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Nr. 4 | 20.1.

2024
DEUTSCHLAND € 6,40

MÄNNERBUND GOTHIA
Wo CDU- auf
AfD-Politiker treffen

ERZIEHUNG
Wie Jugendliche
clean bleiben

KULTURKAMPF
Hassobjekt
E-Auto

DIKTATOR
TRUMP
EIN SZENARIO
HAUSMITTEILUNG

Trump | Seiten 8, 14

Was geschieht, wenn Donald Trump ein zweites Mal ins


Weiße Haus einzieht? Der Ex-Präsident hat die Demokra-
René P fister / DER SPIEGEL

tie zum Feind erklärt, auch auf Europa kämen schwere


Zeiten zu. SPIEGEL -Korrespondent René Pfister sprach in
Washington mit ehemaligen Trump-Mitarbeitern wie Sicher-
heitsberater John Bolton, folgte Trump bei seinen Auftrit-
ten und redete mit Kevin Roberts, dem Präsidenten der
rechten Heritage Foundation. Unter ihrem Dach läuft das
millionenschwere »Project 2025«, das die zweite Amtszeit Trumps im Weißen Haus vorbereitet.
Wie sich die deutsche Bundesregierung jetzt schon im Stillen auf einen möglichen Machtwechsel
in Washington einstellt, beschreiben die Redakteure Matthias Gebauer und Konstantin von Ham-
merstein und die Redakteurin Marina Kormbaki. »Trump und seine Getreuen sind tief davon über-
zeugt, dass es der größte Fehler der ersten Amtszeit war, sich bei der Besetzung der Regierung auf
die alte Garde zu verlassen«, sagt Pfister. »Jetzt planen sie eine America-First-Revolution, bei der
Personal und Programm ganz auf Trump zugeschnitten sind.«

Bauernproteste | Seite 30

Die Wut im Land scheint ansteckend zu sein: Zur Groß-

Julius Schrank / DER SPIEGEL


demo der Bauern am vergangenen Montag in Berlin kamen
auch Spediteure, Sanitärtechniker und Handwerker. Wo-
her kommt der Frust? Reporterin Deike Diening hat zu-
gehört: sieben Stunden lang bei Tempo 30 auf dem Bei-
fahrersitz eines Traktors, von Lüchow bis nach Berlin. Am
Steuer saß Biolandwirt Fritz Pothmer aus dem Wendland;
vier Kinder, 100 Milchkühe. Er sagt, die Politik sei un-
berechenbarer als Wirtschaft und Wetter zusammen, ein Risiko für jeden Bauern. Pothmer war
zum Glück nicht die ganze Zeit lang wütend, sondern eher besorgt und bemüht darum, die grö-
ßeren Zusammenhänge zu vermitteln. »Es ist nicht immer das große Geld, das die Bauern vermis-
sen«, sagt Diening, »oft brauchen sie einfach viele kleine, schlaue Lösungen.«

Ukraine | Seite 78

Seit knapp zwei Jahren herrscht Krieg in der Ukraine, und


rund eine Million geflohene Ukrainerinnen und Ukrainer
Alina Rudya / DER SPIEGEL

leben derzeit in Deutschland. Zwischen beiden Ländern


herrscht reger Pendelverkehr: Allein fünf, sechs Flix-Busse
fahren täglich zwischen der Ukraine und Deutschland hin
und her. Redakteurin Fiona Ehlers wollte wissen, wer die
Passagiere sind, die sich mit leichtem Gepäck und schwe-
rem Herzen in die Busse wagen. Zusammen mit der Foto-
grafin Alina Rudya fuhr sie rund 60 Stunden von Hamburg nach Kiew und wieder zurück. Mit an
Bord: zum Beispiel Ex-Soldat Serhij, der gut gelaunt Kekse verteilte, sowie Frauen, die ihre Män-
ner im Fronturlaub trafen, Verwandte beerdigen wollten oder einfach nur Heimweh hatten. »Be-
merkenswert daran ist«, fand Ehlers, »wie schwer es ihnen fällt, wieder ins sichere, aber fremde
Deutschland zurückzukehren. So sehr vermissen sie Kiew, ihre Lieben und gepökelten Speck.«

SPIEGEL GESCHICHTE
Vielleicht mehr denn je hadern die Deutschen derzeit mit der Frage, was
deutsch ist. Einige beharren auf »Leitkultur« und Herkunft als Kern natio-
naler Identität. Andere wünschen sich ein Einwanderungsland, das mehr
kulturelle Vielfalt zulässt. Zum 75. Jahrestag der Gründung von BRD und
DDR verhandelt die neue Ausgabe von SPIEGEL GESCHICHTE , wie
unterschiedlich die Frage nach dem vermeintlich Typischen in der Vergan-
genheit beantwortet wurde – selbst das Sauerkraut hat eine Einwanderungs-
geschichte. Deutlich wird, dass Zugehörigkeit vor allem eine Definitions-
frage ist. Das Heft »Was ist deutsch?« ist seit Freitag im Handel erhältlich.

Nr. 4 / 20.1.2024 DER SPIEGEL 3


INHALT TITEL

8 | USA Wird Trump das Land


in eine Diktatur verwandeln?
DER SPIEGEL 78. Jahrgang | Heft 4 | 20.1.2024
14 | Außenpolitik Wie die
Bundesregierung sich auf einen
Präsidenten Trump vorbereitet

DEUTSCHLAND

6 | Leitartikel Die schweigende


Mehrheit wehrt sich
endlich gegen die AfD

16 | Starker Anstieg von


Gewaltdelikten in Kranken-
häusern / Bundeswehr hat
zu wenig Munition gekauft /
Ehrenamtliche stützen
Schulsystem / Die da unten

Doug Mills / The New York Times / Redux / laif


20 | Sozialdemokraten In
der Partei wachsen die Zweifel
am Kanzler

24 | Extremismus Einige
Christdemokraten pflegten Kon-
takte ins stramm rechte Milieu

27 | Der Bundestag wappnet sich


gegen Provokationen der AfD

28 | Mobilität Die Sanierung


Wenn Trump gewinnt des Bahnnetzes könnte weniger
helfen als erhofft

TITEL Die Vorbereitungen für eine zweite Amtszeit von Donald Trump laufen – 30 | Proteste Wie ein Bauer
rechte Denkfabriken entwickeln ein Programm, das auf ein Ende des westlichen aus dem Wendland auf die Politik
in Berlin blickt
Bündnissystems abzielt. Innenpolitisch sinnt der Ex-Präsident auf Rache
an seinen Gegnern. Und die deutsche Regierung wirkt wie gelähmt. | 8, 14 33 | Menschenrechte Die
Bundesanwaltschaft befasst sich
mit protürkischen Foltermilizen

34 | Zeitgeschichte Wie
es wirklich zu Merkels großem
Israel-Versprechen kam

40 | Denkmäler Die schier


endlose Fehde um die
Marienburg bei Hannover

42 | Schule Referendare klagen


Jun Michael Park / DER SPIEGEL

über Willkür und Ungerechtigkeit


Jewgeni Roppel / DER SPIEGEL
Jens Gyarmaty / DER SPIEGEL

REPORTER

46 | Familienalbum / Verbessern
Verbote die Welt?

Corinna Enders Jürgen Klinsmann Anja Reschke 47 | Eine Meldung und ihre
Die neue Chefin der Deutschen Der Schwabe als National- Die Moderatorin über #MeToo Geschichte Einen Feuer-
Energie-Agentur drängt auf die trainer von Südkorea – und die Verantwortung der wehrmann trifft der Blitz – er
Einführung des Klimagelds. | 64 kann das gut gehen? | 48 Medien | 106 bleibt unverletzt

4 DER SPIEGEL Nr. 4 / 20.1.2024 Die Zusatzthemen vom Titelbild sind orange her vorgehoben.
48 | Neuanfänge Jürgen WISSEN
Klinsmann soll die National-
mannschaft von Südkorea 88 | DNA-Abgleich für Hunde-
zur Asienmeisterschaft führen kot / Analyse: Warum Deutsche
ihre Organe nicht spenden wollen
53 | Ortstermin Bei der
»Russian Night« auf der 90 | Drogen Der Psychologe
Hamburger Reeperbahn feiern Harvey Milkman erklärt im
Russen und Ukrainer SPIEGEL -Gespräch, wie Eltern

Nikita Ter yoshin / DER SPIEGEL


Kinder und Jugendliche vor
einer Sucht schützen können
WIRTSCHAF T
93 | Erderwärmung Wird
54 | Jahreswirtschaftsbericht ausgerechnet Kohle zum Klima-
rechnet mit Schwächephase / retter?
Teure Bahntrassen
95 | Evolution Forscher Der falsche Mann?
56 | Jobmarkt Kluge Ideen rekonstruieren das Ende eines
In der SPD wächst die Unzufriedenheit mit Olaf Scholz, das
gegen den Arbeitskräftemangel Urzeitgiganten
katastrophale Erscheinungsbild der Ampelkoalition sorgt für Frust
an der Basis. Es geht um die Existenz der Partei. | 20
61 | Nachhaltigkeit Was bringt 96 | Geologie Eine chinesische
ein Recht auf Reparatur? Forschungsmission will
den Erdmantel anbohren
64 | Wirtschaftspolitik Dena-
Chefin Corinna Enders über 98 | Mobilität Fiese Sprüche,
Klimamüdigkeit und Klimageld Übergriffe – wie Elektro-
autofahrer in Deutschland
66 | Konzerne Die Regierung gemobbt werden
verschafft der Post Vorteile

KULTUR
AUSLAND
100 | Calvin-Klein-Werbung mit
70 | Kampf um Polens Demokra- FKA Twigs verboten / Memoiren
tie / Indien und die Malediven von Regisseur Jürgen Flimm

Boris Buchholz
streiten um die schönsten Strände
102 | #MeToo Sechs Jahre
72 | Nahost Wird aus nach Weinstein – was
vielen regionalen Konflikten hat die Bewegung erreicht?
bald ein großer Krieg? Schlagende Verbindung
106 | Sexualisierte Gewalt
AfD-Politiker, Rechtsextreme und Konservative knüpfen konspirative
76 | Gaza Ein deutsches Ehepaar SPIEGEL -Gespräch mit
Netzwerke. In Berlin entpuppt sich Ex-Finanzsenator Peter Kurth
sitzt in Gaza-Stadt fest der Journalistin Anja Reschke
als Strippenzieher. Er galt einst als liberale Hoffnung der CDU. | 24
über ihre Erfahrungen mit
78 | Ukraine Unterwegs Machtmissbrauch im öffentlich-
mit den Pendlern im Fernbus rechtlichen System
zwischen Krieg und Frieden
110 | Essay Über die
82 | Italien Eine Influencerin gefährlichen Begrifflichkeiten
soll sich auf Kosten krebskranker der Rechtsextremen
Kinder bereichert haben
112 | Kino Eine großartige
Emma Stone in dem Film
SPORT »Poor Things«

83 | Siege bei der Rallye Monte 115 | Performance-Kritik Das


Carlo / Hall of Fame: Lea Sophie Berliner Ensemble inszeniert
Friedrich, Radsportlerin eine Recherche zu dem rechts-
Jens Büttner / dpa

extremen Geheimtreffen
84 | Selbstversuch SPIEGEL -
Redakteur Sven Scharf spielt eine
Darts-Qualifikation

87 | Beachvolleyball Olympia- Reparieren ist das neue Kaufen


siegerin Laura Ludwig über SPIEGEL-TV-Programm | 97 Bestseller | 105 Millionen Waschmaschinen oder Handys landen jährlich auf
ihren Alltag zwischen Familien- Impressum, Leserservice | 116
Nachrufe | 117 Personalien | 118
dem Müll, weil die Bürger sie vorzeitig ausmustern. Jetzt will die
leben und Leistungssport Briefe | 120 Letzte Seite | 122 EU den Wegwerfwahnsinn stoppen. | 61

Titelfoto: Brandon Bell / Getty Images Nr. 4 / 20.1.2024 DER SPIEGEL 5


Wehren Sie sich!
LEITARTIKEL Lange hat die schweigende Mehrheit dem Treiben der AfD zugesehen. Jetzt gehen Zehntausende
für die Demokratie auf die Straße. Es ist höchste Zeit.

Lange Jahre verspürten die Deutschen keinen


Druck, so zu handeln. Es lief doch alles irgendwie ganz
gut. Unzufriedene gab es immer, rechte Spinner
auch, das schon, aber die standen am Rand und hatten
doch sowieso keine Aussicht auf die Macht im Land.
Das hat sich geändert. Zunächst mit Befremden,
dann mit wachsendem Entsetzen nahm die demokrati-
sche Mehrheit den anscheinend unaufhaltsamen Auf-
stieg der AfD zur Kenntnis. Nichts schien gegen die in
weiten Teilen extremen Rechtspopulisten zu helfen.
Den Leuten zuhören und ihre Angst vor Veränderung,
vor Migration und Strukturwandel ernst nehmen, da-
mit sie nicht mehr AfD wählen? Gescheitert am Unwil-
len der AfD-Sympathisanten, den guten Worten der
anderen Parteien Glauben zu schenken. Rhetorik und
Ben Kriemann / ddp Positionen der AfD übernehmen? Haben vor allem
Politiker der Union versucht, im Umfragehoch blieb
das Original. Auch die Beobachtung der AfD durch den
Verfassungsschutz, dessen Einstufung von Parteigliede-
rungen als »gesichert rechtsextrem«, schreckte deren
Anhänger kaum.
Demonstrierende ir wollen uns nicht vorwerfen lassen, im ent- Union, SPD, Grüne, Liberale und Linke wirken zu-
am vergangenen
Sonntag in Berlin W scheidenden geschichtlichen Moment nichts
unternommen zu haben.« Wer so einen Satz
äußert, hat eine Mission. Will handeln, um Schlimmes
nehmend hilflos im Umgang mit der AfD – von Aus-
grenzen bis Anbiedern, nichts lässt die Rechten ver-
schwinden. Im Gegenteil, sie scheinen immer stärker zu
zu verhindern. Glaubt, das eigene Land sei in Gefahr. werden: Bei gut 20 Prozent steht die AfD in bundes-
Der Satz stammt aus der Einladung zu der als »Ge- weiten Erhebungen zur Sonntagsfrage weit vor SPD
heimtreffen von Potsdam« berüchtigt gewordenen Ver- und Grünen, an zweiter Stelle hinter der Union. Im
netzungsveranstaltung sich bürgerlich gebender Rechts- Osten steht sie flächendeckend ganz oben. Wenn im
extremer im vergangenen November. Gegen eine Min- Sommer die Landtage in Brandenburg, Thüringen
destspende von 5000 Euro für die gemeinsame Sache, und Sachsen sowie das Europaparlament neu gewählt
gern diskret im Briefumschlag zu überreichen, bekam werden, droht ein Debakel der demokratischen Kräfte.
man hier Zutritt zu einem kleinen Kreis, der Großes Die Correctiv-Recherche treibt nun auch Menschen
plant: Mit dem Geld deutschnational eingestellter auf die Straße, die bisher vermutlich noch keine
Unternehmer, mit besten Kontakten in die AfD-Spitze Demonstration besucht haben. Die schamlose Selbst-
und den perfiden Ideen eines Funktionärs der »Identi- gewissheit, mit der ein Netzwerk selbst ernannter Ret-
tären« soll die Bundesrepublik von – auch eingebürger- ter Deutschlands unsere liberale Demokratie und die
ten – Migranten und Andersdenkenden gesäubert Grundlagen unseres friedlichen Zusammenlebens zer-
werden. Was in Potsdam (und von weiteren Rechts- stören möchte, ist ein unübersehbares Warnsignal. Was
extremen) »Remigration« genannt wird, bedeutet professionellen Beobachtern der Partei schon lange klar
nichts anderes als Deportation von Menschen, die nicht war, kann nun niemand mehr leugnen: Die zur Schau
einer völkischen Reinheitsfantasie entsprechen. gestellte Bürgerlichkeit der AfD war und ist nur Fassa-
Den Recherchen des Netzwerks Correctiv ist es zu de. Diese Leute meinen es ernst mit der Abschaffung
verdanken, dass diese ungeheuerlichen Pläne einer unserer Freiheit und Demokratie. Sie haben einen Plan.
Die demokrati- breiten Öffentlichkeit bekannt wurden – und dass sich Man mag die lauter denn je erhobene Forderung
sche Mehrheit jetzt Tausende ganz andere Menschen zum Handeln nach einem Verbot der AfD für naiv und wenig sinnvoll
gezwungen sehen als die klandestinen Deutschtümler: halten. Die Einwände sind bekannt: zu langwierig das
sollte nichts Die Zivilgesellschaft erhebt sich gegen rechts. Verfahren, zu unsicher sein Ausgang. Dennoch sollte
unversucht Seit Bekanntwerden des »Geheimtreffens« demons- die demokratische Mehrheit nichts unversucht lassen,
trieren in ganz Deutschland Zehntausende für die Ver- um ihren Feinden die Grenze zu zeigen: bis hierher und
lassen, um teidigung der Demokratie, viele fordern ein Verbot nicht weiter.
ihren Feinden der AfD. Eine Petition mit dem Ziel, dem thüringischen Niemand sollte sich einmal vorwerfen lassen, im
AfD-Chef Björn Höcke das Recht zu entziehen, sich entscheidenden geschichtlichen Moment nichts unter-
die Grenze zu für Wahlen aufstellen zu lassen, unterzeichneten mehr nommen zu haben.
zeigen. als eine Million Menschen. Stefan Kuzmany n

6 DER SPIEGEL Nr. 4 / 20.1.2024


TITEL

USA Ein Sieg Donald Trumps würde die Welt verändern wie
keine andere Wahl seit dem Zweiten Weltkrieg. Der Ex-Präsident
und seine Getreuen haben einen detaillierten Plan.
Sie erklären die Demokratie zum Feind und wollen das
Bündnissystem des Westens zertrümmern.
Von René Pfister

Jordan Gale / The NewYorkTimes / Redux / laif

DER ZERSTÖRER
8 DER SPIEGEL Nr. 4 / 20.1.2024
TITEL

ielleicht sollte man Donald Am Montag siegte er beim Iowa Cau- Coup gegen den Wahlsieg von Joe
V

Tom Williams / CQ Roll Call / Sipa Press USA / ddp


Trump einfach beim Wort neh- cus souverän über seine innerpartei- Biden zu unterstützen. Und die ame-
men. Anfang Dezember wurde lichen Rivalen, Floridas Gouverneur rikanischen Gerichte wiesen Trumps
der ehemalige Präsident gefragt, ob Ron DeSantis und Nikki Haley, die Lüge von der gestohlenen Wahl nahe-
er die USA nach einer Wiederwahl in ehemalige Uno-Botschafterin. zu einhellig zurück. In einer zweiten
eine Diktatur verwandeln würde. Wenn Haley bei den Vorwahlen Amtszeit würde Trump peinlich ge-
»Versprechen Sie heute Abend Ame- am Dienstag in New Hampshire kei- nau darauf achten, nur noch Leute an
rika, dass Sie Ihre Macht nicht miss- nen Überraschungserfolg erringt, ist seine Seite zu holen, die ihm willig
brauchen und Vergeltung üben wer- Trump die Kandidatur kaum noch zu zu Diensten sind. Schon jetzt ist der
den?«, wollte der Fox-News-Mode- nehmen. Schon jetzt tritt der Ex-Prä- Sprecher des Repräsentantenhauses –
rator Sean Hannity wissen. Trump sident auf, als hätten ihn die Repu- formal der drittmächtigste Mann im
sagte nicht Ja und nicht Nein. Son- blikaner zum Herausforderer von Joe Verfassungsgefüge der USA – ein Re-
dern sein Finger schnellte in die Biden gekürt. Im direkten Vergleich »ER WIRD publikaner namens Mike Johnson,
Höhe, und er rief unter dem Geläch- mit dem Präsidenten schneidet SICH NICHT der fleißig beim Versuch geholfen hat,
ter des Publikums: »Nur am ersten Trump erstaunlich robust ab; in den Trump auch gegen den Willen des
Tag!« meisten Swing States, die über den MEHR MIT Souveräns im Amt zu halten. Das
Diktator für einen Tag? Man kann Ausgang der Präsidentschaftswahl LEUTEN letzte Mal ist er dabei noch geschei-
das für eine launige Bemerkung hal- am 5. November entscheiden werden, tert. Aber Johnson zeichnet jener
ten; für den Witz eines Mannes, des- liegt Trump in den Umfragen vorn. UMGEBEN, Opportunismus aus, den Autokraten
sen Worte man besser nicht allzu Trumps Sieg würde die Welt ver- DIE OFFEN brauchen, um ihre Pläne umzusetzen.
ernst nimmt. Nur sollte man Trump ändern wie keine Wahl seit dem »Wir sollten mit dem Wunschden-
dann am genauesten zuhören, wenn Zweiten Weltkrieg. Viel spricht dafür, IHRE ken aufhören und die harte Wirklich-
er vorgibt zu scherzen. Vor der Wahl dass er die milliardenschweren ame- MEINUNG keit zur Kenntnis nehmen: Es gibt
im November 2016, damals hieß sei- rikanischen Militärhilfen für Kiew SAGEN.« einen klaren Weg hin zu einer Dikta-
ne Gegnerin noch Hillary Clinton, einstellt oder drastisch kürzt. Und die tur in den Vereinigten Staaten. Und
sagte er: »Ich werde das Ergebnis die- Europäer können froh sein, wenn er John Bolton, dieser Weg wird von Tag zu Tag kür-
Ex-Sicherheits-
ser großartigen und historischen nicht an Tag eins einer neuen Präsi- berater zer«, schrieb der Historiker und ehe-
Wahl vollkommen akzeptieren – dentschaft das verkündet, was er oh- malige Politikberater Robert Kagan
wenn ich gewinne.« Damals fanden nehin schon lange vorhat: sich vom in einem Essay für die »Washington
das viele komisch. westlichen Verteidigungsbündnis los- Post«. Viele Hindernisse auf dem
Vier Jahre später ermunterte er zusagen. Vor allem aber würde Weg zur Diktatur seien schon besei-
einen Mob, das Kapitol zu stürmen, Trump das mächtigste Land der west- tigt worden. In der republikanischen
nachdem Joe Biden ihn geschlagen lichen Welt ins Lager der Autokratien Partei sei der Widerstand gegen
hatte. führen. Der neue amerikanische Prä- Trump und dessen autoritäre Tenden-
Trump ist ein Lügner und Trickser, sident stünde in einer Reihe mit Män- zen so gut wie kollabiert. Und der
aber man kann ihm nicht vorwerfen, nern, die er schon lange bewundert: Kongress in Washington sei so dys-
er würde seine Ziele verheimlichen. Wladimir Putin, Xi Jinping und Recep funktional geworden, dass sich
Er hat sich in seiner ersten Amtszeit, Tayyip Erdoğan. Trump – wie Adolf Hitler in den Drei-
wie angekündigt, aus dem Pariser In seiner ersten Amtszeit war ßigerjahren – als Alternative zum be-
Klimaabkommen verabschiedet und Trump nicht in der Lage, die Pfeiler stehenden System aufspielen könne.
ist aus dem Atomdeal mit Iran aus- der amerikanischen Demokratie zu Man mag den Vergleich mit Hitler
gestiegen. Er hat Strafzölle gegen zertrümmern. Sein Vize Mike Pence für überzogen halten. Aber Trump
Europa und China verhängt und weigerte sich, die Pläne für einen redet über demokratische Rivalen
konnte nur mit Mühe davon abgehal- wie über Feinde, die kein Pardon ver-
ten werden, aus der Nato auszutreten, dienen. »Wir werden die Marxisten,
die er vor dem Einzug ins Weiße Haus Ohne Trump Kommunisten, Faschisten und die
»obsolet« genannt hatte. Wenn er sei- radikal linken Gauner ausmerzen, die
ne Pläne nicht umsetzen konnte, lag Bundesstaaten mit Entscheidung steht aus wie Schädlinge in den Grenzen unse-
Bemühungen, Trump von Kandidatur bereits verboten*
das meist daran, dass Leute in der Re- der Wahl auszuschließen res Landes leben«, sagte der Ex-Prä-
gierung das Schlimmste verhinderten. Kandidatur erlaubt sident Mitte November bei einer
Das soll in einer zweiten Amtszeit Wahlkampfveranstaltung in New
nicht mehr passieren. Washington
Hampshire. Was er will, sind die Au-
Weitere vier Jahre wären Trump Maine toritären Staaten von Amerika.
Montana Minnesota
in Reinform, sagt John Bolton, der Oregon
»Ich bin euer Krieger, ich bin eure
Michigan
ehemalige Sicherheitsberater des Ex- Idaho Wisconsin New York Gerechtigkeit. Und allen, denen Un-
Präsidenten, dem SPIEGEL . »Er wird Wyoming recht getan wurde und die betrogen
Pennsylvania New
sich nicht mehr mit Leuten umgeben, Nevada wurden, sage ich: Ich bin eure Ver-
Illinois Jersey
die offen ihre Meinung sagen und ihm Utah
Colorado Kansas Virginia
geltung«, sagte Trump im März auf
Dinge ausreden, die sie für unklug hal- Kalifornien North dem ultrakonservativen CPAC-Kon-
ten.« Bolton weiß, wovon er spricht. New Oklahoma
Carolina gress in der Nähe von Washington.
Arizona
Er führte etwas mehr als ein Jahr lang Mexico South Er sprach die Worte nicht wie ein
Carolina
den Nationalen Sicherheitsrat der Politiker, sondern klang so eindring-
USA und wurde von Trump gefeuert, Texas Louisiana lich wie ein Sektenführer, als den er
Alaska
weil er seine Meinung so schlecht für Florida sich offenkundig auch sieht. Im Ok-
sich behalten kann. Hawaii tober verbreitete Trump ohne Ironie
In knapp einem Jahr wählt Ame- ein Gemälde, das ihn auf einer An-
rika, und Trump hat beste Chancen, * Trumps Anwälte fechten die Entscheidungen an klagebank zeigt, während Jesus
wieder ins Weiße Haus einzuziehen. S Quelle: New York Times, Stand: 17. Januar 2024 Christus neben ihm sitzt. Er insze-

Nr. 4 / 20.1.2024 DER SPIEGEL 9


TITEL

SPIEGEL . Unter der Führung dieser Washing-


toner Denkfabrik arbeiten mehr als 80 Think-
tanks und Lobbygruppen daran, eine neue Re-
gierung zu formen, die das Gesicht Amerikas
und der Welt vollkommen verändern würde.
Das »Project 2025« wird von ehemaligen
Trump-Leuten organisiert und soll die per-
sonelle und ideologische Basis einer neuen
Regierung bilden. »Noch nie in der Geschichte
der konservativen Bewegung in Amerika haben
sich alle wesentlichen Gruppen zusammenge-
funden, um ein Programm zu formulieren und
Leute zu finden, die von Tag eins an in die neue

David Dee Delgado / AP / picture alliance


Regierung einziehen können«, sagt Roberts.
Er redet mit einer ruhigen und freundlichen
Stimme, aber er lässt keinen Zweifel daran,
dass er nichts weniger als eine Revolution für
Amerika plant. Für Roberts und seine Mit-
streiter war die erste Amtszeit von Trump vor
allem eine verpasste Chance. »Trump kam als
ein Mann ins Amt, der alles radikal umkrem-
Angeklagter Trump vor Gericht in New York: Der Ex-Präsident will sich an seinen Gegnern rächen peln wollte«, sagt Roberts. »Nicht einmal wir
in der konservativen Bewegung haben ver-
niert sich als eine Mischung aus Guru und alle Beamten feuern, die seiner Agenda im standen, wie ernst er das meint.« Dieser Feh-
Racheengel. Wege stehen. ler soll sich nicht wiederholen. Das »Project
Trump hat schon lange eine merkwürdige »Trump und seine Leute haben gelernt: Um 2025« hat ein knapp 900-seitiges Papier mit
Sympathie für die Todesstrafe. Vor mehr als die Regierung zu kontrollieren, muss man die dem Titel »Mandate for Leadership« verfasst,
30 Jahren – damals war er noch ein Immobi- Bürokratie kontrollieren«, sagt Donald Moy- das die Blaupause für eine neue konservative
lienjongleur in New York – forderte er in einer nihan, Professor für Politikwissenschaft an der Regierung bilden soll.
Zeitungsanzeige die Wiedereinführung der Georgetown University in Washington. Trump Das Papier fordert, dass die Vereinigten
Todesstrafe für Schwerverbrecher jedes Alters habe in seiner ersten Amtszeit zwar oft auf Staaten aus der Weltgesundheitsorganisation,
in seinem Heimatstaat. »Ich will diese Mörder den »deep state« geschimpft, es aber nie ver- der Weltbank und dem Internationalen Wäh-
hassen und werde es immer tun«, schrieb standen, die Bundesbürokratie mit ihren rungsfonds austreten. »Die globalen Eliten,
Trump. »Ich will nicht ihre Psyche analysieren, 2,9 Millionen Angestellten wirklich zu beherr- die den Währungsfonds führen, sprechen sich
sondern sie bestrafen.« Nun ist aus Sympathie schen. Das soll nicht noch einmal passieren. regelmäßig für höhere Steuern und eine große,
eine Obsession geworden. Im Herbst 2022 Eine neue konservative Regierung werde zentral geführte Regierung aus«, heißt es in
schwärmte er auf einer Bühne in Texas vom sicher nicht noch einmal dem falschen Glauben dem Manifest, das auch ein Ende des »Krieges
chinesischen Präsidenten Xi, dessen Regime aufsitzen, dass sie viele Freunde im Beamten- gegen die fossilen Brennstoffe« fordert. Wohl
Drogenhändler erschießen und die Familien apparat besitze, sagt Kevin Roberts, der Präsi- selten in der jüngeren Geschichte ist eine Re-
der Exekutierten für die Kugeln bezahlen dent der rechten Heritage Foundation, dem gierung so detailliert vorbereitet worden.
lässt. Zuletzt regte er an, Mark Milley, seinen Trump und seine Leute beteuern zwar,
ehemaligen Generalstabschef, wegen Hoch- dass das »Project 2025« nicht für die Kampag-
verrats zum Tode verurteilen zu lassen. Trump oder Biden? ne des Ex-Präsidenten spreche; und Roberts
In Trumps Welt waren die beiden Amts- versichert, die Arbeit des Projekts könne auch
enthebungsverfahren und seine Abwahl am Prognostizierte Wahlleute für Republikaner die Basis für die Arbeit anderer konservativer
und Demokraten bei der US-Präsident-
3. November 2020 nicht etwa Ausdruck einer schaftswahl 2024
Politiker bilden. Aber im Moment spricht al-
funktionierenden Demokratie – sondern das les dafür, dass sich Trump bei den Republi-
sicher wahrscheinlich eher
Ergebnis einer teuflischen Verschwörung von kanern durchsetzt, und das »Project 2025«
unentschiedene »Swing States«
Demokraten, linken Journalisten und Büro- ist die ideale Handreichung für einen Politiker,
kraten, die es mit allen Mitteln zu zerschlagen Für die Mehrheit werden der sich noch nie um Programme geschert hat
gilt. Gegen Trump laufen vier Strafverfahren, 270 Wahlleute benötigt. und noch weniger um das komplizierte Ge-
aber die sind für ihn nur Ansporn, Rache zu Demokraten 5 Republikaner schäft der täglichen Regierungsarbeit. So ge-
nehmen, wenn er noch einmal die Gelegen- 191 77 97 121
sehen kann man das »Mandate for Leader-
heit dazu bekommt. Er hat versprochen, im ship« als Mahnung an Trump verstehen, nicht
30 17
Fall seiner Wiederwahl einen Sonderermittler noch eine Amtszeit zu verplempern.
einzusetzen, der gegen Joe Biden und seine Umfragen zur US-Präsidentschaftswahl 2024 »Die Geschichte lehrt, dass die Macht des
in sechs »Swing States«, nach Bundesstaat,
Familie vorgehen soll. in Prozent
Präsidenten, seine Agenda durchzusetzen, in
Mitte Dezember hat die republikanische Biden Trump den ersten Amtstagen am größten ist«, heißt
Mehrheit im US-Kongress eine Voruntersu- Nevada 45 47 es im Vorwort des »Mandate«. Das Papier ist
chung für ein Amtsenthebungsverfahren Wisconsin 41 45 durchzogen vom Glauben, dass sich Amerika
gegen Biden eingeleitet, obwohl es keinen aus der Welt zurückziehen muss, um zu alter
Georgia 36 44
Beweis dafür gibt, dass der Präsident – wie Stärke zurückzufinden. »Internationale Orga-
Pennsylvania 43 44
von den Republikanern behauptet – von den nisationen und Vereinbarungen, die unsere
Geschäften seines Sohnes Hunter profitiert Michigan 40 42 Verfassung, unsere Rechtsordnung oder Volks-
hat. Trump lässt keinen Zweifel daran, dass Arizona 35 41 souveränität unterhöhlen, sollten nicht refor-
er in seiner zweiten Amtszeit das Justizmi- 30 35 40 45 50 miert, sondern verlassen werden.« Die Außen-
nisterium als Waffe einsetzen wird, um es S Quelle: 270 to Win; Durchschnitte aktueller Umfragen oder grenzen der USA müssten »versiegelt«, der

letzte verfügbare Umfrage im jeweiligen Bundesstaat; an 100


seinen Gegnern heimzuzahlen. Und er will fehlende Prozent: andere Handel mit China eingestellt werden. »30 Jah-

10 DER SPIEGEL Nr. 4 / 20.1.2024


TITEL

re lang hat Amerikas politische, öko- die in den Kommentarspalten der DAS TEAM der ehemalige Dreisternegeneral sein
nomische und kulturelle Elite China »New York Times« als »Adults in the Geld als Stargast einer Roadshow, die
und seine genozidale Kommunistische room« bezeichnet wurden – als Er- eine Mischung aus Erweckungsgottes-

J. Scott Applewhite / picture alliance / AP


Partei hofiert und reich gemacht, wäh- wachsene also, die dem Kindskopf dienst, Geistheilermesse und Extre-
rend die industrielle Basis in den Ver- Trump den schlimmsten Unsinn aus- mistenaufmarsch ist: die »ReAwaken
einigten Staaten ausgehöhlt wurde.« reden würden. »Präsident Trump hat America«-Tour.
Es ist schwer zu entscheiden, wo selbst gesagt, dass er den falschen Sie macht einmal im Monat Sta-
das »Mandate for Leadership« am Leuten vertraut hat«, sagt Heritage- tion in einer amerikanischen Stadt
radikalsten ist. In der Umweltpolitik Boss Roberts. »Was auch immer ihre und fand im Mai in Trumps Golfhotel
erklärt es die Abkehr von fossilen persönliche Motivation war, sie wa- in Miami statt. Flynn stand dort auf
Brennstoffen zum gefährlichen Irr- ren sicher nicht auf einer Linie mit der Bühne und sagte, er sei mit der
weg. »Amerikas große Vorräte an Öl dem Präsidenten.« Trump selbst U. S. Army auf sechs Kontinenten ge-
und Erdgas sind kein Umweltproblem, drückt das weniger vornehm aus. Kevin Roberts, wesen. »Ich habe Bastarde auf der
sondern das Blut in unserem ökono- Nachdem er seinen Verteidigungsmi- Präsident der ganzen Welt bekämpft«, aber nir-
mischen Kreislauf. Amerikanische nister Mattis gefeuert hatte, nannte Heritage Foundation, gendwo sei die Schlacht so schlimm
Dominanz auf den globalen Energie- er ihn den »überschätztesten General plant die Agenda für gewesen wie heute in den USA: »Je
eine zweite Trump-
märkten wäre eine gute Sache – für in der Welt«; über Tillerson sagte Präsidentschaft näher man dem Feind kommt, umso
die Welt, aber noch wichtiger, für uns, Trump, dieser sei »steindumm«. mehr kommt man unter Beschuss.«
das amerikanische Volk.« Aus den Beleidigungen sprach die In jeder anderen Partei würde man

Darron Cummings / picture alliance / AP


Und in der Familien- und Gesell- Wut darüber, dass viele Beamte und Leute wie Flynn nicht in die Nähe
schaftspolitik feiert es die Abschaf- Politiker nicht bereit waren, ihm zu eines Mikrofons lassen. Es gibt Bilder,
fung des bundesweiten Rechts auf folgen – was durchaus zutraf. Mattis wie Flynn 2015 auf einer Galaveran-
Abtreibung durch den Supreme Court versuchte, Trump den Abzug der US- staltung des russischen Propaganda-
als Sieg der konservativen Bewe- Truppen aus Syrien auszureden; an- senders RT in Moskau neben dem
gung – auf dem sich diese aber nicht dere griffen zu noch drastischeren Kremlchef Wladimir Putin sitzt. Im
ausruhen dürfe. Der Präsident habe Maßnahmen. Gary Cohn, Trumps Sommer 2021 hat er öffentlich gesagt,
die moralische Verpflichtung, »die Kul- oberster Wirtschaftsberater, verhin- es gebe keinen Grund, weshalb in den
tur des Lebens« in den USA wieder derte laut dem »Washington Post«- USA kein Militärputsch wie in Myan-
herzustellen. Ein Satz, den man als Journalisten Bob Woodward den Aus- Michael Flynn, mar möglich sei. Bis heute bestreitet
Aufforderung dazu lesen kann, ein tritt der USA aus dem Nordamerika- Ex-Sicherheitsberater Flynn, dass Biden der legitime Präsi-
bundesweites Verbot von Abtreibun- nischen Freihandelsabkommen, Trumps, hofft auf dent ist. »Die Leute sagen, ich würde
ein Comeback im
gen durchzusetzen, falls es die Mehr- indem er den entsprechenden Erlass Weißen Haus die Wahl in Zweifel ziehen. Ich ziehe
heitsverhältnisse im Kongress zulassen. vom Schreibtisch im Oval Office sti- sie nicht in Zweifel. Ich bezweifele
Das Herzstück des »Project 2025« bitzte und darauf hoffte, dass Trump nur, dass sie fair ist«, sagte er im Som-
aber ist die Personalpolitik. »Unser Ziel das Papier einfach vergessen würde – mer in Trumps Golfhotel in Miami.
ist es, eine Armee von geprüften, trai- eine Strategie, die tatsächlich aufging. Das sieht der Ex-Präsident genauso.
nierten und vorbereiteten Konservati- Nur wird sie sich unter einer neuen Am letzten Abend der »ReAwaken«-
ven zu erschaffen, die sich von Tag eins Regierung Trump kaum wiederholen Tour ruft Flynn unter dem Jubel des
an daranmacht, den administrativen lassen. Wenn man Roberts fragt, wer Publikums Trump an und stellt sein
MediaPunch / IMAGO

Staat zu zerlegen«, schreibt Paul Dans, die Schuld daran trägt, dass Trump Handy auf laut. »Wir lieben ihn, er ist
der unter Trump für die Personalpolitik in seiner ersten Amtszeit so wenig ein Führer«, sagt Trump am Telefon
im Weißen Haus mitverantwortlich durchsetzen konnte – die Establish- über Flynn, während der Ex-General
war und heute das »Project 2025« leitet. ment-Republikaner im Kabinett oder selig lächelt. »Bleiben Sie gesund, wir
Für Trump waren die Jahre im Weißen die Bürokraten darunter – sagt er: Kash Patel, werden Sie zurückholen!«, ruft der
Haus vor allem eine Geschichte des »Zu 75 Prozent die Ersteren und zu Ex-Stabschef im Ex-Präsident zum Abschied.
Verrats, so stellt er es heute dar. 25 Prozent die Letzteren«. Pentagon, wird In welcher Funktion Trump seinen
als möglicher CIA-
Als er am 8. November 2016 ge- Noch ist unklar, wie ein neues Direktor gehandelt ehemaligen Sicherheitsberater an-
wählt wurde, war niemand überrasch- Trump-Kabinett aussehen könnte. heuern will, ist unklar. Flynn wird in
ter als er selbst. Er hatte für die Wahl- Aber Trump hat bereits wissen lassen, Washington für etliche Ämter gehan-
nacht nicht einmal eine Siegesrede wer ihm besonders am Herzen liegt. delt: Für den Posten des Außenminis-
vorbereiten lassen, und noch weniger Michael Flynn zum Beispiel, der ters oder des Pentagon-Chefs müsste
Gedanken hatte er darauf verschwen- Trump 22 Tage lang als Sicherheits- er vom Senat bestätigt werden, was
det, wer in seine Regierung einziehen berater gedient hat und dann aus dem angesichts seines Rufs eher schwierig
könnte. In seiner Not holte Trump Weißen Haus flog, weil er verbotene sein dürfte. Dort haben die Demo-
Männer in sein Kabinett, die jenem Kontakte zu dem russischen Bot- kraten derzeit noch die Mehrheit.
Establishment entstammten, das er schafter Sergej Kisljak unterhalten Aber der Nationale Sicherheits-
doch eigentlich zu zertrümmern ver- und darüber Vizepräsident Pence und berater braucht nicht den Segen des
sprochen hatte: Neuer Außenminister das FBI belogen hatte. »ICH ZIEHE Senats, und schon in seiner ersten
wurde Rex Tillerson, ein ehemaliger In Trumps Make-America-Great- Amtszeit hat Trump viele Spitzen-
Topmanager des Ölkonzerns Exxon- Again-Bewegung (MAGA) hat Flynn
DIE WAHL posten besetzt, ohne den Kongress
Mobil. Das Pentagon übernahm Kultstatus erreicht, weil er als erstes NICHT IN zu befassen. Richard Grenell etwa,
James Mattis, ein Viersternegeneral, Opfer des »deep state« gilt. Nach sei- ZWEIFEL. ICH der ehemalige Botschafter in Deutsch-
der in den »ewigen Kriegen« im Irak nem Rauswurf aus dem Weißen Haus land, war nur der kommissarische
und Afghanistan gekämpft hatte, die bekannte sich Flynn schuldig, gegen- BEZWEIFELE Geheimdienstkoordinator der USA –
Trump zu beenden versprochen hatte. über dem FBI falsch ausgesagt zu ha- NUR, DASS aber das hat seinem Einfluss kaum
Aus Sicht des Trump-Lagers war ben, und ließ sich auf einen juristi- Abbruch getan. Grenell ist im Kos-
es die Ursünde der ersten Präsident- schen Vergleich ein. Er wurde später SIE FAIR IST.« mos des ehemaligen Präsidenten ge-
schaft, sich auf Männer zu verlassen, von Trump begnadigt. Heute verdient Michael Flynn blieben und hofft ganz offenkundig

Nr. 4 / 20.1.2024 DER SPIEGEL 11


TITEL

darauf, nach der Wahl im kommen- Präsidenten als linke »Hexenjagd« Trump und seine Anhänger propa-
den November ein Comeback als bezeichnet werden. Es ist ein Clip, gieren die »Unitary Executive Theo-
Außenminister zu feiern. der erkennbar dafür gedreht wurde, ry«, wonach der Präsident nahezu
Als möglicher CIA-Direktor wird sich Trumps Sympathie zu sichern. uneingeschränkte Macht in der Regie-

Lexey Swall / DER SPIEGEL


in republikanischen Kreisen Kash Pa- Aber es sind nicht nur die Spitzen- rung besitze. »Die gegenwärtige Ex-
tel gehandelt, der wie Flynn heute posten, die Trump und seine Leute mit ekutive wurde von Linken dazu
Stargast der »ReAwaken«-Tour ist. loyalem Personal besetzen wollen. Es gebraucht, linke Politprojekte voran-
Nach seiner Zeit in der Trump-Regie- geht darum, den gesamten Beamten- zutreiben«, sagte John McEntee,
rung hat er ein Kinderbuch mit dem apparat der Bundesregierung auf Linie Trumps ehemaliger Personalchef im
Titel »Die Verschwörung gegen den zu bringen. Normalerweise kann jeder Weißen Haus, der »New York Times«.
König« geschrieben, in dem es darum Mike Davis, Präsident rund 4000 politische Top- »Es ist unmöglich, dass die jetzige
rechter Lobbyist
geht, wie Trump von finsteren Mäch- und möglicher neuer
leute feuern – dazu zählen die Bot- Struktur für eine konservative Regie-
ten verfolgt wird. Patel war unter an- Justizminister schafter in aller Welt, aber auch die rung funktioniert.« Heute arbeitet
derem Stellvertreter des kommissa- Leitungen von Bundesbehörden wie McEntee für das »Project 2025«. »Wir
rischen Geheimdienstkoordinators etwa der Umweltagentur EPA. Trumps müssen deshalb nicht nur das richtige
Grenell und machte zuletzt Schlag- Plan ist deutlich radikaler. Schon am Personal anheuern, sondern das ge-
zeilen mit einem Auftritt in dem Pod- Ende seiner ersten Amtszeit hatte der samte System überholen.«
cast »War Room« von Trumps ehe- damalige Präsident einen Erlass mit Viele liberale Experten halten die
maligem Chefstrategen Steve Ban- dem Titel »Schedule F« unterschrie- »Unitary Executive Theory« für un-
non. Darin kündigte Patel an, dass ben, der 50.000 Beschäftigte der Re- vereinbar mit dem Gesetz. »Ameri-
eine neue Trump-Regierung gegen gierung zu politischen Beamten er- kanische Beamte werden auf die Ver-
piemags / IMAGO
Journalisten vorgehen werde, die Joe klärte – mit dem Ergebnis, dass der fassung und nicht auf den Präsidenten
Biden dabei geholfen hätten, die Prä- Präsident und seine Getreuen sie je- vereidigt«, sagt Politikwissenschaftler
sidentschaftswahl zu »manipulieren«. derzeit absetzen könnten. Trump hat Moynihan. Und es sei in der Verfas-
»Wir werden euch verfolgen«, sagte Kiron Skinner, »Schedule F« nicht mehr umsetzen sung ausdrücklich festgeschrieben,
Patel. »Ob in einem Straf- oder Zivil- ehemalige Planungs- können – aber seine Leute machen dass der Kongress die Regierung be-
gericht, das werden wir noch sehen.« stabschefin im State kein Geheimnis daraus, dass sie in aufsichtige und den Bundesbehörden
Department und
Der für Trump wichtigste Posten in Vordenkerin einer einem neu aufgelegten Erlass das zen- vorschreibe, wie sie zu agieren haben.
einer neuen Regierung wäre wohl das neuen konservativen trale Werkzeug sehen, um den »deep All das wolle Trump abschaffen.
Amt des Justizministers. Ein gefügiger Außenpolitik state« unter Kontrolle zu bringen. Die Pläne von Trump und seinen
Mann könnte nicht nur anordnen, dass »Die Bürokratie ist in den vergan- Getreuen sind so weitgehend, dass
ein Teil der Strafverfahren fallen ge- genen Jahrzehnten so stark gewach- sie selbst manchen Parteifreunden
lassen wird, sondern auch als juristi- sen, dass sie auftritt wie eine eigene unheimlich sind – vor allem in der
scher Zuschläger gegen Trumps Riva- Staatsgewalt«, klagt Kiron Skinner, Außenpolitik. Mitte Dezember hat
len dienen. In den USA ist der Justiz- die unter Trump die Abteilung für der Kongress mit großer überpartei-
Alex Wong / Getty Images

minister zugleich oberster Staatsanwalt politische Planung im State Depart- licher Mehrheit ein Gesetz verab-
für alle Verfahren auf Bundesebene. ment geleitet hat und heute für das schiedet, das verhindern soll, dass
Zuschläger wäre eine Aufgabe, mit der »Project 2025« arbeitet. »Wir waren sich ein Präsident ohne Rückkopp-
Mike Davis kaum ein Problem haben überrascht, wie stark der Widerstand lung mit dem Parlament aus der Nato
dürfte. Der kräftige Mann aus Iowa half gegen die Agenda des Präsidenten verabschiedet. Über Jahrzehnte wäre
während Trumps Präsidentschaft, kon- war, und zwar in allen Politikberei- eine solche Regelung vollkommen
servative Richter für den Supreme John McEntee, chen.« Dies müsse in einer zweiten unnötig gewesen, weil kein amerika-
Court zu nominieren, und gründete früherer Personalchef Amtszeit verhindert werden. Heißt nischer Präsident seit dem Zweiten
im Weißen Haus, will
danach einen Lobbyverein, der Juris- den Beamtenapparat
das, renitente Beamte zu feuern? Weltkrieg auf die Idee gekommen
ten förderte, die sich der Trump-Be- radikal reformieren Skinner verneint das. Das sei ein Kli- wäre, sich aus dem transatlantischen
wegung verpflichtet fühlen. schee, das in den Medien immer wie- Bündnis zurückzuziehen. Das änder-
Als kommissarischer Justizminis- der verbreitet werde. Aber bis zum te sich erst mit Trump.
ter würde er »die Hölle auf Washing- Wahltag will die Heritage Foundation Viele Europäer beruhigen sich mit
ton hinabregnen lassen«, sagte Davis 20.000 Männer und Frauen einem dem Gedanken, dass Trump beim The-
in der Show des rechten Podcasters »WIR WAREN Loyalitätstest unterziehen – also weit ma Nato von seiner Partei in Schach
Benny Johnson. Er würde Joe Biden mehr, als ein Präsident normalerwei- gehalten werde. Und tatsächlich steht
und seine Familie anklagen, alle Män- ÜBERRASCHT, se für einen Regierungswechsel im Senat eine große Mehrheit der Re-
ner und Frauen begnadigen, die am WIE STARK braucht. Und Trump selbst verspricht publikaner weiter hinter dem Vertei-
6. Januar 2021 das Kapitol gestürmt in praktisch jeder Wahlkampfrede, digungsbündnis. »America-First-Kon-
hätten, und zehn Millionen Menschen DER WIDER- den Beamtenapparat auszuräuchern. servativismus heißt nicht, dass wir uns
deportieren. »Wir werden Kinder in STAND GEGEN Die Öffentlichkeit habe noch gar aus Europa zurückziehen«, sagt Heri-
Käfige stecken«, sagte Davis. »Es nicht verstanden, welche Gefahr für tage-Präsident Roberts. Und im »Man-
wird fantastisch werden.« Davis ist
DIE AGENDA die Demokratie von Trumps Plänen date for Leadership« heißt es, die euro-
selbst für MAGA-Verhältnisse eine DES PRÄSI- für die Verwaltung ausginge, sagt der päischen Staaten müssten sich zwar
extreme Figur, aber es war der Sohn DENTEN WAR, Georgetown-Professor Moynihan. konventionell so aufrüsten, dass sie in
des Ex-Präsidenten, der Davis für »Das ist eine tickende Zeitbombe.« der Lage seien, sich gegen ein aggres-
einen Posten im Kabinett ins Ge- UND ZWAR Dem Ex-Präsidenten ginge es nicht sives Russland zu wehren. Doch der
spräch gebracht hatte – um den Wa- IN ALLEN nur darum, eigenständig denkende nukleare Schutzschirm der USA wird
shingtoner Bürokratensumpf aufzu- Beamte einzuschüchtern oder zu feu- nicht infrage gestellt.
schrecken, wie es Donald Trump Jr. POLITIK- ern. Sondern er wolle auch die Kon- Aber gerade im MAGA-Flügel der
formulierte. Davis’ Lobbyfirma ver- BEREICHEN.« trolle der Regierung durch den Kon- Partei gibt es einen immer stärker wer-
öffentlichte vor einiger Zeit ein Video, Kiron Skinner gress faktisch abschaffen – also im denden Isolationismus. Josh Hawley,
in dem die Anklagen gegen den Ex- Kern die Gewaltenteilung. republikanischer Senator aus Missou-

12 DER SPIEGEL Nr. 4 / 20.1.2024


TITEL

ri, hat gegen die Erweiterung der Nato um Ziele und Zweck des Bündnisses Nato »fun-
Schweden und Finnland gestimmt. Und die damental neu bewerten« werde. Aber Trumps
Waffenhilfe für die Ukraine, die bis vor Kurzem ehemaliger Sicherheitsberater Bolton glaubt,
im Senat noch so gut wie unumstritten war, dass sein Ex-Chef zu allem entschlossen sei.
hängt in der Schwebe, weil die Republikaner »Es wäre das Dümmste, was die Trump-Re-
sie erst freigeben wollen, wenn Biden die Gren- gierung tun könnte.« Aber der Ex-Präsident
ze zu Mexiko besser abschottet. J. D. Vance, glaube, dass er von den Europäern sehr un-
Senator aus Ohio, nannte es eine »peinliche gerecht behandelt worden sei.
Farce«, dass der ukrainische Präsident Wolo- Um die Nato zu zerstören, müsste Trump
dymyr Selenskyj Anfang Dezember überhaupt nicht einmal den formalen Austritt erklären.
auf die Idee gekommen war, nach Washington Der Kern des Bündnisses ist Artikel 5 des
zu fliegen, um die Senatoren von einem neuen Nato-Vertrags, wonach der Angriff auf ein
Hilfspaket zu überzeugen. »Ich werde nicht Land wie ein Angriff auf alle 31 Mitgliedstaa-
zustimmen, und meine republikanischen Kol- ten gewertet wird. Diese Beistandspflicht war
legen sollten es auch nicht tun«, sagte Vance ein wesentlicher Grund dafür, dass der Kalte
dem Fernsehsender Fox News. Trump selbst Krieg in 40 Jahren nicht in einen heißen um-
erklärte, es sei eine »Lüge«, dass Russland und schlug. Moskau wollte es nicht riskieren, in
seine Nuklearwaffen die größte Bedrohung für einen Atomkrieg mit den USA gezogen zu
die Vereinigten Staaten darstellten. werden – und umgekehrt.
Der Ex-Präsident hat bisher nicht klar ge- Natürlich könnte der Kongress protestieren,
sagt, ob er die Nato in einer zweiten Amtszeit wenn Trump den Austritt aus der Nato erklä-
verlassen will. Auf seiner Wahlkampf-Website ren würde, sagt Ivo Daalder, der unter Barack
steht lediglich, dass er als neuer Präsident Obama amerikanischer Nato-Botschafter in
Brüssel war. Aber was, wenn Trump sagt, er
sei nicht bereit, Boston für Riga zu opfern?
Bidens Bilanz Oder Baltimore für Tallinn? »Der Kongress
hat null Einfluss darauf, wie der Präsident die
Bruttoinlandsprodukt der USA, in Billionen Verpflichtungen aus dem Nato-Vertrag erfüllt«,
Dollar
so Daalder. Der Kern der Nato sei gegenseiti-
22 ges Vertrauen. »Wenn dieses Vertrauen weg
ist, kollabiert das ganze Bündnis.«
20 Neben den USA verfügen nur zwei weite-
re Nato-Staaten über Atomwaffen: Großbri-
18 Beginn tannien und Frankreich. Aber deren Kapazi-
der Corona- täten sind viel begrenzter als die der Vereinig-
pandemie
16 ten Staaten, die rund 5000 Sprengköpfe in
ihren Lagern haben und vor allem verschie-
Obama Trump Biden
dene Trägersysteme besitzen, die sicherstel-
len, dass die Nato auf einen russischen nukle-
2009 2013 2017 2021 aren Angriff wirksam antworten kann.
Experten bezweifeln, dass Großbritannien
Beschäftigte in den USA, in Millionen und Frankreich mit ihren zusammen etwas
mehr als 500 Sprengköpfen über diese Zweit-
160 schlagskapazität verfügen, die den Kern einer
glaubwürdigen Abschreckung bildet. Darüber
hinaus ist völlig unklar, wie eine gemeinsame
140 Verteidigung aussehen soll, wenn die USA nicht
mehr Teil der Nato sind. Frankreich hat seine
Force de Frappe immer als Teil der nationalen
120 Souveränität betrachtet. Die europäische Ver-
Obama Trump Biden teidigungspolitik sei immer nur in Worten, aber
nie in Taten stark gewesen, sagt John Bolton.
2009 2013 2017 2021
Heißt dies, dass die Europäer ohne den Schutz
der Amerikaner verloren sind? »Im Grunde
Reallöhne pro Woche, Median, in Dollar* ja«, glaubt der frühere Sicherheitsberater.
Der ehemalige Nato-Botschafter Daalder
390 Überwiegend Gering-
verdiener verlieren ihre
sieht die Lage nicht ganz so düster. Aber es
Jobs und fallen aus sei für Europa höchste Zeit, sich für eine zwei-
der Statistik. te Präsidentschaft Trumps zu wappnen. Na-
360
türlich sei es schwierig, öffentlich so heikle
Hohe Fragen wie einen europäischen Nuklear-
330 Inflation schirm zu diskutieren. Hinter verschlossenen
Türen müssten die europäischen Regierungen
Obama Trump Biden
die Debatte darüber beginnen, wie sie sich
ohne die USA verteidigen können. Daalder
2009 2013 2017 2021 sagt: »Es ist nicht besonders klug, sich nur
* Bezogen auf Beschäftigte ab 16 Jahren deshalb nicht auf die Zukunft vorzubereiten,
S Quellen: US-Arbeitsministerium, St. Louis Fed weil sie einem nicht gefällt.« n

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TITEL

Der russische Überfall auf die Ukraine hat


Außenministerin Baerbock den Kanzler dicht an die Seite des US-Präsi-
im September beim denten getrieben. Olaf Scholz zählt Biden zu
US-Sender Fox News seinen engsten internationalen Verbündeten.
Ohne ihn macht er so gut wie nichts, wenn es
um die Ukraine geht. Der US-Präsident geht
bei Waffenlieferungen voran, der Kanzler be-
wegt sich in seinem Windschatten. Das Kalkül
dahinter ist klar. Solange die Deutschen den
Amerikanern folgen, haben sie von den Rus-
sen nicht viel zu befürchten.
Die Franzosen registrieren schon seit Lan-
gem besorgt, dass Scholz das gute Verhältnis
zu Washington inzwischen wichtiger zu sein
scheint als eine enge Zusammenarbeit mit
Paris und den anderen europäischen Haupt-
städten. Was passiert, wenn diese Strategie
mit einem Trump-Wahlsieg spektakulär nach
hinten losgeht? Wenn es um die Deutschen
dann plötzlich sehr einsam wird?
Im vergangenen August spielten Wissen-
schaftler und hohe Beamte des Auswärtigen
Amts bei einem Workshop des German
Marshall Fund verschiedene Wahlszenarien
durch. Zur Logik dieser Planspiele gehört es,
bislang Ungedachtes zu denken. Auch das
Kanzleramt sucht seit Monaten den Kontakt
zu Wissenschaftlern, um sich auf einen mög-
lichen Machtwechsel in Washington vor-
zubereiten.
Im Auswärtigen Amt hat der Planungsstab,
der von einem Vertrauten der grünen Außen-

SCHLAF, NATO, Michael Kappeler / dpa


ministerin Annalena Baerbock geleitet wird,
alle Abteilungen des Hauses aufgefordert,
mögliche Konsequenzen einer Trump-Wahl

SCHLAF auf ihr jeweiliges Fachgebiet zu prüfen. Dabei


scheint es kaum einen Bereich zu geben, der
von einem Wechsel in Washington nicht be-
troffen wäre.
AUSSENPOLITIK Noch einmal will sich die Bundesregierung von einem Bei der Nato, der Ukrainehilfe und in der
Trump-Wahlsieg nicht überraschen lassen. Und so Handelspolitik ist das offensichtlich. Trump
ist kein Unbekannter. Aufmerksam hat man
stellt man sich in Berlin inzwischen auf das Schlimmste ein. in Berlin die Geschichte zur Kenntnis genom-
men, die der französische EU-Kommissar
al angenommen, es gäbe ein Papier, fünf sogar? Wie sollte Deutschland reagieren, Thierry Breton laut »Politico« am vergange-
M ein vertrauliches Planungsdokument
der Bundesregierung, in dem es
um folgendes Szenario geht: Was passiert,
wenn der amerikanische Atomschirm weg-
fiele? Mit einer deutschen Bombe?
Würde ein Geheimpapier mit den Antwor-
nen Dienstag bei einer Podiumsdiskussion im
EU-Parlament in Brüssel erzählte.
Danach soll Trump 2020 bei einem Treffen
wenn Donald Trump am 20. Januar 2025 als ten auf diese Fragen öffentlich werden – und mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von
47. Präsident der Vereinigten Staaten von in Berlin wird ziemlich viel irgendwann öffent- der Leyen am Rande des Weltwirtschafts-
Amerika vereidigt wird? Wird die Nato über- lich –, wären die Folgen unabsehbar. Der Kanz- forums in Davos gesagt haben: »Du solltest
leben? Droht ein Handelskrieg mit den USA? ler müsste dem amtierenden US-Präsidenten wissen, dass wir euch niemals zu Hilfe kom-
Wird sich Trump über die Köpfe der Ukrainer Joe Biden erklären, warum die Bundesregie- men werden, wenn Europa angegriffen wird.«
hinweg mit Wladimir Putin einigen? rung offenbar nicht mehr an seinen Wahlsieg Im Übrigen sei die »Nato tot, und wir werden
Es ist nur ein Gedankenspiel, denn ein sol- glaubt. Die Trump-Leute könnten sich darauf austreten«.
ches Geheimdokument gibt es nicht. Und einstellen, wie die Deutschen auf sie reagieren Eine Wahl von Trump könnte aber auch
wird es womöglich auch nie geben. Es wäre würden. Und in Deutschland würden die ge- Auswirkungen auf Politikbereiche haben, die
zu brisant. Die Fragen aber werden gestellt. heimen Atom- und Aufrüstungsüberlegungen nicht so offensichtlich sind. So ist bekannt,
Im Kanzleramt, im Außenministerium, im einen politischen Tsunami auslösen. dass Trumps Vertrauter Richard »Ric« Grenell
Verteidigungs- und im Wirtschaftsressort. Politische Pläne können so heikel sein, dass nach wie vor auf dem Balkan aktiv ist. Der
Welche Kontakte gibt es in das Trump- man sie besser nicht im Detail aufschreibt. umstrittene frühere US-Botschafter in Berlin
Lager, und wie ließen sie sich nutzen? Welche Was nicht bedeutet, dass sich in Berlin nie- diente seinem Herrn eine Zeit lang als Beauf-
politischen Hebel könnte Berlin einsetzen, mand Gedanken machen würde über einen tragter für Serbien und das Kosovo. Was
um die neue Administration zu beeinflussen? möglichen Wahlsieg Donald Trumps. Allen könnte das für die Politik der Bundesregie-
Wie sehr müssten die deutschen Verteidi- ist klar, dass eine zweite Amtszeit des Repu- rung gegenüber Albanien, Nordmazedonien,
gungsausgaben steigen, um einen US-Rück- blikaners eine verheerende Wirkung auf die Bosnien-Herzegowina und den anderen Staa-
zug aus Europa zu kompensieren? Auf drei Sicherheitsarchitektur Europas und damit ten des Westbalkans bedeuten? Auch solche
Prozent der Wirtschaftsleistung, auf vier, auf Deutschlands haben könnte. Fragen sollen nun geklärt werden.

14 DER SPIEGEL Nr. 4 / 20.1.2024


TITEL

Die erste Trump-Wahl 2016 hatte rechnet man in Berlin inzwischen Am Mittwoch im Verteidigungs-
Berlin kalt erwischt. Lange schien auch mit dem Schlimmsten. Mit einen Angewiesen ausschuss des Bundestags hatte FDP-
niemand mit einem Sieg gerechnet zu Ende der Nato in ihrer jetzigen Form auf Amerika Finanzminister Christian Lindner
haben, es gab kaum Kontakte zum zum Beispiel. seinen Auftritt. Der Liberale weiß,
Trump-Lager. Die Blaupause dafür liefert ein Hilfszusagen für dass Deutschland seine Zusage an die
Das soll kein zweites Mal passie- Papier des konservativen Center for die Ukraine von Nato in diesem Jahr nur mit Trick-
Januar 2022 bis
ren. Die Botschaft in Washington und Renewing America, das im Trump- Oktober 2023, in sereien einhalten kann. So werden
die deutschen Generalkonsulate in Umfeld offenbar aufmerksam studiert Milliarden Euro auch Kindergeldzahlungen für Sol-
den USA sind angewiesen worden, wird. Der Autor fordert darin eine Bilaterale Hilfen daten als verteidigungsrelevante Aus-
gezielt den Kontakt zu Trumps Leu- »schlafende Nato«, aus der sich die Hilfen über EU- gaben verbucht.
ten zu suchen. »Wir brauchen ein USA weitgehend zurückziehen wür- Institutionen Doch das hielt Lindner nicht da-
starkes transatlantisches Beziehungs- den, um sich auf die Bedrohung durch (insgesamt 84,9) von ab, große Worte zu wählen. Die
netz, unabhängig davon, wer im Wei- China konzentrieren zu können. Das USA Bundesregierung wolle ein Zeichen
ßen Haus sitzt«, sagt Michael Link, sei auch die einzige Möglichkeit, das 71,4 setzen, verkündete er. Sie meine es
der Koordinator der Bundesregierung Schmarotzertum der Europäer zu be- Deutschland ernst mit der Fähigkeit der Bundes-
für die transatlantische Zusammen- enden, die dann endlich gezwungen 38,3 wehr zur Bündnisverteidigung. Es
arbeit. seien, selbst für ihre Verteidigung auf- Frankreich gehe nun darum, problematischen
Sechs längere Reisen hat der FDP- zukommen. Amerika würde nur noch 16,2 US-Entscheidungen vorzubeugen. So
Politiker seit seinem Amtsantritt vor im Notfall mit logistischer Unterstüt- Großbritannien geben Teilnehmer seinen Auftritt wie-
knapp zwei Jahren in die USA unter- zung und beim Freihalten der See- 13,3 der. Es klang so, als wollte Lindner
nommen, auch auf der Suche nach wege helfen. Italien schon mal prophylaktisch Trump mit
Verbündeten in den Bundesstaaten Schlaf, Nato, schlaf – ist das also 11,9 einer großzügigen Steigerung der Ver-
und im Kongress, über die Parteigren- die Zukunft des westliches Bündnis- Spanien teidigungsausgaben den Wind aus
10,8
zen hinweg. »Diese könnten im Falle ses unter einem Präsidenten Trump? den Segeln nehmen.
Niederlande
einer erneuten Wahl Trumps zum US- Es ist ein Horrorszenario, das die geo- Einige Abgeordnete schöpften da
10,7
Präsidenten als Sicherheitsnetz für politischen Gewissheiten der Deut- Hoffnung. Und dann? Trug Lindner
Polen
die transatlantische Freundschaft ak- schen grundlegend infrage stellen 7,9 nur die altbekannten Rechnungen
tiviert werden und auf problemati- würde. Ausschließen lässt es sich Norwegen
vor, mit den vertrauten Unbekann-
sche Initiativen aus dem Weißen Haus nicht. 7,3 ten.
reagieren«, sagt er. Es klingt ein wenig Glaubt man der Schilderung von Japan Mit den 52 Milliarden Euro aus
nach Pfeifen im Walde. Thierry Breton in Brüssel, soll Trump 6,8 dem regulären Verteidigungsetat und
Mitte September vergangenen Jah- bei seinem Gespräch mit von der Dänemark 20 Milliarden Euro aus dem Sonder-
res reiste auch die Außenministerin Leyen hinzugefügt haben: »Übrigens, 6,0 vermögen erfülle die Ampel die
in die USA. Bevor sie sich im liberalen ihr schuldet mir noch 400 Milliarden Kanada Zwei-Prozent-Quote der Nato, be-
Washington mit ihrem Kollegen An- Dollar, weil ihr nicht gezahlt habt, ihr 6,0 teuerte der Minister. Dann wurde er
tony Blinken im State Department Deutschen, was ihr für Verteidigung Schweden gefragt, was denn Ende 2027 gesche-
traf, ging es in den Süden, ins repu- hättet zahlen müssen.« 5,9 he, wenn das Sondervermögen auf-
blikanische Kernland, nach Texas. In Die Verteidigungsausgaben sind andere gebraucht sei.
Austin traf sie sich mit dem republi- der Elefant im Raum, über den in 29,6 Lindners Antwort: Da werde sich
kanischen Gouverneur Greg Abbott, der Bundesregierung niemand gern S Quelle: IfW Kiel der »Aufwuchs« des Verteidigungs-

der sich einen Namen als Hardliner spricht. Dabei ist klar, dass sie drama- haushalts eben in der mittelfristigen
gemacht hat. Wenn es um Abtreibung tisch steigen müssten, wenn es Trump Finanzplanung »abbilden« müssen.
und illegale Migration geht, lässt sich ernst meinen würde. Schon ist von Die muss zwar schon in diesem Jahr
Abbott ungern rechts überholen. drei, vier oder fünf Prozent der Wirt- von der Ampelkoalition verabschie-
Immerhin schien es der Republi- schaftsleistung für Verteidigung die det werden, aber sie ist nur eine poli-
kaner zu würdigen, dass die Deutsche Rede – statt der bislang geforderten tische Absichtserklärung.
eigens in seine Hauptstadt gekommen zwei Prozent. Doch die wären allen- Die notwendigen Mittel werde erst
war. Als Baerbock wissen wollte, wie falls nach einem »politischen Schock- die nächste Regierung auftreiben
es die Republikaner mit der Zukunft moment« durchsetzbar, heißt es im müssen. Lindner hatte die Lösung des
der Nato hielten, drückte sich Abbott Kanzleramt. Problems also schlicht in die Zukunft
allerdings vor einer Antwort. verschoben.
In Washington wurde Baerbock Und Scholz? Der Kanzler hofft
vom republikanischen Außenpoliti- weiter, dass sein Freund Joe Biden
ker Jim Risch und von Mitch McCon- gewinnt. Einerseits. Andererseits
nell empfangen, dem republikani- kündigte er vergangene Woche be-
schen Minderheitsführer im Senat. reits an, dass der deutsche Beitrag
Beide setzten ihr zu: Berlin müsse nicht reichen werde, »die Sicherheit
sich bei der Ukrainehilfe stärker enga- der Ukraine dauerhaft zu gewährleis-
gieren und außerdem endlich die ver- ten«. Berlin liegt nach den USA auf
Evan Vucci / AP / picture alliance

sprochenen zwei Prozent der Wirt- Platz zwei der Geberländer.


schaftsleistung für Verteidigung aus- Adressaten der Botschaft des Kanz-
geben. lers: die EU-Partner. Scholz rief sie
Gute Kontakte zu prominenten dazu auf, »ihre Anstrengungen zu-
republikanischen Politikern zu pfle- gunsten der Ukraine ebenfalls zu ver-
gen kann auf keinen Fall schaden. stärken«.
Doch der Einfluss der Bundesregie- Wer weiß schon, was kommt.
rung auf einen Präsidenten Trump Gesprächspartner von der Leyen, Trump 2020 Matthias Gebauer, Konstantin von
dürfte überschaubar sein. Und so Hammerstein, Marina Kormbaki n

Nr. 4 / 20.1.2024 DER SPIEGEL 15


DEUTSCHLAND

Lando Hass / picture alliance / dpa


Schneepflüge statt Urlaubsflieger: Am Frankfurter Flughafen ging am Donnerstag fast nichts mehr. Zahlreiche Starts wurden annulliert.
»Sollte Ihr Flug gestrichen sein, kommen Sie bitte nicht«, hieß es auf der Website des Airports. Für alle anderen Passagiere galt:
»ausreichend Zeit für die Anreise einplanen«. Doch auch auf den Autobahnen in Hessen und Rheinland-Pfalz gab es kaum ein Durchkommen.
Polarluft aus dem Norden und Warmluft aus dem Süden sorgten für Schnee und Eis satt.

Mehr Gewalt in Krankenhäusern


KRIMINALITÄT Rohheitsdelikte haben in medizinischen Einrichtungen seit 2019 um 20 Prozent zugenommen.

I n deutschen Krankenhäusern kommt es immer häufiger zu


Gewaltdelikten wie Körperverletzung und Raub. Bundesweit
stieg die Zahl sogenannter Rohheitsdelikte in medizinischen
Einrichtungen seit 2019 um 20 Prozent auf 6894 Taten im Jahr
stieg die Zahl um 46 Prozent auf 559 Taten, in Sachsen-Anhalt
um 31 Prozent auf 406 Fälle. In Nordrhein-Westfalen, dem bevölke-
rungsreichsten Bundesland, stieg die Zahl der Gewalttaten um
29 Prozent auf 1571 Delikte. In fast allen 13 Bundesländern, die seit
2022, wie eine SPIEGEL -Umfrage bei allen 16 Landeskriminal- 2019 Zahlen zu Rohheitsdelikten in Krankenhäusern erheben, ist
ämtern ergab. In Berlin, wo in der Silvesternacht ein Video für die Tendenz steigend. Mit einer Ausnahme: Bayern. Dort sank die
Schlagzeilen gesorgt hatte, in dem zu sehen war, wie ein Patient Zahl entsprechender Straftaten um 11 Prozent. Brandenburg, Meck-
und seine Brüder in der Ambulanz einer Klinik einen Arzt und lenburg-Vorpommern und Sachsen weisen Gewalttaten in Kranken-
einen Pfleger attackierten, liegen bereits Zahlen für 2023 vor. häusern erst seit 2020 gesondert aus und sind deshalb nicht berück-
Hier stieg die Zahl der Gewalttaten um 51 Prozent. sichtigt. Nicht alle Bundesländer erheben die Zahlen einheitlich,
Auch in anderen Bundesländern ist der Anstieg entsprechender und der Tatort wurde nicht immer erfasst. Unklar ist auch, wer Op-
Delikte teilweise drastisch. Das Saarland verzeichnete einen Zu- fer der Straftaten war. Befragungen in Ländern ergaben jedoch, dass
wachs um 67 Prozent, Bremen um 55 Prozent. In Niedersachsen medizinisches Personal immer wieder Gewalt erlebt. HAS

16 DER SPIEGEL Nr. 4 / 20.1.2024


Ehrenamtliche engagierte Menschen unter­
DIE DA UNTEN
stützen durch Mentoring und
stützen Schulsystem ähnliche Begleitungsangebote
BILDUNG Freiwillige Mentoren junge Menschen darin, ihre Wozu noch heiraten?
wie etwa Betreuerinnen in Persönlichkeit zu entwickeln,
der Hausaufgabenhilfe: Ohne und reagieren auf die steigen­
ehrenamtliches Engagement den Lerndefizite«, sagt Sabine Von Anna Clauß zur Adoption auch für Singles
würde das Schulsystem in Süß, eine der Projektleiterinnen oder unverheiratete Paare, ein
Deutschland häufig schlechter
funktionieren, so schätzen es
die Freiwilligen ein. Das geht
aus einer noch unveröffentlich­
der Studie. Viele Hilfsorganisa­
tionen äußern demnach Kritik
am öffentlichen Bildungsan­
gebot: »Wenn der Staat seine
D ie Liebe ist eine Macht,
die niemand beherr­
schen kann. Erst recht
nicht die Politik. Trotzdem
kleines Sorgerecht für Dritte –
all das wirft die Frage auf:
Wozu noch heiraten?
Erbfolge, Krankheit, Ren­
ten Studie des Zentrums für Arbeit besser machen würde, versucht sie es. Schließlich tenansprüche – das meiste
Zivilgesellschaftsforschung am wäre unsere Arbeit überflüs­ muss menschliches Zusam­ lässt sich ohnehin über private
Wissenschaftszentrum Berlin sig«, sagen 35 Prozent der menleben und Auseinander­ Verträge oder notariell be­
und des Vereins Stiftungen für Organisationen. Sabine Süß: driften irgendwie geregelt glaubigte Testamente und Pa­
Bildung e. V. mit dem Netzwerk »Die Ehrenamtlichen schaffen werden. tientenverfügungen regeln. Im
Stiftungen und Bildung hervor. in vielen Fällen erst die Voraus­ Der Ampelregierung ist Familienrecht scheint die Ehe
Die Helfer engagieren sich dem­ setzungen, dass die jungen schon zu Beginn der Legisla­ nur noch ein zivilrechtlicher
nach insbesondere für bedarfs­ Menschen erfolgreich lernen turperiode aufgefallen, dass Vertrag unter vielen zu sein.
orientierte Angebote an Kinder können.« Das trage zum Chan­ das deutsche Familienrecht Nur geht die Koalition den
und Jugendliche. »Freiwillig cenausgleich bei. HIM den Bezug zur Realität zu ver­ Weg nicht zu Ende. So begrü­
lieren droht. Vater, Mutter, ßenswert es sein mag, die
Kind, per Trauschein verbun­ deutsche Rechtsordnung ge­
Zu wenig Munition Fraktion für den Verteidigungs­ den – das war einmal. Im sellschaftlichen Veränderun­
haushalt. Gädechens wirft dem Koalitionsvertrag zwischen gen anzupassen, um mithilfe
gekauft Verteidigungsminister Wort­ SPD, Grünen und FDP heißt
BUNDESWEHR Das Verteidi­ bruch vor: »Obwohl Pistorius es folglich, dass Familie »viel­ Im Familienrecht
gungsministerium hat im ver­ das Thema Munition zur Chef­ fältig und überall dort, wo
gangenen Jahr weniger Geld für sache machen wollte, hat er Menschen Verantwortung für­
scheint die Ehe
Munition ausgegeben, als dafür kaum etwas bewegt.« Gäde­ einander übernehmen«, zu nur noch ein zivil-
zur Verfügung stand. Rund chens zufolge gab der Bund im finden sei. rechtlicher Vertrag
845 Millionen Euro flossen in vergangenen Jahr sogar rund Die Ehe steht zwar laut unter vielen zu sein.
die Beschaffung von Munition – 40 Millionen Euro weniger für Grundgesetz »unter dem be­
rund 280 Millionen Euro weni­ Munition aus als 2022, rechnet sonderen Schutze der staat­ etlicher neuer Paragrafen glei­
ger als vom Ministerium einge­ man Kosten wie Vorauszahlun­ lichen Ordnung«. Warum che Verhältnisse zwischen
plant. Das geht aus Antworten gen für noch nicht gelieferte das so ist, wird aber immer verheirateten und unverheira­
des Wehrressorts auf schriftliche Ware sowie die Jahresinflation schwieriger zu begründen: teten Liebenden, Sorgenden
Fragen des CDU­Bundestags­ heraus. Aus dem Ministerium Die Scheidungsquote hierzu­ oder sich Fortpflanzenden zu
abgeordneten Ingo Gädechens heißt es, dass in den zurück­ lande liegt bei 31 Prozent. schaffen: Wäre es nicht konse­
hervor, die dem SPIEGEL vor­ liegenden zwei Jahren dennoch Jedes dritte Baby hat Eltern, quenter, würde die Ampel den
liegen. »Es ist alarmierend, alle eine »Trendumkehr« bei der die nicht verheiratet sind. Trauschein abschaffen? Ehe
wissen, dass wir dringend Mu­ Munitionsbeschaffung erfolgt Rund ein Prozent der Neuge­ für niemand statt Ehe für alle.
nition brauchen – aber es pas­ sei. Im laufenden Jahr soll Mu­ borenen ist mithilfe künstli­ Eigentlich spricht für den
siert zu wenig«, kritisiert der nition für etwa 3,5 Milliarden cher Befruchtung entstanden. Gang zum Standesamt nur
Berichterstatter der CDU/CSU­ Euro beschafft werden. KOR Manche von ihnen wachsen noch das Ehegattensplitting.
mit zwei Müttern auf oder ha­ Und selbst das ist überholt.
ben einen Vater, der bio­ Wenn es die Regierung ernst
logisch nicht mit ihnen ver­ meint mit ihren Modernisie­
Nachgezählt wandt ist. rungsabsichten, sollte sie es
Diese Woche nun präsen­ durch ein Familiensplitting er­
Laut Bundesbank noch ausstehende tierte Justizminister Marco setzen. Je mehr Kinder je­
D-Mark-Bestände, in Milliarden Mark
Buschmann (FDP) erste Eck­ mand hat, desto weniger Steu­
punkte der geplanten Refor­ ern müsste er oder sie zahlen.
15,82 men im Sorge­, Umgangs­ und Und was wäre dann mit
Adoptionsrecht. Patchwork­ Artikel 6 des Grundgesetzes,
13,04 12,24 und Regenbogenfamilien wer­ dem besonderen Schutz der
de das Leben unnötig schwer staatlichen Ordnung für die
gemacht, befand er. Was er Ehe? Der wäre dann obsolet.
vorstellte, wirkte alles wahn­ Zu bedauern wäre das nicht.
sinnig richtig, wenn auch irre Die Liebe würde auch ohne
kompliziert. Interessant ist et­ Ehemänner und Ehefrauen
Nennwert der was anderes: mehr Rechte für einen Weg finden, weiter
Münzen Scheine Samenspender, die Erlaubnis Glück und Chaos zu stiften.
7,39 8,43 6,84 6,20 6,56 5,68

2003 2013 2023 An dieser Stelle schreiben Anna Clauß, Markus Feldenkirchen und
Alexander Neubacher im Wechsel.
S Grafik; Stand: jeweils 31. Dezember

Nr. 4 / 20.1.2024 DER SPIEGEL 17


CHAPPATTES WELT Fehlende Milliarden
KR ANKENHAUSREFORM Der
Spitzenverband der gesetz­
lichen Krankenkassen (GKV)
warnt Bundesgesundheitsminis­
ter Karl Lauterbach (SPD) da­
vor, Geldlücken bei der Kran­
kenhausreform auf Kosten der
GKV zu stopfen. In einer Pro­
tokollerklärung zum sogenann­
ten Transparenzgesetz wird den
Bundesländern eine rückwir­
kende Anhebung der Landes­
basisfallwerte, also etwa der
Bezahlung von OPs, ab 2022
versprochen. Damit würden sie
zusätzliche fünf Milliarden Euro
für die vergangenen zwei Jahre
erhalten, und die Ausgaben
in der Krankenhausversorgung
würden auch in den Folgejahren
steigen. Während das Gesetz
im Vermittlungsausschuss zwi­
schen Bundesrat und Bundestag
feststeckt, wirbt Lauterbach
damit, dass es etliche Kranken­
häuser vor der Insolvenz retten
werde. Ein nach Ansicht der
GKV unseriöses Argument. Die
Asiatische Fachkräfte präsident Frank­Walter Stein­ deren Zahl Ende 1989 auf rund Zahlung der zusätzlichen fünf
meier in beide Länder. In Viet­ 60.000 angewachsen war. Im Milliarden »verfehlt nicht nur
ARBEITSMARKT Die Bundes­ nam soll eine Vereinbarung zur Herbst waren bereits die Minis­ die inhaltlichen Ziele der Re­
regierung will in Südostasien Zuwanderung von Arbeitskräf­ terpräsidenten von Niedersach­ form«, schreibt nun die GKV­
gezielt um Arbeitskräfte wer­ ten unterzeichnet werden. Heil sen und Thüringen nach Viet­ Vorständin Stefanie Stoff­Ahnis
ben. »Wir haben die rechtlichen sagte, er wolle »für Deutschland nam gereist, um dort um Fach­ in einem Brief, »sondern ist vor
Möglichkeiten für ausländische als attraktiven Standort mit gu­ kräfte zu werben. Deutschland dem Hintergrund der finanziel­
Fachkräfte, in Deutschland zu ten Arbeits­ und Lebensbedin­ bemühte sich zuletzt vor allem len Belastungen der GKV nicht
arbeiten, deutlich erweitert«, gungen werben« und die gegen­ um Pflegerinnen und Pfleger leistbar«. Es sei unklar, wie
sagte Arbeitsminister Hubertus seitige Kooperation stärken. In mit Berufsabschluss. Im Zuge dieses Geld ohne eine Beitrags­
Heil (SPD) dem SPIEGEL . »Ich Vietnam gebe es »aus histori­ eines Projekts der Bundesagen­ erhöhung aufgebracht werden
möchte, dass wir kluge Köpfe schen Gründen viele Menschen tur für Arbeit erhalten Bewer­ solle. Zudem würden »die Ver­
und helfende Hände auch aus mit Deutschkenntnissen und berinnen und Bewerber aus sorgungsprobleme dadurch
Vietnam und Thailand gewin­ Deutschlandbezug«. Die DDR Vietnam darüber hinaus Ausbil­ nicht gelöst«. Veraltete Struktu­
nen können.« Heil reist in der hatte ab 1980 vietnamesische dungsplätze in der Altenpflege ren würden mit der »Gießkanne
nächsten Woche mit Bundes­ Vertragsarbeiter angeworben, in Deutschland. BUC gestützt«. MFH

Windkraftausbau Scholz hatte angekündigt, bis Hamas in Potsdam Vereinsschriftzug und Bankver­
2030 sollten allein an Land »im bindung auf dem Etikett. Wer
unzureichend Schnitt vier bis fünf Windräder TERRORISMUS Die Staatsan­ sie dort platziert hat, ist bislang
ENERGIE Der Ausbau der pro Tag« hinzukommen, damit waltschaft Potsdam hat ein Er­ unklar. Der Verein steht im Ver­
Windkraft in Deutschland lag 2030 das Ziel einer Leistung mittlungsverfahren gegen mut­ dacht, Geld für die Terrororga­
2023 deutlich hinter den Zielen von rund 115 Gigawatt pro Jahr maßliche Hamas­Unterstützer nisation Hamas gesammelt zu
der Ampelkoalition zurück. erreicht werden könne. Um das eingeleitet, es bestehe der Ver­ haben, was er bestritt. Dies
Dies geht aus einer Antwort Ziel von insgesamt 145 Giga­ dacht eines Verstoßes gegen gründe sich »auf nachweisbare
der Bundesregierung auf eine watt an Land und auf See zu das Vereinsrecht. Hintergrund personelle Verflechtungen«
Anfrage des CDU­Bundestags­ schaffen, müssten statt der im ist das Betätigungsverbot für zwischen Vereinsfunktionären
abgeordneten Christoph Ploß vergangenen Jahr realisierten die Hamas in Deutschland, das und Hamas­Mitgliedern im Ga­
hervor. Darin heißt es: »Nach 3,7 GW jährlich 10 GW Leis­ Bundesinnenministerin Nancy zastreifen. In der Verbotsver­
vorläufigen Angaben der Bun­ tung zugebaut werden. »Kern­ Faeser Anfang November ver­ fügung des Innenministeriums
desnetzagentur wurden im Jahr kraftwerke abschalten und Aus­ hängt hatte. Kurze Zeit später heißt es, die Hamas versuche,
2023 in Deutschland Windener­ bauziele bei den Erneuerbaren stellte die Polizei in zwei Fast­ Strukturen in Deutschland für
gieanlagen an Land mit einer verfehlen: Die Ampelkoalition Food­Läden in Potsdam Spen­ ihre Finanzierungsaktivitäten
Gesamtleistung von 3,4 Giga­ macht in der Energiepolitik so denbüchsen des Vereins »Die zu nutzen. Laut dem Bundes­
watt (GW) zugebaut sowie ein ziemlich alles falsch, was man Barmherzigen Hände e. V.« ministerium des Inneren hat
Windpark auf See in der Ostsee falsch machen kann«, meint sicher (SPIEGEL 51/2023). sich der Verein inzwischen offi­
mit einer Leistung von 0,3 GW.« CDU­Mann Ploß. TIL Bilder zeigen die Büchsen mit ziell aufgelöst. BUC, TGK

18 DER SPIEGEL Nr. 4 / 20.1.2024


»Aus dem Innen- Was gegen das Argument sie
seien nicht mehr in Gefahr?
ministerium kommen Lucks: Der IS zündelt noch im-
nur Ausreden« mer in der Region. Das ist aber
nicht die größte Gefahr. Der
Der Bundestagsabgeordnete Nordirak wird derzeit vom Mul-
Max Lucks, 26 (Grüne), fordert lah-Regime in Teheran strate-
eine Änderung des Aufent- gisch destabilisiert. Diese Wo-
haltsgesetzes zum Schutz von che hat Iran die kurdische Auto-
Jesidinnen und Jesiden. nomieregion mit Raketen atta-
ckiert. Außerdem werden Jesi-
SPIEGEL: Herr Lucks, vor einem den dort stark diskriminiert,

Tim Wegner / DER SPIEGEL


Jahr hat der Bundestag ein- von Mobs auf den Straßen ver-
stimmig die Verfolgung der Jesi- folgt. Auch in den Camps für
dinnen und Jesiden durch den die Überlebenden des Genozids
»Islamischen Staat« (IS) als Ge- ist die Lage miserabel.
nozid anerkannt. Trotzdem sol- SPIEGEL: Nordrhein-Westfalen
len 2023 vermehrt Angehörige und Thüringen haben in den
dieser Gruppe in den Irak abge- vergangenen Wochen befristete
schoben worden sein. Warum? Abschiebestopps für jesidische »Burger aus Mehlwürmern«
Lucks: Es gibt keine politische Frauen und Kinder verhängt.
Begründung dafür. Aus dem Die Männer können weiter ab-
DIE AUGENZEUGIN Svea Groß, 30, aus Bad Camberg
SPD-geführten Innenministe- geschoben werden. Sind sie we-
rium kommen nur Ausreden, niger bedroht? hat ein neues Schulfach entwickelt. In »Fit for Life«
warum es nicht möglich ist, Lucks: Nein, das sind sie nicht. lernen Jugendliche unter anderem Bügeln.
diese Abschiebungen zu stop- Frauen und Mädchen wurden
pen. Das ist moralisch fragwür- vom IS meist versklavt und ver- »Letztens habe ich einen Wä- schulen gelehrt. Dabei wäre es
dig. Es kann nicht sein, dass gewaltigt, die Männer haben die schekorb voller Kleidung mit auch am Gymnasium sinnvoll,
wir Opfer von Islamisten dahin Terroristen vielfach ermordet. in die Schule gebracht. Meine sich mit Finanzen, Haushalts-
abschieben, wo sie nicht sicher Deshalb ist es immens wichtig, eigenen Sachen, natürlich führung oder Ernährung aus-
sind. dass auch diese Gruppe geschützt frisch gewaschen. Dazu mein zukennen. Dinge, die man im
SPIEGEL: Sie und andere Grü- wird. Die Regelungen in NRW Bügeleisen – für den Unter- Erwachsenenalltag dringend
nenpolitiker, etwa Ex-Fraktions- und Thüringen sind ein Kompro- richt in einer neunten Klasse. wissen sollte. Wir können
chef Anton Hofreiter, haben miss. Ich bin beiden Ländern Es gab nicht wenige unter den nicht davon ausgehen, dass
der Ministerin mehrfach vorge- trotzdem dankbar für diese Ab- 14- und 15-Jährigen, die hat- die Eltern das übernehmen.
worfen, untätig zu sein. Gab schiebestopps. Sie sind ein Schritt ten noch nie ein Bügeleisen In ›Fit for Life‹ sprechen
es danach Gespräche mit oder in die richtige Richtung. in der Hand, übrigens nicht wir darüber, wie und wie oft
Gesprächsangebote von ihr? SPIEGEL: Diese Stopps können nur die Jungs. Kaum einer man ein Badezimmer putzen
Lucks: Nein. Frau Faeser be- durch die Länder allein nur ein- konnte die Symbole auf sollte. Wir haben auch ge-
gründet nicht, warum sie untä- mal verlängert werden, gelten einem Waschzettel richtig meinsam eine Steuererklärung
tig bleibt. Sie lässt ausrichten, also für maximal sechs Monate. deuten. Dass man Wäsche sor- seziert, über Abofallen, Miet-
dass sie keinen Handlungsbe- Was kommt danach? Und wie tieren sollte, bevor man sie verträge und Geldanlage dis-
darf sehe, weil die Schutzquote wollen Sie das Problem im in die Maschine stopft, war kutiert. Die Nachfrage ist rie-
für Jesidinnen und Jesiden von Bund lösen, der für Abschie- ebenfalls vielen neu. sig. Wir mussten Schülerinnen
48,6 Prozent angemessen sei. bungen de facto gar nicht zu- 2015 gab es einen Tweet, und Schülern absagen, die das
Überdies seien ihr die Hände ständig ist? der deutschlandweit viral Fach gern belegt hätten. Auch
gebunden. Das ist eine Ausrede. Lucks: Ein bundesweiter Ab- ging: Eine 17-Jährige hatte ge- von den Eltern gibt es viele
SPIEGEL: Wie erklären Sie sich schiebestopp ist rechtlich sehr schrieben, sie habe keine Ah- positive Rückmeldungen.
die Haltung der Bundesinnen- komplex und daher schwierig. nung von Miete, Versicherun- Zum Einstieg behandeln
ministerin? Ein gangbarer Weg wäre ein gen und Steuern, könne aber wir das Thema Ernährung.
Lucks: Die SPD versucht seit Gesetzentwurf aus dem Parla- in vier Sprachen eine Gedicht- Was ist gesund? Was ist nach-
dem Abschiebe-Interview des ment heraus. Etwa mit einem analyse verfassen. Ich steckte haltig? Mein Ziel: dass die Ju-
Kanzlers im SPIEGEL die Zah- eigenen Jesiden-Paragrafen im damals noch im Studium und gendlichen sich bewusst ma-
len der Abschiebestatistiken Aufenthaltsgesetz. Das wäre dachte mir: ›Das kann doch chen, was sie täglich zu sich
nach oben zu treiben – auf Kos- wohlbegründet: In unserem nicht sein.‹ Später im Referen- nehmen, und Gewohnheiten
ten der Schutzbedürftigen. Fae- Land lebt die größte jesidische dariat an der Taunusschule, hinterfragen. Nach einer theo-
ser geht es allem Anschein nach Diaspora der Welt. 2014, als der einem Schulzentrum mit retischen Einführung geht es
ums Prinzip. Aber das darf Völkermord passierte, haben Gymnasial-, Real- und Haupt- in die Schulküche. Mit mei-
nicht der Anspruch sein, mit wir einfach weggeschaut. FIN, JMÜ schulzweig, habe ich mit mei- nem letzten Kurs habe ich
dem wir den Opfern von Isla- ner Vorgesetzten Ina Illert Burger gemacht, mit einer Fri-
misten gegenübertreten. Lucks die Idee weitergesponnen – kadelle aus Pilzen und Mehl-
SPIEGEL: Die Jesiden sind vor und ein neues Wahlpflichtfach würmern als Alternative zu
dem IS geflohen, der 2014 Völ- entwickelt. Ich unterrichte Rinder- oder Schweinefleisch.
kermord verübte. Militärisch eigentlich die Fächer evangeli- Niemand musste probieren.
Andreas Pein / laif

ist diese Terrororganisation im sche Religion und Arbeitsleh- Am Ende siegte bei den meis-
Nordirak weitestgehend be- re. Letzteres wird in Hessen ten die Neugier.«
siegt. Was spricht gegen eine vor allem an Haupt- und Real- Aufgezeichnet von Miriam Olbrisch
Rückkehr der Jesiden dorthin?

Nr. 4 / 20.1.2024 DER SPIEGEL 19


DEUTSCHLAND

Der Glaube schwindet


SOZIALDEMOKRATEN Die SPD erlebt einen Absturz. Zu Beginn des Superwahljahrs verlieren Teile der Partei die
Hoffnung, dass der Kanzler die Lage noch drehen kann. Halten die Genossen an Olaf Scholz fest?

etzt muss alles auf den Tisch, wirklich tagswahl 2021 habe ja auch niemand an die frage verliert es unter den Genossen an
J alles. So geht es nicht weiter, irgendwoher
muss die Wende kommen, wenn sie nicht
untergehen wollen. Das ist allen klar in dieser
SPD geglaubt, außer Scholz und seinem Chef-
strategen Wolfgang Schmidt, heute Kanzler-
amtsminister. Dann hätten die beiden es allen
Kraft. Dafür nehmen in der Partei Unmut und
Angst zu.
»Bei den Menschen vor Ort erntet die Am-
kleinen, hochkarätig besetzten Runde von gezeigt. pel nur noch Kopfschütteln«, sagt Steffen
Sozialdemokraten, die sich gerade regelmäßig Warum sollte das nicht auch diesmal klap- Krach. Der Sozialdemokrat ist Präsident der
trifft, um Wege aus der Krise zu suchen. Aus pen? Warum kein zweites Wunder gesche- Region Hannover, eigentlich eine SPD-Bas-
der wohl tiefsten Krise, in der sie ihre Partei hen? tion. Doch bei Neujahrsempfängen und Bür-
je erlebt haben. Mittlerweile hört man das Mantra immer gergesprächen nimmt Krach davon gerade
Mit dabei, so wird es erzählt, sind die Par- seltener. Mit jedem Monat, jeder neuen Um- kaum etwas wahr. Die Stimmung ist jetzt
teichefs, Saskia Esken und Lars Klingbeil,
außerdem Fraktionschef Rolf Mützenich und SPD-Spitze beim Bundesparteitag in Berlin
Generalsekretär Kevin Kühnert. Und der
Kanzler selbst nimmt teil, Olaf Scholz. Der
Mann, der die SPD im September 2021 zum
überraschenden Wahlsieg führte, den viele
Parteifreunde aber mittlerweile für das eigent-
liche Problem halten.
Nach allem, was man hört, werden in der
Runde auch gewagte, verwegene Vorschläge
diskutiert, wie ein Befreiungsschlag gelingen
könnte. Wie gesagt: Alles muss auf den Tisch.
Könnte eine Kabinettsumbildung helfen?
Was brächte eine Neuwahl? Könnte es gar
sinnvoll sein, den Kanzler auszutauschen?
Niemand aus der Runde bestätigt, dass dort
auch diese Szenarien diskutiert werden. Aber
sie stehen im Raum, werden da draußen dis-
kutiert, in den Medien, in der Partei. So weit
ist es gekommen.
Es geht um die Existenz der SPD. Diesmal
wirklich.
Seit der Bundestagswahl hat die Partei
einen beispiellosen Absturz erlebt, Scholz ist
so unbeliebt wie kein Kanzler vor ihm, seit
die Werte regelmäßig erhoben werden. Am
Sonntag begrüßten ihn die Zuschauer bei
einem Spiel der Handballnationalmannschaft
mit einem Pfeifkonzert, der Kanzler ist der
Buhmann der Nation.
Die Mehrheit der Bürger scheint mit ihm
durch zu sein. Und mit der Ampelkoalition.
In Umfragen kommt die SPD nur noch auf
13 bis 15 Prozent, bei den Wahlen in Sachsen
und Thüringen im September könnte sie aus
den Landtagen fliegen.
In der SPD blieb es trotzdem lange er-
staunlich ruhig. Offene Kritik gab es eigentlich
nur an den Koalitionspartnern, an Grünen
und FDP. Nicht an Scholz und seiner Art zu
regieren. Es wirkte, als liefe die SPD schick-
salsergeben dem Kanzler Richtung Abgrund
hinterher.
Das Mantra lautete lange Zeit: Wird schon
noch, irgendwie. Bis kurz vor der Bundes-

20 DER SPIEGEL Nr. 4 / 20.1.2024

DIGAS_B2B-/tmp/divibib/digas_out/2878-sp2404
DEUTSCHLAND

gegen die SPD, auch hier. Und gegen die Am-


pelkoalition.
»In Krisen braucht eine Herr Scholz. Unter Sozialdemokraten, die
sich grundsätzlich gegenseitig duzen, heißt
Krach hat dafür Verständnis. »Es gibt kei- Gesellschaft einen Kanzler, das: maximale Distanz.
ne Verlässlichkeit und keine klare Linie. Statt-
dessen frustrieren die permanenten öffentlich
der eine Richtung vorgibt.« Geht es mit Scholz noch weiter? Und wer
könnte ihn ersetzen?
ausgetragenen Konflikte und führen zu wach- Kevin Hönicke, Vorstandsmitglied SPD Berlin In den Medien wird seit Wochen speku-
sendem Misstrauen von vielen Menschen liert, dass die Umfragewerte der SPD in die
gegen den Staat«, sagt er. »Das ist verantwor- Höhe gehen dürften, wenn Verteidigungs-
tungslos, insbesondere aufgrund des Erstar- von François Hollande stürzten die französi- minister Boris Pistorius Scholz’ Platz im
kens der Rechten.« schen Sozialisten ab. Sie haben sich davon bis Kanzleramt einnähme und die SPD in den
Krach sieht den Kanzler in der Pflicht. »Da heute nicht erholt. nächsten Wahlkampf führen würde. Pistorius
muss vor allem Olaf Scholz endlich die Füh- Der Berliner Sozialdemokrat Kevin Höni- ist derzeit mit Abstand der beliebteste Poli-
rung übernehmen, die er im Wahlkampf ver- cke erzählt von seinem Frust im Wahlkampf. tiker – wäre die Rochade da nicht nur logisch,
sprochen hat.« Wegen Pannen bei der Bundestagswahl muss geradezu zwingend?
Von einer »gefährlichen Abwärtsdynamik« Mitte Februar in 455 Stimmbezirken der »Quatsch«, heißt es aus dem Kanzleramt
spricht Juso-Chef Philipp Türmer. »Diese Dy- Hauptstadt noch mal gewählt werden. Hönicke und dem Verteidigungsministerium. Der
namik zu durchbrechen kann am Ende nur ist Mitglied im Vorstand der SPD Berlin. »Vie- Kanzler denke nicht an Rücktritt. Und Pisto-
dem Kanzler gelingen.« Die SPD müsse drin- le Menschen sagen, sie wählen AfD«, sagt er. rius wolle unbedingt seine Arbeit als Minister
gend etwas gegen Mietkrise und Inflation tun. Und wer ist schuld? »In Krisen braucht eine fortsetzen.
In Frankreich habe sich gezeigt, »dass die ge- Gesellschaft einen Kanzler, der eine Richtung Doch sind Gerüchte erst einmal in der
fährlichste Phase für sozialdemokratische vorgibt und Vertrauen in die Regierung schafft. Welt, lassen sie sich nur schwer wieder ein-
Parteien nicht die Opposition, sondern die Das gelingt Herrn Scholz nur selten, sodass die fangen.
Regierung ist«. Während der Präsidentschaft Zustimmungswerte nachvollziehbar sind.« Ein Personalwechsel an der Spitze würde
an den tief reichenden Problemen der Partei
nichts ändern, heißt es in der SPD-Führungs-
riege. Stattdessen würde er mitten in der
Legislaturperiode das Bild von der kopf- und
konzeptlosen SPD zementieren, so die Be-
fürchtung.
Auf der anderen Seite bringt Pistorius alles
mit, was Scholz fehlt, über die Beliebtheits-
werte hinaus. Wo Scholz zögert, packt Pisto-
rius an. Scholz ist distanziert, Pistorius nah-
bar. Scholz filibustert, Pistorius wird konkret,
mahnt an, dass die Bundeswehr »kriegstüch-
tig« werden müsse, regt ein neues Wehr-
dienstmodell an. Er muss allerdings noch be-
weisen, dass seinen vielen Ankündigungen
auch Taten folgen.
Auf dem SPD-Parteitag im Dezember hielt
ausgerechnet der beliebte Pistorius keine
Rede. Zufall? Wohl kaum. Die Parteitagsregie
befürchtete wohl, dass Scholz eine schwache
Rede halten und von Pistorius in den Schatten
gestellt werden könnte. Scholz hielt dann
zwar eine starke Rede, aber das konnte ja
vorher niemand wissen.
Sind da manche womöglich nervöser, als
sie zugeben?
Ein Sonntagmorgen Mitte Januar, gut
60 Mitglieder der Dortmunder SPD haben
sich in einem Hotel im Bergischen Land
einquartiert. Sie wollen sich auf den Europa-
wahlkampf einstimmen, Kraft tanken. Von
Dortmund als »Herzkammer der Sozialde-
mokratie« sprach einst Herbert Wehner. Im
Frühstücksraum des Hotels sitzen sieben Ge-
nossinnen und Genossen, zusammen kom-
men sie auf 140 Jahre SPD-Mitgliedschaft.
Wie stark schlägt das sozialdemokratische
Herz noch?
Nikita Ter yoshin / DER SPIEGEL

Angst vor dem Straßenwahlkampf hätten


sie nicht, sagen die Dortmunder. Aber Sorgen
machten sie sich, sie erzählen von der Wut,
die ihnen manchmal entgegenschlägt, mit-
unter ist es Hass. Dabei habe die SPD doch
viel erreicht, sagt Carla Neumann-Lieven,
Chefin der Ratsfraktion. »Mindestlohn, Bür-

Nr. 4 / 20.1.2024 DER SPIEGEL 21


DEUTSCHLAND

gergeld, wir setzen das um, was sich die Men- SPD-Abgeordnete berichten von Gesprä-
schen wünschen. Aber das glaubt man uns chen in ihren Wahlkreisen, in denen ihnen vor-
nicht wirklich.« geworfen werde, sich zu viel um »die Faulen«
»Ärgerlich« sei das, findet die Sozialdemo- und zu wenig um »die Fleißigen« zu kümmern.
kratin. »Wir erwecken den Eindruck, wir seien zu weit
Vor allem ein Wort fällt immer wieder: weg von den Leuten«, sagt Johannes Arlt, Ab-
»Kommunikationsproblem«. Die SPD müsse geordneter aus Mecklenburg-Vorpommern.
ihre Erfolge besser verkaufen, so wie es die »Sie verstehen die Prioritäten unserer Politik
FDP vormache. Offene Kritik an Scholz äu- nicht mehr, und seit einigen Wochen fällt es
ßern die Dortmunder nicht, aber ihre Unge- auch mir schwerer, sie zu vermitteln.«

Nikita Ter yoshin / DER SPIEGEL


duld ist greifbar. Der Landtagsabgeordnete Wenn man dann mit den Leuten ins Ge-
Volkan Baran drückt es so aus: »Olaf Scholz spräch komme und die Chance habe, ihnen
kann auch mal warmlaufen, das haben wir zum Beispiel die Details des Heizungsgesetzes
auf dem Parteitag in Berlin gesehen, da konn- zu erklären, sei die Stimmung besser, so
te er die Leute mitreißen.« Soll wohl heißen: Arlt. »Diese Hürde muss man aber erst mal
Leider schafft der Kanzler das nur selten. nehmen.«
Auch in Scholz’ Heimat Hamburg wachsen Kanzler Scholz Ende vergangener Woche trifft sich die
die Zweifel. Ekkehard Wysocki kennt den SPD-Bundestagsfraktion zu ihrer Jahresauf-
Kanzler seit mehr als 40 Jahren aus Hamburg- zu arbeiten: Fachkräfteeinwanderung, Bür- taktklausur. Es sind die Tage, in denen Bauern
Rahlstedt, wo beide ihre politischen Wurzeln gergeld, Mindestlohn. Monatelang beteten demonstrieren, Lokführer streiken und rechts-
haben. Heute leitet Wysocki in Rahlstedt den die Sozialdemokraten ihre vermeintlichen extreme Vertreibungsfantasien publik werden.
SPD-Ortsverein. Er sagt, die Lage für die SPD Verkaufsschlager herunter – ohne Erfolg. Die Als Fraktionschef Rolf Mützenich zu den war-
sei »ernst«, der Kanzler erkläre sich öffentlich Umfragewerte blieben mies. Vielleicht auch, tenden Journalisten kommt, wünscht er zu-
zu wenig. »Bei Olaf Scholz ist die Fähigkeit weil bei der SPD deutlich mehr im Argen liegt nächst alles Gute. Eine Reporterin glaubt, sich
mitzuteilen, wie er zu Entscheidungen kommt, als bloß die Kommunikation. verhört zu haben: »Frohes neues Jahr?« Müt-
nicht so ausgeprägt, wie man es sich wünscht«, Eine Untersuchung der Universität Kon- zenich schüttelt den Kopf. »Frohes« habe er
sagt Wysocki. »Das ist ein Problem.« stanz kam 2021 zu einem Ergebnis, das für nicht gesagt, »nur neu und gesund«.
Bereits früher in Rahlstedt habe Scholz die SPD hochproblematisch ist: Viele Deut- So viel zur Stimmungslage in der SPD.
politische Positionen »selten mit Verve oder schen tendieren dazu, sich der Mittelschicht Mützenich wirkt matt, als er ans Mikro
Emotionen« vorgetragen. Auch als Hamburgs zuzuordnen – und zwar auch dann, wenn sie tritt. Doch sobald er über das konspirative
Erster Bürgermeister habe er Entscheidungen eigentlich deutlich reicher oder ärmer sind. Treffen Rechtsextremer in Potsdam spricht,
im Hintergrund vorbereitet und durchdacht, Die SPD hingegen macht seit geraumer Zeit lebt er auf. Er ruft zur »politischen Auseinan-
ohne alle mitzunehmen. vor allem Politik für die unteren Einkom- dersetzung« mit der AfD auf und fordert:
In der Partei spüre er große Verunsiche- mensgruppen. »Demokratische Parteien müssen sich von
rung, sagt Wysocki. »Der Kanzler muss diesem braunen Sumpf fernhalten.«
Orientierung geben, es muss klar werden, in Der Kampf gegen rechts, gegen den Fa-
welche Richtung die SPD will.« Die Partei Wohin, Genossen? schismus: Er ist seit je der Glutkern der
habe Scholz Beinfreiheit gegeben, »die muss Sozialdemokratie. Das, was sie eint und an-
er auch nutzen«. »Wie zufrieden sind Sie mit der Arbeit der treibt, selbst dann, wenn alles verloren
SPD in der Bundesregierung?«, Antworten
Die Kommunikation des Kanzlers ist schon »sehr/eher zufrieden«, in Prozent scheint. Dann ganz besonders.
länger Thema in der SPD, bis in die Führungs- Das Thema nahm zuletzt viel Raum in den
ebenen der Partei hinein. Mehrfach meldeten internen Sitzungen von Partei und Fraktion
Genossen an Scholz zurück, er müsse an sei- 35 ein. Die Umfragewerte der AfD, ihre Aussicht
nen Auftritten arbeiten. Der Kanzler und sein 30 auf ein triumphales Wahljahr erschrecken
Umfeld verstanden das offenbar vor allem als viele Genossen. Es sind jetzt viele Geschich-
Aufforderung, mehr zu kommunizieren – 25 ten zu hören über Angriffe auf Wahlkreis-
aber nicht unbedingt anders, besser. 20 büros, Beschimpfungen auf der Straße, Be-
Gleich mehrere Sozialdemokraten zitieren drohungen. Die Verunsicherung in der Partei
in diesen Tagen Kurt Tucholsky: »Das Volk 15 ist groß. Die Führung versucht, ihr mit einer
versteht das meiste falsch, aber es fühlt vieles 10
16 Erzählung vom aufrechten Widerstand zu
richtig.« Was sie meinen: Ein Kanzler, der es begegnen.
nicht schafft, die Menschen emotional abzu- 5 Der Kampf gegen rechts, da sind sie sich im
holen, hat auf Dauer ein echtes Problem. 0 Willy-Brandt-Haus sicher, werde die Anhän-
Das hat man mittlerweile selbst im Kanz- gerschaft mobilisieren, er werde die Wahl-
leramt verstanden. Lange Zeit ließen sich 2022 2023 2024 kämpfer motivieren, sich auf Marktplätze und
Scholz und seine Leute dort von all den Um- »Wie zufrieden sind Sie mit der Arbeit von …«, in Fußgängerzonen zu stellen, trotz allem. Im
fragen, negativen Kommentaren und Schlag- Angaben in Prozent Netz teilten zuletzt viele Genossen ein rot-
zeilen nicht in ihrer Weltsicht beirren: Der weißes Kampagnenbild, darauf der Satz: »Füh-
Olaf weiß, wie es geht, die Bürger werden das sehr/eher zufrieden unentschieden rer war nichts besser.« Es war eine etwas be-
schon noch kapieren. Mittlerweile dämmert sehr/eher unzufrieden mühte Mischung aus Haltung und Ironie, aber
dem Kanzler und seinen Strategen: Die Bür- … Olaf Scholz so etwas trifft gerade einen Nerv in der Partei.
ger haben womöglich gar keine Lust mehr zu 14 7 79 Was die SPD allerdings dringend mal wie-
kapieren. Sie haben sich bereits abgewandt. der treffen müsste: den Nerv der Wählerinnen
… Boris Pistorius
Die Wende muss her, daran wollen sie jetzt und Wähler.
53 19 28
arbeiten. Aber wie?
Lukas Eberle, Markus Feldenkirchen,
Die SPD hatte sich auf die Haltung ver- S Quelle: Civey; Befragungszeiträume: je zwei Wochen,

jüngster Befragungszeitraum: 4. bis 18. Januar 2024; Sophie Garbe, Christoph Hickmann,
steift, man müsse nur die eigenen Erfolge bis zu 5087 Befragte; statistische Ungenauigkeit bis zu Marina Kormbaki, Ansgar Siemens,
mehr betonen, um sich aus dem Umfragetief 2,5 Prozentpunkte Christian Teevs n

22 DER SPIEGEL Nr. 4 / 20.1.2024


DEUTSCHLAND

Bei ihrer Klausurtagung vergangene Wo-


che in Heidelberg erweckte die Bundespartei
den Eindruck, die Sache im Griff zu haben.
Generalsekretär Carsten Linnemann kündig-
te ein »hartes Durchgreifen« an. Zwei CDU-

Rechte Burschen Mitglieder, die bei dem Potsdamer Geheim-


treffen dabei waren, will die Partei nun los-
werden.
Doch die Verstrickungen reichen weiter,
EXTREMISMUS Ein Geheimtreffen von AfD-Politikern und Rechtsextremen wie das Netzwerk um Peter Kurth zeigt.
Der ehemalige Finanzsenator, so geht aus
hat das Land aufgeschreckt. Recherchen des SPIEGEL offenbaren ein Akten des Amtsgerichts Berlin-Charlotten-
Netzwerk um Berlins Ex-CDU-Senator Peter Kurth, weitere Christdemo- burg hervor, wurde schon vor neuneinhalb
kraten sind verwickelt. Wird das zum Problem für Parteichef Merz? Jahren zweiter Vorsitzender der Vereinigung
Alter Gothen, eines eingetragenen Vereins,
in dem die »Alten Herren« der Gothia orga-
s ist der 5. Juli des vergangenen Jahres, Nach SPIEGEL -Recherchen veranstaltete nisiert sind. Im Januar 2023 wählten ihn sei-
E ein warmer Frühsommertag. Berlins
ehemaliger CDU-Finanzsenator Peter
Kurth, 63, hat in seine Wohnung in der Nähe
Kurth nicht nur Salons mit Demokratie-
feinden in seiner Dachgeschosswohnung und
spendete heimlich Geld an die AfD. Kurth
ne »Bundesbrüder« zum ersten Vorsitzenden.
Einer der Männer spendete laut Sitzungspro-
tokoll damals eine gerahmte Feldpostkarte
der Mauer-Gedenkstätte geladen. Bis zu fungiert schon seit Jahren als einer der mit einem Bild von Kaiser Wilhelm und dem
100 Gäste seien gekommen, so berichten führenden Köpfe der ultrarechten Berliner Spruch: »Der Gott, der Eisen schuf, der woll-
später Teilnehmer. Burschenschaft Gothia, einer schlagenden te keine Knechte«.
Es ist eine bemerkenswerte Runde, die an Studentenverbindung mit weitreichenden Der Verein kümmert sich um die Mitglieder
jenem Mittwoch auf Kurths Dachterrasse Kontakten in die extrem rechte Szene. und verwaltet das Vermögen des Männer-
zusammenkommt. Nachdem die Plattform »Correctiv« ein bunds. Neben der studentischen Burschen-
Maximilian Krah ist erschienen, einfluss- konspiratives Treffen in einer Villa am Pots- schaft gibt es die Schülerverbindung Iuvenis
reicher Europaabgeordneter der AfD, er prä- damer Lehnitzsee publik gemacht hat, bei Gothia (Motto: »Deutsch, frei und stark«), de-
sentiert sein Buch »Politik von rechts« – ein dem rechtsextreme Ideologen, AfD-Politiker ren Mitglieder sich auch Junggothen nennen.
antiliberales, neofaschistisches Manifest. Laut und Unternehmer düstere Pläne geschmiedet Im Zentrum des gemeinsamen Verbin-
Teilnehmern ist auch Benedikt Kaiser dabei, haben sollen, gerät nun ein weiteres diskre- dungslebens steht das Gothenhaus, eine
ein neurechter Vordenker mit Vergangenheit tes Netzwerk an die Öffentlichkeit. Dem Gründerzeitvilla in Berlin-Zehlendorf, in der
in der Neonaziszene. Auch er darf sein Buch SPIEGEL liegen zahlreiche E-Mails und in- sich mehrfach auch Funktionäre der AfD,
vorstellen, »Konvergenz der Krisen«. Und terne Unterlagen zur Burschenschaft Gothia ihrer Jugendorganisation Junge Alternative
Martin Sellner wird gesichtet, ein österreichi- vor. Demnach fungiert der Männerbund seit (JA) und der rechtsextremen »Identitären Be-
scher Rechtsextremist, der jüngst Pläne zur Jahren als eine Art Schnittstelle rechtsextre- wegung« (IB) trafen. »Furchtlos und beharr-
»Remigration« propagiert hat, zur millionen- mer und konservativer Kreise. lich« steht auf einem Plakat, das an der Villa
fachen Abschiebung oder Verdrängung von Die neuen Enthüllungen werfen die Frage unweit des Zehlendorfer Gemeindewäldchens
Menschen mit Migrationshintergrund – da- auf, wie löchrig die von CDU-Chef Friedrich hängt, der Wahlspruch der Burschenschaft.
runter deutsche Staatsbürger, die Sellner für Merz behauptete »Brandmauer« nach rechts Die Gästeliste der Gothia liest sich stellen-
»nicht assimiliert« hält. außen in Teilen der Partei ist. weise wie ein Who’s who der radikalen
Der Abend war angeblich selbst manchen deutschen Rechten. 1999 lauschten rund
Gästen von der AfD zu heftig. Sie sei bald 50 »Bundesbrüder« einem Vortrag des zum
wieder gegangen, weil »es zu voll war und Rechtsextremismus konvertierten einstigen
weil ich geschockt war über das Publikum«, RAF-Terroristen Horst Mahler im Zehlen-
gab die Berliner AfD-Chefin Kristin Brinker dorfer Ratskeller. 2010 veranstalteten Akti-
zu Protokoll, nachdem der SPIEGEL das Tref- Er galt als liberale Hoffnung visten des islamfeindlichen Hetzportals PI im
fen in der vergangenen Woche aufgedeckt der Hauptstadt-CDU – heute Gothen haus ihre Weihnachtsfeier. Die
hatte. neurechte Kaderschmiede Institut für Staats-
In der CDU sitzt der Schreck tief. Peter vernetzt er Rechtsradikale. politik nutzte die Villa für zahlreiche Vorträge,
Kurth, ein Gastgeber und Vernetzer der extre- 2016 lud die Berliner AfD »Parteifreunde
men Rechten? Der Peter Kurth, der um die und Förderer« auf dem Gothia-Gelände zum
Jahrhundertwende als Hoffnungsträger der »deftigen Grillbuffet«.
piefigen Hauptstadt-CDU galt, als Moderni- Auch Aktivisten der »Identitären Bewe-
sierer und Vordenker für Schwarz-Grün? Der gung« wurden dort gesichtet: Im Mai 2017
schon offen schwul lebte, als das für viele in nahmen sie an einer Feier teil, sechs Monate
der Union noch als Tabu galt? Der 2015 einen später referierten sie zum Thema »Defend
syrischen Flüchtling bei sich aufgenommen Europe«.
und zuletzt eine kranke Ukrainerin unter- 2019 führte ein aus Kreisen der AfD gegrün-
stützt haben soll? deter Verein in den Räumen der Gothia eine
Das konnten, das wollten sich viele nicht Veranstaltung durch. Einer der Referenten war
vorstellen. »Ich weigere mich, einen völki- der Rechtsextremist und Brandenburger AfD-
schen Mann in ihm zu erkennen«, sagt ein Abgeordnete Hans-Christoph Berndt, der sich
Vertrauter des Ex-Senators. zum Ziel gesetzt hat, »Widerstand« zu leisten,
Doch offenbar hat der einstige CDU-Poli- »bis wir diejenigen, die Heimat und Identität
tiker, der zuletzt als Cheflobbyist für die zerstören, aus ihren Ämtern verjagt haben«.
BDE

Recyclingwirtschaft arbeitete, noch ein ande- Auf einem »burschenschaftlichen Abend«


res Leben geführt. CDU-Politiker Kurth 2012 2023 ging es unter anderem um den vermeint-

24 DER SPIEGEL Nr. 4 / 20.1.2024


DEUTSCHLAND

Bundestagsabgeordneten. Auch meh-


rere Mitglieder der Gothia sind in der
AfD oder ihrer radikalen Jugendorga-
nisation JA aktiv – und treffen in der
Burschenschaft auf »Bundesbrüder«
mit CDU-Parteibuch.
Zur Gothia gehört etwa Martin
Kohler. Er ist Vorsitzender der rechts-
extremen Jungen Alternative in Ber-
lin und Fraktionsvorsitzender der
AfD in der Bezirksverordnetenver-
sammlung Charlottenburg-Wilmers-
dorf. Oder Philipp Runge. Er arbeitet
als Protokoll- und Veranstaltungs-
referent bei der Bundestagsfraktion
der AfD, war zuvor in der Abteilung
»Strategie, Planung und Kampa-
gnen« der Bundesgeschäftsstelle.
Kohler bestätigte dem SPI EGEL ,
»stolzes Mitglied der Berliner Bur-
schenschaft Gothia« zu sein, Runge
ließ eine Anfrage unbeantwortet.
Die Gothia wirkt wie ein Scharnier
zwischen rechtsextremen und konser-
vativen Milieus. Im geschützten Raum
der Zehlendorfer Villa werden Netz-
werke fürs Leben geknüpft. »Einmal
Gothe, immer Gothe«, heißt es auf der
Homepage der Burschenschaft.
So konnte sich auch Michael Büge,
einst CDU-Staatssekretär für Soziales
in der Berliner Landesregierung, in
schwierigen Zeiten auf die Hilfe sei-
nes »Bundesbruders« Peter Kurth
verlassen: Nachdem Büges Mitglied-
schaft in der rechten Burschenschaft
2013 aufgeflogen war, verlor er sein
Amt und bewarb sich wenige Jahre
Jörg Brüg gemann / OSTKREUZ (4)

später als Fraktionsgeschäftsführer


bei der AfD. Als Referenz gab Büge
nach SPIEGEL -Recherchen damals
Kurth an – und kam später tatsächlich
bei der Partei unter. Vor der Bundes-
tagswahl 2017 wirkte Büge zeitweise
als Wahlkampfchef der AfD und ihres
damaligen Spitzenduos Alice Weidel
lichen »Great Reset«, eine antisemi- floss Bier – und Blut. Fotos zeigen Haus der Burschen- und Alexander Gauland.
tische Verschwörungserzählung, nach Männer nach dem Säbelduell, einer schaft Gothia in Neben Büge und Kurth engagieren
Berlin, Gedenk-
der »Finanzeliten« die Coronapan- blutet stark am Kopf, ein anderer hat schleife, Aufkleber, sich weitere, teils langjährige Christ-
demie nutzen würden, um eine neue zahlreiche Schnittwunden am Ober- Verbindungsstudent, demokraten in der ultrarechten Bur-
Weltordnung zu installieren. körper. Ein Video zeigt zudem, wie Fechtausrüstung: Im schenschaft. Kassenwart der »Vereini-
Nach außen dringen soll von all- Dutzende Männer, darunter auch geschützten Raum gung Alter Gothen« ist Mario Meusel,
der Zehlendorfer Villa
dem möglichst wenig. Laut einem Junggothen, in einem abgedunkelten werden Netzwerke der früher im Berliner CDU-Ortsver-
Sitzungsprotokoll der »Vereinigung Raum stehen, ihre Mützen vor der fürs Leben geknüpft band Alt-Pankow Schatzmeister war.
Alter Gothen« aus dem Jahr 2018 Brust halten und die erste Strophe des Einen Widerspruch zwischen seiner
sorgte sich Vorstand Peter Kurth etwa Deutschlandlieds singen: »Deutsch- Mitgliedschaft in der Gothia und der
um »Bildaufnahmen (Fotos) bei Ver- land, Deutschland über alles«. CDU sieht Meusel nicht, wie er auf
anstaltungen politischer Natur«. Um Erst für vergangenen Mittwoch Anfrage erklärte. Zumal die Burschen-
die »notwendige Sensibilität« zu er- hatte die Gothia in Frakturschrift zu schaft in den vergangenen Jahren von
höhen, habe man eigens ein Seminar einem »Burschenschaftlichen Abend« Veranstaltungen problematischer Ak-
für die Burschen organisiert. mit dem früheren Neonazi Benedikt teure aus dem rechten Spektrum an-
Wie es hinter den Kulissen des Kaiser geladen, der bereits im Som- geblich Abstand genommen habe. Im
Männerbunds zugeht, belegen Bilder, mer bei Kurths Dachterrassenparty Übrigen sei er nicht das einzige CDU-
die dem SPIEGEL vorliegen. Anfang aufgetreten sein soll und SPIEGEL - Mitglied in der Gothia. Namen wollte
April 2022 besuchten die Berliner Fragen dazu unbeantwortet ließ. Sein er keine nennen.
Junggothen die befreundete Pennale Vortrag in der Burschenvilla in Zeh- Ein Name, der in der Vergangen-
Burschenschaft Ernst Moritz Arndt lendorf wurde jedoch kurzerhand ab- heit immer wieder fiel, ist der von
in Greifswald. Auf der Veranstaltung gesagt. Kaiser arbeitet für einen AfD- Robbin Juhnke. Der CDU-Innen-

Nr. 4 / 20.1.2024 DER SPIEGEL 25


DEUTSCHLAND

experte sitzt im Berliner Abgeordnetenhaus Grütters hat Kurth noch nicht aufgegeben.
und gehört dem Präsidium des Landesparla­ Den Stab zu brechen über jemanden, »der
ments an. Nachdem er 2013 wegen eines Vor­ vielleicht auf einem Irrweg oder an einer be­
trags bei einer rechten Burschenschaft in stimmten Stelle falsch abgebogen ist, das kann
Würzburg in die Kritik geraten war, gab er und möchte ich in diesem Fall nicht«, sagt
an, er sei in keiner Studentenverbindung. Le­ sie. Als Freundin wolle sie mit ihm sprechen,
diglich »in der Schülerverbindung Iuvenis »um einschätzen zu können, ob er wirklich
Gothia hatte ich Kontakt zum Verbindungs­ nach rechts abgedriftet ist oder sich nur ver­
leben«, sagte Juhnke damals der »Berliner laufen hat«.
Morgenpost«. Das klang nach einer Eskapa­ Unterdessen kommen immer mehr Details
de aus längst vergangenen Zeiten. über Kurths doppeltes Leben ans Licht. Nach
Interne Mails, die dem SPIEGEL vorliegen, SPIEGEL ­Recherchen soll der Berliner Ex­
legen jedoch nahe, dass Juhnkes »Kontakt Senator mit einer hohen Summe an der Fi­
zum Verbindungsleben« bis heute fortbesteht. nanzierung eines Immobilienprojekts der
Noch am 7. April 2023 verschickte die Iuvenis »Identitären Bewegung« in Chemnitz betei­
Gothia eine Rundmail an ausgewählte »liebe ligt gewesen sein. Die Staatsanwaltschaft
Bundesbrüder«, die ein internes Versamm­ ermittelt in dem Zusammenhang gegen
lungsprotokoll und einen Kassenbericht ent­ zwei IB­Funktionäre wegen Geldwäsche­
hielt. Außerdem wurden die Empfänger er­ verdachts. Weder sie noch Kurth antworte­
innert, ihre »Altherrenbeiträge« zu zahlen. ten auf Anfragen. Auch Fragen zu seiner
Die Nachricht ging auch an Juhnkes Mail­ Rolle in der Gothia und seinen Kontakten
adresse. zur AfD und zu anderen rechten Kreisen
Auf Anfrage erklärte der CDU­Politiker, ließ der langjährige Christdemokrat unbe­
sein letzter Besuch im »Gothenhaus« liege Zeitung des Gothia-Nachwuchses antwortet.
»etliche Jahre« zurück, extremistische Thesen Für die CDU könnten die Verstrickungen
seien ihm gegenüber nicht geäußert worden. von der linken Tageszeitung »taz« zwischen­ des ehemaligen Finanzsenators noch unan­
Er sei lediglich in der Schülerverbindung zeitlich in die Senatsverwaltung für Finanzen genehmer werden. Berlins Landesparteichef,
Iuvenis Gothia aktiv gewesen. Von Kontakten gewechselt. Kurth sei damals »ein überlegter der Regierende Bürgermeister Kai Wegner,
der Studentenverbindung in die rechtsextreme Mensch« gewesen, »für den Hass und Hetze versuchte sich schnellstmöglich von ihm zu
Szene habe er keine Kenntnis, er könne ihren niemals Mittel in der politischen Auseinander­ distanzieren. »Es ist erschreckend und traurig
politischen Kurs nicht beurteilen und hätte setzung gewesen wären«, erinnert er sich. zugleich, welchen Pfad Peter Kurth einge­
diesen nicht beeinflussen können oder wollen. »Irgendwas«, sagt Wildt, »muss mit Peter schlagen hat«, schrieb er auf der Plattform X.
Neben Juhnke finden sich mindestens vier Kurth passiert sein.« »Wer mit Neonazis, Rechtsextremisten und
weitere CDU­Mitglieder auf internen Mail­ Doch was? anderen Menschenfeinden paktiert, hat in der
verteilern. Die Männer sind oder waren in Monika Grütters gehörte einst zusammen CDU nichts zu suchen. Gut, dass er im Herbst
der Lokalpolitik aktiv, mal als Schatzmeister mit Kurth zu den Reformkräften in der Ber­ unsere Partei verlassen hat.«
eines Ortsverbands in Berlin, mal als ko­ liner CDU. Während Kurth nach dem Ende Doch die Sache mit der CDU­Mitglied­
optiertes Vorstandsmitglied. Ein anderer der Großen Koalition in der Hauptstadt im schaft scheint etwas komplizierter zu sein.
»Bundesbruder« sitzt in Brandenburg für die Vorstand des Entsorgers Alba arbeitete und Zwar schickte Kurth tatsächlich Ende
CDU in einem Kreistag, ein weiterer hat lang­ mit einem politischen Comeback in Köln September 2023 ein Schreiben an die CDU,
jährige kommunalpolitische Erfahrung in 2009 als CDU­Oberbürgermeisterkandidat in dem er erklärte, die Partei verlassen zu
Hessen. Anfragen ließen die Herren unbeant­ scheiterte, machte Grütters in der Ära von wollen. Doch der Austritt wurde offenbar
wortet oder teilten mit, dass sie seit vielen Angela Merkel Karriere, wurde schließlich nicht sofort vollzogen. Im brandenburgischen
Jahren nicht mehr im »Gothenhaus« gewesen Kulturstaatsministerin im Kanzleramt. Kreisverband Märkisch­Oderland, wo Kurth
seien oder nur selten Ehemaligentreffen be­ Ratlos blickt die heutige CDU­Bundestags­ ein Haus besitzt, wurde er in der internen
suchten. Von rechten Vortragsveranstaltun­ abgeordnete auf Kurth, der Fall wühlt sie auf. Datei weiter als CDU­Mitglied geführt.
gen wüssten sie nichts und hätten daran auch Politische Differenzen habe es eigentlich erst Auf Nachfrage des SPIEGEL sagte auch
nicht teilgenommen. Sowohl die Berliner gegeben, als er Merkels Flüchtlingspolitik Kurth vergangene Woche, er sei noch CDU­
Burschenschaft Gothia als auch ihre Schüler­ deutlich kritischer bewertet habe, als sie das Mitglied. In der Brandenburger CDU, so
verbindung Iuvenis Gothia reagierten nicht bis heute tue, erzählt Grütters. »Dass er al­ heißt es aus der Landespartei, sei er erst
auf schriftliche Fragen des SPIEGEL . lerdings einen Weg so weit nach rechts ein­ aus der Datenbank gelöscht worden, als sei­
Was über Peter Kurth und seine rechten schlagen würde, wie es die jetzigen Meldun­ ne Verbindungen zu Rechtsextremen öffent­
Netzwerke nun ans Licht kommt, verstört gen vermuten lassen, habe ich weder erwartet lich wurden.
viele seiner Weggefährten. noch bemerkt oder gar gewusst.« Deshalb Noch im Dezember würdigte die CDU in
Kurth stach heraus in der Berliner CDU, die seien »viele Freunde ja auch echt erschro­ der Hauptstadt Peter Kurth. Beim Weih­
viele als bieder und provinziell empfanden. cken«, sagt sie dem SPIEGEL , nachdem das nachtsfest des Ortsverbands Prenzlauer Allee
Zum Ärger der Konservativen initiierte er in Vernetzungstreffen in Kurths Dachterrassen­ feierte er mit, Fotos auf Instagram zeigen ihn
den Neunzigern mit der »Deutsch­Türkischen wohnung publik wurde. in trauter Runde mit einem breiten Lächeln
Union« eine Vereinigung, die Deutschtürken auf dem Gesicht. Für seine »besonderen Ver­
an die CDU heranführen sollte. Auch seine dienste« um die CDU überreichten ihm die
Homosexualität war irgendwann kein Geheim­ Berliner Parteifreunde eine Ehrennadel. Und
nis mehr. Einen »Nicht­Spießer« nannte ihn bedankten sich mit einer »guten Flasche
einst anerkennend die »Welt«. Rotwein«.
Unter dem damaligen Regierenden Bürger­ »Wer mit Menschenfeinden
meister Eberhard Diepgen (CDU) wurde paktiert, hat in der Maik Baumgärtner, Sven Becker,
Florian Gathmann, Johannes Grunert,
Kurth erst Finanzstaatssekretär, später Sena­
tor in einer Großen Koalition. Einer, der ihn CDU nichts zu suchen.« Timo Lehmann, Ann-Katrin Müller,
Johannes Müller, Sven Röbel, Severin Weiland,
näher kennenlernte, war Dirk Wildt, er war Kai Wegner, Regierender Bürgermeister Wolf Wiedmann-Schmidt, Steffen Winter n

26 DER SPIEGEL Nr. 4 / 20.1.2024


DEUTSCHLAND

DEMOKRATIE

Anti-AfD-Plan
Immer wieder stört die Rechts-außen-Fraktion im Bundestag mit Pöbeleien und Provokationen.
Die Ampel will jetzt schärfere Regeln und höhere Strafen durchsetzen.

Im Mai 2023 kam es im Paul-Löbe-Haus Und es ist die AfD-Fraktion, die nach Das Ritual mit den immer neuen Wahl-
zum Eklat. In dem Bundestagsgebäude Wahrnehmung vieler im Parlament jede vorschlägen für den freien Posten im Bun-
tagt der Innenausschuss, dort gerieten die Gelegenheit nutzt, um Sitzungen zu chao- destagspräsidium hat sich nach offizieller
Grünenabgeordnete Lamya Kaddor und tisieren. Zugleich inszeniert sie sich als Zählung mittlerweile 35-mal wiederholt.
der AfD-Politiker Matthias Helferich an- benachteiligte parlamentarische Minder- Dieses Spiel will die Ampel nun mit einer
einander. Die Innenexpertin aus dem heit, etwa indem sie immer neue Wahl- Änderung der Geschäftsordnung beenden.
Ruhrgebiet kritisierte den Kollegen. Dabei vorschläge für das Bundestagspräsidium Der Plan: Nach drei erfolglosen Wahl-
hatte sie, wie sie später erzählte, wohl macht – im Wissen, dass die anderen verfahren muss mindestens ein Viertel der
noch »ein bisschen Müsli im Mund«. Fraktionen sie sowieso ablehnen und den Parlamentarier einem neuen Anlauf
Helferich habe dann gerufen, es gehöre freien Platz nicht mit einem AfD-Vertreter zustimmen. Mit ihren 78 Fraktionsmit-
»zur abendländischen Kultur«, nicht besetzen werden. In den sozialen Medien gliedern wäre die AfD nicht in der Lage,
mit vollem Mund zu sprechen. Kaddor spielt die Rechts-außen-Fraktion das dann diese Hürde aus eigener Kraft zu nehmen.
sah sich rassistisch beleidigt. jedes Mal genüsslich aus. Zumindest derzeit nicht.
Geahndet wurde die mutmaßliche Die anderen Fraktionen sind mit ihrer Eine ähnliche Regel plant die Koalition
Entgleisung nie, im allgemeinen Tumult Geduld am Ende. SPD, Grüne und FDP mit Blick auf die Chefposten in den Bun-
war Helferichs Äußerung untergegangen. wollen die Geschäftsordnung des Bundes- destagsausschüssen. Auch hier gibt es eine
»Selbst wenn es für mich im Saal zu ver- tags umfassend überarbeiten. AfD-Vorgeschichte. Sie spielt in der An-
stehen gewesen wäre, hätte ich nichts tun Ein erster 40-seitiger Entwurf der Am- fangszeit der Wahlperiode. Als es um den
können, außer die Sitzung zu unterbre- pelfraktionen liegt dem SPIEGEL vor. Er- Vorsitz in den Ausschüssen für Inneres,
chen«, sagt SPD-Politiker Lars Castellucci, arbeitet haben ihn die Parlamentarischen Gesundheit und Entwicklung ging, hatte
der derzeit den Innenausschuss leitet. Geschäftsführer Johannes Fechner (SPD), die AfD im Ältestenrat Anspruch darauf
So soll es nicht bleiben. Jedenfalls Filiz Polat (Grüne) und Stephan Thomae erhoben. Doch die Koalition beantragte
nicht, wenn es nach den Koalitionsfrak- (FDP). Das Papier wird nun mit der jeweils geheime Wahl, die Kandidaten der
tionen im Bundestag geht. Sie wollen im Unionsfraktion abgestimmt. Bis Ostern AfD fielen durch. Behelfsmäßig werden
Parlament schärfere Regeln einführen und könnte alles beschlossen sein. die Ausschüsse nun von den jeweiligen
damit vor allem für eine Partei die Spiel- Worum geht es im Einzelnen? Vizevorsitzenden geleitet.
räume einschränken: die AfD. »Wir verschärfen die Ordnungsgelder, Die Ampellösung für die Ausschüsse
Der Bundestag, so der Plan, soll sich weil sich vor allem AfD-Abgeordnete im funktioniert nach dem gleichen Prinzip wie
gegen die ständigen Provokationen von Parlament regelmäßig danebenbeneh- die geplanten Regeln für die Vizepräsiden-
rechts außen wappnen. men«, erklärt das Ampeltrio. Bei einer tenkür. Drei Wahlvorschläge bleiben mög-
Es sind AfD-Politiker, die im Bundestag »nicht nur geringfügigen Verletzung« lich – mit jeweils zwei Wahlgängen. Vom
klar die Pöbelstatistik anführen: Die von Ordnung oder Würde des Bundes- vierten Vorschlag an muss ein Viertel der
Abgeordneten Beatrix von Storch und tags soll künftig ein Ordnungsgeld von Ausschussmitglieder zustimmen. Hier hätte
Stephan Brandner kassierten in dieser 1500 Euro verhängt werden können – bis- die AfD ohne Unterstützung aus anderen
Wahlperiode die meisten Ordnungsrufe her sind es 1000 Euro. Im Wiederholungs- Fraktionen ebenfalls keine Chance.
im Plenarsaal – sie 14, er 10. fall wären 3000 statt 2000 Euro fällig. Erstmals soll auch die Möglichkeit
festgeschrieben werden, Vorsitzende von
Ausschüssen abzuwählen. Dazu stand
bisher nichts in der Geschäftsordnung.
Hintergrund ist der Fall des AfD-Abge-
ordneten Brandner, der 2019 nach vielfach
kritisierten Tweets als Rechtsausschuss-
Chef abgewählt worden war. Künftig soll
es für solch ein Verfahren eine schriftliche
Grundlage geben. Die Koalition will hier
nicht mehr angreifbar sein.
Und die Pöbeleien wie im vergangenen
Mai? Mit der neuen Geschäftsordnung
müsste es ein Ausschusschef wie der
SPD-Politiker Castellucci nicht mehr
hinnehmen, wenn Abgeordnete in einer
Hans Christian Plambeck / laif

Sitzung ausfällig werden. Bei erheblichen


Störungen der parlamentarischen Ord-
nung soll er Abgeordnete von den
weiteren Beratungen ausschließen
können. Dafür bräuchte er eine Zwei-
drittelmehrheit im Ausschuss.
AfD-Abgeordnete Storch: Platz eins in der Pöbelstatistik Rasmus Buchsteiner n

Nr. 4 / 20.1.2024 DER SPIEGEL 27


DEUTSCHLAND

Kay Scheller, der Präsident des Bundes-


rechnungshofs, beschrieb das Verhältnis von
Bahn und Bund einmal mit dem Bild von
»zwei Einbeinigen«, die einen 100-Meter-
Lauf bestreiten wollen. »Das kann nur schief-

Bitte aussteigen gehen.« Immer wieder hat Scheller von


Konzern und Bund tiefgreifende Reformen
gefordert. Vergebens.
Mit dem Thema Bahn lassen sich keine
MOBILITÄT Ab 2024 will die Bahn ihre wichtigsten Strecken sperren, kurzfristigen politischen Erfolge einfahren.
Auch deshalb versuchten die Grünen wäh-
um sie zu sanieren. Danach, so das Versprechen des rend der Koalitionsverhandlungen 2021 gar
FDP-Verkehrsministers, sollen die Züge endlich pünktlich fahren. Doch nicht erst, die Zuständigkeit an sich zu ziehen.
SPIEGEL-Recherchen belegen: Das kann kaum noch klappen. Zu kompliziert, kein Gewinnerthema – so
lautete ihr Urteil.
Also überließen die Grünen das wirkungs-
as neue Jahr war erst wenige Tage alt, Für 2030 sind im Diagramm keine Werte vollste Instrument für einen klimafreund-
D da sahen die Manager im Berliner
Bahntower rot. Die »Heatmap Fern-
verkehr« ist eine als »DB vertraulich« gekenn-
angegeben. Dabei ist 2030 das magische
Datum, für Wissing und die Bahn. Das offi-
ziell ausgegebene Ziel: Bis dahin sollen
licheren Verkehr der FDP, einer Partei, die
sich bislang eher für die Belange der Auto-
fahrer eingesetzt hatte. Volker Wissing über-
zeichnete Übersicht, auf der Verspätungen 80 Prozent der Züge pünktlich sein. Inner- nahm. Er hatte sich einiges vorgenommen.
und Probleme der Bahn dargestellt sind. Die halb von zwei Jahren, ab 2028, müsste die Er versuchte, den Bahnvorstand an die
Manager können sie auf ihren Handys und Bahn also eine Lücke von fünfeinhalb Pro- kurze Leine zu nehmen. Es gab intensive Ge-
Rechnern abrufen, die Lesart ist simpel: je zentpunkte schließen. Und sie hinkt schon spräche mit Bahn-Chef Richard Lutz und an-
mehr Rot, desto schlimmer. jetzt dem eigenen Zeitplan hinterher – 2023 deren Vorständen. Wissings Vorgänger hatten
Am Dienstag, 9. Januar, ist das Diagramm hatte die Pünktlichkeit nicht wie von der die Bahn machen lassen. Die CSU-Minister
tiefrot. Personal? Fehlt. Verfügbarkeit der Bahn prognostiziert 67, sondern nur 64 Pro- Alexander Dobrindt und Andreas Scheuer
ICEs? Mangelhaft. Pünktlichkeit? Miserabel. zent betragen. hatten vor allem darauf geachtet, dass die
Nicht einmal 52,4 Prozent aller Fernzüge ha- Die Ampelkoalition verfehlt in vielen Poli- Bahn nicht zu viel Geld aus dem Verkehrsetat
ben am Vortag ihr Ziel mit weniger als sechs tikfeldern ihre Ziele, bei der Bahn wird es verschlang.
Minuten Verspätung erreicht. Selbst die derzeit besonders deutlich. Kürzlich erst hal- Und noch früher, unter der rot-grünen
Eisenbahn in Bangladesch ist pünktlicher. bierte die Regierung die Mittel für die Bahn Bundesregierung, war es nicht besser gelau-
Normalerweise ist die Pünktlichkeit der von 45 auf etwas mehr als 20 Milliarden Euro. fen. Damals, unter Kanzler Gerhard Schröder,
Bahn in den ersten Tagen eines neuen Jahres Da wirkte es fast wie Hohn, als der Kanzler sollte die Bahn zu einem globalen, profitablen
besser als sonst. Wegen der Feiertage verstopft vergangene Woche mit Pomp ein ICE-Werk Unternehmen werden. Was bereits damals
kein Güterverkehr die Gleise, viele haben noch in Cottbus eröffnete. Über eine Milliarde Euro vernachlässigt wurde: das heimische Schie-
Urlaub, der Berufsverkehr ist ausgedünnt. Bundeszuschuss hat es dafür gegeben. nennetz.
Aber was ist bei der Bahn schon noch normal?
Diesmal beginnt das neue Jahr für den Staats-
konzern so, wie das alte geendet ist: mies.
Dabei hatte die Ampelkoalition mit der
Bahn ehrgeizige Ziele. »Wir werden den Mas-
terplan Schienenverkehr weiterentwickeln
und zügiger umsetzen, den Schienengüter-
verkehr bis 2030 auf 25 Prozent steigern und
die Verkehrsleistung im Personenverkehr ver-
doppeln.« So steht es im Koalitionsvertrag.
»So wie es ist, kann es nicht bleiben«, hat-
te Verkehrsminister Volker Wissing (FDP)
gesagt, als er im Juni 2022 seine »Eckpunkte
zur Zukunft der DB und der Schiene« vor-
stellte. »Das Schienennetz braucht eine Ge-
neralsanierung«, so Wissing. »Und diese Ge-
neralsanierung ist Chefsache.«
Doch SPIEGEL -Recherchen zeigen jetzt,
dass die »Chefsache« nicht oder höchstens
verspätet das gewünschte Ergebnis bringen
wird. Das legt eine vertrauliche Präsentation
aus dem Konzern nahe, die auf den 18. Ok-
tober 2023 datiert ist. Überschrift: »Kunde &
Qualität«.
Darunter zeigen mehrere Diagramme rote
und grüne Kurven. Rot ist die mit dem Ver-
kehrsministerium vereinbarte Zielpünktlich-
Oliver Berg / dpa

keit von 80 Prozent. Grün ist die von der


Bahn selbst prognostizierte Pünktlichkeit.
2024 soll sie gemäß der Unterlage 71,5 Pro-
zent betragen, 2028 dann 74,5. Verkehrsminister Wissing: »Diese Generalsanierung ist Chefsache«

28 DER SPIEGEL Nr. 4 / 20.1.2024


DEUTSCHLAND

Die Ursachen für den aktuellen Zustand Nähe zur Riedbahn. So heißt die Strecke zwi-
reichen lange zurück, bis in die Neunziger- schen Frankfurt und Mannheim, mit der die
jahre. Es liegt vor allem an den damaligen Sanierung im Sommer beginnen soll.
Versäumnissen, wenn die Züge tagelang im »Es ist richtig, dass jetzt saniert wird«, sagt
Schnee stillstehen wie vor wenigen Wochen Weigand, »aber doch nicht so.« Er sieht die
in Bayern. angekündigte Großsanierung als reine PR-
Lange Zeit ging das gut, Schienen rosten Aktion der Bahn. Eine Vollsperrung bestimm-
langsam und leise. Die solide Infrastruktur, ter Strecken über Monate sei nicht die richti-
zum Teil noch aus der Kaiserzeit, zeigte sich ge Strategie, sagt er. Mehr als 150 Jahre sei es
erstaunlich ausdauernd. Doch nun steht das selbstverständlich gewesen, dass unter dem
System Bahn vor dem Kollaps. »rollenden Rad« gebaut werde, also im lau-

Arne Deder t / dpa


Im Ausland schaut man inzwischen mit- fenden Betrieb.
leidig auf Deutschland. »Die Deutsche Bahn Auch die Bauindustrie warnt: »Die be-
ist mit den einfachsten Aufgaben des täglichen Arbeiten im Gleisbereich schlossenen Korridorprojekte sind so gar
Betriebs überfordert«, sagt ein ranghoher nicht umsetzbar. Sie sind viel zu komplex und
europäischer Eisenbahnfunktionär. »Man ist groß«, sagte Peter Hübner, Präsident der Bau-
eindeutig nicht mehr in der Lage, einen regel- Große Pläne industrie, kürzlich der »FAZ«.
mäßigen Betrieb aufrechtzuerhalten. Die Kul- »Die Korridorsanierung ist grundsätzlich
tur des Bahnbetriebs ist in Gänze zerstört Streckenabschnitte, die von der Deutschen richtig, aber das Problem der Netzüberlastung
Bahn bis 2030 stufenweise saniert werden
worden.« bleibt bestehen, da helfen nur Neubau-
Eine Kultur lässt sich, wenn überhaupt, strecken«, sagt Christian Böttger, Professor für
nur langfristig ändern. Mit der Infrastruktur, Verkehrswesen an der Berliner HTW. Dafür
hoffte Verkehrsminister Wissing, würde es bräuchte es Geld und den politischen Willen.
schneller gehen. Hamburg Vor allem am Willen fehlt es immer wieder.
2024, so der Plan, soll zunächst die Strecke Jüngstes Beispiel ist eine seit Jahren ge-
zwischen Frankfurt und Mannheim general- Bremen forderte Neubaustrecke zwischen Hamburg
überholt werden, gefolgt von der Trasse Ham- Berlin und Hannover. Sie wäre dringend notwendig,
burg – Berlin. Bis 2030 sollen so pro Jahr 750 um den groß beworbenen Deutschlandtakt
Kilometer Strecke saniert werden. Für Rei- Hannover Magdeburg umzusetzen, einen für Reisende vorteilhaften
sende ist das bitter: Ganze Regionen – im Taktfahrplan. Doch ausgerechnet die Partei
Bahnjargon: Korridore – werden für Monate Kassel Göttingen des Kanzlers blockiert das Vorhaben per Par-
vom Schienenverkehr abgehängt, Fern- und Köln Erfurt teitagsbeschluss. Die geplante Strecke würde
Güterzüge mit hohen Zeitverlusten umgelei- durch den Wahlkreis von SPD-Chef Lars
tet. Im Regionalverkehr fahren Busse. Deren Frankfurt am Main
Klingbeil führen.
Fahrer will die Bahn dem Vernehmen nach Würzburg
Hinzu kommen neue Geldsorgen. Nach
auch aus Marokko, Tunesien und anderen dem Haushaltsurteil des Bundesverfassungs-
Maghrebstaaten anheuern. Ob das gelingt, gerichts fehlten der Bahn plötzlich 25 Milliar-
Karlsruhe
wird sich zeigen. Stuttgart Passau den Euro. Ein Teil davon wurde zwar wieder
Schon jetzt läuft eine dreiwöchige General- hereingeholt, etwa durch eine Erhöhung ihres
München
probe mit Sperrung. Richtig losgehen soll es Eigenkapitals. Doch während die Straße alles
im Sommer, nach der Fußball-Europameister- Geld aus dem Haushalt von 2024 des Ver-
schaft. Kosten: eine Milliarde Euro pro Kor- kehrsministeriums behalten darf, wird bei der
ridor. Der volkswirtschaftliche Schaden der S Quelle: DB Schiene gekürzt.

monatelangen Sperrungen ist da nicht einge- Wissing, so heißt es unter Verkehrspoliti-


preist. »Mit Abschluss aller 40 Generalsanie- bis 2030. Auch im Verkehrsministerium ge- kern, habe keine Autorität mehr – weder gegen-
rungsprojekte Ende 2030 wird die Pünktlich- ben sie sich auf Anfrage zuversichtlich: Man über den FDP-Haushaltspolitikern noch gegen-
keit der Fernverkehrszüge bei 80 Prozent arbeite mit der Bahn »unter Hochdruck da- über dem Finanzministerium, an dessen Spitze
liegen«, versichert die Bahn auf Nachfrage. ran, den über die letzten Jahrzehnte entstan- Wissings Parteichef Christian Lindner steht.
Ist das realistisch? Das interne Dokument denen Sanierungsstau abzubauen und diese Hier zeigt sich ein weiteres strukturelles
aus dem Oktober weckt daran Zweifel. ambitionierten Ziele zu erreichen«. Zu den Problem. Während Österreich oder die
Bis 2028, heißt es darin, werde die »Ge- Zahlen der Bahn: kein Kommentar. Schweiz ihre Bahnunternehmen mit langlau-
neralsanierung Korridore« die Pünktlichkeit Doch selbst wenn es der Bahn gelingen fenden Rahmenverträgen oder Fonds absi-
gerade einmal um 1,8 Prozentpunkte (PP) sollte, ihr großes Ziel doch noch irgendwie zu chern, entscheidet und finanziert Deutschland
verbessern. Der Effekt ist laut der Unterlage erreichen, etwa durch bessere Produktions- seinen Schienenverkehr kurzfristig, abhängig
so gering, dass er im Jahr 2028 vom zusätz- abläufe im Fernverkehr: In Europa stünde sie von der politischen Konjunktur. Und vom
lichen Verkehr (minus 2,3 PP), den Baustellen damit höchstens im Mittelfeld. Hinter Vor- Standing des jeweiligen Ministers.
(minus 0,7 PP) und den dann immer noch bildern wie Österreich oder den Niederlan- Für die Bahn hat ein schwieriges Jahr be-
veralteten Anlagen (minus 0,4 PP) aufgeho- den, wo inzwischen fast jeder Zug auf die gonnen, für den Verkehrsminister auch. Das
ben wird. Es ist ein Nullsummenspiel, im bes- Minute pünktlich ist, bleibt die Deutsche Problem unpünktlicher Züge dürfte sich noch
ten Fall. Bahn im Fernverkehr weit zurück. Mit oder verschärfen, der Ärger über monatelange
Verhindert die Großsanierung also nur, ohne Generalsanierung. Vollsperrungen und Umleitungen wird vom
dass alles noch viel schlimmer wird? Ist Ein Treffen mit Werner Weigand, von 1974 Sommer an immer weiter zunehmen.
Wissings Versprechen ein einziger Bluff? bis 2015 bei der Bahn, jahrelang verantwor- Spätestens dann dürften sich die Bürger
Eine Sprecherin der Bahn blockt ab: Inter- tete er als Manager Strategie, Fahrpläne und daran erinnern, wer für all das politisch zu-
na kommentiere man »wie immer nicht«. Netzplanung. Wohl kaum einer hat sich um- ständig ist: Herr Wissing von der FDP – der
Fragen von Bundestagsabgeordneten beant- fassender mit der Deutschen Bahn und all zum Amtsantritt pünktliche Züge verspro-
wortete der Konzern zuletzt mit dem immer ihren kleinen und großen Problemen befasst. chen hatte.
gleichen Mantra: 80 Prozent Pünktlichkeit Heute ist er 74, er wohnt in unmittelbarer Serafin Reiber n

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Julius Schrank / DER SPIEGEL


Unternehmer Pothmer: Den ungefederten Beifahrersitz einladend ausgeklappt

Bauer Pothmer fährt nach Berlin


PROTESTE Eine große Wut liegt über dem Land, besonders zornig sind die Landwirte.
Einer von ihnen ist Fritz Pothmer aus dem Wendland; vier Kinder, 100 Kühe.
Eine Reise auf dem Beifahrersitz eines Traktors zum Kern des Problems. Von Deike Diening

ritz Pothmer steht vor dem Branden- dem Land, die Stimmung ist aufgeheizt. Es Um fünf Uhr früh am Sonntagmorgen
F burger Tor unter Tausenden Bauern und
leidet an Christian Lindner. Um ihn
herum Buhrufe, von der Rede des Bundes-
gibt dafür einige gute Gründe, aber der Zorn,
die Unversöhnlichkeit, haben etwas Maß-
loses. Das betrifft nicht nur die Bauern.
dröhnen auf dem Sammelplatz neben der
Volksbank in der Dunkelheit ein gutes Dut-
zend Traktoren, alle abfahrbereit. Mittendrin
finanzministers ist kaum etwas zu verstehen. Ihrem Protest haben sich ständig neue Fritz Pothmer, hoch oben auf seinem John
»Macht nichts«, ruft Pothmer gegen die Laut- Gruppen angeschlossen, die meinen, ihnen Deere 6130 R.
stärke an. »Ich glaube ihm sowieso nichts, werde von der Politik ebenfalls übel mitge- Im Rücken hat er mehr als 500 Jahre Fa-
egal, was er sagt!« spielt, die unter bürokratischen Hürden und milientradition, unterm Hintern 143 PS und
So steht es zwischen den Bauern und der hohen Belastungen ächzen. An diesem Mon- vor der Brust 230 Kilometer bis Berlin-Mitte.
Politik. tag sind Sanitärfirmen, Spediteure und Hand- Es ist ein Grad über null, der überraschend
Montagmorgen, Mitte Januar, Deutsch- werker dabei. Dazu kommt die große Mehr- zarte Scheibenwischer kämpft tapfer gegen
lands Bauern haben sich zur Großdemo ver- heit, die laut Umfragen mit dieser Regierung den Schneegriesel an. Fritz Pothmer klappt
abredet, Lindner nimmt stellvertretend für unzufrieden ist und von der viele offenbar einladend den ungefederten Beifahrersitz aus.
die Bundesregierung ihren Zorn entgegen. empfänglich für die Parolen der AfD sind. Es Wenn die Politik nicht zu den Landwirten
Und Pothmer, der Bauer aus dem Wendland, wirkt, als wäre das ganze Land wütend. kommt, kommen die Landwirte zur Politik.
steht schweigend in der Menge. Er macht Vielleicht kann es helfen, mal zuzuhören. Mit Tempo 30.
nicht mit bei den »Hau ab!«-Rufen, er steht Zum Beispiel Fritz Pothmer aus dem Reichen sieben Stunden, um die Probleme
einfach da, unbewegt, scheinbar ungerührt. Wendland, ein stabil gebauter Mann mit of- der Landwirtschaft zu erklären? Pothmer ist
Unaufrichtig finde er Lindner, wird er später fenem Blick. Dafür darf man mit ihm nach sich da nicht sicher. Landwirtschaft, sagt er,
sagen. Manipulativ. Berlin fahren, sieben Stunden auf dem Bei- sei komplex, manche Entscheidungen fielen
Pothmer hadert mit dieser Bundesregie- fahrersitz seines Traktors. Die Reise beginnt im Bund, manche in der EU. Er müsse ein
rung. Wie so viele. Ein großer Frust liegt über in Lüchow. wenig ausholen. Die Fahrt geht los.

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DEUTSCHLAND

Wenn es eine Rushhour des Le- »Nur für len, wirken so seltsam wie Fische, die Er, der ältere von zwei Söhnen,
bens gibt, dann steckt Pothmer mit- mal kurz an Land gehen. Alle sind habe seinem Vater zum ersten Mal
tendrin: 39 Jahre alt, vier Kinder, günstigen froh, wenn sie wieder weg sind. als 15-Jähriger eine Zusage gegeben:
100 Kühe. Mitte der Neunziger haben Diesel würde Längst versuchen Populisten, aus Ja, er könne es sich vorstellen, den
sie auf Bio umgestellt, seit zwei Jah- ich nie dem Gegensatz von Stadt und Land Hof zu übernehmen.
ren führt er den großen Hof im Wend- Kapital zu schlagen. Donald Trump Nie etwas anderes erwogen?
land allein. demonstrie- ist unter anderem dadurch Präsident »Nicht wirklich.«
»Nur für günstigen Diesel würde ren gehen.« geworden und könnte das noch ein- Auch die Banken, sagt Pothmer,
ich niemals demonstrieren gehen«, mal schaffen. Auch in Deutschland wollten früh, dass die nächste Gene-
sagt Pothmer. Und das, obwohl sein werden die Gegensätze schärfer. Hier ration bei großen Investitionen mit
Hof so viel Kraftstoff verbraucht, dass ist es vor allem die AfD, die das be- unterschreibt. Schon mit 50 Jahren
ein Lastwagen regelmäßig die hof- feuert und ausnutzt. bekomme ein Landwirt keinen
eigene Tankstelle beliefert. Er be- Vielleicht muss man sagen: Stadt großen Kredit mehr, wenn nicht die
schäftigt zwei Landmaschinentech- und Land haben sich wohl auseinan- nächste Generation bereits in den Start-
niker, hat mehrere Schlepper, die dergelebt. In den Städten wechseln löchern stehe.
Pflug, Kartoffelroder und Häcksler jüngere Arbeitnehmer häufig den Job, Pothmers Vater hatte damals da-
ziehen. Er baut sein eigenes Futter für halten sich alle Möglichkeiten offen, rüber nachgedacht, in eine Biogas-
die Kühe an, Kartoffeln und neuer- nichts ist für immer. Sie feiern die anlage zu investieren. Die ergab nur
dings auch Sonnenblumen, alles auf Viertagewoche, Homeoffice, Sabba- mit Nachfolger Sinn. Es war, sagt
330 Hektar. Angestellte helfen beim ticals, Autos werden nur noch stun- Pothmer, eine gute Entscheidung. Die
Melken, sein Vater kümmert sich denweise gemietet. Sie führen meh- Wärme dieser Anlage versorge heute
noch um die Kühe, er selbst ist eigent- rere Ehen oder gar keine, sie daten zwei Dörfer. »Das ist mein Beitrag
lich unabkömmlich. und tindern, manche legen sich auch zur Energiewende.«
Er hat sich für die Demo trotzdem privat nie mehr auf jemanden fest. Kurz vor Kyritz. Der Regen hat
zwei Tage rausgezogen, weil er will, Und während die urbane Gesellschaft aufgehört. Pinkelpause. Landwirte,
dass die Politik endlich das große also immer flexibler, unverbindlicher diese eigene Spezies, brauchen nicht
Ganze in den Blick nimmt, das kran- und ortloser wird, gehen Landwirte einmal etwas Aufragendes, gegen das
kende System, in dem aus seiner Sicht schon in jungen Jahren riesige Ver- sie pinkeln können. Keinen Baum,
zu lange auf reines Wachstum und bindlichkeiten ein, legen sich fest. keinen Zaun, keine Laterne. Sie ste-
niedrige Preise gesetzt wurde. Am Sieht man einmal von den euro- hen kerzengerade im Feld.
Abend vor der Abfahrt nach Berlin päischen Restmonarchien ab, ist Während es draußen mühsam hell
hat Pothmer auf das Demo-Schild vor Landwirt der einzige Beruf, in dem wird, erzählt Fritz Pothmer davon,
seinem Traktor gepinselt: »30 Jahre die Erbfolge der Normalfall ist. Der wie er mit 19 Jahren seine Lehre im
Versagen in der Agrarpolitik. Wir Großteil der Höfe wird noch immer Weserbergland machte, dann den Zi-
brauchen verlässliches, kompetentes an direkte Nachkommen übergeben. vildienst als Betriebshelfer auf ver-
Handeln!« Die erste urkundliche Erwähnung schiedenen Höfen – und mit seinem
In den Tagen zuvor hat er viel he- des pothmerschen Hofes im Wend- Bruder noch ein Jahr Work and Tra-
rumtelefoniert, versucht, Informatio- land ist mehr als 500 Jahre alt. Auch vel in Neuseeland dranhängte. Nach
nen zu sammeln. Wer ist noch dabei? Bauern, sagt Pothmer, seien wild ent- der Fachschule war er staatlich ge-
Welche Forderungen würden gestellt, schlossen, ihren Kindern alle Freiheit prüfter Agrarbetriebswirt, Schwer-
wenn die Bauernvertreter nach der zu lassen. Und doch hoffen sie, dass punkt ökologischer Landbau. Dann
Kundgebung auf die Spitzen der Re- eines von ihnen den Hof übernimmt. war es Zeit. Er übernahm den Hof.
gierungsfraktionen treffen? Würde es Wann weiß ein Mensch denn über- Es lief nicht schlecht. Seine Eltern
sich politisch lohnen mitzufahren? haupt, dass er sich zutraut, diese Bür- sind aus dem Haupthaus gezogen, da-
Pothmer hält es für »einfach nur de von 500 Jahren anzunehmen, um rin wohnt jetzt er mit seiner Frau und
kurzsichtig«, jetzt alles auf die Ampel die Tradition eine Generation weiter- den inzwischen vier Kindern. Sie sind
zu schieben, schließlich habe vorher Treck aus dem zutragen? zwölf, neun, sechs und anderthalb. Sein
Wendland Richtung
die Union 16 Jahre lang das Land- Berlin: Fische,
Fritz Pothmer zieht eine Weile lang Vater, noch fit, kümmert sich weiter um
wirtschaftsministerium geführt. Auch die mal kurz stumm an seiner Zigarette. »Mit 15«, die Kühe. Schon wird es Zeit, die gro-
Pothmer ist unzufrieden, aber vieles an Land gehen sagt er dann. So war es bei ihm. ßen Entscheidungen für die nächste
in der Debatte ist ihm zu schlicht, zu Generation zu treffen. Eigentlich wären
unterkomplex. die Kuhställe dran, sie sind alt und un-
Der Trecker brüllt wie zustim- praktisch, die Gänge sind zu schmal.
mend zu allem, was der Bauer sagt. Eigentlich?
Der Konvoi ist schon in zwei Teile »Ich bin ambivalent«, sagt Poth-
zerrissen. Die Rundumsicht ist her- mer. Er ist sich nicht sicher, ob die
vorragend, was an der speziellen Landwirtschaft eine gute Zukunft hat.
»ComfortView«-Kabine des Trecker- Ob er seinen Kindern dazu raten soll.
Herstellers liegt: Zwei Panorama- Pothmer weiß auch nicht, ob er in
türen bilden quasi bodentiefe Fenster. zehn Jahren noch Kühe haben wird.
Aber bodentiefe Fenster sind auch Ob sich das noch lohnt. Das, so sieht
schon die einzige Gemeinsamkeit mit er es, hängt auch an den nächsten
Julius Schrank / DER SPIEGEL

Berlin-Mitte. Die Politik, so scheint politischen Entscheidungen.


es, begreift die Bauern nicht. Und die Pothmer beklagt sich über »poli-
Städter fremdeln mit ihnen. Die Trak- tisch unfaire Märkte«. Beispielsweise
toren, die seit Dezember mit ihren beim Fleisch: Weil es keine Kennzeich-
erdverkrusteten Reifen regelmäßig nungspflicht für Tiere gebe, die mit
von den Feldern auf die Straßen rol- genetisch verändertem Soja gefüttert

Nr. 4 / 20.1.2024 DER SPIEGEL 31


DEUTSCHLAND

wurden, hätten die Käufer gar keine Möglich- »Neben mir sitzt der SPIEGEL «, sagt er.
keit, eine Wahl zu treffen – und bewusst Fleisch Falls sie etwas loswerden wolle?
von Tieren zu wählen, die ohne Genfutter Elisabeth Fresen ist selbstständige Land-
großgezogen wurden. »Das entmündigt die wirtin, sie engagiert sich bei der AbL, der
Verbraucher«, sagt Pothmer. Und es schädige Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirt-
die Anbieter. Mit der Politik würde er gern mal schaft, die sich gegründet hat, weil sich viele
über eine vernünftige Kennzeichnung reden. vom Bauernverband nicht mehr repräsentiert
Die Brandenburger Polizei hält jetzt den fühlen. Sie hat auch an dem Positionspapier
Treck an, ein Wagen setzt sich an die Spitze der Zukunftskommission Landwirtschaft mit-
des Konvois und wird ihn bis Berlin begleiten. gearbeitet. Aber zu dieser Großdemo in
In Pothmers Lebensrealität sind die täg- Berlin fahre sie trotzdem nicht.
lichen Bedingungen kaum verhandelbar: das Warum nicht?
Wetter, die Jahreszeiten, die Tiere, die Büro- Aus zwei Gründen, schallt es aus Pothmers
kratie, der Markt, die Eltern auf dem Alten- Telefon: Der Bauernverband stelle zu wenige
teil, die Kinder, denen sich alle Fragen schon Forderungen – es gehe längst nicht mehr nur
wieder aufs Neue stellen. um Agrardiesel und Kfz-Steuer. Außerdem

Julius Schrank / DER SPIEGEL


Ist Landwirt also schon dem Wesen nach habe der Verband als Veranstalter kein Kon-
ein Ohnmachtsberuf, immer von allem Mög- zept, wie man mit Populismus, Hass und Het-
lichen abhängig? Man denke an die letzten ze umgehe. Sie habe nachgefragt und keine
Dürrejahre oder den sprichwörtlichen Antwort bekommen. Neben Hetzern möchte
Schweinezyklus, bei dem die Preise so extrem sie in Berlin nicht stehen. Dann legt sie auf.
schwanken, im Wechselspiel aus Nachfrage, Aus dem gleichen Motiv kann man sich
Überangebot und Preisverfall. Biolandwirt Pothmer natürlich auch entscheiden hinzufahren. Poth-
Pothmer findet das nicht. Er sagt, Bauern mer findet, je mehr bodenständige Bauern an
hätten sich daran gewöhnt, mit wechselndem Der Sonntag hat sich in einen tristen Mor- der Großdemo teilnehmen, desto winziger
Wetter umzugehen. Und unter wirtschaftlichem gen verwandelt, auf grauem Asphalt rollt der wirkt der Anteil der Trittbrettfahrer.
Druck zu kalkulieren, »damit kann man leben«, Treck durch graue Dörfer. Langsam ist es Aber den Bauernverband hält auch er für
sagt Pothmer, »das ist Unternehmereigen- Frühstückszeit. In den Einfahrten stehen ver- ein Übel. Sein Präsident Joachim Rukwied
schaft«. Aber politische Hauruckentscheidun- einzelt Menschen und grüßen, als nähmen sie sitze im Aufsichtsrat großer Unternehmen mit
gen, die wichtige Rahmenbedingungen änder- eine Parade ab. Hinter den Fenstern schwin- besten Verbindungen zu Politik und Industrie,
ten – die hätten das Potenzial, ihnen das Genick gen Gardinen zurück. er tue nur so, als ob ihn die kleinen Bauern
zu brechen. Pothmers Hof lebt natürlich auch »So viel Zustimmung wie jetzt hatten wir interessierten. Statt das Höfesterben zu ver-
von Subventionen, aber am liebsten wäre ihm, nicht einmal zu Castor-Zeiten«, sagt Pothmer, hindern, biete der Verband Beratung zu
man könnte sie alle abschaffen, weil ein fairer der schon beim Gorleben-Protest dabei war. Ruhestand und Renten an. Pothmer kennt
Markt geschaffen wird, auf dem nur Produkte Nach einer Umfrage hätten mehr als 80 Pro- kaum noch Leute, die dort Mitglied sind.
gleicher Qualität miteinander konkurrieren. zent der Bevölkerung Verständnis für ihren Ribbeck im Havelland. Sieben Stunden auf
Doch die Politik sei unberechenbarer als Zorn. Diese Zustimmung sei eine gewaltige einem Trecker erscheinen ja bloß dem Städter
Wetter und Wirtschaft zusammen. Was Poth- Rampe, über die man Anliegen ins politische lang. Für einen Landwirt ist das ein normaler
mer sich von Berlin-Mitte wünscht: Planbar- Berlin katapultieren könne. Das Wichtigste Arbeitstag. Zur Kartoffelernte oder wenn der
keit. Die Entscheidung der Ampel, mal eben sei die Transformation der Landwirtschaft. Mais gehäckselt wird, sitzen sie manchmal
ein paar Subventionen zu streichen, sei das Pothmer findet es albern, wenn es von der zwölf Stunden auf dem Bock.
Gegenteil davon gewesen. Politik nun heiße, man müsse mal reden. In Hätte sich das Haushaltsloch der Regierung
»Die Herausforderung der Generation vor Wahrheit liege längst eine Einigung auf dem im Sommer aufgetan, hätten die Bauern gar
uns war die harte Arbeit«, sagt Pothmer. Die Tisch. Er meint die Empfehlungen der Zu- keine Zeit gehabt für eine Aktionswoche. Sie
Elterngeneration sei einfach zu nichts ande- kunftskommission Landwirtschaft, vorgelegt wären auf den Feldern gewesen, hätten ihre
rem gekommen, tagein, tagaus. Viel davon im Jahr 2021, die skizzieren, wie die Land- Ernte eingefahren und jeden Traktor ge-
habe man technisch lösen können. Maschinen wirtschaft sich hin zu mehr Tierwohl und braucht. Dann hätte man die schon lange
helfen heute beim Melken, einiges geht Klimafreundlichkeit entwickeln könnte. anstehende Debatte aber auch nicht geführt.
schneller und leichter. Die seien ein gigantischer Schritt vorwärts, An den Panoramafenstern der »Comfort-
»Unser Problem ist die Politik.« Pothmer sagt Pothmer. Dass alle Beteiligten, auch View«-Kabine ziehen vorbei: städtische Peri-
meint ihre erratischen Kursänderungen, die Naturschutzverbände und Bauernvertreter, pherie. Tankstellen. Falkensee. Spandau. Und
nicht zu den Laufzeiten seiner Kredite pass- das Papier unterschrieben hätten, grenze an schon ist da der vielspurige Kaiserdamm samt
ten. »Jede bauliche Investition hat eine Lauf- ein Wunder. Das habe es noch nie gegeben. Parkstreifen, Gründerzeithäusern und Oper.
zeit von 20 Jahren.« »Das ist doch ein Arbeitsauftrag für die Poli- Sonntagmittag, High Noon. Sieben Stun-
Friesack, noch 68 Kilometer bis Berlin. tik«, sagt er. »Warum passiert da nichts?« den und etwa 60 Liter Diesel von seinem Hof
Pothmer hat schon lange das Gefühl, dass Es ist das einzige Mal auf der Reise, dass entfernt kurvt Pothmer mit seinem Trecker
die Politik mit den Landwirten gar nicht mehr Pothmer sich ein bisschen in Rage redet. um die Siegessäule und biegt auf die Straße
spricht. Manche Verordnungen ergäben kei- Es sei doch irre, sagt er, dass nun nichts des 17. Juni ein. Dutzende Traktoren stehen
nen Sinn. Allein seine Kleewiesen! Die liefern davon umgesetzt werde. Die Kommission war schon dort. Jemand reicht eine Bockwurst mit
das Futter für seine Kühe. Damit spart er von der Vorgängerregierung eingesetzt wor- Toast in die Kabine. Ein Geruch nach Revo-
Wege, aber die Regel lautet, dass man nur den. Ihre Empfehlungen wurden im Koali- lution und Anarchie weht herein, das machen
fünf Jahre in Folge Weidegras anbauen darf tionsvertrag der Ampel nicht einmal erwähnt. die brennenden Scheite in den Feuertonnen.
– sonst erlischt die Nutzung als Ackerland. Bislang, sagt Pothmer, habe er immer grün Der kleine Treck aus dem Wendland
Also muss er alle fünf Jahre dort etwas ande- gewählt. Jetzt wisse er nicht mehr, was er erwischt die letzten freien Plätze auf dem
res pflanzen als Kleegras. Mais zum Beispiel. wählen solle. Nur eines sei klar: nicht AfD. Mittelstreifen. Pothmer zirkelt sein Gerät zen-
Ökologisch und ökonomisch sei das Unsinn, Pothmer holt ein Brötchen raus. Salami- timetergenau ein, Poleposition zum Branden-
sagt Pothmer. »Mir fällt nicht einmal eine duft breitet sich in der Kabine aus. Dann ruft burger Tor. Er wird Teil der Menge. Einer von
Lobbygruppe ein, der das nützt.« eine Bekannte an, Pothmer stellt sie auf laut. Tausenden demonstrierenden Bauern. n

32 DER SPIEGEL Nr. 4 / 20.1.2024


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ter und massenhaften Exekutionen zahlte, fand seine Bäume abgehackt


des syrischen Regimes. Das Drama oder niedergebrannt.« Die Türkei
der syrischen Region Afrin hat der könne alldem Einhalt gebieten. »Sie
Westen weitestgehend ignoriert. tut es aber nicht. Es scheint ihnen in
Schon als die Türkei 2018 unter den Kram zu passen«, sagt der Mann.

Der neunte Zeuge dem Vorwand einer Operation gegen


Verbündete der Terroristen der PKK
in Nordsyrien einmarschierte, erho-
Das vermutet auch die syrisch-
kurdische Aktivistin Sabiha Khalil.
Gezielt würden Kurden aus ihren Ge-
ben Beobachter und prokurdische bieten durch die Schreckensherr-
MENSCHENRECHTE Im Norden Syriens Aktivisten schwere Vorwürfe: Anka- schaft der Milizen vertrieben. Syri-
ras Truppen würden auch zivile Zie- sche Flüchtlinge, insbesondere aus
schikanieren arabische Milizen die kurdische le angreifen. Familien der SNA, Araber und Turk-
Bevölkerung. Jetzt haben sich mutmaßliche Kurz nach dem Einmarsch über- menen aus anderen Teilen würden
Opfer an den Generalbundesanwalt gewandt. nahmen Milizen in Afrin die Macht, gezielt angesiedelt. »Die Türkei ist
die ausgerechnet aus den Reihen der heute klüger als zu den Zeiten, in
einstigen Rebellen gegen das Assad- denen sie Massaker an Kurden und
9 sah noch, dass die Männer am Regime hervorgegangen waren. Mit anderen Ethnien beging«, sagt Khalil.
Z Checkpoint zwei Flaggen auf
ihren Uniformen trugen. Am
linken Ärmel prangte das Emblem
ihnen, so der Tenor der Strafanzeige,
habe eine antikurdische Willkürherr-
schaft Einzug gehalten.
»Die heutigen Massaker sind weniger
blutig: ethnische Säuberungen und
Eingriffe in die Demografie.«
der »Syrischen Nationalen Armee«, SPIEGEL -Recherchen vor Ort be- Der syrische Journalist Roj Mousa,
rechts ein türkisches Hoheitsabzei- Nihad Nino Pusija stätigen diese Vorwürfe. Demnach der aus Afrin stammt, sagt: »Auch in
chen. Dann banden sie ihm ein Stück bestreiten nicht einmal arabische Ein- besetzten Gebieten muss es Regeln
Stoff um den Kopf und nahmen ihn wohner der Provinz die Unterdrü- geben. Aber in Afrin herrscht das Ge-
mit, in ein Gefängnis. ckung der verbliebenen Kurden. Im- setz des Dschungels.« Die Türkei habe
Dort schlugen sie ihn. Traten ihn. Rechtsanwalt Kroker mer wieder würden Kurden verhaftet sogar als Besatzungsmacht versagt.
Stachen mit einer Nadel unter seine – der Vorwurf laute stets: Verbindun- Dass die Bundesregierung etwas
Fingernägel, ins Nagelbett. Schrien gen zur PKK. Die Milizen würden an der Situation ändern kann, glauben
ihn an: Er solle gestehen, dass er ein von der Türkei finanziert, heißt es vor die Opfer aus Afrin nicht. Aus dem
Terrorist sei, im Dienst der kurdischen Ort. Allerdings seien die Zahlungen Auswärtigen Amt heißt es zwar, die
Arbeiterpartei PKK. So schildert er es Ankaras auf 100 Dollar pro Milizio- Bundesregierung habe sich wieder-
im Gespräch mit dem SPIEGEL . när im Monat zurückgegangen. Seit- holt kritisch zur türkischen Präsenz in
Später wurde er in ein anderes her würden die Kämpfer die Bevöl- Afrin geäußert und gefordert, die Mi-
Gefängnis verlegt, dort sei alles noch kerung auch erpressen. litärpräsenz dort schnell zu beenden.
viel schlimmer geworden. »Ich habe Die Festnahmen oder Drohungen Doch der Nato-Partner Türkei inte-
Folter miterlebt, das kann man sich gegen Kurdinnen und Kurden seien ein ressiert sich nicht groß für diese poli-
kaum vorstellen«, sagt Z9. mafiöses Geschäft geworden. »Die ara- tischen Bedenken aus Deutschland.
Seine Stimme bricht, er will eine bischen Kämpfer unter dem Komman- So hoffen Z9 und seine Mitstreiter
Pause. Danach spricht er über die do der Türken verlangen Schmiergel- nun auf die deutsche Justiz. »Ich will
Vergewaltigung von Frauen in Ge- der von Beschuldigten, damit sie die Gerechtigkeit, ich will, dass die Täter
fängnissen, Demütigungen, über nicht verhaften und ausliefern. 500 bis vor Gericht kommen«, sagt Z9.
Häftlinge, denen systematisch die 1000 Dollar pro Familie«, sagt ein Ein- Die Bundesanwaltschaft hat in an-
Nahrung verweigert worden sei. wohner von Afrin. Wer kein Schutz- deren Fällen schon Haftbefehle gegen
Z9 spricht per Videoleitung. Man geld bezahle, werde verhaftet, ausge- hochrangige Mitglieder des staatlichen
darf ihn nicht beschreiben und nicht Türkisches Militär plündert oder am Bestellen seiner Fel- syrischen Unterdrückungsapparats er-
verraten, wo er ist. Keine Hinweise in Nordsyrien 2020: der gehindert. »Von den Olivenbauern wirkt. Zwei Angehörige des Regimes
Ankara könne die
darauf geben, wann und wo er litt und marodierenden
haben sie diese Saison zweieinhalb wurden durch das Oberlandesgericht
wie er nach fast drei Jahren aus der Milizen stoppen, »tut Dollar pro Baum verlangt«, sagt ein Koblenz wegen Verbrechen gegen die
Haft entkam. Er hat Angst um seine das aber nicht« Bewohner der Region. »Wer nicht Menschlichkeit verurteilt. Mitglieder
Familie, die in der syrischen Region der Terrormiliz IS landeten in deut-
Afrin geblieben ist. Es ist jene kurdi- schen Gefängnissen, weil sie am Völ-
sche Region, die mit der Unter- kermord an den Jesiden und Jesidin-
stützung der Türkei von arabischen nen teilgenommen hatten.
Milizen kontrolliert wird. »Die Urteile gegen staatliche Fol-
Z9 steht für den neunten Zeugen terer des Assad-Regimes zeigen,
einer Strafanzeige, die diese Woche dass die Aufarbeitung der Straftaten
beim Generalbundesanwalt in Karls- in Syrien vorankommt«, sagt der
ruhe einging. Der Mann und weitere Rechtsanwalt Patrick Kroker vom
mutmaßliche Opfer der Milizen wol- European Centre for Constitutional
len ihre Peiniger zur Rechenschaft and Human Rights, das die Straf-
ziehen, unter anderem wegen »Ver- anzeige gemeinsam mit den kurdi-
brechen gegen die Menschlichkeit«. schen Opfern eingereicht hat.
Karlsruhe ist jetzt so etwas wie die Das Völkerstrafrecht müsse »un-
letzte Hoffnung der Opfer von Afrin. terschiedslos« angewandt werden.
Delil Souleiman / AFP

Der Bürgerkrieg in Syrien ist eine »Auch gegenüber Tätergruppen, die


beinahe vergessene Tragödie. Kaum mit alliierten Ländern wie der Türkei
jemand spricht mehr über die Unta- verbunden sind.«
ten des »Islamischen Staats«, die Fol- Christoph Reuter, Fidelius Schmid n

Nr. 4 / 20.1.2024 DER SPIEGEL 33


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Georg Hilgermann / action press

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CDU-Politikerin Merkel bei Parteifestakt 2005, in Yad Vashem 2006, mit Regierungschef Olmert in Berlin 2006, mit Botschafter Stein in Berlin

Ihr Vermächtnis
ZEITGESCHICHTE Israels Sicherheit ist deutsche Staatsräson: Kanzlerin Merkel verkündete es,
Kanzler Scholz bekräftigte es. Aber was heißt es? Über einen Satz, der Geschichte schrieb.

anzler Olaf Scholz trug Schwarz, als er und heute Bundespräsident, bezweifelte ein- ausdenken, auch zu Israel. Schließlich hat der
K am 12. Oktober vorigen Jahres vor den
Bundestag trat. Fünf Tage nach dem
Massaker der Hamas erklärte er, die Herzen
mal, dass sie »sich der Tragweite dieses Satzes
in jeder Hinsicht bewusst« sei.
Der SPIEGEL hat sich auf eine Spurensu-
CDU-Übervater Konrad Adenauer nach dem
Holocaust die Anbahnung an Israel betrieben,
was als staatsmännische Leistung gilt.
der Deutschen seien »schwer angesichts des che begeben, vertrauliche US-Dokumente Das Verhältnis zu Israel ist Merkel ein Her-
großen Leids, das Terror, Hass und Menschen- aus dem WikiLeaks-Bestand ausgewertet und zensanliegen. Schon zu DDR-Zeiten blickte
verachtung« über Israel gebracht hätten. Für rund ein Dutzend Beteiligte auf deutscher die promovierte Physikerin fasziniert auf die
Deutschland gebe es jetzt nur einen Platz: an und israelischer Seite gesprochen: Diploma- Arbeiten der Kollegen dort. Für sie fällt ins
der Seite der Opfer. ten, aktuelle und ehemalige Politiker, Spitzen- Gewicht, dass Israel die einzige Demokratie
Und dann sagte er jenen Satz, der aufhor- beamte aus dem Kanzleramt und dem Aus- im Nahen Osten ist. Sie schätzt die Vielfalt der
chen ließ: »Die Sicherheit Israels ist deutsche wärtigen Amt, Geheimdienstler. Fast alle israelischen Gesellschaft, die Schönheit der
Staatsräson.« bestanden auf Anonymität. Landschaft, die historischen Stätten. Während
Es ist eine Formulierung, die Angela Merkel Merkel selbst war nicht zu einem Treffen der Kanzlerschaft wird Merkel sogar erwägen,
fast wortgleich in ihrer berühmten Rede vor dem bereit. Beate Baumann, ihre ehemalige Büro- nach ihrer Karriere für einige Monate in den
Parlament Israels, der Knesset, 2008 verwendet leiterin und engste politische Vertraute, be- Kibbuz Sde Boker zu ziehen, den Alterssitz
hatte. Seither wird gerätselt, gemutmaßt, ge- antwortete Fragen, auch in Absprache mit des Staatsgründers David Ben-Gurion.
stritten: Was war damit gemeint, was ist es heu- der Ex-Kanzlerin. Die Antworten dürfen ver- Und sie weiß um die Bürde der Geschich-
te? Steht dahinter eine außenpolitische Doktrin? wendet, aber nicht wörtlich zitiert werden. te. Ihr Vater wurde Pastor als Reaktion auf
Gar ein Blankoscheck für Israel, sich immer und den Holocaust; der Massenmord an den Ju-
jederzeit auf Deutschland verlassen zu können? Berlin, Konrad-Adenauer-Haus, den war ein Thema im Templiner Elternhaus.
Oder hat Merkel sich eher versehentlich Januar 2005 Allerdings wird Merkel nach dem Ende der
zu einer Formulierung hinreißen lassen? Ge- Angela Merkel steht unter Druck, es läuft nicht DDR auch sagen, sie habe »erst spät gelernt,
schmeichelt von der Ehre, als erste ausländi- rund für die Parteivorsitzende. Bei Landtags- wie unermesslich viel Deutschland durch
sche Regierungschefin vor dem israelischen wahlen in Ostdeutschland hat die CDU hohe die Schoa verloren« hat. Und mancher Be-
Parlament sprechen zu dürfen? Und hat sie Verluste eingesteckt; ihre innerparteilichen gleiter glaubt, ihre Israelfreundlichkeit sei
der deutschen Außenpolitik damit nicht ge- Widersacher wittern Morgenluft. Sie glauben, eine Art Überkompensation.
nutzt, sondern geschadet? die geschiedene, kinderlose Frau aus dem Merkels Team tut sich mit dem Auftrag der
Der frühere Kanzler Helmut Schmidt Osten werde sich nicht halten können. Chefin schwer. Da erscheint im April ein Essay
(SPD) sagte, Merkel vertrete eine »gefühls- Da kommt es Merkel gelegen, dass die von Rudolf Dreßler, einst SPD-Bundestags-
mäßig verständliche, aber törichte Auffassung, CDU im Sommer den 60. Geburtstag der Par- abgeordneter und jetzt Botschafter in Tel Aviv.
die sehr ernsthafte Konsequenzen haben tei feiert. Mit einer besonderen Rede will sie Dreßler sorgt sich über den Antisemitismus
könnte«. Auch Frank-Walter Steinmeier die Seele der Partei streicheln. Auftrag an ihr in der Heimat, und sein Text mündet in dem
(SPD), unter Merkel zeitweise Außenminister Team zum Jahresbeginn: Es möge sich etwas Ausruf: »Die gesicherte Existenz Israels liegt

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2007: Die Seele der Partei streicheln

im nationalen Interesse Deutschlands, ist so- finden, ob Merkel bereit war, U-Boote der gebieten errungen. Die Anti-Hamas-Front in
mit Teil unserer Staatsräson.« Dolphin-Klasse zu liefern. Es ging um das hei- Europa bröckelt.
Merkels Leute sind elektrisiert. Staatsräson kelste Rüstungsexportprojekt der Republik. Merkel zögert. Sie ist einem vertraulichen
gilt ihnen als »CDU-Sprache«, Helmut Kohl Seit Kohls Kanzlerschaft beziehen die Is- US-Bericht zufolge dagegen gewesen, die Is-
oder Wolfgang Schäuble haben das Wort oft raelis solche Boote aus Kiel. Intern bezweifelt lamisten überhaupt zu Wahlen zuzulassen.
verwendet. Da macht es nichts, dass sie jetzt damals kaum jemand, dass die besondere Und sie glaubt, die Hamas wolle sie instru-
von einem Sozialdemokraten abschreiben. Ausstattung dem Zweck dient, sie in Israel mit mentalisieren, gegen Israel und auch gegen
Außerdem kennen und schätzen sich Dreßler Atomsprengköpfen zu bewaffnen. Wer immer die Palästinensische Autonomiebehörde. So
und Merkel seit einer Israelreise der Christ- Israel angreift, muss mit einem nuklearen Ver- schildert es heute ihr Umfeld.
demokratin. geltungsschlag von einem der Boote aus rech- Doch einfach ablehnen will sie nicht,
Was Staatsräson, abgeleitet vom italieni- nen, die kaum zu orten sind. Es ist aus israe- schließlich hat die Hamas die Wahl gewonnen.
schen »ragione di stato«, bedeutet, ist unter lischer Sicht der wichtigste Beitrag der Deut- Sie lässt ausrichten: Die Hamas müsse das
Gelehrten strittig, seit der Begriff im 17. Jahr- schen zur Sicherheit des jüdischen Staates. Existenzrecht Israels anerkennen oder sich
hundert nach Deutschland kam. Viele sahen Allerdings verstoßen derartige Lieferungen zumindest deutlich in diese Richtung bewe-
darin eine Aufforderung, die politische Füh- gegen die deutschen Rüstungsexportrichtli- gen. Das Gespräch kommt nicht zustande,
rung möge zum Staatswohl ohne Rücksicht nien. Dennoch war auch Merkels Vorgänger eine weitere Anfrage wird Merkel während
auf Recht und Moral handeln. Moderne Poli- Gerhard Schröder bereit, zwei Boote zu lie- ihrer Kanzlerschaft nicht mehr erreichen.
tiker nutzen es, wenn sie von übergeordneten fern. »Sharon bat mich, Merkel zu fragen, ob Mit Gastgeber Olmert – er ist inzwischen
Interessen sprechen. Das passt. Es gehe um sie den U-Boot-Deal unterstützt«, berichtet amtierender Ministerpräsident – versteht sie
etwas Grundsätzliches, nicht Verhandelbares, Olmert. »Merkel sagte, wenn Schröder den sich glänzend. Beide sind in kleiner Runde
sagt Merkel-Vertraute Baumann. Deal genehmigt habe, dann sei sie natürlich gesellig, witzig, trinkfest. Olmert findet die
Der CDU-Festakt findet am 16. Juni statt. dafür.« Aus Merkels Umfeld heißt es, die Alt- Besucherin interessant: eine Ostdeutsche, die
Merkels Stellung in der Union hat sich inzwi- kanzlerin habe an dieses Gespräch keine Er- weder der SED noch der Bürgerrechtsbewe-
schen deutlich verbessert, sie ist Kanzlerkan- innerung. gung angehört hat.
didatin der Union. Vor ihren Parteifreunden Schröder hat am letzten Tag seiner Amts- Merkel ist ihrerseits beeindruckt von der
erklärt sie: »Die Verantwortung Deutschlands zeit die Verträge unterschreiben lassen – und Gegenwart der Vergangenheit. Sie besucht die
für die europäische Einigung, für die trans- Merkel setzt den Deal um. Jahre später wird Holocaustgedenkstätte Yad Vashem, die sie
atlantische Partnerschaft, für die Existenz Is- sie auf einer Veranstaltung der Zeitschrift mit »tiefer Scham erfüllt«. Beim Dinner sitzt
raels – all das gehört zum Kern der Staatsräson »Brigitte« sagen: »Die Sicherheit Israels ist sie neben Rafi Eitan, Rentenexperte und eins-
unseres Landes und zur Räson unserer Partei.« für uns Staatsräson … das drückt sich zum Bei- tiger Mossad-Mann. Sie sprechen über Renten
Es ist ein großes Wort, Israel auf einer Ebe- spiel darin aus, dass wir auch immer wieder für ehemalige Ghetto-Bewohner – und über
ne mit Nato und EU. Doch es bleibt weitgehend U-Boote an Israel verkauft haben.« Adolf Eichmann, den Cheflogistiker des Holo-
unbemerkt. Lieber plaudern die Gäste über die caust. Eitan hat mit einem Mossad-Team 1960
vorgezogene Neuwahl im September. Auch die Jerusalem, King David Hotel, Januar 2006 Eichmann aus Argentinien entführt.
Medien greifen den Merkel-Satz nicht groß auf. Antrittsbesuch der Kanzlerin in Israel. Ange- Olmert ist bereit, »einen langen, langen
la Merkel logiert im legendären King David Weg mit den Palästinensern« zu gehen, um
Berlin, Herbst 2005 Hotel. Erstmals seit Jahren scheint der Frie- Frieden zu erreichen – allerdings nicht mit
Merkel hat die Bundestagswahl gewonnen und densprozess voranzukommen, Israel hat ge- der Hamas. So sagt er es Merkel, wie US-Di-
ist gerade erst an der Macht, als Ehud Olmert, rade den Gazastreifen geräumt. Da fragt die plomaten berichten. Als die Israelis bitten,
stellvertretender Regierungschef Israels, sie Hamas diskret an, ob die Kanzlerin zu einem die Sanktionsfront der EU gegen die Terror-
am Rande einer Veranstaltung anspricht. Ol- Gespräch bereit sei. truppe zusammenzuhalten, erklärt sie öffent-
mert erinnert sich nicht an das Datum, er kam Die Terrororganisation steht auf der Sank- lich: Es sei eine »Prinzipienfrage«, nicht mit
im Herbst 2005 zweimal nach Berlin, doch er tionsliste der EU, ihre Konten sind eingefro- der Hamas zu verhandeln, solange diese
erzählt mit Liebe zum Detail. Er sollte im Auf- ren. Doch wenige Tage zuvor hat sie einen Israel nicht anerkenne. Diese Position ist kei-
trag von Regierungschef Ariel Sharon heraus- spektakulären Wahlsieg in den Palästinenser- ne Selbstverständlichkeit. Ex-Kanzler Schrö-

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Kanzlerin Merkel vor Uno-Vollversammlung 2007, in der Knesset mit Gastgeberin Itzik 2008: »Die Sicherheit Israels ist niemals verhandelbar«

der fordert wenige Monate später, Israel solle lich. Olmert hält ein solches Szenario für ab- Berlin, Hotel Intercontinental,
ohne Vorbedingungen mit der Hamas verhan- wegig, was Merkel zu beeindrucken scheint. 11./12. Dezember 2006
deln. Drei Bundestagsabgeordnete von SPD Aber die CSU ist dezidiert gegen den Vor- Antrittsbesuch von Olmert in Berlin. Nach dem
und FDP empfangen sogar einen Hamas-Mi- schlag und weiß die meisten Deutschen hinter Libanonkrieg ist er angeschlagen – und den-
nister in Berlin, zum Ärger Merkels. Wenn die sich. Eine Entsendung deutscher Bodentrup- noch entschlossen, den Friedensprozess mit
Hamas die Sicherheit Israels bedrohe, sagt sie, pen hätte im Bundestag nie eine Mehrheit den Palästinensern voranzutreiben. Seine
»dann kann und darf es keine Toleranz geben«. gefunden, sagen Beteiligte. Wer will schon Kompromissbereitschaft scheint spektakulär:
gegen die Hisbollah kämpfen? Israel könnte sich womöglich fast vollständig
Bayreuth, Festspiele, 16. August 2006 Aus der Pflicht ist Merkel damit nicht. Der aus dem Westjordanland zurückziehen, Jeru-
Viele Spitzendiplomaten im Auswärtigen Amt Libanon leidet unter der Blockade, und Israels salem vielleicht geteilt werden. Merkel be-
und im Kanzleramt sind irritiert, als Merkel Regierung will sie nur aufheben, wenn der Waf- merkt schnell, welche Möglichkeiten sich bie-
im ZDF-Sommerinterview erklärt: »Die Exis- fenschmuggel für die Hisbollah aus Syrien und ten. Am Abend vor den offiziellen Treffen
tenz Israels gehört für uns zur Staatsräson.« über das Mittelmeer eingedämmt wird. Fuad kommt sie allein in sein Hotel, um vertraulich
Die Rede zum CDU-Jubiläum im Vorjahr ist Siniora, prowestlicher Regierungschef im liba- zu reden. Olmerts Sicherheitsleute erkennen
ihnen entgangen, ein Konzept liegt nicht vor – nesischen Beirut, bittet Merkel um Vermittlung. die Deutsche nicht, die in einem Flur wartet.
und wird nach Angaben zahlreicher Zeitzeu- Zu Merkels Überraschung stimmt Olmert Sie stürmen auf Merkel zu, umringen sie. Ol-
gen auch nie in Auftrag gegeben. einem Ende der Blockade zu, sofern sich die mert klärt die Situation.
Schwebt der Kanzlerin eine Sicherheits- Bundeswehr zumindest dabei engagiert. Drei Stunden dauert das Gespräch über den
garantie vor, vergleichbar der Beistandsver- Und so empfängt Merkel an ihrem letzten Libanon und den Friedensprozess. Es geht zeit-
pflichtung in der Nato? Nein, heißt es heute Urlaubstag Mitte August die Spitzen der Koali- weise hoch her, doch die Basis ist gelegt. Merkel
aus Merkels Umfeld, sie habe weniger ge- tion in Bayreuth, wo sie die Wagner-Festspiele schickt fortan immer wieder Sicherheitsberater
meint, auch wenn das Verhältnis schon ein besucht. Die Runde beschließt einen deutschen Christoph Heusgen und Nahostexperte Jens
besonderes gewesen sei. Wie viel weniger, das Beitrag. Am Ende stechen zwei Fregatten, Plötner – heute Sicherheitsberater von Kanzler
zeigt der Libanonkrieg von 2006. Schnellboote und einige andere Schiffe in See, Scholz – in die Region, um diskret bei den Ver-
Nach einem Anschlag der Hisbollah-Miliz um als Teil einer Uno-Mission die libanesische handlungen Olmerts mit Palästinenserpräsident
aus dem Libanon reagiert Olmert über: Er lässt Küste zu überwachen. Experten von Polizei und Mahmoud Abbas zu helfen. Heute heißt es aus
das Nachbarland bombardieren, sperrt den Zoll sollen beim Aufbau eines Kontrollsystems Merkels Umfeld, für die Kanzlerin sei die Unter-
Luftraum, verhängt eine Seeblockade, schickt an der Grenze zu Syrien helfen, was die Auf- stützung Israels bei einer Zweistaatenlösung
Truppen. Nach wenigen Tagen hat Israel fast rüstung der Hisbollah freilich nicht verhindert. ein zentraler Bestandteil ihres Verständnisses
die gesamte Weltöffentlichkeit gegen sich. Mer- Der Bundestag stimmt zu. In mehreren von Staatsräson gewesen.
kel mahnt, den Auslöser im Blick zu behalten. Interviews wirbt Merkel nun mit der Formel Zur Wahrheit zählt freilich: Außer gutem
Aber auch sie verlangt, die Zerstörung auf das von der Staatsräson. Erstmals nennt sie diese Willen haben die Deutschen wenig zu bieten.
»geringstmögliche Ausmaß« zu begrenzen. auch im Parlament: »Wenn es zur Staatsräson Nicht den Israelis, die um ihre Sicherheit besorgt
Da fragt Olmert an, ob Merkel bereit sei, Deutschlands gehört, das Existenzrecht Is- sind. Und nicht den Palästinensern, die Merkel
deutsche Soldaten für eine Uno-Friedensmis- raels zu gewährleisten, dann können wir nicht einen Mangel an Empathie für ihre Lage vor-
sion an die israelisch-libanesische Grenze zu einfach sagen: Wenn in dieser Region das werfen. »Im Nachhinein würde ich nicht sagen,
entsenden. Im Uno-Sicherheitsrat laufen bereits Existenzrecht Israels gefährdet ist – und das dass das weltbewegend war«, sagt selbst Heus-
Gespräche über einen Waffenstillstand. Es wäre ist es –, dann halten wir uns einfach heraus.« gen über die deutschen Vermittlungsversuche.
eine Sensation: 60 Jahre nach dem Holocaust Merkel wird später diese Variante ihrer For- In einer brisanten Frage legt sich Merkel
die Bundeswehr als »Teil der Truppe, die Israel mel meiden, die den Eindruck zulässt, das inhaltlich fest, was Beteiligte auf den Einfluss
verteidigt«, wie Olmert es ausdrückt. Tagelang Existenzrecht Israels stehe zur Debatte. »Was von Israels Botschafter Shimon Stein zurück-
schweigt Merkel öffentlich dazu. Im Telefonat maßen wir uns eigentlich an? Dieses Land ist führen. Stein zählt zu den wenigen Diploma-
mit Olmert warnt sie, deutsche Kampftruppen völkerrechtlich anerkannt«, bricht es aus ihr ten, die sie empfängt. Sie schätzt seine Freu-
könnten an der Grenze in die Situation kom- heraus. Sie spricht künftig lieber von der »Si- de an Debatten und sein Wissen, von dem sie
men, auf Israelis zu schießen – das sei unerträg- cherheit« Israels als Teil deutscher Staatsräson. profitiert. Und so findet sich im neuen CDU-

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Präsidenten Gauck, Peres in Jerusalem 2012, U-Boot der Dolphin-Klasse in Kiel 2012: »Den Rest machen wir allein«

Grundsatzprogramm von 2007 ein Bekennt- Deutsche mit den Worten: »Ich habe die Ge- Berlin, Kanzleramt, 27. August 2009
nis zu Israel als »jüdischem Staat«. Es richtet schäftsordnung für Sie geändert.« Bis dahin Welche Bindung Merkel eingegangen ist, zeigt
sich gegen die palästinensische Forderung durften nur Staatsoberhäupter im israelischen sich nach dem Rücktritt Olmerts. Sein Nach-
nach einem Rückkehrrecht für jene, die bei Parlament reden. Die Änderung wird ein- folger Benjamin Netanyahu vom rechtsge-
der Gründung Israels 1948 geflohen oder ver- stimmig beschlossen, Merkels proisraelische richteten Likud treibt den Siedlungsbau im
trieben worden waren. Haltung hat sich herumgesprochen. Westjordanland voran, was die Bildung eines
Merkel ruft ihren Parteifreunden zu: »Die Wie bei anderen Reden auf bedeutenden zusammenhängenden Palästinenserstaats
Sicherheit Israels als jüdischer Staat ist für Staatsbesuchen lässt Merkel die ersten enorm erschwert.
uns niemals verhandelbar; das sagen wir je- Worte übersetzen und in phonetischer Um- Gleich bei Netanyahus Antrittsbesuch in
dem in der Welt klipp und klar.« schrift aufschreiben. Eine Dolmetscherin übt Berlin warnt Merkel intern, das »Fenster der
noch in der Maske mit ihr: »Anni modda la- Gelegenheit« für den Friedensprozess schlie-
New York, Uno-Gebäude, chem sche-nittan li le-dabber ellechem kaan ße sich, der Siedlungsbau müsse gestoppt
25. September 2007 be-bait mechubad se. Se kawwod gadol awur- werden. Netanyahu zeigt sich unbeeindruckt.
Vollversammlung der Vereinten Nationen. ri« – ich danke Ihnen, hier zu Ihnen sprechen Im Geheimen trifft Sicherheitsberater
Merkel trägt erstmals die Formel von der zu dürfen. Ich empfinde dies als eine große Heusgen Philip Gordon, Abteilungsleiter im
Staatsräson im Ausland vor. Der iranische Ehre. Dann wechselt sie vom Hebräischen ins State Department, und Philip Murphy, US-
Präsident Mahmoud Ahmadinejad treibt das Deutsche. Botschafter in Deutschland. Er schlägt vor,
Atomprogramm voran und droht, Israel zu Merkel redet 24 Minuten lang, über die Netanyahu unter Druck zu setzen. Washing-
vernichten. In diesem Sinne hat er auch Merkel Lehren aus der Schoa, den Kampf gegen Anti- ton soll damit drohen, Israel die Unterstüt-
geschrieben, die darauf nicht geantwortet hat. semitismus, die deutsch-israelischen Bezie- zung im Uno-Sicherheitsrat beim sogenann-
Was sie denkt, sagt sie jetzt vor der Welt- hungen. Das Wort Staatsräson fällt in Minu- ten Goldstone-Bericht zu entziehen, der Is-
gemeinschaft: »Jeder deutsche Bundeskanzler te 19. Merkel zitiert fast wörtlich aus ihrer rael Kriegsverbrechen in Gaza vorwirft. So
vor mir war der besonderen historischen Ver- Rede vor der Uno, einschließlich des Verspre- steht es in einem vertraulichen US-Bericht.
antwortung Deutschlands für die Existenz Is- chens: »Die Sicherheit Israels ist für mich als Die Amerikaner sind nur mäßig begeistert.
raels verpflichtet.« Und: »Sie ist Teil der Staats- deutsche Bundeskanzlerin niemals verhan- Später erwägt Merkel, Waffenlieferungen
räson meines Landes.« Es müsse verhindert delbar.« von Zugeständnissen an die Palästinenser
werden, dass Teheran die Bombe baue. Viele Abgeordnete fremdeln damit, die abhängig zu machen. Als Netanyahu wegen
In Israel wird diese Form der moralischen Sprache der Täter in der Knesset zu hören, eines neuen Atom-U-Boots anfragt, zögert
Unterstützung genau registriert. Allerdings auch Präsidentin Itzik: »Das war ein seltsa- Merkel die Entscheidung über die Finanzie-
verzichtet Merkel nach Angaben Beteiligter mes Gefühl: einerseits eine Frau, die ein Volk rung hinaus. Rund 400 Millionen Euro kostet
darauf, für den Fall eines iranisch-israelischen vertritt, das uns auslöschen wollte, anderer- das Boot, ein Drittel soll Deutschland über-
Krieges zu planen. Berlin beschränkt sich auf seits das Gefühl, da kommt eine große nehmen. Selbst israelische Netanyahu-Kriti-
Wirtschaftssanktionen, um Teheran zu Kom- Schwester, die uns beschützen möchte.« ker drängen sie, den Druck zu erhöhen. An-
promissen in der Atomfrage zu bewegen. Heute heißt es aus Merkels engstem Um- dererseits passt das Zögern nicht zu ihrer
Das sei die praktische Konsequenz ihres feld, es sei der Ort gewesen, der den Auftritt Zusage, die Sicherheit Israels sei niemals
Verständnisses von Staatsräson, erklärt Merkel zu etwas Besonderem habe werden lassen. verhandelbar. Schließlich gibt sie nach. Am
vor der Uno. Die deutschen Exporte nach Iran Parlamentspräsidentin Itzik war beeindruckt, 20. März 2012 wird der Vertrag für das sechs-
werden in ihrer Regierungszeit auf ein Drittel wie sie erzählt: »Es hat Merkel umgetrieben, te U-Boot unterzeichnet. Der Deutschen sei
zurückgehen. Und Merkel wird ein halbes Jahr wie es dazu kommen konnte, dass eines der man sich ohnehin sicher, heißt es bald in Je-
später eine aufsehenerregende Rede halten. aufgeklärtesten Völker ein anderes Volk aus- rusalem.
löschen wollte. Ich glaube, dass sie das ver- Immerhin gibt Israel eingefrorene Steuer-
Tel Aviv, Knesset, 18. März 2008 standen hat und so auch gehandelt hat.« gelder an die Palästinenser frei. Mehr ist ver-
Knesset-Präsidentin Dalia Itzik hat die Kanz- Den Satz mit der Staatsräson findet Itzik mutlich nicht drin, denn in den USA regiert
lerin aus Anlass des 60. Jahrestags der Grün- stark: »Es geht um etwas jenseits von Abwä- Präsident Barack Obama, dessen Engagement
dung Israels eingeladen. Sie empfängt die gungen, was dieses oder jenes bringt.« im Friedensprozess überschaubar bleibt. Deut-

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Guido Bergmann / BPA / Polaris / laif

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Kontrahenten Merkel, Netanyahu (r.) in Berlin 2015*, Regierungschefs Scholz, Netanyahu in Tel Aviv 2023: Gebrüll im Kanzleramt

sche Nahostpolitik kann nur im Windschatten rum beklagt das deutsche Abstimmungsver- soll – aber nicht gesagt hat. Merkel hat im
der Amerikaner erfolgreich sein. So hat es halten in der Uno, er sei davon »enttäuscht«. Vorjahr sogar die jährlichen Regierungskon-
Olmert, wie in einem vertraulichen US-Be- 138 Staaten stimmten dem Antrag zu, Paläs- sultationen abgesagt, die sie erst 2008 ein-
richt steht, wenige Tage nach Merkels Rede tina den Status eines »beobachtenden Nicht- geführt hatte.
in der Knesset zu einem Besucher gesagt: Mitgliedstaats« zu verleihen. Deutschland Dass sie dennoch die Formel von der
Merkel sei ein »wahrer Freund« Israels, aber enthielt sich, was für Aufregung sorgte. Mer- Staatsräson jetzt wieder häufig aufgreift, hat
»am Ende des Tages zählen nur die USA«. kel gilt den Israelis bislang als verlässliche wohl auch einen innenpolitischen Grund. Der
Verbündete in internationalen Organisatio- wachsende Antisemitismus in Deutschland
Jerusalem, 29. Mai 2012 nen. In der Tat hält Merkel die Unterstützung beunruhigt sie. Wie einst Staatsräson-Formel-
Wenige Wochen nach dem U-Boot-Deal be- Israels in Uno und EU für essenziell – den Erfinder Rudolf Dreßler will sie auf die Deut-
sucht der neue Bundespräsident Joachim Einsatz für eine Zweistaatenlösung allerdings schen einwirken – und findet Gehör.
Gauck Israel. Schon im Flugzeug lässt er gegen- auch. Diese sei »alternativlos«. Politiker fast aller Parteien übernehmen
über Journalisten durchblicken, was er von Der Ton wird jetzt rauer. Heusgen und ein die Formulierung. Sie findet sich im Bundes-
Merkels Satz über die Staatsräson hält: wenig. Vertrauter Netanyahus brüllen sich an. Auch tagsbeschluss zur antiisraelischen Boykott-
In Jerusalem sagt Gauck öffentlich, er wol- die Telefonate zwischen Merkel und Netanya- bewegung BDS von 2019, alle Parteien bis auf
le sich »nicht jedes Szenario ausdenken, wel- hu werden lauter. Der Israeli spielt gegenüber die AfD und die Linke unterstützen ihn. Und
ches die Bundeskanzlerin in enorme Schwie- deutschen Regierungsvertretern auf die his- auch die Ampelregierung, die Merkel 2021
rigkeiten bringt, ihren Satz, dass Israels Si- torische Schuld der Deutschen an: »Ihr wollt nachfolgt, schreibt in ihren Koalitionsvertrag:
cherheit deutsche Staatsräson ist, politisch also, dass die Westbank judenrein wird?« »Die Sicherheit Israels ist für uns Staatsräson.«
umzusetzen«. Mit anderen Worten: Merkel Merkel vermeidet eine Eskalation. »Alle
habe den Mund zu voll genommen. Gauck Seiten müssen Kompromisse machen«, sagt Berlin-Mitte, heute
bereut später seine Wortwahl. Im Grundsatz sie bei einem Israelbesuch 2014. Die Formel Angela Merkel schreibt an ihren Memoiren,
teilt er Merkels Haltung – im Gegensatz zu von der Staatsräson zitiert sie allerdings kaum in diesem Herbst sollen sie erscheinen, natür-
den meisten Deutschen. Es wird ihr nie ge- noch. Aus ihrem Umfeld heißt es, das sei kei- lich mit Passagen zu Israel. Vieles aus ihrer
lingen, mehr als ein Drittel von der besonde- ne Strategie gewesen, sondern habe sich er- Kanzlerschaft wird inzwischen kritisch be-
ren Verantwortung für Israels Sicherheit zu geben, weil andere Themen im Vordergrund wertet, ihr Umgang mit Russland oder der
überzeugen. standen. Es passt jedenfalls zur Lage. Vier Migration. Die Formel von der Staatsräson
In militärischer Hinsicht ist Merkels Ver- Jahre lang besucht sie Israel nicht mehr. aber bleibt, sie ist Merkels Vermächtnis.
sprechen ziemlich leer. Die Bundeswehr ist in »Staatsräson« kann so vieles umschließen:
beklagenswertem Zustand und wäre wohl Assisi, Basilika San Francesco, U-Boote liefern oder die Bundeswehr ent-
außerstande, Israel etwa bei einem iranischen 12. Mai 2018 senden oder sich auch mal mit höflichen Wor-
Angriff zu helfen. Andererseits erwartet Netan- Der Franziskanerorden verleiht Merkel die ten begnügen. Merkel hat es vorgemacht. Und
yahu solche Hilfe gar nicht. »Wir brauchen »Lampe des Friedens«. Auch der verstorbene die Formel hat eine eigene Dynamik entwi-
Rüstungsgüter, um uns zu verteidigen, den Rest Palästinenserführer Jassir Arafat und Israels ckelt. Sie ist im öffentlichen Bewusstsein ver-
machen wir allein«, sagt ein beteiligter Israeli. ehemaliger Präsident Shimon Peres haben ankert, jede Abweichung müsste erklärt wer-
Merkel ist Gaucks Kritik egal. In den Wo- die Auszeichnung erhalten. Merkel erneuert den. Kanzler Scholz griff auch deshalb nach
chen nach Gaucks Aussage wiederholt sie ihre ihr Versprechen, »dass die Sicherheit Israels dem Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober
Formel allerdings mehrmals – als wollte sie für Deutschland zur Staatsräson gehört«. Da- darauf zurück. Das ist die deutsche Sicht.
sie beschwören. bei ist das Verhältnis zu Netanyahu auf dem Und wie sehen es die Israelis? »Unter nor-
Tiefpunkt. Sie schätzt Diskretion und Verläss- malen Umständen brauchen wir keine Hilfe,
Berlin, Kanzleramt, Dezember 2012 lichkeit, er offenbar nicht. Immer wieder be- und wenn es hart auf hart kommt, haben wir
Merkel kritisiert die Siedlungspolitik öffent- richten israelische Zeitungen, was sie in ver- die Amerikaner«, sagt Ex-Premier Olmert.
lich. Als Netanyahu in Berlin ist, sagt sie traulichen Telefonaten mit ihm gesagt haben Und doch habe die Merkel-Formel einen
in die Kameras: »Wir sind uns einig, dass Wert: als »moralische Verpflichtung«.
wir uns nicht einig sind.« Netanyahu wiede- * Mit Berater Christoph Heusgen (2. v. l.). Christoph Schult, Klaus Wiegrefe n

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Sehenswürdigkeiten in Niedersachsen. Busse


voller Touristen fuhren zu dem Märchen­
schloss, das die Niedersachsen wegen der
vielen Türmchen und Zinnen auch »Neu­
schwanstein des Nordens« nennen. »Im

Märchenschloss in Not Gegensatz zu den meisten Museen arbeiteten


wir profitabel«, sagt Schöning.
Das Land möchte weniger Disney und ein
höheres museales Niveau, heißt es in Han­
DENKMÄLER Früher stritt Ernst August Prinz von Hannover mit seinem nover. Man begrüße die Vermarktung des
Schlosses, antwortete das Ministerium auf
Sohn um die Marienburg bei Hannover, heute streitet Anfrage, die Qualität des Wintermärchens als
die Landesregierung mit dem Pächter. Es geht um Macht und Geld. eine touristisch­kommerzielle Veranstaltung
werde nicht bewertet. Aber: »Wichtig ist da­
bei, dass echtes historisches Kulturgut auch
n einem eisigen Wintermorgen im De­ verzierte Deckengewölbe in leuchtendem authentisch vermittelt wird.« Und darüber
A zember schlängelte sich ein Transporter
den schneebedeckten Hügel zur Ma­
rienburg südlich von Hannover hinauf, gefolgt
Blau. Der einstige Glanz ist verblasst. Von
klammen Wänden bröckelt der Putz, durch
die Balken des Dachstuhls frisst sich der
lässt sich ausgiebig streiten.
Die erste Meinungsverschiedenheit ließ
nicht lange auf sich warten, nachdem Schö­
von einem Streifenwagen der Polizei. »Sie Schwamm. »Seit wir die Marienburg gepach­ ning die Marienburg Mitte 2019 übernommen
kamen, um das letzte Tafelsilber abzuholen«, tet haben, warten wir darauf, dass die Sanie­ hatte. Er plante eine Schauwerkstatt. Die
sagt Schauspielerin Tatjana Pohl, die Füh­ rung beginnt«, sagt der Schlossherr. »Aber es Besucher sollten durch eine Glasscheibe be­
rungen im Schloss anbietet. »Wunderschöne passiert nichts. Stattdessen macht uns die obachten können, wie Gemälde und Möbel
Ausstellungsstücke waren das. Teller aus der Bürokratie das Leben schwer.« restauriert werden. Das Ministerium begrüß­
Königlichen Porzellan­Manufaktur, von Was er damit meint, zeigt Schöning im Rit­ te die Idee anfangs. Dann entschied die Stif­
denen einst die junge Marie speiste, edle Ter­ tersaal. Dort hängen Bilder, die über und über tung, die Werkstatt in abgelegenen Räumen
rinen, Soßenkännchen und das Silberbesteck mit weißen Zettelchen versehen sind. Ein Ge­ des Schlosses einzurichten, die für Zuschauer
mit dem Monogramm der jungen Königin.« mälde von Georg V. trägt so viele Klebestrei­ unzugänglich waren. Schöning war sauer.
Auch vier kostbare Kerzenleuchter aus Silber fen, dass nicht einmal mehr seine Umrisse zu So war es auch bei der Idee mit den Bild­
verstauten die Männer in ihrem Lieferwagen. erkennen sind. Das Papier soll verhindern, schirmterminals im Schoss, auf denen Filme
Sie handelten im Auftrag der Stiftung dass die Farbe von den restaurierungsbedürf­ über die Königinnen der Welfen gezeigt wer­
Schloss Marienburg, die vom Land Nieder­ tigen Gemälden abblättert. Damit sie nicht den sollten. Das Landesmuseum war dagegen.
sachsen dominiert wird. Ihr gehört das Schloss. direkt an der klammen Wand hängen, wurde Die Terminals mussten aus dem Südflügel in
»Aus Sicherheitsgründen« habe er die Wert­ ein Metallgitter angebracht. »Schön sieht das den Westflügel verlegt werden.
gegenstände in einen Tresor des Landesmuse­ nicht aus«, sagt Schlossführerin Pohl. »Von Anfang an hat man uns das Wirt­
ums bringen lassen, sagt der Stiftungsvorstand. »Es ist schade, dass wir Bilder in diesem schaften auf dem Schloss schwer gemacht«,
Mitarbeiterin Pohl hingegen spricht von »Schi­ Zustand ausstellen müssen«, sagt der Pächter. sagt Schöning, der auch das Rittergut Reme­
kane«. Das Porzellan der Königin sei in der Er habe angeboten, Kopien für die Zeit der ringhausen westlich von Hannover betreibt.
Marienburg sicher verwahrt gewesen. Restaurierung anfertigen zu lassen, was die Die Stimmung zwischen dem Pächter und den
So geht das seit Jahren. Aus Liebe zu seiner Verantwortlichen in Hannover abgelehnt hät­ Verantwortlichen in Ministerium und Stiftung
Gemahlin Marie ließ Georg V., König von ten. Das Ministerium widerspricht: Schöning Marienburg war bald so mies, dass Schöning
Hannover, das Anwesen in Pattensen ab 1858 hätte Originale abhängen können, wenn er kaum noch jemanden für Gespräche erreich­
errichten, so heißt es. Heutzutage herrschen sie auf seine Kosten »vor einem Bewegen kon­ te. Der Referatsleiter im Ministerium empfahl
Zorn und Zank unter den Verantwortlichen. servatorisch gesichert und an geeignete Orte dem Stiftungsvorstand, auf persönliche Kon­
Bis 2022 zoffte sich Ernst August Prinz von verlegt« hätte. Das war Schöning zu teuer. takte mit dem Pächter zu verzichten.
Hannover mit seinem gleichnamigen Sohn So ist es bei fast allen Themen: Die Vor­ Dabei hätte es viele Themen gegeben.
um die Marienburg. Der Senior hatte sie dem stellungen davon, wie die Marienburg aus­ Nach wenigen Monaten musste der Pächter
Junior 2004 geschenkt, forderte sie aber zwi­ sehen soll, liegen weit auseinander. Laut Ver­ das Schloss wieder schließen – Coronalock­
schenzeitlich wegen »groben Undanks« zu­ trag sollen sich Pächter, Stiftung und Landes­ down. Um die Leute bei Laune zu halten,
rück. 2020 überführte der Junior das Anwe­ museum auf ein Konzept für die Ausstellung stellte er Videos auf die Seite des Märchen­
sen an die Stiftung Schloss Marienburg. Der verständigen. Einigkeit herrscht selten. schlosses. In einem spielte die Schlossschau­
symbolische Wert: ein Euro. Die Stiftung Nicolaus von Schöning hat das Schloss als spielerin auf einer Laute. »Das sorgte für Un­
sollte die Marienburg für 27,2 Millionen Euro Erlebniswelt inszeniert. Vor Weihnachten gab mut, sie könnte beschädigt werden«, sagt Pohl,
aus Landes­ und Bundesmitteln sanieren. es ein »Wintermärchen« auf der Marienburg, »dabei hatte ich die Laute von zu Hause mit­
Die Gründung der Stiftung aber brachte mit bunt angestrahlten Türmen und einem gebracht.« Problematisch sei nicht das Instru­
keine Ruhe. Seither liefert sich das nieder­ Kinderkarussell. Dazu Figuren wie aus Disney ment gewesen, so das Ministerium, sondern
sächsische Ministerium für Wissenschaft und World, eine goldene Kutsche im Innenhof und »das Sitzen auf einem sehr fragilen Ausstel­
Kultur eine kleinteilige und mitunter absurde ein lebensgroßes Rentier. Die Schlossführerin lungsstück«. Während der Coronajahre setz­
Auseinandersetzung mit dem Pächter des schlüpft bei ihren Rundgängen in original­ te Schöning auf das »Wintermärchen«, das
Schlosses, Nicolaus von Schöning. Das be­ getreue Kostüme und spielt die junge Königin. Einnahmen in die Kasse spülte – gegen den
legen interne Unterlagen, die dem SPIEGEL In der Kapelle und im Rittersaal veranstalte­ Widerstand aus Hannover. »Erst nach einem
vorliegen. Die Parteien streiten hinter ver­ te der Pächter große Hochzeiten. Trauungen Gespräch mit dem damaligen CDU­Minister
schlossenen Türen um die Präsentation des gab es schon unter Ernst August junior. Ex­ Björn Thümler nickte das Ministerium die
Schlosses – und um Erlöse aus dem Betrieb. Nationalspieler Per Mertesacker feierte auf Veranstaltung für 2021 ab«, sagt er.
Schöning, 57, trägt ein braun kariertes dem Schloss eine prunkvolle Hochzeit. Die Coronakrise ging vorbei, Schöning
Sakko mit Einstecktuch, als er im Dezember Bei den Besuchern kommt die Mischung machte Kasse. Auf dem Parkplatz hielten wie­
durch das Schloss führt. Dessen Highlight aus Unterhaltung und Kultur offenbar an. Die der die Busse. Es gab wieder Hochzeiten, ein
ist die Bibliothek der Königin, prunkvoll Marienburg zählte 2022 zu den beliebtesten Mittelalterspektakel und eine Anfrage von

40 DER SPIEGEL Nr. 4 / 20.1.2024


DEUTSCHLAND

Nach dem Regierungswechsel von


Rot-Schwarz zu Rot-Grün hoffte
Schöning auf einen Neuanfang und
bessere Beziehungen. Doch der neue
SPD-Minister Falko Mohrs hatte das
Wissenschafts- und Kulturressort ge-
rade übernommen, da beschloss der
Stiftungsrat, über eine Auflösung des
Pachtvertrags mit dem ungeliebten
Pächter zu verhandeln. Schöning ver-
langte 1,9 Millionen Euro Entschädi-
gung – eine Summe, die weder Stif-
tung noch Ministerium aufbringen
konnten oder wollten.
Schöning blieb im Schloss, der
Streit ging weiter. Selbst der Stiftungs-
vorstand, es war inzwischen der drit-
2
te, fühlte sich vom Ministerium ge-
gängelt. »Seit dem 3. November fährt
die Fach- und Arbeitsebene Ihres
Hauses zahlreiche Attacken gegen die
Stiftung und die Betriebs-GmbH«,
schrieb Vorstand Hermann Kasten
Ende 2022 in seiner Kündigung. Von
da an war die Stiftung ein Jahr lang
ohne Führung. Das Ministerium wi-
derspricht: »Es wurden keine ›Atta-
cken‹ gefahren, sondern Schritte
unternommen, eine Klärung des Kon-
fliktes herbeizuführen.«
Für Nicolaus von Schöning wurde
der Ärger immer größer. Nach und

Mario Wezel / DER SPIEGEL (3)


nach ließ die Baubehörde Räume
für Touristen sperren. Ihnen könn-
ten Stuckelemente auf den Kopf fal-
len, hieß es. Im September 2023
musste Schöning das Schloss mit Aus-
1 3
nahme von Café und Museumsshop
schließen. »Während ich über meine
Amazon. Das Unternehmen bot 1 | Pächter Schöning die Stiftung: Die 144 Gemälde wür- Ablösung verhandelte, wurde mir die
100.000 Euro, um in dem Schloss vor der Marienburg den nicht länger als Leihgabe zur Ver- Geschäftsgrundlage entzogen«, sagt
2 | Mit Papierstreifen
einen Dreiteiler über das fiktive Elite- versehene Gemälde fügung gestellt, darunter die zuge- Schöning, »der Zeitpunkt sieht
internat Maxton Hall drehen zu dür- im Rittersaal klebten Werke im Rittersaal. Denn nicht wie ein Zufall aus.« Das Minis-
fen. Allein die Eintrittsgelder spülten 3 | Bibliothek des sie gehören dem Land, das sie für terium widerspricht auch hier: »Die
im Erfolgsjahr 2022 mehr als eine Schlosses knapp zwei Millionen Euro vom Erb- Bewertung baurechtswidriger Zu-
Million Euro in die Kasse. Insgesamt prinzen kaufte, als das Schloss an die stände obliegt allein der Bauaufsichts-
habe er 2,2 Millionen Euro Umsatz Stiftung übertragen wurde. behörde.«
gemacht, sagt Schöning. Was wirklich wertvoll war, hatte Der Pächter hat inzwischen die
Mit den Einnahmen finanzierte er schon 2005 das britische Auktions- meisten Mitarbeiter entlassen. Auf-
seine 60 Angestellten und die Un- haus Sotheby’s im Auftrag der Prin- geben will er nicht. Er setzt seine
terhaltung von Gastronomie und zen auf der Marienburg versteigert: Hoffnung ausgerechnet in den Stif-
Schloss. Er ließ ein Brandschutzgut- 20.000 Gemälde, Möbelstücke und tungsvorstand, der im Dezember sein
achten erstellen und die Zufahrt zum royalen Nippes. Der Erlös in Höhe Amt angetreten hat und als eine sei-
Schloss sanieren. An die Stiftung von 44 Millionen Euro versickerte ner ersten Handlungen das Tafelsilber
musste er laut Vertrag 65.000 Euro größtenteils in den Verbindlichkeiten aus dem Schloss holte. In Hannover
Pacht überweisen, zuzüglich einer von Ernst August und seinem Sohn. heißt es, der 71-jährige Rechtsanwalt
Umsatzbeteiligung von fünf Prozent. Die hätten sich über die Jahre auf- suche aber nach einer Lösung, bei der
Das Land verlangte, die Landes- gestaut, erklärte Ernst August junior Schöning Pächter bleiben kann. Al-
museen am Eintrittsgeld zu beteiligen. in einem Interview. lerdings soll er auf einen Großteil des
Den Deal mit Amazon genehmigten Für die übrig gebliebenen Bilder Schlosses verzichten.
die Behörden erst, nachdem Schöning Die Bau­ verlangte das Ministerium Geld. Die Sanierung der Marienburg
eingewilligt hatte, die Hälfte der »Höchst vorsorglich wird darauf hin- blieb unterdessen auf der Strecke.
Einnahmen an Museen und Stiftung
behörde ließ gewiesen, dass das Land Niedersach- Zwei Jahre lang fehlten die Antrags-
abzugeben. nach und sen beabsichtigt, ein Eintrittsgeld zu unterlagen, weil der Stiftung das Geld
Kurz vor der Landtagswahl im nach Räume erheben«, schrieb der Referatsleiter. fehlte, sie vorzufinanzieren. Inzwi-
Herbst 2022 eskalierte der Streit. Die Bilder hängen zwar immer noch schen sind sie komplett. In diesem
Der Referatsleiter und Historiker im für Touristen im Schloss, könnten aber jederzeit Jahr sollen die Bauarbeiter kommen.
Ministerium schickte eine E-Mail an sperren. abgeholt werden. Hubert Gude n

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DEUTSCHLAND

Illustration: Matthias Schardt / DER SPIEGEL


Letzte Stunde
SCHULE Sie fühlen sich gedemütigt, als Versager, verzweifeln an ihrer Berufswahl: Wie das Referendariat
manche angehende Lehrkräfte vergrault – obwohl sie dringend gebraucht würden.

n der letzten Hürde vor ihrem te riesige Prüfungsangst, die ich vor- schuld, mutmaßt das Ministerium in
A Traumberuf ist Maline Vogt,
29, gescheitert: am Referenda-
riat. Ihr Lehramtsstudium hatte sie
her nie gehabt hatte«, sagt sie. Wieder
brach sie ab. Und damit fehlte wieder
eine Lehrkraft mehr.
Magdeburg: »Die Schulen waren
noch unsicher im Umgang mit Coro-
na und suchten nach Wegen, den
in Norddeutschland absolviert. An- Dass jemand den Vorbereitungs- Unterricht zu sichern, es wurde vieles
schließend sollte sie sich anderthalb dienst – nach dem Studium die zwei- ausprobiert und wieder verworfen«
Jahre lang an einer Schule bewähren, te Phase der Lehrerausbildung – ab- – das könnte zur hohen Abbruchquo-
sich begutachten und prüfen lassen. bricht, ist nicht die Regel. Die Quote te beigetragen haben. Etliche weitere
Erst danach gilt die Lehrerausbildung liegt unter zehn Prozent, wie eine Bundesländer erheben keine Zahlen.
als abgeschlossen. »Das war die Höl- Umfrage des SPIEGEL unter den Kul- Das alles klingt nach einem eher
le«, sagt Vogt, die ihren richtigen Na- tusministerien ergab. Im Längsschnitt kleinen Problem. Doch der Lehrer-
men nicht in den Medien lesen will. zeigten sich die Zahlen stabil, heißt mangel ist groß. Und wer um die im-
»Der Druck war so groß, dass ich ihn es aus dem Schulministerium in Düs- mensen Anstrengungen der Bundes-
schließlich nicht mehr aushalten seldorf. »Die Abbruchzahlen liegen länder weiß, neue Fachkräfte zu fin-
konnte.« bei 4 bis maximal 6 Prozent.« den, Quereinsteiger, Seiteneinsteiger,
Sie habe unter Kopf- und Bauch- Brandenburg und Thüringen mel- wen auch immer, der muss sich fra-
schmerzen gelitten, sei mitunter tage- den für das Schuljahr 2021/22 jeweils gen: Können die Schulen es sich leis-
lang vor Erschöpfung nicht aus dem 3,9 Prozent Abbrecher. Schleswig- ten, dass jedes Jahr viele tausend jun-
Bett gekommen. »Wenn ich morgens Holstein berichtet von Schwankun- ge Menschen so kurz vorm Ziel schei-
in die Schule musste, war mir übel.« gen zwischen 4 und 8 Prozent in den tern? Muss das sein?
Nach sechs Monaten habe sie, völlig vergangenen Jahren. Niedersachsen Wie viele potenzielle Lehrerinnen
eingeschüchtert, mit dem Gefühl ge- schreibt, die Zahlen würden nicht er- und Lehrer den Schulen verloren ge-
kündigt: »Ich schaffe das nicht.« fasst, seien aber »äußerst gering«. hen, weiß Mark Dengler nicht. Er ist
Sechs Jahre ist das her. In Sachsen-Anhalt haben 6,8 Pro- stellvertretender Bundesvorsitzender
Gerhard Kind

Vor fünf Jahren startete sie einen zent der Referendarinnen und Refe- des Bundesarbeitskreises Lehrerbil-
zweiten Anlauf, ging erneut ins Refe- rendare des Jahrgangs 21/22 aufge- dung. Darin haben sich die Ausbilde-
rendariat. »Aber ich war von der ers- geben, mehr als in den Jahren zuvor. rinnen und Ausbilder an den Studien-
ten Erfahrung traumatisiert und hat- Daran sei wohl die Coronapandemie Ausbilder Dengler seminaren zusammengeschlossen,

42 DER SPIEGEL Nr. 4 / 20.1.2024


DEUTSCHLAND

den Ausbildungseinrichtungen für die Refe- »Ich habe mich fürchterlich der Lehrperson wenig bis nichts zu tun ha-
rendare. »Der Datenbestand ist eine Kata- ben«, sagt Dziak-Mahler. Immer wieder wer-
strophe«, sagt Dengler. gefühlt, wie der schlechteste de es persönlich: »Erwachsene werden wie
Er ist sich dennoch sicher, dass das Refe- Lehrer der Welt.« Kinder behandelt – bis hin zu ihrer Kleidung,
rendariat sich nicht wesentlich von anderen die kommentiert wird. Da zeigt der Apparat
Berufen unterscheidet: »Wir verlieren die Simon Sittel, Referendar seine ganze Macht.« Konsequenzen für die
Leute nicht im Referendariat, wir verlieren Bewerter habe eine solch schlechte Betreuung
sie vorher.« Die Aussteigerquoten zwischen in der Regel nicht.
Studienanfang und Studienende seien höher Es gebe zwar eine Reihe von Ausbildern,
als im Vorbereitungsdienst. Zuletzt lagen sie Schilderungen wie diese hat Myrle Dziak- die versuchten, substanziell etwas zu verbes-
laut dem Deutschen Zentrum für Hochschul- Mahler immer wieder gehört. »Ich nehme das sern. Doch in der Zeit des Referendariats, sagt
und Wissenschaftsforschung bei zehn Pro- Referendariat häufig als völligen Anachronis- Dziak-Mahler, werde von den angehenden
zent. Trotzdem ist klar: In Zeiten des Lehr- mus wahr«, sagt die Bildungswissenschaftle- Lehrkräften »eine riesige Anpassungsleistung
kräftemangels ist jeder Abbruch einer zu viel. rin, die zwischen 2011 und 2021 das Zentrum ans bestehende System« verlangt – mit der
Johannes Bergfeld, der seinen richtigen für LehrerInnenbildung an der Uni Köln ge- Folge, dass auch begabte und geeignete Kan-
Namen ebenfalls nicht veröffentlicht sehen leitet hat. Sie hat zahlreiche angehende Lehr- didaten vertrieben werden.
will, hat bis zum vergangenen Jahr in einem kräfte begleitet. Simon Sittel hatte den perfekten Lebens-
westdeutschen Bundesland als Referendar Die zweite Phase der Lehrkräfteausbil- lauf für den Schuldienst. Er ist ausgebildeter
gearbeitet, unter anderem für das Fach Ma- dung, sagt Dziak-Mahler, habe ein System- Erzieher, drei Jahre lang arbeitete er mit trau-
thematik. Es war die »schlimmste Zeit meines problem: Das Referendariat sei »vor allem matisierten Jugendlichen in einem Kinder-
Lebens«, sagt er. Zugesetzt hätten ihm »der eine Zementierung des Alten« und verhinde- heim, dann wollte er Lehrer werden. An der
Druck durch Unterrichtsbesuche, ständige re Innovation an den Schulen. »Es geht um Universität Kassel belegte er die Fächer Poli-
Bewertung durch Schulleitung und Ausbil- alte Methoden, es geht um das Fachlehrer- tik und Wirtschaft sowie Arbeitslehre, um
dungsstelle und die tägliche Kritik an der prinzip ohne Blicke nach rechts oder links, es damit an Haupt- und Realschulen zu unter-
eigenen Person und Persönlichkeit«. geht um den 45-Minuten-Rhythmus« – alles richten, »auch an eine Förderschule wäre ich
Wiederholt habe er vernichtendes Feed- Regelungen, die im Alltag etlicher Schulen gern gegangen«, sagt Sittel. Sätze, die Bil-
back erhalten: »Das kannst du so doch nicht längst überholt seien. »Nur in der zweiten dungspolitiker selten hören. »Das Studium
unterrichten. Was hast du dir dabei gedacht?« Phase der Lehrerausbildung wird das oft noch war eine tolle Zeit«, sagt Sittel. »Ich hatte das
oder »Vielleicht solltest du dir überlegen, ob aufrechterhalten.« Gefühl: Hier bist du richtig.«
der Lehrberuf wirklich was für dich ist«. Angehende Lehrkräfte kämen auch mit Es ging ihm gut, bis er Ende 2020 sein Re-
Natürlich habe er auch kritikwürdige Stun- frischen didaktischen Ideen und Experimen- ferendariat an einer Gesamtschule in Darm-
den gehalten, aber die negative Rückmeldung tierfreude aus der Uni, müssten dann aber bei stadt begann: »Ich habe von Anfang an einen
sei erdrückend gewesen – selbst nach gelun- den Unterrichtsbesuchen altbackene Stun- wahnsinnigen Druck gespürt.« Die Schule
genen Stunden. »Mehrere meiner Unter- denkonzepte vorführen. »Da werden im We- habe seine Arbeitskraft dringend gebraucht.
richtsbesuche wurden mit ›gut‹ bewertet, sentlichen Schaustunden abgehalten, die mit Wegen der Coronapandemie stand Wechsel-
nach den Nachbesprechungen hatte ich den- der Realität der Schule und der Persönlichkeit unterricht auf dem Plan, eine Ausnahmesitu-
noch das Gefühl, nichts auf die Kette zu be- ation für Kinder und Lehrkräfte. »Alle haben
kommen«, sagt er. »Das Gefühl, ein Versager gekämpft, und ich fühlte mich komplett allein-
zu sein, war allgegenwärtig.« Bildungslücke gelassen.« Die Unterrichtsbesuche, insgesamt
Maline Vogt berichtet Ähnliches. Etwa ein- acht, habe er unter allen Umständen durch-
mal pro Monat habe ein Fachleiter ihren Prognose zum Lehrkräftemangel und ziehen müssen. »Auch wenn ich eine halbe
-überschuss in Deutschland, in Tausend
Unterricht begutachtet, sagt sie, der Mann Klasse vorher durch die Lockdownsituation
habe sie nur kleingemacht. So sei sie den 0
nur einmal gesehen hatte, ich kannte die Kin-
Schülerinnen und Schülern freundlich und der zum Teil überhaupt nicht.«
fröhlich begegnet, doch genau das habe der Er habe versucht, das Beste rauszuholen,
Fachleiter moniert: »Hören Sie auf zu lächeln, –10
sagt Sittel. »Mein Gefühl war ganz positiv.«
wir machen keine Werbung für Zahnpasta.« In den anschließenden Reflexionsgesprächen
Oder: »Freundlich sein können Sie in der habe es nur Kritik gehagelt. »90 Minuten lang
Grundschule, aber nicht hier am Gymna- –20 2023 fehlten rund 20.640 Lehrkräfte wurde mir gesagt, wie schlecht ich war. Ich
sium.« So erinnert sich Vogt. wurde regelrecht in der Luft zerrissen.« Da-
Sie habe sich dem Mann ausgeliefert ge- 2023 2025 2027 2029 2031 2033 2035
nach sei er am Boden zerstört gewesen. »Ich
fühlt. Die Unterrichtsbesuche, bei denen er habe mich fürchterlich gefühlt, wie der
allein mit im Klassenraum saß, seien zwar Neuabsolventen des Vorbereitungsdienstes, schlechteste Lehrer der Welt.«
nicht benotet worden, dennoch habe sie sich in Tausend* Zugleich habe er an anderer Stelle, im Kol-
stets wie in einer Prüfung gefühlt. legium und auch aus der Schülerschaft, immer
Bei Johannes Bergfeld führte der Stress 30 wieder gehört, er habe eine »tolle Lehrer-
dazu, dass er morgens schlechter aus dem Bett persönlichkeit« und einen »guten Draht zu
kam, verschlief, dadurch noch mehr Stress den Kindern«, sagt Sittel. »Irgendwann habe
hatte und sich noch stärker als Versager fühl- 20 ich meinem eigenen Bauchgefühl nicht mehr
te, wie er erzählt. »Ich merkte, wie mir mei- getraut.«
ne Beziehung entglitt, da ich keine Kraft für In Niedersachsen wollten elf Referenda-
quality time mit meiner Freundin hatte.« Der 10 rinnen und Referendare die mutmaßlichen
Druck habe zu Potenzproblemen geführt, die Missstände nicht länger hinnehmen. Im Som-
Partnerschaft zerbrach. Nur eine gelungene mer 2023 wandten sie sich gegen das Studien-
Mathematikstunde habe ihm am Ende des 0 seminar Oldenburg. Ihre Sammelbeschwerde
Referendariats das zweite Staatsexamen ge- 2010 2015 2020 ging an das Regionale Landesamt für Schule
rettet, sagt Bergfeld, »sonst wäre ich in eine * 2010 und 2011 ohne Berlin und Bildung Osnabrück sowie das nieder-
Depression abgerutscht«. S Quelle: KMK sächsische Kultusministerium. Darin prangern

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DEUTSCHLAND

sie unter anderem »intransparente richtete er an einer privaten Montes-


Bewertungskriterien« sowie eine sorischule. Ohne Referendariat kann
»hohe mentale Belastung« an. Sittel nicht verbeamtet werden – leh-
Die lokale Presse griff das Thema ren darf er an deutschen Schulen
auf, die zuständigen Stellen gerieten trotzdem, als Vertretungslehrkraft
unter Druck. Die Leiterin des Stu- mit befristeten Arbeitsverträgen. Sit-
dienseminars äußert sich auf Anfrage tel hat den Spaß am Beruf zurück-

Illustration: Matthias Schardt / DER SPIEGEL


nicht persönlich dazu. Die Pressestel- gewonnen und nun einen neuen An-
le erklärt, man habe kurzfristig eine lauf gewagt. Seit drei Monaten ist er
regelmäßige Vor-Ort-Beratung für wieder Referendar. »Ich fühle mich
Referendare angeboten und weitere gestärkt. Diesmal wird es klappen.«
Maßnahmen eingeleitet. Vom Kultus- Bei Johannes Bergfelds Berichten
ministerium heißt es, die Vorwürfe vom Referendariat ist Erleichterung
würden »sehr ernst« genommen, die darüber zu spüren, dass er durchge-
Dienst- und Fachaufsicht prüfe die halten hat und nun Lehrer ist: »Ich
Kritik. Einige Vorwürfe werden zu- liebe diesen Beruf.« Er schaffe es pro-
dem juristisch aufgearbeitet, es läuft blemlos, morgens um fünf aufzuste-
ein Klageverfahren. Zu Details will vorbereitet und bräuchten Lernzeit hen, um zur Schule zu pendeln, »ich
sich das Ministerium nicht äußern. in der Praxis: »Die kommen von der gehe gerne in meine Klassen, bin ent-
Einige Referendarinnen und Refe- Uni und sind erst mal Theoretiker.« spannt und zufrieden mit mir«. Aber
rendare, die am Studienseminar Ol- Die Zeit zum Lernen gebe es aber es gebe auch die Traurigkeit: »Leider
denburg für gymnasiales Lehramt nicht – schon gar nicht, wenn die kann ich meiner Ex-Freundin nicht
ausgebildet wurden, haben den Ver- Neuen ab dem ersten Tag in der Schu- zeigen, dass ich aus dem tiefen dunk-
ein »Rettet das Ref« gegründet. Refe- le bewertet und unter Leistungsdruck len Loch, das sich Referendariat nennt,
rendare hätten bisher keine Lobby, gestellt würden. herausgefunden habe.«
kritisieren sie auf ihrer Website. Auf Simon Sittel wurde immer unsi- Maline Vogt dagegen hat abge-
dem Portal »RefStimmen« können cherer, zog sich zurück, wie er er- schlossen mit ihrem einstigen Wunsch-
Betroffene nun anonym von ihren Er- zählt. »Ich hatte keine Energie mehr, beruf. Einen dritten Anlauf für ein
lebnissen berichten. Rund 30 Texte Unterricht vorzubereiten – weil ich Referendariat werde sie nicht unter-
sind bisher online. Zu lesen ist etwa, dachte, dass ich es ohnehin nicht gut nehmen. »Ich will nie wieder diesem
dass ein Fachleiter seine Nachbespre- mache.« Sittel verlor drastisch an Ge- System aus Willkür und Ungerechtig-
chungen breit grinsend als »Piranha- wicht, sein Vater redete ihm schließ- keit ausgeliefert sein.« Und da sind
Gespräche« bezeichnet habe, weil lich ins Gewissen, dass es so nicht diese Sätze, die bei ihr hängen geblie-
sich alle auf den Referendar stürzten weitergehen könne. ben sind: Ein Fachleiter habe gesagt,
und am Ende nur das Gerippe übrig Wer im Referendariat in eine Kri- der Umgang mit Referendaren sei nun
bleibe: »Es erübrigt sich zu sagen, se rutscht, könnte sich professionelle mal »defizitorientiert«. Und: Im Refe-
dass es auch so war.« Überprüfen las- Hilfe suchen, sich einer Therapeutin rendariat werde die Persönlichkeit
sen sich die Schilderungen nicht. oder einem Therapeuten anvertrau- eines Menschen zerstört, um sie da-
Dass es Druck gibt in der zweiten en. »Viele haben Angst, dass sie des- nach neu aufzubauen. Es habe ein
Ausbildungsphase, bestreitet Mark halb ihre Verbeamtung riskieren«, Witz sein sollen. Sie fand die Bemer-
Dengler vom Bundesarbeitskreis sagt Georg Hoffmann, Vorsitzender kung treffend.
Lehrerbildung nicht. Er sieht das Pro- der Jungen Philologen, der Jugend- Nach ihrer Kündigung arbeitete
blem jedoch auch in den Vorgaben: abteilung der Vertretung für Lehr- Vogt anderthalb Jahre in Vollzeit als
»In ganz vielen Bundesländern sind kräfte am Gymnasium. »Das Gerücht angestellte Lehrkraft mit Klassenlei-
die Referendare vom ersten Tag an hält sich hartnäckig.« Tatsächlich sei tung und Oberstufenunterricht an
eigenverantwortlich für Unterricht die Lage anders. »Hat jemand eine einer Privatschule in Nordrhein-West-
zuständig, inklusive Klassenarbeiten »Ich nehme psychische Krise überwunden oder falen. »Dort konnte ich endlich die
und versetzungsrelevanter Noten.« das Referen- gilt als medikamentös gut eingestellt, Lehrerin sein, die ich sein wollte.« Sie
Die Neuen müssten die Lücken in der ist das für den Amtsarzt kein auto- kündigte trotzdem, da eine langfris-
Unterrichtsversorgung stopfen und dariat häufig matisches Ausschlusskriterium für tige Beschäftigung ohne zweites Exa-
würden nicht als Lernende gesehen. als völligen eine Verbeamtung.« men nicht möglich gewesen sei. In
Das sei ein »Unding«, sagt Dengler. Allerdings werde die Krankenver- ihrem hervorragenden Arbeitszeugnis
»Kein Auszubildender im Handwerk
Anachronis- sicherung oft teurer, wenn eine psychi- ist von ȟberdurchschnittlichen Leis-
muss vom ersten Tag eine Baustelle mus wahr.« sche Erkrankung in der Krankenakte tungen« die Rede, von »außerordent-
selbstständig organisieren und dafür Myrle Dziak-Mahler, stehe. »Die privaten Krankenversi- lich guten fachlichen Grundlagen«,
die Verantwortung übernehmen.« Wissenschaftlerin cherer erheben dann einen Risiko- von einem »klar gegliederten, niveau-
Anders als im Handwerk fehlen zuschlag«, sagt Hoffmann, das scheu- vollen und leistungsorientierten
beim Vorbereitungsdienst für die ten viele. Er hält das für fatal. »Der Unterricht« sowie einem »respektvol-
Lehrkräfte bundesweit einheitliche Druck, den junge Menschen im Re- len und freundlichen Miteinander«
Standards. In manchen Bundeslän- ferendariat spüren, ist meist eine im Klassenraum. Mit großem Bedau-
dern dauert das Referendariat 12 Mo- vorübergehende Erscheinung.« Im ern nehme man ihre Kündigung an.
nate, in den meisten 18, in einigen schlimmsten Fall breche jemand das Vogt hat sich nun in einer anderen
24 Monate. »Wer die zweite Phase Referendariat ab, »obwohl man ihm Branche selbstständig gemacht, sie
mit weniger als 24 Monaten ansetzt, oder ihr sehr leicht hätte helfen kön- sei glücklich damit, sagt sie. »Nur
nimmt Abstriche bei der Qualität in nen«, sagt Hoffmann. wenn ich das Wort ›Lehrermangel‹
Manfred Esser

Kauf«, sagt Dengler. Die Absolven- Simon Sittel zog nach neun Mona- höre, dann flippe ich aus.«
tinnen und Absolventen der Studien- ten die Reißleine und kündigte. Nach Silke Fokken, Armin Himmelrath,
gänge seien auf den Schulalltag kaum einer mehrmonatigen Auszeit unter- Miriam Olbrisch n

44 DER SPIEGEL Nr. 4 / 20.1.2024


PSYCHOLOGIE
REPORTER
»Verbessern Verbote
die Welt,
Professor Pfister?«
SPIEGEL: Immer mehr Politiker
befürworten ein Verbotsver-
fahren gegen die AfD. Halten
Jendrich (2. v. l.), Hillary (M.) Sie das für ein gutes Mittel, um
die Demokratie zu schützen?
Pfister: Wenn ich »Verbote«
höre, dann gehen bei mir als
Psychologe sofort die Alarm-
glocken los. Verbote sind ein
zweischneidiges Schwert. Wenn
man Verbote im Alltag aus-
spricht, erreicht man ganz oft
das Gegenteil von dem, was
man eigentlich erreichen wollte.
SPIEGEL: Warum?
Pfister: Weil durch ein Verbot
für uns zunächst einmal das
nicht gewünschte Verhalten prä-
sent wird und wir erst im zwei-
ten Moment darüber nachden-
ken, dass wir das nicht dürfen.
Wenn mir also jemand sagt, du
darfst nicht rauchen, denke ich
erst mal übers Rauchen nach.
Ich aktiviere in meinem Kopf
also das verbotene Verhalten;
Privat

erst im zweiten Schritt beginne


ich, dagegen zu arbeiten.
SPIEGEL: Das heißt, Verbote

Mount Everest, 1989 können uns auf Abwege führen?


Pfister: Grundsätzlich ja, aber
meistens sind Verbote mit Sank-
tionen und Strafen verbunden.
FAMILIENALBUM Manfred Jendrich, 72, aus Selm Und das hilft uns dann, stärker
dagegen zu arbeiten. Unser Pro-

D as Foto ist 1989 nach einer Bergtour im


Himalaja-Gebirge aufgenommen worden.
Es zeigt meine drei Freunde und mich mit
Sir Edmund Hillary, den Erstbesteiger des Mount
kommen. Eigentlich eine verrückte Idee, die uns
aber nicht mehr aus dem Kopf ging.
Unsere Tour begannen wir auf rund 2850 Me-
ter Höhe in Lukla, damals der gefährlichste Flug-
blem ist, dass wir mit dem Wort
»nicht« nicht umgehen können.
Unser Gehirn braucht Dinge,
die vorstellbar sind. Ein Verbot
Everest zusammen mit Tenzing Norgay. Die Ge- hafen der Welt, mit einer Schotterpiste, die in sagt ja nicht, was man stattdes-
schichte dieses Bildes begann Anfang der Achtzi- einem Steilhang endete. Von Lukla aus ging es sen tun soll, und das erzeugt in
gerjahre, als meine Freunde und ich beschlossen, dann in Begleitung eines Sherpa mehrere Tage unserem Gehirn eine Leere, die
zusammen wandern zu gehen. Unsere Frauen lang auf etwa 3900 Meter. Als wir nach Lukla zu- nicht gefüllt werden kann. Man
waren einverstanden, manche von uns mussten rückkehrten, war unser Rückflug nach Kathman- kommt auf dumme Gedanken.
sich ihre Kniebundhosen noch leihen, dann gin- du wegen schlechten Wetters abgesagt worden. SPIEGEL: Gibt es Alternativen?
gen wir für eine Woche auf unsere erste gemein- Wir mussten über Nacht bleiben. Am nächsten Pfister: Aus psychologischer
same Bergtour ins Karwendelgebirge. Es hat uns Morgen erfuhren wir, dass sich Sir Edmund Hillary Sicht sind Gebote immer besser
so gut gefallen, dass wir danach jedes Jahr eine im Anflug auf Lukla befand. Als er aus dem Hub- als Verbote, weil Gebote ein ge-
Bergtour zusammen machten; immer im frühen schrauber stieg, konnten wir kurz mit ihm spre- wünschtes Verhalten beschrei-
Herbst, vier Männer, mal einer mehr, mal einer chen. Ich bat ihn um ein Autogramm, das erste und ben und viel motivierender
weniger. Wir haben zusammen wunderbare einzige in meinem Leben, und wir machten ein wirken. Wenn wir etwa im Stra-
Gebirgslandschaften erkundet, die Zillertaler Foto, danach flogen wir nach Deutschland zurück. ßenverkehr Schilder hätten,
Alpen, das Allgäu, die Dolomiten, die Tegernseer Als 2008 Sir Edmund Hillary starb, wurde der auf denen steht, was erlaubt ist,
Berge und die Lechtaler Alpen, alles ein paar Flughafen Lukla in Tenzing-Hillary-Airport umbe- würden sich mehr Menschen
Hundert Kilometer von zu Hause entfernt. nannt und hat inzwischen eine asphaltierte Start- an die Straßenverkehrsordnung
Zu den Touren gehörten aber auch die Abende und Landebahn. Aber niemand von uns kam auf halten. MAH
auf den Hütten. Wir aßen deftig und belohnten die Idee, noch einmal dorthin zu fliegen. Der
uns auch mal mit einem leckeren Roten. Es wurde Mount Everest war für immer in unseren Köpfen. Roland Pfister,
Universität Würzburg

immer sehr lustig, und an einem dieser Abende Aufgezeichnet von Marc Hujer 37, forscht
hatte einer von uns die Idee, mal nach Nepal zu als Psychologe
‣ Sie haben auch ein Bild, zu dem Sie uns
fliegen, um den Mount Everest zwar nicht zu Ihre Geschichte erzählen möchten? an der Universität
besteigen, aber ihm doch so nahe wie möglich zu Schreiben Sie an: familienalbum@spiegel.de Trier.

46 DER SPIEGEL Nr. 4 / 20.1.2024


legt, wie er sich weiter in der freiwil-
ligen Feuerwehr engagieren könnte,
wenn er querschnittsgelähmt wäre.

Stärker als Strom Die Ärzte schnallten seinen Kopf


in ein Gestell aus Stangen und Schrau-
ben, damit die Wirbel in Ruhe heilen
würden. Über Monate sollte er das
EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE Einen Feuerwehrmann trifft der Blitz. tragen. »Aber dann habe ich geniest,
Er bleibt unverletzt. Es war nicht das erste Mal, dass er großes Glück hatte. und die Schrauben sind rausgebro-
chen«, erzählt Gollin. In einer Ope-
ration versteiften die Ärzte vier seiner
n einem Mittwoch im Septem- 2014 machte Sebastian Gollin, der Für ihn Wirbel. »Kopfschütteln geht nicht
A ber des vergangenen Jahres zog
ein Unwetter über Bad Mün-
der, Niedersachsen. Der Regen spül-
eigentlich Berufsschullehrer für an-
gehende Metallbauer ist, mit seiner
Familie und einigen Freunden eine
scheint das
Unwahr-
mehr, Nicken auch nur sehr einge-
schränkt.« Wenn Sebastian Gollin
wissen will, was neben oder hinter
te die Erde der Felder auf die Straßen. Fahrradtour am Steinhuder Meer. Sie scheinliche ihm passiert, muss er sich mit dem
Der Schlamm verstopfte Abflüsse und saßen im Biergarten, tranken und ganzen Oberkörper drehen.
lief in die Keller. Es stürmte. Am Him- aßen und machten sich danach auf generell wahr- Seit dem Unfall soll er nicht mehr
mel wechselten sich Blitz und Donner den Weg zurück nach Hause. Gollin, scheinlicher Ski fahren oder vom Dreimeterbrett
ab. Während die Feuerwehrleute so erzählt er, überholte seine Tochter ins Wasser springen. Aber die Arbeit
überall in der kleinen Stadt pumpten links mit dem Rad und übersah, dass zu sein als für in der Schule und sein Ehrenamt
und schippten, traf Sebastian Gollin, jemand von der rechten Seite kam. andere. bei der Feuerwehr konnte er weiter-
ein Mann von 1,90 Metern, seit sechs Als er sich wieder einordnen wollte, machen.
Jahren stellvertretender Stadtbrand- stieß sein Hinterrad mit dem Vorder- Neun Jahre später, während sich
meister, der Blitz. rad des anderen zusammen. Beide draußen immer noch Regenmassen
Sebastian Gollin war schon seit stürzten, und Sebastian Gollin flog über Bad Münder ergossen, lag Se-
einigen Stunden im Einsatz gewesen, mit dem Kopf auf einen Stein. bastian Gollin wieder in der Notauf-
als er im Ortsteil Eimbeckhausen Seine Erinnerung setzte wieder nahme. »Der linke Arm tat tierisch
ankam. Als Stadtbrandmeister über- ein, als ganz viele Leute um ihn he- weh«, sagt er. »Aber das war es.« Die
blickt und koordiniert er die Einsätze. rumstanden. Seine Frau habe noch Ärzte prüften Herztöne und Blutwer-
Er fährt zu den Feuerwehrleuten und gescherzt, er solle sich nicht so an- te. Alles in Ordnung.
prüft, ob sie Verstärkung brauchen, stellen und wieder aufstehen. »Aber Vom Blitz getroffen zu werden ist
mehr Einsatzkräfte oder anderes ich habe gemerkt, dass da irgendetwas unwahrscheinlich. Einen Blitzschlag
Gerät. In dieser Nacht, so erzählt er nicht stimmt im Nacken«, sagt er. Die zu überleben hingegen gar nicht. Die
es am Telefon, hatte er sein Auto an Sanitäter kamen und legten Gollin auf Allerwenigsten sterben. Trifft ein
einer Kreuzung geparkt, die wegen eine Vakuummatratze. Die Matratze Blitz auf einen Menschen, fließt elek-
der Schlammmassen unbefahrbar stützt den Körper, sodass er sich nicht trischer Strom durch den Menschen
war. Seine Kameraden waren vor Ort. bewegen kann und Erschütterungen hindurch. Die Hitze kann die Haut
Alles in Ordnung. Zu Fuß ging er mit beim Fahren der Wirbelsäule nicht verbrennen und manchmal sogar Or-
Regenschirm und Taschenlampe zu schaden. Im Krankenhaus sagten ihm gane schädigen. Im schlimmsten Fall
zwei weiteren Einsatzstellen, aber die Ärzte, dass er sich den obersten löst der Blitz Herzrhythmusstörun-
auch hier: alles in Ordnung. Halswirbel gebrochen hatte. gen aus, die tödlich sind. Aber Sebas-
Zurück auf der Kreuzung, verab- Halswirbelbrüche sind selten. Eine Gollin vor einem tian Gollin hatte: fast nichts.
schiedete er sich von seinen Kollegen. Jefferson-Fraktur, ein mehrfacher Auto der Feuerwehr, Eine Nachwirkung ereilte ihn dann
Schlagzeile
Dann knallte es. Bruch des ersten Wirbels, wie es Gol- von der Website
aber doch noch. »Wochenlang hatte
Als der Knall verhallt war, so er- lin passierte, erst recht. Noch im der »Berliner ich den schlimmsten Muskelkater
innert Gollin sich, bückte er sich nach Krankenhaus habe Gollin sich über- Morgenpost« meines Lebens«, sagt er. »Und ich
seinem Regenschirm und sammelte laufe Halbmarathon.« Vielleicht war
die Taschenlampe ein. Warum er bei- es die Feuerwehrkleidung, die ihn
des nicht mehr in den Händen hielt, schützte. Vielleicht die dicken Sicher-
verstand er nicht. Er sagte den Kame- heitsschuhe. Vielleicht war es Zufall.
raden noch mal Tschüss und ging zu Glück. Schicksal?
seinem Auto. Wo er denn hinwolle, Schon zweimal ist es für Sebastian
fragte einer. »Zum nächsten Einsatz- Gollin glimpflich ausgegangen. Fängt
ort, habe ich doch gesagt«, habe Gol- man nach solchen Erlebnissen an zu
lin geantwortet. »Du gehst nirgend- glauben? An Gott oder einen beson-
wohin. Dich hat gerade der Blitz ge- ders engagierten Schutzengel? »Nee«,
troffen«, habe einer gesagt. Ein Blitz? sagt Gollin und druckst ein wenig
Durch ihn hindurch? Sebastian Gollin herum, »Ich hatte einfach zweimal
merkte in diesem Moment davon: verdammtes Glück.« Ist der ein
nichts. Glückspilz, der Glück im Pech hat?
In Deutschland ist es wahrschein- Oder der, der das Glück gar nicht erst
licher, sechs Richtige im Lotto zu tip- braucht?
pen, als von einem Blitz getroffen zu Sebastian Gollin weiß um die
Privat

werden. Aber für Sebastian Gollin Wahrscheinlichkeiten. Er spielt seit


scheint das Unwahrscheinliche gene- Jahren Lotto. Da wartet er noch auf
rell wahrscheinlicher zu sein als für sein Glück.
andere. Julia Kopatzki n

Nr. 4 / 20.1.2024 DER SPIEGEL 47


REPORTER

D E R K L I N S I N AT O R
NEUANFÄNGE Jürgen Klinsmann, der Deutschland das Sommermärchen bescherte, aber als Vereinstrainer
scheiterte, soll die Nationalmannschaft von Südkorea zur Asienmeisterschaft
führen. Kann er den Fußball eines Landes reformieren, das er kaum kennt? Von Marc Hujer

ls Jürgen Klinsmann die neonhelle Lob- nerteam weiß, wer wann nachts im Neben- auch den Erfolg. Denn am Ende, sagt Klins-
A by des Paju National Football Center zimmer auf die Toilette geht, wer vor dem mann, zähle im Fußball immer nur das Er-
nordwestlich von Seoul betritt, geht Schlafengehen gurgelt und bei wem wie lange gebnis, ob man gewinnt oder verliert.
draußen orangerot die Sonne unter. Er hat der Fernseher läuft. Das Erste, was Klinsmann Er hat bis zu diesem Zeitpunkt, Mitte Ok-
gerade eine Trainingseinheit absolviert, zu Paju einfällt, ist die Nähe zur nordkorea- tober in Paju, noch nicht viel gewonnen, von
»Durchschwitzen«, wie er das nennt, »Inter- nischen Grenze, zu Diktator Kim Jong Un sechs Spielen nur ein einziges, ein dürres 1:0
valllauf, anziehen, dann wieder runterkom- und dessen Reich der Finsternis. gegen Saudi-Arabien.
men. Und wenn sich dann mein Blut beruhigt Er schaut nach draußen, zur Sonne. Keine gute Bilanz, auch wenn er das Ge-
hat, wieder anziehen.« »Eine halbe Stunde noch«, sagt er, »dann fühl hat, dass seine Mannschaft sehr gut, bis-
Einmal am Tag macht er das, sonst fühle er ist es stockdunkel, dann ist hier Tristesse.« weilen sogar hervorragend gespielt hat. Vor
sich nicht wohl. Am liebsten trainiere er schon 18 Jahre ist es her, dass Jürgen Klinsmann allem im ersten Spiel gegen Kolumbien. Es
vormittags. Aber heute habe er in einer Sitzung bei der WM 2006 als Trainer von Deutsch- sei »das beste Spiel Südkoreas seit zehn
nach der anderen gesessen, Planungsbespre- lands Fußballnationalmannschaft den Deut- Jahren« gewesen, sagt er, ein einziger Wirbel-
chungen gehabt, dann eine Pressekonferenz schen das Sommermärchen bescherte, den sturm seiner Mannschaft auf das kolumbia-
und sei vorher nicht zum Trainieren gekom- Rausch eines gefühlten Neuanfangs, der seine nische Tor. »Wahnsinn!« Aber wen interes-
men. Er hasst es, wenn er sich eingesperrt fühlt. Landsleute den Alltag vergessen ließ. Klins- siert das, wenn er am Ende nicht gewinnt?
Hinter der Fensterfront liegt der Trainings- manns Optimismus, aber auch sein Mut zur Die Stimmung in Südkorea ist angespannt
platz, für südkoreanische Fußballfans ein Veränderung steckten an, er half den Deut- in diesem Moment, die Medien begannen
magischer Ort. Hier trainierte die südkorea- schen, nicht nur ihren Fußball zu lieben, son- schon an seiner Eignung als Nationaltrainer
nische Nationalmannschaft für die Heim-WM dern ein bisschen auch sich selbst. zu zweifeln, auch der Sieg gegen Saudi-Ara-
2002, die für Südkorea so erfolgreich endete Seit fast einem Jahr ist Jürgen Klinsmann bien in Newcastle, sein allererster, änderte
wie keine andere WM, mit dem Spiel um nun Trainer der südkoreanischen Fußball- zunächst nichts daran. Fans spekulierten so-
Platz drei. Man könnte auch sagen: Paju ist nationalmannschaft. Und wie immer, wenn gar darüber, ob Klinsmann nicht besser nach
ein südkoreanischer Sommermärchenort. er seit jenem Sommer 2006 in Deutschland Deutschland zurückkehre. Dort hatte der
Aber Jürgen Klinsmann schläft hier nicht als Trainer irgendwo verpflichtet wurde, beim DFB gerade Hansi Flick entlassen und war
gern. Die Ausstattung der Zimmer ist nicht FC Bayern, in den USA, bei Hertha BSC, ist auf der Suche nach einem neuen Coach, der
auf dem neuesten Stand, ein »bisserl he- mit seiner Verpflichtung auch die Hoffnung dafür sorgt, dass aus der EM im eigenen Land
runtergekommen« sei alles, wie sein Co-Trai- verbunden, er könne so einen Sommer wie ein Fest wird wie bei der WM 2006.
ner, der Österreicher Andreas Herzog, sagt. damals wiederholen, die Leichtigkeit, das Lä- Aber Klinsmann ist keiner, der gern zu-
Die Wände sind so dünn, dass man im Trai- cheln, das Mannschaftsgefühl, vor allem aber rückkehrt. Klinsmanns Stärke ist der Neu-
anfang, er kann Erwartungen wecken, Men-
schen begeistern, sie aber auch überraschen,
überrumpeln, wenn es sein muss.
Deutschland kennt ihn zu gut. Deutschland
kann er nicht mehr überraschen. Korea und
er dagegen lernen sich gerade erst kennen.
Klinsmann erinnert sich, wie er nach dem
Sieg gegen Saudi-Arabien auf seinem Hotel-
zimmer in Newcastle saß. Er habe eigentlich
gerade ein Bier trinken wollen, auf seinen
ersten Sieg, da habe plötzlich Jerry, sein ko-
reanischer Pressesprecher, vor ihm gestanden.
»Wir müssen reden«, habe Jerry gesagt.
Es ging um das Spiel gegen Wales, das weni-
ge Tage zuvor in Cardiff 0:0 ausgegangen war.
Nach dem Spiel war Klinsmann auf Aaron
Ramsey zugelaufen, den Kapitän der walisi-
schen Nationalmannschaft, und hatte ihn gefragt,
Kwak Dong-Hyuk / Fa2

ob er sein Trikot haben könne, als Geschenk


für einen Bekannten in Los Angeles. Klins-
mann hatte sich offenbar nichts dabei gedacht.
KLINSMANN-FANS IN CHINA Aber die Medien in Südkorea waren ent-
setzt. Wie konnte ihr Nationaltrainer nach

48 DER SPIEGEL Nr. 4 / 20.1.2024


REPORTER

Jun Michael Park / DER SPIEGEL

NATIONALTR AINER
KLINSMANN IN SEOUL

Nr. 4 / 20.1.2024 DER SPIEGEL 49


REPORTER

dem Trikot eines gegnerischen Spielers fra- erwarteten ihn 50 Journalisten, schätzt er. »Mong-gyu, great to see you«, rief Klinsmann
gen? Auf welcher Seite steht er? Und am liebsten wäre er wieder umgekehrt. im VIP-Bereich, so erinnert er sich, »are you
»Du musst unbedingt mit uns nach Korea Gleich die erste Frage, direkt nach dem looking for a coach?«
fliegen«, sagte Jerry, der Pressesprecher in zwölfstündigen Flug von Europa, sei »der volle Habe er natürlich nur »so im Spaß« gesagt,
seinem Hotelzimmer, und für einen Moment Hammer« gewesen, erinnert er sich. Die Me- sagt Klinsmann in Paju.
verstand Klinsmann die Welt nicht mehr. dien, die mit ihrer Kritik dafür gesorgt hätten, Aber der südkoreanische Fußballpräsident
Wegen eines Trikots? dass er hierhergekommen sei und nicht seine sei »ganz versteinert« gewesen.
Jerry erklärte ihm, es sei in Südkorea üb- Termine hätte wahrnehmen können, stellen »Are you serious?«, fragte er.
lich, dass Nationaltrainer mit der Mannschaft ihm die scheinheilige Frage, warum er jetzt Sie verabredeten sich auf einen Kaffee am
nach Hause flögen, um am Flughafen eine hier sei. »Wir haben gehört, dass Sie andere nächsten Tag in Klinsmanns Fifa-Hotel in
Pressekonferenz zu geben. »’ne Pressekonfe- Pläne hatten. Sie wären gern in Europa ge- Doha, sie redeten über dies und das, aber
renz am Flughafen?«, fragte Klinsmann. blieben. Warum haben Sie jetzt Ihre Meinung auch den möglichen neuen Job. Er habe
Er hatte schon Termine in Deutschland geändert?« Er blieb ruhig. Lächeln und Zähne Chung gesagt: »Mong-gyu, mach dir keinen
ausgemacht, Leute erwarteten ihn, er wollte zusammenbeißen, das habe er in England ge- Stress, das war nur im Netten, weil wir uns
Franz Beckenbauer in Salzburg besuchen, lernt, in seiner Zeit als Spieler von Tottenham, so lange kennen. Wenn du meinst, es wäre
und zwischendurch wollte er das Bundesliga- nur nicht beleidigt wirken. »Ja, nur wegen Ih- interessant, lass es mich wissen.«
spiel der Bayern gegen Leverkusen in der nen hab ich meine Meinung geändert«, sagte Man darf nicht so tun, als ob man einen
Allianz Arena sehen, immerhin spielt sein Klinsmann. Er habe zwar das Spiel Bayern Job nötig hat, sonst verliert man seine Un-
wichtigster Abwehrspieler Kim Min-jae als gegen Leverkusen anschauen wollen. »Aber abhängigkeit, bevor die Arbeit begonnen hat.
Innenverteidiger beim FC Bayern München. wenn es so wichtig ist, dass ich hierherkomme, Unabhängig zu bleiben, darauf ist Klinsmann
»Wir haben doch gerade eine Pressekonferenz und ich krieg dann so einen Empfang, obwohl immer bedacht.
nach dem Spiel gehabt«, sagte Klinsmann. wir nix gewonnen haben, nur ein Freund- Ein paar Wochen später habe ihn Chung
Aber Jerry stand noch immer in seinem Zim- schaftsspiel, dann komme ich gern her.« Er tatsächlich angerufen. »Ja, wir sind sehr in-
mer. »Das kommt aber nicht gut, wenn du lächelt noch einmal, wenn er sich daran erinnert. teressiert«, sagte er. So sei das alles entstan-
jetzt nicht mit nach Korea kommst«, sagte er. »Voll geradeaus rein!«, sagt er in seinem den, sagt Klinsmann. Aus einem Spaß.
Als Klinsmann Ende Februar zum Natio- Stuhl im Trainingszentrum von Paju.
naltrainer ernannt wurde, war er von einem Bevor ihn der südkoreanische Fußballver- r wurde schon häufiger als Chefcoach
Tag auf den anderen ein südkoreanisches
»Vorzeigegesicht«. So nennt er das. Er ge-
hörte zu den Honoratioren eines Landes, das
band verpflichtete, hatte Klinsmann drei Jahre
lang keinen Trainerjob. Im Februar 2020 war
er nach nur 76 Tagen als Chefcoach des dama-
E verpflichtet, wenn sich etwas verändern
musste. Die deutsche Nationalmann-
schaft übernahm er nach dem frühen Aus-
er kaum kannte, und sollte sich an Regeln ligen Bundesligavereins Hertha BSC verschwun- scheiden bei der Europameisterschaft 2004
halten, die er nicht immer verstand. den. Zuletzt war er bei der Fußballweltmeis- in Portugal, das US-Team 2011 nach einer
Wenn er selbst sein Wissen über Südkorea terschaft in Katar in einer Doppelrolle unter- Finalniederlage beim Gold Cup gegen Mexi-
beschreibt, verweist er zuallererst auf die wegs, als BBC-Kommentator und Mitglied der ko und Hertha BSC 2019, als der Verein ab-
Wochen, die er hier 2017 mit seinem Sohn sogenannten Technical Study Group der Fifa, zusteigen drohte. Die Erwartungen sind hoch,
Jonathan herumgereist ist, der mit der ame- die aus den Spielstatistiken Erkenntnisse über aber das stört ihn nicht.
rikanischen U-20-Nationalmannschaft um das moderne Fußballspiel herzuleiten versuchte. Er kommt dann, filmheldenreif, und stellt
den Weltmeistertitel spielte. Und dass er hier Er besuchte dort viele Spiele, und bei Großes in Aussicht. »Wenn wir es bei der WM
1988 bei den Olympischen Spielen als aktiver einem der Viertel- oder Halbfinalspiele traf nur bis ins Achtelfinale schaffen, fliege ich
Spieler war, in jenem Jahr, in dem er auch er im VIP-Bereich Chung Mong-gyu, Mitglied nicht heim und lasse mich feiern«, sagt Jürgen
zum Fußballer des Jahres gewählt wurde. Was der Hyundai-Familie und Präsident des süd- Klinsmann über seine Erwartungen mit Süd-
er sonst über Korea weiß, weiß er von seinem koreanischen Fußballverbands. korea. Erfolg sei für ihn nur das Halbfinale,
Dolmetscher und seinem Fahrer. Südkorea war zuvor gegen Brasilien aus- mit anderen Worten: Südkorea unter den vier
Über das Hierarchiedenken der Koreaner geschieden, und Südkoreas Nationaltrainer besten Mannschaften der Welt. Daran müsse
etwa oder die Kaffeekultur eines Landes, des- Paulo Bento hatte seinen Rücktritt erklärt. man sich in Korea gewöhnen, sagt er. Er nennt
sen Bürger er eigentlich für Teetrinker ge- das einen wichtigen »Gedankenprozess«.
halten hatte. Er weiß, dass es in Südkorea in Zwei Tage nach dem Treffen im Trainings-
jedem Restaurant Kimchi als Vorspeise gibt, center von Paju sitzt er in der Lobby eines
fermentierten Chinakohl, egal ob man beim Hotelkomplexes am Bahnhof Yongsan im
Franzosen, Japaner oder beim Italiener sitzt. Zentrum der Stadt. Er miete sich hier häufiger
Er weiß auch, dass hier die Älteren das Sagen ein, sagt er, weil man von hier aus nicht nur
haben und auch bei Tisch gilt: »Du rührst dein direkt auf die Autobahn nach Paju fahren
Essen nicht an, bevor der Älteste nicht zu könne, sondern es auch nicht weit zu Präsi-
essen anfängt.« dent Chung sei, dem Fußballpräsidenten. Des-
Er hat schon einige Fremdsprachen gelernt, sen persönliches Büro, sagt Klinsmann, be-
Englisch, Spanisch, Italienisch, Französisch, finde sich über dem Bahnhof Yongsan, nur
aber sein Koreanisch ist bisher noch nicht auf fünf Minuten von hier.
Grundschulniveau. Er nehme zwar Unterricht Am Abend zuvor hat seine Mannschaft
an der Berlitz-Schule, aber er beherrsche bis- 4:0 gegen Tunesien gewonnen, das Fußball-
her gerade einmal 80 Prozent des Alphabets. stadion in Seoul war voll besetzt, die Fans
Chris Noltekuhlmann / DER SPIEGEL

»Jetzt kann ich zwar schon mal ein Wort le- trugen blinkende rote Teufelshörnchen, und
sen«, sagt Klinsmann, »aber ich weiß trotz- eigentlich reichte für die ausgelassene Stim-
dem nicht, was es bedeutet.« mung schon, wenn das Gesicht des einen oder
Vom Verstehen ist er noch weit entfernt. anderen Ersatzspielers groß auf der Stadion-
Aber ist das ein Problem? Kann es nicht sogar leinwand zu sehen war. Es war mehr ein
hilfreich sein, nicht zu viel zu wissen? FREIZEITSPIELER Volksfest als ein Fußballabend.
KLINSMANN
Als Klinsmann nach dem Ärger um Ram- Und dann auch noch dieses 4:0, der erste
seys Trikot in Seoul aus dem Flugzeug stieg, klare Sieg mit Klinsmann als Coach.

50 DER SPIEGEL Nr. 4 / 20.1.2024


REPORTER

Eigentlich ein Befreiungsschlag.


Aber Klinsmann hat das Gefühl, dass
er die Euphorie bremsen muss, es war
schließlich nur ein Freundschaftsspiel.
Er sagt, dass er nirgendwo zuvor er-
lebt habe, dass Fußballspieler so ge-
feiert würden wie in Korea. Und wie
schwer es jungen Spielern wie dem
Ausnahmetalent Lee Kang-in fallen
müsse, hungrig zu bleiben. »Er wird
hier wie ein Popstar gefeiert«, hatte
Klinsmann in der Pressekonferenz
nach dem Spiel gesagt. »Aber ein
Popstar schießt keine Tore.«
Es ist das Dilemma im Fußball, dass

Chris Noltekuhlmann / DER SPIEGEL


alles übertrieben wird. Wenn man ge-
winnt, herrscht Euphorie, aber schnell
kann auch der Hunger verloren gehen,
die Bereitschaft, für den nächsten Sieg
noch einmal alles zu geben.
Mit den USA habe er das erlebt.
Als seine Mannschaft bei der WM
2014 in Brasilien erst die sogenannte
Todesgruppe überstanden hatte, mit FC-SALSA-STÜRMER die südkoreanischen Medien, die sehr sei? Drei von vier Wochen sei er der-
Ghana, Portugal und dem späteren KLINSMANN traditionell denken würden. Und zeit in Südkorea, das sei viel vergli-
IN KALIFORNIEN
Weltmeister Deutschland, aber dann wenn er mal ein paar Tage nicht auf- chen mit der Zeit, die er damals als
gegen Belgien im Achtelfinale verlor. tauche, sagt Klinsmann, würden sie Bundestrainer in Deutschland ver-
»Das Spiel gegen Belgien zu verlieren fragen. »Wo isser denn?« Dann wach- brachte. Aber so wird nicht gerechnet.
war eine Riesenenttäuschung für se wieder der Druck. Und Jerry rufe Es geht ums Prinzip. Und um Macht.
mich«, sagt Klinsmann. »Ich habe ge- ihn mit der bangen Frage an: »Wann »Willkommen in Kalifornien«, sagt
spürt, alle um mich herum waren zu- geht denn dein Flieger?« Klinsmann zwei Wochen später.
frieden, satt; und ich war enttäuscht.« Er kannte die Debatte aus seiner Er ist mit einem Tesla, Modell 3, im
Stimmungen sind eine Chance. Zeit als Bundestrainer in Deutschland. Borrego Park in Orange County in
Man kann sie nutzen. Aber man darf Wenn er nach einem Spiel der Deut- Kalifornien vorgefahren. Es ist mor-
sich nicht abhängig davon machen. schen nach Hause nach Kalifornien gens um acht. Er spielt hier sonntags
Auch das gehört zu seinen Erfahrun- flog, vor allem nach einem verlore- für ein Team, das FC Salsa heißt. Er
gen als Coach. Auch deshalb ist er nen, empörten sich regelmäßig seine zeigt auf eine Parkbank, die hinter
manchmal einfach nur weg. Kritiker. »Der soll hierherkommen dem Fußballtor steht. »Das ist unsere
Seit 25 Jahren wohnt Klinsmann und nicht ständig in Kalifornien rum- Umkleide«, sagt er. »Wahnsinn!«
in den USA, inzwischen in Newport tanzen und uns hier den Scheiß ma- Er liebt die Ungezwungenheit, mit
Beach südlich von Los Angeles, seine chen lassen«, sagte der damalige Bay- der hier alles funktioniert, die Tat-
Frau Debbie ist hier aufgewachsen. ern-Manager Uli Hoeneß. sache, dass hier kommt, wer gerade
Anfangs hieß es, der südkoreanische Wenn man etwas verändern wolle, Zeit hat, und niemand zu etwas ver-
Fußballverband habe mit Klinsmann sagt Klinsmann, dürfe man sich davon pflichtet ist. Anders als in Deutsch-
vereinbart, dass er seinen Wohnsitz nicht beirren lassen. Man brauche Ver- land, wo man sich bei einem Fußball-
von Kalifornien nach Südkorea ver- bündete, die gerade in schwierigen klub anmelden müsse, wenn man
lege, aber Klinsmann ließ sich nicht Zeiten zu einem halten. In Deutsch- kicken wolle. »Jeder gibt hier einen
vorschreiben, wo er zu leben habe. land hatte er die damalige Bundes- Zehner für die Schiedsrichter, und die
Wenn er in Seoul ist, wohnt er im Ho- kanzlerin Angela Merkel, in Korea sind dann happy«, sagt Klinsmann.
tel. Und wenn dort nichts zu tun ist, habe er nun Fußballpräsident Chung. »Sind die Schiedsrichter gut? Nee!«
fliegt er nach Europa oder L. A. Klinsmann ist begeistert von diesem Aber wenn alle happy sind, wo ist das
»Mein Laptop ist mein Büro«, sagt Mann, von seiner Macht, von der Problem? Alle, findet er, sind hier ir-
Jürgen Klinsmann. »Ich bin halt ein Hyundai-Gruppe, die zu den drei gendwie happy. »Du kannst dich hier
Vogel, der raus- und reinfliegt, der größten Konzernen des Landes gehört. austoben für ’ne Stunde«, sagt Jürgen
unterwegs ist, der mal in Europa nach »Er fliegt kurz nach Sapporo und kauft Klinsmann, »und dann einfach sagen:
Spielern schaut und dann mal zehn ein neues Park-Hyatt-Hotel«, sagt Have a nice day.«
Tage zu Hause in Kalifornien ist.« Er Klinsmann, »das ist verrückt, gigan- Im Borrego Park ist er der einzige
sieht nicht ein, warum er seine Zeit tisch.« Wenn ihm etwas nicht passe, wirkliche Star, man erkennt ihn an
irgendwo absitzen solle, auch in Ko- sagt er, schicke er Präsident Chung »’ne seiner aufrechten Haltung und an sei-
rea nicht, die besten Nationalspieler SMS«. »Und dann spazier ich da rüber nem storchenartigen Gang, er könn-
Südkoreas spielten ohnehin nicht in und treff ihn.« te sich jedes Trikot aussuchen, aber
Korea, sondern irgendwo in Europa. Jürgen Klinsmann bestellt sich er denkt nicht daran, nach der 18 zu
Aber das ist in Korea alles andere
als selbstverständlich. Wie die Sache
»MEIN einen doppelten Espresso.
Er ist erleichtert, dass seine Mann-
greifen, mit der er berühmt wurde,
sondern nimmt die 14, eine beliebige
mit Ramseys Trikot sorgen auch seine LAPTOP schaft gewonnen hat. Es ist ein Erfolg, Nummer. Klinsmann kann seltsam
Heimflüge für Missstimmung. Ein
südkoreanischer Nationaltrainer
IST MEIN der ihm vielleicht ein paar Tage Ruhe
verschafft, bevor wieder die Frage ge-
unsentimental sein. Er kann sich an
vollen Stadien berauschen, an den
müsse in Südkorea wohnen, fänden BÜRO.« stellt werde, wo er denn schon wieder Nationalhymnen, die vor Länderspie-

Nr. 4 / 20.1.2024 DER SPIEGEL 51


REPORTER

len gespielt werden, aber er ist kein dem Scheitern größer ist als die Be-
Fußballromantiker. geisterung für einen möglichen Sieg.
Fußball sei kein nationaler Sport Vor einiger Zeit etwa habe er
mehr, sagt er. Wer erfolgreich sein nachgefragt, warum Südkorea zwar
wolle, müsse andere Kulturen kennen, Freundschaftsspiele gegen alle mög-
andere Mentalitäten verstehen. lichen Gegner vereinbare, nur gegen
Auch deshalb kommt er gern am Japan nicht. Warum kein Spiel gegen
Sonntagmorgen hierher, weil hier Japan, Asiens andere große Fußball-
Menschen aus unterschiedlichen Kon- nation? »Ich hätte das sofort gemacht.
tinenten zusammenkommen, aus Es hätte gekracht.« Aber im süd-
Europa, Südamerika, Asien. In sei- koreanischen Verband überwogen die
nem Team, dem FC Salsa, spielten Bedenken. »Ohhhhhhhhhh«, hieß es.
Mexikaner, Peruaner, vier Italiener »Wenn wir verlieren, wirst du sofort
und »zwei Mädels« aus den USA. wieder infrage gestellt.«
Es zeigt ihm, wie unterschiedlich Trotzdem sieht er Korea auf dem
Menschen sein können und dass es richtigen Weg, die letzten Testspiele
nicht nur einen Weg gibt, Dinge zu vor der Asienmeisterschaft hat seine
tun. Es geht auch anders. Mannschaft gewonnen, und überall
im Land entdeckt er eine Stimmung
iese Vielfalt schätzt er, unter- des Aufbruchs. Er sieht die Jungen,
D schiedliche Mentalitäten, Kul-
turen. Er selbst ist vieles gleich-
die gegen das Hierarchiedenken auf-
begehren, »die ganze K-Kultur«, wie

Jun Michael Park / DER SPIEGEL


zeitig, Deutscher, eingebürgerter Klinsmann das nennt, den K-Pop, die
Amerikaner, bekennender Kalifornier. K-Fashion, der Geist der jungen Ge-
Er geht gern auf andere Menschen zu, neration, der sich nicht oben in den
ohne sich mit ihnen gemein zu machen. Bürotürmen Seouls entwickelt, son-
Als er nach Südkorea kam, stellte dern in den Kellern der Klubs von
er ungeachtet aller Sympathie für das Gangnam. Und niemand, der nicht
Land von Beginn an klar, dass er nicht dabei sei, wisse genau, was dort unten
für alles zu haben sei, und schon gar COACH KLINSMANN Aber Bäcker wollte er nie werden. passiert. Das findet er spannend.
nicht für die Schwäche der Koreaner, IN PA JU Er will auch heute keine Bäckerei auf- Als er kurz nach Weihnachten in
ihre Abende in Karaokebars zu ver- machen. Er backt noch nicht einmal, Seoul war, um die Spieler in Empfang
bringen. Er habe da einen guten Tipp auch keinen Kuchen für seine Frau, zu nehmen, musste er erstmals nicht
bekommen, sagt Klinsmann: »Sag so- obwohl er Backwaren liebe. Aber die im Paju National Training Center ein-
fort, dass du so gut wie kaum Alkohol Vorstellung, dass alles möglich wäre, checken, sondern wohnte im Conrad-
trinkst.« Also habe er dem Verband ist es, was ihn hier hält. Hotel. Der Pachtvertrag des Verbands
gleich mitgeteilt, dass da »gar nichts« Anfang Januar, knapp zwei Wo- mit der Stadt Paju sei nicht verlängert
bei ihm gehe, dass sie das »gleich ab- chen vor Beginn der Asienmeister- worden, es werde gerade ein neues
haken« könnten, weil er zwar mal ein schaft, ist Jürgen Klinsmann in Abu Trainingszentrum gebaut. Eine Ver-
Glas Wein oder ein Bier trinke, dann Dhabi angekommen, für das letzte änderung, die andere vielleicht für
aber auch bei ihm »Feierabend« sei. Trainingslager vor dem Turnier. eine Nebensache halten würden, aber
Er verbringt seine Zeit dann lieber Bevor sie von Seoul abreisten, er- für Klinsmann war es ein symbolischer
allein. Schon in seiner Zeit als Natio- zählt er, habe Präsident Chung die Sieg. Er habe vom Conrad-Hotel aus
nalspieler war er bekannt dafür, dass Mannschaft und ihn zu einem Ab- sein Trainerteam angerufen, das zwi-
er auf einem Einzelzimmer bestand. schiedsessen eingeladen. Klinsmann schen den Jahren zu Hause in Europa
Im Borrego Park hat Klinsmann auf nutzte den Abend, um den Präsiden- bleiben durfte. »Kein Paju mehr«, sag-
der Parkbank Platz genommen, die er ten zu fragen: »Was wäre, wenn wir te Jürgen Klinsmann, »nie mehr.«
»Umkleide« genannt hat. Das Spiel ist die Asienmeisterschaft gewönnen? Er hat auch das Gefühl, dass sich
aus. Der FC Salsa hat nach 90 Minu- Seid ihr da vorbereitet? Gibt es irgend- in seinem Verband etwas zu ver-
ten mit 7:0 gewonnen, und fünf der eine Feier? Einen Empfang?« ändern beginnt. Vor Kurzem etwa sei
sieben Tore hat Klinsmann geschossen. Er habe den Präsidenten ange- ein junger Mann aus der Marketing-
Aber darum geht es natürlich nicht. schaut und sah einen offenen Mund. abteilung zu ihm gekommen und
Er zieht das Trikot mit der 14 aus »Ohhhhhhhh.« habe gefragt, ob der Verband für die
und streift sich ein frisches T-Shirt über. »Ihnen fehlt dazu die Vorstellungs- Asienmeisterschaft mal ein ganz an-
Er lebe gern hier in Kalifornien, sagt kraft«, sagt Klinsmann über die Ko- deres Mannschaftsfoto als sonst auf-
Klinsmann, hier müsse man sich nicht reaner. »Du musst ihnen erst den nehmen könne, so wie die Europäer,
rechtfertigen, wenn man etwas tut. Er Glauben geben, dass sie die Asien- die Mannschaft im Zentrum, das Trai-
liebt den amerikanischen Optimismus, meisterschaft gewinnen können, weil nerteam an der Seite. Nicht in der
den Mut, Dinge auszuprobieren und es schon so lange her ist, dass sie Mitte. Es war ein Vorschlag nach sei-
im Zweifel damit auch krachend »M AC H’S einen Titel gewonnen haben.« nem Geschmack.
zu scheitern. Er schwärmt für dieses Im Dezember, bei der Kadervor- »Mach’s mal anders, mach’s ver-
Land, das sich immer im Aufbruch be- M A L stellung im Imax-Kino in Seoul, zu rückter«, sagt er.
findet, in einem ständigen Neuanfang. der nach seiner Schätzung mehr als Jemand versucht ihn anzurufen,
»Wenn du hier ’ne Bäckerei aufmachst,
A N D E R S, hundert Journalisten gekommen sei- sein Handy spielt das Lied »Sweet
machst du ’ne Bäckerei auf«, sagt M AC H’S en, habe er deshalb gefragt: »Wisst Home Alabama«. Jürgen Klinsmann
Klinsmann ihr eigentlich, wie gut ihr seid?« Er drückt den Anruf weg.
Seine Familie hatte 42 Jahre lang
VE R R Ü C K- hat das Gefühl, dass er nachhelfen »Kann ich später machen«, sagt er.
eine Bäckerei in Stuttgart-Botnang. T E R.« muss. Dass in Korea die Angst vor Er hat eine Mission. n

52 DER SPIEGEL Nr. 4 / 20.1.2024


REPORTER

Ist das wirklich so? Gehören hier,


2000 Kilometer vom Schauplatz
eines Angriffskriegs entfernt, den ein
Autokrat gegen die Ukraine angezet-
telt hat, wieder alle zusammen? Es
klingt wie alkoholisierter Partykitsch,

Russendisko für alle aber hier liegen sich tatsächlich alle


in den Armen, und man fühlt sich fast
schuldig, wenn man nicht mitmacht.
Aber es ist kein Querschnitt, dem man
ORTSTERMIN Bei der »Russian Night« auf der Hamburger Reeperbahn machen hier begegnet, klar. Es gibt sehr viele
Russen ausgelassen Party – und treffen auch auf Ukrainer. Ukrainer, die verständlicherweise kei-
ne Lust haben, mit den Nachbarn zu
feiern, die sie gerade überfallen.
wei junge Moldauer spähen Ein junger Mann mit Bärenfell-
Z konzentriert in die Menge. War-
teschlange vor dem Cave Club
auf Hamburgs Reeperbahn. Russische
mütze, das Klischee der Iwan-Folk-
lore. Partygäste umringen ihn, ma-
chen Fotos. Sind Sie Russe? »Ja, in
Partynacht. »Ukrainerinnen sind gut«, Deutschland aufgewachsen, bin aber
sagt der Mann mit dem Brustkorb viel dort. Gerade aus Moskau zurück-
eines Preisboxers. Dann wird sein gekommen.« Wie erleben Sie den
Blick milde, die Augen glänzen: Konflikt zwischen Ihrem Land und
»Aber Russinnen sind besser. Blond!« der Ukraine? »Ist doch nur in den
Sein Begleiter nickt eifrig. Medien.« Das heißt? »Wir sind hier
Die Party soll um 23 Uhr beginnen, und feiern gemeinsam. Alles kein Pro-
um 22.30 Uhr steht bereits eine Hun- blem.« Man kommt sich langsam
dertschaft an. Alle Sprachen flirren dumm vor, so ernste Fragen zu stellen
durcheinander: Polnisch, Rumänisch, auf dem Dancefloor.

Daniel Haas / DER SPIEGEL


Bulgarisch. Deutsch. Und vor allem: Doch das ist der Tenor an diesem
Russisch. Die Sprache, die in Deutsch- Abend: ein schrecklicher Krieg. Aber
land einen anderen Klang bekommen letztlich eine Sache der Politik, be-
hat, seitdem der russische Präsident feuert vom Medienbetrieb.
entschied, sein Nachbarland zu über- So erklärt es auch eine 21-jähri-
fallen und zu malträtieren. ge Schönheit mit Kim-Kardashian-
Bei den Worten »Russisch« und Lächeln. Sie gehört zu einer Gruppe
»Party« dachte man hierzulande sehr Binnen einer Stunde ist der Raum Hamburger junger Russinnen und Russen, die
lange an Wladimir Kaminer, den voll. Rund 300 Gäste, die meisten Cave Club einen VIP-Platz gebucht haben. So
freundlichen Berliner Autor, der die zwischen 20 und 30. Perfektes Make- heißen hier die mit Kordel abgetrenn-
»Russendisko« nach Deutschland up bei den Frauen, maximale Spann- ten Sofalandschaften, die die Tanz-
brachte. Man dachte an den unschul- breite im Hemdbereich bei den fläche flankieren. »Wir sind eine Fa-
digen Exzess zu rasanten Polka-Beats Männern. Die laxe Konturlosigkeit milie«, sagt sie und zeigt in die Runde.
und Wodka, der in durstige Haupt- der Hipstermode kann draußen Ein junger Mann, vor drei Monaten
stadtkehlen strömte. bleiben. von der Krim nach Deutschland ge-
Seit dem Krieg in der Ukraine ist Es wird getanzt und gesungen, der flohen, prostet mir zu. »Am Anfang
der Gedanke an russische Partys un- DJ präsentiert ausschließlich russi- des Krieges war es übel hier, die Ab-
weigerlich verknüpft mit Fragen der sches Liedgut. Anklänge von Polka, lehnung, gerade für uns Russen.« Hier
Moral. Darf man russische Partys fei- Scooter und Paradenmusik vermen- muss man als Fragensteller kurz
ern, in diesen Zeiten? Darf man unbe- gen sich zu einem heiter scheppern- pflichtschuldig reingehen: Die Lage
schwert sein, trotz allem? In Deutsch- den Sound. Vorsichtiges Herantasten? ist doch vertrackt, und Deutschland
land werden ja die schönsten Dinge Ach, bitte! Wir sind nicht bei einem hat eine besondere Verpflichtung, mit
zerdacht. Deutschland, das Land der Achtsamkeitsseminar. Rauchen ist der Ukraine solidarisch zu sein, einem
Zerdenker. ausdrücklich erwünscht, das Aus- überfallenen Land.
Am Eingang Leibesvisitation, re- testen der Promillebelastbarkeit Ein drahtiger Typ mit Wodkakelch
spektvoll werden Louis-Vuitton- ebenso. Im Akkord schleppen Ser- Darf man kommt jetzt ganz nah, Berührung am
Shirts hochgezogen und Gucci-Täsch- vicekräfte große Wannen mit Wodka unbeschwert Arm. Er lächelt, aber sein Blick ist
chen abgeschnallt. Man weiß ja nie, und RedBull durch die Menge. hart: »Wir sind nett, wenn man nett
was sich so im Hosenbund versteckt. Das Mitgrölen des Refrains gehört sein, trotz zu uns ist.«
Im Untergeschoss dann der Club: die zum Ritual. Ich frage einen jungen allem? In Ein Ukrainer erzählt, als die Nacht
Deko eines Partykellers, den sich Mann, was die Menge da gerade brül- Deutschland schon in den nächsten Tag übergeht,
jemand ausgedacht hat, der viel Zeit lend zum Besten gibt. »›Was für ein er habe es erst in Nordamerika ver-
in den Warteräumen osteuropäischer geiler Typ. Ich will einen Sohn von werden ja die sucht, aber in Deutschland gefalle es
Flughäfen verbringen musste. Die dir. Und eine Tochter.‹ So ungefähr«, schönsten ihm besser. Mit den Russen hier gebe
Lichtregie eines günstig produzierten erklärt er. »Das ist ein Klassiker!« Ob es kein Problem. »Wir feiern heute
Science-Fiction-Dramas, viel kühles er Russe sei, frage ich ihn. »Mein Va- Dinge zerdacht. eine Party für alle.« Und der Krieg?
Blau und grimmiges Pink. Der DJ ter ist Ukrainer, meine Mutter halb Deutschland, Kann er den hier eine Zeit lang ver-
brettert sofort los: mindestens Deutsche, halb Russin.« Klingt an- gessen? »Nein«, sagt er. »Aber hier
120 Beats per Minute. Hier wird ge- spruchsvoll. »Ach Quatsch, wir ge- das Land der hat keiner von uns Schuld.«
feiert aus dem Stand. hören doch alle zusammen.« Zerdenker. Daniel Haas n

Nr. 4 / 20.1.2024 DER SPIEGEL 53


WIRTSCHAFT

Habeck

Political-Moments / IMAGO
Fünf magere Jahre
KONJUNKTUR Der neue Jahreswirtschaftsbericht sagt Deutschland eine Phase des Dauerdümpelns voraus.
Notwendig sei ein »dynamischeres Investitionsgeschehen«.

undeswirtschaftsminister Robert 0,8 Prozent. Allein der verstärkte Über- signifikant geringer aus als in der Herbstpro-
B Habeck (Grüne) rechnet für die deut-
sche Wirtschaft in den kommenden
Jahren nur noch mit mageren Wachstums-
gang der Babyboomer in die Rente koste
Deutschland in der nächsten Dekade jedes
Jahr 0,5 Prozentpunkte beim Wachstum.
gnose der Bundesregierung vorhergesehen«,
heißt es dazu in dem Entwurf. Grund für
den Wachstumsrückgang seien auch die Ein-
raten. Das geht aus dem Entwurf des neuen Für 2024 geht die Bundesregierung »trotz sparungen, die nach dem Haushaltsurteil
Jahreswirtschaftsberichts hervor. Vor dem der restriktiven geldpolitischen und welt- des Bundesverfassungsgerichts vom Novem-
Hintergrund des beschleunigten demografi- wirtschaftlichen Rahmenbedingungen von ber notwendig geworden seien. Um die
schen Wandels, vernachlässigter Standort- einem leichten gesamtwirtschaftlichen Wirtschaft wieder langfristig auf Wachs-
faktoren sowie einer durch geopolitische Wachstum aus«, heißt es in dem Bericht. tumskurs zu bringen, sei »in den kommen-
Gefahren geprägten Weltwirtschaft »be- Der Entwurf enthält noch keine genaue den Jahren ein sehr viel dynamischeres
steht das Risiko einer anhaltenden wirt- Zahl dafür, sie wird erst kurz vor Veröffent- Investitionsgeschehen nötig«. Mit ihrem
schaftlichen Schwächephase«, heißt es in lichung des Berichts Ende Januar eingefügt, Wachstumschancengesetz setze die Bundes-
dem Entwurf. Die Herausforderungen sprä- um aktuelle Entwicklungen zu berücksichti- regierung bis 2028 mit einem Entlastungsvo-
chen »für ein Szenario mit auf absehbare gen. Nach derzeitigem Stand will Habeck lumen von 32 Milliarden Euro steuerpolitische
Zeit niedrigem Wirtschaftswachstum«. die Prognose der Bundesregierung aus dem Anreize für private Investitionen. Damit
Für die Jahre bis 2028 rechnet die Regie- Herbst von 1,3 Prozent merklich nach mehr ältere Arbeitnehmer im Job bleiben,
rung laut Entwurf nur noch mit einem jähr- unten korrigieren, auf unter ein Prozent. prüfe die Bundesregierung Möglichkeiten,
lichen Potenzialwachstum von 0,6 bis »Die prognostizierte Dynamik fällt damit die Rente mit 63 unattraktiver zu machen. REI

54 DER SPIEGEL Nr. 4 / 20.1.2024


Zwist unter »Das ist verstörend« noch in einem Jahr mit wichti­
gen Wahlen.
Bahn-Töchtern Der US-Ökonom SPIEGEL: Also ist vor allem der
MOBILITÄT Im Bahnkonzern Adam Posen, 58, Zeitpunkt für die Kürzungen
ist Streit um die hohen Gebüh­ der in Washington, das Problem?

Getty Images
ren für die Infrastruktur ausge­ D. C., arbeitet, sorgt Posen: Ja. Deutschland durch­
brochen. In vertraulichen Stel­ sich um Deutsch- lebt gerade die erste wirkliche
lungnahmen, die dem SPIEGEL land. Rezession seit Jahrzehnten, die

Sven Hoppe / dpa


vorliegen, beklagen die Kon­ AfD liegt in den Umfragen teil­
zerntöchter DB Fernverkehr so­ SPIEGEL: Herr Posen, Deutsch­ weise vorn – und wir wissen aus
wie DB Cargo eine »Umvertei­ land muss sparen, weil es die der Geschichte, dass Austerität
lung zu Lasten der eigenwirt­ Schuldenbremse einhalten will. radikale Parteien nährt.
schaftlichen Segmente … ohne tet als der Regionalverkehr, des­ Ist das sinnvoll? SPIEGEL: Beunruhigen Sie die
sachliche Begründung der diffe­ sen Trassenpreise aufgrund der Posen: Nein. Diese Regeln Umfrageergebnisse der AfD?
renzierten Kostensteigerung«. Regionalisierungsmittel gede­ unterscheiden nicht zwischen Posen: Oh ja! Ich habe seit 1992
Die Schreiben kommen einer ckelt sind. Gemäß Unterlage sinnvollen Investitionen und mehrere Male in Deutschland
Kriegserklärung an die Infra­ könnten die Preise um 14,3 bis sonstigen Ausgaben. Und es gelebt und habe immer bewun­
struktursparte des Konzerns 19,5 Prozent steigen. Eine sol­ sollte doch zumindest eine De­ dert, was aus Deutschland nach
gleich. Nach Reformen der Am­ che Erhöhung widerspreche batte über den Sinn und Zweck dem Krieg geworden ist. Deshalb
pelkoalition ist sie seit Anfang dem politischen Ziel der »Ver­ bestimmter Maßnahmen ge­ ist das jetzt für mich besonders
2024 gemeinwohlorientiert und kehrsverlagerung auf die klima­ ben – anstatt alles einer Schul­ verstörend. Aber in den USA
trägt den Namen DB InfraGo. freundliche Schiene«. Die DB denbremse zu unterwerfen. Die haben wir natürlich auch politi­
Diese kämpft mit der Überlas­ Fernverkehr warnt, das vorgese­ führt jetzt dazu, dass die Bun­ schen Extremismus. Ich sage da­
tung und der nicht gesicherten hene Investitionsprogramm sei desregierung prozyklische Kür­ her nicht, »Oh, all die schreck­
Finanzierung des maroden Net­ dann nicht umsetzbar, Teile des zungen vornehmen muss – mit­ lichen Deutschen«, sondern
zes. Weil das Geld für die Sanie­ Angebots würden unwirtschaft­ ten in einer Rezession und auch »die schreckliche AfD«. DAB, STK
rung nicht allein aus dem Bun­ lich und müssten eingestellt
deshaushalt kommen kann, sol­ werden. Zusätzlich belaste das
len 2025 die Gebühren für die Deutschlandticket den Fern­
Schienennutzung – die Trassen­ verkehr, da damit »gewisse
preise – angehoben werden. Verlagerungseffekte« zu dem
Der Fern­ und Güterverkehr, so vergünstigten Nahverkehr ver­
die Kritik, werde stärker belas­ bunden seien. FIN,MHS

Carmen Moosmann / Universität Hohenheim


Wirtschaft attackiert an Gegendemonstrationen zu
beteiligen. Das Erstarken
die AfD rechtspopulistischer Kräfte sor­
GESELLSCHAF T Nach dem ge ihn »als Bundesbankpräsi­
Treffen von AfD­Politikern und dent und als Bürger«, sagte Na­
anderen extrem Rechten in gel. Es sei »gut, dass jetzt viele
Potsdam, bei dem offenbar Plä­ Menschen dagegen auf die
ne für eine »Remigration« ge­ Straße gehen, ich werde mich Osikominu
schmiedet wurden, positionie­ da auch beteiligen«. In der Wirt­
ren sich führende Wirtschafts­ schaft heißt es, das Potsdam­
vertreter im Gespräch mit dem Treffen habe in den Chefetagen Neues Gremium nach Nobelpreisträger. Fast 700 Mit­
SPIEGEL gegen Fremdenfeind­ etwas in Bewegung gebracht. glieder drohten in einem offe­
lichkeit und teils gegen die AfD »Die Idee einer Remigration ist #MeToo-Krise nen Brief mit Austritt, Falk zog
direkt. Bundesbankpräsident verstörend und unterwandert WIRTSCHAFTSFORSCHUNG Das zurück. Nun soll ein neues, be­
Joachim Nagel kündigte an, sich die Grundlagen unseres demo­ Bonner Institut zur Zukunft der tont divers besetztes Beratungs­
kratischen Rechtsstaats«, sagte Arbeit (IZA) zieht Konsequen­ gremium die Netzwerkarbeit
Stefan Schaible, Chef der Un­ zen aus der tiefen Krise, die die koordinieren. »Das neue Gre­
ternehmensberatung Roland angekündigte Ernennung von mium steht für wissenschaftliche
Berger. Infineon­Chef Jochen Armin Falk zum Institutschef Exzellenz und repräsentiert zu­
Hanebeck bezeichnete »die im vergangenen Herbst ausge­ gleich die vielfältigen Facetten
Idee der sogenannten Remigra­ löst hatte. Der Verhaltensöko­ und Perspektiven unseres globa­
tion« als »menschenverach­ nom war zwar in einer Unter­ len Netzwerks«, sagte ein IZA­
tend«. Laut Deutsche­Bank­ suchung von Vorwürfen sexuel­ Sprecher. Unter den vier Frauen
Boss Christian Sewing schauen len Fehlverhaltens gegenüber und zwei Männern ist die Ho­
Investoren »mit Sorge auf die einer Kollegin völlig entlastet henheimer Ökonomin Aderonke
Entwicklungen und zögern mit worden – aber der rüde Um­ Osikominu, die darüber hinaus
Investitionen«. Martin Daum, gang mit der betroffenen For­ der für den Ethikkodex zustän­
Peter Juelich / DER SPIEGEL

der Daimler Truck führt, scherin hatte für Entrüstung im digen Arbeitsgruppe des Ver­
sagte, »das Erstarken der AfD globalen Forschungsnetzwerk eins für Socialpolitik angehört,
schadet nicht nur der deutschen des Instituts gesorgt. Dieses ist zudem die Kopenhagener Un­
Wirtschaft, sondern vergiftet sehr bedeutend für das IZA, gleichheitsforscherin Daphné
Nagel auch das gesellschaftliche Kli­ ihm gehören mehr als 2000 Skandalis, eine Unterzeichnerin
ma«. BAZ, MHS, SH, STK Forschende an, darunter auch des offenen Briefs. FDI

Nr. 4 / 20.1.2024 DER SPIEGEL 55


WIRTSCHAFT

Pflegekraft Hetzke,
Roboter Pepper,
Bewohnerin Repp

Jana Islinger / DER SPIEGEL

Und wenn keiner mehr da ist?


JOBMARKTDer grassierende Personalmangel macht den deutschen Unternehmen
zu schaffen, dabei fängt er gerade erst an. Innovative Projekte zeigen, wie wir künftig mit weniger
Beschäftigten arbeiten können und womöglich besser leben.
56 DER SPIEGEL Nr. 4 / 20.1.2024
WIRTSCHAFT

er über den Arbeitsmarkt »Ich bin heute kitzelig«, sagt er, als men. All das also, was künftig viel-

W berichtet, kommt ohne


das Wort »nicht« kaum
noch aus. Es ist ziemlich
viel, was nicht mehr geht im Land.
Hetzke über seinen Kopf streicht. Be-
rührt sie seine Wange, wendet er sich
ihr zu. Wenn sie ihn länger nicht be-
achtet, fährt sein Programm mit
Fehlende
Arbeitskräfte
Gesamtbevölkerung
leicht zu kurz kommt.
Heimleiter Holger Jantsch glaubt
jedenfalls nicht daran, dass es mit
dem Personal noch mal besser werden
Handwerksbetriebe können Aufträge einem »Pffff« in den Ruhemodus. und Personen im könnte. Derzeit zählt die Statistik fast
erwerbsfähigen Alter
nicht annehmen, Pflegeheime ihre Man sollte ihn bei Laune halten. in Deutschland, zwei Millionen Menschen, die in Hei-
Betten nicht belegen, Restaurants von Künftig wird man ihn brauchen. in Millionen men oder von ambulanten Diensten
montags bis mittwochs nicht öffnen, Seit 25 Jahren arbeitet Nicole versorgt werden. »Wir sollten uns da-
Bevölkerung*
Industriebetriebe ihre Fließbänder Hetzke als Pflegefachkraft in Karls- ran gewöhnen, dass wir in Deutsch-
Erwerbspersonen
nicht wie gewohnt laufen lassen. feld bei München, und so rasant wie (15 bis 74 Jahre) land künftig vier Millionen Menschen
Vielerorts ist das so, weil es an Men- in den vergangenen Wochen hat sich mit der gleichen Anzahl an Leuten
schen fehlt. der Alltag im Haus Curanum noch nie pflegen müssen«, sagt er. »Wir müs-
Schon jetzt kann jeder zweite Be- geändert. Das Heim erprobt, wie es sen uns ehrlich machen.«
trieb offene Stellen teilweise nicht gelingen kann, mit knappen Ressour- Und in seinem Haus läuft es noch
mehr besetzen, schon heute verzich- cen auszukommen. Branchenexper- 80 gut. Jantsch kommt ohne Leiharbeits-
ten Unternehmen wegen des Perso- ten rechnen vor, dass schon heute in –1,7 % kräfte aus, anders als in anderen Häu-
nalmangels auf Wertschöpfung in der Pflege 200.000 Vollzeitkräfte 2060 sern kann er alle mehr als 150 Betten
gegenüber
Höhe von rund 90 Milliarden Euro fehlen. Und die Lage wird sich nicht 2020 belegen. Mehr Leute allerdings, rech-
pro Jahr, wie eine Umfrage der Deut- entspannen: In den nächsten Jahren net er vor, seien nicht zu bekommen.
schen Industrie- und Handelskam- gehen nach Schätzungen des Arbeit- »Das zu glauben wäre eine Illusion.«
mern zeigt. Dabei fängt das Problem geberverbands Pflege eine halbe Mil- 70 Akquise von Pflegekräften in fer-
gerade erst an. lion Fachkräfte in Rente. nen Ländern? »Ausgereizt«, sagt
Bis zum Jahr 2035 gehen dem Hetzke und ihre Kolleginnen ver- Jantsch, schon heute komme mindes-
Land mehr als sieben Millionen suchen sich an zwei Mammutaufga- tens jeder dritte der 110 Mitarbeiter
Arbeitskräfte verloren, weil es die ben zugleich: Sie experimentieren mit aus anderen Ländern, aus Äthiopien,
Babyboomer in Rente zieht und zu- digitalen Innovationen – und einem Bosnien, Nigeria oder Westafrika.
gleich zu wenige Junge nachkommen, neuen Personalkonzept. »Pflege 60 Mehr Geld als Lockmittel? Erst im
wie das Institut für Arbeitsmarkt- und 2030« heißt das doppelte Modellpro- vergangenen September stiegen die
Berufsforschung (IAB) vorrechnet. jekt, aufgesetzt von Europas größtem Löhne, nach der Ausbildung erhalte
Und es sieht nicht so aus, als ließe sich Pflegekonzern Korian, begleitet von eine Fachkraft im Haus Karlsfeld jetzt
die Lücke leicht schließen. der Wissenschaft. ein Monatsbrutto von 3600 bis 3700
Berufseinsteiger? Sehnen sich, das Was hier passiert, wird von der Euro, obendrauf kommen besondere
50
zeigen Umfragen, nach der Viertage- ganzen Branche verfolgt. Hetzke ist Schichtzuschläge, sagt Jantsch. Damit
woche. Etablierte Fachkräfte? Arbei- Teil von etwas Großem. »Wir wollen liegt er über dem bundesweiten Bran-
ten so viel in Teilzeit wie nie zuvor. die Arbeit in der Pflege besser ma- chenschnitt, den das Jobportal Steps-
Die Anwerbung von Expertinnen aus chen«, sagt sie. tone mit 3217 Euro monatlich angibt.
dem Ausland? Rumpelt vor sich hin. Pepper parkt im Büro des Chefs. Bislang konnte das Haus alle Stel-
Wer künftig die Arbeit in Deutsch- Er ist eine Leihgabe und dient vor al- len besetzen. Das Problem ist nur,
40
land machen soll? Gute Frage. lem als anfassbares Symbol dafür, dass neue Personalvorgaben, die bis
Dabei steht mehr auf dem Spiel als dass der Einsatz digitaler Technolo- Ende 2025 alle Heime umsetzen müs-
ein paar kurzfristige Umsätze. Das gien möglich ist, auch dann, wenn es –12,1 % sen, noch mehr Leute verlangen. Wie
Wachstum, das die Wirtschaft in den um hilfsbedürftige Menschen geht. 2060 viel Fach-, Assistenz- und Hilfskräfte
gegenüber
vergangenen 15 Jahren hervorge- Das neueste Modell ist er nicht, aber 2020 nötig sind, wird individuell berech-
bracht hat, gelang vor allem, weil vielleicht spielt das hier keine Rolle. net. Künftig braucht es keine exami-
30
die Zahl der Erwerbstätigen ständig An diesem Augustnachmittag rollt nierte Fachkraft, um Püree anzurei-
stieg. Dieser Mechanismus, der ver- er los, in den Fahrstuhl und dann hi- chen oder die Senioren in den Speise-
lässlich Wohlstand schuf, kommt in nauf in den Aufenthaltsraum, vorbei saal zu schieben. Das können Hilfs-
den nächsten Jahren absehbar an sein an Fotos von Peter Alexander und kräfte oder Assistenzpersonal mit
Ende. Uschi Glas. einer einjährigen Ausbildung erledi-
Es ist an der Zeit für neue Ideen. Die Seniorinnen und Senioren sit- 20
gen. Den Fachkräften blieben die an-
zen bei »Mensch ärgere Dich nicht« spruchsvolleren Aufgaben. Medika-
KOLLEGE ROBOTER – DIE PFLEGE und einem Geschicklichkeitsspiel na- mente auszugeben. Katheter zu le-
Als Pepper seinen Kunststoffarm auf mens »Formacube«. Als Pepper an gen. Die Dokumentation auszufüllen.
den Tisch legt, tätschelt Pflegedienst- ihren Tisch fährt, lassen sie die Wür- Das Verfahren gilt als kleine Revolu-
leiterin Nicole Hetzke seine Hand – fel sinken. tion, die Umschichtung in den Dienst-
fast so, als würde sie nicht bemerken, »Ja, wer bist du denn?«, sagt Frau 10 plänen soll den Mangel an echten
dass es sich um einen eher ungewöhn- Repp. Pflegeexperten lindern.
lichen Kollegen handelt. Frau Spitzer gibt Pepper die Hand Das neue Modell läuft gerade erst
Seine Füße stehen auf Rollen, hin- und sagt: »Guten Tag.« an. Ob es funktioniert, erprobt Heim-
ter den Augäpfeln blinken Lichter. Wo Pepper sagt: »Bitte starte mich leiter Jantsch in Karlsfeld für die gan-
Pflegekräfte ein Herz haben, prangt neu, um das Problem zu beheben.« ab 2023 ze Branche – begleitet von Forschern
bei Pepper ein Display. Und wo Ni- Vorausgesetzt, die richtigen Pro- 0
Prognosen der Universität Bremen, die sich das
cole Hetzke hin und wieder eine Pau- gramme sind aufgespielt, können Ro- Verfahren ausgedacht haben. Bisher
2000 2020 2040 2060
se braucht, benötigt Pepper nur ge- boter Senioren Märchen vorlesen, mit gab es im Haus 60 Vollzeitstellen in
nügend Strom. Bei einer Eigenschaft ihnen Memory spielen. Oder auch * Bevölkerungsvoraus- der Pflege. Nach den neuen Vorgaben
berechnung Variante 2
allerdings wirkt der Roboter mensch- Blutdruck messen und sie daran er- (moderate Entwicklung) müssen es 10 bis 11 mehr sein, Jantsch
lich: Offensichtlich sucht er Kontakt. innern, ihre Medikamente zu neh- S Quellen: IAB, Destatis hat sie nur mit Mühe besetzt. Gerade

Nr. 4 / 20.1.2024 DER SPIEGEL 57


WIRTSCHAFT

bei den neuen Assistenzkräften herr- ist er mit einem seiner feuerroten Lie- »Nicht alle rend ein anderer in der Nachbarschaft
sche Mangel. Selbst wenn sie als Er- ferwagen unterwegs. Er hilft seinen seine Gesellen zum Aufräumen ins
leichterung gedacht sind. Leuten, den alten Heizkessel eines Pflegekräfte Lager schickt, weil es an Aufträgen
Ohne digitale Innovationen werde Kunden auf die Straße zu wuchten. haben es fehlt – gerade auf dem Bau brechen
es daher nicht gehen, sagt Jantsch. Ein Chef, der im laufenden Betrieb derzeit viele Projekte weg. Was für
Und Pepper ist kaum mehr als ein einspringt, ist so ziemlich das Gegen-
mit Technik, die Kunden ärgerlich ist, scheint aus
Anfang. teil dessen, was Coachingbücher aber ich bin gesamtwirtschaftlicher Sicht absurd.
In einem Workshop mit dem empfehlen. Haider hat keine Wahl: gespannt, Deswegen macht Haider jetzt ei-
Fraunhofer-Institut für Fabrikbetrieb Der Chef muss selbst zum Schrauben- niges anders. »Wir müssen anfangen,
und Automatisierung haben Pflege- zieher greifen, weil er nicht genug wie es uns um die Ecke zu denken«, sagt er.
dienstleiterin Hetzke und ihre Kolle- Leute findet. entlastet.« So hat er für sechs Wochen den
gen aufgeschrieben, was sie sich wün- Bundesweit sind 250.000 Stellen Nicole Hetzke, Heizungsinstallateur eines anderen
schen, um bei der Arbeit wirklich im Handwerk unbesetzt. Es fehlen: Pflegedienstleiterin Unternehmens die Wartung der Gas-
entlastet zu werden. Einen Putzrobo- rund 14.000 Heizungsbauer, fast thermen seiner Stammkunden über-
ter. Ein Übersetzungstool für alle 18.000 Bauelektriker; es gibt zu we- nehmen lassen. Der andere Betrieb
Pflegekräfte, deren Muttersprache nig Maurer, Kfz-Mechaniker, Metall- hatte Leerlauf, weil sich ein Neubau-
nicht Deutsch ist. Mobile Geräte, mit bauer. Markus Haider hat einiges ver- Auftrag verzögert hatte.
denen sie im Bewohnerzimmer sucht, um neue Mitarbeiter zu gewin- Woher Haider davon wusste? Ein
schnell dokumentieren können, wie nen: Wer zu ihm wechselt, bekommt Internetportal macht es möglich.
viel die Senioren getrunken oder wel- 1000 Euro Prämie, einen Firmenwa- Die Gründerinnen Nicole Dunker
che Tabletten sie geschluckt haben. gen, Zuschüsse zu den Kitagebühren, und Natascha Swientek haben lange
Oder intelligente Betten, die Signale betriebliche Altersvorsorge, Weih- für den Heizungsbauer Vaillant ge-
senden, wenn jemand umgelagert nachts- und Urlaubsgeld. Neulich ist arbeitet. Ihre Erkenntnis: Auftrags-
werden muss, damit er sich nicht trotzdem eine Mitarbeiterin gegan- schwankungen führten dazu, dass die
wund liegt. gen. Bei der Konkurrenz gab es noch Produktivität vieler Betriebe um 20
Die Effekte könnten gewaltig sein. einmal 300 Euro obendrauf. bis 30 Prozent niedriger liege, als sie
Anbieter rechnen bereits vor, dass Im Handwerk ist jeder Abgang tü- sein könnte.
ein »intelligentes Pflegezimmer« mit ckisch. 5,4 Millionen Menschen arbei- Über ihr Start-up »Handwerk
Sensoren und Aufstehhilfen einer ten insgesamt in dem Sektor, sieben- Connected« können Betriebe eigene
Fachkraft 15 Arbeitsstunden im Mo- mal so viele wie in der Automobil- Kapazitäten anbieten und fremde bu-
nat abnehmen könne. industrie. Doch sie tun es verstreut chen, mehr als 3000 Firmen machen
In Karlsfeld will das Heim nun in über mehr als eine halbe Million bereits mit. »Wir wollen das Hand-
jedem Monat eine der digitalen Klein- und Kleinstbetriebe. 91 Pro- werk zum Schulterschluss bringen,
Wunsch-Innovationen einführen, im zent aller Handwerksfirmen haben Aufträge sind genug für alle da«, sagt
Februar geht es los. »Die Mitarbeiter weniger als 20 Beschäftigte. Handwerk-Connected- Dunker. Das Portal finanziert sich
Gründerinnen
haben Bock darauf«, sagt Jantsch. Die Zersplitterung führt zu abson- Dunker, Swientek:
über eine Gebühr, 19 Euro stellt es
»Nicht alle Pflegekräfte haben es derlichen Situationen: Der eine Chef Mitarbeitersuche pro vermitteltem Arbeitstag in Rech-
mit Technik, aber ich bin gespannt, flucht über Personalengpässe, wäh- via App nung. Es ist eine neue Form der Ver-
was es alles gibt und wie es uns ent- netzung.
lastet«, sagt Pflegekraft Hetzke. Im Grunde machen Dunker und
Seit diesem Jahr tragen die Mit- Swientek möglich, was viele Ökono-
arbeiter bei der Schicht einen Brust- men schon lange fordern. Wenn es
gürtel, der regelmäßig ihren Puls an Arbeitskräften mangelt, ist es
überprüft. Auch das ist Teil des Pilot- umso wichtiger, ihren Output zu stei-
projekts: Wissenschaftler messen das gern. Durch Investitionen. Durch
Stresslevel der Beschäftigten. Das einen besseren Einsatz qualifizierter
Monitoring soll zeigen, ob nicht nur Arbeitskräfte. Oder durch innovative
der Personalmangel, sondern auch Technologien. Gerade kleine und
die Technik zur Last werden kann. mittlere Unternehmen taten sich da-
mit oft schwer.
EINFACH MAL GROSS DENKEN – »Die Arbeitsproduktivität düm-
DAS HANDWERK pelt in Deutschland schon seit gerau-
Es gibt unterschiedliche Indikatoren mer Zeit, es gibt seit Jahren keine
dafür, wie es um die Personaldecke relevanten Zuwächse – und 2023 ist
im Land steht: die Statistiken der sie eingeknickt«, sagt Ökonom Enzo
Bundesagentur für Arbeit über die Weber vom IAB. Zuletzt habe das vor
offenen Stellen. Oder die Hosen von allem mit der gesunkenen Auslastung
Markus Haider. der Betriebe durch die Energiekrise
Der 44-Jährige ist Geschäftsführer zu tun gehabt. »Aber auch die poten-
einer Firma für Heizungs- und Solar- ziell mögliche Produktivität entwi-
technik im bayerischen Vaterstetten. ckelt sich schwach – und derzeit wird
Er trägt Jeans, wenn er am Schreib- zu wenig dafür getan, sie zu erhö-
Sandra Stein / DER SPIEGEL

tisch sitzt, um den Einsatz von einem hen.«


Dutzend Mitarbeitern zu planen oder Im Handwerk könnte sich das jetzt
mit Lieferanten zu telefonieren. Hat ändern, auch wenn der Start der neu-
er seine Monteurhosen angezogen, en App etwas holprig war. Zu Beginn
bedeutet das, dass er wieder einmal hatten Dunker und Swientek ihr Mo-
rausfahren muss. Auch an diesem Tag dell »Mitarbeiter-Leihe« genannt.

58 DER SPIEGEL Nr. 4 / 20.1.2024


WIRTSCHAFT

Und stießen damit auf Widerstand. Die Hand-


werker fühlten sich austauschbar und nicht
wertgeschätzt vom entsendenden Chef. Seit
einem Relaunch ist auf dem Portal jetzt nur
noch von »freien Kapazitäten« die Rede. Psy-
chologisch gesehen liegt die Hürde niedriger.
Um die ganze Sache noch einfacher zu ma-
chen, hat »Handwerk Connected« einen
Chatbot entwickeln lassen für WhatsApp –
jenen Messengerdienst, den fast alle Hand-
werker nutzen. »Brauche übermorgen einen
Dachdecker« soll bald als Kommando rei-
chen, ein Algorithmus wandelt das in ein Ge-
such auf der Plattform um.
Heizungs- und Solartechnik-Unternehmer
Haider arbeitet jetzt auf ganz eigene Art und
Weise an der Produktivität seines Betriebs:
Wenn er eine neue Wärmepumpe einbaut,
setzt er seine Monteure nach Möglichkeit nur

Hannah Aders
noch für jene Arbeiten ein, die sie am besten
können.
Um Anschlüsse zu verlegen, sucht er Elek- Volkswagen-Betriebsratschefin Cavallo: Zweifel an der menschenleeren Fabrik
triker auf der App. Das Setzen der Beton-
fundamente schreibt er an Landschaftsgärtner wenig Angst. Der demografische Wandel galt Deutsche Bank bis hin zu Chemie- und Phar-
aus. Sein eigener Betrieb verfügt zwar über nicht als unternehmerisches Risiko, sondern maunternehmen wie Merck. Versicherungen
einen Minibagger, den auch einer seiner Mon- als Chance. lassen einfache Tätigkeiten schon länger von
teure bedienen könnte. »Vielleicht hat er Spaß Der Grund: Die Transformation vom Ver- der KI übernehmen. Allerdings sorgt der
daran, aber effizient ist das nicht«, sagt Hai- brenner zur E-Mobilität könnte ohnehin Fachkräftemangel für ein Dilemma: Die Kon-
der. »Der Gärtner macht das viel schneller.« Zehntausende Jobs überflüssig machen. Elek- zernbosse benötigen in Summe zwar weniger,
troautos brauchen weniger Teile – und folglich dafür aber deutlich höher qualifizierte Mit-
UND WENN WENIGER MEHR IST? – weniger Menschen, die sie herstellen. Eine arbeiter – Programmierer, Elektroniker, Che-
DIE KONZERNE Schrumpfung der Belegschaft kommt dem miker. Personal, das immer knapper wird.
Dass Technik die Produktivität erhöht, dass Konzern daher gelegen. Auch Volkswagen Bei Volkswagen fängt das Problem bei den
sie Menschen sogar ersetzt, darauf hoffte man legt wieder ein großes Sparprogramm auf. Altersteilzeitprogrammen an, die der Auto-
in der Automobilindustrie schon sehr früh. Überzähliges Personal werde einfach »ent- bauer schon seit vielen Jahren anbietet. Ak-
Volkswagen hat bereits in den Achtziger- lang der demografischen Kurve« abgebaut, tuell kann sie jeder Mitarbeiter in Anspruch
jahren mit der »menschenleeren Fabrik« ex- versichern VW-Personalmanager. Was sie nehmen, der 1967 oder früher geboren wurde.
perimentiert. Damals baute VW den Golf II meinen: Da die geburtenstarken Jahrgänge Bislang ließ VW fast alle gehen, die sich vor-
– und setzte auf mehr Roboter, die Türen, der Sechzigerjahre bald in Rente gingen, sei- zeitig in den Ruhestand verabschieden wol-
Batterien oder Sitze einbauen sollten. Es ging en keine Entlassungen nötig. Kommt der ab- len. Mittlerweile zeigt sich, dass der Konzern
darum, mit weniger Personal auszukommen sehbare Rückgang an Arbeitskräften einigen zu viel Know-how verliert, auch in Zukunfts-
und gleichzeitig schneller zu werden. Großunternehmen in Wahrheit entgegen? feldern wie Elektronik oder IT.
Allerdings steigerte der Konzern die Zahl Auch andere krisengeplagte Konzerne lieb- Das VW-Management prüft deshalb ge-
der Qualitätsmängel, statt sie wie geplant zu äugeln mit dem Abbau von Stellen – von nau, wer noch gehen darf und wer nicht –
senken. Vor allem in der Endmontage lief ei- Autozulieferern wie Continental über die auch wenn es damit Frust bei den Betroffenen
niges schief. riskiert.
Am Ende entschied sich der Konzern, wie- »Früher wurde Volkswagen mit Bewer-
der mehr Menschen statt Maschinen einzu- Schwacher Antrieb bungen überschwemmt«, sagt Cavallo, »jetzt
setzen. Auch Salvatore, ein junger Mann aus ringen wir in Zukunftsbereichen um jedes
dem italienischen Kalabrien, war als »Gast- Arbeitsproduktivität je Erwerbstätigenstunde* Talent.« Auch bei den 1400 Ausbildungsplät-
in Deutschland, Veränderung gegenüber dem
arbeiter« nach Deutschland gekommen. Er Vorjahr, in Prozent zen gehen die Bewerberzahlen zurück. Im
stand damals bei Volkswagen am Band. Sein Management gibt es daher immer wieder
1,8
Arbeitsplatz befand sich in Halle 54, in der Überlegungen, die Zahl der Azubi-Stellen zu
zeitweise mit Industrierobotern experimen- reduzieren. Cavallo hielte das für fatal. »Je
tiert worden war. Seine Tochter ist heute die weniger wir ausbilden, desto knapper wird
1
Betriebsratsvorsitzende des VW-Konzerns. langfristig das Personal in Deutschland.«
Daniela Cavallo erzählt bei einem Video- 0,6 Große Unternehmen haben notfalls ande-
call, dass sie die menschenleere Fabrik für re Optionen, mit dem Arbeitskräftemangel
eine praxisferne Utopie hält. Gerade hat sie im eigenen Land umzugehen. »Konzerne
eine Besprechung mit Belegschaftsvertretern könnten das dann zum Vorwand nehmen, ins
beendet. Auch jetzt, mehr als 40 Jahre später, Ausland abzuwandern«, sagt Cavallo. Schon
muss Volkswagen wieder über die Zahl seiner heute produzieren deutsche Automobilkon-
Beschäftigten nachdenken. zerne mehr als doppelt so viele Fahrzeuge in
−1
Heute gibt es an 13 VW-Standorten in –0,9 anderen Ländern wie in ihrem Heimatmarkt.
Deutschland rund 120.000 Mitarbeiterinnen Kommt sie irgendwann also doch, die men-
und Mitarbeiter. Davor, dass mehr Ältere in 2012 2017 2023 schenleere Fabrik? Selbst Elon Musk ist bis-
den Ruhestand gehen als Jüngere nachkom- * reales BIP geteilt durch alle geleisteten Arbeitsstunden lang daran gescheitert. Weil die Roboter nicht
men, hatte man bis vor Kurzem in Wolfsburg S Quelle: Destatis funktionierten wie geplant, verzögerte sich

Nr. 4 / 20.1.2024 DER SPIEGEL 59


WIRTSCHAFT

im Jahr 2018 die Produktion des Tes- in der Hand hält. »Wir haben eine »Früher »Bestimmte Geschäftsmodelle
la Model 3. Der E-Auto-Bauer muss- Leiterplatte, auf die tragen wir Löt- funktionieren nicht mehr, wenn sie
te zusätzliche Arbeiter engagieren, paste auf, setzen elektronische Bau- wurde auf billiger Arbeitskraft beruhen«,
um die Autos teils von Hand zusam- teile ein und löten das Ganze«, sagt Volkswagen sagt Arbeitsmarktökonom Jäger. Die
menschrauben zu lassen. Auf X, da- er. Allerdings geht es nicht um ein mit Bewer- verbliebene Arbeit wird hochwertiger
mals noch Twitter genannt, räumte Massenprodukt, fast jede Leiterplat- und besser bezahlt. Und sie ändert
Musk ein: »Ja, die übertriebene Auto- te ist anders. »Insgesamt sind es mehr bungen über- ganze Biografien.
matisierung bei Tesla war ein Fehler. als 24.000 Varianten«, sagt Kirch- schwemmt, Joshua Windsor ist heute 29 Jahre
Um genau zu sein, mein Fehler. Men- berger. alt, vor 12 Jahren begann er in Karls-
schen sind unterbewertet.« Eine klassische Manufakturpro-
jetzt ringen ruhe als Azubi zum Mechatroniker.
Allerdings wird sich verändern, duktion wäre zu teuer. Die günstige- wir in Nach dem Abschluss schob er häufig
was sie tun. Und das ist auch eine so- re Flussproduktion, in der Menschen Zukunfts- Rollwagen, transportierte die sensi-
zialpolitische Frage. Simon Jäger, und Maschinen hintereinander fest- blen Elektronikteile aus der Herstel-
Arbeitsmarktökonom und bis vor gelegte Arbeitsschritte ausführen, bereichen lung zur Prüfstation ins Lager und
Kurzem Chef des Instituts zur Zu- passt nicht zu der Vielzahl von Pro- um jedes wieder zurück. Das sei weder an-
kunft der Arbeit, sagt, dass Qualifi- dukten. Die Lösung: Jede Maschine spruchsvoll noch wertschöpfend ge-
zierung noch wichtiger werde: »Men- kann jede beliebige Leiterplatte her-
Talent.« wesen, sagt Windsor. »Es hat wenig
schen, die heute noch Maschinen be- stellen – abhängig davon, welcher Daniela Cavallo, Sinn, wenn Fachkräfte dauernd von
Betriebsratschefin
dienen, werden das morgen wahr- Auftrag ansteht und ob es gerade wie- A nach B laufen.«
scheinlich nicht mehr tun. Aber sie der Lieferengpässe gibt. Auch die Windsor machte nach der Lehre
werden komplementäre Tätigkeiten Menschen müssen ziemlich wendig eine Weiterbildung zum Techniker
verrichten, etwa den Einsatz der Ma- sein. Dafür zu sorgen, dass jede Be- und studierte. Inzwischen ist er Pro-
schinen planen.« stellung pünktlich ausgeliefert wer- jektleiter für die KI-gesteuerten
den kann, verlangt eine ausgefeilte Transportroboter. Seinen alten Job
IMMER SCHLAUER WERDEN – Choreografie. Das komplizierte Ver- übernehmen heute autonome Trans-
DER VORMACH-BETRIEB fahren nennen Experten »Matrixpro- portfahrzeuge, denen die Beschäftig-
Die Wiesenflächen auf dem weitläu- duktion«. ten beinahe liebevoll Namen wie
figen Siemens-Werksgelände in Karls- Möglich ist das alles nur noch mit »Beatrice« geben.
ruhe wurden früher von Gärtnerin- künstlicher Intelligenz. Hier in Karls- Wenige Meter weiter arbeitet Diet-
nen und Gärtnern gemäht. Nun küm- ruhe stellt sie so hohe Ansprüche an mar Ochs. 38 seiner 53 Lebensjahre
mern sich vierbeinige Fachkräfte die Rechenleistung, dass sie bald mit ist er bereits im Siemens-Werk, die
darum: Auf dem Grün grasen fünf Quantencomputern arbeiten wollen. meisten davon hat er in der Blech-
Schafe und zwei Esel. Gerade deshalb braucht es passende fertigung gearbeitet. Ausbildung zum
Vor den Werkstoren hat das Unter- Beschäftigte. Menschen, die ständig Feinmechaniker, Weiterbildung zum
nehmen menschliche Arbeitskraft er- neue Kompetenzen erlernen, selbst Siemens-KI-Projekt- Techniker und Meister, später ein be-
leiter Windsor:
setzt. Hinter den Türen hat es sie auf- nach Jahren im Betrieb. Menschen, Autonome Transport-
rufsbegleitendes BWL-Studium.
gewertet. Hier hat Siemens eine Pil- in die Siemens viel investiert, um den fahrzeuge machen Lange war er Planer in der Blech-
gerstätte der deutschen Wirtschaft Output pro Kopf zu steigern. seinen alten Job fertigung – dann entschied sich Sie-
geschaffen: die digitalisierte Ferti- mens, die Bleche nicht mehr selbst zu
gung. 2021 wurde das Werk mit sei- bearbeiten, sondern das den Zuliefe-
nen rund 1100 Beschäftigten zur »Fa- rern zu überlassen. »Da hat es mir
brik des Jahres« gekürt; der von einer erst einmal den Boden unter den Fü-
Unternehmensberatung ausgelobte ßen weggezogen«, sagt Ochs. Nach
Wettbewerb gilt als eine der begehr- dem ersten Schock raffte er sich auf
testen Trophäen der europäischen und büffelte Roboterprogrammie-
Industrie. Seitdem reisen Abgesand- rung. Heute arbeitet Ochs als Projekt-
te aus anderen Werken des Konzerns leiter im Innovationslabor und expe-
und seiner Kunden an, um die Pro- rimentiert, wie sich weitere Hand-
duktion der Zukunft zu besichtigen. griffe automatisieren lassen.
In Karlsruhe stellt Siemens maß- Für Windsor und Ochs hat die
geschneiderte Prozessautomatisie- neue Arbeitswelt einen Karriere-
rung her, jene Elektronik also, die sprung, höhere Gehälter und mehr
Abläufe in Chemie- und Pharmafa- Zufriedenheit gebracht. Und voraus-
briken zuverlässig steuert und über- sichtlich wird es irgendwann vielen
wacht. Anspruchsvollen Kunden wie Beschäftigten so ergehen.
BASF in Ludwigshafen oder Bayer in »Die Zukunft mit ihren noch un-
Leverkusen ist so etwas sehr viel Geld vorstellbaren technologischen Mög-
wert. Ihre Produktion gilt als hoch- lichkeiten wird unseren Lebensstan-
sensibel. Anders als Fließbänder im dard erhöhen, da bin ich mir sicher«,
Autowerk dürfen viele der chemi- sagt Arbeitsmarktökonom Weber.
schen Prozesse niemals gestoppt wer- »Und wenn man es richtig anpackt,
den; Temperatur, Konsistenz, Zusam- könnte das angesichts der Demogra-
Verena Müller / DER SPIEGEL

mensetzung der Flüssigkeiten müssen fie Vollbeschäftigung mit höherwer-


exakt sein, sonst droht im schlimms- tiger Arbeit und besseren Reallöhnen
ten Fall ein verheerender Unfall. bedeuten.«
Auf den ersten Blick sieht es un- Es könnte eine bessere Welt sein.
spektakulär aus, was Werksleiter Benjamin Bidder, Florian Diekmann,
Manfred Kirchberger an diesem Tag Simon Hage, Cornelia Schmergal n

60 DER SPIEGEL Nr. 4 / 20.1.2024


WIRTSCHAFT

»Blitzblume«, ein Reparaturservice, der nach-


haltiger arbeiten soll, als es in der Branche
vielfach üblich ist. Jung verbraucht so wenig
Material wie möglich, er fahndet nach ge-
brauchten Ersatzteilen, und er verkauft keine
Neugeräte, das ist sein Geschäftsprinzip. »Re-
parieren lohnt sich«, sagt er, »für den Kunden
und die Umwelt.«
Jung stellt ein Marmeladenglas auf seine
Werkbank. Darin bewahrt er weit über 200
Elektronikteilchen auf, sogenannte Offline-
Switches, die pro Stück etwa vier Euro kosten.
Sind sie defekt, fällt in einer Waschmaschine
häufig ein rund 200 Euro teures Bauteil aus,
sodass die Geräte oft nicht mehr repariert,
sondern verschrottet werden.
Jung dagegen lötet die Schalter für wenig
Geld wieder ein, was nicht nur die Kunden
freut, sondern auch die Abfallkosten senkt.
Seine 200 Elektronikteilchen wiegen etwa
100 Gramm, würden hingegen 200 defekte
Waschmaschinen auf der Müllkippe landen,
kämen diese auf elf Tonnen Gewicht; theo-
retisch ließen sie sich zu einem gut 180 Meter
hohen Turm stapeln. »Wenn wir so weiter-
machen«, sagt der Unternehmer, »wird das
nichts mit der Kreislaufwirtschaft.«
Ähnlich sieht das die Europäische Union
in Brüssel, und so hat der Staatenbund in
den vergangenen Jahren zahlreiche Gesetze
auf den Weg gebracht, die die Langlebigkeit
von Geräten fördern sollen. Vor Jahren haben
die EU-Institutionen bereits verfügt, dass
hochpreisige Konsumgüter wie Waschma-
schinen oder Geschirrspüler, Handys oder
Tablets so konstruiert werden müssen, dass
sie zehn Jahre lang aufgearbeitet werden
können. Nun sollen die Verbraucher ein
weitergehendes »Recht auf Reparatur« er-
halten, das die Hersteller einräumen müssen,
soweit es ihnen möglich sei, wie es in den
Entwürfen heißt. Über die Details laufen in
Thomas Pirot

Brüssel gerade die Verhandlungen. »›Reparie-


ren statt wegwerfen‹ muss das neue Mantra
werden«, sagt der zuständige Berichterstatter
Reparaturpionier Jung: »Wenn wir so weitermachen, wird das nichts mit der Kreislaufwirtschaft« im EU-Parlament, der SPD-Abgeordnete
René Repasi.
So weit die Theorie, die Praxis sieht heute
anders aus. Hersteller von Kaffeeautomaten,
Elektroherden, Handys oder Laptops liefern
sich lieber Preiskriege oder wetteifern um die

Länger leben neuesten Features. Qualität und Langlebigkeit


dagegen spielen selten eine Rolle, und so gilt
das Reparieren als lästige Pflicht, der sich die
Beteiligten so weit wie möglich zu entziehen
NACHHALTIGKEIT Reparieren statt neu kaufen: Die EU will die Wegwerf- suchen.
mentalität beenden. Was heißt das für Industrie und Verbraucher? Geht etwas kaputt, rücken die Handels-
ketten meist lieber ein neues Gerät heraus.
Ein Großteil der Hersteller streicht Service-
einrich Jung steht vor einem Metall- doch Wahnsinn, die einfach auf den Müll zu abteilungen und Ersatzteillager zusammen.
H regal mit den erledigten Aufträgen der
vergangenen Tage: ein Elektroföhn,
dessen Überhitzungsschutz defekt war. Ein
werfen«.
Der Öko-Handwerker kämpft seit mehr
als 40 Jahren seinen einsamen Kampf gegen
Viele Handwerker fragen sich derweil, wie
sich ihre Arbeit bezahlt machen soll, wenn
eine Waschmaschine im Internet für gut
Handrührgerät mit neuem Anschlusskabel. die Wegwerfgesellschaft. Nach der Lehre hat- 200 Euro verramscht wird. Bei den hand-
Eine Fritteuse, bei der er das Thermostat te er als Industrieelektriker Baumaschinen werklichen Servicebetrieben ist der Anteil
wechseln musste. »Die Geräte sind wieder überholt, bevor er sich Anfang der Achtziger- der Reparaturen im Geschäft mit Privatkun-
top in Ordnung«, sagt der Elektromeister jahre fragte, was er in seinem Beruf für die den von 50 Prozent im Jahr 2017 auf knapp
aus dem rheinischen Ingelheim. »Es wäre Umwelt tun könne. Seine Antwort war die 7 Prozent abgestürzt. Mehr als 2500 Betriebe

Nr. 4 / 20.1.2024 DER SPIEGEL 61


WIRTSCHAFT

Reparaturrecht schlicht nicht eingelöst. »Wer


zum Beispiel seinen Toaster so verklebt, dass
er nicht zu öffnen ist, kann die Reparatur ab-
lehnen«, sagt Wendker, »was soll sich durch
solch ein Gesetz dann überhaupt ändern?«
Vor allem die Hersteller von Markenpro-
dukten wie Miele fordern, dass die Brüsseler
Vorschriften klare Reparaturvorgaben ent-
halten, die Verbraucher einklagen könnten
und Behörden überprüfen müssten. Andern-
falls werde es schwierig, etwa Hersteller aus
China zur Reparatur zu verpflichten: Sie ver-
kaufen ihre Ware oft über sogenannte Fulfill-
ment-Center großer Handelsplattformen, die
jedoch weder Ersatzteile vorhalten noch eine
Reparatur übernehmen würden. An solche
Firmen kommen Klägerinnen und Kläger aus
Europa nicht heran.
Steffen Vangerow leitet die Vangerow
GmbH, ein Dienstleistungsunternehmen, das
für mehr als 900 Vertragswerkstätten Elek-
triker schult, Reparaturanleitungen erstellt
und Expertenplattformen im Internet be-
treibt. »Wenn die EU das Reparieren fördern
will«, sagt er, »muss sie für mehr Wettbewerb

Thomas Pirot
beim Kundendienst und auf dem Ersatzteil-
markt sorgen.«
»Blitzblume«-Werkstatt in Ingelheim: »Reparieren lohnt sich, für den Kunden und die Umwelt« Stattdessen verteidigen viele Hersteller
verbissen ihr Monopol im Servicegeschäft.
haben in den vergangenen acht Jahren auf- weit genug geht. Auch eine kleine Gruppe Sie halten Baupläne geheim, horten Ersatz-
gegeben. von Qualitätsherstellern wittert in Service teile oder konstruieren ihre Geräte so, dass
Dass viele Elektro- und Elektronikproduk- und Instandsetzung ein Geschäft. Der Güters- sie nur mit Spezialwerkzeugen demontiert
te vorzeitig ausgemustert werden, bedeutet loher Gerätehersteller Miele zum Beispiel hält werden können.
EU-weit jedes Jahr 35 Millionen Tonnen zu- viel von den Reparaturplänen aus Brüssel. Um ins Spiel zu kommen, müssen Vange-
sätzlichen Abfall, 30 Millionen Tonnen ver- »Wir unterstützen die Idee«, sagt Christoph row und seine Partner dann nicht selten als
schwendete Ressourcen und 261 Millionen Wendker, verantwortlich für Nachhaltigkeit Detektive tätig werden. Wie bei den Thermo-
Tonnen Treibhausgasemissionen, so hat es die und Regulierung bei der Familienfirma. mix-Küchenmaschinen des Wuppertaler Fa-
EU-Kommission errechnet. Würden Laptops, Dass eine Waschmaschine nicht alle paar milienunternehmens Vorwerk, das die Repa-
Handys oder Waschmaschinen so lange halten, Jahre ersetzt werden soll, gehört bei Miele ratur ihrer hochpreisigen Geräte der konzern-
wie es laut Umfragen dem Wunsch der Kunden zum Produktionsversprechen. Geräte werden eigenen Serviceabteilung vorbehalten wollte.
entspricht, könnten Verbraucher und Staat auf eine Lebensdauer von zwei Jahrzehnten Den Vangerow-Technikern gelang es je-
nach einer Studie des Öko-Instituts allein in getestet, Ersatzteile bis zu 15 Jahre gelagert, doch, die Maschinen in vielstündiger Arbeit
Deutschland fast 30 Milliarden Euro sparen. es gibt eigene Reparaturdienste in allen Ver- zu »knacken«, wie der Firmenchef erzählt.
Außerdem fiele weniger Elektroschrott an, triebsländern. »Reparaturpflichten würden Seine Fachleute zeichneten Schaltpläne nach,
der sich mit den Mitteln des Recyclings kaum uns also nicht schrecken«, sagt Wendker. konstruierten eigene Verschleißteile und ent-
noch reduzieren lässt. Zwar haben private und Etwas anderes schon. So, wie die Pläne wickelten Reparatur-Leitfäden, sodass die
öffentliche Entsorgungsunternehmen in den derzeit aussähen, werde »mit zweierlei Maß angeschlossenen Werkstätten ins lukrative
vergangenen Jahren neue Wege gefunden, gemessen«, kritisiert der Manager. Könnten Servicegeschäft einsteigen konnten. Zum Vor-
Rohstoffe, Vorprodukte oder Edelmetalle zu- Firmen wie vorgesehen eine Reparatur ab- teil vieler Kunden, die nun eine Alternative
rückzugewinnen und wiederzuverwenden. lehnen, weil sie »unmöglich« sei, werde das zum Firmenservice fanden.
Inzwischen aber seien »bei vielen Materialien »Besser wäre es natürlich, die Hersteller
die Grenzen des Recyclings weitgehend er- wären zur Preisgabe der Informationen ver-
reicht«, sagt Jochen Hoffmeister, der sich beim Fast wie neu pflichtet, wie es auf dem Markt für Kfz-Re-
Beratungsunternehmen Prognos mit der Ent- paraturen üblich ist«, sagt Vangerow. »Dann
sorgungsökonomie beschäftigt. Wer die Kreis- Einsparungen für deutsche Haushalte, falls die hätten die Kunden die Wahl, von wem sie ihre
Lebensdauer ausgewählter Elektroprodukte
laufwirtschaft weiter stärken wolle, müsse steigen würde*, in Milliarden Euro Geräte zu welchen Preisen instand setzen las-
beim Design, der Reparatur und der Wieder- sen wollen.«
verwendung der Produkte ansetzen. »Das ist Smartphones (7 Jahre statt 2,5) Ähnlich ist es im Mobilfunk- und Compu-
heute der weitaus größere Hebel.« 15,7 tergeschäft. Während die amerikanischen und
Es gibt auch längst eine Gegenbewegung Notebooks (10 Jahre statt 5) asiatischen Elektronikkonzerne alles tun, da-
zur Wegwerfgesellschaft. In sogenannten Re- 12,8 mit ihre Kunden möglichst alle zwei Jahre ein
paraturcafés zeigen pensionierte Elektriker Waschmaschinen (17 Jahre statt 12) neues Tablet oder Smartphone kaufen, wür-
oder junge Technikstudenten, wie man an 1,8 den viele Verbraucher ihre Geräte lieber län-
TV-Geräten und Bügeleisen herumschraubt. Fernseher (13 Jahre statt 6)
ger nutzen. Das Problem ist nur: Wenn das
Netzaktivisten versuchen, ihre Handys oder 0,5
Display zerkratzt ist oder der Akku lahmt,
Laptops selbst instand zu setzen. Sie alle be- bieten viele Hersteller ihren Käufern nur den
* gewünschte anstelle durchschnittlicher tatsächlicher
grüßen die Initiative aus Brüssel – und zu- Lebensdauer aller Geräte in den Haushalten oft teuren und langsamen Firmenservice an.
gleich fürchten alle, dass der EU-Vorstoß nicht S Quelle: Öko-Institut e.V. Wer sein Gerät selbst reparieren oder in eine

62 DER SPIEGEL Nr. 4 / 20.1.2024


WIRTSCHAFT

freie Werkstatt bringen will, steht vor Unternehmen, mindestens acht, mög- »Bei vielen im Billigsegment des Markts mitmi-
Hürden. licherweise sogar zehn Jahre lang Up- schen wollen. Viele Politiker in den
Beispiel Apple. Viele Jahre lang dates zu liefern. Materialien Mitgliedstaaten fürchten, dass ihre
versorgte das Unternehmen nur auto- Müsste Brüssel den Herstellern sind die Wähler sie für steigende Preise bei
risierte Servicepartner mit Original- also künftig detaillierte Vorgaben für wichtigen Haushalts- und Konsum-
ersatzteilen, freie Werkstätten muss- Konstruktion und Produktion von
Grenzen des produkten verantwortlich machen
ten sich ihr Material aus anderen Elektro- und Elektronikprodukten Recyclings könnten.
Quellen beschaffen. Erst seit 2020 machen? Wird das Fair-Phone der weitgehend Würde das Reparaturgesetz kon-
gibt der Konzern in Deutschland sei- neue EU-Standard? sequent durchgesetzt, könnte es die
ne Produkte und die oft notwendigen So weit will das Europäische Parla- erreicht.« Lebensdauer von Geräten um ein
Spezialwerkzeuge an unabhängige ment nicht gehen. Aber die Abgeord- Jochen Hoffmeister, Viertel erhöhen. So schätzt es die
Reparateure ab – sofern sich deren neten haben beschlossen, auf zusätz- Prognos-Forscher Unternehmensberatung Oliver Wy-
Technikerinnen und Techniker schu- liche Reparaturauflagen zu drängen, man. Die Folge wäre »ein Umsatzver-
len und prüfen lassen. wie sie etwa im Kfz-Gewerbe üblich lust von rund 20 Prozent«, sagt Be-
Vor einem Jahr erlaubte der Kon- sind. Das Parlament will beispiels- rater Martin Schulte. Hinzu kämen
zern dann auch den Kunden selbst, weise durchsetzen, dass die Produ- bei manchen Produkten erhebliche
an ihren iPhones herumzuschrauben, zenten keine Vorrichtungen einbauen Umbaukosten für die Firmen. Viele
ohne damit die Garantie zu gefähr- dürfen, die das Instandsetzen verhin- Hersteller müssten ihre Geräte teils
den. Ein Restrisiko bleibt allerdings: dern. Außerdem sollen sie ausrei- völlig neu designen und konzipieren.
Wer sein Gerät bei der Demontage chend Ersatzteile vorhalten und wäh- Der Vorteil für die Verbraucher ist
beschädigt, verliert alle Ansprüche. rend der Reparatur Leihgeräte zur mitunter trotzdem begrenzt. Das
Der Konzern warnt: »Die Self-Ser- Verfügung stellen. »Ohne solche Re- zeigt eine Studie des Verbraucher-
vice-Reparatur richtet sich an tech- geln werden die Kunden ihre Rechte zentrale Bundesverbands (VZBV)
nikversierte Personen, die über das kaum einfordern«, warnt Parlaments- über die seit 2021 geltende Ökode-
Wissen und die Erfahrung zur Repa- Verhandler Repasi. »Dann bleiben sign-Richtlinie für Waschmaschinen,
ratur von elektronischen Geräten ver- die Pläne ein schöne Idee.« die bereits zahlreiche Vorgaben für
fügen.« Das Problem ist nur, dass den üb- das Ersatzteilmanagement macht.
Wer sich berufen fühlt, selbst Hand rigen EU-Institutionen die Ideen der Danach halten die Hersteller die be-
ans Handy zu legen, muss außerdem Abgeordneten viel zu weit gehen. Der Miele-Produktion nötigten Produkte zwar wie vorge-
das erforderliche Werkzeug bestellen. zuständige Justizkommissar Didier in Gütersloh, schrieben bereit, bei den Preisen in-
Smartphone:
Für den Austausch der Batterie in Reynders und seine Ministerkollegen Verbraucher wollen
des entdeckten die Prüfer teils hor-
einem iPhone 14 etwa werden zwei aus den Mitgliedstaaten stehen unter ihre Geräte länger rende Unterschiede.
große, bis zu 20 Kilogramm schwere dem Druck von EU-Herstellern, die nutzen So kostete ein Waschmittelbehäl-
Werkzeugkoffer verschickt, in denen ter zwischen 5,95 Euro bei Siemens
simple Dinge wie ein Klebeband- und 72,60 Euro bei Bauknecht. Ein
schneider genauso zu finden sind wie Dichtring war bei Beko für 38,88
eine Batteriepresse oder eine »be- Euro und bei Miele für 118,43 Euro
heizte Ausbauvorrichtung für das zu haben. Von »beträchtlichen Preis-
Display«. unterschieden bei vergleichbaren Er-
Finanziell lohnt sich der Do-it- satzteilen« berichten die Verbrau-
Yourself-Einsatz kaum. Um ein ka- cherschützer – und warnen vor den
puttes Display zu reparieren, zahlt absehbaren Folgen. »Sind Ersatzteile
man bei Apple 332,76 Euro für die zu teuer«, klagt VZBV-Expertin Ma-
Rober t Fishman / ecomedia / IMAGO

Ersatzteile plus 54,74 Euro für die rion Jungbluth, »hält das Verbraucher
Werkzeugmiete. Schickt man das de- vom Reparieren ab.«
fekte Display an den Konzern zurück, Wenn die EU es ernst meint, müss-
fallen dafür etwa Gesamtkosten von ten Ersatzteile billiger und Neupro-
347 Euro an. Für denselben Display- dukte teurer werden. Ein Programm,
tausch durch einen Techniker veran- das den Widerstand von Herstellern
schlagt Apple 339 Euro. Bei Sam- und Verbrauchern gleichermaßen he-
sungs Galaxy S21 fallen für dieselbe rausfordert.
Operation gut 170 Euro an. Heinrich Jung, der Reparaturpio-
Kein Wunder, dass viele Experten nier aus Ingelheim, ist dennoch zu-
zweifeln, ob das geplante EU-Recht versichtlich, dass die Menschen den
viel an der Wegwerfkultur ändern Weg aus der Wegwerfökonomie fin-
wird. den. Er kann sich vor Aufträgen kaum
Um wirklich etwas zu bewegen, retten.
müsste Brüssel den Herstellern wo- Zum Jahresbeginn hat der 67-Jäh-
möglich ganz neue Konstruktions- rige den Betrieb an seinen Sohn über-
prinzipien verordnen, wie sie die nie- geben. Er will jetzt vor allem Vorträ-
Florian Schuh / picture alliance / dpa

derländische Firma Fairphone prak- ge halten und Internetvideos drehen,


tiziert. Das Unternehmen, das sich damit auch seine Kollegen den Zau-
strenge Nachhaltigkeitskriterien ge- ber des Reparierens wiederentde-
setzt hat, legt seine Smartphones mo- cken. Es sei sein »größter Wunsch«,
dular aus. Für den Austausch reicht sagt er, »endlich mehr Konkurrenten
in der Regel ein Kreuzschlitzschrau- zu haben«.
bendreher, die Preise für Ersatzteile Kristina Gnirke, Matthias Kremp,
sind moderat. Zudem verspricht das Michael Sauga n

Nr. 4 / 20.1.2024 DER SPIEGEL 63


WIRTSCHAFT

SPIEGEL: Finanzminister Christian Lindner


sagt, in dieser Legislaturperiode werde das
nichts mehr.
Enders: Es scheint Uneinigkeit in der Ampel
zu geben. Tatsächlich wäre es ein wichtiges

»Ich wünsche mir, gesamtgesellschaftliches Signal, dass das Kli-


mageld vor dem Ende der Legislaturperiode
kommt. Ich habe da noch Hoffnung.

dass die Regierung dieses SPIEGEL: Die Regierung argumentiert, den


Stromverbrauchern seit 2022 die EEG-Um-
lage zu ersparen. Das bringe Entlastung.

Versprechen einlöst« Enders: Wenn man den Bürger darauf hin-


weist, dass er keine EEG-Umlage mehr zahlt,
dann fragt er wahrscheinlich: Was war das
noch mal genau? Es kommt auch auf das
WIRTSCHAFTSPOLITIK Die neue Chefin der bundeseigenen Energieagentur, Signal an, das eine solche Entlastung sendet –
das Klimageld ist transparent und klar ver-
Corinna Enders, plädiert dafür, das Klimageld noch in dieser ständlich. Was der Staat durch den CO2-Preis
Legislaturperiode einzuführen und die Schuldengrenze zu reformieren. einnimmt, gibt er per Klimageld zurück. Und
das überproportional an diejenigen, die es am
meisten gebrauchen können.
Enders, 46, leitet seit Oktober 2023 die daran, dass nicht gut genug kommuniziert SPIEGEL: Abgesehen vom Klimageld: Was
Deutsche Energie-Agentur (Dena). Das staats- wird, warum wir diese Anstrengungen ma- könnte die Menschen optimistischer stimmen,
eigene Unternehmen berät die Regierung in chen. Es geht nicht nur um die Erderwär- was die Energiewende betrifft?
energie- und klimapolitischen Fragen. mung, die im vergangenen Jahr bei 1,4 Grad Enders: Wir müssen die Transformation mehr
angekommen ist. Es geht auch darum, unse- mit Erfolgsgeschichten erzählen. Zum Bei-
SPIEGEL: Frau Enders, Sie verdanken Ihren ren Wohlstand zu halten und den Wirtschafts- spiel Menschen, die wirtschaftlich am Erfolg
Job der sogenannten Trauzeugenaffäre, über standort zu sichern. von Windparks teilhaben. Es gibt einen Ver-
die Energiestaatssekretär Patrick Graichen SPIEGEL: Wie lässt sich die Stimmung ändern? lust an Vertrauen, dass die Politik das Richti-
stürzte und Bundeswirtschaftsminister Robert Enders: Ein wichtiges Instrument steht ja im ge macht. Nur mit großen Plakaten der Bun-
Habeck in Bedrängnis geriet. Wie sehr hat die Koalitionsvertrag: das Klimageld, das einen desregierung wird man nicht viel erreichen.
Dena unter dem Skandal gelitten? Ausgleich für den steigenden CO2-Preis bie- SPIEGEL: Wie groß ist Ihre Sorge, dass künf-
Enders: Wir haben nicht gelitten, sondern tet und an die Menschen gezahlt werden tige Regierungen die Klimaziele abschaffen?
durch diese mediale Präsenz eher an Bekannt- soll. Ich wünsche mir, dass die Regierung Enders: Es gibt Strömungen am rechten Rand,
heit gewonnen, worauf wir allerdings gut hät- dieses Versprechen einlöst und das Klima- da ist das so. Aber die großen demokratischen
ten verzichten können. geld noch in diesem oder im nächsten Jahr Parteien sehen die Pariser Klimaziele als ge-
SPIEGEL: Die Dena wirkte wie ein Spielball einführt. setzt, zudem gibt es einen großen gesellschaft-
politischer Kräfte. lichen Konsens. Am Umbau der Wirtschaft
Enders: Die Dena ist eine bundeseigene Ge- und der Klimaneutralität bis 2045 darf nicht
sellschaft, die zu 90 Prozent für die Regierung Strom erneuerbar, gerüttelt werden.
arbeitet. Insofern ist da eine Nähe. Wir arbei- Heizung fossil SPIEGEL: Deutschland steht klimapolitisch
ten aber immer auf Basis von Verträgen, für nicht gerade glänzend da, oder? Der Ausbau
die wir ein Angebot machen und einen Zu- Öffentliche Nettostromerzeugung aus der Windkraft etwa lag auch 2023 hinter den
schlag bekommen. erneuerbaren Energien in Deutschland, Zielen der Regierung zurück.
in Terawattstunden
SPIEGEL: Belastet es Sie nicht, dass Ihren Job Enders: Es ist zum Glück einiges passiert, um
ursprünglich Graichens Trauzeuge Michael 250 Genehmigungsverfahren zu beschleunigen
Schäfer bekommen sollte? 200 und Bürokratie abzubauen. Das wirkt sich
Enders: Ich habe mich beworben und ein Aus- in der Windkraft aber nicht innerhalb von
wahlverfahren mit 130 Bewerberinnen und 150 ein, zwei Jahren aus. Beim Ausbau der Solar-
Bewerbern durchlaufen, mit einer Kommis- 100 energie zeigen sich Erfolge schneller.
sion, die in einem mehrstufigen Verfahren SPIEGEL: Immer wieder müssen Windparks
50
neutral entschieden hat. zeitweise abgeschaltet werden, weil die Net-
SPIEGEL: Die Ampelkoalition hat enorm an ze den Strom nicht abtransportieren können.
Zuspruch verloren, gerade in der Energie- und 2006 2023 Enders: Beim Netzausbau sind wir in den
Klimapolitik. Welches Zwischenzeugnis stel- vergangenen Jahren nicht so gut vorangekom-
len Sie der Regierung aus? Absatz von Heizungen in Deutschland, men wie nötig. Allerdings wurden nun ver-
Januar bis September 2023
Enders: Sie hat vieles auf den Weg gebracht – ggü.
einfachte und beschleunigte Verfahren für
in einer schwierigen Lage: Ukrainekrieg und Gasheizungen 2022 den Bau vieler Kilometer angestoßen. Das
Energiekrise. Dass im vergangenen Jahr erst- 625.000 +38% stimmt mich optimistisch für die Zukunft.
mals mehr als die Hälfte des Stroms in Wärmepumpen SPIEGEL: Sollte man die Entscheidung der
Deutschland aus erneuerbaren Energien kam, 295.500 +86% Vorgängerregierung zurücknehmen, dass
ist ein Erfolg. Aber ja: In anderen Bereichen neue Höchstspannungskabel vom Norden in
Ölheizungen
ist noch sehr viel zu tun. den Süden in der Erde verbuddelt werden
81.500 +105%
SPIEGEL: Die Proteste dieser Tage zeigen, dass müssen? Das würde viel Geld sparen.
viele Menschen das Tempo der Energiewende Biomasseheizungen* Enders: Dieses Fass aufzumachen, davor kann
ablehnen, sie fühlen sich offenbar überfordert. 46.000 -32% ich nur warnen. Auch wenn das viel Geld
Enders: Durch die vielen Krisen gibt es eine * Scheitholz, Pellet, Kombi-Kessel, Hackschnitzel kostet. Wichtig ist es, bei diesen Projekten in
gewisse Klimamüdigkeit. Das liegt vor allem S Quellen: Fraunhofer ISE, BDH den Beteiligungsverfahren frühzeitig die

64 DER SPIEGEL Nr. 4 / 20.1.2024


WIRTSCHAFT

damit verbundenen Mehrkosten für alle Ver-


braucher anzusprechen.
SPIEGEL: Die Regierung hat kurz vor dem
Jahreswechsel eine Milliardenentlastung bei
den Strom-Netzentgelten abgeblasen. Ein
verheerendes Signal für eine Gesellschaft, die
auf Elektroautos, Wärmepumpen und elek-
trische Industrieprozesse umsteigen will?
Enders: Die Strompreise haben 2022 krisen-
bedingt einen absoluten Höhepunkt erreicht,
seitdem geht es wieder hinunter, wenn auch
nicht auf Vorkriegsniveau. Langfristig werden
die Strompreise mit dem Ausbau der erneuer-
baren Energien sinken.
SPIEGEL: Das verspricht die Regierung stän-
dig. Wann ist es denn so weit?
Enders: Ich erwarte, dass die Erneuerbaren
in rund zehn Jahren die Strompreise deutlich
senken. Nur müssen wir sie jetzt konsequent
ausbauen.
SPIEGEL: Das ist noch eine ganze Weile hin.
Wie sehr fehlt dem Strommarkt in der Zwi-
schenzeit die Atomkraft?
Enders: Gar nicht. Es gab einen Konsens in
Deutschland, aus der Atomkraft auszusteigen.
Wir sollten dieses Kapitel nicht wieder auf
den Tisch bringen. Andere Länder haben sich
anders entschieden, aber neue Atomkraft-
werke erfordern unfassbare Investitionen,
auch Zwischen- und Endlagerung sind kost-
spielig. Alle Studien zeigen, dass unser Weg
Jens Gyarmaty / DER SPIEGEL

machbar ist.
SPIEGEL: Hätten die drei letzten Atommeiler
nicht geholfen, die Strompreise zu senken?
Enders: Nein, diese Effekte sind zu vernach-
lässigen. Wir sollten verstärkt in erneuerbare
Energien investieren, denn die machen den
Strom auf lange Sicht günstiger. Dena-Geschäftsführerin Enders: »Verlust an Vertrauen, dass die Politik das Richtige macht«
SPIEGEL: Auch aus der Kohleverstromung will
die Regierung »idealerweise« bis 2030 aus- SPIEGEL: Der Absatz von Wärmepumpen war tet. Wie schaut man dort auf die Energie-
steigen. Glauben Sie noch, dass das klappt? im Jahr 2023 hoch, aber noch viel mehr Men- wende?
Enders: Wir sollten dieses Ziel im Blick be- schen haben schnell noch eine Gas- oder Öl- Enders: 90 Prozent der Energie stammen dort
halten, und ich bin sicher, dass wir es schaffen heizung geordert. Ging die Kommunikation aus erneuerbaren Quellen wie der Geother-
werden. Wir brauchen allerdings neue Gas- der Regierung nach hinten los? mie. Als ich dort war, entstand im Norden ein
kraftwerke, die künftig mit grünem Wasser- Enders: Es ist kein gutes Signal, dass jetzt riesiger Windpark, auch Solarenergie spielt
stoff betrieben werden können. Deshalb soll- noch einmal unglaublich viele Gasheizungen eine Rolle. Für die Entwicklung des Landes
ten wir schnell mit den Ausschreibungen für verkauft wurden. Auch die Förderanträge für ist das ein Segen, weil die Erneuerbaren an
diese Back-up-Kraftwerke beginnen, wenn Wärmepumpen sind in den vergangenen vielen Orten Elektrizität bereitstellen, wo es
wir 2030 aus der Kohle raus sein wollen. Monaten zurückgegangen, das lag allerdings sie bislang gar nicht gab.
SPIEGEL: Wie soll das bezahlt werden? auch an der unklaren Förderung. Insgesamt SPIEGEL: Wie organisieren Sie persönlich ein
Enders: Für diese neuen Kraftwerke sind Mit- gibt es in Deutschland aber immer noch vie- möglichst klimaschonendes Leben?
tel im Bundeshaushalt vorgesehen, leider mit le alte Heizungen – es liegt also ein riesiger Enders: Ich lebe in einer Wohnung in der Stadt
einer zeitlichen Verzögerung gegenüber bis- Hebel im Heizungstausch. Dafür ist jetzt auch und habe kein eigenes Auto. Ich bin ein großer
herigen Planungen. Die Transformation zu die Förderung da. Fan von öffentlichen Verkehrsmitteln oder dem
finanzieren halte ich für eines der zentralen, SPIEGEL: Viele Förderungen funktionieren Fahrradfahren. Wenn ich in meine alte Heimat
erfolgskritischen Themen. Das ist eine Ge- nach dem Gießkannenprinzip. Ob ein Haus- Kenia will, nehme ich natürlich das Flugzeug
meinschaftsaufgabe für den Staat und priva- halt auch aus eigener Kraft sanieren könnte, und kompensiere. Ich möchte aber niemandem
te Investoren. Was den Staat betrifft: Da spielt keine Rolle. Brauchte es künftig mehr vorschreiben, wie er sein Leben organisiert.
braucht es einen parteiübergreifenden An- soziale Treffsicherheit? SPIEGEL: Viele Bürger haben dennoch das Ge-
satz, die notwendigen Mittel bereitzustellen. Enders: Die neue Förderung für den Heizungs- fühl, dass klimabewusst lebende Menschen
Wir müssen darüber nachdenken, die Schul- tausch kennt immerhin Abstufungen je nach ihnen ein schlechtes Gewissen machen.
denbremse zu reformieren. Einkommen. Man muss jetzt schauen, wie sie Enders: Jeder muss selbst ein Bewusstsein
SPIEGEL: Braucht es einen neuen Topf, mit angenommen wird. Wenn ein Programm einmal dafür entwickeln, wie er leben will, und eigen-
dem der Staat die Energiewende ankurbelt? aufgesetzt ist, bietet das genau die Planbarkeit verantwortlich entscheiden. Ich empfinde es
Enders: Es gibt unterschiedliche Ansätze, von und Verlässlichkeit, über die wir sprachen. nicht als Verzicht, mit der Tram statt mit dem
einem zusätzlichen Fonds bis zu einer Reform Gleich wieder alles zu ändern wäre nicht richtig. Auto zu fahren.
der Schuldenbremse. Ich glaube, das ist sehr SPIEGEL: Sie haben einige Jahre für das Interview: Benedikt Müller-Arnold,
überlegenswert. Uno-Umweltprogramm in Kenia gearbei- Gerald Traufetter n

Nr. 4 / 20.1.2024 DER SPIEGEL 65


WIRTSCHAFT

Zentrale der Deutschen


Versicherungen direkt in die Brief­
Post in Bonn zentren der Post einliefern, von der
Mehrwertsteuer befreit sein.
Das Problem: Auf diesem Markt
für sogenannte Teilleistungen tum­
meln sich derzeit noch eine Reihe klei­
ner Briefunternehmen, die Sendungen
mehrerer Behörden oder Unterneh­
men bündeln, vorsortieren und dann
mit hohen Rabatten in die Briefzen­
tren der Post einliefern. Anders als der
teilstaatliche Marktführer müssten sie
nach den Plänen der Bundesregierung
weiterhin eine Mehrwertsteuer von
19 Prozent erheben, weil sie keinen
Universaldienst anbieten. Ein offen­
sichtlicher Wettbewerbsnachteil für
diese Unternehmen, denn die Post
könnte ihre Preise senken, sie nicht.
Die Wettbewerbsverzerrung zu­
lasten privater Herausforderer kostet
den Staat viel Geld. Rund eine halbe
Milliarde Euro, rechnet der Bundes­
verband Briefdienste, ein Zusammen­

Frieder Blickle / laif


schluss der Postkonkurrenten, vor.
Der Ex­Monopolist sagt, die Summe
falle kleiner aus.
In der Rechnung sind noch nicht
jene Mehrwertsteuerzahlungen be­
rücksichtigt, die künftig ausbleiben,
weil private Konkurrenten der Post
aufgeben. Etlichen Wettbewerbsex­
perten erscheint eine solche Entwick­

Lindners seltsame lung unausweichlich.


Vom Marktführer Deutsche Post
hingegen heißt es, es sei doch plausi­

Brieffreundschaft bel, wenn nicht nur voll bezahlte


Briefe unter den Universaldienst fal­
len, sondern auch günstigere Briefe,
bei denen sie nur die Verteilung über­
KONZERNE Der Finanzminister erlässt der übermächtigen Post Hunderte nimmt. Schließlich trage der Konzern
»den teuren Part der flächendecken­
Millionen Euro Mehrwertsteuer, der Konkurrenz jedoch nicht. den Zustellung«, sagt Volker Ratz­
Warum beschädigt ausgerechnet ein Liberaler den Wettbewerb? mann, der als Postlobbyist auf die
Politik einwirkt. Aus Sicht der Post
handelt es sich auch nicht um ein
n der Theorie hat Christian Lind­ Robert Habeck fällt, ein Steuerge­ Steuergeschenk, stattdessen setze die
I ner die Sache mit dem Wett­
bewerb verstanden. Er glaubt an
die segensreiche Wirkung des Mark­
schenk für die teilstaatliche Deutsche
Post AG (DPAG) ein. Auf Drängen
von Lindners Bundesfinanzministe­
Schwere
Zeiten
Bundesregierung nur europäisches
Recht um.
Mit dem Steuerdisput befassten
tes. Eingriffe ins freie Spiel der Kräf­ riums (BMF) soll die Post auf weitere Abfertigung der sich schon die Gerichte. Der Rechts­
te sieht der Finanzminister und FDP­ Teile ihres Angebots künftig keine Deutschen Post streit begann 2015 mit der Frage, ob
im Briefgeschäft,
Vorsitzende skeptisch. Gern warnt er Mehrwertsteuer mehr zahlen müssen. Veränderung gegen-
Postzustellungsaufträge – also Briefe,
vor übermäßiger staatlicher Regulie­ Der Kassenwart verzichtet damit über dem Vorjahr, die persönlich dem Empfänger aus­
rung oder der Marktmacht einzelner nicht nur auf Hunderte Millionen in Prozent gehändigt werden müssen – auch zum
Unternehmen. Euro, er schwächt auch den Wettbe­ Universaldienst gehören und somit
2020 2021 2022 2023*
In der Praxis hat Lindner manch­ werb auf dem Briefmarkt, der schon umsatzsteuerfrei sein müssen. Ja,
mal Mühe, den eigenen Ansprüchen jetzt weitgehend vom ehemaligen –0,3 –0,7 urteilte der Europäische Gerichtshof
zu genügen. Jüngstes Beispiel ist das Staatsmonopolisten beherrscht wird. 2019. Damit bröckelte die Zweiteilung
sogenannte Postrechtsmodernisie­ Bislang sind nur Briefe von Privat­ bei der Mehrwertsteuer. Die Post wit­
rungsgesetz, ein Vorhaben der Bun­ kunden von der Mehrwertsteuer be­ terte ihre Chance und errang 2021 den
desregierung, das auch den Wettbe­ freit, so schreibt es eine EU­Richtlinie –6,2 nächsten Etappensieg.
werb auf dem Briefmarkt stärken soll seit Jahren vor. Ein Zugeständnis we­ Denn nun entschied das Finanz­
und kurz vor Weihnachten vom Ka­ gen des sogenannten Universaldiens­ gericht Köln, dass auch Teilleistungen
binett verabschiedet wurde. tes, der eine flächendeckende Ver­ unter den Universaldienst fallen und
–10,4
Lindner und seine Leute bauten in sorgung mit Postdienstleistungen ge­ mehrwertsteuerfrei sein müssen. Der
* Jan. bis Sept. 2023 gegen-
das neue Gesetz, das in die Zuständig­ währleisten soll. Künftig sollen auch über Jan. bis Sept. 2022 konkrete Fall ging zurück auf einen
keit des grünen Wirtschaftsministers Massensendungen, die beispielsweise S Quelle: Deutsche Post Umsatzsteuerbescheid aus dem Jahr

66 DER SPIEGEL Nr. 4 / 20.1.2024


WIRTSCHAFT

2016. Seitdem hat die Post nach eigenem Be- verlieren würde«, schreibt das Institut in
kunden mehr als zwei Milliarden Euro Mehr- einem Gutachten. Es stehe zu befürchten,
wertsteuer auf Teilleistungen an den Fiskus dass der Steuerrabatt für das Staatsunterneh-
abgeführt, die sie zurückhaben möchte. men »binnen kurzer Zeit zu einer Remono-
Für Bund und Länder geht es also um viel polisierung des Briefmarktes führen würde«.
Geld. Die Finanzverwaltung ist gegen das Den früheren Staatsmonopolisten Post
Urteil in Revision gegangen, über die nun dürfte es freuen. Sein Stammgeschäft steht
eigentlich der Bundesfinanzhof in München unter Druck. Die Briefmengen sind zuletzt
entscheiden müsste. stark zurückgegangen. Die Bilanz für das Ge-
Die Post gibt sich zuversichtlich, das Revi- samtjahr steht noch aus, aber von Januar bis
sionsverfahren gewinnen zu können. »Doch September 2023 beförderte die Post gut sechs
würde es einen erheblichen Aufwand für alle Prozent weniger Briefe als im Vorjahreszeit-
Seiten bedeuten, sämtliche Umsatzsteuer- raum. Hilfe aus Berlin ist da willkommen.
bescheide seit 2016 rückabzuwickeln«, Lindner nennt seinen Steuerrabatt allen
schränkt Postlobbyist Ratzmann ein. »Der Ernstes »wettbewerbsneutral«. Die nationa-
Fiskus müsste dann mehr als zwei Milliarden le Umsatzsteuerbefreiung gelte »für alle Post-
Euro zu Unrecht erhobener Mehrwertsteuer Anbieter von Universaldienstleistungen«,

Thomas Kienzle / AFP


an uns zurückerstatten.« Aber auch Einliefe- lässt er mitteilen. Das ist blanker Hohn,
rer könnten wiederum an die Post herantreten schließlich gibt es in Deutschland nur einen:
und Geld zurückfordern, das sie an Umsatz- die Deutsche Post AG.
steuer auf Teilleistungen gezahlt haben. Das Die Operation Steuergeschenk könnte sich
würde kompliziert. Finanzpolitiker Lindner
auf ein weiteres Vorhaben Lindners günstig
Die Post bot deshalb eine Art Deal an. auswirken. Die Bundesregierung will noch in
»Der Gesetzgeber kann jetzt für die Zukunft Noch eindringlicher warnt der Düsseldor- diesem Jahr weitere Anteile der Post verkau-
diese Unsicherheit beseitigen und klarstellen, fer Wettbewerbsökonom Justus Haucap in fen, um mit dem so erlösten Geld das Eigen-
dass Teilleistungen zum Universaldienst ge- einer Stellungnahme. Die Ausdehnung der kapital der Bahn aufzustocken.
hören und umsatzsteuerfrei sind«, erklärt Mehrwertsteuerbefreiung für die Post »droht Das Präsent aus Berlin könnte den Marktwert
Ratzmann den Vorschlag. »Wir würden in den im Briefmarkt noch existierenden Rest- des Logistikers steigern. Je besser dessen Ge-
diesem Fall auf die Rückabwicklung und wettbewerb endgültig zu erdrosseln«. schäfte laufen, desto höher steigt der Aktienkurs,
Rückerstattung verzichten können.« Im federführenden Habeck-Ministerium desto mehr erlöst der Bund beim Anteilsverkauf.
Diesem Lockruf erlag Lindner gern, auch sind die Experten alles andere als glücklich Mittlerweile stoßen die Pläne aber auf poli-
wenn er damit gegen seine marktliberalen über die Intervention aus dem BMF. Doch tischen Widerstand im Bundesrat. Weil es um
Überzeugungen verstößt. Lieber verzichtet mit öffentlicher Kritik halten sie sich um des Steuern geht, muss die Länderkammer zu-
er in der Zukunft auf Steuereinnahmen, als Koalitionsfriedens willen zurück. Das Wissen- stimmen. Bayern will die Steuerbefreiung für
Gefahr zu laufen, in Zeiten knappen Geldes schaftliche Institut für Infrastruktur und Kom- die Post aus dem Gesetz streichen lassen. Der
vor Gericht zur Rückerstattung etlicher Mil- munikationsdienste, eine komplett vom Wirt- Vorschlag habe »massive Auswirkungen auf
liarden verdonnert zu werden. schaftsminister finanzierte Forschungseinrich- das Geschäftsmodell privater regionaler oder
Lindners Sündenfall hat seinen Preis für tung, nimmt dagegen keine Rücksicht. lokaler Briefzustellerunternehmen«. Ein stär-
den Wettbewerb, wie etliche Experten be- »Eine Umsetzung der Mehrwertsteuerbe- kerer Wettbewerb werde so nicht erreicht.
klagen. Die Ausweitung der Umsatzsteuer- freiung für Teilleistungen der DPAG würde Zudem koste das Vorhaben Bund, Länder und
befreiung sei »kritisch zu sehen«, schreibt die kurz- bis mittelfristig bedeuten, dass der Zu- Kommunen Steuereinnahmen.
Monopolkommission in einem Kurzgutach- stellwettbewerb im deutschen Briefmarkt mit Andere Länder könnten sich dem Vorstoß
ten zu dem Gesetzentwurf. »Dies verschafft sehr hoher Wahrscheinlichkeit großen Scha- Bayerns anschließen. Beim Geld verstehen
der Deutsche Post AG einen Wettbewerbs- den nehmen und seine disziplinierende Wir- sie für gewöhnlich keinen Spaß.
vorteil.« kung auf das Verhalten der Deutschen Post Benedikt Müller-Arnold, Christian Reiermann n
AUSLAND

Sohail Shahzad / EPA-EFE


Transgender-Personen besuchen eine Schulklasse in der pakistanischen Stadt Rawalpindi. Der Unterricht ist Teil eines Pilotprojekts in der
Islamia Higher Secondary School, initiiert hat es die Bezirksverwaltung mit Unterstützung der örtlichen Polizei. Durch den regelmäßigen
Schulbesuch soll mehr als 100 transgeschlechtlichen Menschen das Grundrecht auf Bildung ermöglicht werden. Dies soll dazu beitragen, dass
sie in der muslimisch geprägten Gesellschaft Pakistans weniger diskriminiert werden und eines Tages Ausbildungsplätze und Arbeit finden.

wurden festgenommen und sitzen im Gefängnis. Tusks Justiz-


Chaot oder Retter? minister versucht, sich der Staatsanwälte zu entledigen, die
die PiS installiert hat. Es wird in Kürze auch um rund 2000 Rich-
ter gehen, die von einem durch die PiS kontrollierten Berufungs-
ANALYSE Polens neuer Premier Donald Tusk trifft
gremium eingesetzt wurden. Doch was geschieht mit Tausenden
auf harten Widerstand seiner Vorgänger. Urteilen, die sie gefällt haben? Sind sie ungültig?
Der von Tusk angeschobene Reformprozess ist voller juristi-
Der Tag begann gut für den neuen Premier Donald Tusk. Am scher Fallen. Gut möglich, dass der Mann, der angetreten ist, die
Donnerstag um 10.07 Uhr meldeten die Medien: Die liberale Rechtsstaatlichkeit wiederherzustellen, plötzlich selbst in den
Regierung hat einen Haushalt durch den Sejm gebracht. Das ist Ruch gerät, es mit den Gesetzen nicht ganz genau zu nehmen.
ein wichtiger Schritt. Denn möglicherweise trachtet der Präsi- Die PiS jedenfalls versucht alles, die Glaubwürdigkeit Tusks als
dent danach, im Zuge des Verfahrens sogar das Parlament aufzu- Retter der Demokratie zu untergraben. Ihre Erzählung: Tusk ist
lösen. Präsident Andrzej Duda nämlich gehört dem national- gar nicht Sieger der vergangenen Wahl – schließlich kann er nur
konservativen Lager an. Dessen führende Kraft, die PiS-Partei, in einer Koalition regieren, während die PiS stärkste Partei ge-
hat Polen die vergangenen acht Jahre regiert. In Behörden, Ge- worden ist. Außerdem stürze er das Land in ein administratives
richten, staatlichen Firmen und Kliniken sitzen ihre Gewährs- Chaos – sodass die Nationalkonservativen plötzlich als Garanten
leute. Seit Tusk vor einem Monat die Regierungsgeschäfte über- von guter Regierungsführung und Stabilität dastehen könnten.
nommen hat, versuchen sie, ihn zu behindern, wo sie nur können. Aber der Donnerstag hielt eine weitere gute Nachricht
In den Augen der neuen Regierung steht nicht weniger als die für den Premier bereit: Umfragen zeigen, dass die Polen die PiS-
Rettung der Demokratie auf dem Spiel. Bisher hat sie der PiS Sicht vorerst nicht übernehmen. Fast die Hälfte der Befragten
immerhin den staatlichen Rundfunk entreißen können. Zwei we- gab an, die neue Regierung werde besser sein als die alte, rund
gen Amtsmissbrauchs verurteilte nationalkonservative Politiker jeder Fünfte wagt noch keine Bewertung. Jan Puhl

70 DER SPIEGEL Nr. 4 / 20.1.2024


Riskanter Zugang Teile des Landes. Somaliland
hingegen ist vergleichsweise
zum Meer friedlich und stabil. »Wir haben
HORN VON AFRIKA Am 1. Ja- für Anerkennung gekämpft, und
nuar unterzeichneten Äthio- sie ist das Wichtigste, was wir
piens Premierminister Abiy dem Volk von Somaliland bie-
Ahmed und Somalilands Präsi- ten können«, sagte der Außen-
dent Muse Bihi eine Absichts- minister von Somaliland, Essa
erklärung, die es dem Binnen- Kayd, nach der Unterzeichnung
staat Äthiopien in Zukunft er- der Absichtserklärung.
lauben würde, 20 Kilometer Doch Beobachtern bereitet
Küste von Somaliland zu pach- die mögliche Vereinbarung

Chiang Ying-ying / AP
ten. Im Gegenzug würde Äthio- Sorgen. »Der unmittelbare Ge-
pien Somaliland als souveränen winner könnte al-Schabab sein«,
Staat anerkennen, als erstes befürchtet Kjetil Tronvoll,
Land neben Taiwan. Das jedoch Experte für das Horn von Afrika
rief Somalia auf den Plan, das vom Oslo New University Lai (2. v. l.) und die designierte Vizepräsidentin Hsiao nach dem Wahlsieg
nun Äthiopien mit Krieg droht. College. Äthiopien könnte nun
Denn völkerrechtlich ist Soma- seine zur Stabilisierung des
liland ein Teil Somalias. Auch Landes nach Somalia entsand- Gesten des guten Willens
wenn das Land sich 1991 ab- ten Truppen abziehen. Auch
spaltete, heute ein de facto un- die US-Regierung befürchtet,
TAIWAN Politologe Wen-Ti Sung über William Lais
abhängiger Staat ist, mit einem dass al-Schabab durch den Deal
Parlament, eigener Währung neuen Auftrieb bekommen Wahlsieg und die heikle Phase vor seinem Amtseid
und diplomatischen Vertretun- könnte. Experte Tronvoll ist
gen im Ausland. besorgt, dass ein größerer regio- Sung analysiert die Dialogbereitschaft gegenüber
C. Dieckmann / DER SPIEGEL

Somalia wird seit fast zwei naler Krieg ausbrechen könnte: beim Atlantic China aufrechterhalten. Solange
Jahrzehnten in Teilen von al- »Das Horn von Afrika ist Council das Drei- er gewisse Gesten des guten Wil-
Schabab, einem mächtigen Ver- schon jetzt instabil. Der Deal ecksverhältnis lens zeigt, steht Peking zumin-
bündeten von al-Qaida, be- wäre ein weiterer Tropfen, zwischen Taiwan, dest eine Ausfahrt offen, bevor
herrscht. Die Regierung in Mo- der das Fass zum Überlaufen China und den es zu einer unumkehrbaren mili-
gadischu kontrolliert nur kleine bringen könnte.« FSC USA und lehrt an der Australian tärischen Eskalation greift.
National University. SPIEGEL: Welche Gesten?
Sung: Zum Beispiel Einreise-
Reiseboykott gegen denn dort hatte man das Gefühl, SPIEGEL: Herr Sung, Taiwans lockerungen für chinesische
Modi wolle den Malediven den neu gewählter Präsident Lai ist Touristen oder mehr kultureller
die Malediven Status als Touristenparadies ein starker Verfechter der Austausch, wie Lai ihn in seiner
INDIEN Ein paar Strandfotos streitig machen. Drei maledivi- Souveränität des Inselstaats. Siegesrede angedeutet hat.
reichten aus, um einen absurden sche Vizeminister bezeichneten Was bedeutet das für die Das Signal wäre: Ich lasse mir
Streit mit den Malediven zu Indiens Premier daraufhin als Beziehung mit China? von euch nichts diktieren,
provozieren. Es geht um die »Clown«, gar als »Terroristen«. Sung: Im Umgang mit Peking habe aber auch nicht aus Prin-
Frage: Wer hat die schönsten Die Inder, bislang die größte gibt es in Taiwan zwei Denk- zip etwas gegen euch.
Sandstrände? Kurz nach Neu- Touristengruppe auf den Maledi- schulen: Abschreckung und SPIEGEL: Chinas Reaktion auf
jahr hatte Indiens Premier ven, reagierten mit Aufrufen zu Entgegenkommen. Lai steht für Lais Wahlsieg beläuft sich
Narendra Modi Bilder in den Reiseboykotten. Daraufhin ent- Abschreckung. auf das übliche rhetorische Ge-
sozialen Medien geteilt. Darauf ließ die Regierung in Malé zwar SPIEGEL: Zugleich betonte er polter. Warum hält sich Peking
zu sehen: Modi einsam am die Politiker, stellte aber kurz in seiner Siegesrede, er sei offen bislang militärisch zurück?
Strand. Und das Highlight: der darauf ein Ultimatum: Indien für Gespräche. Könnte Peking Sung: China scheint erkannt zu
73-Jährige im Neoprenanzug solle bis zum 15. März seine darauf eingehen? haben, dass das Säbelrasseln
mit Rettungsweste und Schnor- Truppen von den Malediven ab- Sung: Undenkbar ist es nicht. und die wirtschaftlichen Sank-
chelmaske, bereit, ins türkis- ziehen. Bei den Gruppen han- Lais Partei DPP hat jetzt drei- tionen kurz vor der Wahl ein
blaue Wasser zu gleiten. Modi delt es sich laut Neu-Delhi ledig- mal in Folge die Präsidentschaft Eigentor waren. Nun justiert es
machte Werbung für Lakshad- lich um rund 80 Techniker. Aber gewonnen, das gab es noch nie. seine Strategie. Da die DPP
weep, eine Gruppe indischer darum geht es bei dem Streit Chinas Versuche, im Wahl- aber ihre Mehrheit im Parlament
Inseln vor der Westküste. auch nur oberflächlich. Vielmehr kampf mit zornigen Drohungen verloren hat, könnten die Hard-
Auf den Malediven sorgten spielen geostrategische Interes- seinen Sieg zu verhindern, liner in der Pekinger Führung
diese Bilder für Verärgerung, sen eine Rolle. Mohamed Muiz- waren vergebens. Sollte Peking mittelfristig einen Anreiz
zu, der neue maledivische Präsi- daraus schließen, dass die DPP haben, den Druck auf Taiwan
A. Vaishnav / SOPA Images / Sipa USA / ddp

dent, will die Malediven wieder wohl oder übel auf längere Sicht aufrechtzuerhalten.
stärker Richtung China rücken. an der Macht bleiben wird, hät- SPIEGEL: Wie heikel ist die Zeit
Der Indische Ozean ist stra- te es guten Grund, seine Politik bis zu Lais Amtseinführung am
tegisch von enormer Bedeu- der Funkstille zu überdenken. 20. Mai?
tung, ein großer Teil des Welt- SPIEGEL: Lais Ziel ist die Wah- Sung: Wahrscheinlich wird China
schiffsverkehrs verläuft hier. rung des friedlichen Status quo. größere, visuell einschüch-
Peking hat Interesse daran, sei- Was wäre eine gute Strategie? ternde Militärmanöver direkt
nen Einfluss in der Region Sung: Er sollte Taiwans Bezie- vor Lais Amtseid durchführen,
auszubauen. Neu-Delhi sieht hungen mit den USA und ande- um den Ton für die nächsten
Plakat zur Unterstützung Modis das mit Argwohn. LH ren Partnern vertiefen, aber auch vier Jahre zu setzen. CDI

Nr. 4 / 20.1.2024 DER SPIEGEL 71


AUSLAND

Die Schlafwandler
NAHOST Israelische Attentate im Libanon, Huthi-Angriffe im Roten Meer, iranische Luftschläge
in Syrien und im Irak: Taumelt die ganze Region in einen großen Krieg?

ie Villa des kurdischen Bau­ Noch beteuert Israels Kriegskabinett, auf Stellungen der jemenitischen
D magnaten Peshraw Dizayee
war ein prächtiges Anwesen,
groß wie ein Palast, umgeben von
mit dem Libanon zu einer diploma­
tischen Verständigung kommen zu
wollen. Doch die Eskalation an ver­
Huthi­Miliz in den Bergen oberhalb
des Roten Meeres feuern würden?
Oder dass kurdische Zivilisten wie
einem üppigen Park. Übrig ist da­ schiedenen Orten, die Raketen zur der Bauunternehmer Peshraw Di­
von seit der Nacht zum Dienstag nur erklärten Abschreckung, die wieder zayee im Nordirak von iranischen
noch ein Betonskelett, umgeben von Vergeltung nach sich ziehen, selbst Raketen getötet würden? Letztere
Trümmern, Mauerresten und ge­ die Gefahr schlichter Missverständ­ wiederum hatte Iran mutmaßlich
knickten Palmen. nisse machen die Lage immer weniger als Vergeltung für die Drohnenatta­
Irans Revolutionswächter erklär­ kontrollierbar. cke auf einen iranischen General bei
ten sich verantwortlich für die Rake­ Am Anfang stand der mörderische Syriens Hauptstadt Damaskus ab­
tenangriffe auf Dizayees Anwesen im Überfall der Hamas und anderer Isla­ gefeuert – mutmaßlich eine israeli­
nordirakischen Arbil, die den Unter­ mistengruppen aus Gaza am 7. Okto­ sche Operation.
nehmer, seine fast einjährige Tochter ber auf israelische Armeeposten und Die Ursachen liegen tief. Lokale
und weitere Zivilisten töteten. Tehe­ Siedlungen, die Ermordung von etwa Machtinteressen, regionale Loyali­
ran behauptete, es habe israelische 1150 Menschen, die Geiselnahme von täten und politische Opportunität,
»Spionagezentren« angegriffen – mehr als 240 weiteren. Seit mehr als ideologische Dogmen und öffentliche
mutmaßlich in Reaktion auf Israels 100 Tagen führt Israel Krieg gegen Meinung befeuern das Kampfgesche­
Ermordung eines ihrer Kommandeu­ Gaza, will die Hamas dort vernichten hen des Nahen Ostens. Und es wird
re Wochen zuvor. und belagert den gesamten Küsten­ immer schwerer zu bändigen.
Die Wut, aber auch die Fassungs­ streifen. 24.000 Menschen sind dort Die weiterhin wohl größte Gefahr
losigkeit unter Iraks Kurden über den bislang ums Leben gekommen. liegt an der umstrittenen Grenze
Angriff ist groß, hat Proteste und Gaza ist der Ausgangspunkt. zwischen Nordisrael und dem Liba­
Boykottaufrufe ausgelöst: »Warum Doch wer hätte Anfang Oktober non. Angesichts der immer häufi­
greift Iran uns an?«, empört sich Mar­ geahnt, dass drei Monate später in geren Gefechte dort zwischen der
wa Said, eine 23­jährige Studentin: einer Art Kettenreaktion auf das Hisbollah und Israels Armee warn­
»Wenn Iran ein Problem mit Amerika Geschehen in Gaza amerikanische te Uno­Generalsekretär António
oder Israel hat, dann haben sie die und britische Streitkräfte Raketen Guterres am Montag in dramatischer
vor ihrer Nase. Warum töten sie unse­ Wortwahl: »Hört auf, an der blauen
re Kinder, unsere Familien? Warum Linie mit dem Feuer zu spielen, de­
töten sie uns?« Teherans langer Arm eskaliert, und bringt die Gewalt zu
Wäre der Nahe Osten ein Lösch­ einem Ende.«
blatt und die Kriege und Krisen in der Einflussgebiete Irans im Nahen Osten Schon unmittelbar nach dem Ha­
und unterstützte Gruppen
Region wären Tintenflecken, sähe das mas­Überfall am 7. Oktober hatte
im Moment so aus: Es tauchen immer Israels Regierung versucht, die US­
mehr Tintenflecken auf. Der Gaza­ TÜRKEI SYRIEN Regierung zu überzeugen, dass in
streifen, das libanesisch­israelische Assad-Regime, Wirklichkeit die Hisbollah hinter der
Grenzgebiet, Arbil im Nordirak, die LIBANON schiitische Attacke stecke und ebenfalls angrei­
Hisbollah Milizen Arbil
Berge des Westjemens und das Rote Teheran fen wolle. Israel müsse dem zuvor­
Meer. Manche Flecken breiten sich Beirut Damaskus
kommen mit einem massiven Präven­
IRAN
aus. Noch sind sie getrennt voneinan­ ISRAEL IRAK tivschlag, unterstützt von den Ame­
der. Fließen die ersten zusammen, schiitische rikanern.
erhöht sich das Risiko, dass sich nach GAZA- JORDANIEN Milizen Doch für Beteiligung und Angriffs­
STREIFEN KUWAIT
und nach alle vereinen. Das Risiko, u. a. Hamas pläne der Hisbollah gab es keine Be­
dass der Nahe Osten von Israel bis lege. »Bad intelligence«, schlechte
Iran, vom Libanon bis zum Jemen in BAHRAIN
VEREINIGTE Aufklärung, nannte es später ein US­
einem großen Krieg versinkt. ÄGYPTEN ARABISCHE Vertreter gegenüber der »Washington
Rotes SAUDI-
KATAR EMIRATE
Noch ist es nicht so weit, noch ver­ Meer ARABIEN Post«. Präsident Joe Biden habe
suchen die Regierungen in den USA, mehrmals am Tag mit dem Kriegs­
in der EU und am Golf mit Appellen, kabinett telefoniert, um Israel vom
Druck und Drohungen, eine weitere OMAN Großangriff auf die Hisbollah abzu­
Eskalation zu verhindern. Noch will SUDAN bringen. Sonst wäre »die Hölle los­
Irans Führung weder das eigene Land Sanaa JEMEN
Arabisches
gebrochen«.
noch die ihr ergebene Milizpartei His­ Huthi- Milizen Wie ein Gegenangriff der Hisbollah
Meer
S Quelle: Sanaa Center
bollah im Libanon mit hineinziehen. auf Israel aussehen könnte, skizziert

72 DER SPIEGEL Nr. 4 / 20.1.2024


AUSLAND

Jalaa Marey / AFP

Israelische Soldaten mit Geschütz an der Grenze zum Libanon: »Hört auf, an der blauen Linie mit dem Feuer zu spielen«

Nr. 4 / 20.1.2024 DER SPIEGEL 73


AUSLAND

der britische Analyst Nicholas Blanford gegen­


über dem SPIEGEL: »Flughäfen, Kraftwerke,
Häfen, Militärbasen, Einkaufszentren, alles
würde angegriffen werden mit Raketen. Das
ganze Land käme zum Erliegen. Wellen von
Tausenden Raketen würden auch die israeli­
schen Abwehrsysteme überfordern. Die mo­
dernsten unter ihnen tragen Sprengköpfe von
einer halben Tonne Gewicht über 300 Kilo­
meter Reichweite und treffen auf zehn Meter

Iranian Supreme Leader‹S Office / ZUMA Wire / IMAGO


präzise. Die Raketenangriffe der Hamas wären
ein leichter Sommerregen gewesen im Ver­
gleich zur Sturmflut, die nun über Israel he­
reinbräche.«
All das weiß auch Israels Militär, weshalb
seit dem letzten Krieg 2006 die Grenze
17 Jahre lang weitgehend ruhig blieb. Ab­
schreckung funktionierte. Man versicherte
sich der gegenseitigen Feindschaft, schoss ge­
legentlich ein paar Granaten in einen men­
schenleeren Berghang.
In den ersten Wochen nach dem 7. Oktober Irans Revolutionsführer Khamenei (M.) auf Waffenmesse: Material für drei atomare Sprengsätze
lieferten sich Israel und die Hisbollah immer
lediglich begrenzte Gefechte. »Noch halten Grenzgebieten, ging international weitgehend Unterwerfung nie mehr funktioniert. Die Pa­
sich alle an die erprobten Regeln«, konsta­ unter. lästinenser akzeptierten keine Unterwerfung,
tierte Ende Oktober Andrea Tenenti, erfah­ In Washington fürchtet man einen Krieg sie wollen ihr Land zurück, ihre Unabhängig­
rener Sprecher der Blauhelmtruppe Unifil, zwischen Israel und der Hisbollah sehr. Al­ keit. Die Kriege im Libanon sollten die Paläs­
die den Frieden dort bewahren soll, aber letzt­ lerdings habe sich, schrieb kürzlich die »New tinensische Befreiungsorganisation (PLO)
lich nur zuschauen kann. York Times«, die Annahme gedreht, wer ihn vertreiben und haben die Hisbollah erst ent­
Auch die Flucht und Evakuierung Tausen­ beginnen könnte: »Die USA haben Israel mit­ stehen und zu der Macht werden lassen, die
der Bewohner auf beiden Seiten der Grenze geteilt, dass Washington es unterstützen wer­ sie heute ist.
minderte zunächst die direkte Kriegsgefahr. de, falls die Hisbollah über die Grenze In einem Interview mit der liberalen Zei­
Nun aber, wo keine Zivilisten mehr da sind, kommt – aber nicht im umgekehrten Fall.« tung »Haaretz« wurde der frühere Chef des
können sie auch nicht aus Versehen getroffen Und innerhalb der US­Regierung kursiert laut Inlandsgeheimdienstes Shin Beth, Ami Aya­
werden. Nur können die mehr als 60.000 Eva­ »Washington Post« die Vermutung, dass Pre­ lon, vor Kurzem gefragt, ob Israel diesen
kuierten Nordisraels nach drei Monaten im­ mier Benjamin Netanyahu diesen nächsten Krieg nicht gewinne. »Wir haben doch ge­
mer noch nicht zurück – genauso wenig wie Krieg wolle, weil er wisse, dass mit dem Ende wonnen«, erwiderte Ayalon: »Im März 2002,
Zehntausende geflohene Libanesen. der Kämpfe in Gaza auch sein politisches als die Arabische Liga nach 35 Jahren Kampf
In den vergangenen Wochen hat Israels Schicksal besiegelt wäre. Was wiederum zur ihre alten Beschlüsse revidierte.« Israel habe
Kriegskabinett den Druck erhöht, verbal wie Folge hätte, dass mit dem Ende seiner Amts­ damals alles bekommen: »Ja zur Anerken­
militärisch: In rascher Folge ließ Israel erst immunität der Prozesse wegen Betrugs, Kor­ nung, ja zu Verhandlungen, ja zum Frieden.
den obersten Hamas­Führer im Libanon, ruption und Untreue gegen ihn wieder Fahrt Die Tragik ist, dass wir uns weigern, unseren
Saleh al­Arouri, mitten in der Hisbollah­ aufnehmen würden. eigenen Sieg anzuerkennen, stattdessen fort­
Hochburg Südbeiruts umbringen, anschlie­ Sosehr Netanyahu, Gallant und General­ fahren mit dem Kampf. Wir haben den Krieg
ßend einen Kommandeur ihrer Radwan­Elite­ stabschef Herzl Halevi der Hisbollah mit zum Selbstzweck gemacht.«
truppe und auf dem Weg zu dessen Beerdi­ Militäroperationen drohen, so realitätsfern Land gegen Frieden war die Formel, die
gung noch einen weiteren Kommandeur. erscheinen die Pläne: »Israel will die Hisbol­ Israels Premier Yitzhak Rabin und PLO­Chef
Israels Verteidigungsminister Yoav Gallant lah bis zum Litani­Fluss zurückdrängen, Jassir Arafat 1993 im Garten des Weißen Hau­
erklärte, dass »wir natürlich den Pfad einer 20 bis 30 Kilometer nördlich«, sagt Libanon­ ses mit ihrem Handschlag besiegelten.
einvernehmlichen diplomatischen Lösung be­ Experte Blanford: »Aber die Hisbollah hat Doch dann ging der Siedlungsbau im West­
vorzugen. Aber wir nähern uns dem Punkt, Raketenstellungen auch weiter nördlich in jordanland weiter, wurde die Chance zerrie­
an dem die Sanduhr umgedreht wird«. den Bergen entlang der Bekaa­Ebene.« Sie ben im Kampf der Maximalisten beider Sei­
Jeder spektakuläre Angriff hat aller Er­ könne von dort aus genauso zuschlagen. Der ten, wurde Rabin 1995 von einem jüdischen
fahrung nach einen entsprechenden Gegen­ Plan einer begrenzten Invasion würde ab­ Extremisten erschossen nach einer Hetzkam­
schlag zur Folge. Nach der Ermordung von sehbar scheitern. pagne radikaler Rabbis und Politiker. »Ich
Arouri griff die Hisbollah als Erstes eine is­ Ein Krieg gegen die Hisbollah, möglichst habe damals erst verstanden, wie tief Israels
raelische Radarstation an und beschädigte sie groß und endgültig, wird in Israels Medien Gesellschaft gespalten ist«, erinnert sich Aya­
schwer. Nach der nächsten »gezielten Tötung« vielfach als gefährlich, aber auch alternativlos lon im Interview: »Wir haben als Gesellschaft
beschoss sie eine Militärbasis in Safed. In der beschrieben. Das Trauma vom 7. Oktober hat bis heute nicht geklärt, wer wir sein wollen.
erprobten Mechanik der Eskalation folgt jeder Israels Selbstverständnis, nie wieder wehrlos Wir scheuen diese Frage.«
Vergeltung eine Vergeltung, die abermals ver­ sein zu dürfen, schockartig wiederbelebt. Es Es mache ihn wütend, sagt er dem »Guar­
golten wird –, bis die Spirale womöglich im wirkt, als wäre damit auch Israels militärische dian«, dass ihm das gleiche Schweigen be­
Krieg mündet. Doktrin, alle Gegner zu besiegen, zum Dog­ gegne auf alle Fragen, was denn das Ziel des
Dass Hisbollah­Generalsekretär Hassan ma geworden. Krieges in Gaza, der Kriege Israels über­
Nasrallah, Chef einer designierten Terror­ So läuft es heute in Gaza, so lief es 1978 haupt sei: »Ich weiß, was aus Kriegen ohne
organisation, in einer Fernsehansprache eine bei Israels erster Libanon­Invasion. Seit den politisches Ziel wird. Wir haben das im Li­
Verhandlungslösung anregte, nämlich den Friedensschlüssen mit Ägypten und Jordanien banon erlebt, wir erleben es im Westjordan­
Rückzug Israels aus immer noch besetzten hat ein dauerhafter Sieg durch militärische land. Wir glauben, dass wir Sicherheit er­

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AUSLAND

reichen, wenn wir erobern und besetzen. Länger als ein Jahrzehnt dauert der Bür-
Aber das bringt uns keine Sicherheit, nur gerkrieg im Jemen nun schon, in dem die
Gewalt und Tod.« Huthis die Hauptstadt Sanaa einnahmen
Dass die Hisbollah einen großen Krieg mit und Saudi-Arabien in eine Niederlage zwan-
Israel vermeiden möchte, hat mit den ver- gen. »Doch kaum etwas hat ihnen so viel
schlungenen Verhältnissen der Region zu tun: Aufmerksamkeit eingebracht wie die Unter-
Ihr Raketenarsenal ist der entscheidende brechung der Lieferketten von Tesla und
Trumpf Irans gegen einen israelischen Angriff Ikea«, schätzt Farea al-Muslimi, Jemen-
auf seine Nuklearanlagen. Trotz weitgehen- Analyst des britischen Thinktanks Chatham
der militärischer und finanzieller Eigenstän- House.
digkeit folgt die Hisbollah als ergebener Vasall Es gehe den Huthis tatsächlich um Soli-
der iranischen Führung und deren Ideologie darität mit den Palästinensern, warnt er:
von gottgegebener Macht. Für Teheran sei »Ich glaube, im Westen wird unterschätzt,
die Hisbollah »das Kronjuwel seiner Abschre- was für eine Schockwelle durch die gesamte
ckungsstrategie«, sagt der Analyst Blanford. arabische Welt rollt, jeden Tag die Bilder
Innenpolitisch steckt Irans Regime in der und Details des Grauens aus Gaza zu sehen
Misere aus Wirtschaftskrise, mehr als 40 Pro- – und niemand tut etwas, niemand stoppt
zent Inflation, ungelöster Nachfolge des krän- es.« Ihre Attacken, die Bereitschaft, selbst
kelnden 84-jährigen Revolutionsführers Ali die Konfrontation mit den USA zu wagen,
Khamenei. Außerdem ist es verhasst in weiten machten die Huthis zu Helden der Region:
Teilen der Bevölkerung. »Kaum ein arabischer Staat, nicht einmal
Militärisch hingegen ist es stärker denn je, die jemenitischen Feinde der Huthis, kriti-
hat sich als Waffenlieferant Russlands dessen sieren sie dafür öffentlich. Wer es täte,
Unterstützung gesichert und laut »New York stünde als Marionette Israels und der Ame-
Times« seit Oktober die Urananreicherung rikaner da.«
rasant hochgefahren. Mittlerweile besitze Iran Natürlich würden die Huthis ihr neues
vermutlich bereits genug Material für drei Kampfprestige auch politisch ummünzen in
atomare Sprengsätze und sei kurz davor, es den Verhandlungen mit Saudi-Arabien um
bis zur Waffenfähigkeit anzureichern. Auch ein Abkommen und internationale Anerken-
sein Netzwerk loyaler Milizen in mehreren nung. Doch wohin dieser neue Krieg führe,
arabischen Ländern existiert weiterhin. sei völlig offen. Seit einer Woche haben ame-
Mit dem Raketenangriff auf Arbil hat Iran rikanische und britische Einheiten wiederholt
vorgeführt, dass es auf Militärschläge als Basen der Huthis beschossen, die jedoch wei-
Machtdemonstration setzt. Im Irak Zivilisten terhin Schiffe unter Feuer nehmen und er-
umzubringen wird keine Vergeltung nach sich klärten, eine Konfrontation mit den USA
ziehen. Ein Angriff direkt auf Israel hingegen nicht zu scheuen.
könnte sofort im Krieg münden. Und dann attackieren Iran und Pakistan
Die Verbindung zwischen der Hisbollah einander seit Tagen mit Luftangriffen. Dieser
und Iran hat bislang geholfen, die Lage an der Konflikt am Rand des Nahen Ostens hat di-
israelisch-libanesischen Grenze halbwegs ru- rekt nichts mit dem Gazakrieg zu tun, jedoch
hig zu halten. Sie dürfte die gegenteilige Wir- scheint die Hemmschwelle zu Angriffen auf
kung entfachen, bräche ein voller Krieg aus. andere Staatsgebiete gesunken zu sein, dreht
Iran würde die Hisbollah nicht preisgeben, sich die Spirale der Vergeltungsvergeltungen
auch nicht unter Beschuss. Eine Kettenreak- schneller als zuvor.
tion wäre absehbar: Jene Milizen im Irak, in »Wachsam, aber blind«, nannte 2012 der
Syrien und im Jemen, die unter Irans Kon- australische Historiker Christopher Clark in
trolle stehen, würden massiv zuschlagen. seinem Werk zum Ausbruch des Ersten Welt-
Wobei die Huthis schon seit November kriegs jene europäischen Mächte, die damals
einen Waffengang im Roten Meer entfesselt in ihn hineinstolperten: »von Albträumen ge-
haben. 2000 Kilometer von Israel entfernt plagt, aber unfähig, die Realität der Gräuel
im Bergland des westlichen Jemen beheima- zu erkennen, die sie in Kürze in die Welt set-
tet, wurden diese Streitmacht und ihre mili- zen sollten«.
tärische Entschlossenheit anfangs von vielen »Die Schlafwandler« betitelte Clark sein
unterschätzt. Die Huthis nutzen ihre geografi- Buch, in dem er die Wechselwirkungen von
sche Lage, um die Welt zu erpressen, Israels Misstrauen, Fehleinschätzungen und Über-
Krieg in Gaza zu stoppen. Seit November heblichkeit vor 110 Jahren sezierte. Die alte
haben sie immer wieder Frachtschiffe im Ro- Sichtweise, dass es einen Hauptschuldigen
ten Meer beschossen, durch das etwa zehn am Ausbruch des Krieges gegeben habe,
Prozent des internationalen Handels laufen. weicht darin der Erkenntnis, dass er vielmehr
dem Zusammenspiel unterschiedlicher Fak-
toren geschuldet war.
Die Gegend ist eine andere diesmal. Aber
mit ihrer Ignoranz, die engen Bahnen üblicher
»Wir haben den Reaktionen und Vergeltungsmaßnahmen
Krieg zum Selbstzweck nicht verlassen zu wollen, ähneln die Akteure
fatal den Schlafwandlern von damals.
gemacht.« Monika Bolliger, Christoph Reuter,
Ami Ayalon, Ex-Shin-Beth-Chef Mitarbeit: Sangar Khaleel n

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AUSLAND

te und Kibbuzim, töteten etwa 1200 Men-


schen, entführten mehr als 240 weitere, und
Israel startete seine Militäroperation gegen
die Hamas.
Das Haus in Beit Hanun, ganz im äußers-
ten Nordosten des Gazastreifens, wurde in
den ersten Kriegstagen von Artilleriegeschos-
sen getroffen, alle Fenster sind zerbrochen.
So zogen sie zunächst mit 73 Verwandten und
Bekannten in die Wohnung in Gaza-Stadt.
Dort schien es zunächst sicher. So erzählt es
Alya El-Basyouni.
Nach ein paar Wochen seien die Angehö-
rigen weitergezogen, einige gingen in den
Süden, andere suchten Schutz in Schulen. Ein
Bruder von Mohammed El-Basyouni soll vor
einer solchen Schule in Gaza-Stadt getötet
worden sein. Insgesamt seien mehr als ein
Dutzend Angehörige Opfer von israelischen
Angriffen geworden, sagt Alya El-Basyouni.

Privat
Sie und ihr Mann blieben.
Ehepaar El-Basyouni in Gaza-Stadt: »Wir fühlen uns wie Bürger zweiter Klasse«
Der Norden des Gazastreifens ist vom Krieg
besonders stark betroffen, ein großer Teil der –
laut Angaben der Hamas-Behörden – mehr
als 24.000 Toten kommt von hier; viele Ge-
bäude sind zerstört. Nur ein Viertel der ge-

Eine unmögliche Mission planten Hilfslieferungen schaffte es seit Anfang


Januar laut dem Uno-Nothilfebüro Ocha in
den Norden. Doch selbst wenn alles angekom-
men wäre, würde das nicht ansatzweise aus-
GAZA Loay Elbasyouni hat einen Helikopter für den Mars gebaut und hilft reichen, um die Bevölkerung zu versorgen.
Als der Krieg anfing, hat das Ehepaar
dabei, Astronauten auf den Mond zu bringen. Aber seine deutsch- El-Basyouni so viel Reis, Nudeln und Bulgur
palästinensischen Eltern bekommt er nicht aus dem Kriegsgebiet heraus. wie möglich gekauft. Die Vorräte sind fast
Jetzt gehen ihnen Nahrungsmittel und Medikamente aus. aufgebraucht. In wenigen Tagen werden sie
auf das angewiesen sein, was fliegende Händ-
ler verkaufen. Und das ist so gut wie nichts.
enn die deutsche Staatsbürgerin Alya Basyouni, sie ist 69, er 75 Jahre alt, sind deut- Auch Wasser ist knapp, die Menschen ste-
W El-Basyouni aus dem Fenster schaut,
sieht sie nichts als Zerstörung. Die
Häuser rund herum sind Ruinen, erzählt sie,
sche Rentner. Mohammed El-Basyouni hat
in Marburg Medizin studiert und promoviert,
er arbeitete viele Jahre lang als Chirurg in
hen dafür stundenlang an. Die El-Basyounis
sammeln jetzt Regenwasser und trinken oft
nicht mal einen Liter am Tag.
ganze Außenwände fehlen, von manchen Ge- Deutschland und im Gazastreifen. Gerade haben sich die beiden Rentner zum
bäuden sind nur Schuttberge übrig geblieben. Ihre vier Söhne, alle in Deutschland ge- ersten Mal seit Wochen wieder vor die Tür
Auch in ihrer Wohnung klafft ein großes Loch. boren, leben über die Welt verstreut. Einer gewagt und etwas wilden Spinat gekauft, den
Und während draußen die israelische Armee ist Unfallchirurg in Deutschland, einer arbei- jemand gesammelt hatte. Halb verfaulte
Gaza-Stadt bombardiert, zerstört Alya El- tet als Journalist für den türkischen Staats- Zwiebeln habe es gegeben, außerdem Mehl,
Basyouni ihre Wohnung von innen. sender TRT, einer studiert in den USA. Und fast zehn Euro koste das Kilogramm, erzählt
Die Türen und Türrahmen hat sie schon dann gibt es noch Loay Elbasyouni, der in Mohammed El-Basyouni. Die 1000 Schekel,
zerhackt, um damit Feuer zum Kochen zu Kalifornien lebt. Er hat den Weltraum-Heli- etwa 250 Euro, die er vor dem Krieg abgeho-
machen. Gerade war der Schreibtisch dran. kopter »Ingenuity« mitentwickelt, der vor ben habe, seien fast aufgebraucht.
Sie lacht ein wenig verzweifelt, als sie das fast drei Jahren auf dem Mars landete und ihn Die wenigen Laster mit Mehl, die in den
erzählt. Seit mehr als drei Monaten hat sie seither zusammen mit dem »Perseverance«- Norden durchkommen, laden ihre Fracht süd-
wie die meisten Bewohner des Gazastreifens Rover erkundet. lich von Gaza-Stadt ab. Meistens warteten
keinen Strom und kein Gas. Auch Nahrungs- Seit dem 7. Oktober hat Loay Elbasyouni dort Hunderte Verzweifelte, erzählt Moham-
mittel und Trinkwasser gibt es kaum. jedoch nur eine Mission: Er will seine Eltern med El-Basyouni. »Einige Leute stehlen das
All das erzählt Alya El-Basyouni am Tele- aus Gaza herausholen. Mehl und verkaufen es.« Auf die Hilfsliefe-
fon. Sie würde gern Fotos als Beleg schicken, Dass die beiden dort festsitzen, ist die Fol- rungen Wartende seien zudem von der israe-
aber das Netz ist zu schlecht. Ihre Aussagen ge von Pech, falschen Entscheidungen und lischen Armee beschossen worden. Unabhän-
entsprechen aber den Berichten von inter- womöglich auch mangelndem Engagement gig verifizieren lässt sich das nicht, aber dass
nationalen Organisationen sowie den vielen deutscher Behörden. die Hilfslieferungen chaotisch ablaufen, be-
verifizierbaren Aufnahmen aus Gaza-Stadt. Eigentlich wollten die El-Basyounis nur richten auch andere Quellen.
Einzig ein Foto konnte sie ihrer Familie über- nach Jahren wieder einmal Urlaub in der alten Die meisten Bewohner sind in den ersten
mitteln, es zeigt sie und ihren Mann, die bei- Heimat machen, Verwandte besuchen und Kriegswochen in den Süden des Gazastreifens
den sehen um Jahre gealtert aus. nach dem Rechten schauen; sie besitzen ein geflohen. Geblieben sind laut Schätzungen
Eigentlich haben die El-Basyounis ein Haus in Beit Hanun und eine Wohnung in 200.000 Menschen. Vielen von ihnen geht es
anderes Zuhause: Es liegt mehr als 3000 Gaza-Stadt, die ehemalige Arztpraxis von wie den El-Basyounis: Es sind Menschen, die
Kilometer entfernt, im niedersächsischen Mohammed El-Basyouni. Dann überfielen zu krank oder zu alt waren, um den beschwer-
Wilhelmshaven. Alya und Mohammed El- am 7. Oktober die Terroristen israelische Städ- lichen Fußweg vorbei an den israelischen Ar-

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meeposten zu bewältigen. Die Angst ihre ersten Lebensjahre. Aber dann Diplomaten des Auswärtigen Amts,
hatten, auf dem Weg getötet zu wer- reiste die Familie 1984 zurück nach mit Mitgliedern des US-Kongresses
den. Oder die nicht wussten, wo sie Gaza – und die israelischen Behörden und der türkischen Regierung, haben
im Süden unterkommen sollten. ließen sie nicht mehr hinaus. Die Fa- Vertreter von NGOs alarmiert und
Mohammed El-Basyouni hatte milie hatte da bereits die deutsche eine Bundestagsabgeordnete. Allein:

Bradley Secker / DER SPIEGEL


einen Bandscheibenvorfall und eine Staatsbürgerschaft beantragt, doch der Die Eltern sind noch immer in Gaza.
Rückenoperation in Deutschland, Anspruch verfiel. Erst 2010 schafften Der Erfolg der Familie erklärt auch
er leidet unter Herzproblemen und Mohammed und Alya El-Basyouni es, die Wut, Bitterkeit und die Enttäu-
Diabetes. Seine Frau kann ebenfalls nach Deutschland zurückzukehren. schung, die sie jetzt spüren.
schlecht laufen. Sie könnten höchs- Loay und seine Brüder gingen in »Wir fühlen uns wie Bürger zwei-
tens wenige Hundert Meter gehen, Gaza in eine Uno-Schule. Es war die ter Klasse«, sagt der Vater in Gaza-
keinesfalls mehrere Kilometer, sagt Zeit der ersten Intifada, ihre Freunde Ingenieur Elbasyouni Stadt.
Alya El-Basyouni. Ein befreundeter warfen Steine auf israelische Militär- in Istanbul: Zu­ »Mein Vater hat als Arzt vielen
Arzt sei während des Marschs einem jeeps. Loay Elbasyouni träumte von nehmend verzweifelt Menschen in Deutschland geholfen«,
Herzinfarkt erlegen. den Sternen. 1998 ging er in die sagt sein deutscher Sohn. »Doch jetzt,
Vor allem aber war lange unklar, USA, studierte Elektrotechnik und wo er Hilfe braucht, hilft Deutschland
ob sie den Gazastreifen überhaupt arbeitete danach zunächst bei der ihm nicht.« Und seine Frau, deren
würden verlassen können. Entwicklung von Elektroautos mit. Eltern einst ebenfalls aus Gaza nach
Das Auswärtige Amt hat nach Schließlich stieß er zu dem Nasa- Deutschland kamen, ergänzt: »Ich
eigenen Angaben etwa 700 deutsche Mars-Projekt und wurde einer der bin in hier geboren und aufgewach-
Staatsbürger und ihre Angehörigen federführenden Entwickler von sen, ich habe immer gesagt: Ich bin
aus dem Gazastreifen evakuiert, nur »Ingenuity«, auf Deutsch: Einfalls- Deutsche. Aber jetzt merke ich, dass
noch eine »niedrige zweistellige reichtum. wir nicht gleichbehandelt werden.
Zahl« von deutschen Staatsbürgern Aus dem Flüchtlingssohn wurde Deutschland lässt uns allein.«
befindet sich auf der Liste derer, die ein US-Bürger, er amerikanisierte so- Dazu komme all der Hass, den sie
das Gebiet verlassen wollen. gar seinen Namen. Und er wurde ein seit dem 7. Oktober spürten. »Jeder
Ein in Deutschland lebender Sohn Held für viele Palästinenser. Palästinenser ist jetzt ein Terrorist,
der El-Basyounis meldete seine Eltern Inzwischen ist er leitender Mana- ein Hamas-Unterstützer, ein Antise-
wenige Tage nach Kriegsausbruch ger bei Blue Origin, der Firma des mit«, sagt sie wütend. Und entschul-
beim Auswärtigen Amt. Allerdings Amazon-Gründers Jeff Bezos, und digt sich gleich wieder für den emo-
stand das Ehepaar offenbar bis zum entwickelt ein Mondlandegerät mit. tionalen Zwischenruf.
21. November nicht auf der Ausreise- Der erste unbemannte Testflug soll in Sie denke jetzt oft an die Befreiung
liste am Grenzübergang in Rafah. Im diesem Jahr stattfinden, im Jahr 2029 der entführten Familie Wallert auf
Auswärtigen Amt heißt es, die Fami- soll es im Rahmen der Artemis-V-Mis- den Philippinen, sagt sie. »Ich war
lie habe die notwendigen Dokumen- sion vier Astronauten auf den Mond damals stolz darauf, dass Deutschland
te nicht eingereicht. Die Familie be- bringen. alles tut, um sie zu retten.« Warum
streitet das. Doch nun wartet Loay Elbasyouni also nicht die El-Basyounis aus Gaza?
Als die beiden Senioren dort end- seit sechs Wochen in Istanbul und Die Antwort ist lang und bürokra-
lich registriert waren, war es zu spät: hofft, seine Eltern nach Deutschland tisch, sie läuft letztlich darauf hinaus,
Die El-Basyounis waren wochenlang bringen zu können. Und er ist zuneh- dass das Auswärtige Amt keine Ver-
telefonisch nicht erreichbar. Als sie mend verzweifelt. tretung im Gazastreifen hat, Bemü-
endlich wieder Handynetz hatten, Zusammen haben die Brüder schon Palästinenser hungen der Koordination mit israe-
in Gaza-Stadt: Kein
war die Feuerpause gerade vorbei. viel versucht: Interviews mit US- Strom, kein Gas,
lischen Behörden fruchtlos blieben
Seither ist die israelische Armee in Medien, mit der BBC, mit türkischen kaum noch Wasser und man nicht dabei helfen könne,
den Süden des Gazastreifens vorge- Sendern. Sie stehen im Austausch mit und Nahrungsmittel den Grenzübergang von Rafah zu
stoßen, der Weg dorthin ist jetzt noch erreichen. Es gelte seit Jahren eine
gefährlicher. Reisewarnung für den Gazastreifen,
Der Sohn in Deutschland, der weil solche Unterstützung eben nicht
namentlich nicht genannt werden möglich sei.
möchte, fürchtet nun um die Eltern, Doch die Söhne haben mitbekom-
insbesondere um den kranken Vater. men, dass die USA gerade die Familie
Die Medikamente, die dieser gegen eines US-Soldaten palästinensischer
seine Herzrhythmusstörungen neh- Herkunft mitten im Kampfgebiet eva-
men müsse, gebe es im Gazastreifen kuiert haben, wohl mithilfe der israe-
nicht mehr. Eine letzte Packung hät- lischen und ägyptischen Regierung.
ten sie wie durch ein Wunder auftrei- Sie bezweifeln daher, dass Deutsch-
ben können, erzählt Mohammed El- land wirklich alles getan hat. Tatsäch-
Basyouni am Telefon. Aber sie werde lich stellt sich die Frage, ob Hilfe beim
in wenigen Tagen verbraucht sein. Transfer für ältere oder erkrankte
Die Geschichte der Familie El- Deutsche nicht zumindest anfangs
Omar Ishaq / picture alliance / dpa

Basyouni steht für das Leid vieler möglich gewesen wäre. Oder ob sich
Palästinenser im Gazastreifen. Zu- mit mehr diplomatischem Druck et-
gleich ist sie aber auch eine Erfolgs- was hätte ausrichten lassen.
geschichte, ein Beispiel für gelungene »Meine Eltern haben uns dazu er-
Integration und die positive Kraft von zogen, Weltbürger zu sein«, sagt Loay
Bildung, die allen Widrigkeiten trotzt. Elbasyouni. »Es ist bitter, dass ihnen
Alle vier Söhne wurden in Deutsch- jetzt niemand hilft.«
land geboren und verbrachten dort Juliane von Mittelstaedt n

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AUSLAND

Einmal Krieg und zurück


UKRAINE Olena besucht ihren Soldatensohn, Sascha ihren Freund: Vor allem Frauen pendeln mit dem Fernbus,
der täglich zwischen Deutschland und ihrer Heimat verkehrt. Fiona Ehlers hat sie begleitet.

er Winter kam über Nacht. Auf dem tens durfte sie dort ihren Soldatensohn wie- sperrt ist, ist Busfahren die flexibelste Alter-
D Busbahnhof in Kiew holpern Frauen mit
Rollkoffern über vereiste Gehwege, wir-
beln uniformierte Väter ihre Kinder durch den
dersehen, ihre Augen sind rot geweint.
Als wäre es das letzte Mal, schlingt draußen
vor der Bustür Sascha, eine 19-jährige Kran-
native, außerdem die billigste, und Flixbus ist
mit Abstand der größte Anbieter auf dieser
Route. Rund 70 Euro kostet die einfache
Morgenhimmel voller Schneeflocken und be- kenschwester aus Kiew, die Arme um ihren Fahrt, umbuchbar bis wenige Minuten vor
decken die rotwangigen Gesichter mit Küssen. Freund. Da mahnt der Fahrer zum Aufbruch, Abreise. Lediglich die bei vielen Ukrainerin-
Es ist kurz vor sieben Uhr, Reisebusse öffnen die Türen schließen mit einem Surren. nen und Ukrainern beliebten Schoßhunde
ihre Ladeluken bei warm laufendem Motor – Wer sind diese pendelnden Passagiere, die müssen draußen bleiben, Flixbus erlaubt kei-
Bonn, Karlsruhe, Villach-Österreich steht auf reisen mit leichtem Gepäck und schwerem ne Tiere an Bord.
Schildern hinter den Windschutzscheiben. Herzen? Warum jagen sie hin und her zwi- Nach Kriegsbeginn war der Bustransfer für
Da biegt grasgrün der Flixbus N3206 in schen Krieg und Frieden, Heimat und Exil, in zwei Monate eingestellt, seitdem herrscht
die Haltebucht. Die Städtenamen Kiew, Schy- einem überhitzten Bus mit verdunkelten wieder reger Pendelverkehr zwischen der
tomyr, Riwne, Lwiw, Berlin, Hamburg, Bre- Scheiben? Und wie kommt es, dass viele von Ukraine und Westeuropa. Täglich starten in
men flimmern über die Anzeigetafel neben ihnen ihre alte Heimat am liebsten nie wieder Kiew fünf, sechs Flixbusse gen Westen, und
der Fahrerkabine. 29 Stunden soll die Bustour verlassen würden? etwa ebenso viele kommen aus entgegenge-
dauern, es werden ein paar mehr werden. In Im Flixbus nach Bremen nehmen jetzt setzter Richtung, aus Berlin, Warschau, Süd-
Kilometern: 1886. Von 53 Plätzen werden Platz: Frauen jeglichen Alters, gehüllt in wa- deutschland. Die Anzahl der Grenzübertritte
40 besetzt sein. Die meisten Passagiere, die denlange Steppmäntel jeglicher Couleur, drei ist gewaltig: 28 Millionen Mal sind Menschen
jetzt Provianttüten verstauen und gute Wün- minderjährige Söhne, denn nur nicht wehr- infolge des Krieges laut Uno-Schätzungen aus
sche für den großen Treck nach Westen aus- pflichtige Männer unter 18 und über 60 dür- der Ukraine gereist, und gut 20 Millionen Mal
tauschen, sind nicht das erste Mal an Bord. fen derzeit die Ukraine verlassen. Kaum einer haben sie die Grenze wieder in Richtung
Vom Hauptbahnhof nebenan eilt Kinder- begibt sich freiwillig auf diese Reise, die Bein- Ukraine passiert. In Westeuropa sind tempo-
gärtnerin Olena herbei und besteigt den Bus, freiheit ist nicht der Rede wert, Urlaubsstim- rär schätzungsweise 6 Millionen Ukrainer
Fensterplatz 14 A. Sie kam mit dem Zug aus mung kommt selten auf. registriert, 6 von 44 Millionen.
Charkiw, der kriegszerstörten Stadt im Nord- Nur wer dringende Gründe hat, bucht sich Auf Ukrainisch sagt jetzt der Fahrer, ein
osten der Ukraine. Nach Monaten des War- digital an Bord. Seitdem der Luftraum ge- weißhaariger, unaufgeregter Mann namens

Blick aus dem Bus an der Passagierin Asja


polnisch-ukrainischen Grenze am Handy

78 DER SPIEGEL Nr. 4 / 20.1.2024


AUSLAND

Wolodymyr, aufgrund der Minusgrade sei die verhandlungen sei ihre Zukunft ungewiss. seine Stadt Tschernihiw im Norden der Ukrai-
Bordtoilette vereist und außer Betrieb. »Aber Schätzungen gehen von 10.000 getöteten Zi- ne marschierten, kauerte Wolodymyr 20 Tage
keine Sorge, Pinkelpausen werden großzügig vilisten und deutlich mehr ukrainischen Sol- lang im Luftschutzkeller ohne Strom und
eingeplant.« 30 Stunden wird Wolodymyr die daten aus, fast jede und jeder im Bus habe Wasser, dann reichte es ihm. Er heuerte bei
Passagiere durch drei Länder kutschieren, Tote zu beklagen. einem ukrainischen Subunternehmer von
zweimal abgelöst durch einen Kollegen, der Nicht nur der Winter kam über Nacht, seit Flixbus an, fährt heute dreimal pro Monat,
dafür aus einer Schlafkoje neben der Toilette ein paar Wochen ist auch der Krieg zurück- am liebsten die Strecke Kiew–Bremen.
krabbelt. gekehrt nach Kiew. Fast täglich gibt es Luft- Dies sei seine 40. Fahrt, sagt er genauso
Der Bus fährt jetzt westwärts den ehema- alarm, Kampfdrohnen im Anflug, tagsüber ruhig und gelassen, wie er den Bus über die
ligen Sieges-Prospekt entlang aus der Stadt, stehen Frauen auf dem Maidan und demons- Schnellstraße mit selten mehr als 100 Kilo-
lässt die Ufer des eisgrauen Dnjepr hinter sich, trieren für mehr Fronturlaub ihrer Männer, metern pro Stunde steuert. Was er verdient,
die Sophienkathedrale, den zoologischen Väter und Söhne. behält er für sich. Aber er sagt, er finde seinen
Garten. Die Prachtboulevards sind gesäumt 8.30 Uhr, der Bus aus Kiew kommt jetzt Dienst im Bus sinnvoller als den bei der Ar-
von Plakaten mit Durchhalteparolen: »Die richtig in Fahrt, draußen ziehen Plattenbauten mee. Während die militärische Lage an der
Unabhängigkeit jeden Tag beweisen«, »Tritt vorbei und Birkenwäldchen, eine zerbombte Ostfront festgefahren ist wie der Schnee
auch du der Sturmbrigade bei«. Fabrik mit Stahlträgern, die aussehen, als wä- rechts und links der Fahrbahn, sorge er mit
Kiew sei seit dem Krieg noch schöner ge- ren sie geschmolzen. seinem Austausch von Passagieren »für Völ-
worden, sagt Krankenschwester Sascha: Wenige Kilometer von hier entfernt liegt kerverständigung« und dafür, dass Europa die
»Rastlos, jung und aufregend. Das beste Su- Butscha, die Stadt, in der russische Spezial- Ukraine nicht vergesse. »Ich biete Ablenkung,
shi, das ich je gegessen habe, Aufbruchstim- einheiten im Frühjahr 2022 ein Massaker ver- Erholung, erhalte Ehen, rette Familien.«
mung, trotz allem.« übten, mehr als 400 Zivilisten folterten, er- Kreuzt ein entgegenkommender Flixbus
Noch gibt es WLAN im Bus, Sascha drückt schossen und auf der Straße liegen ließen. Wolodymyrs Weg, und das passiert auf dieser
Kopfhörer in ihre Ohren und chattet mit dem Busfahrer Wolodymyr sagt, seine Tochter Fahrt etwa ein halbes Dutzend Mal, grüßt er
Freund, der eben noch vor dem Bus stand. habe gerade noch rechtzeitig entkommen kön- mit erhobener Hand. Man kennt sich, ist Teil
Die anderen Gäste schlüpfen aus den Schnee- nen. Auch sie sei eine dieser transkontinenta- einer grünen Privatarmee auf Friedensmis-
stiefeln, stülpen dicke Socken über die Füße, len Pendlerinnen, regelmäßig kehre sie aus sion. Plötzlich blitzt die Sonne durch die Wol-
drücken Kissen an die Fenster mit den kirsch- Ulm heim, ihr Mann diene an der Ostfront. ken, aus schneeverwehten Dörfchen glänzen
roten Vorhängen. golden die Zwiebeltürme der orthodoxen
Jede Busladung ist eine Art Miniatur- Wolodymyr ist 64 Jahre alt und war einst Sol- Kirchen. Wolodymyr setzt seine Sonnenbril-
Ukraine. Hier sitzen Frauen auf der Flucht, dat, stationiert bei den Sowjets in Dresden, le auf. Sein Navi sagt, noch 1354 Kilometer
die ihre Männer vermissen – die auch heute, diente später im Libanon und in Afghanistan. bis Bremen.
nach bald zwei Jahren, nicht heimisch wurden Als Wladimir Putin die Ukraine überfallen In der vorletzten Reihe, auf Sitzplatz 16 C,
in der Fremde und der neuen Sprache. Aber ließ, fragte Wolodymyr seine ukrainischen erzählt nun Krankenschwester Sascha von
auch die, die vom Krieg profitieren, weil er Kameraden von damals: »Braucht ihr mich?« ihren zwei Leben. Sie sieht jünger aus als 19,
ihnen ein zusätzliches Leben in der Fremde »Lass gut sein«, sagten die, »du bist in Pen- hat ein hübsches Gesicht und lilafarben la-
beschert, mit neuen Chancen. Die Stimmung, sion.« Aber einfach zu Hause bleiben und ckierte Fingernägel. Im Februar vor zwei Jah-
sagen einige, sei derzeit schlecht in Kiew. Im nichts tun, da kannten sie ihn schlecht. ren floh sie mit ihrer Mutter über Polen vor
22. Kriegsmonat nach Putins Überfall seien Zu Beginn der Invasion im Februar vor den Bomben, fand Unterschlupf bei einer
die Ukrainer kriegsmüde, trotz EU-Beitritts- zwei Jahren, als russische Streitkräfte durch Cousine in Hamburg-Horn. Lernte schnell

Reisende am Busbahnhof
in Kiew

Alina Rudya / DER SPIEGEL (3)

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AUSLAND

die fremde Sprache, spricht sie heute beinahe re alte Münchner Start-up und inzwischen das
fließend. Wurde erwachsen, »schneller als so größte Busunternehmen Europas, diese be-
viele Deutsche in meinem Alter«, und bewegt wegten Erwerbsbiografien ermöglicht. Der
sich seither anscheinend mühelos zwischen wegen Unzuverlässigkeit und Verspätungen
beiden Welten. einst miserable Ruf hat sich gebessert, die
Und doch, sagt sie, gebe es die deutsche Deutsche Bahn hat ein schlechteres Image.
Sascha, »geduldig, verschlossen, manchmal Eine neue Generation Pendler ist seit dem
einsam«. Vier Stunden täglich im Deutsch- Ukrainekrieg dazugekommen: Es sind junge
kurs, danach ins Fitnessstudio und ab und zu Frauen wie Sascha, die in Deutschland an-
ein Franzbrötchen, ihre deutsche Lieblings- kamen, sofort Schulen besuchten und gelernt
speise, »aber das reicht mir nicht zum Glück«. haben, allein klarzukommen. Ihnen steht heu-
In Deutschland lebt derzeit eine Million te eine neue Welt offen, sie sind selbstbewuss-
ukrainische Kriegsflüchtlinge. Zwei Drittel ter als ihre Vorgängerinnen, werden weniger
der Erwachsenen sind Frauen, die meisten ausgebeutet, können studieren, pendeln oder
haben Kinder unter 18 Jahren zu betreuen. bleiben.
Was zumindest in Deutschland einer der Wenn nur das Heimweh nach Kiew nicht
Gründe ist, warum nicht mal 20 Prozent von wäre.
ihnen eine qualifizierte Arbeit finden, in Gestern Abend, kurz bevor die Sirenen
Frankreich etwa sind es deutlich mehr. Obwohl Soldatenmutter Olena sorgt sich wegen Luftalarms heulten, erreichte der täg-
geflüchtete Ukrainerinnen bestens ausgebil- um ihren Sohn an der Front und liche Gegenbus aus Bremen nach 21 Stunden
det sind, mehr als 70 Prozent haben sogar Fahrt den Busbahnhof von Kiew und entließ
einen Hochschulabschluss. Auch ihr Status ist plant einen Neuanfang in Lübeck. die Passagiere in die eisige Nacht. Die Stim-
komfortabler als der anderer Geflüchteter: mung an Bord war ausgelassen, in der hin-
Sie suchen kein Asyl, sie sind anerkannte tersten Busreihe saß Asja, 19 Jahre alt, Sprin-
Flüchtlinge mit Anspruch etwa auf Bürger- gerstiefel, blondiertes Haar, grinste und zap-
geld, ihre Aufenthaltsgenehmigung wurde pelte vor Vorfreude auf die geliebte Stadt. Es
gerade bis März 2025 verlängert. Und doch war ihr 20. Mal auf dieser Strecke.
sehnen sich viele zurück in ihr Land im Krieg, Sie fühle sich als Kriegsgewinnerin, sagt
wo sie sich gebraucht fühlen, zugehörig. Asja, »mein Leben wurde so viel besser seit-
Die ukrainische Sascha, »lebensfroh, un- dem«. Auch sie floh mit der Mutter, eine deut-
bekümmert, Partygirl«, kam jetzt wieder zum sche Familie mit Haus auf dem Land bei Plön
Vorschein während der Woche in Kiew: Sie nahm sie auf. Dort fühlte Asja sich bald be-
packte ihre Tage so voll, als wären es die letz- vormundet, »alle wollten mir ständig helfen«.
ten. Ging mit ihrem Freund aus, aß Sushi mit Die deutsche Familie besorgte ihr einen Job
fangfrischem Fisch in hippen Läden, trank den bei einer IT-Firma, sie kann ihn von unterwegs
besten Baristakaffee in ganz Europa, wie sie aus machen, das sei das Beste daran. In Kiew
sagt. Genoss den täglichen Tanz auf dem Vul- jobbt sie bis zur mitternächtlichen Ausgangs-
kan und will das alles in Zukunft nicht missen. sperre als Barfrau, lebt im 14. Stock eines Plat-
Die Rückfahrt nach Hamburg, sagt Sascha, tenbaus in der Wohnung ihrer geflohenen
sei eine Vernunftentscheidung. Morgen früh Großmutter. Angst, ausgebombt zu werden,
muss sie wieder im Deutschkurs sitzen, hat sie nicht, »dafür habe ich gar keine Zeit«.
B2-Niveau, Voraussetzung für viele Jobs und Ex-Soldat Serhij wurde ausgemus- Ebenfalls an Bord des gestrigen Gegenbus-
Studiengänge. Sobald ihre Ausbildung an- tert und hat jetzt viele Pläne für sein ses nach Kiew: Wiktoria, 51, sie kam zurück
erkannt wird, darf sie in Deutschland arbeiten Land nach dem Krieg. von einer Stippvisite bei der Cousine in Ham-
und kann mehr Geld verdienen als in Kiew. burg. Eine kurze Pause vom Krieg, bald wird
Wie lange wird sie noch pendeln? »Wohl sie wieder in ihrem Fotostudio in einer ukrai-
sehr lange.« Ihre Landsleute seien ihr diesmal nischen Kleinstadt Bilder von Gefallenen am
weniger siegessicher vorgekommen als ver- Computer bearbeiten, damit man sie zur Be-
gangenes Jahr. Sie kenne jetzt sogar Leute, erdigung neben den Sarg stellen kann.
die versuchten, gegen Schmiergeld einer Ein- Aus der Schweiz sind zwei schweigsame
berufung zu entgehen. Wird sie eines Tages Schwestern um die vierzig angereist, ihr ge-
entscheiden müssen, wo sie leben wird? liebter Vater, ein ehemaliger Elektroingenieur
»Warum? Arbeiten in Deutschland, leben in im Kernkraftwerk von Tschernobyl, war
Kiew – das geht doch auch!« plötzlich gestorben, mit 70. Am nächsten Tag
wollten sie ihn zu Grabe tragen und am liebs-
Schon vor dem Krieg gab es schätzungsweise ten ihr Land nie wieder verlassen – so wenig
drei Millionen ukrainische Arbeitsmigranten, willkommen, sagen sie, fühlten sie sich in der
die sich in anderen Ländern als Altenpflege- Fremde.
rinnen, Putzkräfte oder Erntehelfer verding- In der Gegenrichtung hält jetzt der Bus
ten. Zuerst in Polen, da machten sie Jobs für nach Bremen in Riwne, es ist früher Nach-
einen Stundenlohn von unter fünf Euro. Seit mittag, der Ersatzfahrer – bis eben hat er am
Ukrainer für die EU kein Visum mehr für kur- Handy Schach gespielt – übernimmt. Auf dem
Alina Rudya / DER SPIEGEL (3)

ze Aufenthalte benötigen, seit 2017, kamen Tresen der Raststätte wird in einer Spardose
mehr. Und noch mehr taten es den Polen gleich Trinkgeld »Für die Siegesfeier« gesammelt.
und wanderten als Billiglohnkräfte direkt nach Krankenschwester Sascha findet, In der Schlange vor den Damentoiletten be-
Deutschland oder weiter nach Süden. dass ihre geliebte Heimatstadt Kiew richtet eine Forensikerin aus Guatemala, wie
Durch das Angebot flexibler, erschwingli- immer schöner wird. sie ukrainischen Kollegen hilft, Kriegsverbre-
cher Trips hat Flixbus, das gerade mal elf Jah- chen wie das von Butscha aufzuklären.

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AUSLAND

mäntel, hieven ihr Gepäck aus den Fächern,


Reger Pendelverkehr diskutieren, was sie mit den Zigarettenpäck-
chen machen und der Nationalspeise Salo,
Flixbus-Strecke von Kiew nach Bremen Schweinespeck, die man zu Wodka reicht,
aber wegen Tierseuchengefahr nicht mitneh-
Ostsee men darf über die Grenze – wegschmeißen
Nordsee
oder rüberschmuggeln?
Hamburg BELARUS Im Gänsemarsch zieht die Busladung
Bremen durch Wartehallen, erst durch die ukrainische
POLEN
Berlin
mit einem Wandbild, Friedenstauben, die aus
Grenzübergänge bei Kinderhänden steigen. Dann, noch eine Stun-
Cottbus Tuplice und Medyka de später, vorbei an Polinnen in Uniform, die
sich in Glaskabinen mürrisch durch Reise-
DEUTSCHLAND Riwne
Kiew pässe blättern. Auf Stahltischen werden die
Krakau
Katowice Schytomyr Koffer durchsucht. Der Schweinespeck bleibt
TSCHECHIEN Lwiw unentdeckt, oder wurde er vorher entsorgt?
UKRAINE
SLOWAKEI Geschafft, zurück im Außenposten der EU.
200 km Erleichtert? Ein wenig, sagt Sascha.
Mit der Nacht senkt sich Müdigkeit auf die
S Karte: OpenStreetMap Lider. Köpfe kippen auf Nackenkissen. Sascha

schläft mit angewinkelten Beinen, auf der


Hier in Riwne ist gestern Serhij, 46, aus- Vier Kilometer vor der Grenze stoppt Fah- letzten Bank schnarcht ein Kind. Es ist zwei
gestiegen, der blasse Ex-Soldat von Platz rer Wolodymyr, der übernommen hat, an einer Uhr, noch 14 Stunden bis Bremen.
13 C, einer der wenigen Männer auf dieser Tankstelle, zeigt auf endlose Bus- und Lkw- Soldatenmutter Olena ist todmüde und
Strecke. Er trug Badelatschen mit ukraini- Schlangen, sagt per Durchsage, es werde dau- überwach zugleich, verloren im Transit zwi-
schem Wappen und verteilte Kekse und gute ern und: »Geben Sie Acht auf Ihre Hand- schen Charkiw und der Grenze. Irgendwann
Ratschläge für sein Land nach dem Krieg. Er taschen, Zigeunerjungen sind unterwegs.« wischt sie die Fotos von Kirill weg, öffnet eine
kam von einer Fortbildung an der Bremer Ihre müden Glieder streckend, stolpern Seite mit Übungsfragen für den Integrations-
Universität, es ging um soziale Arbeit. die Passagiere aus dem Bus, ziehen an Elek- kurs Leben in Deutschland: »Was ist ein
Serhij erzählte atemlos von seinem Sol- trozigaretten, sollen wieder einsteigen, der Wahlhelfer?«, »Mit welchen Worten beginnt
datenleben, von der Euromaidan-Revolution, Bus fährt fünf Meter vor, zehn, sie kennen die deutsche Nationalhymne?« Die Antwor-
vom Krieg in der Ostukraine 2014, vom Ein- das schon. Eine Stunde warten, zwei. Am ten stimmen, Olena spricht wenig, aber sie
satz mit Uno-Friedenstruppen in Afrika. »Die Ende werden es sieben sein. versteht. Mit Mitte fünfzig ist sie zaghaft be-
Konflikte haben mich krank gemacht«, sagte müht um einen Neustart. Sie möchte, sagt sie,
er. Herzinfarkt mit 42. Seine Frau, eine Chi- Im dunklen Bus, auf Platz 14 A, sitzt kerzen- bald wieder mit Kindern arbeiten. Am nächs-
rurgin, rettete ihn in letzter Minute. Er wurde gerade Soldatenmutter Olena, 53. Seit Stun- ten Morgen ruft eine Freundin an: Wohin
ausgemustert. Seitdem fühlt sich Serhij vom den leuchtet ihr Gesicht im hellen Schein des fährst du? »Lübeck«, sagt Olena, »nach Hau-
Militär und vom ukrainischen Staat im Stich Handys, sie ist eine aparte Frau, schwarz ge- se« – und ist selbst irritiert von ihrer Antwort.
gelassen. Niemand kümmere sich um »Ver- kleidet, Nana-Mouskouri-Brille, ein Hauch Vorbei an Krakau, Katowice, endlich
letzte, Traumatisierte, Selbstmörder, um Dro- von Lippenstift. Sie zeigt ein Foto ihres Soh- schläft auch Olena. Am Ende des Ganges
genkonsum in der Armee. Dabei wäre das nes Kirill, 27, wie er im Flecktarn durch den blinkt blau die Uhr in Ukraine-Zeit, stets eine
gerade jetzt so wichtig«. Matsch robbt, das Maschinengewehr vor der Stunde voraus.
Trotzdem dachte Serhij keine Sekunde an Brust. Im Februar 2022 besuchte Kirill eine Dass sie längst in Deutschland sind, mer-
Flucht, begann ein Psychologiestudium, ko- Militärakademie, jetzt kämpfe er, sagt Olena, ken die Passagiere erst, als der Bus an einer
ordiniert heute die ukrainischen Invictus »an der Ostfront, Special Forces«. Für zwei Straßensperre vor Cottbus von der Fahrbahn
Games, die Sportspiele für verletzte Soldaten. Tage durfte sie ihn in Charkiw treffen. »Er gewinkt wird. Sie suchten nach blinden Pas-
Im Bus träumte er lautstark von einem Re- sprach so wenig«, sagt die Mutter. »Er wollte sagieren, Syrer meist, sagt ein junger deut-
habilitationszentrum für Verletzte, er will sein mich wohl schonen, vielleicht hätte ich mehr scher Polizist und kontrolliert minutenlang
Land bereit machen für ein Danach. »Ich will fragen sollen.« jeden Pass.
die Ukraine heilen«, rief er. Dass die Ukraine Olena knetet ihre Nasenwurzel mit Dau- Der Morgenhimmel hat nun rosa Risse,
den Krieg verlieren könnte, kommt in Serhijs men und Zeigefinger, es gelingt ihr nicht, die der Duft von Mandarinen und Tee durchzieht
Plänen nicht vor. Glaubt der Ex-Soldat nach Tränen zurückzuhalten. Sie zeigt ihre Text- den Bus. Eine Frau betet mit der Bibel auf
der gescheiterten Gegenoffensive im Sommer nachrichten an Kirill, digitale Herzen und den Knien, eine andere trauert um den ge-
noch an einen baldigen Sieg? Er lächelte. schlafende Monde zur guten Nacht. Olena opferten Schweinespeck.
Dann stieg er aus. erzählte ihrem Sohn vom neuen Leben in Berlin, zentraler Omnibusbahnhof, es ist
Noch ist der Bus Richtung Bremen gut in Lübeck, dem 80-jährigen Nachbarn, der sich kurz nach elf Uhr, draußen sind es milde acht
der Zeit, es dämmert, 16.30 Uhr. 70 Kilometer rührend kümmere. Kirill sagte nur knapp: Grad. Nach 27,5 Stunden Fahrt lichten sich
vor Polen hält er im Industriegebiet am Stadt- »Mach dir keine Sorgen, Mama.« Die vorige langsam die Reihen, Sascha und Olena blei-
rand von Lwiw, einst Lemberg genannt. In- Nacht verbrachten beide aneinandergekauert ben an Bord.
mitten von Wechselstuben und Spielsalons auf einem Korridor eines Charkiwer Hoch- In Hamburg am Hauptbahnhof sagt Fahrer
können Durchreisende die Schönheit der Stadt hauses, zählten Raketen, die um sie herum Wolodymyr zum Abschied: »Vielen Dank,
kaum erahnen. An der Schnittstelle zwischen einschlugen. »Es waren acht«, sagt Olena. dass Sie mit Flixbus gefahren sind. Und ver-
Ost und West lebten einst Polen, Juden, Ukrai- Warum bleibt sie nicht? »Es geht nicht. gessen Sie nicht, die Ukraine wartet auf Sie.«
ner, Deutsche; später starben Hunderttausen- Meine Wohnung ist ausgebombt, der Kinder- Die Frauen nicken, sagen »djakuju«, danke,
de durch Holocaust und Stalins Pogrome. Zu garten, in dem ich arbeitete. Alle sind weg.« die ersten verschwinden im Nieselregen.
Kriegsbeginn war Lwiw auch erster Zufluchts- Der Bus rückt vor im Schneckentempo, Wolodymyr greift noch einmal zum Mikro-
ort für Asja und Millionen Flüchtlinge, unter- plötzlich mahnt Fahrer Wolodymyr zur Eile. fon. »Ruhm der Ukraine«, sagt er und setzt
wegs in Evakuierungstrecks gen Westen. Wieder schlüpfen die Frauen in ihre Winter- den Blinker. n

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AUSLAND

vielleicht einzige Gemeinsamkeit der beiden


Frauen ist ihr Ehrgeiz: Während die eine ihre
Splitterpartei Fratelli d’Italia zur stärksten
politischen Kraft des Landes ausgebaut hat,
steigerte die andere durch Aufmerksamkeits-

»Warum bist du bewirtschaftung ihren Umsatz auf geschätzt


40 Millionen Euro pro Jahr.
Entsprechend groß ist nun die Schaden-

so gierig?« freude der Rechten. Kaum hatte Ferragni ihr


Schuldbekenntnis veröffentlicht, da lästerte
die Ministerpräsidentin über Influencer, die
sehr teure Weihnachtskuchen bewerben wür-
ITALIEN Chiara Ferragni ist eine der berühmtesten Influencerinnen und den, »mit denen sie den Leuten das Gefühl
geben, sie würden wohltätige Zwecke tun«.
störte das Weltbild von Premierministerin Giorgia Meloni. Nun zeigt sich: Schmerzlicher für Ferragni sind vermutlich
Sie soll mit einer Weihnachtsaktion am Leid kranker Kinder verdient haben. die zahllosen Kommentare ihrer Fans auf
Instagram. »Du hast Geld mit kranken Kindern
verdient«, »Warum bist du so gierig?«, »Du
ie Welt ist noch sehr in Ordnung für anderswo neue Stars hervorgebracht, sie be- müsstest ins Gefängnis«, heißt es da. Inzwi-
D Chiara Ferragni, als die Weihnachtszeit
beginnt. Anfang Dezember besucht sie
eine Party im Palast der indischen Prinzessin
stimmen den nationalen Diskurs stärker als
viele traditionelle Medien. Ministerpräsiden-
tin Giorgia Meloni kam auch deshalb an die
schen hat die Unternehmerin die Kommentar-
funktion unter ihren Posts abgeschaltet. Doch
die Schadenskontrolle hat bislang nicht sonder-
Diya Kumari in Rajasthan, im glänzenden Macht, weil sie sich mit zahllosen Posts ge- lich gut funktioniert. Ein Sonnenbrillenher-
Abendkleid, mit funkelnden Juwelen. schickt als politische Influencerin präsentier- steller beendete die Zusammenarbeit. Coca-
Am folgenden Wochenende reist sie in ein te und zum Beispiel migrantenfeindliche Cola sagte einen gemeinsamen Werbespot ab,
Fünfsternehotel nach Sankt Moritz. Tagsüber Statements mit Familienfotos mischte. In die Zahl ihrer Follower schrumpft.
tollen ihre Kinder im Schnee, abends Hütten- ihren Wutkampagnen vor der Parlaments- Und dann stellt sich noch die Frage, wie es
zauber mit dem Musiker Fedez, ihrem Ehe- wahl 2022 inszenierte sie Italien als ein von für ihr Gewerbe grundsätzlich weitergeht.
mann. Und die Welt schaut zu. der Linken und Europa heruntergewirtschaf- Das Geschäft auf Instagram und anderen
Jeden Tag postet Ferragni auf Instagram tetes Land, in dem es für junge Leute und Plattformen wird nun schwieriger, nicht nur
für ihre 29,4 Millionen Follower neue Fotos Unternehmer kaum Chancen gebe. für sie. Wie zuvor bereits andere EU-Staaten
und Videos. Oft sind Luxusmarken wie Prada Ferragni konnte dagegen mitunter wie eine hat Italien die Regeln verschärft.
oder Dior im Bild. Manchmal geht es um Ha- Anti-Meloni wirken: Kosmopolitin versus Influencer mit mehr als einer Million Fol-
fermilch oder einen Föhn. »Buonissimo«, Nationalistin, Fashion-Ikone statt Idol für Fa- lower müssen in Großbuchstaben auffällig das
perfekt für die Feiertage, »ein fantastisches schisten. Mit ihrem Ehemann Fedez, einem Wort »Werbung« einblenden, wenn sie in
Weihnachtsgeschenk«, schreibt die 36-Jährige auffällig tätowierten Rapper, verkörperte sie ihren Posts Produkte platzieren. Bei Verstö-
unter ihre Posts. ein Weltbild, das weit entfernt ist vom Mus- ßen werden in Italien nun Strafen von bis zu
Dann, am 15. Dezember, ist es plötzlich solini-Slogan »Gott. Vaterland. Familie«, den 250.000 Euro fällig. Ein präziser Verhaltens-
still auf ihrem Kanal. Erst drei Tage später die Regierungschefin so gern zitiert. kodex soll folgen und könnte sich am strengen
meldet sie sich zurück, mit brüchiger Stimme, Die Influencerin zeigte in ihren Marketing- Vorbild Frankreichs orientieren, wo Influen-
den Tränen nahe. »Ich habe einen Fehler ge- Reels auf Instagram und TikTok zwischen- cer ihren minderjährigen Fans ungesunde Le-
macht. Ich bitte um Entschuldigung. Es tut durch auch, dass Italien progressiver und di- bensmittel voller Fett, Salz und Zucker eben-
mir leid.« verser sein kann als in Melonis Reden. Fer- so wenig empfehlen dürfen wie Finanzpro-
Ein Weihnachtskuchen (»pandoro«), den ragni machte auf das Leid von Flüchtlingen dukte oder schönheitschirurgische Eingriffe.
sie Ende 2022 als wohltätiges Produkt unter aufmerksam, setzte sich für die LGBTQ-Com- Zunächst muss Ferragni aber ihr Weih-
dem Namen »Pink Christmas« vermarktet munity ein und kritisierte das Patriarchat. Die nachtskuchenproblem lösen. Als persönliche
hat, macht ihr seither Probleme. Wer das Ge- Wiedergutmachung hat sie inzwischen eine
bäck kaufte, würde damit ein Kinderkranken- Million Euro an das Turiner Kinderkranken-
haus in Turin unterstützen und krebskranken haus gespendet. Außerdem muss sie mit ihrem
Kindern helfen – so die Idee. Tatsächlich pro- Geschäftspartner, dem Kuchenhersteller
fitierte vor allem Ferragni: Sie verdiente mehr Balocco, Strafen von insgesamt 1,4 Millionen
als eine Million Euro durch den Marketing- Euro zahlen, die die italienische Wettbe-
deal. Die Klinik dagegen bekam von ihr werbsbehörde Mitte Dezember verhängte.
nichts. Für die Unternehmerin und ihre Part- Aber das ist nicht alles. Der italienische
ner geht es jetzt um hohe Strafen und um Verbraucherschutzverband hat eine Sammel-
staatsanwaltliche Ermittlungen. klage angekündigt. Seit Anfang Januar er-
Zugleich steht ihr Geschäftsmodell in Ita- mittelt außerdem die Staatsanwaltschaft Mai-
lien nun grundsätzlich zur Debatte: Anfang land gegen die Influencerin. Schwerer Betrug,
Januar haben die Behörden strenge Ver- lautet der Vorwurf.
haltensregeln für Influencer erlassen, um »Ich habe immer in gutem Glauben ge-
Schleichwerbung zu unterbinden. Millionen handelt und bin sicher, dass die Ermittlungen
Follower sollen leichter erkennen können, ob dies ergeben werden«, sagt Ferragni.
socialmediaser vice / ddp

Luxusreisen, glamouröse Homestorys und Die Staatsanwaltschaft untersucht derweil


Handtaschen der Insta-Stars mit kommerziel- noch einen anderen verdächtigen Deal. Es
len Interessen verbunden sind. ging darum, einen Hilfsverein für autistische
Die Affäre trifft eine Gesellschaft, die vom Kinder zu unterstützen – mit dem Kauf von
Personenkult durchdrungen ist. Soziale Me- Ferragni-Ostereiern aus Schokolade.
dien haben in Italien vielleicht früher als Vermarkterin Ferragni mit Weihnachtskuchen Frank Hornig n

82 DER SPIEGEL Nr. 4 / 20.1.2024


SPORT

Könige der Rallyes


Siege bei der Rallye Monte Carlo nach Herkunftsland

46
der Fahrer, seit 1911

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Französische Fahrer holten sich die meisten Siege,


erfolgreichste Automarke war mit 13 Titeln der
italienische Hersteller Lancia. Der Lancia Stratos fuhr in den
Siebzigerjahren vier Siege ein.

S Grafik

Die Rallye Monte Carlo ist eine der ältesten und prestigeträchtigsten Rallyes der Welt, in der kommenden Woche beginnt die 92. Auflage.
70 Piloten starten in Monaco ihre Tour durch die französischen Seealpen. Dass deutsche Piloten um den Sieg mitfahren, ist lange her,
in den Achtzigerjahren war es Walter Röhrl, der das Rennen gleich viermal gewann. In den vergangenen Jahren waren stets Franzosen vorn.
Titelverteidiger und Rekordhalter Sébastien Ogier will in diesem Jahr seinen zehnten Sieg erringen.

HALL OF FAME mein Ziel zu erreichen«, sagt bevor ihr Talent als Radfahre-
die 24-jährige Mecklenbur- rin erkannt wurde.
Lea Sophie Friedrich, gerin, die in Cottbus trainiert.
Es war Friedrichs vierter
Friedrich ist nicht die einzi-
ge Deutsche, die rasend schnell
Radsportlerin Europameistertitel im Keirin
in Folge, das hat vor ihr noch
auf zwei Rädern unterwegs
ist. Sie gehört zu einer Gruppe
niemand geschafft. Daneben ungewöhnlich erfolgreicher
Keirin, so nennt sich eine der Spitze aus, sodass niemand gewann sie aber auch Titel deutscher Frauen im Bahnrad-
Variante des Radsprints, die mehr folgen kann. im klassischen Radsprint und sport. Zusammen mit Emma
aus Japan kommt und auch Lea Sophie Friedrich, im Zeitfahren auf der Bahn. Hinze und Pauline Grabosch
als »Kampfsprint« bezeichnet Deutschlands schnellste Rad- Achtmal siegte sie in den ver- tritt sie im Teamsprint an. Der
wird. Ein halbes Dutzend fahrerin, wählte beim Finale gangenen Jahren schon bei »Brandenburg Express« gilt
Athletinnen oder Athleten tre- der Europameisterschaften in Weltmeisterschaften. zurzeit weltweit als unschlag-
ten dabei auf der ovalen Holz- den Niederlanden am vergan- Dabei hat Friedrich einst bar. Bei der Meisterschaft in
bahn in einer Radsporthalle genen Wochenende die zweite mit Fußballspielen angefangen, den Niederlanden blieben die
gegeneinander an. Meist gehen Variante. Als sie eine Runde drei nur knapp unter ihrem
die Rennen über eine Distanz vor dem Ziel das Tempo eigenen Weltrekord und holten
von bis zu 2000 Metern. anzog, hatten ihre Konkurren- ihren dritten EM-Sieg in Folge.
Wer gewinnen will, muss nicht tinnen keine Chance. Friedrich Alles andere als eine Gold-
nur schnell sein, sondern erreichte mehr als 65 Kilo- medaille bei den Olympischen
auch die richtige Taktik wäh- meter pro Stunde und über- Spielen im Sommer in Paris
len. Entweder hängen sich querte als Erste die Ziellinie. wäre deshalb eine Enttäu-
die Sportler im Windschatten Um auf diese Art zu gewin- schung. Trotzdem sagte Fried-
John Thys / AFP

an den Führenden ran und nen, braucht es das nötige rich nach ihrem neuen Titel:
versuchen kurz vor der Ziel- Selbstbewusstsein. »Es zeich- »Es ist nicht selbstverständlich
linie vorbeizuziehen. Oder net mich aus, dass ich immer zu gewinnen. Ich musste
sie forcieren das Rennen von mit Vollgas herangehe, um Friedrich an meine Grenzen gehen.« MIF

Nr. 4 / 20.1.2024 DER SPIEGEL 83


SPORT

Autor Scharf beim


Qualifikationsturnier
in Kalkar

Tschüss, SPIEGEL, ich werde


Darts-Weltmeister
SELBSTVERSUCH In den vergangenen Jahren ist Darts vom Kneipenspaß zum TV-Ereignis geworden,
immer mehr Spieler träumen von einer Profikarriere. Bevor es losgeht, müssen sie sich
allerdings eine Tourkarte erspielen. Auch SPIEGEL-Redakteur Sven Scharf hat es versucht.

84 DER SPIEGEL Nr. 4 / 20.1.2024


SPORT

as Leben als SPIEGEL -Redak- Schnellen Brüters, des Kernkraft- ab dem vierten Tag um die Tourkar-
D teur ist, im Großen und Gan-
zen, in Ordnung. Ich bin zu-
frieden mit meinem Job, kann mir
werks Kalkar, ist eine Freizeitanlage
entstanden, inklusive Familienpark,
Bars, Restaurants, Hotel – das »Wun-
Darts-Land
Mitglieder im
ten kämpfen werden. Unter ihnen
werden ambitionierte Hobbydarter
sein, aber auch ehemalige Tourkarten-
Deutschen Dart-
kaum etwas vorstellen, das ich lieber derland Kalkar«. Nicht weniger als Verband inhaber und sogar Ex-Weltmeister.
machen würde. ein Wunder brauchte es für mich 24.000 Ich zähle zwei, vielleicht auch drei
Manchmal träume ich trotzdem auch, um hier mithalten zu können. Frauen; Darts, daran hat sich seit mei-
noch von einer Karriere als Darts- Aber ganz ohne Zielsetzung habe ich 20.000 ner Jugend wenig geändert, ist ein
Profi. Zwischen meinem 16. und die Reise nicht angetreten. In dieser von Männern dominierter Sport.
19. Lebensjahr habe ich neben der Reihenfolge möchte ich:
Schule eigentlich nichts anderes ‣ nicht den schlechtesten Punkte- 10.000 Tag 1: Zwischen acht und halb zehn
gemacht, als Pfeile zu werfen. In schnitt (Average) aller Spieler haben, muss sich jeder noch einmal für den
Hamburg galt ich als Talent. Was viel- ‣ einen Average von mehr als Tag anmelden, danach werden die
leicht vor allem daran lag, dass es 50 Punkten spielen (wer hier eine Paarungen ausgelost. Als ich angemel-
damals nur wenige Jugendspieler gab. Tourkarte gewinnen möchte, sollte det bin, gehe ich erst mal frühstücken.
2016 2023
Ein Teenager, der auf Turnieren ein im Schnitt über 85 Punkte haben), Viele andere Spieler sehe ich da nicht.
paar Spiele gewinnt, fällt mehr auf als ‣ ein Leg gewinnen. jeweils viertes Quartal Die meisten nutzen die Zeit, um sich
ein Erwachsener. Das war auch An- Falls das Darts-Fieber Sie nicht S Quelle: DDV einzuspielen. Gegessen wird neben-


fang Januar bei der Darts-WM 2024 längst gepackt hat, hier einmal das bei. In der Halle bieten sie unter an-
zu sehen, als der 16 Jahre alte Luke Spielprinzip erklärt: Bei allen Turnie- derem Pommes und Currywurst an.
Littler bis ins Finale kam und nicht ren der PDC geht es darum, vor dem Um neun Uhr bin ich wieder in der
nur die Briten begeisterte. Gegner 501 Punkte auf null zu brin- Halle und spiele mich ein wenig ein.
Ich selbst war überdurchschnittlich gen. Die Darts-Scheibe besteht aus Anfangs ist es mir fast ein bisschen
gut, habe an deutschen Meisterschaf- 20 Segmenten, jedes davon hat einen peinlich, dass nur ungefähr zwei von
ten teilgenommen, mitunter mehrere großen Bereich, der einfach zählt, und drei Pfeilen in das 20er-Feld fliegen.
Turniere die Woche gespielt und regel- zwei sehr kleine Felder, die zwei- be- Aber ich versuche, mir immer wieder
mäßig mein Pausengeld morgens nicht ziehungsweise dreifach zählen. Die zu sagen, dass die anderen hier wahr-
für Brötchen ausgegeben, sondern ge- Mitte zählt 25 Punkte im äußeren Ring scheinlich in der Woche so viele Stun-
spart, damit ich abends in der Kneipe und 50 im roten Zentrum, dem Bulls- den spielen wie ich in Monaten. Nach
eine Cola trinken konnte. Als ich mit eye. Geworfen werden pro Runde 20 Minuten beende ich das Einspie-
18 eine Ausbildung zum Groß- und (auch Aufnahme genannt) drei Pfeile. len, besser wird es nicht.
Außenhandelskaufmann begann, hat- Die meisten Pfeile wiegen zwischen Jeder Teilnehmer der Q-School
te ich kaum noch Zeit zu trainieren, 15 und 28 Gramm, die Entfernung zur darf einen Gast mitbringen. Also sitzt
die Leistungen wurden schlechter, mei- Scheibe beträgt exakt 2,37 Meter. Hat ein Freund, der in der Nähe von Köln
ne Lust auf Darts verschwand. Irgend- man seine drei Darts geworfen, ist die wohnt und auch dartsbegeistert ist,
wann hörte ich einfach auf zu spielen. Gegnerin oder der Gegner dran. Wie mit mir an einem der vielen Tische,
Vor einigen Jahren näherte ich viele Legs für den Sieg gewonnen wer- die hier außerhalb des Spielbereichs
mich dem Sport wieder an, erst mal den müssen, variiert. In Kalkar sind aufgebaut sind. Vor uns zwei Tetra-
nur als Journalist. Darts war in es an den ersten Tagen fünf. paks mit Wasser. Auf vielen anderen
Deutschland immer noch eine Rand- In die Halle, in der die Q-School Tischen stehen neben Wasser auch
sportart, es gibt nur wenige Kollegen, ausgetragen wird, darf ich an diesem Gläser mit Bier, Wein, Cola, in eini-
die sich auskennen. Durch die Be- Sonntagabend leider noch nicht. Also Publikumsliebling gen Fällen Whisky-Cola. Dass etliche
Littler im WM-Halb-
richterstattung habe ich die Liebe eben was essen, dann ins karge Hotel- finale in London
Spieler auf Darts-Turnieren Alkohol
zum Pfeilewerfen wiederentdeckt, zimmer. Ab morgen werden aus fast am 2. Januar: Darts ist trinken, um die Nerven zu beruhigen,
mir erneut eine Scheibe zu Hause auf- 500 Teilnehmern jene ausgespielt, die ein Präzisionssport weiß ich, ich habe es früher genauso
gehängt und die Profitour der Profes- gemacht.
sional Darts Corporation (PDC) auch Die PDC ist allerdings darum be-
privat intensiv verfolgt. müht, das Kneipenimage loszu-
Um selbst Profi zu werden, bin ich werden. Per E-Mail wurden alle Teil-
leider viel zu schlecht. Aber einmal nehmer darauf hingewiesen, dass
mitspielen beim Qualifikationsturnier während der Spiele kein Alkohol
der PDC, Q-School genannt, das kann getrunken werden darf.
ich schon. Dort hat jeder die Chance, PDC-Geschäftsführer Matthew
sich die Spielberechtigung für die Pro- Porter sagte vor wenigen Wochen
fitour zu erdarten. Gekostet hat mich während der WM in England, kein
das ob meiner heutigen Leistungsstär- aktueller Topspieler brauche Alkohol,
ke ein wenig Überwindung – und den um gut zu spielen. In der Szene weiß
SPIEGEL 475 britische Pfund Start- jeder, dass das eine eher mutige Aus-
gebühr, zwei Zugtickets und ein paar sage ist. Zwar gibt es immer mehr
Übernachtungen in Kalkar am Nie- Spieler, die Fitness und Kondition
derrhein, wo eine der beiden Q- trainieren und tatsächlich keinen Al-
Schools in diesem Jahr stattfand. kohol zu sich nehmen. Sie sind aber
Weil ich für einen Teil der Strecke noch in der Unterzahl. Vielen Teil-
auf den Schienenersatzverkehr aus- nehmern in Kalkar scheint es sinnvoll,
Zac Goodwin / dpa

weichen musste, dauerte die Fahrt beim Wettkampf zu trinken.


von Hamburg nach Kalkar knapp Darts ist ein Präzisionssport. Die
sieben Stunden. Dort, auf dem Ge- Double- und Triple-Felder sind nur
lände des nie ans Netz gegangenen acht Millimeter hoch, schon die

Nr. 4 / 20.1.2024 DER SPIEGEL 85


SPORT

kleinste Abweichung im tausendfach trainier­ Leg. Am Ende verliere ich 0:5, habe aber mit
ten Bewegungsablauf kann dazu führen, dass Pfeilscharfe Präzision 52,75 erneut einen Average von über 50 und
der Pfeil sein Ziel deutlich verfehlt. Einen war erneut nicht der Schlechteste.
Wurf aus dem Lehrbuch gibt es nicht, jeder Punkteverteilung einer Dartscheibe Abends schaue ich mich im Wunderland
muss seinen eigenen Wurfstil finden: wie er 20 um. Es gibt hier unter anderem eine Bowling­
Segment 5
den Dart anfasst (vorn, hinten, mit zwei, drei Punktangabe am Rand bahn, Billardtische, Spielautomaten und eine
oder vier Fingern); wo er sich an der Wurf­ 12 Kneipenstraße. Dort sehe ich fast nur Teil­
linie (dem Oche, »okkii« gesprochen) hinstellt Bull’s Eye nehmer, die nicht unbedingt Favoriten auf
50 Punkte

9
(mittig, eher rechts, eher links); wie er den eine Tourkarte sind, einige von ihnen höre
Pfeil wirft (wuchtig oder mit Gefühl, den Dart ich bis tief in die Nacht feiern. Es scheint so,
Single Bull

14
vor dem Auge oder neben dem Kopf entlang­ 25 Punkte als ob Spieler, die mit Ambitionen angereist
gezogen). Einigkeit besteht allerdings darü­ sind, sich am Abend eher ausruhten.
ber, dass der Bewegungsablauf immer nach Innerer Ring

11
demselben Muster stattfinden sollte. Und dass Punkte zählen Tag 3: Nach dem Frühstück gehe ich in die
sich im Idealfall nur Unterarm und Hand be­ dreifach. Halle. Heute geht es gegen einen weiteren Bel­
wegen. gier, Luc Bogaert wird sich als der stärkste mei­

8
Äußerer Ring
Das Mentale spielt im Darts eine elemen­ Punkte zählen ner Gegner erweisen und am Ende ebenfalls
tare Rolle. Der Däne Vladimir Andersen er­ doppelt. die Qualifikation für die Final Stage schaffen.

16
zählt mir, ihm sei gesagt worden, dass es auf Das erste Leg läuft desaströs. Ich werfe
7
Profiniveau 80 Prozent ausmache. Er habe Beispiel 2 x 7 = 14 Punkte nacheinander 28, 52, 45, 64 und 31 Punkte,
das anfangs nicht glauben wollen. »Nun weiß 19 stehe noch bei 281 Zählern, als mein Gegner
3
ich, es sind mehr als 80 Prozent. Alles ent­ S Grafik das Leg beendet. Das nächste 0:5 scheint sich

scheidet sich im Kopf, fast jeder hier hat Pha­ anzubahnen. Bogaert beginnt das zweite Leg
sen, in denen er alles trifft. Wichtig ist es aber, bringen, uns gegenseitig anfeuern. Felix ge­ mit Aufnahmen von 121, 60, 100 und 100, ist
auch unter Druck zu treffen.« winnt sein erstes Spiel 5:2, verliert dann aber wieder weit vorn. Aber dann hat er Probleme
Um kurz vor zehn erfahre ich, wer mein 2:5. Ich möchte glauben, dass meine Anwe­ auf die Doppelfelder, verpasst mehrere Chan­
erster Gegner ist: der Belgier Jeroen Caron, senheit ihm zum Sieg verholfen, mit der cen, das Leg zu beenden. Wie viele es genau
der wie die meisten hier viel zu gut für mich Niederlage aber nichts zu tun gehabt hat. waren, weiß ich nicht mehr – das Adrenalin.
ist. 32 Boards sind im Spielbereich in zwei Ich selbst habe für den heutigen Tag be­ Meine Chance kommt, als ich mit einem
Reihen aufgebaut, durch dünne Aufsteller schlossen, die Zeit zurückzudrehen und noch Rest von 68 Punkten an die Wurflinie trete.
voneinander getrennt, damit die Spieler nicht einmal komplett in die Vergangenheit einzu­ Jetzt kann ich Geschichte schreiben, zumin­
abgelenkt werden. tauchen. Morgens um kurz nach neun hole dest persönliche.
Caron und ich treffen an Board 11 auf­ ich mir an der Bar eine Whisky­Cola. Danach Der Weg zum Finish ist klar: Triple­12,
einander. Beim kurzen Einspielen bin ich noch spiele ich mich wieder kurz ein. dann blieben 32 Punkte übrig, eine Doppel­16
relativ entspannt, sobald das Spiel losgeht, Während der Partien ist es still in der würde mir den Leg­Gewinn sichern. Der ers­
spüre ich aber doch Nervosität. Ich versuche Halle. Anders als bei der WM oder anderen te Dart geht in die einfache 12, kein Problem,
mir einzureden, dass ich nur hier bin, um die­ TV­Turnieren, wo Zuschauer singen, feiern, weil ich für die restlichen 56 Punkte ja immer
sen Text zu schreiben; dass es völlig egal ist, grölen, wird, zumindest im Spielbereich, noch zwei Pfeile habe. Den nächsten Wurf
wie ich abschneide. Aber eine Mischung aus geflüstert. Weder Zuschauer noch Pressever­ will ich in das einfache 16er­Feld setzen, dann
Ehrgeiz, Angst vor einer Blamage und der irr­ treter sind erlaubt. hätte ich 40 Punkte Rest, eine Doppel­20 wür­
witzigen Hoffnung, hier vielleicht doch etwas Die Atmosphäre ist überwiegend kollegial. de reichen. Stattdessen rutscht mir der Pfeil
zu gewinnen, beeinträchtigt meinen eigentlich Die meisten sind in Gruppen angereist, die in die Doppel­16. Bleiben 24 Punkte Rest.
verinnerlichten Bewegungsablauf. Weil Caron Spieler verfolgen die Partien der anderen, Und noch ein Pfeil.
nach starkem Start plötzlich Probleme hat, die unterstützen sich gegenseitig. Aber wie über­ Jetzt muss ich nur noch die Doppel­12 tref­
Doppelfelder zu treffen, und ich gleichzeitig all, wo es um viel geht, gibt es auch Konflikte. fen. Erneut zögere ich etwas zu lange, weiche
für mich unerwartete 119 Punkte werfe, be­ Teilnehmer werden bestraft, weil sie ihren von meinem gewohnten Bewegungsablauf
komme ich hier tatsächlich die Chance, mir Gegner beleidigt haben, oder von den Offi­ ab. Ich mache eine kurze Pause, gehe einen
gleich das erste Leg zu holen. Die Aussicht, ziellen ermahnt, weil sie zu langsam spielen. Schritt vom Board zurück. Jetzt ganz ruhig
schon am ersten Tag, im allerersten Leg, eines Nach sieben Tagen Darts wird sich für 17 Spie­ bleiben, denke ich. Das hast du schon 1000­
meiner drei Ziele zu erreichen, macht mich ler ein Traum erfüllen, sie erhalten die be­ mal zuvor geschafft. Absurderweise überlege
offenbar nervös. Meine nächsten Pfeile landen gehrte Tourkarte. Bald werden sie gegen Stars ich für einen Moment, um wie viel besser es
alle nicht dort, wo ich sie hinsetzen will. Ent­ wie Michael van Gerwen, Gerwyn Price, Luke für meinen SPIEGEL ­Text doch wäre, wenn
täuschend. Am Ende verliere ich 0:5. Immer­ Humphries oder Luke Littler antreten. ich wenigstens ein Leg gewinnen würde.
hin: Ein Großteil meiner Darts landet zumin­ Für mich geht es heute an Board 13 gegen Nach ein paar Sekunden mache ich den
dest in den anvisierten Segmenten, wenn auch Torbjörn Gustafsson aus Finnland. Der Alko­ Schritt zurück ans Board und lasse den letzten
viel zu selten in den Triplefeldern. Caron, das hol verfehlt seine Wirkung nicht, während Pfeil aus meiner Hand fliegen. Er landet ganz
ist ein kleiner Trost für mich, wird sich später der Partie bin ich weniger nervös als gestern. links in der Doppel­12, fast in der direkt da­
in die Final Stage spielen. Komischerweise spiele ich nicht besser. Aller­ neben liegenden Doppel­9. Getroffen, Leg
Zwei meiner Ziele habe ich allerdings im dings verpasse ich im vierten Leg ein absolu­ gewonnen, es steht 1:1.
ersten Spiel erreicht. Mit 53,78 liegt mein Aver­ tes Highlight knapp. Bei 139 Punkten Rest An diesem dritten (und für mich letzten)
age über 50. Und wenn ich mir nur die Aver­ werfe ich den ersten Pfeil in die dreifache 19 Tag verliere ich zwar 1:5, habe aber tatsächlich
ages angucke, waren von den fast 500 Teil­ und den zweiten in die dreifache 14. Es sind alle meine Ziele erreicht. Ich habe ein Leg ge­
nehmern mehr als 20 schlechter als ich. also nur noch 40 Punkte übrig, mit einer Dop­ wonnen, mit 52,64 wieder einen Average von
pel­20 hätte ich mein erstes Leg gewonnen. mehr als 50 gespielt und war erneut nicht der
Tag 2: Beim Frühstück lerne ich einen anderen Doch dann zögere ich vor dem letzten Dart Schlechteste. Am Ende gab es bei dieser Q­
Spieler kennen, der auch allein angereist ist. zu lange und werfe ihn statt in die Doppel­20 School in Kalkar sieben Spieler, die kein ein­
Er heißt Felix und ist ambitionierter Hobby­ weit daneben in die einfache 5. Mit seiner ziges Leg gewonnen haben. Was, bitte schön,
darter. Wir werden den Tag zusammen ver­ nächsten Aufnahme beendet Gustafsson das hatten die hier eigentlich zu suchen? n

86 DER SPIEGEL Nr. 4 / 20.1.2024


SPORT

Ludwig: Es ist in der Organisation und


in der emotionalen Belastung einfach
zu viel geworden. Immer wieder mit
zwei Kindern die Koffer packen, sich
an eine neue Umgebung gewöhnen.

»Ich hatte das Gefühl, meine Sich entscheiden zu müssen, welchen


Sohn wir mitnehmen können. Unse-
re Eltern, eine Freundin oder eine

Familie zu zerreißen« Nanny um Hilfe in der Kinderbetreu-


ung fragen zu müssen. Es nimmt mir
Druck, wenn ich weiß, dass der Vater
meiner Kinder zu Hause aufpasst.
BEACHVOLLEYBALL Laura Ludwig, 38, wurde Europameisterin, Weltmeisterin, SPIEGEL: Hätten Sie sich mehr Unter-
stützung gewünscht?
Olympiasiegerin und ist Mutter zweier kleiner Kinder. Ihre größte Herausfor­ Ludwig: Wir werden finanziell nicht
derung: den Alltag zwischen Familienleben und Leistungssport zu organisieren. bei der Betreuung der Kinder unter-
stützt, mussten aber eine oder zwei
Betreuungspersonen bezahlen. Wir
SPIEGEL: Frau Ludwig, Sie haben alle »Es gab Ludwig: Es gab Momente, in denen können uns das grundsätzlich leisten,
Titel gewonnen, die es zu gewinnen ich nur noch heulen konnte, weil ich aber für längere Zeit ginge das nicht.
gibt. Warum können Sie von Ihrem Momente, den Wald vor lauter Bäumen nicht Es würde auch helfen, eine Art Kinder-
Sport nicht lassen? in denen mehr gesehen habe. Als mein Mann garten bei den Turnieren zu haben.
Ludwig: Ich liebe Beachvolleyball. Es noch mein Cheftrainer war, waren wir Aber auch damit kann ich morgens
ist das, was ich am besten kann und
ich nur beide zur selben Zeit unterwegs. Teo nicht in Ruhe zwei Stunden vor dem
was mir am meisten Spaß macht. Und noch heulen ist häufiger zu den Turnieren mitge- Training einen Kaffee trinken und früh-
ich möchte noch besser werden, als konnte.« reist, dafür war Lenny zu klein. Ich stücken, um gestärkt, aber nicht zu voll
Mensch und als Sportlerin: ruhiger, war mit den Gedanken immer bei ih- trainieren zu können. Durch die Kin-
athletischer, dynamischer. Außerdem nen und hatte das Gefühl, meine Fa- der bin ich um sechs Uhr wach. Auch
ist meine Partnerin Louisa Lippmann milie zu zerreißen. Ich bin nieman- am Abend haben wir keine Ruhe. Da-
als ehemalige Hallen-Volleyballspie- dem mehr gerecht geworden. bei sind unsere Kinder unkompliziert.
lerin neu in unserer Sportart. Sie in- SPIEGEL: Wie hat sich das auf dem SPIEGEL: Wie erklären Sie den Kin-
spiriert mich sehr, und ich möchte Feld bemerkbar gemacht? dern, dass Sie manchmal wochenlang
meine Erfahrung weitergeben. Ludwig: Rund um die Weltmeister- nicht da sind?
SPIEGEL: Lippmann ist bereits Ihre schaft im vergangenen Oktober in Ludwig: Da Teo und Lenny sehr gern
vierte feste Beachvolleyball-Partne- Mexiko habe ich Lenny vier Wochen in den Kindergarten gehen oder bei der
rin. Was ist das Wichtigste in einer kaum gesehen. Ich hatte Angst, dass Oma sind, war das selten ein Problem
Partnerschaft? unsere Verbindung verloren geht. für sie. Aber ich habe mich schlecht
Ludwig: Kommunikation ist das A Das war rückblickend auch ein dabei gefühlt. Selbst wenn ich Teo mit-
und O. Das ist nicht leicht, auch nach Grund dafür, warum ich bei der WM genommen habe, kann ich während
20 Jahren im Profisport arbeite ich nicht meine beste Leistung gezeigt des Trainings oder eines Meetings nicht
daran. Louisa und ich müssen Fehler habe. für ihn da sein. Das ging zwar gut, war
und Taktiken mit einem oder SPIEGEL: Ihr Mann Imornefe »Morph« aber auch anstrengend. Im Nachhinein
zwei Wörtern klären können. Wir Beachvolleyballerin Bowes ist deswegen jetzt nicht mehr muss ich sagen, dass wir in der Organi-
Ludwig bei Turnier
müssen uns blind verstehen. Louisa in Hamburg im Mai Cheftrainer vom Duo Ludwig/Lipp- sation mit einem Kind wenig Probleme
muss merken, wenn ich nach einem 2023 mann. hatten. Auch mit zwei Kindern hätten
Ballwechsel komplett fertig bin, damit wir für ein weiteres Jahr eine Lösung
sie dann etwa ihre Brille putzen finden können. Aber ich möchte Voll-
gehen und ich durch die kleine Pause gas geben und mich komplett auf Olym-
Luft holen kann. Solche Strategien pia in Paris konzentrieren können.
müssen wir erst entwickeln. Das SPIEGEL: Sie nennen die US-Ameri-
ist wie in anderen Beziehungen im kanerin Kerri Walsh als Vorbild, die
Leben. als Mutter zweier Kinder 2012 Olym-
SPIEGEL: Sie arbeiten sich nach der piagold holte. Ist eine weitere Olym-
Geburt Ihres zweiten Kindes zurück piamedaille für Sie realistisch?
in den Spitzensport. Sind Sie mit Ludwig: Absolut. Sonst würde ich
Ihrer Entwicklung zufrieden? nicht mehr spielen. Ich will mich nicht
Ludwig: Wie nach der Geburt meines auf dem Feld abschießen lassen. Oder
ersten Sohns Teo merke ich auch bei das Gefühl haben, dass ich nicht mehr
Lenny, dass es zehn bis zwölf Mona- da hingehöre. Ich will meine Zeit
te gebraucht hat, bis ich langsam nicht verschwenden, gerade wenn ich
wieder in Form gekommen bin. Das sie auch mit den Kindern verbringen
hängt auch damit zusammen, dass ich könnte. Aber jetzt genieße ich die
bis vor Kurzem kaum auf hartem Vorbereitungszeit. Da geht es weniger
Beautiful Spor ts / IMAGO

Boden Schnelligkeit trainiert habe, darum, wer wann wohin fliegt und
weil ich meinen Beckenboden scho- wer wann auf die Kinder aufpasst. Ich
nen wollte. Mir fehlt aber auch noch merke, wie ich nicht mehr direkt auf
Kapazität im Kopf. 180 bin, nur weil ich übermüdet bin.
SPIEGEL: Inwiefern? Interview: Annika Schultz n

Nr. 4 / 20.1.2024 DER SPIEGEL 87


WISSEN

Icelandic Depar tment of Civil Protection and Emergency Management / AFP


Das Städtchen heißt Grindavík und wurde erneut zum Opfer apokalyptisch anmutender Naturgewalten. Im Dezember bebte die Erde, rissen die
Straßen auf – nun sprudelt Lava aus dem Untergrund. Grund für die Katastrophen ist der Vulkanismus auf der Reykjanes-Halbinsel im
Südwesten Islands, wo zwei tektonische Platten aneinandergrenzen. Die Bewohner Grindavíks wurden bereits im November vorsorglich evakuiert,
einige möchten nie mehr zurückkehren: Die Unsicherheit sei zu groß, sagen sie.

entnommen wurden. Das ist eine sehr niedrige Zahl etwa


Mehr Wertschätzung wagen im Vergleich zu Spanien, wo mehr als viermal so viele Menschen
spenden. Das liegt wohl unter anderem an der dort geltenden
Widerspruchslösung. Sie erlaubt, dass grundsätzlich allen
ANALYSE Wie es Deutschland gelingen könnte,
Hirntoten Organe entnommen werden dürfen, wenn sie nicht
die Zahl der Organspender zu erhöhen zu Lebzeiten widersprochen haben.
Experten sehen aber vor allem andere Gründe für die
Die Plakate hängen in U-Bahn-Stationen und an Bushalte- spanischen Zahlen. So werden Organe auch denjenigen Men-
stellen, kleben an Hauswänden und sind in den sozialen schen entnommen, die an Herzversagen sterben – in Deutsch-
Netzwerken zu sehen: »Organspende ja oder nein?«, ist auf land ist das untersagt. Außerdem werde in Spanien mit den
ihnen zu lesen. Sie sollen Menschen dazu bewegen, sich Spendern wertschätzender umgegangen, sagt Silke Schicktanz,
als Organspender eintragen zu lassen. Ob diese Aktion der Co-Autorin der Studie zum Kampagnendebakel: »Ihre
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung erfolgreich Namen werden öffentlich verlesen, zum Beispiel in einer katho-
sein wird? Zweifel sind angebracht: 14 vorherige Kampagnen lischen Messe, oder sie erhalten im Krankenhaus eine Denk-
haben Unentschlossene jedenfalls nicht überzeugt, wie schrift.« Und die Krankenhäuser seien deutlich besser miteinan-
Forscher und Forscherinnen durch eine Befragung heraus- der vernetzt, sodass auch kleine Kliniken Organe entnehmen
gefunden haben. können.
Entsprechend trist lesen sich die Zahlen, die die Deutsche Schicktanz ist optimistisch, dass die neue Werbung besser
Stiftung Organtransplantation nun veröffentlichte: Auf rund funktionieren könnte: Laut Studie störte die Befragten bei den
8400 schwer kranke Patienten, die dringend eine Spende vorherigen Kampagnen nämlich vor allem der moralisierende
brauchten, kamen im vergangenen Jahr lediglich 965 Menschen, oder gar bevormundende Unterton. Ein Vorwurf, der dem neuen
denen nach ihrem Tod tatsächlich ein oder mehrere Organe Slogan nicht gemacht werden kann. Franziska Schindler

88 DER SPIEGEL Nr. 4 / 20.1.2024


Aktenzeichen Kothaufen: führung scheiterte bisher am Datenschutz. petition fordern die Gegner des Projekts
So äußerte unter anderem die Landesbeauf- daher, lieber noch mehr Kotbeutelspender
ungelöst tragte für Datenschutz und Informations- zu installieren. Doch auch die haben
DNA-ABGLEICH In Südtirol kann nicht auf- freiheit Nordrhein-Westfalen Bedenken, ihre Schattenseiten: Rund 415 Milliarden
gesammelter Hundekot künftig teuer werden. dass sich Halter beim Gassigehen beschattet Hundekotbeutel ummanteln laut einer
Neuerdings droht nämlich Enttarnung fühlen könnten. »Bei jedem Spaziergang Studie weltweit pro Jahr das große Geschäft
via DNA-Abgleich. Seit Januar müssen alle bestünde dann ein gewisser Überwachungs- von Waldi und Co. Das entspricht bis
Hunde zwecks Schnauzenabstrich zu einer druck. Ein so erzeugter Verhaltensdruck zu 1,23 Millionen Tonnen Plastikmüll. JKO
offiziellen Probensammelstelle. Das Erbgut kann für eine Verletzung der Persönlich-
wird dann analysiert und in einer Daten- keitsrechte ausreichen«, hieß es. Auch in
bank hinterlegt. Von rund 5000 der mehr als Bayern scheiterten entsprechende Versuche
40.000 in Südtirol gemeldeten Hunde ist an juristischen Hürden. Aufwand bei

Tham Kee Chuan / iStockphoto / Getty Images


ein solcher genetischer Pfotenabdruck bereits Datenschutz und praktischer Durchführung
gespeichert. Wird dann im öffentlichen Raum stünden bei solchen Vorhaben kaum im
ein herrenloser Haufen gefunden, kann da- Verhältnis zum Nutzen, erklärt Ursula
von mittels spezieller Testkits eine Probe ent- von Einem vom Bundesverband Praktizie-
nommen und mit der Datenbank verglichen render Tierärzte.
werden. Die nachlässigen Gassigeher müssen Kritik am Einsatz der Methode gibt es
bis zu 1048 Euro Strafe zahlen. auch in Südtirol. So seien in der Datenbank
Mit forensischen Methoden wie in Süd- naturgemäß keine Hunde der zahlreichen
tirol liebäugelten Lokalpolitiker auch in Touristen registriert – diese trügen aber viel
Deutschland immer wieder, doch die Ein- zur Verschmutzung bei. In einer Online-

»Isolationsschicht SPIEGEL: Warum kann es so aber auch dafür, dass gar nichts künftig wohl insgesamt milder
lange dauern, bis ein Boden gut in den Boden dringt. Wenn der werden?
für den Boden« durchfeuchtet ist? Boden unter der Schneedecke Marx: Ja, denn dadurch werden
Dürre trotz Marx: Das liegt unter ande- gefroren ist, kann nämlich nur die Grundwasserkörper besser
Dauerregen? rem an den regional sehr unter- sehr wenig Wasser in den gespeist. In Niedersachsen wur-
schiedlichen Böden, die sich Boden einsickern. Steigen die den schon jetzt teilweise Grund-
Sebastian Wiedling / UFZ

Klimaforscher
Andreas Marx schwer vergleichen lassen. Temperaturen dann schnell wasserhöchststände gemessen.
erklärt, warum es In den Alpen liegen nur wenige wieder deutlich über den Ge- SPIEGEL: Warum wird dennoch
so lange dauert, Zentimeter Erde auf dem da- frierpunkt, tauen die oberen so viel über eine zukünftige
bis ein Boden gut runter anstehenden Gestein, in Schneeschichten weg und flie- Wassernot diskutiert?
durchfeuchtet der Norddeutschen Tiefebene ßen oberflächlich ab. Schnee Marx: Den Szenarien nach wird
ist. Marx ist Leiter des Dürre- sind die Böden dagegen teilwei- wirkt wie eine Isolationsschicht es in den Wintermonaten durch
monitors beim Helmholtz- se sehr mächtig. Sandige Böden für den gefrorenen Boden, der den Klimawandel mehr regnen.
Zentrum für Umweltforschung durchfeuchten deutlich schnel- selbst dann nicht taut, wenn die Grundsätzlich ist genug Wasser
in Leipzig. ler, tonhaltige dagegen langsam. Luft schon wieder wärmer ist. da, aber in den Sommermona-
SPIEGEL: In manchen Teilen Ist es dagegen relativ warm und ten fehlt es. Hitzewellen ver-
SPIEGEL: Herr Marx, derzeit Deutschlands liegt derzeit der Boden nicht eingefroren, stärken die Trockenheit, weil
bestimmen Regen und Schnee Schnee. Ist er der bessere Nie- sickert das Tauwasser nach und mehr Feuchtigkeit verdunstet
das Wetter in Deutschland. derschlag, weil er langsamer nach ein. Dann profitieren und der Wasserverbrauch steigt.
Wir haben feuchte Monate hin- versickert? die Böden von Schnee stärker Die Probleme müssen letztlich
ter uns, in manchen Regionen Marx: Schnee kann die Böden als von Regen. die Wasserversorger und die
war der Dezember der nasseste zwar ordentlich durchnässen, SPIEGEL: Ist es deswegen ein Politik dadurch lösen, dass sie
seit Messbeginn. Ist die wenn er taut. Er sorgt mitunter Vorteil, dass die Winter zu- ihr Management und die Infra-
Dürre der vergangenen Jahre struktur ändern. Gleichzeitig
überstanden? müssen die Nutzer den Wasser-
Marx: Bis in einen Meter Tiefe verbrauch im Sommer deutlich
gibt es derzeit kein Dürre- senken.
problem in Deutschland. Auch SPIEGEL: Lässt sich schon pro-
darunter sind die Böden nur gnostizieren, wie der kommen-
noch vereinzelt trocken, bei- de Sommer wird?
spielsweise im Osten Deutsch- Marx: Es sieht nicht danach aus,
lands. Trockene Böden können als könnte es absehbar an
nur wenig und langsam Flüssig- Grundwasser mangeln und da-
keit aufnehmen, diese dringt mit Probleme bei der Auf-
manchmal nur um einen einzi- bereitung von genügend Trink-
gen Millimeter pro Tag vor. wasser geben. Und es liegen
Selbst wenn es ein, zwei Mona- drei Monate vor uns, in denen
te am Stück regnet, wirkt die Grundwasserstände weiter-
Ruper t Oberhäuser / IMAGO

sich das nicht automatisch posi- steigen. Sollten die Böden


tiv auf den Untergrund aus. im April und Mai noch feucht
Aber generell gilt: Wir haben genug sein, dürften bis in
Hochwasser an der Lippe
die seit fünf Jahren anhalten- bei Werne und Bergkamen
den Herbst auch die Wälder mit
de Dürre in Deutschland über- Anfang Januar ausreichend Flüssigkeit ver-
wunden. sorgt sein. JOE

Nr. 4 / 20.1.2024 DER SPIEGEL 89


WISSEN

»Wir können die Gehirnchemie auf


gesunde Weise steuern«
SPIEGEL-GESPRÄCH Der Psychologe Harvey Milkman, 79, erforschte jahrzehntelang, warum Menschen
drogenabhängig werden. Ende der Neunziger half er, Islands Teenager zu den »cleansten«
Europas zu machen. Was rät er Eltern, die ihre Kinder vor einer Sucht schützen wollen?

SPIEGEL: Professor Milkman, warum werden dessen fragten Sie, welche Funktion sie für den SPIEGEL: Wie haben Sie Ihre Erkenntnisse von
manche Menschen süchtig, und andere haben Süchtigen erfüllt. Wie kamen Sie auf diese Idee? den Natural Highs in die Tat umgesetzt?
ihren Drogenkonsum gut im Griff? Milkman: Ich arbeitete in den Siebzigerjah- Milkman: In den Neunzigerjahren habe ich
Milkman: Jeder reagiert anders auf Drogen. ren am Bellevue-Krankenhaus in Manhattan mich mit der afroamerikanischen Choreo-
Manche Menschen spüren eher wenig, andere auf der Psychiatrie. Meine Kollegen und ich grafin Cleo Parker Robinson zusammengetan.
empfinden dadurch mehr Erregung oder aber wollten wissen, warum Süchtige so unter- Für den symbolischen Betrag von einem Dol-
mehr Entspannung. Ihr Körper baut die Stof- schiedlich wirkende Drogen wie Alkohol, lar im Jahr durften wir ein Stadttheater mie-
fe anders ab, sie sind genetisch anfälliger für Marihuana, Heroin oder Kokain nehmen. Wir ten. Dort boten wir Jugendlichen, die bereits
eine Sucht. Wenn ihr Umfeld dazu noch eine fanden heraus, dass es jeweils auf den Persön- Kontakt zu Drogen hatten, nach der Schule
gewisse Risikobereitschaft fördert und sie psy- lichkeitstyp ankommt, wer welchen Stoff be- Nachmittagsaktivitäten an. Wir nannten es
chische Probleme wie etwa Depressionen ha- vorzugt. Menschen, die Amphetamine wähl- das »Project Self-Discovery«, das Projekt
ben, sind sie ziemlich sicher gefährdet. ten, waren vor allem aktive, konfrontative Selbstentdeckung. Fünf Schulen schickten uns
SPIEGEL: Sie haben an der Metropolitan State Typen. Wer Heroin nahm, wollte Lärm, Lich- ihre Risikoschüler, darunter auch wirklich
University of Denver darüber geforscht, wie ter, Geräusche dämpfen. Sucht ist für die meis- harte Fälle, Kinder, die nach Straftaten auf
man Kinder und Jugendliche vor einer Sucht ten Menschen ein Weg, mit Stress und Frust Bewährung waren.
bewahren kann, lange bevor diese auftritt. im Leben umzugehen. Die Droge ist ein per- SPIEGEL: Kamen die freiwillig?
Wie gelingt das? sönliches, individuelles Mittel zur Stress- Milkman: Ja. Einigen von ihnen mieteten wir
Milkman: Wer Drogen nimmt, jagt dem bewältigung. Taxis, die sie zu uns brachten. Diese Kinder
Glücksbotenstoff Dopamin hinterher. Der SPIEGEL: Was brachte dieses Wissen? besitzen selten die Geduld, nach der Schule
entsteht im Gehirn aber nicht nur dann. Man Milkman: Für die Behandlung erst einmal gar auf den Bus zu warten.
kann die Ausschüttung von Dopamin auch nichts. Aber es war die Grundlage für meine SPIEGEL: Was haben Sie ihnen an Ihrem Stadt-
durch andere Aktivitäten ankurbeln. Ich nen- Erkenntnis, dass eine Sucht oft schon angelegt theater angeboten?
ne das ein »Natural High«. Wir wissen, dass ist, lange bevor der Süchtige mit Drogen in Milkman: Ganz verschiedene Dinge: Tanz,
Jugendliche Drogen aus Neugierde, aus Kontakt kommt. Hip-Hop, Rap, Poesie, Kampfsport. Für alle
Risikobereitschaft, aus Rebellion nehmen, SPIEGEL: Können Sie das genauer erklären? Kurse hatten wir Lehrer gewonnen, die am
nicht weil sie abhängig werden wollen. Und Milkman: 1978 sagte der damalige Gesund- Anfang des Projekts zeigten, was sie den Kin-
egal wie sehr man sie davor schützen will: heitsminister Joseph Califano, dass Zigaret- dern beibringen wollten. Anschließend wähl-
Teenager werden immer nach Risiken, nach tenrauchen ein »Selbstmord in Zeitlupe« sei. ten die Kinder ihren Kurs. Drei Monate waren
einem Kick streben. Wir werden es nicht Dieser Satz hat meinen Blick auf die Zeit- ursprünglich jeweils angesetzt. Einige Kinder
schaffen, das zu unterdrücken. Aber wir kön- achse einer Drogenbiografie verändert. Ich blieben fünf Jahre lang.
nen die Gehirnchemie auf gesunde Weise in bemerkte, dass viele der Menschen, die ich SPIEGEL: Sie haben sie mit Tanzkursen aus
diese Natural Highs steuern. damals als Süchtige kannte, schon lange vor der Drogensucht geholt? Klingt fast zu schön,
SPIEGEL: Wie? ihrer Abhängigkeit an der Schwelle zum Dro- um wahr zu sein.
Milkman: Die Kinder müssen dafür etwas wa- genmissbrauch standen. Ich habe damals mit Milkman: Aber so war es. Mit Angeboten, die
gen. Beim Sport etwa, wenn sie sich veraus- Jungs gesprochen, die mir erzählten: »Erst ihre kreative Leidenschaft weckten. Wir ha-
gaben, ein Ziel erreichen, einen Erfolg ein- hat mir Radkappenstehlen einen Kick gege- ben das Projekt von Anfang an wissenschaft-
fahren wollen. Wenn sie ein wichtiges Spiel ben. Dann habe ich die Scheibe eingeschlagen lich begleitet und die Teilnehmer fortwährend
durch ihren Eifer gewinnen, dann erleben sie und das Radio mitgenommen. Irgendwann befragt. Es hat ihnen zu einem besseren Fa-
ein Natural High. Das gelingt auch in ganz das ganze Auto.« Lange bevor sie Kokain, milienleben verholfen, sie pflegten weniger
anderen Situationen, etwa im Theaterkurs an Amphetamine oder andere Drogen entdeck- gefährliche Freundschaften, nahmen weniger
der Schule: Wenn sie auf der Bühne vor Frem- ten, steckten sie schon in der Sucht. Drogen. Das konnten wir anhand von Daten
den sprechen, ist ein enormer Thrill, da rast SPIEGEL: Ist Autodiebstahl nicht etwas ande- nachweisen.
das Herz. Diesen Nervenkitzel erleben sie res als Koksen? SPIEGEL: In den Neunzigern gab es in Island
ebenso, wenn sie vor Publikum singen oder Milkman: Sucht ist ein Verhalten, das Zwang ein großes Problem mit Drogen und Alkohol
musizieren. Wichtig ist, dass sie aus sich und Kontrollverlust verbindet. In dieser De- bei Jugendlichen. Sie wurden zu Vorträgen
hinausgehen. finition ist das Suchtmittel egal, es können eingeladen, klärten über die gesunden Wege
SPIEGEL: Sie waren einer der ersten Forscher, auch Verhaltensweisen sein. Egal ob Macht, zu Dopamin auf und haben damit die Ent-
die Sucht nicht von Drogen her dachten. Statt- Geld, Sex oder Kalorien: Sucht ist, wovon wicklung des sogenannten isländischen Mo-
Menschen abhängig werden, obwohl es ihr dells angestoßen. Was war auf der Insel da-
Das Gespräch führte die Redakteurin Kerstin Kullmann. Leben auf Talfahrt schickt. mals los?

90 DER SPIEGEL Nr. 4 / 20.1.2024


WISSEN

auf sieben und fünf Prozent und für


Zigarettenrauchen auf drei Prozent
gesunken sind. Ein dramatischer
Rückgang des Drogenkonsums in
allen Kategorien. Diese positiven Ver­
änderungen halten bis heute an. Die
Kinder sind jetzt clean.
SPIEGEL: Sportvereine und Freizeit­
aktivitäten gibt es auch in anderen
Ländern. Was ist das Erfolgsgeheim­
nis der Isländer?
Milkman: Sie haben mit Ausdauer
und Einsatz ein System geschaffen, in
dem sich fast jeder fortwährend ein­
bringt. Man trifft sich regelmäßig mit
Lehrern oder Trainern. Das Ziel ist
es dabei nicht, Profimusiker oder per­
fekte Athleten auszubilden, sondern
den Charakter zu formen. Die Logik
ist einfach: Wenn alle nach der Schu­
le etwas zu tun haben, kommt man
nicht mehr so leicht auf die Idee,
Unsinn anzustellen. Es gibt kaum
Gelegenheit dazu.
SPIEGEL: Wie sind die Eltern bei die­
sem Projekt eingebunden?
Milkman: Man könnte sagen: vertrag­
lich. Am ersten Schultag werden sie
gebeten, ein Dokument zu unter­
schreiben. Darin verpflichten sie sich,
mehr Zeit mit ihren Kindern zu ver­
bringen.
SPIEGEL: Wirklich?
Milkman: Ja. Sie unterschreiben auch,
dass sie darauf achten werden, mit
wem sich ihr Nachwuchs in der Frei­
zeit tummelt und dass ihre Kinder
unter 16 nach zehn Uhr abends nicht
mehr draußen unterwegs sind. De fac­
to ist das eine nächtliche Ausgangs­
Carl Bower / DER SPIEGEL

sperre. So werden Risikofaktoren für


Sucht, die wir als Fachleute kennen
und die gut belegt sind, ausgeschaltet.
SPIEGEL: Empfinden die Eltern das
nicht als übergriffig?
Milkman: Der Vertrag ist rechtlich
Milkman: Im Sommer scheint die ken waren, 23 Prozent hatten ge­ nicht bindend. Aber er erzielt Wir­
Sonne dort 20 Stunden lang. In der raucht, 17 Prozent Cannabis konsu­ kung. Er spricht die Eltern ganz per­
Hauptstadt Reykjavík machten die miert. Keine guten Zahlen. sönlich an. Er motiviert aber auch auf
Jugendlichen damals wortwörtlich SPIEGEL: Was war der nächste Schritt? eine andere Art: Wenn sehr viele Fa­
die Nacht zum Tag. Sie betranken Milkman: Island hat viel Geld in milien mitziehen, kann kein Jugend­
sich, lärmten herum, kotzten auf die die Hand genommen. Familien er­ licher mehr sagen: »Ihr seid die
Straße. Da liefen Tausende Kinder hielten fortan für jedes Kind pro Jahr strengsten Eltern. Mein Freund darf
herum, die ihre Impulskontrolle ver­ einen Freizeitgutschein im Wert von dieses und jenes.« In Island und in
loren hatten. 400 Euro. Dieses Guthaben konnten »Teenager anderen Ländern, die diese Strategie
SPIEGEL: Wie hat man diese Situation die Kinder für Hunderte Angebote nehmen verfolgen, etwa in Chile oder Mexiko,
angepackt? nach der Schule einlösen. Kunst, wird der Vertrag gern unterschrieben.
Milkman: Das klingt vielleicht ko­ Musik, Fußball, das ganze Spektrum. Drogen nicht Er gibt allen Beteiligten die Sicher­
misch, aber zunächst wurden die Kin­ Dieses Programm wurde ausgespro­ deshalb, heit, am gleichen Strang zu ziehen.
der, wie immer, an ihren Schulen be­ chen gut und schnell angenommen, SPIEGEL: Wie ist es eigentlich, wenn
fragt. Wie geht es ihnen? Wie sieht heute nutzen es 96 Prozent der Sechs­ weil sie Mutter, Vater oder beide Eltern sich
ihr Konsum aus? Was sind die Proble­ jährigen. Selbst bei den Teenagern abhängig zu Hause regelmäßig betrinken? Wel­
me in Familie, Schule, Nachbarschaft? sind es noch 70 bis 80 Prozent. che Chance hat ein Kind in solch einer
Die Jugendlichen antworten immer SPIEGEL: Wie wirkt sich das auf den
werden Umgebung, nicht selbst süchtig zu
erstaunlich ehrlich auf diese Fragen. Drogenkonsum aus? wollen. Sie werden?
Und damals, 1998, sagten 42 Prozent Milkman: 2018, nach 20 Jahren Prä­ Milkman: Es kommt auf verschiedene
der 15­ bis 16­Jährigen, dass sie in den vention, konnten wir feststellen, dass
suchen Faktoren an. Wenn das Kind gut in
vorangegangenen 30 Tagen betrun­ die Zahlen für Alkohol und Cannabis das Risiko.« der Schule mitkommt und in eine

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WISSEN

positive Gleichaltrigengruppe integriert ist, »Mit jedem Jahr, das nale Verbindungen ab, die nicht allzu häufig
sehen wir die Eltern in diesem Fall als Risiko-, genutzt werden – das synaptische Pruning.
die Schule und Freunde als Schutzfaktoren. man nicht kifft, SPIEGEL: Drogen stören diese Prozesse?
Sie können das Risiko »Familie« mildern oder wird das Risiko kleiner.« Milkman: In schlimmen Fällen kann es zu
sogar aufheben, diese Faktoren sollten des- Hirnfunktionsstörungen kommen, die bis ins
wegen gestärkt werden. Erwachsenenalter bestehen bleiben. Außer-
SPIEGEL: Das klingt sehr abstrakt. Gibt es in dem kann Cannabis eine genetische Veran-
so einer Situation ernsthaft Aussicht auf Erfolg? Dort durchlief ich eine komplizierte Zeremo- lagung zur Schizophrenie aktivieren. Die
Milkman: Auf jeden Fall. Bei unserem Projekt nie samt Schwitzen und Brechmittel und ver- Krankheit, die andernfalls wahrscheinlich
»Self-Discovery« in Denver hatten wir auch sprach am Ende einem sehr netten Mönch, nicht ausgebrochen wäre, wird durch den
Kinder, deren Eltern drogenabhängig waren, nicht mehr zu rauchen. Das Versprechen habe Cannabiskonsum dann ausgelöst. Grundsätz-
die im Gefängnis gesessen hatten, die starke ich bis heute gehalten. lich gilt: Je früher man mit dem Kiffen be-
psychische Probleme hatten. Glauben Sie mir: SPIEGEL: Sie leben seit Jahrzehnten in Colo- ginnt, desto wahrscheinlicher ist es, dass man
Auch diese Eltern wollten, dass es ihren Kin- rado, einem der ersten Bundesstaaten der später im Leben Probleme damit hat. Mit
dern einmal besser geht. Oft überspringt die USA, die Cannabis legal machten. In Deutsch- jedem Jahr, das man nicht kifft, wird das Ri-
Sucht übrigens eine Generation. Weil die Kin- land soll im April Cannabis legalisiert werden. siko kleiner.
der sehen: So wie Mutter oder Vater will ich Was halten Sie davon? SPIEGEL: Befürworter sagen: Die Menschen
es nicht machen. Milkman: Politisch habe ich da keine eindeu- konsumieren ohnehin. Und wenn die Droge
SPIEGEL: Wie und ab welchem Alter sollen tige Antwort. Aber ich weiß, wie gefährlich erlaubt ist, wird es für alle Beteiligten sicherer.
Eltern mit ihren Kindern über Drogen reden? es für Jugendliche ist, wenn der Konsum einer Kein verunreinigter Stoff, keine Kontakte ins
Milkman: Man kann schon mit kleinen Kin- Droge normalisiert wird. Fast die Hälfte der kriminelle Milieu.
dern darüber sprechen, was gesund und was Staaten in den USA hat Marihuana für den Milkman: Das sehe ich auch als Vorteil. Mei-
giftig für den Körper ist. Der Zigarettenstum- Freizeitgebrauch zugelassen. Dadurch nutzen ne Nachforschungen haben aber ergeben, dass
mel auf der Straße: Gift. Alkohol auch. Über es auch mehr Kinder und Jugendliche, Alters- der illegale Drogenmarkt in den USA trotz
Marihuana kann man bereits mit Zwölfjähri- grenze von 21 Jahren hin oder her. Wir Liberalisierung noch sehr aktiv ist. Dort wer-
gen sprechen. Und mit den Älteren redet man wissen: Von zehn Leuten, die Alkohol pro- den billigere und stärkere Stoffe angeboten.
ja ohnehin schon fast wie mit Erwachsenen. bieren, werden ihn drei missbräuchlich Gleichzeitig bringt die Legalisierung Milliar-
SPIEGEL: Wie klärt man sie am besten auf? konsumieren, und einer wird abhängig. Das den Dollar an Steuergeldern in die öffent-
Milkman: Die meisten Teenager sind klug, sie Gleiche gilt für Marihuana und die meisten lichen Kassen. Sobald in diesen Prozess das
wissen, dass Drogen und Alkohol für sie ge- anderen Drogen. Unternehmertum mit Aussicht auf Profite
fährlich werden können. Aber sie mögen es SPIEGEL: Wie schadet Cannabis den Kindern eingreift, zieht der Markt noch einmal ganz
nicht, wenn man ihnen sagt, was sie tun oder genau? anders an.
lassen sollen. Am besten überlegt man gemein- Milkman: Das Gehirn von Teenagern ist noch SPIEGEL: Also sind Sie dagegen, Cannabis zu
sam mit ihnen: Was macht dir Spaß? Was willst in der Entwicklung, und die Drogen wirken legalisieren?
du schaffen? In der Schule? Danach? Was bei ihnen stärker als im Gehirn von Erwach- Milkman: Ich stehe irgendwo dazwischen. In
wünschst du dir für dein Leben? Dann fangen senen. In der mittleren Kindheit und frühen den USA hätte es meiner Meinung nach ge-
sie oft an, darüber nachzudenken. Jugend sind zwei Prozesse besonders wichtig: reicht, Marihuana für den medizinischen Ge-
SPIEGEL: Haben Sie je Drogen genommen? die wieder auftretende Myelisierung von brauch zuzulassen. Wem es hilft, der soll es
Milkman: Ich war süchtig nach Zigaretten. Nervenzellen und das, was wir »synaptisches auf kontrollierte Art und Weise bekommen.
Zwei Jahre lang habe ich aufgehört, dann kam Pruning« nennen. Aber es war nicht nötig, die Droge quer durch
eine Trennung, und ich bin rückfällig gewor- SPIEGEL: Was bedeutet das? alle Gesellschaftsschichten und Altersgruppen
den. Ich kenne alle Modelle der Rückfall- Milkman: Das Gehirn ist zwar bald nach der derart zu normalisieren. Andererseits wird
prävention, aber auch die haben mich nicht Geburt ausgewachsen, verändert sich in den durch die Legalisierung die Eigenverantwor-
geschützt. Plötzlich steckt man in einer emo- Jugendjahren aber noch einmal anatomisch. tung der Menschen für ihren Umgang mit
tionalen Krise und sagt, na ja, was soll’s. Dafür werden mehr Nervenzellen mit dem Drogen gestärkt. Ich glaube, eine Gesellschaft
SPIEGEL: Hier stehen keine Aschenbecher. Stoff Myelin ausgekleidet, die dann neuro- kann eine Legalisierung überstehen. Wenn
Wie haben Sie mit dem Rauchen aufgehört? nale Impulse weitertragen. Das fördert das sie die Teenager stark macht und schützt.
Milkman: Es hat mich volle 365 Tage gekostet schnellere Denken. Zum anderen schneidet SPIEGEL: Professor Milkman, wir danken
und einen Trip zu einem Kloster in Thailand. das Gehirn in dieser Zeit aber auch neuro- Ihnen für dieses Gespräch. n
Bernard Annebicque / Sygma / Getty Images

Karl Petersson / AFP

Teenager in Island 1996, 2016: »Ein dramatischer Rückgang des Drogenkonsums in allen Kategorien«

92 DER SPIEGEL Nr. 4 / 20.1.2024


WISSEN

Kakaoschalen verkohlen langsam, ähnlich


wie eine Pizza im zu heißen Backofen.
Am Ende dieses Prozesses entsteht Pyro-
lysegas, das Circular Carbon verheizt, um
Dampf für die Schokofabrik zu erzeugen. Vor
allem aber entsteht »Biochar«, wie Stenlund
die Pflanzenkohle auf Englisch nennt. Etwa
die Hälfte des Kohlenstoffs aus den Kakao-
schalen ist darin gebunden; der Rest ist beim
Verbrennen des Pyrolysegases als Abgas in
die Luft gegangen.
Insgesamt sind die Emissionen der Pflan-
zenkohle negativ: Sie entzieht der Atmosphä-
re CO₂. Allerdings nur, solange sie nicht ver-
brannt wird. Wohin also mit dem Zeug?
»Pflanzenkohle lässt sich vielseitig nut-
zen«, sagt Venna von Lepel. Die Mittvierzi-

Krümel fürs Klima gerin arbeitet bei Novocarbo; das Start-up

Jack Mikrut / IMAGO


hat im Oktober seine bisher größte Biochar-
Anlage im mecklenburgischen Grevesmühlen
eröffnet. Auf Ackerböden könne die Pflanzen-
kohle Gutes tun, sagt die ausgebildete Land-
wirtin. Wie winzige Schwämme speichert die
ERDERWÄRMUNG Um den Treibhauseffekt einzudämmen, muss Kohlen­ poröse Minikohle Wasser, Nährstoffe und
dioxid aus der Atmosphäre geholt werden. Ausgerechnet Kohle könnte Mikroorganismen – und gibt sie nach und
dabei eine Schlüsselrolle spielen. Und dazu Bauern und Bauherren helfen. nach an die heranwachsenden Pflanzen ab.
Außerdem können die Brösel den Humusauf-
bau in ausgelaugten Böden ankurbeln.
s duftet nach Schokolade rund um den die Pflanzen einst durch Fotosynthese aus der Diese Wirkung haben schon vor Jahrtau-
E Reaktor, der dazu beitragen soll, das
Weltklima zu retten. Der süße Geruch
zieht durch den Hamburger Hafen, hinüber
Atmosphäre gezogen haben. Werden ihre
Reste nun verbrannt, verfüttert oder verrotten
sie, wird das CO₂ freigesetzt und gelangt in
senden die Ureinwohner des Amazonas-
gebiets erprobt. Sie erschufen eine besonders
fruchtbare, tiefschwarze Erde, indem sie den
zur Karbonisierungsanlage des Start-ups die Atmosphäre. Boden mit einem Gemisch anreicherten, das
Circular Carbon. Er stammt von der Schoko- Genau das wollen die Klimaköhler um zu einem Teil aus Pflanzenkohle bestand.
ladenfabrik nebenan, »unserem wichtigsten Stenlund verhindern. Er und sein Kompagnon Landwirte könnten durch den Einsatz von
Rohstofflieferanten«, sagt Peik Stenlund. Felix Ertl haben ihre erste große Anlage Pflanzenkohle demnach Kunstdünger einsparen
Der Finne Stenlund, 41, ist Co-Gründer deswegen direkt neben der Schokofabrik er- – der oft mithilfe fossiler Brennstoffe wie Erdgas
und Chef von Circular Carbon. Man könnte richtet. Ein Förderband leitet die braunen, hergestellt wird. Aber bislang nutzt kaum ein
ihn einen Klimaköhler nennen. Denn hier im süßlich duftenden Schalen über eine Brücke Bauer das neue Wundermittel. Vermutlich auch
Hafen verkohlen er und seine Leute tonnen- zu Circular Carbon. Dort werden sie von deshalb, weil es vergleichsweise teuer ist.
weise Biomüll in einem Pyrolysereaktor. Reststoffen getrennt, ehe sie schließlich im Auch in der Bauindustrie, einem der größ-
Aus den Schalen der Kakaobohnen von Herzstück der Anlage landen: dem Pyrolyse- ten CO2-Verursacher weltweit, soll die Pflan-
der Nachbarfabrik machen sie Pflanzenkohle: reaktor. zenkohle herkömmliche Rohstoffe ersetzen.
tiefschwarze, poröse, federleichte Krümel- Er ist mit Stickstoff befüllt, denn nichts »Man kann sie bis zu einem bestimmten An-
chen. Sie sind neue Hoffnungsträger im fürchten Köhler mehr als Sauerstoff. Rund teil anstelle von Sand oder Zement dem Beton
Kampf gegen die Erhitzung des Planeten. 550 Grad Celsius heiß ist es im Innern des beimischen«, sagt Lepel. Schweizer Forscher
Laut dem Weltklimarat könnte ihre massen- Reaktors; etwa 40 Minuten lang wird die Bio- der Eidgenössischen Materialprüfungs- und
hafte Herstellung in Zukunft Milliarden masse in ihm schmoren. Hier lodert keine Forschungsanstalt haben kürzlich einen
Tonnen Kohlendioxid (CO2) pro Jahr der Flamme, es gibt ja keinen Sauerstoff. Die klimaneutralen Zement entwickelt, der ein
Atmosphäre entziehen. Führende Wissen- Fünftel Pflanzenkohlepellets enthält und ähn-
schaftler setzen große Stücke auf die schwar- lich fest wie handelsüblicher Zement ist. Bei
zen Brösel. Aus der Luft in den Boden Leichtbeton konnten sie sogar bis zu 45 Pro-
»Pflanzenkohle kann eine Menge Kohlen- zent Biochar beimischen.
stoff speichern«, sagt Otmar Edenhofer, Chef Der Weg des Kohlendioxids bei der Herstellung Bis in Brücken, Straßen oder Fundamenten
von Pflanzenkohle
des Potsdam-Instituts für Klimafolgenfor- massenhaft Kohlenstoff einbetoniert wird, ist
schung. Sabine Fuss, Co-Direktorin des Ber- es aber noch ein weiter Weg. Dies zeigte sich
liner Klima-Thinktanks MCC, meint gar: Aus einem Kilo- … rund 800 g CO2, kürzlich in der Schweiz.
gramm Kakaoschalen die bei der Erzeugung
»Ohne CO2-Entnahmetechnologien wie etwa (entspricht etwa 1,6 kg von Prozessdampf Im Stadtparlament von St. Gallen schlugen
Pflanzenkohle ist es kaum möglich, die glo- CO2) entstehen im in die Luft gelangen. die Grünen vor, beim Straßenbau künftig As-
bale Erwärmung auf 2 oder gar 1,5 Grad zu Pyrolysereaktor phalt mit gerade einmal zwei bis drei Prozent
bei etwa 550°C …
begrenzen.« Pflanzenkohleanteil einzusetzen. Der Stadt-
Ausgerechnet Kohle soll helfen, das Klima Fotosynthese rat lehnte den Ökoteer ab: Es gebe keine
1,6 kg CO2
zu retten? Langzeiterfahrungen, zudem entspreche der
Die Pflanzenkohle wird aus Pflanzenresten Asphalt nicht den bisherigen Normen, daher
wie Holzabfällen, Grünschnitt, Stroh, Weih- könnten Straßenbauunternehmen die Garan-
… etwa 330 g Pflanzenkohle (entspricht rund
nachtsbäumen oder Überbleibseln der Le- 800 g CO2), die zum Beispiel auf Feldern zur tieleistung verweigern.
bensmittelproduktion gemacht. In all dieser Bodenverbesserung eingesetzt werden kann. Noch ist die Biochar-Branche klein, die
Biomasse steckt jede Menge Kohlenstoff, den S Quellen: IWB, Circular Carbon Klimawirkung überschaubar. Ein Reaktor wie

Nr. 4 / 20.1.2024 DER SPIEGEL 93


WISSEN

der von Circular Carbon kann der Atmosphä-


re pro Jahr ungefähr so viel CO2 entziehen,
wie 750 Menschen in Deutschland emittieren.
Novocarbo will bis zum Jahr 2030 eine
Million Tonnen aus der Atmosphäre holen.
Das wären knapp 0,15 Prozent der deutschen
Treibhausgasemissionen; hierzu müsste die
Firma Hunderte Pyrolyseanlagen so groß wie
in Grevesmühlen errichten. Und zudem ge-
waltige Mengen Reststoffe einsammeln. Je
weiter deren Transportweg ist, desto schlech-
ter wird die Klimabilanz.
Pflanzenkohle allein werde das Klimapro-
blem nicht lösen, räumt Lepel offen ein: »Zu-
erst muss der weltweite Treibhausgasausstoß
bis 2050 drastisch sinken. Von den unver-
meidbaren Restemissionen könnte die Pflan-
zenkohle einen Teil ausgleichen.« Sofern es
die Branche schafft, sich vielfach zu vergrö-
ßern. Dafür brauche sie Milliarden.
Die Start-ups konnten ihre Reaktoren nur
dank reicher Kapitalgeber bauen: Novocarbo
wird vom Immobilienmultimillionär Rolf
Elgeti unterstützt, Circular Carbon von der
econnext Holding, hinter der unter anderem
Mitglieder der Siemens- und der C&A-Grün-
derfamilie Brenninkmeijer stehen. Einen be-
achtlichen Teil ihrer Einnahmen erwirtschaften
die Pioniere aus speziellen Zertifikaten, die
Unternehmen freiwillig kaufen können, um
ihren ökologischen Fußabdruck zu verringern.
Um die 200 Euro je Tonne CO₂ würden
derzeit für Pflanzenkohlezertifikate gezahlt,
berichtet von Lepel. Novocarbo habe sie unter
anderem schon an Konzerne wie Bayer, Swiss
Re oder den Wälzlagerhersteller Thyssenkrupp
Rothe Erde verkauft. Diese freiwillig gezahlten
Preise liegen weit über den rund 65 Euro, die
Zertifikate zum Ausstoß einer Tonne Kohlen-
stoff im verpflichtenden EU-Emissionsrechte-
handel kosten. Für den Massenmarkt wird
Pflanzenkohle erst dann attraktiv, wenn ihre
Herstellungskosten in diese Sphären sinken.
Die Branchenlobby fordert Staatshilfe. Um
rapide wachsen zu können, müsse eine »faire
Förderung für Anlagenbauer eingerichtet wer-
den«, sagt Benedikt Zimmermann, Erster
Vorsitzender des Verbands German Biochar.
MCC-Forscherin Fuss unterstützt dies. »Es
ist im gesellschaftlichen Interesse, dass Unter-
nehmen CO₂ aus der Atmosphäre holen und
deponieren. Das sollte belohnt werden, und
die Politik sollte Wachstumsanreize setzen.«
Bei Circular Carbon geht es auch ohne
Staatsgeld voran. Die Firma hat einen Groß-
abnehmer gefunden: Ein Brandenbur-
ger Landwirtschaftsbetrieb will jährlich
1000 Tonnen Pflanzenkohle in seine Böden
einarbeiten. Und die Karbonisierungsanlage
erzeuge mittlerweile einen großen Teil des
Dampfs, den die Schokoladenfabrik neben-
an benötige, sagt Co-Gründer Stenlund. Er
deutet auf einen weißen Kamin auf dem
Dach des Nachbargebäudes. »Früher haben
sie Erdgas verbrannt, um Dampf zu machen.
Heute raucht dieser Kamin nicht mehr.« Und
es riecht hier so viel besser.
Claus Hecking n

94 DER SPIEGEL Nr. 4 / 20.1.2024


WISSEN

gerungen, die etwa 600.000 Jahre alt


sind, seltener werden; die Tiere zogen
sich immer weiter nach Süden zurück.
Die Sedimente jener elf Höhlen aber,
in denen die Riesenzähne fehlten,

Hungertod des Yeti waren ausnahmslos jünger als rund


200.000 Jahre. Zu diesem Zeitpunkt
war der Riesenaffe offenbar ver-
schwunden. Das Fenster, in dem Gi-
EVOLUTION Als der Urmensch nach Ostasien gelangte, lebte dort ein Affe, groß gantopithecus ausgestorben ist, lässt
wie ein Grizzlybär. Paläontologen rekonstruieren, warum der Gigant ausstarb. sich auf den Zeitraum vor 295.000
bis 215.000 Jahren eingrenzen.
Damit zeichnet sich das Unter-
r war zottelig wie der Yeti, derzeit ein weltweites Artensterben«, gangsdrama deutlicher ab. Die Pollen
E mächtig wie King Kong und ge-
heimnisvoll wie Bigfoot. Vor
allem aber: Es gab ihn wirklich. So-
sagt die Geochronologin von der
Macquarie-Universität in Sydney.
»Da ist es wichtig zu begreifen, wie
im Sediment zeugen davon, dass die
Landschaft damals überwiegend be-
waldet war. Und doch hatte ein tief-
weit bekannt, war Gigantopithecus das Aussterben funktioniert.« greifender Wandel begonnen. Beson-
der größte Affe, der je auf Erden leb- Westaway ist Datierungsexpertin. ders die Zunahme der Farne spricht
te. Jetzt hat ein internationales For- Evolution zu verstehen bedeutet für dafür.
scherteam detailliert untersucht, sie zuvorderst, zeitliche Abläufe zu Der Jahreszyklus veränderte sich.
wann, wie und warum er einst aus- rekonstruieren. »Erst wenn wir wis- Wo einst ganzjährig feuchtheißes Tro-
gestorben ist. sen, wann Gigantopithecus ausgestor- penklima geherrscht hatte, wechsel-
Gigantopithecus blacki, so der na- ben ist, können wir nach den Ursa- ten sich nun Regen- und Trockenzei-
turwissenschaftliche Name, lebte in chen suchen«, sagt sie. ten ab. Für Gigantopithecus war das
Ostasien. Er war ein Tier mit den Ma- In zwei Millionen Jahre alten Höh- fatal. Die Kratzer in seinen Zähnen
ßen eines Grizzlybären: bis zu 300 Ki- lensedimenten sind mitunter Hunder- erzählen davon: In der Trockenzeit
logramm schwer, aufrecht an die drei te der Gigantenzähne eingebettet. war die Nahrung knapp. Die Riesen
Meter groß. Besonders massig waren »Damals ging es ihnen prächtig«, sagt kauten nur noch auf Rinden, Zweigen
die Männchen. Vermutlich rivalisier- Westaway. Unklar aber war, wann der und Wurzeln. Auch Spurenelemente
ten sie, ähnlich wie Gorillas, um Ha- Niedergang begann. Um das zu klären, in den Zähnen, etwa Barium, Stron-
rems mehrerer Weibchen. Um in den startete die Forscherin gemeinsam mit tium und Blei, zeugen von Mangel-
Bäumen leben zu können, war Gigan- Kollegen aus China und Australien ernährung und Stress. »Das hat dem
topithecus zu schwer. Die Tiere müs- ein wissenschaftliches Großprojekt. Der Riesenaffe Gigantopithecus den Garaus ge-
sen am Boden gehaust haben. Das Team analysierte Fossilien und macht«, konstatiert Westaway.
Entdeckt wurde der Riesenaffe Sedimente aus 22 Höhlen in Süd- Durchschnittliche Und der Urmensch Homo erectus?
Größen von Primaten,
1935 – und zwar in einer Apotheke. china, wo einst das Hauptverbrei- in Metern »Ich glaube nicht, dass er und Gigan-
Fossilien aller Art würden in China tungsgebiet von Gigantopithecus lag. Gigantopithecus topithecus sich begegnet sind«, sagt
vielfach als Heilmittel eingesetzt, be- In elf dieser Höhlen fanden sich ca. 2–3 die Forscherin. Der Zuwanderer aus
Mensch
richtete damals der deutsche Paläo- Zähne der Riesenaffen, in den elf an- 1,6–1,7 3
Afrika bevorzugte offene Steppen-
anthropologe Gustav Heinrich Ralph deren nicht. landschaften. Hinweise darauf,
Gorilla
von Koenigswald. »In geradezu un- Mittels komplizierter Verfahren 1,5–1,7 dass er bis in den Tropenwald Süd-
geheuerlichen Mengen« böten die wie Isotopenanalysen, Lumineszenz 2 chinas vorgedrungen ist, gibt es bis-
Händler »Drachenzähne« feil. Ein und Elektronenspinresonanz unter- her nicht.
gewaltiger, »ziemlich abgekauter« suchte Westaway Sedimentkörner So könnte es sein, dass der Mensch
Backenzahn fiel dem Forscher auf. Er und fossile Zähne. Insgesamt sechs 1 in diesem einen Fall unschuldig ist.
ordnete ihn einer neuen Spezies von Methoden nutzte sie. Am Ende hatte Mammut, Riesenhirsch und Höhlen-
Riesenprimaten zu. sie 157 Probendatierungen. löwe – fast alle Großtiere der Eiszeit
Seither wurden in chinesischen So konnte Westaway zeigen, dass sind ausgestorben, und der Mensch
und vietnamesischen Höhlen fast die Gigantopithecus-Funde in Abla- S Grafik gilt als die Hauptursache dafür. Bei

2000 weitere Zähne entdeckt, dazu- Gigantopithecus ist es offenbar um-


hin vier Unterkiefer. Die Suche nach gekehrt: Der Riesenaffe, so scheint
anderen Fossilien jedoch blieb ver- es, starb ohne menschliches Zutun
geblich: keine Rippe, kein Wirbel, den Hungertod. Seither spuken seine
kein einziger Arm-, Bein- oder auch Wiedergänger durchs Mythenreich.
nur ein Fingerknochen. Alles, was In den Wäldern Nordamerikas
Illustration: John Sibbick / United Archives / ddp

Forschende über Gigantopithecus er- streift angeblich das menschenähn-


fahren wollen, müssen sie seinen Zäh- liche Zottelwesen Bigfoot umher. Im
nen entlocken. vietnamesischen Dschungel haust der
Kira Westaway interessiert sich be- Affenmensch Nguoi Rung. Tibeter
sonders dafür, warum der Koloss aus- unterscheiden gar zwischen drei Spe-
gestorben ist. Wurde ihm seine Größe zies von Yetis. Und Hollywood ließ
zum Verhängnis? Fehlte es ihm an King Kong aufs Empire State Building
Nahrung? Oder wurde er Opfer sei- klettern.
nes kleineren Vetters, des Urmen- Auf diese Weise hat der moderne
schen Homo erectus? Gerade in der Mensch für die Auferstehung des ur-
heutigen Zeit gelte es, Antworten auf zeitlichen Giganten gesorgt.
diese Fragen zu finden. »Wir erleben Gigantopithecus-Harem (Illustration): Kratzer in den Zähnen Johann Grolle n

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WISSEN

den Ozeanen in fünf bis zehn Kilometern. Wer


dorthin vorstoßen möchte, macht das am
besten vom Wasser aus. Bisher gab es weltweit
zwei Forschungsschiffe, die sich für tiefe Boh­
rungen eignen: »Joides Resolution« aus den

Vorstoß in den Erdmantel USA und »Chikyu« aus Japan. Die »Chikyu«
hat bis 3262 Meter tief in den Meeresboden
gebohrt, der bisherige Rekord.
Je tiefer Wissenschaftler kommen, desto
GEOLOGIE Mit einem neuen Forschungsschiff möchte schwieriger wird es. Das Bohrloch wird in­
stabiler, es droht einzustürzen. Außerdem
China in bislang unerreichte Tiefen unter dem Meer bohren. wird es mit jedem Meter heißer. »Die Chine­
Was sucht das Land da unten? sen werden erhebliche Probleme überwinden
müssen«, prophezeit Ulrich Harms, Bohr­
experte am Deutschen Geoforschungszen­
s war eine Mission ins Unbekannte, zu Mehr als 60 Jahre später unternehmen trum in Potsdam.
E der das Bohrschiff »CUSS 1« im März
1961 von San Diego aus aufbrach. Zum
ersten Mal wollten Wissenschaftler mit einem
Wissenschaftler nun einen weiteren Anlauf.
Von einem neuen Forschungsschiff aus will
China in den Erdmantel bohren. Eine erste
Anders als bei einer gewöhnlichen Bohr­
maschine wird der Bohrer an Bord des Spe­
zialschiffs mit Wasser angetrieben. Dieses
Bohrer bis in den Erdmantel vordringen. Der Versuchsfahrt der »Mengxiang« fand im De­ wird durch den Bohrstrang gepumpt, verwir­
amerikanische Schriftsteller John Steinbeck zember statt, wie chinesische Nachrichten­ belt und dreht dann einen Meißel. Die Flüs­
war als Gast an Bord. seiten berichteten. Das Schiff soll tiefer in das sigkeit dient auch dazu, den Bohrkopf zu
Er beobachtete, wie die Forscher vor Gestein unter den Ozeanen eindringen als je kühlen. Um den Aufstieg von entzündlichen
Mexiko immer tiefer in den Meeresboden zuvor: Von der Wasseroberfläche gemessen Gasen zu verhindern, herrscht im Bohrloch
stachen. »Tiefblau und sehr hart, mit strah­ wären bis zu elf Kilometer möglich. ständig ein Überdruck.
lenförmigen Einschlüssen aus Kristall«, sei Das Innere der Erde besteht aus mehreren Wo sie bohren wollen, haben die chinesi­
der Bohrkern gewesen, den sie schließlich Schalen. Außen befindet sich die Kruste, ge­ schen Forscher noch nicht mitgeteilt. Ulrich
hervorbrachten, schrieb Steinbeck später. folgt vom Erdmantel aus dichterem Gestein; Harms tippt auf eine Region im Pazifik vor
Jeder habe ein Stück dieses Materials haben bis heute ist er weitgehend unerforscht. Die Hawaii. Dort sei die Kruste vergleichsweise
wollen, das »kein Mensch vorher gesehen Grenze zwischen Kruste und Mantel nennt jung und besonders interessant für die geologi­
hat«. Kurz darauf jedoch musste die Bohrung sich Mohorovičić­Diskontinuität, kurz Moho. sche Forschung. Harms rechnet damit, dass
wegen technischer Probleme abgebrochen Unter den Kontinenten liegt diese Grenze erst mehrere Anläufe zu einem Erfolg führen
werden. im Mittel in ungefähr 40 Kilometer Tiefe, unter und die Bohrung deswegen Jahre dauern wird.

Neuer Tiefpunkt
Die »Mengxiang« aus Bisheriger Rekord
China könnte bis zum durch die japanische
Erdmantel bohren. »Chikyu«: 3,3 km
unter dem
Meeresboden
km unter dem
Meeresboden

Meer
Sedimente

0
Basalte
2
bis
5 Gabbro

Moho-
Grenze
Chen Chuhong / China News Ser vice / VCG / Getty Images

5
bis
10 Erd-
kruste

rund Erd-
6370 km mantel
Erdradius
Bohrschiff »Mengxiang«
Erdkern
S Grafik

96 DER SPIEGEL Nr. 4 / 20.1.2024


WISSEN

Proben aus dem Übergang von der Kruste


zum Mantel hätten für Wissenschaftler großen
Wert, etwa zum Erforschen von Vulkanismus.
Beim Ausbruch eines Vulkans schießt bis zu
weit über 1000 Grad Celsius heißes Magma
an die Erdoberfläche. Dieses stammt in der
Regel nicht aus der Erdkruste, sondern aus
dem darunterliegenden Mantel.
Bekannt ist, dass der obere Bereich des Man-
tels aus festem Gestein besteht, das mit geringen
Mengen geschmolzenen Materials vermischt
ist. Zusammen bilden sie eine Art Brei. Durch
Temperaturunterschiede steigt die Schmelze als
Magma auf. Wie dieser Prozess genau abläuft,
ist unbekannt. »Wir könnten nun endlich dahin-
kommen, wo das Magma entsteht«, sagt Harms.
Hinter dem Bau des chinesischen Bohr-
schiffs stecken allerdings auch wirtschaftliche
Interessen. So berichtet die »South China
Morning Post« mit Bezug auf Staatsmedien,
dass die »Mengxiang« Vorkommen von
Methanhydraten im Ozeanboden erkunden
soll. Methanhydrat ist auch als »brennendes
Eis« bekannt – gefrorenes Wasser, in das
Methan eingeschlossen ist.
Methan, Hauptbestandteil von Erdgas, ist
ein begehrter Energieträger. Die weltweiten
Vorkommen von Methanhydrat übersteigen
laut Schätzungen in Bezug auf den Energie-
gehalt diejenigen von Öl, Kohle und herkömm-
lichem Erdgas vermutlich um ein Vielfaches,
und ein Großteil der Lagerstätten wird in der
Tiefsee vermutet. Noch halten es Fachleute für
technisch nicht machbar, diese Vorkommen
abzubauen. Künftig könnte sich das ändern.
China ist nicht die einzige Nation, die die-
se Tiefen erkundet. Das amerikanische Pro-
jekt mag vor mehr als 60 Jahren sein Ziel
verfehlt haben, aber es legte den Grundstein
für die internationale Meeresforschungs-
kooperation namens IODP. In den vergange-
nen Jahrzehnten haben Wissenschaftler und
Forscherinnen im Rahmen des Projekts mehr
als 1500 Bohrungen in die Erdkruste unter
den Ozeanen getrieben.
Im Moment planen Kanada, Europa und
Japan einen Nachfolger für das im September
auslaufende IODP-Programm. Die USA wer-
den ihr Forschungsschiff »Joides Resolution«
dann wegen der hohen Betriebskosten von
umgerechnet jährlich 66 Millionen Euro aus-
mustern.
In diese Lücke könnte China stoßen. Wie
eng das Land künftig mit der internationalen
Forschungsgemeinde zusammenarbeitet, ist
allerdings ungewiss. Tuo Shouting, Leiter des
chinesischen IODP-Büros, sagte der »Global
Times«, man hoffe, durch die »Mengxiang«
von einem Teilnehmer der IODP-Expeditio-
nen zum Anführer aufzusteigen.
Strebt China womöglich ein Monopol bei
der Erforschung des Erdmantels an? Ulrich
Harms sieht keine Gefahr. Für Bohrungen in
großer Tiefe sei das Land auf die Erfahrung
internationaler Wissenschaftler angewiesen,
sagt er. »Eine Nation allein kann das gar nicht
schaffen.«
Martin Schlak n

Nr. 4 / 20.1.2024 DER SPIEGEL 97


WISSEN

werken war so etwas schon vor gut zwei Jah­


ren kein Einzelfall, 15 Prozent der Störungen
an Ladesäulen seien auf Vandalismus zurück­
zuführen. Bundesweite Daten zu hassgetrie­
benem Vandalismus gegen E­Autos lassen sich
nicht ermitteln. Die Münchner Polizei bestä­
tigt einige Fälle zerstörter E­Autos, Zahlen
will sie demnächst in ihrem Sicherheitsreport
vorlegen.
In den USA gibt es diese Abneigung eben­
falls, etwa wenn Dieselfahrer E­Autos hinter
sich mit Rußwolken einnebeln. Beim »Rolling
Coal« wird mit speziellen Geräten die Luft­
verschmutzung illegal auf die Spitze getrie­
ben. Wegen des Vertriebs dieser Geräte droht
Ebay in den USA eine Milliardenstrafe. An­
dernorts werden Elektrofahrer gefährlich be­

5VISION.NEWS / dpa
drängt. Im US­Bundesstaat Ohio filmte ein
Tesla­Besitzer vor Jahren per Dashcam solch
eine Attacke und stellte den Clip bei YouTube
online. Als der Angreifer nach dem Grund für
Ausgebrannte Teslas in Frankfurt am Main: Statussymbole einer reichen Elite?
seine Aggression gefragt wurde, schrie er:
»Weil ihr ein Stück Scheiße seid!«
Woher kommt dieser Unmut gegenüber
Elektroautos? Wie kann es sein, dass Men­
schen eine Technologie verwünschen, die die
Luft verbessert?

Hass auf die E-Snobs Um besser zu verstehen, woher der Hass


rührt, hat Psychologieprofessor Claus­Chris­
tian Carbon von der Universität Bamberg
bereits 2016 ein Experiment gemacht: Er ließ
MOBILITÄT Wer ein Elektroauto fährt, fühlt sich oft gemobbt. Teils bleibt Stereotype gegenüber Elektromobilität unter­
suchen. »Das Stromnetz wird zusammenbre­
es nicht bei aggressiven Sprüchen. Was Betroffene erleben chen« oder »Elektromobilität vernichtet
und was hinter der Wut steckt, erzählt der Kabarettist Jürgen Becker. Arbeitsplätze« lauteten etwa Vorurteile, die
Rechtsextremismusforscher sprechen von »Klimarassismus«. bis heute gängig seien, sagt Carbon.
Vor allem seien viele nicht willens, sich auf
eine neue Technologie einzulassen: »Das Ver­
ass Menschen sich von ihm provoziert identifizieren sich viele Menschen mit der brennerauto ist den Menschen vertraut. Alles
D fühlen, ist Jürgen Becker gewohnt. Sel­
ten zog er aber so viel Zorn auf sich wie
mit der Idee, sein Motorrad auf Elektro­
Verbrennertechnik, sehen Bewährtes bedroht.
»Was die Elektromobilität betrifft, kann
man kaum vernünftig über dieses Thema
Neue ist dagegen erst einmal bedrohlich.« Die
Psychologie spreche von Habitualisierung.
So etwas sei nicht nur bei der Mobilität zu
antrieb umzubauen. Die alte Minsk M1A surrt ohne Streitereien sprechen«, sagt Horst Nord­ beobachten. »Doch Elektroautos sind eine
jetzt nur noch leise, und Verbrennerfans re­ mann, Vorstandsmitglied des Oldtimerlieb­ besonders heiß diskutierte Plattform.« Und
agieren entsetzt, pöbeln den Kabarettisten haber­Vereins Veteranen­Fahrzeug­Verband auf gefühlte Bedrohungen reagieren viele mit
auf Oldtimertreffen an. (VFV). Nicht wenige Schrauber ließen sich Angst, manche mit Feindseligkeit.
Beim Thema Elektroantrieb würden man­ teils »zu rechtem Gehetze« hinreißen. »Es »Ich musste selbst darunter leiden«, sagt
che aggressiv, berichtet der 64­Jährige, der nimmt stetig zu.« Kurt Sigl, Präsident des Bundesverbands
auch im Alltag ein Elektroauto fährt. »Eure In sozialen Netzwerken geht es besonders eMobilität. »Angepinkelt und angespuckt«
Scheiß­E­Autos nehmen uns die Parkplätze hoch her. »Angriffe gegen E­Auto­Besit­ hätten E­Auto­Hasser seinen Tesla anfangs,
weg«, müsse er sich manchmal anhören, wenn zer und Menschen, die sich für Klima und mit Lippenstift »E­Arschloch« darauf ge­
er zu einer zugeparkten Ladesäule komme. Umwelt einsetzen, sind ein bundesweiter schrieben. Sigl setzt sich mit seinem Verband
Auf E­Auto­Fahrer reagieren viele Men­ Trend«, sagte die Geschäftsführerin der Op­ dafür ein, den Verkehr – in Deutschland für
schen aggressiv, diese Erfahrung macht nicht ferschutzorganisation HateAid, Anna­Lena rund ein Fünftel der Treibhausgasemissionen
nur Becker. Bundesweit werden Besitzer von von Hodenberg, dem SPIEGEL . Lange hätten verantwortlich – auf regenerative Energien
Batteriefahrzeugen gemobbt – und es bleibt besonders Windräder Anfeindungen ausge­ umzustellen.
nicht immer bei Beleidigungen. Manche Op­ löst, nun richte sich der Zorn auffällig häufig Sigl wohnt in Ingolstadt, dem Stammsitz
fer berichten von zerstochenen Reifen, Ener­ gegen batteriebetriebene Fahrzeuge. von Audi. Dort stellte Sigl – früher ebenfalls
gieversorger von beschädigten Ladesäulen. Regelmäßig kommt es zu Übergriffen. In bei Audi tätig – mit seinem Tesla bis vor we­
Dabei gehören die Stromer längst zum München und Frankfurt fackelten Unbekann­ nigen Jahren noch ein Feindbild dar. Er erin­
Straßenbild. Weil sie effizienter und umwelt­ te im vergangenen Jahr E­Fahrzeuge ab. Die nert sich an einen Restaurantbesuch mit seiner
freundlicher sind als Verbrenner, haben sich Täter kamen womöglich aus dem linksextre­ Familie, als plötzlich eine Audi­Führungskraft
Politik und Industrie weitgehend auf den Bat­ men Spektrum. Dort werden Elektromodelle erbost an den Tisch getreten sei. »Herr Sigl,
terieantrieb als Zukunftstechnologie festge­ als Statussymbole einer reichen Elite angese­ hören Sie auf mit diesem Unsinn, das mit den
legt. Weltweit ist er ein zentraler Baustein im hen, die dem Klima wenig brächten. E­Autos wird sich nicht durchsetzen!«, habe
Kampf gegen den Klimawandel. Trotzdem In München legten mutmaßliche E­Auto­ ihn der Audi­Mann angeherrscht.
oder gerade deswegen sind E­Autos auch um­ Hasser die Steckvorrichtung an einer Lade­ Oft kommen rabiate Anfeindungen von
stritten, bei manchen gar verhasst. Offenbar säule mit Hackfleisch lahm. Laut den Stadt­ Leuten, die politisch weit rechts stehen. Seit

98 DER SPIEGEL Nr. 4 / 20.1.2024


WISSEN

Umweltaktivisten begonnen haben, mobilindustrie«, die etwa 600 Unter- »Die ver­ die Autos lassen sich nur mit synthe-
den Siegeszug des Autos lautstark zu nehmen allein in Thüringen gefährde, tischen Kraftstoffen betreiben. Doch
hinterfragen, hätten sie sich bei vielen und verweist auf einige Insolvenzen bleibenden die sind aktuell rar und teuer. Den
Deutschen unbeliebt gemacht, schrei- in jüngster Zeit. »Die Thüringer Auto- E­Gegner EU-Beschluss scheinen viele als un-
ben der Rechtsextremismusforscher mobilzuliefererindustrie baut auf werden sich erlaubten Eingriff in ihre Privatsphä-
Matthias Quent und seine Mitautoren dem Verbrenner auf«, sagt Nadine re zu empfinden. Auch Kurt Sigl vom
Christoph Richter und Axel Salheiser Hoffmann, Sprecherin für Umwelt noch deut­ Verband eMobilität ist zwiegespalten:
in ihrem Buch »Klimarassismus. Der und Energie der AfD-Fraktion im licher ab­ »Ich mag es nicht, wenn man Dinge
Kampf der Rechten gegen die öko- Thüringer Landtag. E-Autos herzu- verbietet.« Die Politik müsse kluge
logische Wende«. stellen sei weniger arbeitsintensiv.
grenzen.« Technologien mehr unterstützen.
So werde im Autoland Deutsch- Die ostdeutsche Automobilindustrie Claus-Christian Bislang gibt es nur 1,3 Millionen
land der Abschied von Benziner und werde von Asien abgehängt, ihr dro- Carbon, Psychologie- E-Autos in Deutschland. Politik und
professor
Diesel als »Kulturschock« empfun- he »das gleiche Schicksal wie der ge- Hersteller müssten für mehr bezahl-
den. Fossile Brennstoffe seien vor hypten Solarindustrie«. bare Elektromodelle sorgen, fordert
allem für weiße Männer zum Teil In Brandenburg agitiert die AfD Psychologieprofessor Claus-Christian
ihrer Identität geworden, deshalb gar gegen das Tesla-Werk in Grün- Carbon. Sobald die Stromer zum
nähmen sie die Mobilitätswende als heide, in dem mehr als 10.000 Men- Mainstream würden, werde die Geg-
Angriff auf ihre Dominanz und leise schen beschäftigt sind. Die Partei nerschaft schnell schrumpfen. »Die
Elektroautos als Bedrohung ihrer macht Tesla für Wassermangel in der verbleibenden E-Gegner werden sich
selbst wahr, so Quent: »Dies wiede- Region verantwortlich, nicht etwa allerdings noch deutlicher abgren-
rum kann zu autoritärer Radikalisie- den Klimawandel, der auch Dürren zen«, prognostiziert Carbon. »Nach
rung beitragen.« bringt. Laut Extremismusforscher dem Motto: Ich fahre immer noch
Viel Hass entstehe in Regionen, Quent verfängt diese Strategie – allzu Verbrenner. Und ich werde einen Teu-
wo die fossile Wertschöpfungskette viele Menschen würden die Aussagen fel tun, meinen hochpotenten V8 ein-
eine Heimattradition begründe, etwa der Partei nicht hinterfragen. Wie zutauschen.«
in Bergbaugebieten und Automobil- stark die AfD und andere Tesla- Größtmögliche Sünde für diese
bauhochburgen. So kämen traditio- Kritiker durchdringen, zeigt sich in Gruppe scheint der Umbau eines Ver-
nell männliche Berufsbilder hinzu, den nächsten Wochen vor Ort – die brenners auf E-Antrieb zu sein. So
die durch die Verkehrswende bedroht Grünheider werden befragt, ob die wie Jürgen Becker sein Motorrad,
seien. Quent spricht von »Petromas- Industriefläche für Tesla erweitert rüstete Kröger seinen 1966er-Ford-
kulinität«, die mit Arbeiterstolz Hand werden soll. Mustang um. Der Sechszylinder flog
in Hand gehe. Auch Ove Kröger hatte früher raus, mit Akkus surrt er nun zu Oldie-
In ihrer Wut relativieren manche sprichwörtlich Benzin im Blut, fuhr Treffen. Für manche sei der E-Mus-
Verbrennerfans gar den Holocaust. mit Begeisterung hubraumstarke tang Gotteslästerung: »Dafür müsste
So tauchten Autoaufkleber in Form PS-Boliden. Dann entdeckte der man euch die Hände abhacken«, be-
eines gelben Davidsterns und der Kfz-Sachverständige aus Reinfeld bei kam er zu hören, ohne Anschein von
Aufschrift »Dieselfahrer« auf – lange Lübeck die E-Mobilität. »Ablehnung Ironie, wie er sich erinnert.
bevor ähnliche Sticker mit dem Wort dagegen erlebe ich, seitdem ich Zu Verbrennern zurückzukehren
»Ungeimpft« auf Anti-Corona-De- E-Autos verkaufe«, berichtet Kröger. kommt für Kröger nicht infrage: Zu
mos zu sehen waren. Populär ist auch Lange habe er versucht, Gegner zu erdrückend seien die Vorteile von
ein Aufkleber mit der Aufschrift überzeugen, meist erfolglos. Mittler- Elektroautos – bessere Umwelt-
»Fuck you Greta«, den sich Autofah- weile geht er anders vor: »Ich sage: bilanz, geringere Unterhaltskosten,
rer neben den qualmenden Auspuff Du hast einen Riesenvorteil, du musst Fahrspaß. Darauf setzt ebenso Jürgen
ihres Verbrennerautos kleben. gar nicht über Elektromobilität nach- Becker bei seiner E-Minsk. Der Köl-
Die extrem rechte AfD facht die denken. Regierung und Hersteller ner bekam auch viel positives Feed-
aggressive Stimmung an, spricht von haben schon entschieden. Das wird back zu seinem elektrifizierten Zwei-
einem »Krieg gegen Verbrennungs- einfach kommen.« rad. Die meisten seien begeistert,
Motorradfan Becker
motoren«, die deutsche Autoindustrie Tatsächlich dürfen in der EU ab mit umgerüsteter
wenn sie einmal ein elektrisches Fahr-
werde zerstört. Widersprüchlich da- 2035 keine neuen Diesel und Benzi- Minsk M1A: Gepöbel zeug gefahren seien, sagt Becker.
ran erscheint, dass gerade die AfD- ner mehr zugelassen werden – außer auf Oldtimertreffen Das gilt offenbar auch für manchen
Hochburg Ostdeutschland vom Bat- Abgeordneten der in Thüringen als
terieantrieb profitiert. 2022 wurde rechtsextrem eingestuften AfD. Offi-
laut dem Verband der Automobil- ziell lehnt die Partei E-Autos eher ab.
industrie (VDA) etwa jedes zweite Im November brachte die Fraktion
E-Auto, das in der Bundesrepublik einen Antrag unter der Überschrift
hergestellt wurde, in Ostdeutschland »Blackout verhindern« in den Land-
produziert – rund 294.000. tag ein. Der »immens steigende
Nahe Thüringens Hauptstadt Er- Stromverbrauch« durch E-Autos er-
furt hat sich der Batteriekonzern höhe die Gefahr eines Stromausfalls,
CATL niedergelassen, Volkswagen die Elektroautoförderung müsse ge-
fertigt Elektroautos in Zwickau (Sach- stoppt werden.
sen). In Brandenburg wuchs das Brut- Derweil lud ein AfD-Abgeordne-
toinlandsprodukt unter anderem ter nach SPIEGEL -Informationen sei-
dank der Tesla-Gigafactory im ersten nen Plug-in-Hybrid in der Garage des
Halbjahr 2023 um sechs Prozent – Landtags. Ein weiterer Thüringer
Jürgen Becker

bundesweit ging es leicht zurück. AfD-Mann soll sich einen elektri-


Die AfD beklagt hingegen die »er- schen BMW zugelegt haben.
zwungene Transformation der Auto- Haiko Tobias Prengel n

Nr. 4 / 20.1.2024 DER SPIEGEL 99


KULTUR

Calvin-Klein-Werbeplakat in New York

Dylan Travis / Abaca / IMAGO


Wer ist hier das Sexobjekt?
FR AUENBILDER Der halb nackte Schauspieler Jeremy Allen White wird für seinen Calvin-Klein-Spot gefeiert, das
Plakat der Künstlerin FKA Twigs wird verboten – weil es sie »objektifiziere«. Woher kommt diese Doppelmoral?

ur mit Unterhose und weißen Snea- würdige sie zum stereotypischen Sexobjekt Männern und Frauen schauen: In einer
N kern bekleidet rennt Jeremy Allen
White, bekannt aus der Serie »The
Bear«, über ein Dach. Die Sonne glänzt zwi-
herab, lautete die Begründung. Statt den
Blick der Betrachter auf die Kleidung zu
leiten, werde der Fokus auf den Körper des
sexistischen Gesellschaft ist es egal, wie viel
Haut eine Frau zeigt. Sie ist entweder Sex-
objekt oder Opfer. Einen selbstermächtigten
schen den Hochhäusern New Yorks, Strahlen Models gelenkt. Das objektifiziere sie. Auf weiblichen Körper kann es nicht geben.
schmiegen sich an seinen Oberkörper, weiße Instagram schreibt sie: »Ich sehe das stereo- FKA Twigs lässt diese Fremdbestim-
Tauben fliegen. Als das US-amerikanische typische Sexobjekt, als das sie mich be- mung nicht zu, sie wehrt sich dagegen,
Modeunternehmen Calvin Klein diesen Wer- zeichnet haben, nicht. Ich sehe eine schöne, indem sie den Paternalismus deutlich be-
beclip veröffentlichte, ging er sofort viral. starke Woman of Color.« nennt. Sie ist stolz auf sich, ihren Körper,
Doch während alle im Licht von Whites Während Jeremy Allen Whites Ober- ihre Kunst. Dass sie die Werbekampagne
strahlendem Oberkörper schmachteten, körper kraftvoll und majestätisch wirkt, ist damit feministischer auflädt, als diese je
verbot die britische Advertising Standing FKA Twigs’ nackte Haut zumindest für eini- war, dürfte Calvin Klein vermutlich am
Authority (ASA), die in ihrer Arbeit dem ge zu provokant. Warum? Das hat weniger meisten freuen.
Deutschen Werberat gleichkommt, eine mit dem Foto zu tun als mit der Rezeption. Schmerzhaft ist, dass wir Debatten über
andere Calvin-Klein-Werbung: die mit der Denn auf dem Bild zeigt FKA Twigs weni- den Blick auf die Körper von Frauen noch
Künstlerin FKA Twigs. Diese darf in Groß- ger Haut als White. Die ungleiche Behand- immer führen müssen. Noch schmerzhafter
britannien nicht mehr gezeigt werden. Das lung der zwei Kampagnen zeigt die Doppel- ist, dass sie am Ende einem Modekonzern
Plakat, auf dem FKA Twigs zu sehen ist, moral, mit der wir auf die Körper von kostenfreie PR verschaffen. Anna Dreussi

100 DER SPIEGEL Nr. 4 / 20.1.2024


Die Täterin, Riedhof zeigt in bisweilen
schwer zu ertragenden Szenen,
die ein Opfer war wie seine Titelfigur gebrochen
KINO Wie wird ein Mensch wird, wie ihre Peiniger ver-
zum Verräter? Zumal dann, suchen, ihre Persönlichkeit zu
wenn er Jude ist und andere Ju- zerstören, um sie gefügig und
den der Gestapo ausliefert? willfährig zu machen. Der Film
Diese Frage stellt der Regisseur ist die bittere, traurige Chronik
Kilian Riedhof in seinem Spiel- eines moralischen Verfalls.
film »Stella. Ein Leben.« (Kino- Er zeigt die Hauptfigur als Op-
start: 25. Januar). Er basiert auf fer eines Systems, das sie zur
der Geschichte der Berlinerin Täterin macht. Um sich und ihre

Werner Lieberknecht
Stella Goldschlag, die zwischen Familie zu retten, liefert sie
1943 und 1945 als sogenannte andere ans Messer. Der echten
Greiferin Namen und Aufent- Stella Goldschlag gelang dies
haltsorte Hunderter unterge- nicht, ihre Eltern wurden in
tauchter Juden verriet. Riedhof Auschwitz ermordet. Man kann
Lieberknecht-Foto »Fasching«, um 1985
zeigt Stella, die von Paula Beer Hauptdarstellerin Paula Beer
gespielt wird, als junge Frau mit kaum genug dafür loben, wie Feiern hinter brö- Punkkonzerte, es gibt Schnapp-
unstillbarem Lebenshunger im sie das Publikum in das innere schüsse aus legendären Klubs
Berlin der frühen Vierzigerjah- Drama dieser so ambivalenten ckelnden Fassaden wie Clärchens Ballhaus in Ost-
re. Sie liebt Jazz, singt in einer Figur hineinzieht – von strah- AUSSTELLUNGEN Wie wild Berlin und Szenen im Kleingar-
Band, will nach New York. lender Fröhlichkeit über aus- geheime Partys in der DDR ten. Schmiermittel der Unge-
Doch die Lage für Juden wird weglose Verzweiflung bis hin waren, können die meisten heu- zwungenheit war Alkohol, auch
immer gefährlicher. Stella muss zur Skrupellosigkeit einer Frau, te nur erahnen. Gefeiert wurde das machen die 300 Fotos von
sich verstecken, wird verhaftet die zur Handlangerin der Mör- immer, oft auch zügellos. Wie 31 Künstlern klar. In kaum
und von der Gestapo gefoltert. der geworden ist. LOB groß der Wunsch nach Zerstreu- einem Land der Welt wurde in
ung im biederen Alltag war und den Achtzigerjahren mehr ge-
wie enthemmt es dabei manch- trunken als in der DDR. Viel-
mal zuging, zeigt die nostalgi- leicht, weil es ein Bedürfnis zur
sche Foto-Doppelausstellung Betäubung gab, denn die Fassa-
»Der große Schwof. Feste feiern den bröckelten. Eine selbstbe-
im Osten« im Dieselkraftwerk wusste neue Generation hinter-
Cottbus und in der Rathaushalle fragte die Bedingungen ihrer
Frankfurt (Oder). Feiern ist eigenen Existenz. »Schwofen«
hier als Bedürfnis zu sehen, das war eine Antwort auf Diktatur,
Verena Heller Ghanbar / Letterbox / Majestic

sich seinen Weg bahnt. Wer die Repression und Redeverbote.


ekstatischen Bilder etwa von Besonders in der Modeszene
Fotograf Werner Lieberknecht ging es hoch her, die Modefoto-
betrachtet, kann verstehen, grafie ersann eine eigene Bild-
warum sich Menschen gern an sprache und fühlte sich subver-
die Geselligkeit im Osten zu- siv. Modeperformances wurden
rückerinnern – dafür muss man zur exaltierten Systemkritik.
keine Ostalgikerin sein. Da sind Diese Happenings hießen etwa
Vatertagssausen, sozialistische »Chic, charmant und dauer-
Ehrentage, Geburtstagspartys, haft«, ein Motto lautete: »New
Beer in »Stella. Ein Leben.« Swingertreffs, Sportfeste oder York ist da, wo wir sind!« CPA

Blick zurück in Köln und die politischen Kämp- testierte und »die Buhs auf die gen beinahe nur Nettes gesagt.
fe der 68er etwa am Beispiel der Bühne wehten«. Der Autor Ausgerechnet dem strengen
Sektlaune damals zerstrittenen Münchner beichtet seinen Frust darüber, Komponisten Karlheinz Stock-
MEMOIREN Er war ein großer Theaterwelt – Flimm hatte sei- wie er als vom Publikum gelieb- hausen hatte der selbst fast stets
Schwadroneur, begabter Unter- ne Karriere als Regieassistent ter, von der Kritik manchmal frohgemute Theatermann übri-
haltungskünstler und mit pro- an den Münchner Kammerspie- gezauster Intendant des Ham- gens, wie er im Buch behauptet,
minenten Menschen prächtig len begonnen. In einem Ton burger Thalia Theaters abgelöst sein vermutlich wichtigstes Le-
vernetzter Strippenzieher. Und heiterer Sektlaune werden die wurde: »Das war ein tiefes bens- und Arbeitsmotto zu
genau so wird der im Februar wichtigsten Stationen seiner Loch, in das ich abgekippt bin.« verdanken. Es
2023 im Alter von 81 Jahren ge- Karriere abgehakt, die ihn als Er berichtet von seinen Trium- lautete: »Et
storbene Theatermann Jürgen Opernregisseur an die Mailän- phen, »Herzflattern und extre- Beste wär, du
Flimm auch im Erinnerungs- der Scala, die New Yorker Me- mem Blutdruck« bei den Salz- machst, wat
buch »Mit Herz und Mund und tropolitan Opera und zu den burger Festspielen, die er von de willst!« HÖB
Tat und Leben« präsentiert. Es Festspielen nach Bayreuth führ- 2006 bis 2010 leitete. Über die
Jürgen Flimm:
sind Flimms wohl nicht bis zum te. Dort inszenierte er im Jahr vielen interessanten Menschen, »Mit Herz und
letzten Schliff fertig gewordene 2000 Richard Wagners »Ring denen er begegnet ist, unter Mund und Tat
Memoiren. Sie schildern die des Nibelungen«, bis nach der ihnen Bianca Jagger, Angela und Leben«.
Kiepenheuer &
Abenteuer einer vorwiegend Aufführung des »Siegfried« ein Merkel und Tom Waits, wird in Witsch; 352 Seiten;
heiteren Kindheit und Jugend in Teil des Publikums wütend pro- Flimms kunterbunten Erzählun- 26 Euro.

Nr. 4 / 20.1.2024 DER SPIEGEL 101


KU LT U R

»Er hatte mich in


der Hand«

Marzena Skubatz / DER SPIEGEL

Betroffene Winkler

102 DER SPIEGEL Nr. 4 / 20.1.2024


KU LT U R

#METOO Vor sechs Jahren zeigten Millionen Menschen mit einem Hashtag, dass sie unter
sexualisierter Gewalt litten, vor allem Frauen. Seither werden Debatten geführt, Gesetzesreformen angestoßen,
Unternehmen geschult. Was hat sich verbessert? Fälle gibt es nach wie vor viele.

imone Kämpfer ist so etwas wie die straftaten zu 39 Jahren Haft verurteilt wurde. Arbeitswelt heute eine gleichberechtigtere
S #MeToo-Schiedsrichterin Deutsch-
lands. Die 57-jährige Juristin war lange
Staatsanwältin in Düsseldorf, spezialisiert auf
In den folgenden Jahren wurden mit einer
gewissen Regelmäßigkeit Vorwürfe gegen
mächtige und berühmte Männer laut: gegen
ist. Bei den Männern sind es deutlich mehr
(68 Prozent).
Dass sich die Unternehmenskultur in eini-
Wirtschaftskriminalität, danach Anwältin für den Regisseur Dieter Wedel, dem mehrere gen Firmen in die richtige Richtung ent-
Wirtschaftsstrafrecht. Betrug, Bestechung, Frauen sexuelle Übergriffe vorwarfen und der wickelt, glaubt auch Compliance-Expertin
Steuerhinterziehung, das war ihre Welt. Aus- starb, bevor es zum Gerichtsprozess hätte Simone Kämpfer – allerdings mit Rückschlä-
gerechnet Ende 2017, als der #MeToo-Skandal kommen können; gegen den Schauspieler Bill gen. »Die Sensibilität ist in vielen Firmen
um Harvey Weinstein gerade losgebrochen Cosby, der 2018 wegen sexueller Nötigung groß«, sagt sie – schon aus Angst, bei dem
war, als plötzlich Frauen auf der ganzen Welt schuldig gesprochen wurde. Gegen Männer heiklen Thema Fehler zu machen. Schwere
offen über ihre Erfahrungen mit sexueller Be- wie den Comedian Louis C.K. oder den US- Fälle sexueller Belästigung aber gebe es noch
lästigung sprachen – vom Chef geküsst, vom Regisseur John Lasseter, die ihren Posten ver- immer genug. Leider glaube manches Unter-
Kollegen angegafft, im Bus begrapscht –, ent- loren oder sich aus der Öffentlichkeit zurück- nehmen, die Dinge auf dem kleinen Dienst-
schloss sich Kämpfer, als Compliance-Spezi- zogen, nachdem Frauen ihnen vorgeworfen weg regeln zu können. Anschuldigungen wür-
alistin in die Kanzlei Freshfields zu wechseln. hatten, sie belästigt zu haben. den in großen E-Mail-Verteilern ausgebreitet.
Dass aus dem Fall Weinstein eine derart Es sind Beispiele dafür, dass sich etwas tut, Oder der Personalchef denke, es reiche be-
mächtige Bewegung werden würde, dass sie wenn sich Betroffene zu Wort melden. Dass reits, mit dem Kollegen, den er doch ganz gut
ihren Berufsalltag verändern würde, ahnte über #MeToo-Vorwürfe berichtet wird, ist kenne, selbst zu reden, anstatt die Staatsan-
Kämpfer damals nicht. »Aber mir war sofort allerdings die Ausnahme. Von den meisten waltschaft zu informieren.
klar: Der Kulturbetrieb ist nicht die einzige Fällen erfährt die Öffentlichkeit nie. Die Per- Im schlimmsten Fall könne das ein Ermitt-
Branche, in der es ein systemisches #MeToo- son, die vom Chef oder Kollegen belästigt lungsverfahren gegen ihn wegen Strafvereite-
Problem gibt.« wurde, erstattet Anzeige bei der Polizei oder lung zur Folge haben, warnt Kämpfer. »Die
Als Staatsanwältin sammelte Kämpfer, informiert die Personalabteilung – und hofft, Verunsicherung darüber, was am Arbeitsplatz
eine zierliche Frau mit einer Ausstrahlung, dass ihr geholfen wird. Oder sie tut nicht mal noch okay ist und was nicht, ist in vielen Fir-
die ihrem Namen Ehre macht, Indizien, um das, sondern lässt sich versetzen oder kündigt, men riesig.« Sie bearbeitet inzwischen auch
mutmaßliche Straftäter zu verurteilen. Als weil sie fürchtet, dass die Anschuldigungen deutlich mehr niedrigschwellige Fälle als frü-
Anwältin verteidigt sie Angeklagte vor Ge- auf sie zurückfallen. her, auffällig lange Umarmungen etwa. Kämp-
richt. Als Compliance-Frau ist sie eine Un- Was ist also aus #MeToo geworden? Hat fer und ihre Leute müssen ergründen, ob
parteiische, die nicht nur mit dem mutmaß- sich für Betroffene etwas verbessert in Deutsch- mehr dahintersteckt und wie das Unterneh-
lichen Täter und den Betroffenen spricht, land? Werden Missstände geahndet? Oder men damit umgehen sollte.
sondern auch mit Außenstehenden, um zu bleiben die Berichte über prominente Fälle Die Erfahrungen der vergangenen Jahre,
ergründen: Was ist aller Wahrscheinlichkeit von Machtmissbrauch in Wahrheit folgenlos? sagt Kämpfer, hätten sie »Demut bei der
nach passiert? Ist es strafbar oder nur mora- Es ist nicht so einfach, diese Fragen zu Wahrheitssuche« gelehrt: »Weil es schlimm
lisch verwerflich? Welche Konsequenzen soll- beantworten. Daten und Statistiken gibt es ist, wenn Betroffenen nicht geglaubt wird.
te das Unternehmen ziehen? Den Täter ab- wenig. Eine Umfrage, die der SPIEGEL beim Und weil es schlimm ist, wenn falsche An-
mahnen? Versetzen? Gar kündigen? Meinungsforschungsinstitut Civey in Auftrag schuldigungen eine Karriere beenden.« Die
Zwei Dutzend große Fälle hat sie seit ihrem gegeben hat, ergab, dass die Hälfte der be- Unschuldsvermutung ist für sie ein hohes Gut.
Start bearbeitet. Welche das sind, darüber fragten Frauen der Ansicht ist, dass die Betroffenen rät sie, sich beim Arbeitgeber
muss sie schweigen. Diskretion ist Berufsehre. zu melden. Zwar stehe oft Aussage gegen Aus-
Publik wurde vor allem einer: Der Axel- sage, weil es keine direkten Zeugen gebe. Ex-
Springer-Verlag beauftragte sie vor knapp drei perten und Richter könnten aber in freier Be-
Jahren, die Vorwürfe gegen den damaligen weiswürdigung entscheiden, wem sie Glauben
»Bild«-Chefredakteur Julian Reichelt zu prü- schenken. »Wenn neun Zeugen sagen, die
fen. Die öffentliche Aufmerksamkeit war im- Ampel war rot, kann ein Ermittler trotzdem
mens, die Zahl der Mandate, die auf dem zu dem Schluss gelangen, dass die mutmaß-
Tisch der Freshfields-Partnerin landeten, stieg liche Betroffene, die sagt, sie war grün, mehr
danach deutlich an. Ihre Ahnung hat sich seit- Glaubwürdigkeit genießt.«
her bestätigt: #MeToo ist überall. Insgesamt überfordere das Thema viele
Im Herbst 2017 machten vor allem Frauen Firmen derart, dass Kämpfer einen Unwillen
in sozialen Netzwerken unter dem Hashtag ausmacht, sich ihm sachlich zu stellen – zum
#MeToo ihre Erfahrungen mit sexualisierter Nachteil der Mitarbeiterinnen. »Sie werden
Gewalt öffentlich, berichteten von Situatio- etwa nicht mehr zum abendlichen Dinner mit
nen, in denen sie sich wegen des Machtgefäl- Vorgesetzten eingeladen, auf dem wichtige
les nicht so wehren konnten, wie sie wollten – Dinge besprochen werden.« Manche Chefs
oder dass es keine Konsequenzen gab. Es ging hätten gar Sorge, »gut aussehende Kollegin-
Klaudia Taday / Freshfield

um Männerzirkel, Geniekult, intransparente nen einzustellen oder sie für Jobs einzusetzen,
Hierarchien. bei denen viele Dienstreisen anfallen«. Der
Auslöser waren die Vorwürfe von Schau- Hintergedanke: Dann gibt es keinen Stress.
spielerinnen und Mitarbeiterinnen gegen den Ein ärgerlicher Rückschritt, findet Kämpfer.
Hollywoodproduzenten Harvey Weinstein, Den Unternehmen rät sie, einen Verhal-
der inzwischen wegen verschiedener Sexual- Juristin Kämpfer tenskodex zu formulieren. »Hört sich blöd

Nr. 4 / 20.1.2024 DER SPIEGEL 103


KU LT U R

an, aber am besten hängen Sie den in der Kaf- Schneider und sein Anwalt ließen eine
feeküche auf, damit alle wissen, was nicht Bedingt besser SPIEGEL -Anfrage zu allen Vorwürfen unbe-
toleriert wird.« Das helfe auch, wenn es zum antwortet.
Streit vor dem Arbeitsgericht kommt. »Glauben Sie, dass es heute mehr Gleich- Nach der Kündigung der Uni Frankfurt
berechtigung am Arbeitsplatz gibt als vor
Kommt ein Unternehmen zu der Ansicht, zehn Jahren?«, Angaben in Prozent heuerte Schneider bei der Geschäftsstelle
dass die #MeToo-Vorwürfe plausibel sind, eines renommierten Verbands mit mehreren
steht es vor dem nächsten Problem: Welche Ja Nein Hunderttausend Mitgliedern an, er wurde be-
Konsequenzen sind verhältnismäßig? Welche Frauen fördert, stieg bis in die Führungsebene auf.
rechtlich überhaupt möglich? Das veran- 51 Trotz seiner Vorgeschichte, trotz der Kündi-
schaulicht der Fall des Unidozenten Armin 31 gung und trotz des Strafverfahrens. Einige
Schneider. Er soll in diesem Text anonym Verantwortliche im Verband sollen bei Schnei-
Männer
bleiben, damit seine Persönlichkeitsrechte ders Beförderung bereits von den Vorwürfen
gewahrt bleiben. Mehrere Frauen erheben 68 gegen ihn gewusst haben. Die Organisation
heftige Vorwürfe gegen ihn, eine von ihnen 18 wollte auf Fragen dazu nicht eingehen.
ist Luisa Winkler, auch ihr Name ist geändert. S Quelle: Civey für den SPIEGEL; 30. Oktober bis Am Ende wurde Schneider vom Verband


Schneider war Winklers Dozent an der 1. November 2023; 5014 Befragte in Deutschland; statistische
Ungenauigkeit bis zu 3,5 Prozentpunkte; an 100 fehlende
gekündigt. Denn auch dort hatte sich nach
Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Prozent: unentschieden SPIEGEL -Informationen eine Frau über ihn
Die beiden lernten sich 2019 in seinem Semi- beschwert: Er habe sich »manipulativ, miss-
nar kennen. Er war noch keine dreißig und vermutlich auch weil sich fünf weitere Stu- bräuchlich und sexuell übergriffig« verhalten.
schon auf dem Weg zum Professor, sie Anfang dierende über Schneider beschwert hatten, Der Fall zeigt, wie schwierig es immer noch
zwanzig. Später arbeitete sie als studentische wegen »verschiedener Verstöße gegen die ist, sexualisierte Übergriffe oder Machtmiss-
Hilfskraft für ihn, er war damit ihr Chef. Antidiskriminierungsrichtlinie«, wie es in brauch zu verhindern. Und dass erhöhtes Un-
Anfang 2020 schrieb Schneider ihr bei einer internen Mail der Uni heißt. Schneider rechtsbewusstsein gegenüber sexueller Be-
Facebook: »Vermutlich überschreite ich ge- wurde gekündigt, er klagte aber. Letztlich lästigung die Arbeitswelt noch lange nicht
rade Grenzen, die ich als Dozent nicht über- einigte man sich, Schneider soll ein Zeugnis gleichberechtigter macht. Wer sieht, dass
schreiten dürfte, aber wollen wir vielleicht zugesagt worden sein, in dem »seine hervor- nichts passiert, wenn er oder sie sich be-
mal unsere Nummern tauschen?« ragende wissenschaftliche Kompetenz« be- schwert, bleibt frustriert zurück.
Seine Avancen waren erfolgreich, Winkler tont werde. Eine Studie der University of York kommt
begann eine Beziehung mit ihm. Winkler sagt, Die Goethe-Universität äußert sich auf An- zu einem ähnlich ernüchternden Ergebnis:
der Dozent habe sie häufig zum Trinken von frage nicht zu dem Fall. »Aus Rechtsgründen« Demnach erfüllen viele Unternehmen in der
Alkohol animiert, danach habe er »vielfach sehe man sich gehindert, Auskunft zu be- britischen Film- und Fernsehindustrie nicht
intimes Bildmaterial« von ihr aufgenommen, stehenden oder beendeten Arbeitsverhält- einmal die gesetzlich geforderten Standards,
immer wieder auch »im Arbeitskontext«. nissen zu geben, teilte ein Sprecher mit. wenn sie Beschwerden über sexuelle Belästi-
Selbst laufende Seminarsitzungen hielten Für sie das alles ein »massiver Einschnitt« gung erreichen. Die befragten Betroffenen
Schneider offenbar nicht von sexuellen Hand- gewesen, sagt Winkler. In der letzten Phase sagten, sie fühlten sich heute zwar eher er-
lungen ab. Wegen der Coronapandemie ihres Studiums habe sie starkes Untergewicht mutigt, Missstände anzuzeigen. Zugleich
unterrichtete der Dozent im Sommersemester gehabt, ihre Abschlussprüfung habe sie wegen fürchteten sie einen »backlash« – dass sie ab-
2020 nur virtuell. Einmal soll Winkler dabei des Beschwerdeverfahrens verschoben. gestraft oder schikaniert würden.
unter dem Schreibtisch von Schneider geses- Winkler sagt aber auch: »Ich hatte Glück, dass Und in Deutschland? »Die Ergebnisse der
sen haben und ihn in gegenseitigem Einver- in der Goethe-Universität damals kompeten- britischen Studie lassen sich gut übertragen«,
ständnis mit dem Mund befriedigt haben. Er te Leute an den richtigen Stellen saßen.« sagt Maren Lansink, Geschäftsführerin der
soll alles gefilmt und das Video später an Allerdings hätte Schneider wahrscheinlich Vertrauensstelle Themis. Die unabhängige
Winkler geschickt haben. viel früher gestoppt werden können, vielleicht Anlaufstelle wurde 2018 gegründet. Men-
Warum ließ sich Luisa Winkler auf diese müssen. Winkler hätte dann nicht gelitten. schen, die vor oder hinter den Kulissen der
Handlungen ein? »Er hatte mich in der Denn auch an einer Universität in Süd- Kultur- oder Medienbranche arbeiten, kön-
Hand«, sagt sie, unter anderem mit den Fotos deutschland, wo der Wissenschaftler zuvor nen sich hier psychologisch und juristisch be-
und Videos. Immer wieder habe er ihr zudem gearbeitet hatte, war er offenbar mit Fehlver- raten lassen.
versprochen, ihre Karriere zu beschleunigen, halten aufgefallen. Im Wintersemester 2020 Allein bis Ende 2023, so Lansink, habe
soll ihr sogar eine Promotionsstelle in Aus- veröffentlichte die Uni mehrere Briefe an An- man mehr als 800 Gespräche geführt – so
sicht gestellt haben. »Ich habe nicht um gehörige und ehemalige Angehörige der Fa- viele wie noch nie in einem Jahr. »Viele Frau-
diese Karriereangebote gebeten«, sagt sie, kultät, an der Schneider beschäftigt gewesen en fühlen sich heute mehr darin bestärkt, se-
»ich habe sehr hart gearbeitet, aber ich hat- war. Das Dekanat, heißt es darin, habe »Hin- xualisierte Gewalt zu melden«, sagt Lansink,
te Sorge, dass man meine Leistungen an- weise erhalten«, wonach es »zu sexuellen das sei ein Erfolg. Gleichzeitig suchten viele
zweifeln würde, wenn die Beziehung öffent- Grenzverletzungen und zu emotionalem die Schuld bei sich selbst oder wollten sich
lich wird.« Missbrauch« gekommen sei – gemeint war am Ende doch nicht an den Arbeitgeber wen-
Nach einigen Monaten bekam Winkler vermutlich Schneider. den. »Ich weiß nicht, wie viele Erfolg ver-
mit, dass er ohne ihr Einverständnis intime Die Uni in Süddeutschland bestätigt dem sprechende Beschwerden ich schon in den
Aufnahmen von ihr auf einer Onlineplatt- SPIEGEL , dass damals entsprechende An- Reißwolf gesteckt habe«, sagt Lansink.
form hochgeladen hatte. Sie trennte sich und schuldigungen erhoben worden seien. Es habe Diejenigen, die sich mit Themis’ Hilfe an
zeigte ihn an. Außerdem beschwerte sie sich »mehrere Betroffene« gegeben. die betroffenen Unternehmen wenden, mach-
bei der Uni Frankfurt über ihn, warf ihm ten sehr unterschiedliche Erfahrungen. Eini-
Machtmissbrauch und sexuelles Fehlverhal- ge Unternehmen nähmen derartige Vorwür-
ten vor. Dem SPIEGEL liegen Unterlagen fe sehr ernst und reagierten vorbildhaft.
dazu vor. »Aber andere versuchen bloß, die Vorwürfe
Im April 2022 wurde er wegen des Hoch- Eine Welt ganz ohne unter den Teppich zu kehren. Und dann pa-
ladens der Aufnahmen per Strafbefehl ver- cken sie noch möglichst viele Stühle drauf,
urteilt, er musste 4500 Euro zahlen. Die Uni
Sexismus? damit ja nichts rausflutschen kann.« Es fehle
hielt Winklers Anschuldigungen für schlüssig, Ist schwer vorstellbar. an klaren Beschwerdestrukturen. »Das führt

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natürlich dazu, dass Betroffene, deren Selbst-


wertgefühl eh schon niedergetreten wurde,
schweigen«, sagt Lansink. Am Ende verließen
die Frauen dann lieber die Firma.
Tatsächlich werden die Unternehmen nicht
zu Veränderungen gezwungen. Es gibt zwar
das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz
(AGG), laut dem seit 2006 jede Firma eine
Beschwerdestelle für Diskriminierung ein-
richten muss. Doch wer es nicht tut, wird nicht
sanktioniert. Die Ampelkoalition hat bei
ihrem Antritt eine Reform des AGG verabre-
det: Man wolle »Schutzlücken schließen, den
Rechtsschutz verbessern und den Anwen-
dungsbereich ausweiten«, heißt es im Koali-
tionsvertrag von SPD, Grünen und FDP. Ein
Grundlagenpapier wurde erarbeitet, umge-
setzt ist es noch nicht.
Bundesfrauenministerin Lisa Paus (Grüne)
hat vor knapp einem Jahr immerhin das
Bündnis »Gemeinsam gegen Sexismus« ini-
tiiert, mehr als 540 Unterzeichnende sind in-
zwischen dabei, darunter Volkswagen, Städ-
te wie Hamburg und Dortmund sowie ARD
und ZDF. Die Bündnispartner organisieren
Veranstaltungen und wollen mit Infomaterial
und Videos für das Thema sensibilisieren.
Es ist den vielen Betroffenen zu verdan-
ken, die ihre Erlebnisse unter dem Hashtag
#MeToo geteilt haben, dass große Teile der
Gesellschaft verstanden haben: Sexismus und
sexualisierte Gewalt existieren auch im Jahr
2024 – und das ist ein Problem. Zugleich zeigt
der Fall des Unidozenten, zeigen die Erfah-
rungen der Beschwerdestelle Themis und die
Erzählungen von Compliance-Expertin Si-
mone Kämpfer, wie schwierig es ist, #MeToo-
Vorwürfe restlos aufzuklären und Täter zu
stoppen. Eine Welt ganz ohne Sexismus? Ist
schwer vorstellbar.
Nadine Schön, die im Vorstand der Bun-
destagsfraktion von CDU/CSU sitzt, findet
schon die Maßnahmen der Frauenministerin
Paus »leider ziemlich vage und ambitionslos«.
Und fürchtet, dass nicht mal die umgesetzt
werden, »denn nun sind das Budget und die
Zeit knapper«. Ihre Lösung? Das Justizsystem
müsse gestärkt werden: »Lange und erfolg-
lose Verfahren sind belastend für Betroffene
und schrecken andere ab, den Rechtsweg zu
beschreiten.«
Auch das Mandat von Themis ließe sich
verbessern. Denn die Meldestelle ist ein zahn-
loser Tiger, sie kann lediglich Beschwerden
an den jeweiligen Arbeitgeber formulieren,
weiterreichen und das Beschwerdeverfahren
vermittelnd begleiten. Mehr ist rechtlich nicht
möglich. Die Vorwürfe unabhängig prüfen,
mutmaßliche Täter befragen, Sanktionen ein-
leiten, so wie die Compliance-Spezialistin
Simone Kämpfer das kann, all das fällt nicht
in ihren Arbeitsbereich. Das müssen die In-
stitutionen der betroffenen Branchen – Unter-
nehmen wie Constantin Film zum Beispiel
oder der öffentlich-rechtliche Rundfunk –
selbst regeln. Wenn sie wollen.
Laura Backes, Lukas Eberle, Elisa von Hof, Isabell
Hülsen, Juliane Löffler, Ann-Katrin Müller n

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»Das Patriarchat lässt sich nicht mal


eben mit fünf Berichten abräumen«
SPIEGEL-GESPRÄCH Die Journalistin Anja Reschke hat sich in ihrer Sendung mit dem Ex-»Bild«-Chef
Julian Reichelt angelegt. Was nützen aus ihrer Sicht veröffentlichte Beiträge über prominente Fälle von
Machtmissbrauch? Und warum gibt es so wenige Vorwürfe gegen übergriffige Frauen?

Reschke, 51, gilt als der Inbegriff des Haltungs- fragungen, ob solche Fälle bei uns vorgekom- und Machtmissbrauch anzusprechen. Die
journalismus, seitdem sie in einem »Tages- men seien. #MeToo-Beauftragte wurden ein- jungen Feministinnen sind nur, wie soll ich
themen«-Kommentar zur Flüchtlingskrise gesetzt, an die sich Betroffene wenden konn- sagen, manchmal etwas gnadenlos, unerbitt-
2015 einen »Aufstand der Anständigen« for- ten. In Führungsseminaren wurde besprochen, lich.
derte. Sie moderiert seit mehr als 20 Jahren wie Vorgesetzte auf Sexismus reagieren sollen. SPIEGEL: Sie kamen mit 25 als Volontärin zum
das Politmagazin »Panorama« und seit Fe- Ich war damals als Programmbereichsleiterin NDR, mit 28 wurden Sie »Panorama«-Mo-
bruar vergangenen Jahres auch die Satireshow die einzige Frau auf meiner Hierarchieebene, deratorin. Wie war der Berufseinstieg für Sie
»Reschke Fernsehen« im Ersten. In einer Folge in meinem Seminar sollten also meine sieben als junge Frau?
widmete sie sich dem Thema #MeToo und männlichen Kollegen sitzen – und ich. Ich Reschke: Sexismus war kein Thema für mich
ging auch Ex-»Bild«-Chef Julian Reichelt an. hab interveniert, und dann kamen noch zwei beim NDR, Sexismus war aber auch generell
Ein Rechtsstreit darüber ist anhängig. Frauen dazu. Aber sagen wir mal so, wir Frau- kein Thema. Nicht, weil es ihn nicht gab, son-
en haben da jetzt nichts Neues erfahren. dern weil uns gar nicht klar war, was da ge-
SPIEGEL: Frau Reschke, ist es fair zu sagen, SPIEGEL: Haben Sie als Frau nicht plötzlich schah. Als ich »Panorama«-Moderatorin wur-
#MeToo hat in den vergangenen Jahren so auch anders auf eigene Erlebnisse geschaut? de, gab es zum Beispiel in einer Fernsehzeit-
einige Karrieren zerstört? Reschke: Doch, das stimmt. #MeToo war auch schrift einen Artikel mit zwei Fotos. Auf dem
Reschke: Im Gegenteil, ich finde, die Vorwür- für die meisten Frauen ein Erweckungserleb- einen ich, auf dem anderen die barbusige
fe haben den meisten Männern am Ende gar nis. Es war erschütternd, wie viele dann doch Moderatorin einer Erotikshow auf TM3. Da-
nicht so sehr geschadet. Die sind schnell wie- auch selbst solche Erfahrungen gemacht hat- rüber die Zeile: »Die beiden Neuen im TV,
der salonfähig geworden. Reichelt zum Bei- ten. Aber in dem #MeToo-Seminar damals wen schalten Sie heute ein?« Ich wurde in
spiel ist nicht mehr Chefredakteur der »Bild«- fand ich es vor allem interessant zu sehen, Artikeln immer als jung und hübsch beschrie-
Zeitung. Aber dafür hat er jetzt sein eigenes wie es in meinen Kollegen arbeitete. Bis dahin ben. Das ist mir damals gar nicht als unan-
Medienimperium. Er sendet das, was er will, hatten alle gedacht, sie wüssten, was Macht- genehm aufgefallen, so ehrlich muss ich sein.
ungehindert in die Welt hinaus. missbrauch ist. Nur hatten sie in der Praxis Da hat sich in 30 Jahren viel verändert.
SPIEGEL: Für Teile der Gesellschaft ist er un- die entscheidenden Schwingungen oft nicht SPIEGEL: Erinnern Sie sich an respektloses
tragbar. wahrgenommen. Sie waren nicht besonders Verhalten beim NDR?
Reschke: Aber nicht wegen seines Machtmiss- sensibilisiert. Reschke: Selbstverständlich gibt es in einem
brauchs. Und es gibt ja noch genügend Poli- SPIEGEL: Und das sind sie heute? Laden mit 3000 Mitarbeitern auch Menschen,
tiker, die zu ihm gehen und Interviews geben. Reschke: Die meisten. Wenn man vor #Me- die sich unpassend äußern. Aber das waren
Er hat seinen ursprünglichen Job verloren, Too eine Umfrage gemacht hätte, hätten die und sind absolute Einzelfälle. Ich habe wäh-
aber er ist ganz schön weich gelandet. Auch meisten Menschen gesagt: »Nein, sexuelle rend des Studiums bei Antenne Bayern ge-
Till Lindemann macht weiter und hat seine Belästigung ist kein Thema mehr. Wir sind arbeitet, da war viel mehr Action, viel mehr
Tournee mit Rammstein fortgesetzt. Nun gut, doch eine gleichberechtigte Gesellschaft.« Party. Da ging es schon damals im NDR voll-
ohne Peniskanone im Programm … Heute würden das viele nicht mehr so einfach kommen anders zu. Eher ein bisschen nor-
SPIEGEL: Hat die #MeToo-Debatte Ihrer An- wegwischen. disch, kühl, nüchtern.
sicht nach also gar nicht so viel bewirkt? SPIEGEL: Wie sind Sie als Chefin fortan mit SPIEGEL: Verstehen wir das richtig: Der NDR
Reschke: Doch, unbedingt. Es geht ja nicht dem Thema umgegangen? ist ausreichend bieder, um keine #MeToo-
nur darum, ob ein Gericht am Ende sagt, dass Reschke: Ich wurde 2019 Programmbereichs- Fälle zu haben?
ein Julian Reichelt oder ein Till Lindemann leiterin, danach kam relativ schnell die Pan- Reschke: Der WDR ist eigentlich ebenso bie-
schuldig ist. Sondern um die Gesellschaft. demie. Das heißt, es war gar niemand mehr der, auch wenn da einige Vorfälle bekannt
Und jeder Fall, der diskutiert wird, schärft im Büro. Ich stelle aber heute fest, dass die wurden. Mal im Ernst: Man darf nicht glau-
das Bewusstsein. junge Generation sehr viel lautstarker ist als ben, dass Machtmissbrauch etwas mit Cool-
SPIEGEL: Hat sich denn Ihr Arbeitsalltag seit unsere Generation früher – sicher auch durch ness zu tun hätte. Die katholische Kirche
#MeToo verändert? die #MeToo-Debatte. Sobald in einer Konfe- würde ich jetzt auch nicht als absolut funky
Reschke: Spätestens als 2018 die Vorwürfe renz ein komischer Zungenschlag aufkommt, bezeichnen. Auch die Automobilbranche hat
gegen den Regisseur Dieter Wedel aufkamen, gibt es Gegenwind. Die Awareness ist hoch, nicht das Image von Verruchtheit, trotzdem
beim WDR Fälle auftauchten, wurde das auch in jeglicher Hinsicht. gab es die Lustreisen des VW-Betriebsrats.
beim NDR sehr ernst genommen. Es gab Be- SPIEGEL: Ihrer Stimme ist ein gewisses Be- Männlich geprägte Machtstrukturen ziehen
fremden zu entnehmen. sich durch die ganze Gesellschaft.
Das Gespräch führten die Redakteurin Laura Backes Reschke: Nein, das ist kein Befremden. Ich SPIEGEL: Sie selbst sind vermutlich schon als
und der Redakteur Tobias Becker. finde es absolut richtig, Themen wie Sexismus junge Redakteurin ähnlich selbstbewusst auf-

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Jewgeni Roppel / DER SPIEGEL
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getreten wie heute. Kann es sein, dass Moderatorin gewehrt haben. Das ist irrsinnig un- Mann zu blamieren. Irgendwann hab
sich bei Ihnen einfach niemand ge- Reschke: gerecht. Moment, mir fällt gerade ein, ich mich im Lager versteckt, aber er
»Gibt es noch die
traut hat? Besenkammer? ich habe sehr wohl schon mal was er- hat nicht lockergelassen und mich in
Reschke: Absolut! Ich weiß es nicht.« lebt. sein Büro bestellt. Da saß er, in die-
SPIEGEL: Welche Rolle spielt das eige- SPIEGEL: Ach ja? Erzählen Sie … sem riesigen Raum, hinter seinem
ne Verhalten? Reschke: Mit 18 habe ich bei einer massiven Schreibtisch und sagte: »So,
Reschke: Klar sind die, die schüchtern kleinen Leasing-Firma am Empfang wann gehen wir denn jetzt essen?«
sind und nicht von Natur aus eine gejobbt. Der Geschäftsführer, Ende Mir hat das Herz bis zum Hals ge-
klare Grenze ausstrahlen, aus Sicht dreißig, für mich damals uralt, kam klopft, als ich ihm sagte, dass ich nicht
mancher Männer die viel leichtere immer morgens an meinem Tresen mit ihm essen gehen möchte. Dabei
Beute. Deshalb finde ich es perfide, vorbei, plauderte ein bisschen und hing meine Karriere gar nicht von
dass in allen #MeToo-Fällen – egal sagte eines Tages ganz unverblümt: dem Job ab. Ich kann verstehen,
ob Wedel, Reichelt oder der Ramm- »Wir beide sollten mal essen gehen.« wenn Frauen aus solchen Situationen
stein-Sänger Till Lindemann – immer Jeden Tag fragte er nach dem Treffen. nicht rauskommen. Aber was passiert
sofort der Vorwurf aufgekommen ist, Ich schob Zeitnot vor, meinen Freund – dann? Man gibt nach, geht essen, ist
die Frauen seien schuld, dass sie mit- was man halt so gelernt hat als Frau, ja nicht so schlimm, der Chef ist ja
gemacht haben, dass sie sich nicht um sich rauszuwinden, ohne den ganz nett. Dann will er noch was trin-

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ken, fährt dich nach Hause, und schon ist man


in etwas reingeraten, was man eigentlich gar
nicht will. Ich glaube, dem Geschäftsführer
war damals nicht bewusst, in welch unange-
nehme Situation er mich gebracht hat. Ihm
ging es nur um sein Vergnügen. Das muss sich
ändern. Männer müssen lernen, sensibel mit
untergebenen Frauen umzugehen.
SPIEGEL: Sind Flirts zwischen Chefs und An-
gestellten generell tabu?
Reschke: Natürlich nicht. Aber jeder weiß
doch tief in seinem Herzen ganz genau, was
geht und was nicht, was ein Flirt ist und was
nicht, wann er jemanden anfassen darf und
wann nicht.
SPIEGEL: Der Journalismus gilt als gesellige
Branche. Wir erinnern uns an Zeiten, in
denen ältere Redakteure nach Dienstschluss
ganz unbedarft noch mit Praktikantinnen et-
was trinken gingen. Ist diese Unbedarftheit
heute verloren?
Reschke: Gibt es noch die Besenkammer? Ich
weiß es nicht. Ich bin aus dem Alter raus, nach
der Arbeit noch was trinken zu gehen. Aber
ich habe das Gefühl, dass heute viel weniger
denkbar ist. All das Opulente ist weg. Nicht
nur wegen #MeToo, sondern aus diversen
Compliance-Gründen. Die Regeln für mora-
lisch korrektes Verhalten sind viel schärfer.
Du kannst dich heute von einem Unterneh-
men auch nicht mehr einfach einladen lassen
in die FC-Bayern-Lounge. Zum Glück!
SPIEGEL: Wir würden mit Ihnen gern über
Männer reden. Haben Männer durch #MeToo
nur etwas verloren?
Reschke: Manche Männer ja, andere nein.
Wer als Typ immer gedacht hat: »Mir gehört
die Welt! Welches Mädel ziehe ich mir mor-
gen vor die Flinte?«, der hat es jetzt bestimmt
schwerer. Aber so sind ja nun auch nicht alle
Männer. Viele haben ja genauso unter Macht-
missbrauch gelitten: unter Chefs zum Beispiel,
die cholerisch ihre Leute zusammenscheißen,
die die Puppen tanzen lassen, wie sie wollen,
egal ob die weiblich sind oder männlich.
SPIEGEL: Warum werden so wenige Fälle be-
kannt, in denen Männer Opfer und Frauen
Täterinnen sind? Gibt es sie nicht, oder scheu-
en sich Männer mehr, als Opfer zu gelten?
Reschke: Es gibt vielleicht auch Frauen, die
übergriffig werden. Aber sie waren lange nicht
in Machtpositionen, in denen man übergriffig
werden könnte. Ich muss allerdings gestehen:
Es ist schwer vorstellbar, dass etwa Maria
Furtwängler am Filmset Praktikanten an-
macht. Oder dass Taylor Swift sich nach ihrer
Show 20 Typen in ihren Backstagebereich
einlädt.
SPIEGEL: Warum sollte sich der größte weib-
liche Popstar des Planeten nicht 20 männliche
Groupies mit nach Hause nehmen können?
Reschke: Wenn eine Frau etwas erreicht hat,
mächtig ist, fällt ihr dann als Erstes ein, sich
zehn Lustknaben zu nehmen? Nein, denn für
ihren Status ist es nicht so entscheidend, sagen
zu können: »Guckt mal, das sind meine
Boys.« Ich glaube, Sex und Macht sind bei
Männern viel enger miteinander verknüpft.

108 DER SPIEGEL Nr. 4 / 20.1.2024


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»Junge Frauen fangen nicht chen für Sex zu rekrutieren. Oder ein Chef-
redakteur junge Angestellte und Praktikan-
bei Springer an, um endlich tinnen als sein Reservoir für sexuelle Verhält-
Sex mit dem Chef zu haben.« nisse betrachtet. Deswegen berichten Medien
darüber, und deswegen diskutieren so viele
Menschen diese Berichte.
SPIEGEL: Warum kommen so viele #MeToo-
Fälle aus den Kultur- und Kreativbranchen?
Reschke: Ich glaube nicht, dass es in der Wirt-
SPIEGEL: Die provokante These wäre, dass schaft besser ist. Hören Sie sich mal die Ge-
Sex und Macht bei Frauen genauso eng mit- schichten an, die sich zum Beispiel rund um
einander verknüpft sind. Nur eben auf um- große Messen abspielen.
gekehrte Weise. Frauen finden einen mächti- SPIEGEL: Warum? Was ist denn da?
gen Mann sexy. Reschke: Die Hostessen und die Sprüche über
Reschke: Na klar. Bis vor gar nicht so langer sie, der Alkohol, die Partys danach, die Tou-
Zeit konnten Frauen ihre Existenz schließlich ren in die Bordelle im Umkreis, von denen
nur durch einen Mann absichern. Natürlich alle Taxifahrer berichten. Das hat alles erst
haben sie deshalb versucht, einen möglichst mal nicht zwangsläufig etwas mit Machtmiss-
guten Versorger mit Geld und Macht zu brauch zu tun, aber es ist der Boden, auf dem
kriegen. es dazu kommt. Und natürlich kriegen wir
SPIEGEL: Dieser Mechanismus macht viele auch Zuschriften über Missstände in anderen
#MeToo-Fälle komplex. Nehmen Sie den Fall Wirtschaftsbereichen. Aber es ist sehr viel
Julian Reichelt. Der Ex-»Bild«-Chefredakteur schwieriger zu berichten, wenn der mutmaß-
soll Affären mit jungen Angestellten gehabt liche Täter keine Person von öffentlichem
haben. Warum haben sich die Frauen auf ihn Interesse ist.
eingelassen? SPIEGEL: Es müsste schon der Vorstandsvor-
Reschke: #MeToo-Fälle sind oft komplex und sitzende eines Großunternehmens sein.
ambivalent. Aber für Männer ist es eine be- Reschke: Und nicht Abteilungsleiter Müller
queme Ausflucht, die angebliche Einvernehm- vom Bauunternehmen XY oder Handwerks-
lichkeit ins Spiel zu bringen. Einvernehmlich meister Meier vom Betrieb Soundso.
waren Reichelts Affären in dem Sinne, dass SPIEGEL: Sehen Sie ein Problem darin, dass
ihm bislang keine physischen Übergriffe vor- die Klägerinnen meist anonym und unsichtbar
geworfen wurden. Gleichzeitig fangen junge bleiben dürfen? Die Beschuldigten hingegen
Frauen auch nicht bei Springer an, um endlich stehen sofort am größtmöglichen öffentlichen
Sex mit dem Chef zu haben. Sie wollen Jour- Pranger.
nalistin werden oder im Verlag arbeiten. Ein- Reschke: Für die angegriffenen Personen ist
mal da, finden sie es womöglich interessant, das hart, klar. Aber die Klägerinnen bleiben
einen exklusiven Zugang zum Chef zu haben. ja in erster Linie anonym, weil sie wissen, was
Aber das gilt für junge Männer genauso wie ihnen an öffentlicher Hinrichtung droht. Ab-
für junge Frauen. Viele fühlen sich gebauch- gesehen davon haben viele den Mut, später
pinselt, wenn sie die Gunst des Chefs haben. in Gerichtsprozessen offen aufzutreten.
Nur bezahlst du als Frau dafür halt oft mit SPIEGEL: Und doch schafft die Anonymität
Sex. eine andere Art des Machtungleichgewichts.
SPIEGEL: Kritiker monieren, dass das Label Reschke: Als Journalist muss man genau über-
#MeToo immer schwammiger werde. Es ging legen, welche Gefühle im Spiel sind. Oft geht
los mit dem Vergewaltiger Harvey Weinstein, es um Scham, aber sicher auch um Rache.
und nun sind wir bei machtmissbräuchlichen, Man muss aufpassen, nicht benutzt zu wer-
aber doch einvernehmlichen Affären am den. Letztlich aber haben all die journalis-
Arbeitsplatz. tischen Berichte eine enorm wichtige Funk-
Reschke: Das Label ist uneindeutig, aber auch tion. Wir haben es mit jahrhundertealten
Beziehungen zwischen Menschen sind nicht Mustern zu tun, dem Patriarchat. Das lässt
eindeutig. Es gibt kein Regelwerk für Flirts, sich nicht mal eben mit fünf Berichten ab-
Sex, Liebe, es ist kompliziert. Das macht es räumen Aber jeder einzelne hilft. Als ich
für uns Journalisten auch so schwierig. Wir 18 war, fand es ein Geschäftsführer normal,
müssen den meist komplexen Fall in einem seine junge Aushilfe zum Abendessen einzu-
Beitrag verdichten, dabei beiden Seiten ge- laden. Heute würden viele Männer erst mal
recht werden und doch die Frage beantworten, darüber nachdenken, ob das eigentlich geht.
ob Unrecht geschehen ist oder nicht. Viele Und viele Frauen würden in der Situation
werden nun schreien, das dürften Journalisten klarer sagen, dass das nicht geht. Wir sind
nicht, das könnten nur Gerichte. eindeutig weiter.
SPIEGEL: Was entgegnen Sie? SPIEGEL: Es gibt Feministinnen, die einen
Reschke: Erstens: dass sich auch Gerichte Backlash beklagen.
beim Vorwurf sexualisierter Gewalt schwer- Reschke: Solange sich die politischen Verhält-
tun, weil oft Aussage gegen Aussage steht. Vor nisse nicht völlig umkehren, wird sich auch
allem aber zweitens: dass wir als Gesellschaft die Gesellschaft nicht mehr zurückentwickeln.
verhandeln müssen, wie wir miteinander um- Der Korken ist aus der Flasche.
gehen wollen. Ob wir es okay finden, wenn SPIEGEL: Frau Reschke, wir danken Ihnen für
ein Musikstar ein System unterhält, um Mäd- dieses Gespräch. n

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darauf zu lenken, die Menschen, die Ein Treffen im November von


hier sind, gut auszubilden, anstatt verschiedenen AfD­Funktionären,
auf die Premium­Einwanderer zu einigen Sympathisanten und Geld­
hoffen, die den Fachkräftemangel gebern sowie ein paar rechtsradi­
schon lösen werden. Die werden kalen Aktivisten hat darauf in der
absehbar nicht kommen, zumindest vergangenen Woche wieder einmal

Erst die Sprache, nicht in großer Zahl.


Aber das ist der vernünftige Blick.
Wer als Rechtsradikaler auf diese
ein Schlaglicht geworfen. Gernot
Mörig war da, ein Zahnarzt aus
Düsseldorf und seit vielen Jahren

dann die Macht Zahlen schaut, sieht etwas ganz


anderes: Nämlich den »Großen Aus­
tausch«, »le Grand Remplacement«,
einer der Strippenzieher in diesen
Kreisen, Roland Hartwig, ein enger
Mitarbeiter von AfD­Chefin Alice
wie der Kampfbegriff des französi­ Weidel (von dem sie sich mittler­
ESSAY Rechtsextreme Ideologen wie Martin schen Rechtsextremisten Renaud weile getrennt hat), und Martin
Camus im Original heißt. Die euro­ Sellner, ein österreichischer Rechts­
Sellner und Götz Kubitschek denken weiter als päischen Regierungen planten die radikaler und Kopf der sogenannten
bis zur nächsten Wahl. Sie wollen Begriffe Auflösung der Völker, glaubt man Identitären Bewegung, einer akti­
prägen, dadurch Debatten setzen – und so das dort, die Ersetzung der Einheimi­ vistischen rechtsradikalen Gruppe.
Land ändern. Von Tobias Rapp schen durch Fremde. Das sei Sinn »Remigration« wurde in der Folge
und Zweck der Globalisierung. Die zum »Unwort des Jahres 2023«
Deutschen wandern aus? Syrer und bestimmt.
Rapp, Jahrgang n der vergangenen Woche ver­ Afghanen wandern zu? Was soll das Es sei bei dem Treffen um die
1971, ist SPIEGEL-
Redakteur im
Ressort Kultur.
Er beschäftigt sich
I öffentlichte die Bundesregie­
rung ihren Migrationsbericht
für das Jahr 2022. Ein dickes Papier
sein, wenn nicht »Umvolkung«?
Nun gibt es selbstverständlich
nicht einen einzigen Beweis dafür,
massenhafte Ausweisung von Men­
schen aus Deutschland gegangen,
schreibt das Rechercheteam Correc­
seit Langem voller Zahlen. 2,7 Millionen Men­ dass globale Eliten die Deutschen tiv, das als Erstes berichtete, eben
mit den Ideen der schen wanderten in die Bundesre­ aus Deutschland entfernen und sie um die »Remigration« Hunderttau­
Rechten. Götz
Kubitschek traf publik ein, 1,2 Millionen zogen weg. durch Syrer ersetzen. Das Drama sender Menschen. Daran entscheide
er auf dessen Das heißt: 1,5 Millionen Menschen der europäischen Migrationspolitik sich, so sagte Mörig laut Correctiv,
Gut in Schnellroda. blieben – die höchste Zahl seit beruht auf dem genauen Gegenteil. »ob wir als Volk im Abendland
Beginn der Aufzeichnungen im Jahr Dass es gerade nicht möglich zu noch überleben oder nicht«. Es
1950. Das lag vor allem am rus­ sein scheint, die Einwanderung zu gebe drei Gruppen von Menschen
sischen Angriff auf die Ukraine. steuern. Wegen so unterschiedlicher in Deutschland, sagte Sellner, die
1,1 Millionen Menschen kamen von Faktoren wie dem individuellen verschwinden müssten: »Asylbe­
dort nach Deutschland. Recht auf Asyl, widerstrebenden werber«, »Ausländer mit Bleibe­
So weit, so erwartbar. Es gab nationalen Interessen, institutionel­ recht« und »nicht assimilierte
aber auch ein paar überraschende lem Zuständigkeitswirrwarr und Staatsbürger«. Letztere seien die
Fakten. Erstens: Ausländer aus problematischen Situationen in den schwierigsten Fälle, also die Deut­
EU­Staaten, die nach Deutschland Herkunftsländern. Seit Jahren ge­ schen mit Migrationshintergrund,
ziehen, bleiben meist nur für ein lingt es weder der EU noch den Menschen mit deutschem Pass, die
paar Jahre, um dann wieder in ihre EU­Staaten, einheitliche Regeln zu aber eine Einwanderungsgeschichte
Heimat zurückzukehren. Zweitens: finden. Das kann man gut finden haben. Man kann sich vorstellen,
Die größten Einwanderungszahlen (weil es Lücken lässt) oder schlecht warum: Wer diese Menschen aus
von Nichteuropäern stellen immer (weil Leute kommen, die man nicht Deutschland vertreiben möchte,
noch Syrer und Afghanen. Von will) oder sehr schlecht (weil es auf verstößt nicht nur gegen die Verfas­
denen zwar auch einige wieder zu­ Zynismus, Willkür und den mög­ sung – das dürfte den Rechtsextre­
rückgehen, aber sehr viel weniger lichen Tod durch Ertrinken hinaus­ men ziemlich gleich sein. Man muss
als kommen. Drittens: Die Nation, läuft). Aber nichts daran sieht auch aber auch festlegen, wen es trifft:
deren Angehörige ein größeres nur entfernt aus wie ein Plan. Menschen, die die falsche Religion
»Abwanderungssaldo« haben, ist Trotzdem ist die »Umvolkung« haben? Juden, Muslime? Wie dun­
die deutsche. Nur Deutsche verlas­ die Lieblingsfantasie der radikalen kel darf der Deutsche sein? Was
sen also in größerer Zahl Deutsch­ Rechten. Gegen die Einwanderung definiert, was »nicht assimiliert«
land, als dass sie zurückkommen. gilt es anzugehen, der Menschen­ bedeutet?
Was heißt das? Dass sich offen­ strom müsse die Richtung wechseln, In verschiedenen Statements
bar in der Europäischen Union wie es die Ostverbände der AfD ist Sellner – genauso wie sein deut­
ein gemeinsamer Migrationsraum jüngst gefordert haben. Es sollen scher Verleger Götz Kubitschek,
entwickelt hat, in dem die Bürgerin­ weniger Fremde werden. »Remigra­ Gründer einer rechtsextremen
nen und Bürger mit großer Selbst­ tion« sei das Ziel, sie sollen zurück­ Denkfabrik in Schnellroda, die bei­
verständlichkeit mal hier und mal gehen. Oder die »Minusmigration«. den sind eng verbunden – in den
dort leben und am liebsten wieder Nichts daran ist neu. »Ausländer vergangenen Tagen scheinbar zu­
dorthin zurückkehren, wo sie her­ raus« ist und bleibt der kleinste ge­ rückgerudert. Alles gar nicht so
gekommen sind; dass wir Deutsche meinsame Nenner der radikalen gemeint! Es gebe gar keine »Pläne
uns über die Attraktivität der Bun­ Rechten, auch wenn man ihm neue zur blutigen Vertreibung von
desrepublik möglicherweise in die scheinbar neutrale Begriffe gibt. Sie Millionen« im »Stil der Wannsee­
Tasche lügen. Leute, die nicht hier­ sollen die Gewalt überspielen, die Konferenz«, schrieb Kubitschek.
bleiben müssen, tun das auch nicht. dem Wunsch zugrunde liegt, dass Er wolle keine »Pauschalabschie­
Und wahrscheinlich wäre es klüger, Menschen, die man nicht mag, das bung aller Migranten«, sagte Sell­
die gesellschaftlichen Ressourcen Land gefälligst verlassen müssen. ner. Um gleichzeitig zu erklären,

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»Remigration« sei das Normalste einer »ethnokulturellen Identität«, Wenn sich das, was Békés »nationaler Block«
der Welt: Die Türkei und Grie­ die anzustreben sei, zwar immer nennt, in immer neuen Durchläufen
chenland etwa hätten 1923 eine noch gefährlich, aber vor allem hoff­ das Wort der eine nationale Hegemonie herstellt.
»Konvention zum Bevölkerungs­ nungslos weltfremd ist. »Remigration« Dieser nationale Block, um den es
austausch« unterzeichnet, die zur Wenn es um die Säuberung der Békés geht, ist so etwas wie die
Folge hatte, dass 1,2 Millionen Grie­ Bevölkerung geht, hat man bei den
in die bür­ moderne Version der Volksgemein­
chen die Türkei und 400.000 Mus­ radikalen Rechten Geduld. Weil gerliche Mitte schaft: ein Gemeinwesen, in dem
lime Griechenland verließen. Die man nicht kurzfristig denke, glau­ aufmacht, Herrschaft und Volksstimmung im
meisten Historiker sind sich einig, ben die Protagonisten selbst – weil Einklang sind (beziehungsweise im­
dass dies eine der grausamen ethni­ ihnen gar nichts anderes übrig ist die Mission mer neu von oben hergestellt wer­
schen Säuberungen des 20. Jahr­ bleibt, trifft es wohl eher. schon fast den), in dem eine völkisch orientier­
hunderts war. So ganz ohne Ver­ Aber das ist eben nicht alles. te Regierung vorgibt, wie die Kultur
treibung wird auch Sellners »Remi­ Denn in Ostdeutschland ist die Lage erfüllt. aussieht. »Nationale Integration«
gration« also nicht zu haben sein, ein wenig anders als im Westen. nennt Békés das – was mit der Inte­
egal wie er sie bemäntelt. Für Sell­ Hier geht es schon länger um mehr grationsdebatte, wie sie im Westen
ner: normal. als Begriffe. Im Spätsommer wird geführt wird, nichts zu tun hat. Hier
in Sachsen, Thüringen und Bran­ geht es nicht um die Integration des
atsächlich geht es ihm und denburg gewählt, und die Stärke »Fremden« ins »Eigene«, sondern
T seinen Verbündeten im Augen­
blick vor allem um eines: den
Kampf um Begriffe. Wenn das Wort
der AfD und die unabsehbare Re­
gierungsbildung, die kommen wird,
sollte die AfD wirklich die meisten
um eine Integration einer alteinge­
sessenen Bevölkerungsmehrheit in
ein autoritäres System.
der »Remigration« die rechtsradi­ Stimmen erhalten, wird zu Situatio­ Da will auch die radikale Rechte
kalen Kreise verlässt und sich in die nen führen, vor denen ein großer in Deutschland hin, so skizziert
bürgerliche Mitte aufmacht, ist Teil der deutschen Politik noch die es ein Aktivist wie Sellner. Dafür
die Mission schon fast erfüllt. Den Augen verschließt. kämpft sie. Um die Universitäten
Kampf um den »vorpolitischen Anders auf bei den radikalen zu erobern, in die Gewerkschaften
Raum« nennt er das, eine Strategie, Rechten. Dort richtet, wer über die hineinzuwirken, in die Handwer­
die er sich bei der Linken abge­ nächsten Schritte auf dem Weg ker­ und Unternehmerverbände,
schaut hat. Es geht ihm darum, He­ zur Umsetzung seiner Machtfanta­ um einen Fuß in die Medien zu be­
gemonie anzustreben, was heißt, sien nachdenkt, den Blick etwa kommen. Um im politischen System
dass er versucht, die eigenen Begriffe auf Ungarn. Vor einigen Wochen ist das Leben im Land für alle, die
so in den öffentlichen Diskurs ein­ etwa das Büchlein »Nationaler man nicht will, so unangenehm zu
sickern zu lassen, dass dieser sich Block« des ungarischen Autors Már­ gestalten, dass sie sich mit dem
langsam wendet. Dass die radikale ton Békés in einem rechten deut­ Gedanken anfreunden, woanders
Rechte nicht mehr am Rand steht, schen Kleinverlag erschienen. Békés leben zu wollen. Der »Bevölke­
sondern die Debatte prägt. Auch in ist Historiker und einer der Köpfe, rungsaustausch« soll beendet wer­
der radikalen Rechten weiß man, die die illiberale Revolution des den, heißt das bei Sellner, und eine
dass die große Mehrheit der Deut­ ungarischen Ministerpräsidenten »Regeneration der eigenen Kultur«
schen mit ihren Parolen wenig Viktor Orbán hervorgebracht hat. ermöglicht werden. Als hätte man
anfangen kann. Dass die Diversität Békés beschreibt, wie es in es bei der Bevölkerung mit einem
zumindest großer Teile der west­ Ungarn gelang, die linke Hegemo­ kranken Volkskörper zu tun, der
deutschen Gesellschaft so weit fort­ nie zu brechen und sich daraus die Correctiv- sich erholen müsse.
geschritten ist, dass die Vorstellung Herrschaft Orbáns ergab – und wie Bildmaterial
ll das soll dabei aussehen, als
A wäre es normal. Wer be­
schwert sich über »Remigra­
tion«? Hat die Bundesregierung
unter Helmut Kohl in den Achtzi­
gerjahren arbeitslosen Gastarbei­
tern in Deutschland nicht Prämien
angeboten, um zurück in ihre Hei­
mat zu gehen?
Nun ist ein Bundesland kein
eigener Staat. Und Ungarn in vielen
Dingen ein Sonderfall. Auch, weil
Viktor Orbán nicht nur Ideologe,
sondern ebenso ein cleverer Politi­
ker ist, der sich seit Jahren seine
Anmutung nationaler Souveränität
und seine Verachtung der liberalen
europäischen Normen von der EU
mit vielen Milliarden subventionie­
ren lässt.
Aber: Es hat geklappt.
Eine liberale Demokratie lässt
sich umbauen, mitten im Europa
CORRECTIV

des 21. Jahrhunderts. Eine rechte


Hegemonie ist möglich. n

Nr. 4 / 20.1.2024 DER SPIEGEL 111


KU LT U R

in der kommenden Woche anstehenden Os-


carnominierungen wird er hoch gehandelt.
Die Hauptdarstellerin Stone ist an dem Film
als Co-Produzentin beteiligt.
»Ich bin glücklich, dass so viele Menschen

Frankensteins Tochter sich für den Film begeistern. Ich lese viele
Kritiken und freue mich darüber, was die Leu-
te darin entdecken, selbst wenn ihnen etwas
nicht gefällt. Es gibt nie nur eine richtige Art,
KINO Emma Stone ist womöglich die aufregendste Schauspielerin unserer einen Film zu begreifen«, sagt sie.
Gibt es für sie selbst die eine halbwegs
Zeit. In dem fantastischen Film »Poor Things« von Yorgos Lanthimos wichtige Erkenntnis, die ihr »Poor Things«
erweckt sie nun eine roboterhafte Frauenkreatur meisterhaft zum Leben. verschafft hat? »Ich kann sagen, ich habe erst
durch Yorgos Lanthimos begriffen, wie sehr
es sich lohnt, Dinge zu wagen, von denen ich
ie Schriftstellerin Mary Shelley, die vor Farbe und mal in Schwarz-Weiß zeigt er sehr vorher nicht mal ahnte, dass ich je den Mut
D mehr als 200 Jahren den Mythos vom
Monster-Zusammenbastler Doktor
Frankenstein in die Welt gesetzt hat, dachte
hübsch das Herumsägen an Menschen-
knochen und das Hantieren mit glibbriger
Gehirnsubstanz. Er spielt in einer surreal ver-
dafür finden würde.«
Die angeblich am OP-Tisch erschaffene
Frau, die Stone spielt, kämpft nicht um Frei-
ziemlich fortschrittlich über die Chancen formten, wie mit dem Blasebalg aufgepus- heiten, sie nimmt sie sich selbstverständlich
eines gelungenen Zusammenlebens der Ge- teten Architektur, für die sich Fantasyfans heraus. Weggesperrt von der Außenwelt in
schlechter. Sie schrieb: »Ich wünsche mir die Stilbezeichnung Steampunk ausgedacht der palastartigen Wohnung des Professors,
nicht, dass Frauen Macht über die Männer haben. Manchmal laufen hybride Tier- durchlebt sie im Fast-Forward-Modus ihre
haben. Ich wünsche mir, dass Frauen Macht geschöpfe durchs Bild, zum Beispiel ein Huhn Kindheit und das sexuelle Erwachen eines
über sich selbst haben.« mit dem Gesicht eines Mopses. Teenagers. Sie bleibt dabei unberührt von
Der griechische Regisseur Yorgos Lanthi- Der Regisseur hat allerdings weder ein His- Benimmvorschriften oder Morallektionen.
mos zeigt nun gemeinsam mit der amerikani- toriendrama mit Horrorelementen noch net- Sie kennt keine Scham. Als sie beim Spielen
schen Schauspielerin Emma Stone eine aber- te Science-Fiction-Unterhaltung im Sinn. mit Früchten, während sie an einem riesigen
witzig schöne und auch ein bisschen verrück- »Poor Things« ist eine Gesellschaftssatire, die Esstisch sitzt, die Freuden der Selbstbefriedi-
te Fortschreibung der Frankenstein-Geschichte auf die Gegenwartswelt zielt. gung entdeckt, macht sie sich mit einem der-
im Kino. »Poor Things« erzählt intelligent, Emma Stone drückt es so aus: »Der Film art fröhlichen Eifer ans Werk, dass die Haus-
anrührend und oft komisch von der Erschaf- wirft einen genauen Blick auf das archetypi- dienerin einen Empörungsschrei von sich gibt.
fung einer Wonder Woman, einer Superfrau – sche Verhalten von Männern, denen es darum Zur Vorbereitung auf ihre Rolle, sagt
und davon, wie es Männer an den Rand des geht, Frauen unter ihre Kontrolle zu bringen Stone, habe sie sich unter anderem mit der
Wahnsinns treibt, als diese Frau so unbeküm- und unter Kontrolle zu halten. Männer be- Geschichte von Kaspar Hauser beschäftigt.
mert wie ungeniert die Macht über ihr Leben nutzen verschiedene Strategien dafür, im Film Es ist ein windiger Rechtsanwalt und Frau-
und ihre Sexualität demonstriert. zum Beispiel die Verführungskunst des Nar- enheld mit dem märchenhaften Namen Dun-
Man sieht mehrere Männer im Film in Trä- zissten oder die Strenge des freundlichen Pa- can Wedderburn (Mark Ruffalo), der Bella
nen ausbrechen. Einer schreit vor lauter Eifer- ternalisten – aber gegenüber einer Frau, die den Weg aus ihrem Luxusgefängnis frei
sucht und Verzweiflung tobsüchtig herum. vollkommen ehrlich über ihre Bedürfnisse macht. Als er für einen Vertragsentwurf in
Ein anderer mampft am Ende sogar grüne spricht, sind diese Strategien wirkungslos.« Dr. Baxters Haus kommt, lädt er Bella ein,
Blätter und Grasbüschel. Die Schauspielerin Stone sitzt auf dem mit ihm nach Lissabon durchzubrennen – und
»Poor Things« erzählt, wie der Londoner Sofa einer Londoner Hotelsuite und spricht die stets aufrichtige Bella fragt ihren Schöpfer
Anatomiedozent Dr. Baxter (Willem Dafoe), mit strahlendem Lächeln über »Poor Things«, sogleich um dessen Erlaubnis. Der Alte gibt
der seine Mitmenschen durch sein wie aus der schon jetzt einen Triumph ihrer Karriere ihrem Drang, die Welt zu erkunden, nach
grobem Knetgummi geformtes Gesicht ab- markiert. Beim Festival in Venedig hat der kurzem Zaudern nach. Willem Dafoes Baxter
stößt, seinen schüchternen Medizinstudenten Film den Goldenen Löwen gewonnen. Vor ist nicht bloß in dieser Szene ein großartig
Max (Ramy Youssef) zu sich nach Hause ein- ein paar Tagen wurde er bei der Verleihung anzusehender Zerrissener, in dessen Seele
lädt. Der Student soll die Lernfortschritte der der Golden Globes als bester Film in der Ka- wissenschaftliche Kühle und fiebriger Be-
Patientin Bella Baxter protokollieren, die tegorie Komödie ausgezeichnet, auch für die sitzerstolz miteinander kämpfen.
möglicherweise eine Tochter des Professors »Poor Things« handelt wie »Barbie« von
ist. Die von Emma Stone gespielte Frau be- der Menschwerdung einer Puppe, nur mit
Atsushi Nishijima / Searchlight Pictures / The Walt Disney Company

wegt sich so unbeholfen-tapsig, spricht so grimmigerer Konsequenz. Von der Neugier


fröhlich brabbelnd und neigt zu bösen Aus- und Bewusstwerdung eines nahezu unschul-
brüchen wie ein launisches Kleinkind. digen Wesens haben auch schon Dichter wie
Es stellt sich bald heraus, dass Bella ein Ovid (in den »Metamorphosen«), Wolfram
Frankenstein-Geschöpf ist. Aus dem Körper von Eschenbach (im »Parzival«), Voltaire
einer schwangeren Selbstmörderin, die sich (in »Candide oder Der Optimismus«) oder
von einer Brücke in die Themse warf und zu George Bernard Shaw (in »Pygmalion«) er-
Tode kam, hat der geniale Mediziner Baxter zählt. Aber der Film, der eine Romanvorlage
den Embryo entnommen und der Frau das des schottischen Autors Alasdair Gray von
noch lebende Gehirn des ungeborenen Kindes 1992 fortspinnt, erfindet diese Story auf ori-
eingepflanzt. Danach hat er seine Schöpfung, ginelle und amüsante Weise neu.
der er den Namen Bella gab, mit ein paar Zuerst an der Seite des großkotzigen Wed-
Stromstößen zu neuem Leben erweckt. derburn, dann bei Soloausflügen ohne den
Lanthimos’ Film ist, so scheint es, im leicht lästigen Aufpasser lernt Bella die Schönheiten
verfremdeten viktorianischen London des der Stadt Lissabon und die Armut der Men-
späten 19. Jahrhunderts angesiedelt. Mal in Darsteller Stone, Ruffalo in »Poor Things« schen im ägyptischen Alexandria kennen.

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Auf ihrem Trip durch puppenstubenhaft


herausgeputzte Metropolen verschenkt die
Heldin fast alles Geld aus der Reisekasse an
Ganoven, die ihr Mitgefühl mit den Hunger-
leidern der Welt ausnutzen. Sie beginnt mit
dem Lesen kluger Bücher. Und bevor sie nach
London in den Wirkungskreis ihres nun tod-
kranken Schöpfers Dr. Baxter zurückkehrt,
verdingt sie sich in einem Pariser Bordell als
Prostituierte, die den Kolleginnen Stolz auf
die Arbeit und den Freiern die Vorzüge der
Körperpflege vor dem Sexualakt beibringt.
Klar sei »Poor Things« ein politischer Film,
sagt Emma Stone. Weil sie finde, dass grund-
sätzlich jedes Kunstwerk politisch sei, »aber
vor allem wegen der feministischen Kompo-
nente«. In vielen Ländern sei es bis heute
nicht möglich, dass Frauen frei über ihren
Körper entscheiden dürfen, in den USA etwa
werde deshalb heftig gestritten. »Aber kann
irgendwer ernsthaft leugnen, dass die Auto-
nomie über den eigenen Körper ein Recht ist,
das allen Frauen zugestanden werden muss?«
Seit »Crazy, Stupid, Love« (2011) , »Bird-
man« (2014) und »La La Land« (2015) gilt
Stone als eine der tollsten amerikanischen
Schauspielerinnen überhaupt. Ihr erster gro-
ßer Erfolg mit dem Regisseur Lanthimos war
der für zehn Oscars nominierte (und dann
doch mit nur einem ausgezeichnete) Film
»The Favourite« (2018), in dem sie eine glü-
hend ehrgeizige Kammerzofe spielt, die am
englischen Königshof des 18. Jahrhunderts
um die Gunst von Queen Anne (Olivia Col-
man) kämpft.
Thea Traff / The New York Times / Redux / laif

Der Grieche Lanthimos hatte sich unter


anderem in Filmen wie »Dogtooth« (2009)
als ein cooler, höchst eigenwilliger Münch-
hausen des europäischen Kunstkinos eta-
bliert. Seine Filme zeigen eine Welt, die deut-
lich ins Groteske überzeichnet, aber doch nah
genug an der Realität gebaut ist, um die Zu-
schauerinnen und Zuschauer gründlich zu
verstören. Sie handeln von Welten, in denen
Menschen sich unter bestimmten Bedingun- Kinostar Stone: »Dinge gewagt, von denen ich nicht ahnte, dass ich den Mut dafür finden würde«
gen zwangsläufig in Tiere verwandeln (»The
Lobster«, 2015) oder in denen Eltern zur Op- In der Produzentinnenrolle, sagt Stone, ist als übers Meer gleitende Ritterburg her-
ferung eines ihrer Kinder aufgerufen sind wolle sie Regisseurinnen und Regisseuren bei gerichtet.
(»The Killing of a Sacred Deer«, 2017). Das ihrem Kampf dafür beistehen, »dass sie eine Die Sensation im Zentrum des Films aber
Rätselhafte, das Grauen und das Lächerliche Geschichte so erzählen dürfen, wie sie sie er- ist stets Emma Stones Bella. »Ihr Gehirn und
liegen in Lanthimos’ Filmen stets eng bei- zählen wollen«. ihr Körper sind nicht synchronisiert«, heißt
sammen. »Ich bin von allem, was Yorgos »Poor Things« zeigt das Wunder der es einmal am Beginn ihrer Verwandlung.
macht, absolut hingerissen«, sagt die Schau- Selbstfindung einer künstlich erschaffenen Dann sieht man ihr dabei zu, wie sie von einer
spielerin Stone. Kreatur, soweit man das als Zuschauer be- Monsterkreatur, die mit ruckelnden Schritten
Der Regisseur hat zuvor schon mit Holly- urteilen kann, mit ungebremstem Übermut. vorwärtswankt, zu einer selbstbewusst voran-
woodstars wie Nicole Kidman und Colin Fa- Manchmal wirkt der Film sogar, als wolle der schreitenden, eleganten Welterforscherin
rell gearbeitet. Im 35 Millionen Dollar teuren, Regisseur mit lustigen Wow-Effekten stolz wird. Ihren offenen Blick, ihre nahezu un-
vom Disney-Konzern finanzierten Film »Poor herauskehren, wie wenig ihn die gängigen zerstörbare Heiterkeit, ihre Begeisterung für
Things« tut er es erstmals mit viel amerika- Kinokonventionen scheren. das Nacktsein bewahrt sie sich auch als zum
nischem Geld. Einer der Gründe, warum sie Zu den verblüffenden und wiederholt prä- Bewusstsein erwachte, souveräne Frau.
sich selbst in einer Produktionsfirma engagie- sentierten Marotten des Films gehören irre Der Ort, an dem die Heldin am eindrucks-
re, sagt Stone, sei »der Zusammenprall ver- Weitwinkelaufnahmen – und die Idee, dass vollsten zeigen kann, dass sie die volle Herr-
schiedener Kulturen, sobald europäische Fil- der sonderbare Dr. Baxter beim Verzehr schaft über den eigenen Körper erlangt hat,
memacher, die sich als Autoren verstehen, auf jeder Mahlzeit jeweils eine schillernde Sei- ist die Tanzfläche. Ohne Übertreibung darf
das amerikanische System treffen, das immer fenblase hervorrülpst. Die Heldin und ihre man sagen, dass die Szenen, in denen Bella in
auf das Erzählen möglichst universaler Ge- Begleiter reisen in dampfmaschinengetrie- »Poor Things« tanzt, das Aufregendste sind,
schichten aus ist«. Sie habe diesen Kulturclash benen Kutschen, Straßenbahnen fliegen an was es seit langer Zeit im Kino zu sehen gab.
selbst bei einigen Projekten erlebt. Seilen durch die Luft, ein Kreuzfahrtschiff Wolfgang Höbel n

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Mehr als 40 Theater und andere


Kulturstätten in Deutschland und Ös-
terreich und das Onlineportal »Nacht-
kritik« zeigen die Veranstaltung im
Livestream. Oliver Reese, der Inten-
dant des Berliner Ensembles, hat die

Szenen einer Hassrunde Lesung unter dem Titel »Correctiv


enthüllt: Rechtsextremer Geheimplan
gegen Deutschland« nach Beginn der
regulären Theatervorstellung an die-
PERFORMANCE-KRITIK Das Berliner Ensemble macht aus den Enthüllungen über sem Abend angesetzt. »Wir beginnen
rechtsextreme Ausbürgerungs- und Vertreibungspläne eine Bühnenshow. auch deshalb erst um 21 Uhr und las-
sen nichts ausfallen«, sagt er, »damit
uns niemand die Verschwendung von
n Krisenzeiten spielen Theater Steuergeldern vorwerfen kann.«
I mitunter wirklich die Rolle, die
Intendantinnen und Intendanten
sich in Sonntagsreden wünschen – sie
Auf der Bühne übernimmt die
Schauspielerin Constanze Becker, die
zu den Stars des Hauses gehört, zeit-
funktionieren als Marktplatz, Ver- weise die Rolle einer Rechtsberaterin.
sammlungsort der Nachdenklichen, Zwischendurch heißt es: »Das ist hier
Stätte eines Diskurses über Anstand nicht irgendeine Veranstaltung im
und Moral. Berliner Ensemble. Das ist hier nicht

Kolja Zinngrebe / Berliner Ensemble


Im Berliner Ensemble ist der Thea- die ›Dreigroschenoper‹.«
tersaal an diesem Mittwochabend voll Die Schauspieler Schubert und
besetzt. Der Regisseur Kay Voges und Andreas Beck übernehmen immer
Mitarbeiter des Rechercheverbunds mal wieder die Rollen von Erklärern
Correctiv präsentieren in einer sze- und Moderatoren. Sie sagen zum Bei-
nischen Lesung neue Details über das spiel, dass die scheußliche Vokabel
Treffen rechter Aktivisten mit Politi- »Remigration« schon seit 2018 zum
kern von AfD und CDU Ende No- Repertoire des AfD-Manns Björn
vember in einer Potsdamer Villa. Höcke gehöre. Auch werde das Wort
»Ich wünsche mir maximale Öf- Mitarbeiter angestellt – über die »Geheimplan gegen »Rasse« von Rechten gern durch
fentlichkeit für diese Recherche«, hat- Möglichkeiten, Informationen über Deutschland«- »Ethnie« ersetzt. Auch das sei, so
Aufführung in Berlin
te Voges kurz vor Beginn der Veran- Linke zu sammeln und im Netz zu heißt es, »Nazimarketingsprech«.
staltung in einem Radiointerview veröffentlichen. Im Vortrag des Es ist ein konzentriertes Theater-
gesagt, »damit die Leute Bescheid Müller-Darstellers heißt es nun ereignis, das an diesem Mittwoch mit
wissen, was sie wählen, wenn sie AfD zum Beispiel: »Wir können ermitteln minutenlangem Applaus gefeiert
wählen.« und verfolgen.« Und: »Jetzt haben wird. Im Publikum sitzt unter ande-
Was ist wirklich neu an diesem wir in Deutschland ja leider eine rem Michel Friedman und zeigt sich
Abend? Die Darstellerinnen und Dar- Gewaltenteilung. Und ich frage mich, hinterher angetan von der Arbeit der
steller, die bis auf eine Ausnahme als was wäre, wenn man Exekutive und Künstler und Journalisten. Der in
Hotel-Concierges kostümiert sind Judikative zusammendenkt. Histo- zehn »Szenen« gegliederte Text des
und wahlweise an einem gedeckten risch gibt es dafür ein Beispiel: die Abends, der weitgehend auf Gedächt-
Tisch oder an zwei Rednerpulten Gestapo.« nisprotokollen von Teilnehmern des
sprechen, berichten von dem Vortrag Es ist still im Theater, während sol- Rechten-Treffens beruht, wird in
eines Mannes, der wegen Körperver- che Sätze, die womöglich in Potsdam einer eilig hergestellten Druckfassung
letzung vorbestraft ist. geäußert wurden, vorgetragen wer- im Foyer verteilt.
Er spricht darüber, wie man die den. Viele der Menschen im Saal Natürlich darf man fragen, ob das
linke Szene bekämpft. Offenbar ha- scheinen fassungslos über das Hass- manchmal ironische Zelebrieren von
ben die Tagungsteilnehmer außer gerede zu sein. Manche wirken auch Hassreden nicht auch der Verbreitung
über Ausbürgerungs- und Vertrei- amüsiert über die Dummheit der solcher Reden Vorschub leistet. Die
bungspläne für Millionen Menschen Rechten, die sich da im November Künstler sind schlau genug, diese Fra-
auch über weitere Vorhaben und Stra- getroffen haben. Die Darstellerinnen ge auch auf der Bühne zu stellen. Auf-
tegien der Rechten geredet. und Darsteller auf der Bühne zeigen klärung gehe vor, finden sie.
Der Schauspieler Veit Schubert auf Bilder von Teilnehmern des Theatergeschichtlich kann man sa-
und seine Mitspieler betonen, dass er Rechten-Treffens: Fotos, die drinnen gen, dass die Bühnenshow an diesem
hier nur die Bühnenfigur des Mannes mit der Kamera in einer Armbanduhr Abend an ein Kurzdrama aus dem
spiele. Dann redet er in ironischem und draußen mit versteckten Kame- Jahr 1988 erinnert. Damals veröffent-
Singsang los: »Ich mach’s kurz. Ich ras gemacht wurden. lichte der österreichische Schriftsteller
mach’s knackig. Ich bin gewaltberei- Als berichtet wird, dass die Cor- Thomas Bernhard ein Werk mit dem
ter Neonazi. Zumindest, wenn man rectiv-Rechercheure ein Sauna- Titel »Der deutsche Mittagstisch«, in
den Linken glaubt.« boot angemietet hatten, um vom na- »Das ist hier dem es um das Fortleben des deut-
In seinem Vortrag spricht die Büh- hen See aus mit einem Teleobjektiv schen Herrenmenschendenkens geht.
nenversion des Mannes – er wird die knapp 30 Teilnehmer im Land- nicht die In dem absurden Stück zetert eine der
kenntlich als Mario Müller, lang- haus zu fotografieren, wird ein Bild ›Dreigroschen- Personen, die sich zum gemeinsamen
jähriger führender Kopf der »Iden- der benutzten Kamera mit Riesentele Mahl versammelt haben: »In jeder
titären« und derzeit im Büro eines gezeigt. Das Publikum reagiert mit oper‹«, sagt Suppe findet ihr die Nazis.«
AfD-Bundestagsabgeordneten als Jubel und Applaus. ein Darsteller. Wolfgang Höbel n

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Sigi Rothemund, 79 Shih Ming-teh, 83
NACHRUFE In seiner Karriere als Regisseur Um sein Land auf den Weg der
spiegeln sich rund 50 Jahre Freiheit zu bringen, opferte er
bundesdeutsche Film- und Fern- seine eigene. Er wurde 1941 im
sehgeschichte wider. Nach taiwanischen Kaohsiung gebo-
Anfängen als Assistent durfte ren, seine Kindheit war geprägt
Siegfried Rothemund mitten von der Grausamkeit des damals
im Bumskomödienboom bei über die Insel herrschenden chi-
»Geh, zieh dein Dirndl aus« mit nesischen Kuomintang-Regimes.
Elisabeth Volkmann 1973 erst- Als Sechsjähriger erlebte Shih
mals selbst Regie führen. Einen Ming-teh, wie Soldaten im 228-
seiner Beiträge zum Genre, »Es Massaker Tausende Taiwaner
war nicht die Nachtigall«, adelte ermordeten. Sein Vater wurde
Quentin Tarantino in seinem verhaftet und starb wenig später.
Podcast mit Vergleichen zu Anfang der Sechzigerjahre trat
Autorenfilmern wie Richard Shih offen für Taiwans Unab-
Linklater oder Éric Rohmer – hängigkeit ein. Die Kuomintang-
bloß liefere Rothemund auch Diktatur, die Forderungen nach
ab, was Sex angehe. »Leider hat taiwanischer Eigenständigkeit
Tarantino weder ›Die Einstei- nicht duldete, verurteilte ihn zu
ger‹ (gemeinsam mit Mike Krü- einer lebenslangen Haftstrafe,
ger) noch ›Big Mäc‹ (ein Total- von der er 15 Jahre verbüßte.
flop) gesehen«, sagte Thomas Nach seiner Freilassung wurde er
Gottschalk dazu, der in diesen eine der zentralen Figuren der
picture alliance / dpa

Filmen die Hauptrolle spielte – prodemokratischen Tangwai-


wie schon 1982 im Hit »Piraten- Bewegung, bevor er wegen des
sender Powerplay«. All diese Kaohsiung-Vorfalls von 1979
Werke inszenierte Rothemund abermals festgenommen und
als Siggi Götz, das Pseudonym
Elisabeth Trissenaar, 79 soll sich auf das Götz-von-
Viele Theaterbegeisterte nannten sie einfach »La Trissenaar«. Als Berlichingen-Zitat beziehen. Als
souverän in sich ruhende, kritisch mitdenkende und oft aufrei- Sigi Rothemund arbeitete
zend mondäne Schauspielerin war sie eine über Jahrzehnte hin be- der Regisseur fürs Fernsehen, er
wunderte Berühmtheit in der deutschsprachigen Theaterwelt. Sie inszenierte ZDF-Weihnachts-
wuchs in Wien auf und lernte die Schauspielerei am Max-Reinhardt- mehrteiler wie »Timm Thaler«

David Chang / picture alliance / dpa


Seminar. Dort begegnete sie einem Mitstudenten namens Hans (1979) oder »Silas« (1981), gro-
Neuenfels, der ihr Lebenspartner wurde. Aus Neuenfels, den sie ße Schulhofgesprächsthemen.
1965 heiratete, wurde ein oft sehr umstrittener Regisseur. In seinen Mit seriösen Fernsehspielen er-
Inszenierungen spielte sie, stolz und nachdenklich, praktisch alle arbeitete er sich den Ruf eines
großen Frauenrollen. Rainer Werner Fassbinder besetzte sie in Routiniers, der auch für das
seinem Film »Bolwieser« in einer Glanzrolle, im Salzburger »Jeder- florierende Privatfernsehen der
mann« war sie an der Seite von Klaus Maria Brandauer in den Neunziger Aufträge bekam.
Achtzigern die schöne Buhlschaft. »Wir sind uns über Gedanken nahe- Spezialist wurde er schließlich
gekommen. Über sich selbst oder den Partner zu sprechen wird für öffentlich-rechtliche Krimis,
doch irgendwann total langweilig und öde«, sagte Trissenaar in von »Peter Strohm« bis zu verurteilt wurde – wieder zu le-
einem Interview über ihren 2022 verstorbenen Gatten. »Aber sich den Donna-Leon-Verfilmungen, benslänglicher Haft. Im Zuge der
gemeinsam in der Sprache eines Dramas zurechtzufinden ist für von denen er von 2002 bis 2019 Demokratisierung kam Shih
uns Glück.« Elisabeth Trissenaar starb am 14. Januar in Berlin. HÖB 24 Folgen in Venedig drehte – 1990 frei. Er wurde Chef der auf-
mit regelmäßig mehr als fünf strebenden DPP, die für die tai-
Millionen Zuschauern. Sigi wanische Souveränität stand,
Maksym Krywzow, 33 Rothemund starb am 13. Januar brach in den Nullerjahren jedoch
Maksym Kr yvtsov / Facebook

Dichter kämpfen mit Worten, aber er hatte auch auf Menorca. FEB wegen eines Korruptionsskan-
ein Maschinengewehr. Maksym Krywzow war ein dals um Präsident Chen Shui-bian
ukrainischer Autor, der sich freiwillig zum Kriegs- mit der Partei. Später verrannte
dienst gemeldet hatte: 2014, als Russland die Krim er sich mit zunehmend bizarren
annektierte, 2022, als es die Ukraine überfiel. Oft Angriffen gegen seine einstigen
brachte er seine Katze mit an die Front. Vorigen Mitstreiter, etwa als er die heuti-
Sommer scherzte Krywzow, bedeutend werde er nur, ge Staatschefin Tsai Ing-wen auf-
wenn er im Krieg gegen Russland sterbe. Als sein Tod bekannt forderte, ihre Sexualität offenzu-
wurde, war sein einziger Gedichtband sofort ausverkauft. Krywzow legen. Mitunter schien es, Shih
dichtete bis zuletzt: »Mein Kopf rollt hin und her / … / aus meinen habe aus Verbitterung über sein
ausgerissenen Händen / werden im Frühjahr Veilchen blühen / … / politisches Schattendasein ins
mein Blut / wird die Welt erneut rot färben / … / meine Schrotflinte / prochinesische Lager gewech-
Rafalk / POP-EYE / IMAGO

wird rosten / armes Ding / meine Kleidung und Ausrüstung / wer- selt. Unvergessen bleiben sein
den Neuankömmlinge bekommen / ich wünsche mir schnell den Mut und sein jahrzehntelang
Frühling / um als Veilchen endlich / meine Blüten zu öffnen«. währender Kampf für die Demo-
Maksym Krywzow und seine Katze wurden von russischer Artillerie kratie. Shih Ming-teh starb
beschossen und starben am 7. Januar bei Charkiw. AKA am 15. Januar in Taipeh. CDI

Nr. 4 / 20.1.2024 DER SPIEGEL 117


PERSONALIEN

Uneitel statt
schön
Für ihre Rolle als berechnende
Milliardärstochter Shiv Roy in
der Serie »Succession« wurde
sie mehrfach ausgezeichnet, zu­
letzt mit einem Emmy als beste
Hauptdarstellerin. In vier Staf­
feln mit 39 Episoden versuchte
Shiv mit allen Mitteln, die Nach­
folge im Familienunternehmen
anzutreten. Das Bild hat sich
festgesetzt. Doch die Gefahr, für
immer auf einen Typ festgelegt
zu werden, hat die australische
Schauspielerin Sarah Snook, 36,
ziemlich eindrucksvoll gebannt.
Sie tritt ab Anfang Februar im
Londoner West End in einer
One­Woman­Show auf und ver­
körpert alle 26 Charaktere in
»The Picture of Dorian Gray«
nach Oscar Wildes gleichnami­
gem Roman. Darin geht es um
einen schönen jungen Mann, der
seine Seele preisgibt, um ewige
Jugend zu erlangen. Snook lie­
gen solche Eskapaden scheinbar
fern. Sie sagte der »Sunday

Mark Von Holden / Invision / AP / picture alliance / dpa


Times«, sie versuche, sehr be­
wusst zu vermeiden, ihrem
Äußeren zu viel Bedeutung bei­
zumessen. Denn wenn man das
tue und fürs Aussehen gefeiert
werde, frage sie sich: »Was pas­
siert, wenn es vorbei ist, was ja
der Fall sein wird? Was ist dann
dein Wert?« Auch Dorian Grays
Neigung zu Opiaten teile sie
nicht; ihre Schwäche seien eher
Gourmet­Supermärkte. KS

Oscar-Chancen diese Person etwas tut. Ge­ Robert Oppenheimer gelesen.


messen am Ergebnis, ist ihr das Darin wird Kitty von den Ehe­
Sympathie ist keine Kategorie, bei der Darstellung der Kitty frauen anderer Wissenschaftler
für die sich die Schauspielerin Oppenheimer im Erfolgsfilm als »eine der bösesten Personen,
Emily Blunt, 40, interessiert. »Oppenheimer« wieder einmal die sie je getroffen haben«, be­
Jedenfalls nicht, wenn es darum gelungen. Das findet auch die schrieben, so Blunt. Die brillan­
geht, eine Rolle zu erarbeiten. »New York Times« und sagt te Intellektuelle konnte sich nie
Ob die Figur, die sie darstellt, Blunt große Chancen auf eine entfalten. Blunt entwickelte Mit­
gemocht wird oder nicht, sei ihr Oscarnominierung voraus. Zur gefühl für diese Frau und erkann­
Michael Tran / AFP

völlig egal, sagte sie der »New Vorbereitung auf die Rolle hatte te ihre Komplexität: »Ich konnte
York Times«. Entscheidend sei, Blunt wie alle Mitwirkenden die stille Verzweiflung spielen,
dass sie den Charakter verstehe, die Biografie »American Prome­ die Unruhe und das unverschäm­
nachvollziehen könne, warum theus« über den Atomphysiker te Flair, das sie besaß.« KS

118 DER SPIEGEL Nr. 4 / 20.1.2024


Der Heimat- mig. Er habe nur einmal in sei-
nem Leben die Straßenseite
verbundene wechseln müssen, lästerte kürz-
Der neue Premierminister lich eine politische Widersache-
Frankreichs, der ziemlich popu- rin über ihren ehemaligen Kom-
läre Gabriel Attal, 34, hat eine militonen: »Vom sechsten ins
Schwachstelle, behaupten zu- siebte Arrondissement.« In den
mindest seine Gegner: einen be- sozialen Medien zirkulieren
grenzten Horizont. Zwar halten nun Paris-Karten, um die Theo-
die meisten Franzosen sein jun- rie vom beschränkten Erfah-
ges Alter in der Funktion eher rungsschatz zu untermauern.

David Dodd / Caters News Agency


für einen Vorteil, und seine Darauf sind die Stationen der
Homosexualität spielt bei seiner schulischen und beruflichen
Beurteilung keine große Rolle. Laufbahn des jüngsten Regie-
Doch Kritiker bemühen sich um rungschefs Frankreichs mar-
den Nachweis, dass Attal die kiert, und es fällt auf: Sie liegen
Alltagsprobleme der Franzosen im Umkreis von wenigen Kilo-
wohl kaum verstehen kann. metern rund um das schicke
Begründung: Er habe zu wenig Pariser Viertel Saint-Germain-
Lebenserfahrung, sein Hinter- des-Prés. Attals Weg in die gro- Danke, Kate agentur ein, heute kann man
grund sei zu privilegiert, sein ße Politik begann in der renom- sie für Veranstaltungen buchen.
Lebenslauf zu stromlinienför- mierten École alsacienne nahe Was schenkt man einem Super- Sie tut es als Nebenbeschäfti-
dem Jardin du Luxembourg, die model zum 50. Geburtstag? gung ab, keinesfalls sei sie ein
er von der Grundschule bis zum Juwelen, Blumenbouquets – echtes Model, sagte Ohnona,
Abitur besuchte. Danach zog es oder einfach ein Dankeschön, geschweige denn eines vom Ka-
ihn nur wenige Metrostationen wie es Denise Ohnona, 43, pro- liber Kate Moss’. Nach ihrem
weiter, an die Elitehochschule fessionelle Kate-Moss-Doppel- Unfall habe sie lange Zeit Angst
Sciences Po und später zum gängerin, ganz dezent über die gehabt: vorm Fliegen, davor,
Bildungsministerium, in dem er Londoner »Times« gemacht was Leute über sie denken,
2018 als Staatssekretär begann hat. Ihre Ähnlichkeit mit dem eigentlich fürchtete sie sich
und das er zuletzt als Minister Weltstar, der jetzt ein halbes vorm Leben insgesamt. Dass sie
leitete. All diese Orte liegen am Jahrhundert alt ist, fiel schon sich davon befreien konnte, lag
linken Seine-Ufer. Sein neuer auf, als sie noch ein Teenager auch an ihrem Job als Kate
Arbeitsplatz, der Amtssitz des war. Doch als Lookalike arbei- Moss und deshalb: »Ich finde,
Premierministers, befindet sich tet Ohnona erst seit sechs Jah- ich sollte Kate Moss dafür dan-
Christophe Petit Tesson / EPA

ebenfalls Rive Gauche, im 7. Ar- ren. Ein schwerer Autounfall, ken. Ich tue es von Herzen.«
rondissement. Der Élysée-Palast bei dem Ohnonas Gesicht ver- Leibhaftig begegnen möchte sie
allerdings liegt auf der rechten letzt wurde, hatte ihre Model- ihrer Doppelgängerin eher
Flussseite. Bleibt abzuwarten, karriere verhindert. Dann reich- nicht: »Ich habe mein eigenes
ob es Attal noch dorthin brin- te jemand ohne ihr Wissen Leben und möchte mich auf kei-
gen wird. PE Fotos bei einer Doppelgänger- nen Fall in ihres einmischen.« KS

Paartherapie royal? schen Komödie als nach realer


Regentenlogik. Andererseits:
Manche Paare fahren in den Noch 2016 hatte Margrethe eine
Urlaub, wenn es bröckelt. Ande- Abdankung kategorisch ausge-
re holen sich einen Hund, um schlossen, weil sie das Amt als
neue Gemeinsamkeit zu schaf- Lebensaufgabe begreife. Ihren
fen, oder machen eine Therapie. Sinneswandel erklärte sie nun
Die dänische Königin Margrethe, damit, dass eine Operation im
83, hatte, wenn man Gerüchten vergangenen Jahr sie zum Nach-
glauben möchte, eine andere denken angeregt habe: ob es an
Idee, um die angeblich ange- der Zeit sei, die Verantwortung
knackste Ehe von Prinz Frederik, an die nächste Generation wei-
55, und Prinzessin Mary zu kit- terzugeben. Royalreporter Phil
ten: Unter Königshausbeobach- Dampier bezeichnete es gegen-
tern kreist die Theorie, sie habe über dem britischen »Telegraph«
vor allem deshalb überraschend als »außergewöhnlichen Zufall«,
abgedankt, um ihre Schwieger- dass die Königin diese Einsicht
tochter mit dem neuen Königin- ausgerechnet kurz nach Auftau-
nentitel enger an die Familie zu chen der Gerüchte um ihren
Mads Claus Rasmussen / AFP

binden – Kronprinz Frederik soll Sohn ereilt haben soll. Er glaube,


Munkeleien zufolge nämlich die gemeinsame Regentschaft
eine andere Frau interessant fin- solle die ehelichen Differenzen
den, was diese allerdings demen- kitten – eine reichlich privile-
tiert. Das klingt einerseits eher gierte Form der Beziehungs-
nach dem Plot einer romanti- arbeit. ARÜ

Nr. 4 / 20.1.2024 DER SPIEGEL 119


BRIEFE Zeit zu handeln
Nr. 2/2024 Leitartikel: Die etablierten
Parteien brauchen endlich eine Strategie
gegen die AfD

Dem wohldurchdachten Aktions-


plan von Maria Fiedler wäre
nichts hinzuzufügen. Jedoch wird
liegen, hat er nichts zurückgege- dient gemacht, indem er die Fuß- er sich nicht umsetzen lassen, weil
ben. Mehrfach wurden bei ihm ballweltmeisterschaft 2006 nach in der Dreierkoalition jede Partei
massive Steuerverfehlungen fest- Deutschland holte und uns ein auf ihr Profil achten muss. Da die
gestellt, er wurde zu gravierenden Sommermärchen bescherte. Parteien noch nicht einmal ihre
Nachzahlungen verurteilt. Nicht Friedhelm Jansen, Hattingen (NRW) eigene Basis überzeugen können,
nur im Zusammenhang mit dem wird es wohl bei unausgegorenen
»Sommermärchen« gab es zahl- Franz Beckenbauer galt schon in Entscheidungen bleiben. Dabei
lose Ungereimtheiten in Becken- jungen Jahren als Phänomen. haben sie noch nicht gemerkt,
bauers Finanzgebaren. Körperlich weit Schwächere als dass sie selbst durch ihre gesell-
Joachim Goldmann, Güstrow er mussten damals den 18-mona- schaftsferne Politik unsere Demo-
(Meckl.-Vorp.) tigen Pflichtwehrdienst leisten. Er kratie gefährden und die Wähler,
aber entkam dem »Staub der Ka- die täglich um ihre Existenz
Elf Druckseiten für eine Hagio- sernenhöfe« und dem »Ehren- kämpfen, der AfD in die Arme
grafie eines verstorbenen Fuß- dienst fürs Vaterland«, wie der treiben.
ballspielers und -managers. Ein SPIEGEL 1968 spottete. Norbert Höpfner, Kronberg (Hessen)
Beitrag in der Rubrik »Nachrufe« Hans Rentz, Waging am See (Bayern)
hätte gereicht. Wer für seine/ihre Leider ist die Argumentation der
Trauerarbeit mediale Unterstüt- Die Verfasser der Nachrufe auf Autorin ebenso oberflächlich und
Beispiellose zung braucht, sollte sich den Franz Beckenbauer sahen sich zu kurz gegriffen wie das Verhal-
»Kicker« kaufen oder eine Wall- offenbar leider durch die Bank zu ten der sogenannten etablierten
Leistungen fahrt zur Beckenbauer-Abteilung einer Übererfüllung des (ohnehin Parteien in Deutschland. Ihr Fazit
Nr. 3/2024 Titel: Ein deutsches Märchen des Deutschen Fußballmuseums meist falsch verstandenen) »De ist hoffnungsgesteuert und wenig
unternehmen. mortuis nihil nisi bene« genötigt. realistisch – damit lassen sich we-
Ich war wirklich sehr gespannt, Heiko Gerdes-Janssen, Großheide Ich kann mich nicht daran erin- der tumbe Politik noch der fort-
ob der SPIEGEL die Geduld auf- (Nieders.) nern, in Nekrologen eine derarti- schreitende Klimawandel beein-
bringt, bis zum Erscheinen der ge Flut von Superlativen bei zu- drucken.
Printausgabe am Samstag an dem Beckenbauer ist Titelstory und Ti- gleich konsequenter Vermeidung Dirk Skorski, Deggingen (Bad.-Württ.)
wohl zwingend gebotenen Be- telseite wert – Wolfgang Schäuble all dessen, was auch nur den aller-
ckenbauer-Nachruf als Titel fest- war es nicht. Was ist aus dem geringsten Schatten auf das Le- Diese Analyse führt noch nicht
zuhalten. Die Nachricht von des SPIEGEL geworden? ben und Treiben der verstorbe- weit genug. Zum einen gehört zu
Kaisers Tod war da schon fünf Sven Eichel, Krefeld nen Person werfen könnte, ge- einer offenen inhaltlichen Aus-
Tage auf dem Markt und dessen lesen zu haben. einandersetzung auch, dass man
Leben bis in den letzten Winkel Für mich bleibt dank Ihrer her- Prof. Dr. Wolf-Rüdiger Heilmann, Berlin die ideologischen Widersprüche
ausgeleuchtet, alles dazu ge- vorragenden Recherche der Ein- der AfD viel stärker thematisiert,
schrieben und gesagt. Und doch: druck, dass dieser geniale Fuß- Wer so nassforsch feststellte, er wie zum Beispiel, dass man nicht
Es ist eine wunderbare Geschich- baller und diese große, charis- habe am Golf keinen Menschen gleichzeitig eine fremdenskepti-
te gelungen, frei von sattsam be- matische Persönlichkeit keinen in Ketten oder Handschellen ge- sche und eine wirtschaftsfreund-
kanntem biografischem Klein- Finger gerührt hat, ohne dass er sehen, der hat bewiesen, wie ele- liche Partei sein kann. Zum ande-
Klein. Kompliment. dafür gut bezahlt wurde. Gleich- gant er fünfe gerade sein lassen ren fehlt der ungemein wichtige
Winfried Weithofer, Wasserburg am Inn zeitig hat er sich in der Öffent- konnte. Punkt, dass die Ampelkoalition
(Bayern) lichkeit als ehrenamtlicher Orga- Hans-Peter Hahn, Berlin endlich die gerade bei den Le-
nisator der Fußball-WM 2006 benshaltungskosten immer noch
Franz Beckenbauer war ein ge- feiern lassen. Zudem hat er zur viel zu hohe Inflation bekämpfen
nialer Fußballer, eine absolute Aufklärung der Bestechungs- KORREKTUR muss, die vor allem die kleinen
Ausnahmeerscheinung und ein vorwürfe keinen Beitrag geleis- Zu »Ein Geschenk des Himmels« fleißigen Leute trifft.
hervorragender Trainer, ohne tet, sondern eher noch zur Ver- in Heft 1/2024, Seite 88: Bei Rasmus Ph. Helt, Hamburg
Frage ein Glücksfall für die deut- schleierung beigetragen. Das ist einem Aufenthalt auf dem Mond
sche und die internationale Fuß- unredlich und ändert sicherlich schlug der US-Astronaut Alan Warum denkt Frau Fiedler so
ballwelt. Dass der SPIEGEL sich den Blick auf den Charakter die- Shepard aus Spaß Golfbälle über richtig und konsequent – und
aber in großen Teilen der un- ses Mannes. Alles in allem blei- die Kraterlandschaft; allerdings nicht die Herren der Ampelkoali-
erträglichen Lobhudelei um die ben aber auch große Verdienste nur 22 beziehungsweise 37 Meter tion?
Person Beckenbauer anschließt, um den deutschen Fußball und weit – nicht viele Hundert, wie es Hans-Peter Mönch, Stetten (Bad.-Württ.)
macht mich wütend. Seit 1977 den Ruf Deutschlands in der Welt. falsch in unserem Text steht (und
war Herr Beckenbauer Steuer- Andreas Hynek, Würzburg wie Shepard selbst scherzte). Die Schlauheit des Fuchses be-
flüchtling. Fast 50 Jahre lang hat Außerdem hatten schon einige der steht zu 99 Prozent aus der
er keinen Pfennig oder Cent an Wer in einem korrupten Fifa-Sys- Apollo-Missionen die Sicherheit, Dummheit der Hühner. Wenn die
den deutschen Fiskus gezahlt. tem Erfolg haben will, muss sich zur Erde zurückkehren zu kön- AfD bei der Oberbürgermeister-
Dem Land, dem er alles verdankt systemrelevant verhalten. Trotz nen, sollte der Antrieb ausfallen, wahl in Pirna in einem zweiten
und dessen Menschen ihm in gro- alledem: Franz Beckenbauer hat nicht erst die Artemis-II-Mission, Wahlgang 38 Prozent bekommt
ßen Teilen zu Füßen lagen und sich auch um Deutschland ver- wie fälschlicherweise behauptet. und zwei demokratische Rivalen

120 DER SPIEGEL Nr. 4 / 20.1.2024


zu nehmen, denn der treuste
Nachdem wir jahr- »Alles Gutsch« schafft Das Schicksal eines Wegbegleiter der Gleichmacherei
zehntelang Plastik- es, mit wunderbar Einzelnen ist oft viel ist das Pauschalurteil.
müll, abgetragene unkorrektem Humor anschaulicher und Stefan Bargheer, Erfurt

Klamotten und Hähn- den Jahreswechsel verständlicher als Da hat mir der SPIEGEL im Be-
chenteile, die wir und die eklig kaltnas- eine Schilderung des streben um Ausgewogenheit allzu
nicht essen mochten, se Jahreszeit zu Großen und Ganzen. viel zugemutet – und sicherlich
nach Afrika verschifft skizzieren. Das tut Diese Ballade von nicht nur mir. Triefend vor aka-
demischer Überheblichkeit hul-
haben, sollen es jetzt gut bei all den Alexander Osang ist digen die Verfasser der vereinfa-
Migranten sein, die schlechten Nachrich- wenigstens ein chenden Einteilung in rechts und
wir dort loswerden ten, und die perma- kleiner Tropfen, wo links, Gut und Böse. »Aktivisti-
scher Kritik-Kitsch« – dieses
wollen. Diese traurige nente Anspannung ein Fluss von Tränen Urteil ist jenseits aller Seriosität.
Reihe spricht gegen löst sich auf angeneh- hingehört. Wer bei der Beurteilung der
unsere Moralität. me Weise. Frank Wunderlich, Nöbdenitz Eruptionen im Nahen Osten die
(Thür.) Sicht des Generalsekretärs der
Christoph Nitsche, Straßen- Anselm Müller-Gastell, Eltville
haus (Rhld.-Pf.) am Rhein (Hessen) Vereinten Nationen teilt, wonach
die hasserfüllte Brutalität der Pa-
Nr. 2/2024 Yahia Yassin wuchs lästinenser nicht im luftleeren
Nr. 2/2024 Die Bundes- Nr. 2/2024 Jochen-Martin im Norden des Gazastreifens Raum geschehen ist, der recht-
regierung prüft das Gutsch über eine Weltverbes- auf und starb offenbar bei einem fertigt damit auch das Mensch-
umstrittene »Ruanda-Modell« serung durch Winterschlaf israelischen Bombenangriff
heitsverbrechen der Schoa? Die-
se böswillige Zumutung verletzt
30 und 31 Prozent, was zusam- schwendet für dieses ausufernde, gilt das noch mehr. Und: Der mich zutiefst. Ist sich die Redak-
men 61 Prozent ergibt, dann ha- biedere Rumgeknigge. Das soll Duden klassifiziert die Bezeich- tion im Klaren, wie sie einen si-
ben die Demokraten ja wohl was der SPIEGEL sein? Oje. nung »Sprechstundenhilfe« als cher nicht unerheblichen Teil der
falsch gemacht. Wenn Demokra- Gisela Graf, Magdeburg veraltet. Medizinische Fachange- Leserschaft beleidigt, indem sie
ten in der heutigen breit gefächer- stellte (so die korrekte Berufsbe- einen solchen einseitigen Text
ten Parteienlandschaft in einer Ein Wort: Klasse! zeichnung) können sie als herab- veröffentlicht? Die Gleichsetzung
Stichwahl nicht in der Lage sind, Uwe Fuhrmann, Monschau (NRW) würdigend empfinden. Freundlich- von Kritik an Israel mit Antise-
stabile Allianzen zu schmieden, keit im Umgang mit MFAs kann mitismus ist allzu durchschaubar.
soll das wohl so sein. Der Artikel ist auch für mich in- sich also auch darin ausdrücken, Hans Neubig, Goldkronach (Bayern)
Ralf Heiligenthal, Ahrensburg (Schl.-Holst.) teressant, da er mir den Spiegel dass man sie nicht als Sprechstun-
vorgehalten hat. Ich habe noch denhilfen bezeichnet. Mit sehr gutem Willen kann man
Mir gefiel an Maria Fiedlers etwas gelernt. Ich fand ihn so gut, Eleonora Martini, Leonberg (Bad.-Württ.) den Artikel als Beitrag zur aka-
Leitartikel, dass sie die Zahlen dass ich ihn kopiert und an meine demischen Debatte über den Be-
bekannter macht – 37 Prozent ukrainischen Mieter (Mutter und griff »linker Antisemitismus« le-
in Sachsen würden laut einer 18-jährige Tochter) weitergeleitet Vereinfachende sen. Kritisch betrachtet ist er ein
Umfrage die AfD wählen – und habe. Diese Tipps sind für Men- weiterer Versuch, den Ausdruck
die Vorschläge für konkretes, schen, die aus einer Not heraus in Einteilung als Kampfbegriff gegen jede Kri-
schnelles Handeln der Politiker Deutschland leben müssen, sehr Nr. 2/2024 Die gefährliche Gleichsetzung tik an Israel zu instrumentalisie-
(Verlässlichkeit, Verständlich- wertvoll. von Konflikten ren. Richtig ist, dass die Kritik an
keit, Präsenz zeigen, den Bür- Manfred Berwanger, Barbelroth (Rhld.-Pf.) der israelischen Politik bei Linken
gern etwas zutrauen). Was mich In ihrem Gastbeitrag sehen Ar- sehr viel häufiger ist. Die Forde-
nachdenklich stimmte, war das Sagt Frau Wilkens ihrem Sohn min Nassehi und Irmhild Saake rung nach Gerechtigkeit ist das
übliche Schema: Die Politiker wirklich, er solle dazwischenge- die Symmetrisierung (landläufig Wesen eines linken Menschen.
da oben sollen es lösen. Ja, Poli- hen, wenn fremde Leute ihre Kin- auch »Gleichmacherei«) als Ursa- Das umfasst auch die Gerechtig-
tik ist unser gesellschaftlicher der anschreien oder handgreiflich che für linken Antisemitismus. keit gegenüber dem palästinensi-
Hebel. Aber wir alle bewegen werden? Was, wenn er sich dabei Von postkolonialer Theorie be- schen Volk. Einem Volk, das seit
und sind Politik. Ich finde selbst eine Ohrfeige einfängt? einflusst, hätten aus linken Mi- vielen Jahrzehnten verfolgt und
Deutschland in weiten Teilen un- Herbert Vogel, Hohenfels (Bayern) lieus stammende Akademiker vertrieben wird. Die Tat der Ha-
politisch. Einfaches, konkretes, hierzulande die Fähigkeit verlo- mas, die Ermordung der vielen
gesellschaftliches Handeln für Die großenteils beherzigenswer- ren, die Angriffe der Hamas zu israelischen Zivilisten, ist ein Aus-
die Demokratie und gegen anti- ten Verhaltensregeln wären an verurteilen, und setzten sie statt- bruch von Hass, der verurteilt
demokratische Parteien kommt zwei Stellen zu modifizieren: dessen mit der Rolle Israels im und verfolgt werden muss. Aber
viel zu kurz, und das rächt sich »Gib nur jemandem die Hand, Nahostkonflikt gleich. Empirisch Israels Bomben machen keinen
irgendwann. der eindeutig signalisiert, dass er gesättigte Beobachtungen werden Unterschied zwischen Hamas-
Martina Hetzel, Berlin das auch möchte.« Denn viele vermisst und als Gegenmittel für Kämpfern und Frauen und Kin-
haben sich im Zuge der Pandemie Gleichmacherei eingefordert. dern. Die Kritik an der israeli-
alternative Formen der Begrü- Doch genau solch eine empirisch schen Politik ist gerechtfertigt
Sehr wertvoll ßung angewöhnt. Bedenken we- gesättigte Analyse fehlt dem Anti- und kein Antisemitismus.
gen möglicher Infektionen sind semitismusvorwurf der Autoren. Richard Schärer, Öhningen (Bad.-Württ.)
Nr. 2/2024 50 Tipps für unbedingt zu respektieren, aber Kein einziges Beispiel wird ge-
gutes Benehmen
natürlich auch alle anderen per- nannt. Was bleibt, ist der Ver- Leserbriefe bitte an leserbriefe@spiegel.de
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
Unnötig, unpassend, läppisch, sönlichen Argumente gegen den dacht, dass die Autoren gut daran gekürzt sowie digital zu veröffentlichen und
peinlich – zwei volle Seiten ver- Händedruck. Für Umarmungen täten, von ihrer eigenen Medizin unter SPIEGEL.de zu archivieren.

Nr. 4 / 20.1.2024 DER SPIEGEL 121


L E TZ T E S E I T E

Schneller konzentrierter? HOHLSPIEGEL

Aus einer Rückblende im »Trierischen Volksfreund«:


ZEITREISE Ein Tempolimit sorge nicht für
weniger Verkehrstote, behauptete der SPIEGEL im Frühjahr 1974 –
und warnte vor »Sicherheitsideologen«.
Vom Presseportal der Polizei Hannover:
Nr. 4/1974: »Einer klebt hinter
dem andern« Aufhebung des »Gegen Mitternacht wurden mehrere
Tempolimits Menschen, die sich mit Feuerwerk
auf Autobahnen in die Verbotszonen begeben wollen,
Die Furcht war groß unter im März 1974 wiederholt durch die Einsatzkräfte
Westdeutschlands Auto- zurückgedrängt und dabei vereinzelt
fahrern, dass die in der mit Pyrotechnik beworfen.«

Rust / picture alliance / dpa


Ölpreiskrise beschlosse-
nen Tempolimits weiter
Beschreibung eines Schuhmodells auf amazon.de:
bestehen würden. Ob-
wohl Bundesverkehrsminister Lauritz
Lauritzen bereits mehr oder minder deut-
lich zugesagt hatte, dass man nach Wegfall
der Benzinknappheit wieder ungebremst
über Deutschlands Autobahnen fahren »unkontrollierten Handlungen«. Regelrech- Aus der »Pforzheimer Zeitung«:
dürfe, lieferte der SPIEGEL mit seiner Titel- te »Massenkarambolagen« seien die er- »Aber tatsächlich ist die Unzufriedenheit
geschichte eine wahre Suada gegen die wartbare Folge. Diese »unheilvolle Beruhi- mit der Bundesregierung nahe dem
Geschwindigkeitsbegrenzung. gung des Kraftfahrers« führe zu falschem Nullpunkt.«
Bei hohem Tempo, so die Hauptthese, Sicherheitsbewusstsein: »Die Leute sagen
sei die Konzentration höher als bei gedros- sich, nun fährst du 100, und das ist schon
An einer Straße in Türkenfeld (Bayern):
selter Fahrt, die Unfallgefahr beim Schnell- sicher genug«, so ein anderer Experte.
fahren daher nicht größer. Im Gegenteil: Auch konservative Politiker sahen
Immer wieder habe sich gezeigt, dass »sol- »Sicherheitsideologen« am Werk. So hätten
ches Kolonnenfahren eine starke nervliche die Franzosen – die mal 100, mal 120 Kilo-
Belastung darstellt«, werden Verkehrswis- meter pro Stunde fahren durften – »immer
senschaftler zitiert. Das »ewig gleichmäßige noch mehr Tote pro Fahrkilometer« als die
Fahren setzt die Reaktionsfähigkeit herab«, Westdeutschen. Techniker warnten vor den
wollte ein Stuttgarter Professor beobachtet Folgen eines Tempolimits für deutsche In-
haben. Die ausgebremsten Fahrer würden genieurskunst: Am Ende würde das zu Aus der »Lippischen Landes-Zeitung«:
unruhig, oft rücksichtslos und neigten zu »Wagen nach US-Art« führen. Rainer Lübbert
»Am Donnerstagnachmittag hatten Pro-
testanten einen Fähranleger im schleswig-
Jetzt will Wagenknecht genau prüfen, holsteinischen Schlüttsiel blockiert und
Sahras seltsame mit wem sonst sie sich noch irrtümlich ein- Habeck am Verlassen des Schiffs gehindert.«
gelassen haben könnte. »Mir ist zum Bei-
Kontakte spiel gerade zu Ohren gekommen, dass es Aus dem E-Paper der »Nordwest-Zeitung«:
ehemalige Parteifreunde geben soll, die
mit der Stasi Kontakt hatten«, sagte Wagen-
SO GESEHEN Wagenknecht will
knecht in der jüngsten Ausgabe der Talk-
Bekanntschaften prüfen. sendung »Volker Pispers & Gäste«. Zum Schild an einem Steg im Jachthafen von Meersburg
Glück habe sich der Kontakt aber mit der am Bodensee (Bad.-Württ.):
Nach Bekanntwerden eines lange andau- Gründung ihrer eigenen Partei Bündnis
ernden Kontakts mit einem berüchtigten Sahra Wagenknecht (BSW) nun erledigt.
Rechtsextremen erwägt die Parteigründerin Allerdings werde sie sich jetzt »genau an-
Sahra Wagenknecht eine grundsätzliche sehen«, wer in das BSW eintreten wolle:
Neuordnung ihrer Bekanntschaften. In der »Nicht ausgeschlossen, dass da auch Perso-
ZDF-Sendung »Lanz« hatte Wagenknecht nen auftauchen, die gegen Russland oder
berichtet, den Mitorganisator eines Ver- für Migranten Stimmung machen wollen.«
netzungstreffens von Rechtsextremen in Vorrangig sei nun aber eine Revision
Potsdam schon seit Jahren zu kennen. ihrer persönlichen Kontakte. »Bei mir Der »Gießener Anzeiger« über Reiserücktrittsversicherungen:
Dieser habe ihr immer wieder »nette melden sich so viele Menschen, dass ich gar
»Für sehr gute Familien-Jahrespolizisten,
Mails« geschrieben und auch nicht wissen kann, welchen Hintergrund
die Reisen bis zu einem Wert von 3000
einmal ein Abendessen mit die im Einzelnen haben. Man bemerkt so
Euro absichern, werden um die 150 Euro
einem Kabarettisten orga- etwas ja oft erst viel später«, sagte Wagen-
im Jahr fällig.«
nisiert, an dem sowohl er knecht. Kürzlich habe sie zum Beispiel zu-
als auch Wagenknecht fällig in einer TV-Dokumentation über die
teilgenommen hätten: Geschichte der Bundesrepublik ein bekann- Aus der »Süddeutschen Zeitung«:
»Dadurch hatte tes Gesicht entdeckt. Seither hegt Wagen-
er einen sehr knecht einen schlimmen Verdacht: Es könn-
guten Leumund te sein, dass ihr eigener Gatte einmal etwas
bei mir.« mit der SPD zu tun hatte. Stefan Kuzmany

122 DER SPIEGEL Nr. 4 / 20.1.2024

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