der
Architektur der Kathedrale kei-
ne Konkurrenz mache, wie die
Jury betonte. Und auch, weil er
den klimapolitischen Herausfor-
derungen der kommenden Jahre
gerecht werde. Smets erklärte,
er habe den neuen Vorplatz wie
eine Waldlichtung angelegt,
Eric Tschaen / REA / laif
es pro Einwohner weniger Qua-
dratmeter Grünflächen gibt als
in vielen anderen Metropolen,
kämpft seit Jahren gegen kon-
tinuierlich steigende Tempera-
turen. Im Sommer 2019 wurden
erstmals Rekordwerte von
42,6 Grad Celsius mitten in der
Stadt gemessen. Smets’ Entwurf
erweitert die Vegetation um
Notre-Dame um fast 40 Prozent
– und verschafft der Stadt somit
eine kleine grüne Lunge im
Zentrum. Der Belgier sucht seit
Jahren nach städtebaulichen
Lösungen angesichts des Klima-
wandels. Im südfranzösischen
Arles legte er auf dem Gelände
des Luma-Museums einen
riesigen Park in einer ehema-
ligen Industriebrache an –
jenes Shirt, das sie 2016 entwor-
fen hatte, als sie bei dem fran-
zösischen Modelabel zu arbei-
ten begann. Es trägt den Schrift-
zug »We Should All be Femi-
nists«, den Titel eines Essays
von Chimamanda Ngozi Adi-
chie; die Formulierung hat sich
auch dank Chiuri international
als Statement für Frauenrechte
durchgesetzt. Sie war bei Dior
angetreten mit dem Anspruch,
mit ihrer Arbeit Achtsamkeit
und Bewusstseinsbildung zu
fördern. Gleichberechtigung
ist für sie ein zentraler Wert.
Chiuri, die erste Frau, die in
so verantwortlicher Position bei
Dior arbeitet, sagte jetzt, es sei
an der Zeit, ihren Standpunkt
zu wiederholen: »Wir leben
des Rechts auf Abtreibung in
den USA. Auch in ihrer Heimat
Italien beobachte sie ähnliche
Tendenzen: »Es ist wie ein
Aufblitzen der Vergangenheit.«
Mit ihrer Show macht sie aber
nicht nur auf die Belange der
Frauen in aller Welt aufmerk-
sam, sie schafft es auch, den
Ukrainekrieg in die Modewelt
zu holen. Ohne Schockbilder
von Tod und Zerstörung, son-
dern mit wunderschönen, groß-
flächigen Stickereien, die die
ukrainische Künstlerin Olesya
Trofymenko entworfen hat.

mit einem künstlichen Teich,
80 000 Pflanzen und 1100 neu
gepflanzten Bäumen. In der
Folge sanken die Temperaturen
dort um vier Grad. BSA
in einer Zeit, die ich nicht mag.
Ich fürchte, dass es nur noch
schlimmer werden wird«, sagte
die Designerin der »Vogue«
angesichts der Einschränkung
Das dominierende Motiv ist
der Lebensbaum, ein Symbol
für Wachstum, Fruchtbarkeit,
Unsterblichkeit und Heilung.
Ein Symbol der Hoffnung. KS

Offene Zukunft als sie auf Play drückte, musste

Der Film ist mit bislang rund
950 Millionen Dollar Einnah-
men ein Kassenschlager in aller
Welt, doch eine der Hauptdar-
stellerinnen hat ihn immer noch
nicht gesehen: Elizabeth Olsen,
33. Sie spielt in »Doctor Strange
in the Multiverse of Madness«
die Rolle der Scarlet Witch, der
sie seit 2014 Gestalt verleiht. In
einer Talkshow erzählte Olsen
jetzt, dass sie zum Zeitpunkt
der Premierenvorstellung er-
kältet gewesen sei und deswe-
gen nicht habe hingehen kön-
nen. Eigentlich sei sie nämlich
sie feststellen, dass das Bild
verhunzt war: Ihr Name und
das Datum standen darin, als
eine Art Wasserzeichen. »So
will ich das nicht angucken«,
beschied sie. Der Talkshow-
gastgeber erklärte, dass Pro-
duktionsfirmen digitale Kopien
ihrer Filme mit solchen Störern
versähen, um zu verhindern,
dass sie illegal verkauft würden.
Olsen hat dafür kein Verständ-
nis.
Das Schicksal von Scarlet
Witch, und damit von Olsen, ist
derzeit noch offen. Gerüchte,
dass Scarlet Witch einen eige-
Matt Crossick / Empics / PA Images / IMAGO

keine dieser Schauspielerinnen, nen Film bekommen soll, gibt es

die ihre eigenen Filme nicht
anschauen, sagte Olsen in der
»Tonight Show«: »Ich gehöre
zu den Leuten, die es mögen,
genau hinzuschauen, um he-
rauszufinden, wie man es besser
machen kann.« Deshalb bat
sie darum, den Film nach Hause
geschickt zu bekommen. Doch
schon lange, konkrete Ansagen
jedoch keine: »Ich weiß gar
nichts über meine Zukunft«,
sagte Olsen. Um sich die Zeit zu
versüßen, während sie auf Auf-
klärung wartet, könnte Olsen
»Doctor Strange …« ohne
Wasserzeichen nun bei Disney+
streamen. KS

Nr. 28 / 9.7.2022 DER SPIEGEL 127


BRIEFE
Über die Verhältnisse
gelebt
Nr. 27/2022 Titel: Wohlstandskiller
Inflation
Ja, die Not frisst sich nicht nur
nach oben, sondern der Fisch
stinkt vom Kopf! Die Wut auf
unsere gewählten Volksvertreter
sollte groß sein. Warum bitte ha-
ben diese klugen Köpfe nicht
schon Putins Annexion der Krim
oder den russischen Konflikt mit
Georgien zum Anlass genom-
men, die unbedingte Abhängig-
keit von russischem Öl abzufe-
dern oder ganz zu beenden? Die
Anlässe dazu waren doch schon
gravierend, und nicht wenige Län-
der sahen dies zu dem damaligen
Zeitpunkt so kommen, wie es nun
gekommen ist. So sind es wieder
wir, die Bürger:innen, die dafür
teuer bezahlen müssen.
Manfred Haas, Ingelheim (Rhld.-Pf.)
Natürlich ist es in diesen Zeiten
der Preissteigerungen auf fast al-
len Gebieten das Gebot der Stun-
de, sich möglichst sparsam zu
verhalten. Grundsätzlich trifft es
auch zu, dass die Gruppe der Bes-
serverdienenden mit einer infla-
tionären wirtschaftlichen Ent-
wicklung besser zurechtkommt
als diejenigen, die, aus welchen
Gründen auch immer, nicht so gut
betucht sind. Allerdings kann ich
dann nicht verstehen, wenn je-
mand, wie im Artikel, nicht bereit
ist, auf das Auto zu verzichten,
128 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022
mit der Begründung, dass er dann
etwas mehr als eine Stunde mit
dem ÖPNV zur Arbeit fahren
müsste. Das ist doch wohl zumut-
bar. Man muss das Auto ja nicht
gleich verkaufen, aber man kann
es etwas weniger benutzen und
dadurch Energie einsparen.
Martin Lisienski, Falkensee (Brandenb.)
Wenn alte, weiße Männer einen
alten, weißen Mann auf die Titel-
seite des SPIEGEL bringen, ohne
seinen Namen zu nennen, dann
habe ich Verständnis für alle, die
alte, weiße Männer kritisieren.
Der Mann heißt übrigens Ludwig
Erhard, war mal Bundeskanzler.
Ralf-Uwe Weule, Hamburg
Obwohl ich mir als Rentner mit
Grundsicherung das SPIEGEL -
Abo eigentlich nicht leisten kann,
bleibe ich treu. Der Nachteil liegt
auf der Hand: Die Kugel Eis oder
der Espresso entfällt dadurch.
Das ist zwar purer Sarkasmus,
aber dass die Rentenerhöhung
einfach auf die Grundsicherung
angerechnet wird, ist Fakt. Dass
die Grundsicherung seit Jahren
fest betoniert ist, ebenfalls. Man
könnte die Liste beliebig fortset-
zen. Und dann hat man Angst vor
den Rändern der Gesellschaft, die
die FDP gar nicht kennt. Trotz-
dem verfolge ich die verzweifel-
ten Versuche der jeweiligen Re-
gierungen mit Interesse und
einem gequälten Seufzer.
Kurt Stehmeyer, Konstanz
Die FDP erweist sich einmal
mehr als sozialpolitischer Brems-
klotz. Diese Partei hat nur das
Wohl der Reichen im Blick. Die
Bundesregierung muss aber im
Interesse der Allgemeinheit han-
deln. Und da ist nach wie vor
richtig: Breite Schultern können
mehr tragen als schwache. Neben
Arbeitnehmern sollten vor allem
Familien mit Kindern mit dem
Abbau der kalten Progression
unterstützt werden.
Andreas Meißner, Tutzing (Bayern)
Die Bundesregierung sucht ver-
zweifelt nach Lösungen für die
Krise und verzettelt sich dabei
immer mehr. Schon in der Ver-
gangenheit haben es alle Verant-
wortlichen nicht geschafft, zügig
einen sinnvollen Weg in Richtung
der erneuerbaren Energien ein-
zuschlagen. Dabei ist relativ klar,
was zu tun gewesen wäre und
jetzt erst recht zu tun ist, bevor
es gänzlich zu spät ist und ein
Schaden eintritt, der gar nicht
mehr zu steuern ist. Was ist denn
daran so schwer? Stattdessen
wird wieder nichts in diese Rich-
tung forciert. Lieber verteilt man
etwa Ausgleichsrabatte mit der
Gießkanne. Diese Maßnahme
verpufft so schnell wie das ange-
zündete Gas.
Marco Doering, Wien
Politiker und Wirtschaftsexperten
sind sich weitgehend einig in ihrer
Prognose, dass der Bundesrepu-
blik sehr harte Zeiten und mög-
licherweise sogar eine schwere
Wirtschaftskrise bevorstehen.
Die Ursache liegt hauptsächlich
im Krieg in der Ukraine und den
daraus resultierenden bekannten
Folgen. Aber nicht ausschließlich.
Dieses Land hat viele Jahre »gut
und gerne« über seine Verhält-
nisse gelebt. Im Vertrauen darauf,
dass der Wohlstand unendlich sei,
wurde das Tafelsilber, das eigent-
lich für die kommenden Genera-
tionen bestimmt war, verscher-
belt, und dringend erforderliche
Investitionen in die Zukunft wur-
den unterlassen. Der Dampfer
Deutschland ist bereits vor Jah-
ren leckgeschlagen. Aber auf dem
Deck wird noch immer Tanz-
musik gespielt.
Alfred Kastner, Weiden (Bayern)
Glaubhaft und
empathisch
Nr. 26/2022 Wirtschaftsminister Robert
Habeck warnt im SPIEGEL-
Gespräch vor weiteren Belastungen
Die Bundesregierung ist nicht
konsequent und handelt wider
die Vernunft. Ein Tempolimit
lässt sich laut Wirtschafts- und
Klimaschutzminister Habeck
nicht umsetzen, weil der Koali-
tionsvertrag das nicht vorsieht.
Dabei haben sich die politischen
Rahmenbedingungen längst ver-
ändert (Zeitenwende!) und erfor-
dern wirksam-flexible Maßnah-
men. Habeck selbst liefert
die überzeugenden Argumente
für die Einführung eines solchen
Tempolimits: Energie- und CO2-
Einsparung, Unfallreduzierung
und Stressabbau – knickt aber
gegenüber dem Koalitionspartner
FDP ein. Es darf nicht sein, dass
die parteipolitischen Ambitionen
den lebenswichtigen Interessen
der Allgemeinheit geopfert
werden.
Dr. Dieter Barth, Münster-Wolbeck (NRW)
Selten habe ich ein so klugschei-
ßerisches SPIEGEL -Interview ge-
lesen. In dem Interview wird
meines Erachtens deutlich, wie
schwierig die aktuellen Aufgaben
von Herrn Habeck sind, Deutsch-
land durch diese Krise zu führen.
Über seine Pläne kann und muss
man diskutieren, aber seine Ant-
worten wirken glaubhaft und set-
zen Empathie frei. Von den Inter-
viewern kommt nur: aber, aber,
aber. Man muss kein Fan von
Herrn Habeck und den Grünen
sein, aber die Bemühungen, diese
aktuell extrem schwierige Situa-
tion zu meistern, darf man auch
einmal würdigen.
Dr. Werner Mischke, Hamburg
Globalisierung mit
Augenmaß
Nr. 26/2022 Nationen und Unternehmen
steuern in eine Ära der Deglobalisierung –
gesucht wird eine neue Ordnung
Gerade die letzten zwei Jahre
haben uns vor Augen geführt,
wie wichtig eine gewisse Autar-
kie für Europa ist. Da gab es in
der Anfangsphase der Pandemie
massive Probleme bei der Be-
schaffung von Masken, und
durch die derzeitigen Gegenmaß-
nahmen Russlands ist die Ener-
gieversorgung für Privathaushal-
te und Wirtschaft gefährdet. Es
ist sinnvoll, existenzielle Güter
in Europa zu produzieren. Da-
KORREKTUR
Zu »Die Ära der Deglobalisie-
rung« in Heft 26/2022, Seite 62:
Schloss Elmau liegt nicht im Kar-
wendelgebirge, sondern am Fuße
des Wettersteingebirges.

Ein außergewöhn-
leider kommt
Kreml an.
Erich Krappen, Wegberg (NRW)
Nr. 26/2022 Essay: Kompro-
misse wären eine Katastrophe
durch würden auch Transporte,
die das Klima unnötig belasten,
minimiert. Das Anlegen strategi-
scher Ressourcenvorräte ist eben-
so wichtig. Man stelle sich vor,
China würde bald Taiwan angrei-
fen, und unsere Politiker würden
infolgedessen massive Sanktions-
maßnahmen beschließen. Und
dann?
Reiner Gorning, Hamburg
Ich vermisse die Erwähnung der
extremen sozialen Verwerfungen,
die durch die Globalisierung in
Deutschland verursacht wurden.
Die AfD ist nur eines der bitteren
Ergebnisse dieser von der Politik
stets heruntergespielten Vorgän-
ge. Millionen Verlierer wurden
zynisch belächelt, sich selbst
überlassen und ausgegrenzt. Chi-
na hat durch die unfaire deutsche
Subventionspolitik hierzulande
ganze Branchen vernichtet. Die
jetzt Regierenden sind in der
Pflicht, lebenswichtige Schlüssel-
industrien wieder nach Deutsch-
land zurückzuholen, die durch
leichtsinnige Geldgier verschleu-
dert wurden. Jetzt haben Politi-
ker die Chance, Globalisierung
mit Augenmaß und Vernunft zu
gestalten.
Irene Weidlich, Berlin
Auf acht Seiten, von acht nam-
haften Journalisten erarbeitet,
öffnet der SPIEGEL seinen Lesern
die Augen für die globalen
Zusammenhänge der letzten
Jahrzehnte. Spalte für Spalte Auf-
klärung darüber, wie die Glo-
balisierung so nützlich und wohl-
standsträchtig wurde und wie sie
nun frisst, was alle geglaubt und
gehofft haben. Regierungen, Poli-
Das, was alle
der spekulativen
Gewinnmaximierung,
verbleiben.
Das sind Geld, Infra-
Gesundheit.
Werner Dinkelbach, Sinzig
(Rhld.-Pf.)
Nr. 27/2022 Die Mittelschicht
leidet unter der Teuerung –
fünf Betroffene berichten
tiker, Banken- und Wirtschafts-
bosse halten plötzlich inne: Ihnen
schlägt das Herz im Hals.
Charlotte Waltraut Lemke,
Goslar (Nieders.)
Leider kein Einzelfall
Nr. 26/2022 Zwei rätselhafte Todesfälle
in einer Hamburger Klinik
In meiner 23. Schwangerschafts-
woche verbrachte ich im Novem-
ber 2013 einen langen Abend im
Wartezimmer des UKE-Kreiß-
saals. An das Gefühl der Hilflosig-
keit und Angst in diesen Stunden
erinnere ich mich sehr gut. Meine
Intuition sagte mir, dass etwas
ganz und gar nicht stimmte. Des-
wegen fuhr ich hin. Ich wartete
dort sieben Stunden lang. In die-
sen Stunden hätte mein Kind
durchaus zur Welt kommen kön-
nen. Abends um kurz nach elf
wurde ich dann endlich aufgeru-
fen, der Gebärmutterhals wurde
per Ultraschall ausgemessen und
stellte mit einer Länge von knapp
drei Millimetern akutestes Früh-
geburtsrisiko dar – und das in der
23. Schwangerschaftswoche, also
an der Schwelle zur Lebensfähig-
keit. Ich ging an diesem Abend
nicht mehr nach Hause, sondern
verbrachte zwei Monate statio-
när. Heute habe ich drei gesunde
Mädchen. Das dritte erblickte am
1. Juni 2019, also neun Tage nach
dem Tod von Silja Greuner und
ihrem Kind, das Licht der Welt in
einem Kreißsaal des UKE. Der
Bericht berührt mich daher zu-
tiefst. Rückblickend bin ich dem
UKE, insbesondere einer Ober-
ärztin, für die medizinische Be-
gleitung meiner drei Schwanger-
- menschliche Verhalten der Ärzte
dung von Getreide zur
Produktion von
Biosprit müsste die
Produktion von Bier
und Korn ein-
was das für
Lothar Cattarius, Mainz
Nr. 26/2022 Lobby kämpft trotz
Getreideknappheit für Biosprit
schaften dankbar. Die Erfahrung
lehrte mich jedoch: Man ist der
Maschinerie des Systems in
Momenten von Schwäche und
Krankheit restlos ausgeliefert,
insbesondere als Schwangere.
Und vieles steht und fällt dann
mit den Menschen, auf die man
im System Krankenhaus trifft.
Dr. Sunita Ramakrishnan, Hamburg
Was heißt hier »rätselhafte Todes-
fälle«? Eine Schwangere leidet an
einer deutlich symptomatischen,
sich schnell im Körper ausbrei-
tenden Infektion, wird klinisch
und laborchemisch nicht adäquat
untersucht und behandelt und
verstirbt zusammen mit dem Fe-
tus rund dreißig Stunden nach
Symptombeginn. Das ist nicht so
ungewöhnlich, wenn nicht um-
gehend nach Erstkontakt und As-
servation der Blutkulturen breit
antibiotisch und mit Volumen-
gabe behandelt wird (»goldene
erste Stunde«). Jede Person, die
Medizin studiert hat, muss wis-
sen, dass es eine Sepsis gibt. Je-
einem Krankenhaus muss wissen,
mit welchen Symptomen sie sich
äußern kann und was dann zu
erfolgen hat.
Dr. Rupert Schmid, München
Die geschilderte Tragödie zeigt
das Hauptproblem bei der Sepsis:
Gerade junge und unerfahrene
Ärzte übersehen bei Patienten
mit grippeähnlichen Symptomen
diese lebensbedrohliche Erkran-
kung. Ohne eine Reform der ärzt-
lichen Ausbildung wird sich an
diesem vermeidbaren Missstand
nichts ändern.
Dr. Karsten Strey, Hamburg
Ein eindrucksvoller und bewe-
gender Bericht. Das zum Teil un-
nach einem solch tragischen Vor-
fall ist skandalös, aber leider
sicher kein Einzelfall. Es wird ge-
mauert, wenn es um den Ruf geht,
um ärztliche Beziehungspflege
untereinander und um die Ab-
wehr von Versicherungszahlun-
gen durch ausgebuffte Versiche-
rungsprofis. Dem stehen gegen-
über: der hilflose Patient und
alleingelassene Angehörige.
Dieter Scheuring, Rosenheim (Bayern)
Kunst geht anders
Nr. 26/2022 Wie die Documenta
zur Skandalausstellung
wurde – und was daraus folgt
Wie kann man in München stu-
dieren, ohne etwas über die Ge-
schichte Deutschlands mitzube-
kommen? Etwas scheint beim
Taring-Padi-Künstler Sri Mary-
anto wohl angekommen zu sein:
Wie kann man sonst SS-Symbole
zeigen, ohne zu wissen, was da-
hintersteckt?
Hannelore Siegritz, Nürnberg
Zweifelsohne muss eine Docu-
menta provozieren, das sollte ihr
Auftrag sein. Egal, ob mit Olu
Oguibes Obelisk vor fünf Jahren,
der umstrittenen Treppe von
Gustav Lange auf dem Königs-
palast oder den 5000 gepflanzten
Eichen von Joseph Beuys. Kunst
darf aber niemals Antisemitis-
Diese Documenta werde ich nicht
besuchen, obwohl sie vor meiner
Haustür liegt. Kunst geht anders.
Karl Wetzel, Calden (Hessen)
Ich lebe in Kassel und verfolge
von Beginn an die Debatte und
die Berichterstattung. Ein riesen-
großes Lob für diesen Text! Ich
bin ehrlich beeindruckt, wie aus-
gewogen er ist bei solch einem
schwierigen Thema. Dass Sie mit
dem Künstler:innenkollektiv Ta-
ring Padi gesprochen haben, finde
ich sehr gut. Nirgendwo habe ich
das bisher sonst gesehen, gelesen
oder gehört.
Lara Thiele, Kassel
Leserbriefe bitte an leserbriefe@spiegel.de
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
gekürzt sowie digital zu veröffentlichen und
unter SPIEGEL.de zu archivieren.
Nr. 28 / 9.7.2022 DER SPIEGEL 129
HOHLSPIEGEL
Von der Facebook-Seite des Landkreises
Bamberg: »Glaube verbindet! – Gläubige-
rinnen und Gläubiger nicht nur aus dem
Landkreis Bamberg trafen sich gestern in
Burgwindheim.«
In einem Geschäft in Kiel
Aus der »Neuen Westfälischen« zum Fund
eines eingefrorenen Mammutbabys:
»Bei seiner Geburt war es schätzungsweise
einen Monat alt.«
Hinweis am Hafen von Laboe (Schl.-Hol.)
Von Taz.de: »In der belarussischen Armee
stehen 45 000 bis 48 000 Männer unter
Waffen, von den 260 000 Reservisten könn-
ten im Bedarfsfall bis zu 100 000 reani-
miert werden.«
Aus dem »Gäuboten«
Aus dem »Kölner Stadt-Anzeiger« über das
dortige Ford-Werk: »Dem Standort Köln
kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu.
Hier sollen in den nächsten zwei Jahren
gleich zwei Pkw mit Batterieantrieb vom
Band laufen.«
Aus der »Rheinpfalz«
130 DER SPIEGEL Nr. 28 / 9.7.2022
Die SPIEGEL-Podcasts
Gutes für
die Ohren
Kann die ökologische Wende
In einem Geschäft
gelingen? in Kiel
Im »Klimabericht«
sprechen wir über die Klima-
krise und darüber, was auf
uns zukommt und welche
Lösungen es gibt, die Erd-
er wärmung doch noch zu
bremsen.
Spannende Recherchen und
politische Hintergründe, Ideen
für ein besseres Leben und
Nachrichten für Kinder –
entdecken Sie weitere
Podcasts in unserer Audio-
thek auf spiegel.de/audio.
R Ü C KS P I E G E L
Zitate
Die »FAZ« über den Prozess gegen
Walid D., der im Auftrag der tschetscheni-
schen Regierung ein Attentat auf den
nach Deutschland geflüchteten Regime-
kritiker Mochmad Abdurachmanow
geplant haben soll (»Generalbundes-
anwalt ermittelt gegen Verfassungsschutz-
Mitarbeiter«, SPIEGEL .de am 2. Juli 2021):
Woher der Angeklagte Mochmad Abdurach-
manows Adresse kannte, ist Gegenstand
eines eigenen, höchst brisanten Strangs der
Geschichte: Walid D. soll früher als V-Mann
für den Verfassungsschutz von Mecklenburg-
Vorpommern gearbeitet haben. Zuerst be-
richtete im vergangenen Jahr die Zeitschrift
DER SPIEGEL darüber. Der Vorgang wirft
grundsätzliche Fragen nach der Zusammen-
arbeit mit V-Leuten auf, danach, mit wem der
Verfassungsschutz kooperiert. Sollten sich die
Vorwürfe bestätigen, hätte man in Schwerin
einem Mann vertraut, der für eine fremde
Macht die Ermordung eines Exil-Oppositio-
nellen organisierte.
Die »Süddeutsche Zeitung« erinnert
an die aufwendigen SPIEGEL -Recherchen
zur Rolle des früheren Neonazis und
CIA-Agenten Willi Pohl bei den Vorberei-
tungen des Terroranschlags auf die
Olympischen Spiele 1972 in München
(»Braune Hilfe«, Nr. 25/2012):
Nach dem Ausscheiden bei der CIA nimmt
Pohl den Nachnamen seiner Frau an und zieht
als Willi Voss zurück nach Deutschland. Er
beginnt das Krimischreiben. Dem National-
sozialismus und dem Terrorismus, sagt er, habe
er abgeschworen. Seine Geschichte kennt aber
eh niemand – bis 2012 der SPIEGEL die Frei-
gabe von etwa 2000 Seiten gesperrter Akten
des Verfassungsschutzes erzwingt. Diese be-
legen, dass Voss und andere Rechtsradikale
den Palästinensern bei der Vorbereitung des
Olympia-Attentats geholfen haben. Die Ent-
hüllung beendet Voss’ Karriere als Autor –
kein großer Verlag und kein Sender nimmt
ihm noch ein Manuskript ab.
Die »Westdeutsche Allgemeine Zeitung«
zitiert aus dem SPIEGEL -Report über
die Auswirkungen des 9-Euro-Tickets auf
die Nutzung des öffentlichen Nah-
verkehrs (»Volle Züge, volle Straßen«,
Nr. 26/2022):
Inzwischen kann man von einem regelrechten
Boom der »Öffis« sprechen, den das 9-Euro-
Ticket ausgelöst hat. Seit dem Start am 1. Juni
nutzen etwa elf Prozent mehr Menschen
öffentliche Verkehrsmittel als im Mai. Das
berichtet der SPIEGEL unter Berufung auf
Handydaten im Umfeld von Bahnhöfen und
Haltestellen, die Google ausgewertet hat. In
NRW stiegen die Zahlen demnach sogar um
14 Prozent.
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