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6,95 EURO
4 196700 206951 Österreich, Benelux 8,00 € — Frankreich, Italien,
4 196700 206951
4 196700 206951 05 Spanien 9,10 € — Schweiz 10,90 CHF WI SSE N
4 196700 206951

Das

aus!
mich
macht

+ Test: Was ist Ihre dunkle Seite?

erkennen
Wie Sie das

der eigenen
Wesentliche

Persönlichkeit
September / Oktober 2019
WISSEN
NR. 05
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kombiniert 19,1; CO2-Emissionen in g/km: kombiniert 53.
 EDITORIAL


DAS SPIEL DES LEBENS

Für diese Männer waren die Karten das Wichtigste auf der Welt,
jedenfalls an den Abenden, an denen sie damit spielten. Eine
ernste Angelegenheit war das, bitte nicht stören. Mein Vater
spielte mit diesen Männern 50 Jahre lang beinahe jede Woche
»Schafskopfen«. Als er starb, legten sie ihm einen Blumenstrauß
aufs Grab, in den die Spielkarten wie besonders schöne Blüten
eingearbeitet waren. Das Herz-Ass, der Eichel-Ober ... Die Männer hatten gelegentlich
auch bei uns zu Hause gespielt. Für uns Kinder war das immer ein aufregender Abend.
Mein Bruder und ich steckten schon in den Schlafanzügen, das Esszimmer war gesperrt,
und wir hörten nur gedämpfte Stimmen, manchmal Gelächter. Zigarrenrauch lag in der
Luft. Aber wir waren dabei, wenn sie eintrafen, die Männer, wenn sie sich hinsetzten,
wenn die Weinflaschen geöffnet wurden, wenn meine Mutter belegte Brote auf den
Nebentisch stellte. Ich erinnere mich gut an einen solchen Moment – und einen denk-
würdigen Dialog. Einer der Spieler berichtete von einem Land, in das er gerade gereist
war: China. Das war damals eine Sensation. Seine Schilderung wurde aber bald von
einem der anderen Männer unterbrochen, der schon die Karten mischte:
»Karl, erzählst du jetzt von China, oder spielen wir Karten?«
»Darf ich wenigstens noch kurz die Städte aufzählen?« – »Wenn’s sein muss.«
Liebe Leserin, lieber Leser, seien Sie vorsichtig, wenn irgendwo Menschen Karten spielen –
sie wollen nicht abgelenkt werden. Es geht da um viel. Um Glück nämlich. Siehe Seite 48.

Andreas Lebert, Chefredakteur

Fotos Vera Tammen; Katrin Saalfrank; Adam Higton

AUS DER REDAKTION

Eva Wlodarek ist Psychologin und beschäftigt sich

seit vielen Jahren mit den hellen und dunklen Seiten
der menschlichen Seele. 1980 entwickelte sie den
ersten Psychotest für eine deutschsprachige Zeit-
schrift, die »Brigitte«. Für ZEIT WISSEN hat sie nun
drei Persönlichkeitstests entworfen (S. 26).
Titelillustration Adam Higton

Adam Higton ist ein Illustrator aus Bristol. Er ist vor

allem für seine Zeichnungen von psychedelischen,
folkloristischen Figuren bekannt, die er in seinem
unverkennbaren Stil abbildet. Vom ihm stammen das
Ausrufezeichen auf dem Cover und ein Fragezeichen
in der Titelgeschichte »Was macht mich aus?« (S. 16).


Wonne Die Schönheit der Schirme S."88
6 AM ANFANG DREI FRAGEN
1. Warum fahren Menschen gern
Karussell? 2. Haben Frisuren ver-
steckte Botschaften? 3. Welche
Farben machen attraktiv?
12 GEORDNETE VERHÄLTNISSE
Eine Infografik über Zauberei
14 JUNGES WISSEN, ALTES WISSEN
Oguz Senmeyvaci (19) und
Erhardt Pahlke (83) haben eine
große Leidenschaft: Fische
32 PREIS FÜR NACHHALTIGKEIT
Wer macht die Welt besser?
Nennen Sie uns Ihre Favoriten
34 »WIR BRAUCHEN MEHR CHAOS
UND MEHR STABILITÄT«
Das ZEIT WISSEN-Gespräch mit
dem Philosophen Anders Indset
42 STARK WIE EIN BAUM
Das Bauen mit Holz erlebt ein
erstaunliches Comeback – und
das nicht nur des Klimas wegen
INHALT
Spielen Karten machen glücklich S."48
48 LASST UNS KARTEN SPIELEN!
Uralt und weltumspannend:
Die Kulturgeschichte von Kreuz,
Pik, Herz und Karo
54 DIE GROSSEN DENKSCHULEN
Was Karl Marx uns heute noch
zu sagen hat – und was nicht
56 DUELL IN DER SONNE
Ungleiche Gegner: Im Süden
Italiens droht ein raffiniertes
Bakterium uralte Olivenhaine
unwiederbringlich zu vernichten
62 BESSER DURCHBLICKEN
Was wir von Experten lernen
können. Diesmal: Notarzt, Tester,
Hackerin, Friseurin, Personaler
68 WO FAHREN WIR DENN HIN?
Mobilität der Zukunft, Teil 2:
Eine Zeitreise zu den Straßen
im Jahr 2030
74 DAS EXPERIMENT
Unsterbliche Knetfiguren
Bauen Die Renaissance des Holzes S."42
Illustration Helen Ahpornsiri
76 DER UNTERGANG DES COWBOYS
Einst war der einsame Kämpfer
das Ideal des Mannes. Jetzt hat
er seinen Platz verloren
80 CITIZEN-SCIENCE
Fotos John Batho; Charles Ommanney / Getty Images; ICD / ITKE, Universität Stuttgart
83 DIE ZUMUTUNG
Wie funktionieren Revolutionen?
88 DER STOFF, AUF DEN
DIE SONNE BRENNT
Bunt und heiß: Der Fotograf
John Batho ist verliebt in die
Sonnenschirme eines Strandes
96 BUCHTIPPS / APPS
100 IMPRESSUM / DIE BESTE FRAGE
102 EINWURF:
DIE VERDÄCHTIGE ZEITLUPE
Fußballforschung: Verwirrt der
Videobeweis die Schiedsrichter?
105 DIE WELT AUS DER SICHT
EINER BANDSCHEIBE
 

16
DAS MACHT MICH AUS!
Wie findet man zur Quelle der eigenen Persönlichkeit? Indem man sich
selbst die richtigen Fragen stellt. Der Auftakt der neuen ZEIT WISSEN-Serie

+ PSYCHOTEST »Was ist Ihre dunkle Seite?« (Seite 26)

Unsere Recherchequellen: Studien, Bücher, Fachartikel und Dokumente, die wir für unsere journalistische Arbeit genutzt haben,
finden Sie online unter www.zeit-wissen.de/0519quellen. Zu diesen Texten: Am Anfang drei Fragen, Stark wie ein Baum,
Lasst uns Karten spielen!, Duell in der Sonne, Wo fahren wir denn hin?
 AM ANFANG DREI FRAGEN
1. Warum fahren Menschen
gern Karussell?
Immer im Kreis, wie als Kind! Die Begeisterung für
das Glück an der Kette hat nostalgische Gründe – aber
Hirnforscher kamen auch auf einen ganz anderen Dreh
Text Tobias Bug Foto Charlie Davoli
W
er ans Karussellfahren denkt, der
reist meist unweigerlich zurück in
die Kindheit: der erste Besuch auf
der Kirmes, der Geruch von Zucker-
watte, fröhliche Gesichter überall.
Und die Münzen, die man damals
in den schweißnassen Händen hielt, bis man sie end-
lich eintauschen durfte für den Jeton, der die Eintritts-
karte war – für die kreisrunde Fahrt ins Glück. »Wenn
der Wind durch die Haare weht«, sagt Margit Ramus,
»bedeutet das für mich ein Gefühl von Freiheit.« Sie ist
68 Jahre alt und Schaustellerin, seitdem sie denken
kann. In der sechsten Generation beschickt ihre Familie
Rummelplätze – unter anderem mit der »Jaguarbahn«,
die zum beliebten Karussell auf vielen Volksfesten in
Westdeutschland wurde. Die Faszination an der Ka-
russellfahrt besteht für Ramus aus einem Mix verschie-
dener Reize: »Es gleicht einem Rausch, inmitten der
vielen Gerüche und bunten Farben, der Bewegungen
und der Rummelmusik in den Ohren.«
Auch Hirnforscher haben eine Erklärung dafür,
dass Menschen gern Karussell fahren. Zum einen ist da
die Geschwindigkeit. »Die schnelle Bewegung führt zu
einer freudigen Erregung, der Körper schüttet Adrenalin
aus, wir haben Spaß«, sagt der Neurowissenschaftler
Emilio Kropff. Kropff war Teil eines Forscherteams, das
vor vier Jahren in Rattenversuchen die sogenannten
»Speed-Zellen« im Gehirn entdeckte. Diese Zellen sen-
den bei einer schnellen Bewegung laufend Signale aus.
Und zwar unabhängig von Umgebungsreizen: Ob die
Ratten im Hellen oder im Dunkeln liefen oder wie die
Umgebung beschaffen war, machte keinen Unterschied.
Die Forscher lokalisierten die Speed-Zellen in einem
System im Hippocampus, das Orientierung im Raum
ermöglicht. Sitzt man im Karussell, steigt aufgrund der

Bewegung die elektrische Aktivität dieser Zellen. Mit-
hilfe der Speed-Zellen – sowie mit visuellen Reizen – be-
rechnet unser Gehirn die Geschwindigkeit. Die visuellen
Reize kann man sich dabei aussuchen. »Bei der Karus-
sellfahrt hat man sehr viel mehr Spaß, wenn man den
umliegenden Rummel als Bezugssystem wählt, denn
dann bewegt man sich sehr schnell«, erklärt Emilio
Kropff. Starrt man dagegen auf den Bügel des Sitzes vor
sich, sitzt man eigentlich nur herum.
Neben der Geschwindigkeit macht auch die Bewe-
gung im Kreis die Begeisterung am Karussellfahren aus.
Sie führt zu einem Gefühl der freudigen Erregung. Doch
sie könne auch Schwindel auslösen, sagt Sandra Becker-
Bense, Neurologin am Deutschen Schwindel- und
Gleichgewichtszentrum in München. Schwindel ent-
stehe, wenn verschiedene sensorische Informationen
nicht übereinstimmen. »Sitzen wir etwa im Auto und
lesen, signalisiert unser visuelles System, wir seien nicht
in Bewegung. Gleichzeitig registriert unser Gleichge-
wichtssystem die Fahrtbewegung. Dieser Widerspruch
verursacht den Schwindel«, erklärt Becker-Bense.
Manche Menschen sind weniger anfällig für
Schwindel als andere, ihr Körper kann die widersprüch-
lichen Reize gut miteinander in Einklang bringen. Sie
haben dann auch eher Spaß an einer Karussellfahrt. Be-
sonders Kinder seien oft fasziniert, sagt Becker-Bense:
»Sie sind für ungewöhnliche Bewegungsreize einer Ka-
russellfahrt besser trainiert: Sie schlagen Purzelbäume,
hängen an Turnstangen, toben herum.« Erwachsene
dagegen eher nicht. Um den Schwindel im Karussell zu
reduzieren, hat die Neurologin einige Tipps parat: den
Kopf in Fahrtrichtung halten, sich anlehnen, Augen
offen halten und auf keinen Fall den Schließbügel vor
sich fixieren, sondern die Bewegung mitverfolgen. Und:
versuchen zu genießen, vertrauensvoll wie ein Kind. —
 AM ANFANG DREI FRAGEN
2. Haben Frisuren
versteckte Botschaften?
In den Sechzigerjahren standen Hippiemähnen für
neue Lebensformen, dann der Irokese für »No Future«.
Manchmal sind Frisuren aber nicht so leicht zu lesen
Text Stephanie Alvarez Foto Armand Tamboly
A
ls der Tyrann von Milet im Gefängnis des
persischen Königs saß, plante er einen
Aufstand, den sein Schwiegersohn Aris-
tagoras anführen sollte. Um diesem das
verdeckt mitzuteilen, schor er seinem
treuesten Sklaven den Kopf und täto-
wierte darauf: »Es ist Zeit für eine Revolte gegen die
Perser.« Nachdem die Haare nachgewachsen waren,
schickte er den Sklaven nach Milet, wo Aristagoras ihm
die Haare wieder schor und die Botschaft las. Das war
ungefähr im Jahr 500 vor Christus. Der Ionische Auf-
stand, den Aristagoras daraufhin entfachte, ging in die
Geschichte des antiken Griechenlands ein.
Haar ist von jeher und bis heute nicht nur ein
gutes Versteck für Botschaften, es ist selbst auch Aus-
drucksmittel und oft politisches Protestsymbol. Als zum
Beispiel die Sklavenschiffe im 18. Jahrhundert geraubte
Menschen in die Neue Welt brachten, trugen viele West-
afrikaner verdeckte Botschaften in ihren Haaren – etwa
Hinweise darauf, woher sie stammen, oder in Amerika
dann Fluchtwege für Neuankömmlinge. Hierzulande
galt in den Siebzigern kurzes Haar bei Frauen als Zeichen
gegen klassische Schönheitsvorstellungen und gegen das
Patriarchat, ebenso lange Haare bei Männern.
»Das Haar zu benutzen, um Widerstand auszudrü-
cken, ist keine neue Idee«, sagt Kristin Riedelsberger.
Die Ethnologin forscht an der Universität Kiel über
Körper- und Schönheitsvorstellungen. Bereits das Bil-
dungsbürgertum im 18. Jahrhundert rebellierte mit
seinen Frisuren gegen die Aristokratie. Der ausufernden
Mode und den gepuderten Perücken stellte das Bürger-
tum sein schlichtes Haar und eine »natürliche«, »tugend-
hafte« Schönheitspraxis entgegen. »Den künstlichen
Tand des Adels erklärte es zum Zeichen für Unzurech-
nungsfähigkeit«, sagt Riedelsberger.
Vom jeweils vorherrschenden Schönheitsideal abzuwei-
chen bedeutet allerdings nicht immer, dass man eine
Botschaft hat. Manchmal bedeutet eine Frisur auch
einfach gar nichts. »Welche Botschaften wir lesen,
hängt stark von unserem kulturellen Kontext ab«, sagt
die Historikerin und Anthropologin Hlonipha Mokoena
von der Witwatersrand-Universität in Johannesburg.
»Eine westliche Frau, die sich die Haare abrasiert, gilt
als rebellisch. In vielen afrikanischen Kulturen ist es das
Normalste auf der Welt, wenn Frauen sich die Haare
abrasieren.« Ebenso wie dicht am Kopf geflochtene
Zöpfe oder der sogenannte Afro: Für einen großen Teil
der Weltbevölkerung sind dies ganz normale Frisuren
ohne Aussage beziehungsweise ist es die traditionelle
Form, die Haare zu tragen. Im Internet finden sich
dennoch unzählige Berichte von Schwarzen, die etwa in
den USA wegen ihrer Zöpfe diskriminiert werden. In
Schulen, bei Vorstellungsgesprächen oder im Job werde
ihnen immer wieder von Weißen mitgeteilt, ihre Frisu-
ren wirkten nicht professionell genug, ungepflegt oder
zu urban. Berufliche Konsequenzen inklusive.
Der Gouverneur im US-Bundesstaat Kalifornien
reagierte darauf nun und unterzeichnete im Juli dieses
Jahres ein Gesetz gegen Diskriminierung von Menschen
mit natürlichem Haar, den Crown Act (Create a Respect-
ful and Open Workplace for Natural Hair). Die Bundes-
staaten New York und New Jersey folgten. Vor diesem
Hintergrund sind auch die zum Teil sehr empfindlichen
Reaktionen der Black Community zu verstehen, wenn
Prominente wie Kim Kardashian oder ihre Schwester
Kylie Jenner öffentlich mit fein geflochtenen Zöpfchen
auftreten und ihre Produkte vermarkten. Es erscheint
wie blanker Hohn, wenn ausgerechnet weiße Frauen mit
sehr viel Geld diese Frisuren als das tragen können, was
sie sind: Frisuren. Ohne große Botschaft. —

 AM ANFANG DREI FRAGEN
3. Welche Farben
machen attraktiv?
Tiere präsentieren ihre Farbenpracht und locken
damit die Weibchen in die Ehe. Das ist Teil ihrer
Biologie. Da stehen wir doch drüber. Oder?
Text Rebekka Gottl Foto Julian Charriére
D
as Goldammer-Männchen wirbt mit
seinem strahlend gelben Federkleid
um das Weibchen, der Pfau präsentiert
balzend sein blaues Gefieder, der
Fotos Julian Charrière und Julius von Bismarck, aus der Serie »Some Pigeons Are More Equal Than Others« / VG Bild-Kunst, Bonn 2019
Dompfaff imponiert durch seine rote
Brust. Die richtigen Farben beeindru-
cken potenzielle Partner: Das ist nicht nur in der Natur
so – auch uns prägt die Biologie. Und es ist eine ganz
bestimmte Farbe, die uns von klein auf anzieht: Rot.
»Es gibt kein besseres Kompliment als das Erröten
des Gegenübers«, sagt Axel Venn, ehemaliger Professor
für Farbgestaltung an der Hochschule Hildesheim.
»Eine rosige Gesichtsfarbe signalisiert Lebendigkeit und
Lust, sie wirkt sexuell anziehend.« Für eine Studie der
Universität von Westaustralien nahm eine Gruppe hell-
häutiger Männer zwölf Wochen lang Betacarotin-Prä-
parate ein, die gelbe und rote Farbtöne der Haut ver-
stärken – worauf sie deutlich besser bei Frauen ankamen.
Rot wirkt. Kein Wunder, dass Frauen gern mit Lippen-
stift, Rouge und roter Kleidung nachhelfen. Und das
funktioniert, zeigte der Psychologe Andrew Elliot von
der Universität Rochester. Er ließ männliche Probanden
die Attraktivität einer Frau beurteilen, die einmal im
roten, dann im blauen Oberteil auf dem Bildschirm auf-
tauchte. Mit der Frau in Rot wollten sich fast doppelt so
viele Männer treffen wie mit derselben Person in Blau.
Doch nicht nur rosige Wangen und rote Kleidung
werden als attraktiv empfunden. »Das Schönheitsideal
ist, in jedem Alter vital zu wirken«, sagt Axel Buether,
Professor für visuelle Kommunikation an der Universität
Wuppertal. Mit heller, leuchtender Kleidung unter-
streichen wir eine positive Ausstrahlung. »Farben wie
Gelb und Weiß wirken gesund und machen jung.«
In der Natur sind farbige Pigmente rar, weswegen
bunte Textilien lange Zeit kostbar waren. Die Farbe der

Kleidung zeigte daher den sozialen Status an: Gefärbte
Stoffe erschienen attraktiv – Purpurrot, Azurblau und
Goldgelb waren das Privileg des Adels. Das Volk trug
ungefärbte Schafwolle und Leinenstoff, Grau war die
Farbe der einfachen Menschen. Erst mit der Erfindung
synthetischer Farbstoffe im 19. Jahrhundert wurden
Farben auch für die Bevölkerung erschwinglich. Damit
wurde das ehemals seltene Indigoblau vom Luxusgut zur
Arbeiterfarbe degradiert. Das dunkle Blau ist nach Um-
fragen heute die Lieblingsfarbe der Deutschen und färbt
das Kleidungsstück der Massen, die Bluejeans. Ob als
Röhre, mit Schlag oder Stretch, mit der blauen Hose
kann man nicht viel falsch machen und unattraktiv
wirken – bei einer gelben Jeans wäre das schon anders.
»Jede Epoche hat ihre Farben«, sagt Venn. Das
gelte nicht nur für die Mode, sondern auch für die Pro-
duktgestaltung, die Malerei und die Architektur: »Auf
die weiße klassische Moderne folgte die Farbfülle der
Zwanzigerjahre, die Siebziger waren geprägt von orange
gemusterten Tapeten, und die Neunziger werden mit
blauer Inneneinrichtung assoziiert.« Momentan wohnen
wir am liebsten in warmen Rottönen, heißt es in einer
Studie. Das Farbunternehmen Pantone, das jedes Jahr
eine Trendfarbe kürt, hat Korallenrot zur Farbe des
Jahres gewählt. Es folgt auf ein kräftiges Lila und ein
mattes Grün. Auch die künftige Trendfarbe, prognosti-
ziert Venn, sei Grün. Die Botschaft: Wir legen Wert auf
Natürlichkeit, sind unabhängig und doch Teil einer
bewusst lebenden Gesellschaft. Dass Statussymbole wie
das Smartphone meist weder rot noch grün sind, habe
einen rationalen Hintergrund, sagt Buether. Der Wieder-
verkaufswert etwa schwarzer Geräte sei höher – denn
Schwarz gehe einfach immer. Das weiß übrigens auch
der Kragenparadiesvogel, der den Weibchen mit dem
tiefsten Schwarz des Tierreichs imponiert. —

GEORDNETE VERHÄLTNISSE

Zauberei Niederlande
Frankreich
Dass Dinge magisch verschwinden oder scheinbar
Russland
per Geisteskraft bewegt werden können, fasziniert
Menschen schon immer – wir zaubern mit Fakten 63!% Spanien
Deutschland
USA
Südkorea

38.503 »Accio!« Ungarn

Die meisten Zuschauer bei
einer Zaubervorstellung (Ehr-
lich Brothers 2016 in Frankfurt)
Häufigster Zauberspruch bei
Harry Potter (34-mal, ebenso
oft wie »Expecto Patronum!«)
Quellen Current Biology, FISM, Forbes, Google Ngram, Guinness Book of World Records,, Parship, Psychology of Magic,The Science of Magic Association (SOMA)
… der Teilnehmer einer Studie
sahen einen Ball verschwinden Grand-Prix-Siege bei den
– obwohl der Magier ihn noch Zauberweltmeisterschaften
verdeckt in der Hand hielt 1961–2018 (nach Nationen)

Männer
andere Pik-Ass andere Pik-Ass
17%%
25%% Herz-
Merlin
Ass

49%% 57%%
11%% Harry 21!%
Potter
14%% 10%%
Herz- Herz-
6%% Königin 5%% Königin Frauen
6%%
Herz-Ass
Herz-König Herz-König

»Nennen Sie eine Karte«, Bei der Bitte »Stellen Sie sich
bittet der Magier die Zuschauer. eine Karte vor« gewinnt das 16!%
Mehr als die Hälfte entscheidet Herz-Ass dazu, das Pik-Ass
sich für eine dieser vier Karten verliert dagegen deutlich

Gandalf … finden anlässlich

David Copperfield 61 Halloween Verklei-
Penn & Teller 30 1950 1960 1970 1980 1990 2000 dungen wie Hexe
Criss Angel 16 oder Zauberer
David Blaine 13,5 Die weltweit bestbezahlten Vergleichsanalyse: So oft werden die drei besonders attraktiv.
The Illusionists 12 Magier zwischen Juni 2017 und berühmten Zauberer Merlin, Gandalf und Erotischer wirken
Michael Carbonaro 8,5 Juni 2018 (nach Einkünften, in Harry Potter in den vergangenen Jahr- nur Domina- und
Derren Brown 8 Millionen US-Dollar) zehnten in deutschen Büchern erwähnt Stripper-Kostüme

300
Würfel
In der Fédération Internationale des Drache
Sociétés Magiques – dem Inter- 2%%
Spielkarten 8%% 2%% Zylinder
nationalen Verband Magischer Hasen zauberten
Gesellschaften – sind 30%% Walter Rolfo und
Hände 9%%
mehr als 80.000 Piero Ustignani
Magier aus über 100 2008 in Italien aus
Vereinigungen welt- einem Hut. Rekord!
weit organisiert
22%%
Tiere
(Taube, 27%% >50
Infografik Mirko Merkel

11 Zauberkünstler- Hase, Eule,

empirische Studien
6–7 organisationen Maus, Biene) Zauberstab
zur Wahrnehmung
pro Land
3–4 Diese Zauber-Requisiten und -Symbole von Zauberei gab
1–2 kommen auf den Wappen der Magischen es seit 2000 (1887–
0 Gesellschaften am häufigsten vor (Ausw.) 1999 waren es 12)
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 JUNGES WISSEN


ÜBER
FISCHE

Unser Experte:
Oguz Senmeyvaci,
19, hatte mit sieben
sein erstes Aqua-
rium, bald waren es
42 Fischbecken.
Er arbeitet als Bio-
logisch-technischer
Assistent im
Thünen-Institut für
Fischereiökologie
in Bremerhaven

D
ie Welt der Fische ist fas-
zinierend. Es gibt sogar
Arten wie die Guppys, die
lebendgebärend sind. Ihre
Eier entwickeln sich im
Mutterleib. Der Kampf-
fisch hingegen baut für seine Eier ein Nest
aus Schaum, den er selbst herstellt. Andere
Fische brüten ihre Kinder im Maul aus.
Anemonenfische, auch als Clownfische und
durch den Film Findet Nemo bekannt, leben
in enger Symbiose mit Seeanemonen. Tritt
ein männliches Tier die Nachfolge des
ranghöchsten Weibchens an, wechselt es
binnen einer Woche sein Geschlecht.
Das alles interessiert mich. Fische sind
unglaublich. Schade, dass man sie nicht
streicheln kann. Ich habe im Thünen-Institut
meinen Traumjob gefunden: Ich kümmere
mich um etwa 100 erwachsene Stichlinge
und 60 Zebrafische; dazu kommen noch
2500 Nachzuchten, so nennen wir die
jüngsten Fische, die kaum einen Zentimeter
groß sind. Ich versuche, alle Störungen von
ihnen fernzuhalten, damit sie bei uns ein
gutes Leben haben. Mit einer Pipette ent-
ferne ich regelmäßig ihren Kot, und ein
paarmal am Tag bekommen sie kleine Ur-
zeitkrebse zu fressen, die sehr nährstoffhaltig
sind. In einem Jahr werden sie groß sein. Mit-
hilfe der Stichlinge erforschen die Wissen-
schaftler dann, wie sich Mikroplastik im
Meer auf Fische auswirkt.
Viele Menschen kaufen Fische nur
nach Schönheit, aber ein Fisch aus dem ost-
afrikanischen Malawisee und einer aus dem
Amazonas vertragen sich nicht in einem
winzigen Aquarium. Ihre Lebensgrundlagen
sind zu verschieden. Grundsätzlich gilt: pro
Zentimeter Fisch ein Liter Wasser, aber
selbst das ist nur eine Faustregel; nicht nur
das Volumen, sondern auch die Form des
Beckens ist wichtig für das Wohlergehen der
Fische. Manche sagen: Der Fisch passt sich
dem Aquarium an. Ja, aber er leidet dann an
Kümmerwuchs.
Fische sind Individuen mit Charakter.
Ich hatte mal einen Wels, der hat sich auf
den Rücken gelegt, wenn ich ins Zimmer
kam. Mein Süßwasserrochen-Weibchen
schwamm am Rand, um mir zu signalisieren,
dass es Futter möchte. Mein großer Traum
ist es, im brasilianischen Rio Xingu zu
schwimmen, zusammen mit Potamotrygon
leopoldi, einer Süßwasser-Stechrochen-Art,
die eine schwarze Haut mit weißen Punkten
hat. Ihr Vorkommen ist durch ein Stau-
dammprojekt bedroht. Ich möchte sie retten,
indem ich sie nachziehe, so blieben sie
wenigstens der Aquaristik erhalten. —
 ALTES WISSEN


Aufgezeichnet von
Hella Kemper
Foto
Martin Josef Smolka,
Sven Sindt

Unser Experte:
Erhardt Pahlke, 83,
arbeitet seit mehr
als 60 Jahren als
Fischer auf Feh-
marn. Früher fuhr
er zusammen mit
seinen beiden
Brüdern auf einem
großen Kutter, auch
sein Vater war
schon Fischer

G
estern erst war ich drei, vier
Seemeilen vor der Küste
und habe aus meinen Stell-
netzen hundert Kilogramm
Dorsch geholt. Für die
kriege ich bei der Fischer-
genossenschaft 200 Euro. Früher konnte
ich so viel fischen, wie ich wollte. Und ich
konnte rausfahren, wann ich wollte. Dem
Fisch ist es schließlich egal, wann ich ihn
hole. Das war eine freie Fischerei, doch
dann kamen die Abwrackprämien für die
Kutter und die Fangquoten. Viele von uns
haben aufgegeben. Aber mir gefällt es, drau-
ßen auf See zu sein, da habe ich meine Ruhe.
Mein größter Feind ist der Kormoran.
Früher hatten wir hier auf Fehmarn zwei,
jetzt sind es sechstausend. Jeder von denen
braucht 400 Gramm Fisch am Tag. Er fängt
kleine Dorsche, so 30 Zentimeter groß. Bis
er einen packt, sind ihm sieben, acht Stück
weggeflutscht. Die verenden, und es wachsen
zu wenige nach. Wir bringen die kleinen
Dorsche zu Wissenschaftlern, die sie wie-
gen, messen und mit Kunststofffähnchen
markieren, um herausfinden, wie schnell sie
wachsen und sich vermehren – das finde ich
interessant. Der Dorsch ist ein Raubfisch,
der frisst alles, auch gekochte Kartoffeln und
sogar seine eigene Art. Wenn man den auf-
schneidet, findet man Reste von allem.
Der Aal mag dagegen längst nicht alles,
vor allem kein Aas, wie Günter Grass es in
der Blechtrommel erzählt. Der Aal ist emp-
findlich: Geht man mit Hering als Köder auf
Aal, und der Hering hat vorher auf Eis ge-
legen, beißt er nicht an. Der merkt das. Be-
neidenswert finde ich: Bei acht Grad Wasser-
temperatur macht er Winterschlaf und
verkriecht sich bis zum Frühjahr im Schlick.
Fische lernen schnell, sie reagieren auf den
Wasserdruck, der sich verändert, wenn
Schleppnetze durchs Wasser ziehen. Dann
hauen sie ab. Der Lachs ist auch feinnervig:
Wenn meine Hände nach Maschinenraum
riechen, und ich hantiere mit den Netzen,
geht der Lachs nicht rein. Als Fischer muss
man sich mit Kernseife waschen, Parfüm
und so was schreckt die Fische ab.
Lachse gibt es aber nicht mehr viele in
der Ostsee. Bei Bornholm haben sie noch
den Silberlachs, der hat einen Hängebauch
und kann 50 Pfund schwer und einen Meter
lang werden. Wir fangen hier stattdessen
Meerforellen. Die sind schlank und werden
nicht so groß, wir nennen sie Lachsforelle,
das hört sich besser an, ihr Fleisch ist aber
weiß wie beim Seelachs. Wenn ich ein Fisch
wäre, dann ein Lachs. Der ist schnell, er
schwimmt fast sieben Meilen pro Stunde. —


NEUE SERIE

WAS
MACHT
MICH
AUS
?



Text Vorname Name

Illustrationen Adam Higton, Vorname Name, Vorname Name

Ihr Leben ist die Generalprobe
für ein Stück, das ständig neu
geschrieben wird. Sie sind
Hauptdarsteller, Regisseur, Autor
und Bühnenbildner in einem.
Kein Wunder, dass da jeden Tag
ein paar Fragezeichen auftauchen
Text Sven Stillich
Illustrationen Adam Higton, Helen Ahpornsiri, Karan Singh
A
ls ich an meinem 50. Geburtstag schlafen
ging – nachdem also alle »Alter Sack«-
Witze gebührend gefeiert worden wa-
ren –, stand plötzlich eine Frage im
Raum. Ich hatte schon öfter über sie
nachgedacht, aber jetzt kam sie mir mit
einem Mal ganz nah. Sie setzte sich schwergewichtig
neben mich aufs Bett und fragte schnaufend: »Was für
ein Mensch bist du eigentlich? Was macht dich aus?«
Dass eine so große Frage ausgerechnet nachts auftaucht
und man deswegen wach liegt: Dafür muss man nicht
gerade ein alter Sack geworden sein. Das kann einem
als junger Sack oder mittelalte Säckin passieren, mit 20,
40, 60 Jahren. Mir half in den Stunden danach, dass
ich für mich bis zu diesem Moment schon etwas he-
rausgefunden hatte: Es ist meist vertane Zeit, in sich
nach der einen, alles umfassenden Antwort zu graben.
Man baut Tunnel und stützt Wände ab, aber man weiß
nie so recht, ob man auf dem richtigen Weg ist, und so
vergehen manchmal Jahrzehnte. Ich hatte irgendwann
lieber angefangen, nach den treffenden Fragen zu suchen,
die ich mir stellen könnte. Die kommen manchmal
leichtfüßig daher, ab und an stolpert man über sie, und
oft kommen solche Fragen auch angeschlendert, als
seien sie zufällig in der Gegend – aber wenn man sie
anspricht, merkt man: Man war verabredet.
»Was macht mich aus?«: Darauf werden Sie in
diesem Text also kaum Antworten finden. Wie auch?
Ein Artikel in einer Zeitschrift kann eine solch existen-

zielle Frage nicht für jede Leserin und jeden Leser be-
antworten – dafür ist sie viel zu persönlich, wir liegen ja
alle in unserem eigenen Bett. Aber vielleicht finden sich
ein paar Fragen, die helfen, uns selbst etwas näher zu
kommen – Sie sich und ich mir. Die wichtigen Fragen,
da glaube ich mir sicher zu sein, fangen übrigens eher
mit »warum«, »wann«, »wo« und »wer« an und nur
selten mit »wie« oder »wie viel«. Ich möchte vorschlagen:
Fragen Sie sich nicht, »wie liebevoll« oder »wie glück-
lich« Sie sind oder »wie viel Nähe« Sie wirklich brauchen.
Was soll dabei herauskommen? Ein Zahlenwert? 2, 4
oder 8 von 10? »In Sachen Extrovertiertheit bin ich eine
Vier?« Das ist eine Angabe, die ein Computer verarbei-
ten kann – aber an ihr ist nichts Wirkliches. Wie offen-
herzig Sie sind, wie gewissenhaft oder wie verträglich:
Was Sie im Kern ausmacht, ist nicht quantifizierbar.
Sich selbst hartnäckig »infrage zu stellen« ist im Ver-
gleich dazu schwieriger – und im besten Fall erkenntnis-
reicher. Was etwa würden Sie antworten auf: Warum ist
mir Nähe so wichtig? Wer fällt mir als Erstes beim Wort
»liebevoll« ein (und warum)? Wo oder wann bin oder war
ich glücklich? Warum? Und mit wem? Jede Antwort kann
die Tür öffnen zu einer Erkenntnis – oder einer noch
tiefer gehenden Frage. Es hilft, auf diesem Weg mutig,
ehrlich und beharrlich zu sein, denn wenn die Fragen
leicht zu beantworten sind, sind es die falschen (dazu
später mehr). Und Sie brauchen Geduld mit sich selbst.
Das kann sich lohnen. Denn vielleicht holen Sie etwas
ans Licht, was bislang verborgen war.


Dieser Text ist eine Spurensuche in drei Abschnitten. wir spiegeln uns, wir schwingen mit: »Säuglinge suchen
Es geht darin erstens um die Menschen in unserem nach Eindrücken, die sie in sich aufnehmen und zu einem
Leben, dann um die Dinge, mit denen wir uns um- Teil ihres Selbst machen können«, sagt der Neurowissen-
geben, und am Ende schauen wir auf die Geschichten, schaftler und Psychiater Joachim Bauer. Das Material
die wir uns und anderen über uns erzählen. Bildlich für unsere Bühne besteht aus Stücken der Persönlich-
gesprochen versuchen wir, ein wenig besser zu verste- keiten anderer. In seinem Buch Wie wir werden, wer wir
hen, was sich auf der Bühne unseres Lebens abspielt. sind zitiert Bauer den Philosophen Martin Buber – »Der
Dort führen wir ein Stück auf, solange wir atmen – und Mensch wird am Du zum Ich« –, und er meint das auch
wir schreiben es immer wieder um. Und wir können zutiefst biologisch: Die Erfahrungen, die wir mit Men-
uns fragen: Was sagen all die schen machen, wirken auf unser
Charaktere über uns aus, die Gehirn und steuern sogar, ob
auftreten, ihre Rolle spielen und einzelne Gene in uns aktiv wer-
wieder verschwinden? Was be- DAS MACHT MICH AUS den oder nicht. »Jede zwischen-
deuten die Requisiten, die wir menschliche Begegnung hinter-
Eine ZEIT WISSEN-Serie mit
auf die Bühne schleppen und lässt ihren Fingerabdruck in
drei Psychotests
wieder heruntertragen? unserer Grundarchitektur«, sagt
Es geht nicht um die Frage Bauer: »Unser Körper und unser
1. TEIL:
»Wer bin ich?« – denn wer wir Selbst werden auch sozial kon-
Wie sieht Ihre dunkle Seite aus?
gerade sind, ändert sich im Laufe struiert – und das fortwährend.
(diese Ausgabe)
des Stücks immer wieder. Hier Wir bespielen uns lebenslang.
geht es um die Basis: Aus wel- Unser Ich ist immer auch ein Du
2. TEIL:
chem Holz sind die Bretter ge- und ein Wir.«
Welche Masken tragen Sie?
schnitzt, die uns die Welt bedeu- (erscheint am 15. Oktober)
Wir sind dabei natürlich
ten? Warum läuft gerade dieses nicht willenlos. Je älter wir wer-
Stück und kein anderes? Warum 3. TEIL:
den, desto mehr können wir
ein Krimi, wo bleibt die Liebe? Was ist Ihnen wirklich wichtig?
mitentscheiden, was zu unserem
Die Menschen, mit denen (erscheint am 10. Dezember) Selbst gehören soll und was
wir Zeit verbringen, prägen uns nicht. Ab dem Moment, in dem
und unser Leben natürlich am wir als Kind lernen, »Nein« zu
meisten. Und das sogar schon, sagen, erlangen wir ein wenig
wenn wir noch gar nicht wissen, was Menschen sind und mehr Macht darüber, ob etwas, das über andere Men-
dass wir einer sein werden. Bereits vor unserer Geburt schen in uns drängt – Vorstellungen, Meinungen, Welt-
hören wir den Herzschlag unserer Mutter und nehmen bilder –, Teil unseres »Ichs« werden soll oder nicht. Ob
ihre Gefühle wahr. Wir zucken zusammen, wenn da etwas in uns verkapselt wird wie eine Fliege in Bernstein
draußen laut gestritten wird oder Teller gegen die Wand – »als etwas, das in uns bleibt, das wir aber bewusst von
fliegen. Spüren wir diesen Stress immer wieder, ahnen uns trennen können«, wie Bauer sagt – oder ob es sich
wir schon im Mutterleib: Das da draußen ist kein sicherer in uns auflöst wie Kakao in Milch. Dann wird es zu
Ort. Und das kann im Leben dazu führen, dass wir emp- etwas, das wir kaum mehr aus uns herausbekommen,
fänglicher sind für Ängste oder Depressionen – ohne höchstens mit professioneller Hilfe. Oder indem neue
dass wir etwas dafürkönnen. Einige Zeit später, als Baby, Erfahrungen ältere ein Stück weit überschreiben.
ist entscheidend, mit wem wir es zu tun haben: ob wir Je älter wir werden, desto mehr ist los gewesen auf
uns willkommen fühlen. Ob sich andere liebevoll um unserer Lebensbühne. Wir haben Akzeptanz erfahren
uns kümmern. Denn jetzt beginnen die Bauarbeiten für und Ablehnung, wir waren mal autonom, mal abhängig.
die Bühne, auf der wir die Welt interpretieren werden. Masken sind anprobiert worden und sind gefallen. Wir
Noch haben wir keine Ahnung, wer wir sind – aber wir sind uns verloren gegangen und haben uns neu gefunden.
tasten ohne Unterlass die Welt nach Zeichen ab, die über Wir haben Menschen gesucht, die zu uns passen, und
uns Auskunft geben: die Stimmlage der Mutter, die wir haben uns passend gemacht – »sagen Sie mir, wer
Berührungen der Großeltern, das Lächeln der Nach- Ihre Helden sind, und ich sage Ihnen, was für ein
barn. Wir imitieren Gesten, wir interpretieren Laute, Mensch Sie sein werden«, hat Warren Buffett klug

Manche Fragen kommen wie zufällig angeschlendert. Aber

wenn man sie anspricht, merkt man: Man war verabredet

Je älter wir werden, desto mehr können wir mitentscheiden,
was zu unserem Selbst gehören soll – und was nicht
gesagt –, und mit den Jahren hat unser Selbst ein Eigen-
leben entwickelt und einen dicken Vorhang genäht, der
die Bühne vor neugierigen Blicken schützt. Andere sehen
von uns nur noch das, was sie sollen, und auch wir kon-
zentrieren uns auf unsere besten Rollen. Das Gute: Wir
können unseren Motiven und Motivationen auf die
Schliche kommen, indem wir uns die richtigen Fragen
an uns ausdenken – jene, die etwas Licht auf unser
»Selbst« werfen. Hier sind ein paar Kostproben:
Bei wem bin ich am meisten »ich selbst«? Was
fällt mir leichter: Freunde zu gewinnen oder Freund-
schaften zu pflegen? Wann habe ich zum letzten Mal
jemandem geholfen, der nichts für mich tun konnte?
Welche Eigenschaften meiner Freunde hätte ich
gerne? Wer ist mir am wichtigsten: ich, du, er, sie, es,
wir, ihr – alle? Wen habe ich verlassen und es später
bereut? Welchem Menschen, der heute lebt, sollte
man ein Denkmal bauen? Von wem habe ich mein
schlimmstes Vorurteil? Worüber ärgere ich mich bei
anderen, um mich nicht über mich selbst zu ärgern?
Von wem hätte ich gerne mehr gelernt im Leben?
Was sollen Freunde in meiner Abwesenheit über
mich sagen? Bei wem müsste ich mich noch
bedanken oder entschuldigen? Vor wessen Tod
habe ich am meisten Angst? Wer hat mich am
meisten verändert? Kann man mir verzeihen?
Jede Antwort auf eine dieser Fragen kann ein Hinweis
darauf sein, was uns ausmacht. Und jedes auf die Ant-
wort folgende »Warum?« lässt neue Fragen aufscheinen.
Dabei gilt, und das ist wichtig: Kommt die Antwort
nur zögerlich, ist das ein gutes Zeichen. Ist eine Frage
zu leicht und zu schmerzlos zu beantworten, dann ist es
nämlich die falsche Frage. Dann empfiehlt es sich, ent-
weder die Frage umzudrehen (»Wen habe ich nicht ver-
lassen und es später bereut?«, »Vor wessen Tod habe ich
am wenigsten Angst?«) oder das Fragewort zu ändern.
Wo oder wann bin ich am meisten »ich selbst«? Ich zum
Beispiel habe herausgefunden, dass mir Respekt unge-
mein wichtig ist. Warum? Weil ich natürlich weiß, wie
sich Respektlosigkeit anfühlt. Deswegen hasse ich es
besonders, wenn ich mitbekomme, wie Menschen an-
dere respektlos behandeln, nur weil sie diese als »unter
ihnen stehend« ansehen. Dann zucke ich zusammen
wie der Fötus im Mutterleib. Und ich schäme mich zu-
tiefst, wenn ich bemerke, dass ich gerade selbst über-
heblich war. Sie sehen: Kurze Fragen können lange
Antworten nach sich ziehen. Und, wie gesagt: Das sind

nur Beispiele. Ihre Fragen stecken in Ihnen. Und Sie
werden merken, wenn es Fragen sind, mit denen Sie
verabredet sind. Wenn Sie mögen, können Sie sich
auch gemeinsam mit Freunden Fragen ausdenken. Das
kann großen Spaß machen, und vielleicht lernen Sie
ihre Freunde dann noch einmal ganz neu kennen. Wir
tendieren im Alltag ja dazu, andere Menschen als
Konstanten wahrzunehmen. Dabei hat der Philosoph
Thomas Metzinger doch recht, wenn er sagt: »Unser
Selbst ist kein Ding, sondern ein Vorgang.«
Von außen betrachtet, zeigen aber gerade die Dinge,
mit denen wir uns einrichten, wer wir gerade sind oder
wer wir gerade sein wollen. Die Bühne, auf der wir
unser Lebensstück inszenieren, wurde ja zum Teil von
uns selbst gestaltet. Und dass wir anhand der Dinge, die
wir besitzen, unserem »Ich« ein Stück weit auf die Spur
kommen können, liegt daran, dass es mit ihnen groß
geworden ist. Bereits im Alter von zwei Jahren verstehen
wir, was Besitz bedeutet: Das ist meins, das gehört zu
mir und nicht zu dir, und wenn du es mir wegnimmst,
fange ich an zu schreien. Mit sechs Jahren beginnen wir,
Objekte als wertvoller einzuschätzen, wenn wir sie be-
sitzen und kein anderer. Früh im Leben werden Dinge
auch zu einer Brücke zu anderen – und sie übernehmen
sogar Eigenschaften nahestehender Menschen. Wir lieben
zum Beispiel den Pullover unserer Mutter, in deren
Armen wir immer schnell einschlafen; auch wenn sie
nicht in der Nähe ist, müssen wir nur daran schnuppern,
um uns geborgen zu fühlen. Wenn wir größer werden,
sind Dinge noch wichtiger für uns: In einer Zeit, in der
alle anderen stärker sind als wir, in der uns alle stets etwas
zu sagen haben und nur wir sehr wenig, erfahren wir
durch Gegenstände zum ersten Mal ein Gefühl von Kon-
trolle. Da tragen wir den ganzen Tag unsere Puppe mit
uns herum, die immer nur die Kleider anzieht, die wir
ihr geben. Da halten wir uns einen Bären, der jederzeit
geknuddelt werden will, wenn uns danach ist. Da spielen
wir mit Actionfiguren, die keinen unserer Befehle ver-
weigern. Objekte werden zu Symbolen für Sicherheit
und Wirksamkeit. Wir erweitern uns in unsere Dinge
hinein. »Das Selbst eines Menschen ist die Summe all
dessen, was er sein Eigen nennen kann«, schrieb William
James bereits 1890 in den Prinzipien der Psychologie.
Die Wissenschaft unterscheidet zwischen Gegen-
ständen, die uns wichtig sind, weil wir mit ihnen etwas
besonders gut zustande bringen können – mein Taschen-
messer, meine Gitarre, meine Laufschuhe, mein Füll-
federhalter –, und Dingen mit symbolischem Charakter.
Persönliche Objekte wie Fotos, Briefe, Postkarten oder


gepresste Blumen erinnern uns an eine Begebenheit, an
eine Begegnung, sie werden mit Gefühlen aufgeladen
und überhöht; anderen Menschen muss die tiefere Be-
deutung erst erklärt werden. Andere Dinge symbolisieren
einen Erfolg (mein Diplom, mein Pokal, mein Zeugnis),
oder sie wirken nach außen und innen wie ein Spiegel:
Sie zeigen uns und anderen, wie wir uns gerne sehen
oder wer wir sein wollen – wir telefonieren mit ihnen,
tragen sie am Leibe oder fahren in ihnen herum. Hier
geht es in den meisten Fällen um Status materieller oder
sozialer Art – um das Dazugehören zu einer Gruppe
oder darum, eben gerade nicht dabei zu sein, es geht
um Selbstdefinition. Der Psychoanalytiker Tilmann
Habermas nennt diese Dinge »Identitätsobjekte«.
Forscher haben herausgefunden: Wenn wir Dinge
gar nicht mehr leiden mögen, wollen wir meist einen
Teil von uns abtrennen. Die Konsumforscherin Melissa
Martin Young hat Menschen zwischen 19 und 39 Jahren
befragt, aus welchen Gründen sie sich von Gegenstän-
den getrennt haben – und fast die Hälfte der Storys, die
sie erzählten, drehte sich um einen Rollenwechsel.
Young nennt Gegenstände, die uns etwas bedeuten,
»Requisiten«: Dinge, die auf der Bühne unseres Lebens
eine Funktion hatten oder haben. »Die werden nicht
nach Lust und Laune weggeworfen«, schreibt sie, »mit
sorgfältig kalkulierten Manövern werden Rollenüber-
gänge erleichtert und bestätigt. Diese erlauben es be-
wusst oder unbewusst, das Alte loszuwerden, um Platz
für das Neue zu schaffen.« Wobei: Oft haben wir Requi-
siten aber eben noch nicht weggeräumt, obwohl sie zu
Aufführungen gehören, die schon lange nicht mehr auf
dem Programm stehen. Oder Dinge liegen unausge-
packt herum, obwohl wir sie bereits vor Jahren erworben
haben. Die ganze Bühne steht voll – und zwar nicht aus
Versehen, sondern weil wir es so wollten oder wollen.
Das gilt für den teuren Kunstdruck an der Wand oder
die Urlaubsfotos am Kühlschrank genauso wie für die
zermahlenen Salzstangen in der Sofaritze oder die Pflanze,
die vor Wochen schon dringend Wasser gebraucht hätte.
Und jedes Requisit kann ein Gegenstand von Interesse
sein – vor allem wenn sich Fragen daran heften lassen,
die zu uns selbst führen. Zum Beispiel diese:
Was ist das älteste Ding, das ich besitze? Welcher
Gegenstand erinnert andere Menschen sofort an
mich? Was war das wichtigste Objekt, das ich je ver-
loren habe? Wann habe ich zuletzt etwas repariert?
Von welchem Gegenstand, den ich habe oder hatte,
dürfen andere nie erfahren? Wenn jemand meinen
Viele Dinge stehen auf meiner Lebensbühne herum: Welcher
Gegenstand erinnert andere Menschen sofort an mich?

Müll durchsuchte: Was würde er von mir denken?
Wenn jemand vor mir seinen Geldbeutel verliert: Aus
welchem Grund dürfte ich ihn behalten? Habe ich mir
so früher meine Wohnung vorgestellt? Was fällt mir
leichter: Dinge zu kaufen oder sie wegzugeben?
Wenn ich eine Schatzkiste füllen würde mit lieb ge-
wonnenen Gegenständen – was wäre darin, und wem
würde ich verraten, wo ich sie vergraben werde? Und
was würde ich in eine Zeitkapsel legen? Was habe ich
geliehen und nie zurückgegeben? Würde ich ge-
brauchte Schuhe tragen? Hatte ich schon mal ein
schlechtes Gewissen gegenüber einer Pflanze oder
einem Tier? Wovon hätte ich gerne etwas weniger?
Die Gegenstände, mit denen wir uns umgeben, sind
Teil unserer Geschichte geworden, und sie haben wie
Möbel Kratzer oder durchgesessene Stellen. Der älteste
Gegenstand, den ich besitze, ist wahrscheinlich ein
Stofftier, das schon auf mich gewartet hat, als ich ge-
boren wurde. Es ist eine weiße Katze, sie ist inzwischen
sehr zerknautscht, und ich weiß auch in diesem Mo-
ment genau, wo sie ist. Die Übrigbleibsel sind aber nie
die ganze Geschichte. Die Dinge, die nicht mehr da
sind, gehören auch dazu. Dennoch erzählen wir unser
Leben meist anhand des Vorhandenen.
Das gilt noch viel mehr für unsere Erinnerungen.
Denn das Gehirn ist sehr flexibel darin, was es erinnert
und was es vergisst: Mal merkt es sich alle Aufs und Abs
des Lebens im Detail, mal begradigt es ganze Land-
schaften. Es wirft Leben weg wie wir Dinge. Forscher
der Universität von Amsterdam haben herausgefunden,
dass wir uns am meisten an die Zeit zwischen zehn und
30 Jahren erinnern. Unter fünf Jahren verwehen unsere
Erinnerungen schnell, bis in die Mittzwanziger hinein
verdichten sie sich, danach erinnern wir uns wieder an
weniger. Die Wissenschaftler nennen die Zeiten, die wir
am besten überschauen können, »Erinnerungshügel« –
wir nennen sie später »die gute alte Zeit«: als sich die
Welt nur um uns drehte und wir uns daranmachten, in
ihr unseren Platz zu finden. Die meisten Erinnerungen
bilden wir als etwa 13 bis 14 Jahre alte Mädchen oder
als 15 bis 18 Jahre alte Jungs. Da hören wir die Musik,
die uns nie mehr aus dem Ohr gehen wird, sehen unver-
gessliche Filme und lesen die Bücher, die wir immer
lieben werden. Da entstehen »die Erinnerungen, die uns
besonders kostbar sind und die uns am lebhaftesten im
Gedächtnis bleiben«, schreibt die Psychologin Julia
Shaw: »Es sind die Erinnerungen, die uns zu denen
gemacht haben, die wir sind.«

Was macht mich aus? Was hat mich früher ausgemacht? Was
soll mich in Zukunft ausmachen? Das Gehirn ist da flexibel
Dieses »autobiografische Gedächtnis« an frühere Erleb-
nisse ist jedoch trügerisch. »Es bildet zwar das Material,
anhand dessen man sich selbst beschreibt«, sagt der
Gedächtnisforscher Rüdiger Pohl, »aber vieles erinnert
das Gehirn nur in Bruchstücken. Dann muss es sich
etwas zusammenreimen, das schlüssig wirkt und das es
dann glaubt.« Unser Gehirn mag keine Lücken, und
noch weniger mag es, wenn es seine eigene Geschichte
nicht versteht. Das Problem dabei: Jedes Mal, wenn wir
eine Erinnerung aus unserem inneren Speicher holen,
modifizieren wir sie aufgrund unserer heutigen Ansich-
ten und Kenntnisse – und speichern sie abgewandelt
wieder ab. Jedes Mal, wenn wir uns erinnern, verändern
wir unsere Vergangenheit in Nuancen. »Das merken Sie
gar nicht«, sagt Pohl, »Sie haben ja nur eine Erinnerung.«
Wir schleifen und hämmern und schrauben also
ständig an unserer Biografie herum, und die Erinnerun-
gen ordnen sich der Geschichte unter, die wir gerade von
uns erzählen. Bis die Vergangenheit wieder sinnvoll
erscheint, bis alles wieder richtig zusammenhängt und
die richtigen Gründe hat. Wir können uns unser Leben
lang immer wieder verändern, und unsere Erinnerungen
erklären uns dann, wie wir zu der liebenswerten, erfolg-
reichen, ängstlichen, einsamen, respektierten, klugen
Person geworden wurden, die wir heute eben sind.
Dafür sollten wir die Evolution eigentlich dringend mal
zum Essen einladen. Denn der Vorteil der wandelbaren
Biografie ist: »Wir können uns zu jedem Zeitpunkt mit
unserer Identität im Einklang fühlen«, sagt Pohl, »das
ist unverzichtbar für unser Glück.« Und wir werden
noch glücklicher, wenn unsere Lebensgeschichte uns
beweist: Du hast dich mit deinen Jahren immer noch
ein bisschen positiver entwickelt. Und wenn etwas
Gutes geschehen ist, hast du mitgewirkt. Zufälle, die
mag das Gehirn nämlich auch nicht. Es möchte gestaltet
und bewusst Entscheidungen getroffen haben. Es heißt
ja schließlich »Werdegang«.
Die meisten von uns sind nicht darin geübt, auf
das eigene Leben zurückzublicken und Spuren davon zu
entdecken, was sie ausmacht. Ich bin es auch nicht.
Überall rinnen die Jahre durch die Ritzen. Und es ertönt
im Leben eben nicht wie im Kino dramatische Musik
im Hintergrund, wenn etwas geschieht, das wichtig ist
für die weitere Handlung. Auch hier können die treffen-
den Fragen helfen, weil sie das Gehirn zwingen, neu zu
denken. Vielleicht erwischt man es sogar einmal dabei,
wie es versucht, einen Erinnerungskrümel unter den
Teppich zu kehren – weil die Wahrheit vielleicht zu sehr
schmerzen oder anderes infrage stellen würde. Vielleicht
entdeckt man dann unter dem Teppich noch andere
Dinge, die nicht zur Erzählung passen – oder einem ein
Lächeln schenken, weil man sich wieder frisch erinnert.
»Was macht mich aus?« zu fragen bedeutet ja auch, zu
erkennen, was einen vielleicht einmal ausgemacht hat.
Wer man einmal werden wollte. Wer man vielleicht
doch noch werden kann. Wie gesagt, das Gehirn ist da
ganz flexibel. Und jetzt muss es arbeiten:
Was habe ich erreicht, das ich nie von mir gedacht
hätte? Was habe ich als Kind angestellt, das bis heute
niemand weiß? Welche Art Fehler darf jeder machen?
Woran glaube ich heute, das sich in der Zukunft als
Irrtum herausstellen wird? Was aus meinem Leben
sollten eigentlich alle wissen? Würde ich mir auffallen,
wenn ich mir auf der Straße begegnete? Welchen
Vorteil habe ich mir erschlichen? Bereue ich eher das,
was ich getan, oder das, was ich nicht getan habe?
Habe ich das Recht, nur an mich zu denken? Welches
Ziel habe ich nie aufgegeben, obwohl ich weiß, dass
ich es nie erreichen werde? Was erzähle ich immer
wieder, obwohl ich weiß, dass es falsch ist? Wo würde
ich mich verstecken? Was müsste ich noch tun, damit
ich bereit wäre zu sterben? Wovor hätte ich gerne
weniger Angst? Kann man mich noch ändern?
Apropos ändern: Es geht nicht darum, sich zu ändern,
wenn man seinem »Selbst« nachspürt. Man kann Per-
sönlichkeiten nicht optimieren. Mir zumindest geht es
jetzt, nach meinem 50. Geburtstag, um eine Standort-
bestimmung. Und ich suche dabei die Leichtigkeit,
nicht die Schwere. Sonst kann alles schnell sehr schwer
werden, und dann hört man auf mit dem Nachdenken
und -fühlen. Es ist besser, ein wenig in sich herumzu-
schnüffeln, wenn gerade Zeit ist. An der Ampel zum
Beispiel. Beim Arzt im Wartezimmer. Bei einem lang-
weiligen Theaterstück. Oder während des Duschens.
Alles ist besser, als auf die richtige Zeit zu warten, die
nie kommt. Die richtige Zeit: Das könnte heute nach
Feierabend sein. Morgen nach dem Aufstehen. Oder
auch jetzt, hier, auf Seite 20 unten, ganz spontan:
Was kommt Ihnen eigentlich als Erstes in den Kopf,
wenn Sie über sich nachdenken? —
Sven Stillich hat bei Rowohlt das Buch »Was von uns übrig
bleibt – Wenn wir einen Ort, einen Menschen oder die Welt
verlassen« veröffentlicht. Er liest gerne Spuren, sammelt Dinge
mit Geschichte und freut sich immer über neue Erinnerungen.
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NEUE SERIE »DAS MACHT MICH AUS!«: PSYCHOTEST 1

B
öses und Gutes, wir tragen beides in uns.
Jeder Mensch hat seine dunkle Seite.
Nach C. G. Jung spricht man auch vom
»Schatten«. Er enthält die sozial uner-
wünschten Züge einer Persönlichkeit. Das
sind zum einen allgemein als negativ emp-
fundene Gefühle wie Wut, Neid, Gier, Eifersucht oder
Schadenfreude. Aber dazu gehören auch individuelle
Verhaltensweisen und Einstellungen. Sie kommen vor
allem dann zum Vorschein, wenn wir etwas unbedingt
haben und erreichen wollen; das können materielle
Dinge sein, aber auch Liebe, Anerkennung oder Erfolg.
Unter diesem Druck setzt man dann etwa unfeine
Mittel ein, reagiert nachtragend oder egoistisch. Kein
Wunder, dass wir uns bemühen, solche unschönen
Seiten vor anderen zu verbergen. Wir finden Ausreden
und Entschuldigungen oder tun so, als wären wir gar
nicht wütend, eifersüchtig oder schadenfroh. Als wären
wir in Wirklichkeit ganz anders. Oft kaschieren wir
unsere negativen Gefühle sogar so gut, dass sie uns
selbst nicht einmal mehr bewusst sind. Es ist aber
sinnvoll, unsere dunkle Seite genauer kennenzulernen.
Das gibt uns die Möglichkeit, etwas zu ändern. Denn
sie enthält eine Menge Energie, die sich positiv nutzen
lässt, sobald wir sie erst einmal ins Licht unseres Be-
wusstseins geholt und als Teil unserer Persönlichkeit
akzeptiert haben. Testen Sie hier, wie Ihre dunkle Seite
aussieht und was das für Sie bedeutet.

Test Dr. Eva Wlodarek

KREUZEN SIE IMMER DIE ANTWORT AN,
DIE AUF SIE AM EHESTEN ZUTRIFFT.
1. Sie leiten die Personalabteilung einer
Firma. Wie es der Zufall will, bewirbt
sich bei Ihnen eine ehemalige Kollegin,
die Ihnen seinerzeit das Leben schwer
gemacht hat. Sie …
 sagen süffisant: »So sieht man sich
wieder«, und weiden sich an ihrer
Unsicherheit. (B)
 lächeln freundlich, zeigen sich ver-
ständnisvoll – und machen hinterher
den Vermerk »ungeeignet«. (A)
 lassen durchblicken, dass Sie das da-
mals gar nicht gut fanden und jetzt
eine Entschuldigung erwarten. (D)
 machen sie genüsslich Punkt für
Punkt auf sämtliche Lücken und
Mängel in ihren Bewerbungsunterlagen
aufmerksam. (C)
2. Im TV-Krimi wird das Topmodel Ginger
tot aufgefunden. Kommissar Vitello ver-
hört vier Frauen, die ein Mordmotiv hät-
ten. Welche Reaktion der Verdächtigen
können Sie am besten nachvollziehen?
 Mia wird weiß wie die Wand. »Es ist
infam, dass Sie ausgerechnet mich ver-
dächtigen. Wer mich kennt, weiß, dass
ich so was nie im Leben tun würde.« (B)
 Elena stützt sich auf den Tresen, so,
dass Kommissar Vitello ganz zufällig ihr
makelloses Dekolleté bewundern kann.
»Ich bin unschuldig«, versichert sie. (A)
 Carine starrt den Kommissar fassungs-
los an. Ginger ist tot? Tränen treten ihr
in die Augen. »Ginger hat mir zwar
meinen Freund ausgespannt, aber das
hat sie nun wirklich nicht verdient.« (D)
 Carola sagt wütend: »Was habe ich
denn mit dem Mord an Ginger zu tun?
Und überhaupt, welche Berechtigung
haben Sie eigentlich, mich zu befra-
gen? Ihre Dienstmarke bitte.« (C)
3. Welche kleine Gemeinheit würden Sie
am ehesten begehen?
 Äußerst liebenswürdig zu jemandem
sein, den Sie in Wirklichkeit nicht aus-
stehen können. (D)
 Auf einer Party intensiv mit der attrak-
tiven Begleitung eines anderen Gastes
flirten. (C)
 Die Hilfe anderer herunterspielen, um
alle Lorbeeren zu ernten. (A)
 Eine Lüge auftischen, um vor jeman-
dem besser dazustehen. (B)
4. Das merkt doch keiner! Am ehesten …
 graben Sie im Park einen besonderen
Rosenstock für Ihren Garten aus. (D)
 verursachen Sie einen kleinen Schaden
an einem Gegenstand, um ihn billiger
zu bekommen. (C)
 schreiben Sie einem unsympathischen
Mitmenschen anonym einen fiesen
Kommentar auf seine Facebook-Seite.
(B)
 schnüffeln Sie im versteckten Tage-
buch Ihrer Teenager-Tochter. (A)
5. Ein bisschen hinterhältig sind Sie
schon, oder? Welche unschöne Tat
im Job würde wohl am besten zu
Ihnen passen?
 Von einer Geschäftsreise bringen Sie
Ihrem Chef etwas Besonderes für
sein Hobby mit – natürlich mit Hinter-
gedanken. (D)

 Sie blättern heimlich in Projektunter-
lagen Ihrer Kollegen und holen sich
dort ein paar »Inspirationen«. (A)
 Sie gaukeln dem Buchhalter Ihrer
Firma persönliche Sympathie
vor, um zu erfahren, was denn die
anderen so verdienen. (C)
 Bei Vorgesetzten lassen Sie durch-
blicken, dass das Privatleben Ihres
Konkurrenten in der Firma das reinste
Chaos ist. (B)
6. Bis heute gibt es die unwiderlegte
Anschuldigung, Mark Zuckerberg habe
die Idee für Facebook seinen Studien-
kollegen Cameron und Tyler Winklevoss
gestohlen. Was meinen Sie dazu?
 Da kann er noch so erfolgreich sein,
dieser Makel wird für immer an ihm
haften. (D)
 Die Brüder Winklevoss hätten sich
halt rechtzeitig viel intensiver dagegen
wehren müssen. (C)
 Nicht schön. Aber seine Milliarden hat
er schließlich durch eigenen Einsatz
verdient. (A)
 Ganz schlechtes Karma. Irgendwann
wird er noch mal richtig in Schwierig-
keiten kommen. (B)
7. Sie haben sich knochenhart hochgear-
beitet und sind stolz auf Ihre Position.
Da stellt Ihnen Ihr Chef ohne sachlichen
Grund Frau Dr. Tausendschön zur Seite,
frisch von einer Elite-Uni, aus reichem
Hause. »Sie beide sind sicher ein gutes
Team«, meint er. Bei Ihnen kommt Hass
auf. Wie gehen Sie mit Ihrer neuen
Kollegin um?
 Sie verbünden sich mit Ihren Kollegen
und Kolleginnen. Es sollen ja schon Leu-
te freiwillig wieder gegangen sein. (A)
 Sie bemühen sich, mit ihr eine Art
Freundschaft zu schließen, um sie
auf diese Weise außer Gefecht zu
setzen. (D)
 Sie enthalten ihr ein paar Informationen
vor, damit sie sich in der Konferenz
blamiert. (B)
 Sie drehen fachlich voll auf und
beweisen Ihre Unentbehrlichkeit. (C)
8. Natürlich haben Sie auch eine Schoko-
ladenseite. Welche zwei Eigenschaften
zeichnen Sie besonders aus?
 mutig (A)
 taktvoll (D)
 zuverlässig (B)
 sensibel (D)
 spontan (C)
 durchsetzungsfähig (A)
 verbindlich (C)
 fair (B)
9. Welchen Spruch über das Böse finden
Sie besonders gut?
 Wer nichts Böses tut, hat damit noch
nichts Gutes getan. (Karl Heinrich
Waggerl) (D)
 Auf böse Menschen ist Verlass. Sie
ändern sich wenigstens nicht. (William
Faulkner) (A)
 Das Böse, das der Mensch tut, fällt
wieder auf ihn zurück. (Jean-Jacques
Rousseau) (B)
 Das Gute – dieser Satz steht fest – ist
stets das Böse, das man lässt. (Wilhelm
Busch) (C)
10. Das Hotel ist überbucht. Nach einer
langen Fahrt stehen Sie mit einem Paar
an der Rezeption, das ebenfalls An-
spruch auf ein Zimmer erhebt. Sie …
 werden laut und machen einen Riesen-
wirbel, sodass man Ihnen entnervt ein
Zimmer gibt, um Sie zu beruhigen. (C)
 sind todmüde und haben keine Lust
auf eine stressige Auseinandersetzung.
Sie lassen sich anderswo unterbringen.
Morgen wird man weitersehen. (D)
 drohen, im Internet eine ganz schlechte
Bewertung für das Hotel zu verfassen
und notfalls die Presse zu informieren,
falls man Ihnen nicht umgehend ein
Zimmer gibt. (B)
 stecken dem Herrn an der Rezeption
unbemerkt einen Schein zu. Der regelt
das dann schon in Ihrem Sinne. (A)
11. Ihre große Liebe hat Sie sehr unschön
verlassen. Rache ist süß! Sie …
 drohen mit Selbstmord und machen ihr
ein fürchterlich schlechtes Gewissen. (D)
 klären den gemeinsamen Bekannten-
kreis über ihre verborgenen Schwächen
auf. (C)
 zeigen sie anonym bei der Steuer an –
und das wird teuer. (A)
 tun alles, um erfolgreicher und attrakti-
ver zu werden. Sie wird noch bereuen,
dass sie Sie verlassen hat. (B)
12. Im Geschäft unterhält sich das Ver-
kaufspersonal angeregt miteinander und
ignoriert Sie. Sie …
 unterbrechen das Gespräch und sagen,
was Sie wollen. (C)
 warten kurz, dann verlassen Sie den
Laden mit einem knappen Gruß. (D)
 sagen ironisch: »Wenn Sie Ihren
kleinen Plausch beendet haben,
würden Sie mir dann freundlicher-
weise helfen?« (B)
 schicken der Geschäftsleitung an-
schließend eine Mail mit dem Hinweis,
das Personal besser zu schulen. (A)
13. Sie sitzen in der Jury einer Casting-
show. Die Kandidatin, die gerade auftritt,
ist völlig talentfrei. Ihr Kommentar:
 »Liebchen, das hier ist eine Talent-
show.« (B)
 »Ich gratuliere dir zu dem Mut, dich
hier hinzustellen.« (C)
 »Vielen Dank. Dann üb mal fleißig bis
zum übernächsten Jahr.« (D)
 »Du bist weiter … auf dem Weg nach
Hause.« (A)
14. Ihr liebster Tagtraum:
 Mit Ihrem profunden Wissen entlarven
Sie einen überheblichen Typen als
ignoranten Schwätzer. (A)
 Als mal wieder jemand etwas von
Ihnen will, sagen Sie schlicht und
einfach Nein. Ohne das geringste
Schuldgefühl. (D)


 Jemand, der es verdient hat – Sie
wissen schon, wer! –, macht einen
Riesenfehler. (B)
 Sie übertrumpfen einen Angeber lässig
mit dem, was Sie zu bieten haben. (C)
15. Zeit für eine kleine Beichte. Was
könnte am ehesten auf Ihrem Sünden-
zettel stehen?
 Sie haben über jemanden schlecht
geredet, wohl wissend, dass das
seinem Ansehen schadet. (A)
 Sie haben etwas in den Müll geworfen,
was Ihnen jemand liebevoll gebastelt
hat. (D)
 Sie haben die Beherrschung verloren
und jemanden angeschrien. (C)
 Sie haben sich bei einem alten Freund/
einer alten Freundin nie mehr gemeldet,
obwohl Sie es versprochen haben. (B)
16. Die dunkle Seite der anderen. Welche
verurteilen Sie am meisten?
 Der amerikanische Finanzberater
Bernie Madoff hat mit seinem »Schnee-
ballsystem« das Geld von Tausenden
Menschen veruntreut. (C)
 Der deutsche Physiker Jan Hendrik galt
als nächster möglicher Nobelpreis-
träger – bis man feststellte, dass er die
Daten seiner Untersuchungen mani-
puliert hatte. (A)
 Der US-Anwalt Michael Cohen hat
im Wahlkampf für Donald Trump
Schweigegelder an Frauen gezahlt, mit
denen dieser eine Affäre hatte. (B)
 Der selbst ernannte indische Guru
Asaram hat unter dem Deckmantel
der Religiosität Anhängerinnen
missbraucht. (D)
17. Mafia-Boss Lucky Luciano sucht
einen Mitarbeiter für seine Kasinos in
Las Vegas. Wen soll er nehmen?
 Frank ist selten aus der Ruhe zu brin-
gen. Aber wenn jemand gegen die
Interessen der Firma handelt, reagiert
er scharf. (C)
 Sandy ist der Mann mit dem Super-
gedächtnis. Auch nach Jahren erkennt
er das Gesicht eines Schnüfflers oder
Betrügers wieder. (B)
 Gino ist diplomatisch und kann gut mit
Personal und Spielern umgehen. Damit
vermeidet er viel unnötigen Ärger. (D)
 Alfredo gibt sich als braver Bürger.
Niemand ahnt etwas von seinem
Doppelleben als gefährlicher Mafioso.
So kann er undercover frei agieren. (A)
18. Welche dieser Situationen regt Sie
am meisten auf?
 Sie wollen im Lokal bestellen, und der
Kellner übersieht Sie ständig. (A)
 In einem Streit mit anderen hält ein(e)
Freund(in) nicht zu Ihnen. (B)
 Ihr Partner/Ihre Partnerin wirft Ihnen zu
Unrecht ein Versäumnis vor. (D)
 Jemand schnappt Ihnen in einem Kauf-
haus rücksichtslos das letzte begehrte
Teil weg. (C)

TESTAUSWERTUNG

Zählen Sie zusammen, wie oft Sie A, B, C und D
angekreuzt haben. Ihre Auflösung finden Sie unter dem
Buchstaben, den Sie am häufigsten angekreuzt haben.
Haben Sie mehrere Buchstaben ähnlich häufig ange-
kreuzt, lesen Sie bitte zunächst Auflösung E.
A Ihre dunkle Seite: Heimlich gewinnen
Charmant und freundlich, sind Sie äußerst geschickt da-
rin, ohne großes Aufsehen die eigenen Interessen und Vor-
stellungen durchzusetzen. Was im Prinzip ja auch in Ord-
nung ist. Dunkel daran ist allerdings Ihr heimliches
Motto: »Der Zweck heiligt die Mittel« – der Staatsphilo-
soph Niccolò Machiavelli (geboren 1469 in Florenz), ein
Meister manipulativer Taktik, hätte seine helle Freude an
Ihnen. Überprüfen Sie doch einmal, wie oft Sie in der
letzten Zeit hier mal gezielt gelästert und dort mal eine
kleine Information zurückgehalten haben. Oder wo Sie
Ihr Netzwerk bemüht haben, um jemanden auszustechen.
Sie bleiben gern im Hintergrund und ziehen die Fäden.
Und Ihre Umgebung wundert sich, wie plötzlich manche
Dinge zu Ihren Gunsten zustande kommen. Fragt sich nur,
warum Sie so gern im Verborgenen agieren. Die Ursachen
können durchaus weit zurückliegen. Vielleicht haben Sie
schon früh die Erfahrung gemacht, dass es nichts bringt,
sich offen durchzusetzen. Weil »die Großen« doch immer
stärker sind. Oder Sie fürchten sich vor einem Scheitern in
aller Öffentlichkeit. Also setzen Sie Ihre Intelligenz ein, um
auf indirektem Weg Ihr Ziel zu erreichen.
Gewinn: Sie haben Einfluss, ohne sich zu weit aus dem
Fenster zu lehnen. Wenn es zum Offenbarungseid kommt,
können Sie immer noch Ihre Hände in Unschuld waschen:
»Da bin ich falsch verstanden worden.« Oder: »Das habe
ich so nie gesagt.«
Gefahr: Auf die Dauer schaden Sie sich mit Ihren ver-
deckten Aktionen. Über kurz oder lang kommt Ihr Bei-
trag zum Status quo ja doch heraus, und dann verlieren Sie
an Vertrauen.
Rat: Geschickt zu manipulieren ist durchaus eine Fähigkeit.
Nutzen Sie sie positiv, und verwandeln Sie Ihre dunkle Seite
in kluge Diplomatie. Dann können Sie es angstfrei riskie-
ren, offen zu sagen, was Sie möchten oder was Ihnen nicht
passt. Weil Ihnen das niemand übel nehmen wird.
B Ihre dunkle Seite: Niemals verzeihen
Normalerweise zeigen Sie Ihre helle Seite. Sie sind unkom-
pliziert im Umgang. Im Job verhalten Sie sich kollegial,
und im Privatleben stehen Werte wie Freundschaft und

Loyalität für Sie hoch im Kurs. Klingt alles gut, nicht
wahr? Aber Vorsicht, jetzt kommt die dunkle Seite: Sie
können sehr böse werden, wenn man Sie kränkt. Wer Sie
hintergeht, Ihre Kompetenz anzweifelt, Sie ausnutzt oder
herablassend behandelt, wird es bitter bereuen. Ab sofort
ziehen Sie sich innerlich und – wenn möglich – auch äu-
ßerlich zurück. Von Ihnen darf dieser Mensch nichts
mehr erwarten, weder Zeit noch Verständnis oder Unter-
stützung. Diejenigen sind meist ahnungslos und fragen
sich, was sie denn getan haben, um sich Ihr Wohlwollen
zu verscherzen. Doch das werden sie nie erfahren. Aus ist
aus. Möglicherweise reagieren Sie auch nicht unmittelbar,
aber Sie vergessen keineswegs. Sie warten in Ruhe ab, bis
Ihre Zeit kommt. Nach dem Motto »Man begegnet sich
im Leben immer zweimal« zeigen Sie auch noch nach
Jahren, dass man Sie keinesfalls unterschätzen darf.
Gewinn: Sie sorgen für Ihr inneres Gleichgewicht, so wie
die englische Redewendung sagt: »Tit for tat«, im Deut-
schen »Wie du mir, so ich dir«. Außerdem ist Rache süß
und schmeckt auch kalt genossen.
Gefahr: Sie hängen alten Verletzungen zu lange nach. In-
dem Sie sich die Kränkung immer wieder vor Augen führen,
rauben Sie sich viel Energie. Zudem tut es Ihrem Selbst-
wertgefühl nicht gut, sich als Opfer zu sehen.
Rat: Setzen Sie frühzeitig Grenzen, wenn Ihnen etwas
nicht passt. Wehren Sie sich selbstbewusst sofort gegen
Killerphrasen, Arroganz und Abwertung. Dann staut sich
auch nichts auf.
C Ihre dunkle Seite: Sich mit Ego durchsetzen
Für gewöhnlich begegnen Sie anderen aufmerksam und
rücksichtsvoll. Aber: Ihre Contenance ist meist vergessen,
wenn Sie etwas wirklich haben wollen. In dem Fall ziehen
Sie sämtliche Register, um es zu bekommen. »Dunkle Seite«
würden Sie das natürlich niemals nennen. Sie bezeichnen
das lieber als »gesunden Ehrgeiz« oder »Zielstrebigkeit«.
Tatsächlich ist das, was Sie dann veranstalten, gar nicht
nett. Im Job übergehen Sie schon mal Kollegen, indem Sie
sich direkt an die Chefetage wenden und sich für das neue
Projekt vorschlagen. Darauf angesprochen, kontern Sie:
»Noch nie etwas von Self-Marketing gehört?« Im Privat-
leben drehen Sie richtig auf, wenn es sich um etwas handelt,
das Ihnen besonders wichtig ist. Dann bearbeiten Sie Ihre
Umgebung so lange und powern mit Überzeugungskraft,
bis alle entnervt nachgeben, etwa bei der Urlaubsplanung.
Das gilt aber auch bei Kleinigkeiten. Sie können ziemlich
fordernd werden, wenn man Ihnen im Lokal einen
schlechten Platz zuweist oder Sie an der Kasse im Geschäft
zu lange warten müssen. Sobald Sie Ihr Ziel erreicht haben,
sind Sie wieder liebenswürdig wie eh und je.
Gewinn: Mit Ihren Auftritten machen Sie auf sich auf-
merksam und übertrumpfen damit alle zurückhalten-
den, angepassten oder ängstlichen Mitbewerberinnen
und Mitarbeiter. Da in der Regel diejenigen etwas krie-
gen, die am lautesten schreien, erreichen Sie (in den
meisten Fällen), was Sie wollen.

Gefahr: Der Effekt kann sich ins Gegenteil verkehren.
Manche Menschen macht ein forsches Verhalten aggressiv,
und sie reagieren darauf ablehnend. Es ist auch gut mög-
lich, dass man Sie als cholerisch oder zickig abstempelt.
Rat: Versuchen Sie es auf entspannte Art. Wiederholen Sie
regelmäßig das Mantra »Ich bin fair« oder auch »Ich bleibe
gelassen«. Sie werden sehen, dass Sie auch ohne Drama
und ausgefahrene Ellenbogen ganz schön weit kommen.
D Ihre dunkle Seite: Zu gut für diese Welt
Sie sind so liebenswürdig, dass es einem Tränen der Rüh-
rung in die Augen treibt. Im Job sind Sie wahrscheinlich
die gute Seele oder der Fels in der Brandung. Sie haben
immer ein aufmunterndes Wort parat, sind diszipliniert,
zuverlässig und fair. Im privaten Bereich sieht es nicht
anders aus. Sie trösten die beste Freundin, helfen beim
Umzug, hören zu.
Aber wo bleibt Ihre dunkle Seite? Die ist so gut versteckt,
dass Sie sie selbst kaum finden. Nur manchmal zeigt sie
sich ganz zart: Wenn andere Lorbeeren ernten, die keines-
wegs mehr können oder die weniger Einsatz zeigen als Sie,
aber die bessere Selbstdarstellung haben, dann hadern Sie
schon mal mit der Ungerechtigkeit. Aber schließlich beru-
higen Sie sich wieder. Wie die möchten Sie denn doch
nicht sein, so oberflächlich, eitel oder egozentrisch. Gele-
gentlich wundern Sie sich, dass Menschen in Ihrer Umge-
bung ausgerechnet dann keine Zeit haben, wenn Sie selbst
jemanden brauchen. Schließlich haben Sie seinerzeit doch
Ihre eigenen Bedürfnisse für sie zurückgestellt. Aber na ja,
letztlich haben Sie auch dafür Verständnis.
Um noch einmal auf Ihre dunkle Seite zurückzukommen:
Wenn Sie tief in sich hineinhören und ganz ehrlich sind,
ist da nicht doch manchmal Wut, Neid oder Eifersucht?
Na also!
Gewinn: Jeder schätzt Sie, Sie sind beliebt. Was auch
kein Wunder ist, denn Sie sagen selten Nein und geben
sich große Mühe, die Anforderungen, die an Sie gestellt
werden, perfekt zu erfüllen.
Gefahr: Sie lassen sich leicht ausnutzen. Das führt auf die
Dauer zu seelischer, geistiger und auch körperlicher
Überlastung.
Rat: Achten Sie unbedingt auf Ihre Balance. Wer von
Ihnen etwas will, muss auch seinerseits etwas dafür geben.
Das kann zum Beispiel etwas Zeit sein, eine tatkräftige
Unterstützung, Zuhören oder eine kleine Hilfestellung.
Fordern Sie es deutlich genug ein. Keine Sorge, das ist
nicht dunkel, sondern steht Ihnen zu.
E Ihre dunkle Seite ist variabel
Dass sich Ihre dunkle Seite nicht eindeutig bestimmen
lässt, liegt an Ihrer Flexibilität. Wie weit Ihr Spektrum
reicht, erfahren Sie, indem Sie die Auflösung unter den-
jenigen Buchstaben lesen, die Sie gleich oder ähnlich
häufig angekreuzt haben. Überlegen Sie anhand der Be-
schreibungen, welche Eigenschaften Sie beibehalten oder
ändern möchten. —
IDEEN FÜR EINE BESSERE WELT
Wer soll einen Preis bekommen?
Wir suchen Menschen,
Initiativen, Unternehmen,
Bildungseinrichtungen
und Start-ups, die einen
besonderen Beitrag für
eine nachhaltige Entwick-
lung leisten. Denn auch im
kommenden Jahr wollen
wir wieder den ZEIT WIS-
SEN-Preis »Mut zur Nach-
haltigkeit« vergeben – und
zwar in den Kategorien
»Wissen«, »Handeln« und
»Durchstarten«. Die Preis-
träger erhalten je 10.000
Euro Preisgeld. Verliehen
wird der Preis von den
Trägern der Initiative »Mut
zur Nachhaltigkeit«, dem
Magazin ZEIT WISSEN und
der Aurubis AG. Die Preis-
träger der vergangenen
acht Jahre zeigen, wie sich
die Kluft zwischen Wissen
und Handeln schließen
lässt. Sie geben Impulse,
um unsere Gesellschaft
nachhaltig zu gestalten –
wie das Start-up »Too
Good To Go«, mit dessen
App Verbraucher Lebens-
mittel kaufen, die sonst im
Müll gelandet wären.
Auch der Klimaforscher
Stefan Rahmstorf wurde
für sein Engagement be-
reits ausgezeichnet.
Bewerber in der Kategorie
»Wissen« zeichnen sich
durch ein Engagement
oder einen Durchbruch in
Forschung oder Wissens-
vermittlung aus. Für den
Bereich »Handeln« suchen
wir engagierte Firmen oder
Initiativen. Und in der
Kategorie »Durchstarten«
werden junge Unterneh-
men mit innovativen und
skalierbaren Geschäfts-
modellen nominiert.
Entscheidend in allen
Kategorien ist der Nutzen
für eine nachhaltige Ent-
wicklung – ob ökologisch,
sozial oder gesellschaftlich.
Wer verdient aus Ihrer
Sicht den ZEIT WISSEN-
Preis »Mut zur Nachhaltig-
keit« 2020? Machen Sie
mit und reichen Sie Ihre
Vorschläge online unter
www.zeit.de/nhp ein –
bis zum 31. August 2019!
»Du verstehst
gar nichts ...«
Folgenden Dialog schickte uns
ein 13-jähriges Mädchen. Viele
Jugendliche wie sie gehen jetzt
jeden Freitag auf die Straße
Als ich am Ende meiner Ferien von Südschweden
zurück nach Hause fahre, sitzt am Steuer des
Autos eine Freundin meiner Mutter.
Sie: Herrlich, die schwedischen Straßen sind
ja längst nicht so voll wie in Deutschland.
Ich: Hm.
Sie: Hier macht Autofahren Spaß.
Ich: Hm. Hier darfst du nur 70.
Sie bremst ab.
Sie: Kein Stau. Wir sind bald zu Hause.
Ich: Pass auf, da ist ein Blitzer.
Sie bremst noch mal ab.
Sie: Die Schweden kündigen ihre Blitzer an.
Ich: Hm.
Foto harry + lidy / plainpicture
Sie: Gott sei Dank sind wir nicht mit dem
Zug gefahren.
Ich: Warum?
Sie: Das dauert viel länger als mit dem Auto.
Ich: Autofahren ist voll schlecht für das Klima.
Sie: Aber es gibt ja noch viel Schlimmeres.
Zum Beispiel dass die Pole abschmelzen.
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DAS ZEIT WISSEN GESPRÄCH 

»Wir
brauchen
mehr
Chaos und
gleichzeitig
mehr
Stabilität«
Für seinen Denkansatz der
»Quantenwirtschaft« leiht sich der
norwegische Wirtschaftsphilosoph
Anders Indset Erkenntnisse aus der
Quantenphysik. Und immer mehr
Menschen hören ihm zu

Interview Niels Boeing und Andreas Lebert Fotos Katrin Binner


E
s ist ein heißer Nachmittag in
Frankfurt, doch der Ort ist
kühl: ein um diese Zeit leeres
Restaurant am Main. Chrom,
Glas, Klimaanlage, das passt
alles gut zum Thema Wirt-
schaft und Kapitalismus. Der Mann, mit
dem wir verabredet sind, sieht allerdings
eher aus wie der Frontmann einer Rock-
band. »Hallo«, sagt er. »Ich bin Anders.«
Herr Indset, Platon sagt, die Welt werde
erst dann ins Gleichgewicht kommen,
wenn Philosophen zu Königen würden
oder Könige zu Philosophen. Deshalb
würden wir Ihnen als Wirtschaftsphilo-
soph gerne die Rio-Reiser-Frage stellen:
Was würden Sie machen, wenn Sie König
von Deutschland wären?
Indset: Ich halte nichts von der Monarchie
und von Königen. Für mich ist die Aussage
von Platon eine metaphorische: Es geht
darum, dass sich die Aufgeklärten und die
Unaufgeklärten gegenseitig die Hand rei-
chen müssen und dass die Philosophen
sinnlicher werden müssen. Aber gut: Wenn
ich »König« wäre, würde ich alle dazu moti-
vieren, Fragen zu stellen und neugierig zu
werden, damit wir gemeinsam zu neuen,
plausiblen Erklärungen kommen, anstatt
zu versuchen, etwas vorzugeben und den
Menschen ein System zu diktieren. Wir
brauchen ein Miteinander, um zu einer
humanistischeren Gesellschaft zu gelangen.
Wie können wir vielfältig miteinander
agieren und dabei nicht immer das Gleiche
von gestern wiederholen?
Wir denken zu begrenzt. Wir sehen Krea-
tion und Neuschaffung als eine Leistung,
die wir als neue, geniale Ideen bezeichnen.
Doch wenn wir genau hinschauen, geschieht
das Gegenteil: Die Menschen schaffen Neu-
es durch Klauen und Kopieren oder durch
gnadenloses Scheitern. Wir brauchen in der
heutigen Zeit mehr Chaos und gleichzeitig
mehr Stabilität. Und Technologie kann uns
dabei helfen, diese Stabilität zu gewinnen,
und vielleicht auch ein Stück weit Sicher-
heit zurückgeben für die Freiheit zur Neu-
schöpfung oder dafür, Fehler zu machen.
Der Mensch muss Mensch bleiben, den-
noch brauchen wir global eine höhere Inter-
dependenz, eine höhere Stabilität. Mein
Ansatz ist das interdisziplinäre Miteinander,
in dem konträre Ansätze, vom Ergebnis-
zwang befreit, zusammenkommen.
Was wären denn Ihrer Meinung nach An-
sätze, einen Raum herzustellen, in dem
das zumindest gefördert wird?
Der Raum der Kreation ist der Trainings-
platz, die Spielwiese, auf der ich etwas aus-
probieren kann. Wo hohe Leistung und
Einsatz gebracht werden, wo es aber auch
gestalterische Freiheit gibt.
Zum Beispiel in der Schule?
Wir sollten Kinder recht früh zu zwei Kom-
petenzen befähigen: lernen zu lehren und
lehren zu lernen. Soll heißen: Wir müssen
lernen, wie wir lernen können, neugierig zu
sein. Wo können wir uns Informationen,
Wissen aneignen? Gleichzeitig wissen wir,
dass Ende dieses Jahrhunderts vielleicht
neun Milliarden Menschen auf einem end-
lichen Planeten leben, mit endlichen Res-
sourcen. Um Fortschritte zu erzielen, um
diese Herausforderung zu meistern, brau-
chen wir neue Geschichten. Also müssen die
Menschen auch lernen, Geschichten zu er-
zählen. Wir müssen alle zu Lehrern werden
und gleichzeitig zu Lernenden.
Angenommen, ich wäre Schuldirektor.
Immer dienstagvormittags frage ich nun
die Kinder, was sie mich lehren können.
Wäre das ein Versuch in dieser Richtung?
Ja, dann entsteht ein Dialog. Da kommen
verschiedene Kinder wie auf den Straßen
des alten Athen zusammen, auf der Agora.
So entstehen neue Ansätze, neue Gedanken,
neue Fragestellungen. Die Gehirne der jun-
gen Menschen heute sind nicht in einer
Weltanschauung verankert. Wir müssen
deren Stimmen zulassen. Denn Bildung ist
nicht das Speichern von Informationen, die
ein Lehrer, ein Professor oder eine Führungs-
kraft von PowerPoint-Folien abliest. Das ist
nicht die Form, wie ein Mensch lernen
kann. Besser ist ein experience-based lear-
ning, ein Lernen, das auf Erfahrungen und
Erlebnissen beruht.
Wie kann das aussehen?
Wenn man 20 bis 25 wilde, verrückte Köpfe
mit unterschiedlichen Entwicklungen des
Bewusstseins und der Kreativität diskutieren
lässt, entsteht eine wahnsinnige Symbiose.
Da kann etwas Größeres herauskommen als
die Summe der einzelnen Teile. Vielleicht
entstehen auch ganz neue Denkströme, auf
die man nicht hätte kommen können,
wenn jemand gesagt hätte, du sollst das so
und so nach Schema F machen.
Ist das Schulsystem in Skandinavien in
dieser Hinsicht weiter als das deutsche?
Tatsächlich gibt es insbesondere in Finn-
land und in Schweden schon Ansätze mit
anderen Fächern oder Formen des Lernens.
Aber schauen wir auch nach Asien: Ich war
kürzlich in der Green School auf Bali. Das
ist ein Pionierversuch eines Unternehmers.
Da werden sogenannte Soft Skills und em-
pathische Fähigkeiten trainiert. Und es
wird auch mal ein Schwein geschlachtet,
damit die Kinder sehen, wo das Fleisch her-
kommt. Viele werden danach Vegetarier.
Die Green School ist geprägt durch Aus-
wanderer aus allen Regionen der Welt, die
dort leben und ihre Kinder hinschicken.
Das sind 300 bis 400 Schüler, und es ist un-
glaublich, wie das Miteinander unter Men-
schen funktioniert, wenn Nationalstaats-
gedanke und Systemdenken weg sind.
Ginge das auch bei uns?
Ich bin überzeugt, eine Form der Green
School würde in Deutschland oder in Euro-
pa einen unfassbaren Erfolg haben, weil
sehr viele junge Eltern ihre Kinder nicht
mehr in den alten Schulen unterbringen
wollen. Die Frage ist dann, wer bricht dafür
eine Lanze – beginnt das als privatwirt-
schaftliche Initiative? Wenn die Politiker
dann sehen, dass sie damit Stimmen gewin-
nen können, adaptieren sie das System.

Auf was für eine Schule sind Sie gegangen?
Ich würde meine Schule und auch meine
Kindheit als langweilig bezeichnen. Also:
zwei Eltern, die immer noch zusammen
sind, eine jüngere Schwester, Stabilität
durch das ganze junge Leben hindurch,
keine Krisen und großen Rückschläge. Ich
habe mich immer für Mathematik interes-
siert und viel Zeit mit Sport verbracht. Das
Lernen fiel mir leicht, weil ich neugierig
war. Und mit zwölf Jahren habe ich zu mei-
nem Vater gesagt, dass ich für niemanden
arbeiten werde. In der Fußgängerzone von
Røros, wo ich groß geworden bin – einem
Ort mit 3000 Einwohnern –, habe ich dann
angefangen, den Touristen schöne, glänzen-
de Steine zu verkaufen. Die konnte man
200 Meter weiter als Abfälle des alten Kup-
ferwerks selbst aufsammeln. Unternehmer
sein war der erste Teil meiner Reise. Philo-
sophie war schon da eine Leidenschaft von
mir, ich wusste damit aber zunächst nichts
Konkretes anzufangen. Dann war ich mit
17 für eineinhalb Jahre in den USA und
habe einen Highschool-Abschluss gemacht.
Als 1994 der Netscape-Browser kam, hat
mich das unheimlich fasziniert. An unserer
Schule gab es damals eine Lehrerin, die uns
ermöglicht hat, sich mit dem Internet zu
beschäftigen. Und ich fing an, zu program-
mieren und Webseiten zu bauen. Das Ma-
thematische und Algorithmische hat mich
zwar begeistert, aber mir wurde klar, dass
das Fundamentale, um die Welt zu verste-
hen, die Philosophie ist. Zurück in Norwe-
gen, habe ich deswegen mein Studium un-
terbrochen und bin nach Deutschland
gegangen, um zunächst diese facettenreiche
und vielfältige Sprache zu lernen. Ich habe
das getan, um die Texte der großartigen
deutschen Philosophen auch in der Original-
sprache lesen zu können. Nachdem ich eine
relativ lange unternehmerische und hard-
corekapitalistische Reise hinter mich ge-
bracht hatte, habe ich dann meine Anteile
an einer Firma an meinen Partner verkauft
und mich da rausgezogen.
Wie ging die Reise in die Wirtschaftsphi-
losophie nach Ihrer »hardcorekapitalisti-
schen« Phase los?
Da war Liebe (lacht). Ich habe meine Frau
kennengelernt, und sie hat sicherlich auch
viel zu meinem Wandel beigetragen. Ich
habe gemerkt, dass ich viel weniger brauche.
Vor wie vielen Jahren war das?
Das war vor ziemlich genau zehn Jahren.
Gab es davor Erlebnisse, wo Sie gesagt ha-
ben: Ich kann jetzt so nicht weitermachen?
Das war eher ein schleichender Prozess. Ich
habe den Erfolg nicht gespürt. Ich hatte
keine Wahrnehmung von dem, was ich be-
treibe, und auch nicht von der Realität
dessen, was um mich herum passiert, von
den Kleinigkeiten im Leben. Durch die
Philosophie kam sicher auch der Drang, zu
verstehen, warum es so etwas wie ein sub-
jektives Gefühl gibt, wie es ist, ein Be-
wusstsein zu haben. Wie sind wir eigent-
lich als Menschen? Da gab es keine
Antworten aus der Mathematik oder aus
den Wissenschaften.
Nach vielen Gesprächen mit namhaften
Persönlichkeiten aus der Wirtschaft wurde
mir klar: Eigentlich braucht die Wirtschaft
viel mehr Philosophie. Ich möchte diese
beiden Welten verbinden. Also: Wie könnten
»Hegel, Kant,
Wittgenstein:
Ich habe
Deutsch
gelernt, um
die Texte
all dieser
großartigen
Philosophen in
der Original-
sprache lesen
zu können«

wir die Schätze von Freud, Nietzsche, Witt-
genstein, Spinoza, Kierkegaard, Kant und
Hegel im Kontext des 21. Jahrhunderts
nutzbar machen? Das hat mich unheimlich
gereizt. Auf dieser Reise bin ich jetzt wahr-
scheinlich erst am Anfang.
Gibt es schon Unternehmen, die versu-
chen, sich in diese neue Richtung zu bewe-
gen – hin zu mehr Vielstimmigkeit und
Bewusstheit, weg vom Schema-F-Denken?
Ja, aber die Veränderung geht nicht radikal
auf Knopfdruck. Das geht sehr langsam.
Und der Wandel wird nicht unbedingt von
einer Führungskraft angestoßen. Das kann
genauso gut ein »gallisches Dorf« aus Mit-
arbeitern sein, die diese Fähigkeiten besit-
zen. Nur weil der Vorstand sich einen silent
retreat für vier Wochen gönnt, heißt das
noch lange nicht, dass sich das Unterneh-
men über Nacht verändert. Inzwischen gibt
es auch einen Generationswandel. Es kom-
men junge Menschen mit einem höheren
Bewusstsein in die Unternehmen. Und
dann gibt es äußere Wirkkräfte. Ein einfa-
ches Beispiel: Umweltverschmutzung durch
Plastik. Dieses Thema ist in Norwegen bei
allen angekommen. Warum? Weil wir alle
einen gestrandeten Wal gesehen haben, der
25 Kilo Plastik im Bauch hatte. Da spüren
wir was. Dann verstehen wir: Wir haben
ein Problem. Und auf einmal geht die Ver-
änderung sehr schnell. Unternehmen, in
denen der Wandel gelingt, haben oft solche
Schicksalserlebnisse.
Wie geht dieser Wandel vor sich?
Manche versuchen im Kern ihrer Unter-
nehmen etwas Neues zu schaffen, durch
eine Art von Selbstzerstörung, wenn man so
will. Nehmen wir das Beispiel Netflix. Die
haben ihr eigenes Kerngeschäft zum dritten
Mal zerstört. Die fingen mit DVD-Versand
an und sind dann zum Streaming überge-
gangen. Sehr viele Leitungen gab es zu der
Zeit noch nicht, die Qualität war Schrott.
Aber die haben ihren ganzen Gewinn da
reingesteckt und nicht an die Aktionäre
weitergegeben. Als dann die großen Unter-
nehmen nachzogen und selbst Abermillio-
nen ins Streaming investierten, machte
Netflix den nächsten Schritt: Sie investier-
ten alles in Inhalte, in die besten Teams aus
Vordenkern, Philosophen und Schauspie-
lern und produzierten unfassbare Inhalte.
Heute ist Netflix ein Content-Provider. In
vielen Unternehmen im Industriebereich
oder im Finanzsektor kannst du aber nicht

einfach das Innenleben zerstören. Da baust
du eher auf der grünen Wiese deinen
Counterpart auf, sodass du quasi mit dir
selbst im Wettbewerb stehst. Etwas Altes
muss sterben – das ist Leid. Etwas Neues
entsteht – das ist die Liebe. Du hast ja diese
Balance zwischen Leiden und Lieben, etwas
Echtes, das die Menschen spüren. Das ist
die Herausforderung beim Wandel.
In Teilen der Gesellschaft sehen wir gerade
eine extreme Abwehrreaktion à la »Wir
wollen die gute alte Zeit zurück«.
Aber wann war diese gute alte Zeit? So um
die Vierziger-, Fünfzigerjahre – oder zur
Zeit der Epidemien des Mittelalters?
Was denken Sie?
Der viel zu früh verstorbene Hans Rosling,
der die schwedische Gapminder-Stiftung
gegründet hat, hat mit anschaulichen Vi-
deos erklärt, wie die Entwicklung der Welt
tatsächlich aussieht: eigentlich verdammt
gut. Dennoch müssen wir schauen, was zur-
zeit passiert und welche Szenarios für die
Zukunft möglich sind. Diese nationalisti-
schen Bewegungen, die wir sehen, die haben
für mich überhaupt keinen Sinn.
Sondern?
Woran ich glaube, ist eine Art Stammeszu-
gehörigkeit, eine starke Lokalisierung in
den Städten. Bürgermeister werden da zu
einer Art rebellischer Stammeshäuptlinge
in einer global interdependenten Welt. Ich
habe nichts dagegen, dass wir ins Stadion
gehen, ein bisschen jubeln und unsere Na-
tionalmannschaft anfeuern. Das ist Patrio-
tismus. Das ist etwas Schönes, es gibt uns
Identität und Kultur. Aber das Abgrenzen
als Nationalstaat wird nicht funktionieren.
Wenn du diese großen Riesenkonzerne an-
schaust, sind die heute einerseits kosmopo-
litisch ausgerichtet, andererseits stark in
der Lokalisierung. Die sprechen nicht von
Ländern und Märkten, die sprechen von
Städten: Vienna office, Paris office, Singapur
office und so weiter. Da können wir doch
nicht sagen: Wir schirmen uns in irgendei-
ner Form vor dieser Entwicklung ab. Die
Frage bleibt: Warum gibt es diese Abwehr-
reaktion? Weil wir viele Menschen verloren
haben. Weil wir seit Netscape 1.0 eine
Desinformationsgesellschaft hervorge-
bracht haben, in der vor allem viele junge
Männer die Welt nicht mehr verstehen. Die
haben ein paar wenige Freunde in den so-
zialen Medien und hassen die Welt. Und
diese Menschen sind ein Grund, warum ein
Phänomen wie Donald Trump überhaupt
funktionieren kann.
Der Rechtsruck in vielen Ländern, hin zu
Nationalismus und Abschottung, ist sehr
real. Was würden Sie dagegensetzen?
Ich frage mich immer, warum solche Politi-
ker nicht mit Fragen konfrontiert werden.
Warum dauern Talkshows nicht drei Stun-
den, damit Politiker erklären müssen, was
sie eigentlich meinen? Es sind im Moment
die jungen Menschen, die aus einer gewis-
sen Naivität heraus die kritischen Fragen
stellen. Angenommen, Trump hätte recht,
dass eine Investition in Kohleenergie sinn-
voll ist. Dann soll er mir das erklären, in
einem gesamtökologischen Zusammen-
hang. Er soll mir das rational begründen.
Die Fakten auf den Tisch legen. Wenn je-
mand im Fernsehen bei einer Rede von
Trump eingeblendet bekäme: »Lüge«,
»falsch«, hier sind die Quellen, schau selbst
nach – wenn so die Geschichten validiert
»Quantopia:
Das ist meine
Vision einer
zukünftigen
Gesellschaft,
deren
Unterbau
eine stabile
Wirtschaft ist,
die Quanten-
wirtschaft«
werden könnten, wäre das ein wichtiger
Schritt in die Wissensgesellschaft.
Sie selbst machen einen optimistischen,
zuversichtlichen Eindruck.
Ich bin eher ein Realist, da ich auch bedroh-
liche Szenarios sehe. Entweder wir machen
uns überflüssig, werden also zum Homo
obsoletus, oder wir zerstören durch die
Technologie unsere Lebensgrundlage und
laufen in einen Ökokollaps hinein. Anders
als der Historiker Yuval Noah Harari und
einige andere Vordenker glaube ich nicht,
dass wir ein Problem mit großen Kriegen,
vielleicht sogar Nuklearkriegen, bekommen
werden. Wir sind in einem anderen Krieg:
im Kampf gegen die Zerstörung unserer
Ressourcen, unseres Planeten. Der zweite
Weltenkampf, den wir führen, betrifft die
Frage, wie wir in Zukunft gemeinsam mit
exponentiellen Technologien leben wollen,
also mit einer allgemeinen künstlichen In-
telligenz und mit Quantencomputern. Was
passiert mit diesen KIs? Werden sie ein Be-
wusstsein entwickeln? Können wir dafür
moralische Richtlinien definieren?
Was täte uns gut?
Es täte uns gut, positive Visionen zu ent-
werfen, nach denen wir uns richten können.
Positive Vorbilder. Durchdachte Szenarios,
die das Ganze sehen. Wenn wir dann Un-
fassbares leisten, und das können wir als
Menschen, werden wir diese existenzielle
Herausforderung auch meistern.
Sie setzen den dystopischen Szenarios vom
Homo obsoletus und vom Ökokollaps ein
positives Szenario entgegen, das Sie
»Quantopia« nennen. Was muss man sich
darunter vorstellen?
Betrachten wir noch mal kurz den Kapita-
lismus: Die Old Economy ist tot. Die New
Economy, das Versprechen von Silicon Valley
aus den Neunzigerjahren? Auch tot. Jachten
und Luxusautos für alle wird es nicht geben.
Das belegen die Daten, wie wir mit unseren
Ressourcen umgehen. Quantopia ist eine
Vision von einer zukünftigen Gesellschaft,
deren Unterbau eine stabile Wirtschaft ist:
die Quantenwirtschaft.
Der Publizist Paul Mason etwa nennt
seinen Zukunftsentwurf schlicht »Postka-
pitalismus«. Wie kamen Sie ausgerechnet
auf den Bezug zur Quantenphysik?
Zur Quantenthematik bin ich gekommen,
weil manche wirtschaftlichen Prozesse
quantenphysikalischen Phänomenen wie
der Superposition von Zuständen oder der

Verschränkung von Teilchen ähneln. Quan-
tenmechanisch betrachtet besteht die Welt
aus Partikeln und Wellen, die gleichzeitig in
Bewegung sind. Und auch im menschlichen
Gehirn scheint es quantenphysikalische
Phänomene zu geben. Die Wissenschaftler
Roger Penrose und Stuart Hameroff haben
die Theorie aufgestellt, dass das Bewusstsein
auf Quanteneffekten beruht, die sich in den
Mikrotubuli der 85 Milliarden Neuronen
im Gehirn abspielen. Mikrotubuli sind Pro-
teinkomplexe in Zellen. In der spürbaren,
erlebbaren Welt ist heute ein direkter Link
zu Quantenphänomenen sicherlich nicht
erkennbar. Aber im Kern leben wir in einer
Quantenrealität. Wir sind nicht das Sub-
jekt, das sagt, wie die Welt ist, sondern unser
Bewusstsein ist ein Beobachter. Durch diesen
Beobachter eignen wir uns Wissen an, und
durch das Wissen gestalten wir die Realität.
Ähnlich wie der messende Beobachter in der
quantenphysikalischen Welt durch seine Be-
obachtung die Realität beeinflusst. Deshalb
nenne ich die neue Form Quantenwirt-
schaft. Sie ist aber kein abgeschlossenes,
mathematisch begründetes Modell.
Können Sie uns ein paar konkrete Ele-
mente der Quantenwirtschaft nennen?
Wir haben bereits verschiedene Konzepte,
bei denen zumindest naheliegend ist, dass
sie zu einer Verbesserung führen: die Sha-
ring-Economy oder die As-a-Service-Eco-
nomy, die die Produktionsverantwortung
gesamtheitlich auf den Hersteller verlagert.
Ich kaufe keine Glühbirnen mehr, die nach
1000 Stunden kaputt sind, ich kaufe nur
noch Licht. Die Quantenwirtschaft ist eine
echte Kreislaufwirtschaft. Alles muss un-
endlich nutz- und wiederverwendbar sein.
Dazu gehört auch, wie wir mit Kapital um-
gehen. Ich bin nicht dagegen, dass jemand
einen Haufen Geld verdient. Aber er muss
es in den Kreislauf zurückgeben oder um-
verteilen, wenn er fertig ist. Die andere Auf-
gabe ist, sich vom Materiellen zum Immate-
riellen zu bewegen, also eine Kapitalisierung
der Vitalenergie. Das klingt vielleicht erst
mal esoterisch – man kann schließlich kein
Geld machen mit Liebe und Glückseligkeit.
Und doch gibt es hier verschiedene Ansätze.
Welche?
Nehmen wir so simplifizierte Formen wie
Headspace, das ist eine Meditations-App.
Ein Mönch hat eine App gemacht, die
kaum etwas kostet und heute 50 Millionen
User hat. Am Ende geht es gar nicht so sehr
um Meditation und Spiritualität, die Leute
zahlen dafür, dass sie 20 Minuten in Ruhe
sitzen. Das funktioniert. Wir kennen aus
Chinarestaurants diese Statue, den Lachen-
den Buddha. Der Mythos besagt, dass
Menschen sich in seiner Anwesenheit wohl-
fühlen. Wir wissen, dass es auch Menschen
gibt, deren Anwesenheit in einem Raum
Wohlempfinden spendet. Warum heuern
wir nicht für 2000 Euro am Tag jemanden
an, der einfach herumläuft und eine solche
Vitalenergie verbreitet? Die Beispiele sind
vielleicht etwas platt, aber in diese Richtung
muss es gehen. Ich würde mir wünschen,
dass im Januar auf dem nächsten World
Economic Forum die Q-Economy als Ar-
beitshypothese diskutiert wird.
Ist die Quantenwirtschaft nicht nur eine
weitere Spielart des Kapitalismus?
Wenn wir die Dialektik von Hegel nehmen,
Anders Indset, Jahrgang 1978,
hat ein bewegtes Leben hinter
sich. Der Norweger beriet nach
dem Studium zehn Jahre lang
Dax-Unternehmen und Start-
ups und war Profi-Handballer
beim TV Gelnhausen. Seit 2017
sitzt er im Aufsichtsrat des
German Tech Entrepreneurship
Center. Der Wahlfrankfurter
reist als Wirtschaftsphilosoph
seit Jahren durch die Welt und
hält Vorträge. Sein Buch
»Quantenwirtschaft. Was
kommt nach der Digitalisie-
rung?« steht seit dem Frühjahr
auf den Bestsellerlisten

dann war der Marxismus die These, der
jetzige Turbokapitalismus ist die Antithese,
und wir müssen in einer Synthese etwas
Neues schaffen. Wir sollten es nicht dem
Zufall überlassen, ob wir am Ende von der
»Algorithmokratie« chinesischer Art aufge-
fressen werden wie beim Pac-Man-Spiel.
Sehr interessant, dass Sie China erwähnen,
das eine algorithmisch gesteuerte Über-
wachung der Bürger einführt. In der EU
findet ja gerade eine Identitätssuche statt:
Wofür steht Europa im Unterschied zu
den USA und zu China? In der KI-For-
schung etwa wird derzeit viel über KI
made in Europe diskutiert.
Wir haben keine Chance, Aufholjagd zu
spielen. Wir sollten nicht nach China oder
in die USA schielen und alle paar Monate
sagen, wir brauchen jetzt ein einen Block-
chain-Hub, einen Fintec-Hub, einen KI-
Hub und so weiter. Ich glaube, dass wir da
einen ganz anderen Ansatz wählen, eine ei-
gene Leitidee für die EU entwickeln sollten.
Wir müssen uns die Frage stellen: Was kön-
nen wir in Europa gut? Zum Beispiel Ver-
trauen. Schauen wir uns die Geschichte von
Frankreich und Deutschland an. Noch vor
einigen Jahrzehnten wäre es unvorstellbar
gewesen, dass die beiden sich vertrauen.
Wenn Macron und Merkel heute ein Ab-
kommen schließen, wird es umgesetzt, die
gehen nicht in ein Hinterzimmer und ma-
chen etwas anderes. Wenn China und die
USA ein Abkommen schließen, kommt im
Hinterzimmer etwas anderes raus. Wir ha-
ben in Europa, durch die EU, eine wunder-
schöne Bewegung hin zum Vertrauen.
Haben Sie auch ein handfestes Beispiel?
Zum Beispiel unser Umgang mit Daten,
mit der Privatsphäre: Die europäische Da-
tenschutzgrundverordnung, die wird jetzt
in den USA kopiert, Kalifornien will das
einführen. In der Wissenschaft ist Europa
vorne mit dabei, in der Bewusstseinsfor-
schung, in der Entwicklung von Quanten-
technologien, das ist alles gar nicht so
schlecht. Aber es wäre schön, wenn wir über
die menschliche Komponente, über Ver-
trauen, Mitgefühl, Privatsphäre zu anderen
Modellen kommen, wie wir miteinander
arbeiten. Wenn wir es schaffen, das zu inte-
grieren, dann sprechen wir von einer digita-
len demokratischen Republik. Also einer
Art Direktdemokratie in einer neuen Form.
Die parlamentarische Demokratie ist für
Sie ein Auslaufmodell?

Angenommen, es gibt ein letztes Raum-
schiff, das die Erde in Richtung einer neuen
Welt verlässt, und die Passagiere würden
anteilig nach der Bevölkerungsgröße ihrer
Herkunftsländer ausgewählt ...
... da wären nicht viele Norweger dabei ...
... das stimmt (lacht). Aber worum es wirk-
lich ginge, ist die Frage: Würden wir uns
auf diesem letzten Raumschiff in National-
staaten organisieren? Als totalitärer Staat
oder als Demokratie mit Parteien? Ich glau-
be nicht. Mit den Technologien, die wir
entwickelt haben und mitnehmen, würden
wir wahrscheinlich mit einer Form der direk-
ten Demokratie loslegen. Es würden sicher-
lich aus der Besatzung dieses Raumschiffs
einige Führungspersönlichkeiten heraus-
stechen, die durch ihre Rhetorik, ihre Em-
pathie, ihre Emotionen, ihren Intellekt einen
gewissen Einfluss auf die Menschen hätten.
Aber es wäre eine Gesellschaft, in der wir so
viel Verstand haben, dass wir sagen: Mitein-
ander geht’s besser. Also bliebe dann die
technologische Variante der direkten De-
mokratie. Und die können wir technisch
gesehen schon heute machen.
Wie eine Studie der ZEIT herausgefunden
hat, haben die Menschen gar keine Angst
vor der digitalen Transformation. Im Ge-
genteil, sie fühlen sich stark und gerüstet.
Aber sie glauben, dass Politik und Unter-
nehmen in Deutschland nicht gerüstet
sind. Das macht ihnen Angst. Und tatsäch-
lich erscheint die Politik unglaublich träge,
unfähig, einen Aufbruch einzuleiten.
Ich spreche eher von einem digitalen Tsu-
nami als von einer Transformation. Eine
Transformation ist eine Veränderung aus
dem einen Stadium in ein neues. Dieses
neue Stadium kennt aber noch niemand.
Der digitale Tsunami steht uns noch bevor,
und ich glaube, für den ist keiner in irgend-
einer Form gewappnet. Andererseits kann
sich heute in kurzer Zeit eine Menge än-
dern. Bei Ihnen schlug innerhalb von eini-
gen Monaten das Pendel von »Deutschland
raus aus der EU« und »Wir wollen die
D-Mark zurück« um zu »Wir sind EU-Bür-
ger«. Das war ein ganz kurzes Zeitfenster.
Das ist eine Herausforderung für die Poli-
tik. Wenn wir Platon richtig verstehen, ist
die Aufgabe der Politik eigentlich, Ge-
schichten zu erdenken und Thesen aufzu-
werfen, die eine längere Haltbarkeit als vier
Jahre haben. Die Rolle der Politiker ist
heute jedoch, Stimmen zu gewinnen. Wir
leben in pseudodemokratischen Systemen,
und die Parteienpolitik steht für Manage-
ment. Also für Bewahren und Verwalten.
Der perfekte Manager ist aber ein Algorith-
mus. Und das werden bald auch die Unter-
nehmen zu spüren bekommen, wenn all
diese Menschen im mittleren und höheren
Management überflüssig werden. Was wir
brauchen, sind Gestalter des Wandels. Wir
brauchen Radikalität.
Es sind im Ansatz einige Bewegungen für
einen Wandel vorhanden, aber sie errei-
chen bisher nicht die kritische Masse.
Kann man das beschleunigen? Wir haben
ja angesichts der Szenarios, die Sie ge-
nannt haben, nicht beliebig viel Zeit.
Wir haben spirituelle Bewegungen, die si-
cherlich noch nicht radikal genug sind, um
zu einer »Miteinander-Welt« zu kommen.
Lernen und Wissen und Verstand müssen
sexy werden. Das kann auch gelingen, ich
bin da nicht so pessimistisch. In den letzten
»Ich spreche
von einem
digitalen
Tsunami, der
uns noch
bevorsteht.
Ich glaube, für
den ist keiner
gewappnet in
irgendeiner
Form«
Monaten passiert hier unheimlich viel. Der
Journalismus wird tiefer und umfangreicher,
wir führen längere Gespräche. Die Men-
schen ziehen sich zwei, drei Stunden lange
Podcasts oder Videos von Debatten rein.
Die haben Millionen von Zuschauern. In
den USA ist das gerade extrem. Ich wünsche
mir aber noch viel mehr tiefe Debatten,
interdisziplinär im öffentlichen Raum, wo
wir über das Leben und den Menschen
sprechen. Das findet noch nicht statt.
Worüber sollte da debattiert werden?
Über Probleme, die endlich beim Namen
genannt werden müssen. Über das Plastik-
problem haben wir schon gesprochen – die
Technologien, um es zu lösen, sind da. Das
Problem sind wieder die Politik und die
gesellschaftlichen Abhängigkeiten. Oder
nehmen Sie den Klimawandel. Es geht
nicht darum, ob die Kohlendioxid-Emis-
sionen um 40 oder 55 Prozent reduziert
werden sollen – es geht um ein climate take-
back. Es geht darum, dass wir heute schon
Technologien entwickeln können, um das
CO₂ aus der Atmosphäre herauszuziehen.
Es geht um eine CO₂-Minusproduktion
bei den Herstellern. Oder nehmen Sie die
Arbeitslosigkeit aufgrund von exponentiel-
len Technologien. Viele Menschen werden
in Zukunft keine Arbeit mehr haben – aber
wir haben keine Systeme, um sie aufzufan-
gen. Deswegen hätten wir einen guten
Grund, jetzt schon ein soziales Grundein-
kommen einzuführen und ein bisschen da-
mit zu spielen. Dann haben wir bereits Er-
fahrungen gesammelt, wenn uns die Krise
trifft. Denn wir leben an einem Punkt, wo
wir uns keine weiteren Krisen erlauben
können. An dem wir dringend aus dem
Reaktionsmodus herauskommen müssen.
Und wie kommen wir aus diesem Reak-
tionsmodus heraus?
Ich appelliere an den Verstand. Setz dich
mit den Themen auseinander, bild dir deine
eigene, subjektive Weltanschauung, eine
validierte Weltanschauung – das ist mein
Plädoyer. Es ist dein Leben, du kannst etwas
tun, also tu etwas. Hör nicht auf die Men-
schen, die sagen, das und das ist negativ.
Wenn wir alle etwas täten, würde es schon
eine ganz andere Welt geben. —
Niels Boeing und Andreas Lebert benutzen
Anders Indsets Bild vom letzten Raumschiff, das
die Erde verlässt, jetzt öfter für Gedankenspiele.
Es führt fast immer zu interessanten Perspektiven.


STARK WIE
EIN BAUM
Das Bauen mit Holz erlebt ein erstaunliches
Comeback. Sogar Hochhäuser sind für das
klimafreundliche Material kein Problem mehr
Text Niels Boeing
 

W
ir leben in dem Jahr, in
dem der Klimawandel
endgültig in den Köpfen
angekommen ist. Hitze-
wellen, »Fridays for
Future«, Debatten über
»Flugscham« und die deutsche Braunkohle
– die Aufregung ist groß. Doch nicht nur
Fliegen und Kohleenergie sollten Kopfzer-
brechen bereiten. Es gibt noch ein weiteres
Problem, über das bislang zu wenig geredet
wird: den Bauboom. Er verschlingt gigan-
tische Mengen an Sand, der im Raubbau
aus Flussbetten und vom Meeresgrund ge-
wonnen wird. Mindestens zehn Milliarden
Tonnen werden jährlich für die Zement-
herstellung verbraucht, das allermeiste da-
von in China. Die Zementherstellung selbst
ist derzeit für fünf, vielleicht sogar acht
Prozent der globalen CO₂-Emissionen ver-
antwortlich. Die Hälfte der Zement-Emis-
sionen stammt aus der chemischen Um-
wandlung von Kalkstein in gebrannten
Kalk, eine wichtige Zutat für Zementklinker
und damit für Beton. Der Bauboom be-
schränkt sich indes nicht nur auf China.
Auch in Deutschland etwa wird wegen feh-
lender Wohnungen so viel gebaut wie lange
nicht. Umso besser, dass Architekten in al-
ler Welt seit einiger Zeit einen umwelt-
freundlichen Baustoff wiederentdecken, der
der Menschheit seit Jahrtausenden gute
Dienste leistet: Holz.
Während diese spektakulären Bauwerke an-
deuten, was in Zukunft möglich sein könnte,
bietet der neue Holzbau auch ganz hand-
feste Lösungen. Etwa für die viel diskutierte
Nachverdichtung der Großstädte, in denen
dringend neue Wohnungen benötigt wer-
den. »Weil Holz als Baustoff so leicht ist,
können Sie auf bestehende Gebäude ein bis
zwei Etagen im Holzbau aufsetzen, ohne
das Fundament verstärken zu müssen«,
sagt Andreas Krause von der Universität
Hamburg. Zum Vergleich: Ein Kubikmeter
Fichtenholz wiegt rund ein Fünftel eines
Kubikmeters Stahlbeton, also mit Armie-
rungseisen verstärkten Betons.
Die Druckfestigkeit von Holz ist der
von Stahlbeton ebenbürtig. Bei Fichten-
holz zum Beispiel liegt sie bei 24 Newton
pro Quadratmillimeter, das entspricht ei-
ner Last von fast drei Tonnen auf der Flä-
che einer Briefmarke. Und Baubuche
schafft sogar 60 Newton pro Quadratmilli-
meter – so viel wie Hochleistungsbeton.
»Die Druckfestigkeit ist maßgeblich, um
die Geschosse aufeinanderzusetzen«, sagt
Norbert Rüther vom Fraunhofer-Institut
für Holzforschung WKI in Braunschweig.
Dass Stahlbeton sich seit dem frühen
20. Jahrhundert zum Baustoff der Wahl
entwickelt, hat durchaus gute Gründe. Er
lässt sich in Formen gießen, die mit Holz
zuvor undenkbar waren, zu geschwungenen
Wänden und Fassaden etwa. Aus ihm lassen
sich auch Baumodule vorfertigen, die später
auf der Baustelle nur noch zusammenmon-
tiert werden müssen und die den Platten-
bau des vergangenen Jahrhunderts ermög-
lichten. Vor allem aber schien er die
Antwort zu sein auf die Feuersbrünste, die
sich im Laufe der Jahrhunderte überall auf
der Welt immer wieder durch Städte fraßen
und reine Holzhäuser ebenso wie ummau-
erte Tragkonstruktionen aus Holzbalken
vernichteten. Stahlbeton selbst brennt hin-
gegen nicht. Der Brand nach dem großen
Erdbeben in San Francisco 1906 führte
zum Beispiel endgültig dazu, dass die US-
Bauindustrie massiv auf Stahlbeton-Bauten
umschwenkte, andere Länder folgten bald.
Doch zuletzt hat das Baumaterial Holz
rasant aufgeholt, und auch die Konstruktio-
nen des Holzbaus sind raffinierter gewor-
den. »Das Bauen mit Holz ist das Bauen der
Zukunft«, ist sich Andreas Krause sicher.

Welche Gebäude kann man

mit Holz bauen?
Mit Fachwerkhäusern oder Alpen-Chalets
hat das Comeback des Holzbaus nichts zu
tun. Was sich die Architekten ausdenken,
sind kluge, manchmal kühne Konstruktio-
nen, die auch in die Höhe schießen. Der
Mjøstårnet (Mjøsa-Turm) ragt 18 Stock-
werke über dem norwegischen See Mjøsa
auf. Mit 83 Meter Höhe ist er ein echtes
Fotos ICD / ITKE, Universität Stuttgart; Will Pryce

Hochhaus. Das 24-stöckige HoHo Wien,

das in der Seestadt Aspern bei Wien fertig-
gestellt wird, legt noch einen Meter drauf
und wird als höchstes Holz-Hochhaus der
Welt gelten – wobei der Kern des Gebäudes
aus Stahlbeton besteht. Weitere hölzerne
Wolkenkratzer sind weltweit bereits im Bau
oder zumindest in Planung. Besonders ehr-
geizig ist die japanische Sumitomo Forestry
Company, die in Tokio das W350 bauen Hoch, höher, Holz: Die geschwungenen Holzteile des Urbach-Turms in schwäbischen
will – einen 350 Meter hohen Turm, der zu Urbach (links) entstanden in einem neuen Fertigungsprozess an der Uni Stuttgart. Das
90 Prozent aus Holz bestehen soll. Londoner Curtain Place besteht aus einer Stahl-und-Holz-Hybridkonstruktion (oben)


Was kann man aus dem Baumaterial

Holz herausholen? Das leistet ein Hektar typischer Mischwald in mittel-
europäischen Breiten:
Holz hat zwei große Schwächen: Es brennt
leider hervorragend, und es ist nicht wasser-
beständig. Wenn Holz Feuchtigkeit zieht,
quillt es auf, was seine Stabilität schwächt,
oder Pilze nisten sich ein, die es zersetzen.
Die Brandgefahr lässt sich zum einen
verringern, indem man als Tragkonstruktio-
nen sehr dicke Balken einsetzt. Denn Holz
verhält sich bei einem Brand »gutmütig«, wie
es Norbert Rüther formuliert: Es brennt
langsam von außen nach innen ab. Als
Faustregel gilt, dass pro Minute 0,7 Milli-
meter Holz verbrennen. Will man sicher
sein, dass ein Balken seine Tragfestigkeit
auch noch nach einer halben Stunde Brand
behält, muss man ihn nach allen Seiten hin
also um 2,1 Zentimeter dicker anlegen, als
es für die Konstruktion nötig wäre. Stahl
hingegen verliert seine Festigkeit, sobald er

auch nur an einem einzigen Punkt schmilzt,
wie der Einsturz des World Trade Center
2001 zeigte. In den neuen, ganz großen
Holzhäusern werden massive Tragebalken
verbaut, die einen Querschnitt von einem
Quadratmeter haben.
Forscher der ETH Zürich und der
Schweizer Materialprüfanstalt Empa haben
einen radikalen Ansatz entwickelt, Holz
feuerfest zu machen: Sie versteinern es
künstlich. Hierzu wird das Holz mit einer
Lösung aus Kalziumchlorid und Kohlen-
säuredimethylester getränkt. Gibt man Na-
tronlauge hinzu, kommt es zu einer chemi-
schen Reaktion, die in der Zellstruktur des
Holzes Kalk einlagert. Die Folge: Die Holz-
fasern brennen so gut wie nicht mehr. Im
Unterschied zu chemischen Brandschutz-
mitteln, mit denen Holz präpariert wird, ist
das mit Kalk präparierte Holz problemlos
recycelbar. Einen ähnlichen Effekt hat auch
die Einlagerung von Siliziumdioxid im Holz.
»Im Labor funktioniert das bereits sehr gut«,
sagt Gustav Nyström, Leiter des Cellulose-
und Holzforschungslabors der Empa, »aber
reif für industrielle Anwendungen ist das
noch nicht – die Kosten sind noch zu hoch.«
Mit Eingriffen in die Zellstruktur lässt
sich Holz auch wasserbeständiger machen.
dem Holz heraushalten und zugleich Schutz
gegen Pilzbefall bieten. Einen ähnlichen
Effekt gibt es, wenn man Holz mit Acetylen
präpariert. Dann wandeln sich Molekül-
gruppen im Holz, die Wasser anziehen, in
wasserabweisende um. Derart präpariertes
Holz hat die Forschungslabors bereits ver-
lassen: Im niederländischen Sneek hat man
aus entsprechenden, ohne weitere Schutz-
anstriche versehenen Balken eine Holzbrü-
cke konstruiert, die bis zu 60 Tonnen
Schwerlastverkehr trägt.
In der Konstruktion ist der Holzbau
ebenfalls weitergekommen. Ähnlich wie bei
den Betonwänden des Plattenbaus werden
heute Wandtafeln mit Holzrahmen vorgefer-
tigt, in denen Fenster, Dämmmaterial und
Schächte für die Haustechnik bereits einge-
baut sind. Diese Holztafeln lassen sich dann
auf der Baustelle zusammenmontieren.
Einige Architekten arbeiten auch in der
Quelle »Klimawandel heißt Waldwandel«, Ministerium für Umwelt, Energie, Ernährung und Forsten Rheinland-Pfalz, 2017
kann sich nicht verziehen. Denn die über
Kreuz verleimten Fasern fixieren das Brett in
der gewünschten Form.
Für den Architekten Andrew Waugh
ist Brettsperrholz »der massive Baustoff der
Zukunft«. Er hat den zehnstöckigen Büro-
bau Dalston Lane im Londoner Osten ent-
worfen, der 2017 nahezu komplett aus solch
massiven Holztafeln und Holztragebalken
errichtet wurde. »Holzbau muss einfach
sein, also stapelbar. Dann kann man höher
bauen«, sagt auch der Architekt des HoHo
Wien, Richard Woschitz. Er und andere
Fachleute gehen davon aus, dass bei 84 Meter
Höhe das Potenzial von Holzhochhäusern
noch lange nicht ausgereizt ist.
Wie teuer ist Bauen mit Holz?
Als Baustoff ist Stahlbeton vorerst noch
deutlich billiger als etwa Fichtenholz, das in
Europa der wichtigste Baustoff für den
Infografik Carsten Raffel

Forscher der Universität Hamburg etwa
bringen in Druckkammern gasförmiges
Polyethylen – einen unbedenklichen Kunst-
stoff – in die Zwischenräume der Holzzellen
ein, das sogenannte Lumen. Dort bilden
sich Polymerverbindungen, die Wasser aus
sogenannten Massivbauweise. Hier bestehen
die Module aus massiven Brettsperrholz-
Platten. Darin werden Holzschichten so
miteinander verleimt, dass deren Faser-
richtung abwechselnd rechtwinklig zuein-
ander ausgerichtet ist. Der Vorteil: Das Holz
Holzbau ist. Dennoch sind die neuen Holz-
gebäude bei den Gesamtkosten kaum teurer
als konventionelle Bauten. Der Grund:
Holzbau geht wesentlich schneller. Wird
Stahlbeton verwendet, muss man pro
Schüttung vier Wochen veranschlagen, bis
 
Fotos Will Pryce; Michael Elkan / Acton Ostry Architects & University of British Columbia; Jack Hobhouse; Felipe Rodriguez / VWPics / Redux / laif

Die neue Holzvielfalt: Das Curtain Place im Ostlondoner Trendstadtteil Shoreditch im Bau (oben links). Die Decken und Wände
des Brock Commons Tallwood House in Vancouver, Kanada, bestehen aus Brettsperrholzplatten (oben rechts). Ebenfalls aus
Brettsperrholz errichtet wurde der Cube in London, ein zehngeschossiges, 33 Meter hohes Wohnhaus (unten links). Der Metropol
Parasol spendet als luftiges hölzernes Sonnendach der Altstadt von Sevilla Schatten (unten rechts)

Das Puukuokka-Gebäude im finnischen Jyväskylä besteht aus vorgefertigten Holzmodulen. Für die Höhe von acht Etagen
wurden die finnischen Bauvorschriften geändert. In Deutschland sind bislang nur siebengeschossige Holzbauten erlaubt
der Beton trocken und ausgehärtet ist. Zwar
lässt sich das beschleunigen, indem man die
Schüttungen mit hohem Aufwand trocknet
und sie gewissermaßen föhnt wie ein nasses
T-Shirt. Aber diese Prozedur verschlingt
Geld und vor allem Energie. Unter einem
Jahr Bauzeit seien herkömmliche Stahlbe-
tonbauten kaum zu realisieren, sagt Andreas
Krause von der Universität Hamburg. »Bei
Holzbauten braucht man hingegen nur
eine Woche pro Etage.« Und während es
auf herkömmlichen Baustellen immer wie-
der zu Verzögerungen kommt, zum Beispiel
weil die Witterung nicht mitspielt, können
Architekten und Baufirmen den Holzbau
sehr exakt planen – und das erst recht,
wenn Wände und Decken als vorgefertigte
Module angeliefert werden.
Was trägt der Holzbau zum
Klimaschutz bei?
Holz ist anders als Stahlbeton nicht nur ein
nachwachsender Rohstoff. In ihm ist auch
CO₂ aus der Atmosphäre eingelagert, aus
der ein Baum beim Wachsen den Kohlen-
stoff für Moleküle wie Cellulose oder Lignin
gewinnt. Als Faustregel für den Klima-
schutzeffekt gilt: Jede Tonne Holz, die dem
Wald entnommen wird, spart gegenüber
mineralischen Baustoffen im Durchschnitt
zwei Tonnen CO₂-Emissionen ein.
Zwar ist zum Fällen des Baumes und
zu dessen Weiterverarbeitung zu Brettern
und Balken Energie nötig, ebenso bei der
Behandlung mit anderen Stoffen, mit denen
das Holz feuerfester und wasserbeständiger
gemacht wird. Dabei fallen wieder CO₂-
Emissionen an. Unterm Strich ist jedoch
jeder Holzbau immer noch ein Beitrag zum
Klimaschutz. Im HoHo Wien zum Beispiel
sind 4350 Tonnen Holz verbaut – das ent-
spricht ungefähr 2700 erntereifen Fichten –,
was in der Bilanz am Ende ebenso viele
Tonnen Kohlendioxid einspart. Es dauert
übrigens nur eine Stunde und zwölfeinhalb
Minuten, bis die im HoHo Wien ver-
brauchte Holzmasse im großen österreichi-
schen Waldbestand nachgewachsen ist. Für
Österreich gilt: Ein Kubikmeter Holz wächst
in einer Sekunde nach.
Bislang macht der Holzbau in Deutschland
nur 18 Prozent des gesamten Bausektors
aus. Was man in der Treibhausgas-Bilanz
gewinnen würde, zeigt eine Studie der
Ruhr-Universität Bochum. Angenommen,
55 Prozent der Einfamilienhäuser und 15
Prozent aller Mehrfamilienhäuser würden
seit 2016 in Holzbauweise errichtet: Dann
würden bis 2030 immerhin 23,9 Millionen
Tonnen CO₂ eingespart. Das entspricht
etwa 80 Prozent der Emissionen, die der
deutsche Inlandsflugverkehr im selben Zeit-
raum verursachen würde. Die Bochumer
Gruppe um Annette Hafner kommt denn
auch zu der nüchternen Forderung: »Insge-
samt ist eine massive Steigerung der Holz-
bauquote ab sofort notwendig.«
Gibt es überhaupt genug Holz?
Nun könnte man fragen: Würde mit einem
Foto Mikko Auerniitty
massiven Umschwenken auf Holzbau nicht
einfach der nächste Raubbau an der Natur
eingeleitet? Forscher der Universität Cam-
bridge haben am Beispiel einer Dreizim-
merwohnung in Holzmodul-Bauweise im
 

schwedischen Växjo die ganz große Rechnung aufge-

macht. Diese Wohnung enthält so viel Holz, wie in ei-
nem Jahr auf einer Fläche von bis zu zehn Hektar Wirt-
schaftswald entnommen wird. Würden alle Europäer in
eine solche Wohnung umziehen, würden 30 Prozent
der europäischen Waldfläche ausreichen, um die dafür
nötige Bauholzmenge zu ernten.
Viele umweltbewegte Menschen möchten indes
die Wälder am liebsten sich selbst überlassen, weil sie
sich um Klima und Naturschutz sorgen. Waldforscher
widersprechen da. Ein sich selbst überlassener Wald in
gemäßigten Breiten wie Mittel- und Nordeuropa sei
Quelle Ramage, Michael et al.: »The wood from the trees: The use of timber in construction«, Renewable and Sustainable Energy Resources, Vol. 68 (2017), S. 339–359

nach drei Jahrzehnten überaltert, sagt Johannes Welling

vom Thünen-Institut. Er bindet dann weniger CO₂ aus
der Atmosphäre als ein junger Wald. »In Europa wird
eine zunehmende Verwendung von Holz zum Bauen
innerhalb der kommenden 30 Jahre aller Voraussicht
nach nicht dazu führen, dass die Wälder übernutzt wer-
den«, so Welling. Auch Klaus Hennenberg vom Öko-
Institut hält mehr Holzbau für sinnvoll. »Dies muss in
Summe auch nicht zu einem stärkeren Holzeinschlag
führen.« Aktuell werden hierzulande etwa 25 Prozent des
Stammholzes im Wald zur Energiegewinnung genutzt.
Das aber spart kaum Treibhausgase, wenn man in der

BIO?
Bilanz die Kohlenstoffspeicherung im Wald einrechnet.
»Hier kann eine Kombination aus weniger Feuerholz,
mehr Bauholz und einer extensiveren Waldbewirt-
schaftung eine gute Wechselwirkung zwischen Klima-
und Naturschutz bringen«, empfiehlt Hennenberg. —

„ICH WILL EIN HAUS,

DAS GARANTIERT GESUND IST,
Planet Baum: Globale Waldfläche und ihre Nutzung
ABER NICHT SO AUSSIEHT.“

NACHWEISLICH
UNERREICHTE WOHN-
GESUNDHEIT UND PREIS-
GEKRÖNTES DESIGN – DAS
KANN NUR BAUFRITZ.

www.baufritz-dz.de
Infografik Carsten Raffel

 

Kommt, Leute, wir

spielen jetzt Karten ...
Fotos Douglas Kirkland; Elliott Erwitt / Magnum Photos / Agentur Focus; Allan Grant / LIFE Picture Collection / Getty Images

Weder die Scheiterhaufen der Kirche noch die Verbote

von Regierungen konnten 52 bemalte Pappkartons davon
abhalten, sich über die ganze Welt zu verbreiten
Text Filipa Lessing

Kurz bevor sie den

Oscar gewinnt,
lässt sich Schau-
spielerin Simone
Signoret im Hotel
zurechtmachen.
Ihr Mann, Yves
Montand, spielt
so lange Karten.
Links: Brigitte
Bardot 1965 am
Set von »Viva
Maria!«, oben: Die
USA der Sechziger


Verschnaufpause: Irgendwo zwischen Oskaloosa und Pella, Iowa, 2007. Unterwegs auf
Wahlkampftour, um Präsident der USA zu werden, spielt Barack Obama mit seiner
Familie »Uno«. Unten: Rumänien im Jahr 1992, rechts: Ho-Chi-Minh-Stadt im Jahr 1973

I
n Thakhek, einer kleinen Stadt in
Laos, stehen an der Uferpromenade
des Mekongs mächtige Tische aus
Stein. Sie sind verziert mit Mosaiken
und bieten einen fantastischen
Blick auf das andere Ufer. Ich war
18 Jahre alt und war gerade nach Laos gezo-
gen, als diese Tische meine Liebe fürs Kar-
tenspiel prägten. Schon in meiner ersten
Arbeitswoche brachten mir meine Kollegen
dort Tamnoi bei – eine Art laotisches Poker.
Ziel ist es, die Karten, die man auf der
Hand hat, vor den Mitspielern und mit
weniger Punkten als sie aufzudecken. Ein-
satz: 2000 laotische Kip pro Spieler und
Runde, umgerechnet etwa 20 Cent. Nichts
im Vergleich zu den Millionen Dollar, die
jede Nacht in amerikanischen Kasinos ver-
zockt werden. Doch der Einsatz reichte, um
Spannung ins Spiel zu bringen. Und um die
Aussicht am Mekong zu vergessen.
Tamnoi wird mit einem ganz normalen
Deck, einem Kartensatz aus 52 Karten, mit
Bube und Dame, Pik und Herz, gespielt.
Mit den gleichen Karten spielte ich
schon als Kind Rommé, Mau-Mau oder
Fotos Charles Ommanney / Getty Images; Bruno Barbey / Magnum Photos / Agentur Focus; René Burri / Magnum Photos / Agentur Focus
Schwarzer Peter. Nun war ich ans andere
Ende der Welt gezogen – und doch
spielten die Menschen dort mit dem
gleichen Kartensatz. Wie kann das sein?
Kennt man die Geschichte der
Karten, ist es nicht mehr so überra-
schend, sie in Asien anzutreffen: Das
weltweit erste Mal wurden Spielkarten
in der chinesischen Literatur erwähnt.
Bereits im Jahr 868 berichtet ein Schrift-
stück von einem höfischen Spiel, das aus
Baumblättern oder Holzstücken herge-
stellt wurde. Über die Regeln ist heute
nichts mehr bekannt. Nur so viel: Die Blätter
waren damals noch blank und unbemalt.
Über die Seidenstraße und andere
Handelsrouten gelangten die Karten in den
nächsten Jahrhunderten nach Persien und
weiter in die arabische Region. Hier verän-
derten sie sich das erste Mal: Die vier Farben
entstanden zu dieser Zeit. Von jeder gab es
von nun an zwölf Karten, darunter zwei
Hofkarten, König und Wesir. Die Vorder-
seiten wurden mit hohem Aufwand und viel
Kunstfertigkeit per Hand bemalt. Die wirk-
lich innovative Erfindung aber waren die
leer bleibenden (und damit alle gleich aus-
sehenden) Rückseiten: Jedes Spiel hatte nun
bekannte und unbekannte Karten – die
bekannten in der eigenen Hand und die
verdeckten der Mitspieler. Eine der Farben
von damals ist bis heute geblieben: Kreuz.
Seeleute und andere Reisende brachten
die neue Errungenschaft Ende des 14. Jahr-
hunderts über Italien nach Europa. Dort
verbreiteten sich die Karten rasend schnell
– und wurden ebenso rasch verboten. Die
Kirche sah in dem Glücksspiel das »Gebets-
buch des Teufels« und ließ die Karten (und
manchmal auch dessen Spieler) vielerorts
verbrennen. Doch all die Verbote halfen
nichts. Selbst der Adel spielte bald mit den
neuen Karten: Das älteste europäische Deck
zeigt Jagdszenen einer Hofgesellschaft. Und
wenig später verfasste ausgerechnet ein Do-
minikanermönch, Johannes von Rhein-
felden, die erste in Europa bekannte Be-
schreibung von Spielkarten und ihren
Regeln. Aus ihr wird klar: Schon vor rund
650 Jahren spielten die Menschen mit so
gut wie den gleichen Karten wie heute –
einem Deck aus viermal 13 Karten mit den
Hofkarten König, Ober und Unter (der
deutschen Version von Dame und Bube).
Noch bis ins 15. Jahrhundert hinein war
die Herstellung der Karten teuer und auf-
wendig. Erst mit der Erfindung der Holz-
schneidekunst und des Kupferstichs wur-
den Spielkarten billig und damit
Massenware. Besonders die Stadt Lyon ent-
wickelte sich zum Exportzentrum und
brachte das französische Farbsystem in die
ganze Welt. Es spiegelte die Klassen in Eu-
ropa zur Zeit König Ludwigs XV. wieder:
Trèfle (Kreuz) stand für die Bauern, Pique
(Pik) für den Adel, Cœur (Herz) für die
Kirche und Carreau (Karo) für die Kauf-
leute. Noch heute wird selbst das deutsche
Nationalspiel Skat mit dem französischen
statt mit dem deutschen Blatt (Eichel,
Laub, Herz und Schellen) gespielt.

Auch die Italiener prägten mit ihren Trionfi-
Karten, dem Vorgänger der Tarot-Karten,
die Spielgeschichte: Ihr Name führte zu
dem Begriff »Trumpf«.
Spätestens jetzt sah der Staat ein,
machtlos gegen den Siegeszug der Karten zu
sein – und verleibte sie sich ein. Überall
sprossen im 16. Jahrhundert staatlich kon-
trollierte Spielsalons aus dem Boden. Reine
Glücksspiele waren nur noch dort zuge-
lassen. Das berühmteste war zu dieser Zeit
wohl das französische Poque (deutsch: Po-
chen). Im 18. Jahrhundert waren Karten-
spiele dann derart beliebt, dass die englische
Regierung sogar eine Steuer darauf erließ:
Jedes Pik-Ass musste fortan abgestempelt
werden. Bis heute wird auf dem Ass meist
ein extra Leerraum gelassen.
Französische und deutsche Kolonia-
listen schließlich brachten Poque nach Ka-
nada. Über die Mississippi-Handelsrouten
fand es seinen Weg nach Amerika und
durchlief dort seine vorerst letzte große Ver-
änderung: Die Amerikaner erfanden das
moderne Poker-Spiel. Dessen anglo-
amerikanisches Blatt ist breiter als das
der Franzosen und trägt die Buchstaben
J (Jack) und Q (Queen) für Bube und
Dame. Auch der Joker ist den Amerika-
nern zu verdanken: Ursprünglich als
frecher Bauer in dem Trickbetrüger-
spiel Euchre genutzt, ist er die einzige
Karte ohne standardisiertes Design.
Lange Zeit spielten die Amerikaner zu
Hause oder in der Bar um Cent-Be-
träge. Erst die World Series of Poker,
eine einmonatige Poker-Turnierserie in
Las Vegas, die seit den 1970er-Jahren
veranstaltet wird, löste den Poker-Boom
aus. Der Staat legalisierte mehrere Poker-
Arten, Kasinos wurden eröffnet, Pokern
wurde zum Zuschauersport und Texas
Hold’em die beliebteste Spielart. Poker-Spie-
ler gewinnen und verlieren seitdem Millio-
nenbeträge (der Amerikaner Antonio Esfan-
diari gewann einmal über 18 Millionen
Dollar) und werden wie Stars behandelt. Für
wichtige Turniere fliegen sie um die halbe
Welt, TV-Sender übertragen die Spiele live.
Poker bringt unterschiedliche soziale
Schichten zusammen, die lange strikt ge-
trennt waren. Zu viktorianischen Zeiten
wurde noch zwischen ehrbaren und anrü-
chigen Kartenspielen unterschieden. Ehrbar
waren nur die Spiele des Adels, der Wert auf
komplizierte Regeln, auf Strategie und

Das Ass, die Löffel und ein paar Buchstaben
Regeln für zwei weniger bekannte Kartenspiele
TAMNOI, AUS LAOS.
Man benötigt: Ein 52er-Kartendeck ohne
Joker, Einsatz (z. B. 20 Cent pro Spieler
und Runde). Für mindestens 3 Spieler.
Die Einsätze aller Spieler sind stets gleich
hoch. Der erste Geber teilt gegen den
Uhrzeigersinn jedem Spieler sechs Karten
aus. Bei sehr vielen Mitspielern bekommt
jeder nur vier Karten. Die restlichen liegen
verdeckt auf einem Stapel, und die oberste
Stapelkarte wird daneben aufgedeckt.
Die Farben sind irrelevant. Abwechselnd
muss nun jeder Spieler mindestens eine
Karte in die Mitte legen. Der Spieler rechts
vom Geber beginnt. Hat er den in der Mitte
liegenden Kartenwert auf der Hand, darf
er diese drauflegen. Doppelte Karten
dürfen einfach mit abgelegt werden. Hat
er den Kartenwert jedoch nicht auf der
Hand, muss er zunächst eine Karte ziehen,
bevor er eine (oder mehrere doppelte)
beliebige Karte(n) aus seiner Hand ablegt.
Ziel des Spiels ist es, seine Handkarten
mit weniger Punkten und vor den anderen
Spielern aufzudecken. Die Karten zählen
so viel wie ihr aufgedruckter Wert. Bube,
Dame und König zählen je zehn Punkte,
das Ass zählt einen Punkt. Aufdecken darf
nur, wer an der Reihe ist, und zwar bevor
er eine Karte gezogen oder abgelegt hat.
Deckt ein Spieler seine Handkarten auf, ist
das Spiel zu Ende, und auch alle anderen
Spieler zeigen ihre Karten. Hat der aufde-
ckende Spieler weniger Punkte als alle
anderen Spieler, bekommt er von jedem
seiner Mitspieler den Einsatz gezahlt (bei
sechs Spielern also z. B. 5x 20 Cent). Hat
jedoch ein anderer Spieler weniger Punkte
auf der Hand, muss der Aufdeckende ihm
den Einsatz aller Spieler zahlen (bei sechs
Spielern also 6x 20 Cent). Bei gleicher
Punktzahl gewinnt der Aufdeckende.
Haben zwei andere Spieler dieselbe gerin-
gere Punktzahl, so gewinnt der Spieler
mit den wenigsten Karten. Haben wiede-
rum beide gleich viele Karten auf der
Hand, gewinnt derjenige, der näher rechts
am Aufdeckenden sitzt.
SPOONS, AUS ISRAEL.
Man benötigt: Ein 52er-Deck ohne Joker,
Löffel, Zettel, Stift. Für 3 bis 13 Spieler.
In der Mitte des Tisches liegen die Löffel
(einer weniger als Mitspieler) so im Kreis,
dass jeder Spieler gut an sie herankommt.
Jedem Spieler werden vier Karten ausge-
teilt, die restlichen liegen verdeckt auf
einem Stapel. Der erste Spieler (Dealer)
zieht so schnell wie möglich immer eine
Karte vom Stapel, schaut sich diese an
und entscheidet dann sofort, ob er sie
Arbeitslose Fischer
im Gazastreifen.
Wegen einer von
Israel verhängten
Blockade entlang
der Küste fahren
sie nicht aus. Rechts:
King George VI und
Queen Elizabeth
vergnügen sich 1942
im Buckingham-
Palast in London
a) verdeckt an seinen linken Nachbarn
weitergibt oder b) behält und eine andere
seiner Karten verdeckt an seinen linken
Nachbarn weitergibt. Ziel ist es, vier
gleiche Karten (z. B. vier Buben) auf der
Hand zu haben. Die Farben sind irrelevant.
Auch die anderen Mitspieler haben beide
Optionen und geben die Karten immer
verdeckt an den jeweils links sitzenden
Mitspieler weiter, sodass die Karten
schnell (und hektisch) alle gleichzeitig
zirkulieren. Der letzte Mitspieler legt die
nicht benötigten Karten auf einen Ablage-
haufen neben sich. Sollte der Stapel leer
sein, wird kurz pausiert. Der Dealer mischt
den Ablagehaufen, macht ihn zum neuen
Stapel und zieht weiter. Hat jemand vier
gleiche Karten auf der Hand, nimmt er
sich sofort unauffällig einen Löffel, tut
aber ansonsten so, als ob er weiterspielt
(ohne sein Quartett aufzulösen). Sieht ein
anderer Mitspieler, dass ein Löffel fehlt,
nimmt er sich ebenfalls sofort unauffällig
einen. Der Mitspieler, der es als Letzter
merkt und keinen Löffel mehr bekommt,
verliert. Der Gewinner der Runde mischt
und ist der Dealer der nächsten Runde.
Wer verliert, bekommt einen Buchstaben
aus dem Wort S-P-O-O-N. Wer alle Buch-
staben beisammen hat, scheidet aus (und
mit ihm ein Löffel). Der Spieler, der als
Letzter übrig bleibt, hat gewonnen.

Vorausplanung legte. Sie waren amüsanter
Zeitvertreib und Statussymbol. Die Armen
dagegen spielten mit viel Improvisation und
einfachen Regeln. Poker brachte im 20. Jahr-
hundert beides zusammen: Die Regeln sind
in wenigen Minuten gelernt – das Spiel zu
meistern ist jedoch eine Lebensaufgabe. Bei
Texas Hold’em etwa gibt es 2.598.960 Mög-
lichkeiten für ein Poker-Blatt aus fünf Karten.
Selbst Präsidenten spielten bald Poker: Ri-
chard Nixon finanzierte seinen Wahlkampf
mit Poker-Geldern, George W. Bush war als
Student ein begeisterter Spieler, und auch
Obama gilt als guter Poker-Spieler.
Ihre verbindende Funktion haben Kar-
tenspiele bis heute. In dem Jahr in Laos war
mein Deck Karten bald fester Bestandteil
meiner Handtasche. Denn an den Stein-
tischen am Mekong spielte ich nicht nur mit
Laoten, sondern mit Touristen und NGO-
Mitarbeitern aus aller Welt. Und stellte
dabei fest: Es gibt wohl kaum jemanden,
der nicht mindestens ein Kartenspiel
kennt. Französische Backpacker erklärten
mir Bataille Corse, das große Ähnlich-
keit mit Halli Galli hat. Israelische
Backpacker brachten Spoons mit, bei
dem man während des Kartenspiels un-
auffällig einen Löffel stehlen muss. Die
Karten waren dabei stets die einfachste
und eleganteste Möglichkeit, mit den
Fremden ins Gespräch zu kommen.
Beim Erklären von Regeln und den
ersten Spielzügen entstand eine lockere,
beschwingte Atmosphäre. Niemand
nahm in einer Redepause sein Handy
zur Hand. Keiner unterhielt sich aus-
Fotos Hulton Archive / Getty Images; Paolo Pellegrin / Magnum Photos / Agentur Focus
schließlich mit seinem direkten Nach-
barn. Und: Für Kartenspiele brauchten
wir keine großen Sprachkenntnisse.
Zurück in Deutschland, fiel mir beim
Umzug aus meinem Kinderzimmer in meine
erste Studentenbude das Handbuch der Magie
von Jochen Zmeck in die Hände. Das Buch
ist ein Standardwerk für alle Berufs- und
Hobbymagier. Beim müßigen Durchblät-
tern sah ich: 14 der 39 Kapitel behandeln
die Kartenkunst – ich war sofort begeistert.
Ich lernte, wie man Karten richtig mischt
und dass Zauberer meist normale (aber
glattere) Kartendecks nutzen. Vor allem aber
brachte mich das Buch dazu, die Symbole
auf den Karten zu betrachten.
Jede Karte hat eine Bild- und eine
Rückseite. Bis ins 19. Jahrhundert war die
Rückseite weiß. Das führte dazu, dass
Schummler kleine Zeichen aufmalten, um
die Karten im Spiel besser kontrollieren zu
können. Damit solche Markierungen nicht
mehr so leicht zu sehen waren, wurde
schließlich auch die Rückseite bedruckt, mit
extra komplizierten Mustern.
Die Bilder auf den Vorderseiten der
Karten stammen wahrscheinlich von Kar-
tenmalern aus dem 16. Jahrhundert. Ironi-
scherweise bilden viele von ihnen biblische
Figuren nach – trotz der Hetzjagd durch die
Kirche. So zeigt der Pik-König den bibli-
schen König David, die Herz-Dame die
Witwe Judith und die Karo-Dame Rachel,
eine der Erzmütter Israels. Andere Bilder
sind historischen Persönlichkeiten nach-
empfunden: der Herz-König Karl dem Gro-
ßen und der Karo-König Julius Cäsar. Der
Kreuz-Bube ist Lancelot aus der Artus-Saga
und die Pik-Dame Athene, die griechische
Göttin der Weisheit.
Wie immer in der Kunstgeschichte
bieten die Bilder auf den Karten Anlass für
wilde Spekulationen. Auffällig sind etwa die
drei »einäugigen Karten« Pik-Bube, Herz-
Bube und Karo-König. Diese drei Figuren
sind als Einzige im Profil abgebildet, wäh-
rend alle anderen frontal schauen. Zudem
trägt der Karo-König als Einziger eine Axt
anstelle eines Schwertes. Und: Der Karo-
König und der Herz-König halten ihre Waf-
fen so nah an ihren Kopf, dass es aussieht,
als wollten sie sich selbst töten. Über die
Jahre bekamen sie daher den Spitznamen
»Suicide Kings«. Der Joker schließlich er-
langte spätestens als Gegenspieler von Bat-
man im DC-Universum Berühmtheit.
Suicide Kings und einäugige Karten
– von den drei Decks, die ich in meiner
Wohnung finde, trifft die Beschreibung nur
auf eines zu. Es ist das Bicycle-Deck, ein

wunderschön gearbeitetes Poker-Deck, das
ich nach der Lektüre des Magierbuchs ge-
kauft hatte. Die Kartentricks von damals
habe ich fast alle verlernt. Heute spiele ich
mit einigen Freunden damit Doppelkopf – ein
Spiel mit vielen Regeln und einer schönen
Mischung aus Kartenglück und Strategie.
Wir versuchen, uns alle zwei bis drei Wochen
dafür zu treffen. Das klappt nicht immer.
Aber wenn, dann ist es eine große Freude.
Das zeigen auch die Zahlen: Der Markt
der Kartenspiele boomt. Allein in Europa
wurden 2019 etwa 624 Millionen Euro mit
dem Verkauf von Karten umgesetzt – Ten-
denz steigend. Für Black Jack, Doppelkopf
oder Solitär gibt es mittlerweile eigene Apps
und Online-Plattformen. Es ist fast unmög-
lich, herauszufinden, wie viele verschiedene
Spiele man mit einem oder zwei Decks
spielen kann. Allein die englische Website
pagat.com listet über 630 traditionelle und
fast 580 neue Spiele aus 117 Ländern auf
(Tamnoi ist übrigens nicht darunter). Es gibt
Ablegespiele wie Mau-Mau und Rommé,
Stichspiele (Stiche-Raten, Bridge) und
Augenspiele (Doppelkopf, Skat). Sammel-
spiele (Canasta, Quartett), Raubspiele
(Casino, Hurrikan), Wettspiele (Poker,
Bieten) und Anlegespiele (Patiencen, Fan
Tan). Und mit Alkohol kombiniert na-
türlich noch Trinkspiele wie Busfahren
oder Circle of Death. Manche werden mit
32 Karten (7 bis Ass) gespielt, andere mit
zwei vollen Decks zu je 52 Karten und
bis zu sechs Jokern, wieder andere nur
mit einem kurzen Blatt (10 bis Ass).
Fast jeder hat irgendwo Karten bei sich
zu Hause herumliegen. Mit ihnen lassen
sich dröge Familienabende aufpeppen
und neue Freundschaften schließen. Kar-
tenspielen ist Ritual und Überraschung zu-
gleich. Auch Sprücheklopfen gehört dazu.
»Karte oder Stück Holz!« etwa ist die stets
gleiche scherzhafte Forderung am Tisch
meines Schwiegervaters, wenn die Neffen
zu lange über den Karten brüten. Und
wenn ein Mitspieler es mit dem Mischen
etwas zu genau nahm, sagte ein Freund aus
dem Ruhrpott immer: »In Köln, unter der
Rheinbrücke, hat sich mal einer totge-
mischt.« Karten verbessern die mathemati-
schen Fähigkeiten, schulen das strategische
Denken und machen uns zu besseren Ver-
lieren. Aber noch wichtiger: Karten ermög-
lichen etwas, was Erwachsenen nur noch
selten vergönnt ist – zu spielen. —

DIE GROSSEN DENKSCHULEN
Vertrieben, gefeiert, gehasst:
Deutschland tat sich immer schon
schwer mit Karl Marx. Dabei sind
gerade im heutigen Kapitalismus
einige seiner Ideen wertvoll
Text Tobias Hürter
S
amstag, der 17. März 1883, auf
dem Friedhof Highgate in
London. Elf Leute stehen um
ein schlichtes Grab, in dem erst
vor einem guten Jahr eine Frau
bestattet wurde, Jenny Marx.
Jetzt ist es wieder geöffnet worden, ihr
Mann folgt ihr in die Erde. Karl Marx, staa-
tenlos, Journalist und Revolutionär. Sein
Schwiegersohn verliest Beileidstelegramme
von Sozialisten aus Russland, Frankreich
und Spanien. Sein Freund Friedrich Engels
hält die Grabrede: »So wie Darwin das Ge-
setz der Entwicklung der organischen Natur
entdeckte, so entdeckte Marx das Gesetz der
Entwicklung der Menschheitsgeschichte«,
Karl Marx
Collage Julia Ossko, Eugen Schulz
sagt Engels. »Sein Name und sein Werk
werden die Jahrhunderte überdauern.«
Es war nicht das letzte Mal, dass Marx
zu Grabe getragen wurde. Spätestens seit
dem Fall der Berliner Mauer gilt der Marxis-
mus weithin als gescheitert. Auf ihn beriefen
sich einige der unmenschlichsten Regime
und Diktatoren des 20. Jahrhunderts. Was
sollte Marx uns, die wir heute in der schein-
bar überlegenen Wirtschaftsform leben,
noch zu sagen haben? Ist er nicht längst
durch die Geschichte widerlegt? Doch mit
dem Fall der sozialistischen Regime sind
nicht die Gründe entfallen, Marx ernst zu
nehmen. Es ist nicht alles toll im westlichen
Kapitalismus, und dessen scharfsinnigster
Kritiker ist immer noch Marx. Wie immer
ein Weg in eine gute Zukunft nach dem
Kapitalismus aussehen mag, Marx kann
auch heute noch die Richtung weisen.
Karl Marx hat ein gewaltiges Werk hin-
terlassen. Die neue Marx-Engels-Gesamt-
ausgabe Mega heißt nicht zufällig so: Sie ist
auf 114 Bände angelegt. In den Sechziger-
jahren wurde sie von den Zentralkomitees
der KPdSU (Sowjetunion) und der SED
(DDR) ins Leben gerufen und soll 2031
fertig werden. Es ist fast unausweichlich,
Marx’ Werke gemeinsam mit denen seines
Freundes und Gönners Friedrich Engels
herauszugeben. Die beiden schrieben viele
Texte miteinander. Manche Sätze in ihren

Manuskripten sind in der Handschrift des
einen begonnen, in der des anderen vollendet.
Zwei Theorien stehen im Mittelpunkt
von Marx’ Denken: die Theorie des Mehr-
werts und der Historische Materialismus.
Mit der einen wollte er erklären, was die
Wirtschaft bewegt, mit der anderen, wie die
Geschichte voranschreitet. Aus heutiger
Sicht legte er zu viel Wert auf Produktion,
zu wenig auf Dienstleistung. Er sah nicht,
dass natürliche Ressourcen endlich sind. Er
ahnte nichts vom Aufschwung der Infor-
mationstechnik. Und doch enthalten die
Theorien Einsichten, die wertvoll bleiben.
Eine davon kam ihm bereits mit Mitte
20 im französischen Exil. Die Industrialisie-
rung war 1844 in vollem Gange, und Marx
begegnete zum ersten Mal Industriearbeitern.
Er erschrak angesichts ihrer Armut. Bei
solchen Lebensbedingungen sei es nur eine
Frage der Zeit, bis die Arbeiter revoltierten,
war er überzeugt. »Entfremdete Arbeit« war
der Begriff, mit dem Marx die Misere be-
schrieb: Zum Wesen des Menschen gehöre
es, produktiv zu sein, sich in der Welt ver-
wirklichen zu wollen. Dafür, und nicht für
Geld, arbeite er. Aber dafür müsse er sich in
den Ergebnissen seiner Arbeit wiedererken-
nen. Wenn jemand einen Stuhl baue, dann
fänden sich seine Stärke, seine Fingerfertig-
keit und sein Sinn für Schönheit darin
wieder. In der modernen Arbeitswelt werde
das jedoch immer schwieriger, vor allem
wegen zunehmender Arbeitsteilung und
Spezialisierung. Marx argumentierte, dass
dies in die Entfremdung führe – zu einem
Gefühl der Entkopplung dessen, was man
den ganzen Tag tut, und des Menschen, der
man ist. In den Fabriken verkümmerten die
Menschen selbst zu austauschbaren Maschi-
nenteilen. Sie müssten gehorchen und me-
chanisch handeln. Das sei das Paradox des
Kapitalismus: Menschen fühlen sich in ihm
dann am menschlichsten, wenn sie gerade
nicht arbeiten, wenn sie essen, trinken oder
Sex haben. So solle es nicht sein. Marx sagt:
Wir sollten uns am menschlichsten fühlen,
wenn wir etwas schaffen – wenn wir arbeiten.
Die Stühle, die ein Fließbandarbeiter
in einer Möbelfabrik produziert, tauchen
später in entfremdeter Form wieder auf. Im
Schaufenster eines Möbelgeschäfts sieht der
Arbeiter später den Stuhl nicht als sein
Werk, sondern als etwas, das er kaufen soll.
All die Stühle, Handys und Autos werden
von Arbeitern hergestellt, aber von den
Kapitalisten besessen und mit Gewinn ver-
kauft. Je mehr die Arbeiter produzieren,
desto reicher und mächtiger werden die
Kapitalisten. Das war es, was Marx am Ka-
pitalismus am meisten störte. Er nannte es
»kapitalistische Akkumulation«: Kapitalis-
ten drücken die Löhne der Arbeiter so nied-
rig wie möglich, um möglichst viel Profit
herauszuschlagen. Während Kapitalisten
ihren Profit als fairen Lohn für ihren Ein-
fallsreichtum und ihr Talent ansehen, be-
trachtete Marx ihn als Diebstahl am Talent
und Fleiß der Arbeiter. Das Grundprinzip
des Kapitalismus ist, die Arbeit von Men-
schen einzukaufen und die Früchte dieser
Arbeit teurer zu verkaufen. Profit: Das ist ein
beschönigendes Wort für Ausbeutung.
Karl Marx wurde 1818 in Trier
geboren. Er promovierte in
Philosophie, arbeitete als
Journalist und machte sich so
unbeliebt, dass er Deutschland
verlassen musste. Mit seiner
Frau Jenny ließ er sich in
London nieder und schrieb
eine Unmenge von Büchern
und Artikeln, oft gemeinsam
mit seinem Freund Friedrich
Engels. 1867 erschien der erste
Band von »Das Kapital. Kritik
der politischen Ökonomie«.
1883 starb Marx in London.
Aber im Kapitalismus leiden nicht nur die
Arbeiter. Das ganze System ist instabil. Wir
sind schon so an die Boom-Bust-Zyklen
gewöhnt, dass wir uns nicht mehr an ihnen
stören. Aber woher kommen sie? Warum
scheint die Wirtschaft immer wieder außer
Kontrolle zu geraten, wie zuletzt während
der globalen Finanzkrise? Obwohl die meis-
ten Menschen aus ihrer Sicht wohlbedachte
Entscheidungen treffen, scheint das System
immer wieder den Kopf zu verlieren – als
sei es zum Spielball »äußerer Mächte«
(Marx) geworden. Aber wir selbst haben
diese Mächte entfesselt. Kapitalismus ist ein
Monster, das uns kontrolliert und das wir
selbst geschaffen haben: Das ist der Kern-
gedanke der Entfremdung bei Karl Marx.

Warum seine Gedanken heute so unpopulär
sind? Marx vermutete, dass das Wirtschafts-
system auf perfide Weise unser Denken und
unsere Werte manipuliert. Die Ökonomie
bringe hervor, was der Philosoph eine
»Ideologie« nannte: Was Menschen, arm
oder reich, für wertvoll und erstrebenswert
halten, hängt letztlich davon ab, was der
Wirtschaft hilft. Wer nicht schuftet, ist ein
schlechter Mensch. Wer mehr als ein paar
Wochen im Jahr Auszeit von der Arbeit
nimmt, ist ein Faulenzer. Wer sein hart ver-
dientes Geld nicht für ein tolles Gadget
und Bling-Bling ausgibt, ist uncool. Cool
ist, wer Kohle macht. Das Schlimme am
Kapitalismus seien nicht die korrupten
Leute ganz oben, sondern dass er uns allen
das Gehirn wasche. Er mache uns zu ängst-
lichen Strebern und Konformisten.
Wie sähe das Leben in einer nicht ent-
fremdeten Gesellschaft aus? Dazu blieb
Marx merkwürdig vage, zum Teil wohl mit
Absicht. Er unterschied zwischen wissen-
schaftlichem und utopischem Sozialismus.
Utopische Sozialisten haben eine Vorstellung
davon, wie eine gute Gesellschaft aussieht
und wie man die Gesellschaft zu diesem
Ideal bringen kann. Marx hingegen verstand
sich als wissenschaftlichen Sozialisten, als
Erforscher der Kräfte, die den Lauf der Ge-
schichte bestimmen, der Ursachen und
Wirkungen. Die Zukunftsgesellschaft lasse
sich nicht herbeiträumen, sie müsse sich aus
dem Lauf der Geschichte entfalten.
Ein paar Hinweise gab er aber doch. Im
Kommunistischen Manifest beschreiben Marx
und Engels eine Welt ohne Privateigentum
und ohne ererbten Reichtum, mit einer
stark progressiven Einkommensteuer, zen-
traler Kontrolle des Banken-, Kommunika-
tions- und Transportwesens und mit einem
frei zugänglichen Bildungssystem für alle. In
einer solchen Gesellschaft seien die Men-
schen wirklich frei, glaubten die beiden. Es
stehe dann jedem frei, »heute dies, morgen
jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags
zu fischen, abends Viehzucht zu treiben«,
steht im Manuskript Die deutsche Ideologie
in Engels’ Handschrift – und daneben
schrieb Marx: »nach dem Essen kritisieren«.
Kleiner Scherz auf Engels’ Kosten. Im Klar-
text: Das können wir nicht ernsthaft in unser
Buch schreiben. Aber manchmal ist der
Spaß von gestern der Ernst von morgen. —
Im nächsten Heft: René Descartes


DUELL IN
DER SONNE
 

Im Süden Italiens zeigt uns die Evolution gerade

einen dramatischen Zweikampf. Der Olivenbaum,
größter Überlebenskünstler der Bäume, gegen Xylella,
ein raffiniertes und tödliches Bakterium.
Die Frage ist: Welche Rolle spielt der Mensch?
Und welche will er spielen?

Text Rebekka Gottl

D
en Olivenbäumen ist ihre Lebenser-
fahrung anzusehen, die aufgerissene
Rinde erzählt von heißen Sommern
und eisigen Nächten, die Stämme sind
das sichtbare Gedächtnis dieser kargen
Weite. Die Baumveteranen des Salento
haben die Heere der Kreuzzüge, den Aufstieg der Nor-
mannen, Pilger und Seefahrer an sich vorüberziehen
lassen. Auch die Vulkanasche des Vesuvs stoisch ertragen,
Blitz und Donner überlebt. Ihre Blätter, die Wasser
speichern können wie nur die weniger Bäume, und ihre
bis zu sieben Meter tief reichenden Wurzeln machen
sie zu Überlebenskünstlern: Olivenbäume sind boden-
ständig und Meister der Langsamkeit. In der Gemein-
schaft haben sie allem getrotzt. Bis jetzt.
Wo bis vor Kurzem kräftige Blätter wuchsen, hän-
gen nun vertrocknete Röllchen an dürren Armen. Als
hätten sie zu viel Hitze und kein Wasser abbekommen.
Den Nachbarn ergeht es nicht besser: Auch aus ihren
Blattspitzen ist die Farbe gewichen, sie sind so blass wie
vergilbtes Papier. Die Olivenhaine im Salento, dem Ab-
satz des italienischen Stiefels, sind zum Austragungsort
eines Krieges geworden, der bereits mehrere Millionen
Opfer gefordert hat. Und sich immer weiter ausbreitet.
Fotos Cathrine Stukhard / laif; Ulla Jarlfors / University of Kentucky / Bugwood.org (vorn)
Die Gegner könnten kaum unterschiedlicher sein. Auf
der einen Seite der Angegriffene: Olea europaea, der
jahrhundertealte Olivenbaum. Auf der anderen der
Angreifer: Xylella fastidiosa, ein Bakterium, das mit
bloßem Auge nicht zu sehen ist. Das wenige Mikro-
meter große Lebewesen hat eine Schneise der Verwüstung
im Süden Apuliens hinterlassen und fast die Hälfte der
25 Millionen Olivenbäume infiziert. Das Zentrum des
Konflikts, die Befallszone, ist fünfmal so groß wie Berlin.
Das Bakterium hinterlässt kahle, leblose Stümpfe.
»Als ob ein Flächenbrand den Olivenhain zerstört hätte«,
sagt die Biotechnologin Eva Fornefeld vom Julius Kühn-
Institut in Braunschweig. Xylella fastidiosa, übersetzt
das »ärgerliche«, »lästige« Bakterium, wird deshalb auch
Feuerbakterium genannt. Mit dem Olivenbaum hat
Xylella das perfekte Opfer gefunden: Er ist unbeweglich,
ungeschützt und gänzlich unvorbereitet.
Xylella besiedelt das Xylem, die Leitbahnen im
Holz, welche Wasser und Nährstoffe von der Wurzel bis
in die Blätter transportieren. In den Leitbahnen schließen

Krieg im Salento: Das Bakterium Xylella fastidiosa (S. 57) greift die altehrwürdigen Olivenbäume
in Italiens Hainen an. Sein verlässliches Vehikel: Die Wiesenschaumzikade (linke Seite)
sich Bakterien zusammen und bilden Biofilme, eine Art
Bakterienschleim, der Xylella vor der Abwehr des Baums
schützt. Xylella ernährt sich von den abgefangenen
Nährstoffen und blockiert so die Transportbahnen, so-
dass die Blätter nicht mehr ausreichend versorgt werden.
Sie welken, die Äste vertrocknen, der Olivenbaum stirbt
ab. Da das Xylem die komplette Pflanze durchzieht,
wird Xylella durch die Leitbahnen von einem Ast zum
nächsten gebracht, vermehrt sich und stoppt die Ver-
sorgung. Die angegriffene Pflanze hat keine Rüstung,
kein Schild und keine Waffe, sie ist wehrlos. Über-
schwemmungen und Dürren haben die Bäume über-
Fotos mauritius; Alessio Paduano / Polaris / laif
standen, indem sie ihre Blätter abgeworfen haben. Ge-
gen Xylella hilft das nicht.
Das Gefecht wird in Süditalien ausgetragen, der
Rest Europas ist bisher fast verschont geblieben. Auf
anderen Kontinenten wütet Xylella schon seit mehr als
hundert Jahren. »Von Zentralamerika ist der Erreger
sowohl in den Norden als auch in den Süden des Kon-
tinents gewandert«, sagt Alice Del Bianco von der Euro-
päischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA). In
kalifornischen Weinbergen welkten die Blätter der Reben,

Forscher sprachen von der »Pierce-Krankheit«. Doch
erst Ende des 20. Jahrhunderts fanden Wissenschaftler
den Auslöser für die Symptome: das Bakterium Xylella
fastidiosa. Es setzt nicht nur Weinreben außer Gefecht,
sondern auch Mandelbäume, Zitrusgewächse und
Kaffeesträucher. 563 Pflanzenarten hat Xylella bereits
bezwungen, manche davon hat es komplett ausgelöscht.
Bis heute greift es weitere Opfer an – mit einer ausgeklü-
gelten Taktik: Es rückt nicht als geschlossenes Heer vor,
sondern dringt in Einheiten von 200 Zellen in die
Pflanze ein – nur halb so groß wie ein Senfkorn.
Xylella bildet fünf Unterarten aus. »Die sind bio-
logisch verschieden, jede Art hat ein anderes Spektrum
von Wirtspflanzen«, sagt Donato Boscia. Der Pflanzen-
pathologe ist Direktor des Nationalen Forschungsrats
(CNR) im apulischen Bari. Er untersucht vor allem die
Spezies pauca, die im Salento nicht nur Oliven-, sondern
auch Kirsch- und Pfirsichbäume infiziert. Boscia ver-
mutet, dass Xylella bereits 2008 nach Italien kam. Aller-
dings seien die Wege im Nachhinein schwer zurückzu-
verfolgen. Entdeckt wurde der Erreger nämlich erst im
Herbst 2013. »Wahrscheinlich hat er sich auf einem

Existenzieller Kampf: Um Europa vor dem mörderischen Bakterium zu schützen, brandroden die
apulischen Bauern zehn Millionen infizierte Olivenbäume. Und vernichten ihre Lebensgrundlage
Containerschiff versteckt und damit den Ozean über-
quert«, sagt Del Bianco. Genetische Analysen deuten
darauf hin, dass sich Xylella in einer Kaffeepflanze ein-
genistet hatte, die nach Italien importiert wurde. Die
Kriegsstrategie, sich in einer Art Trojanisches Pferd zu
verschanzen, ging auf: Im Schutz der Kaffeepflanze, die
keine Krankheitssymptome zeigte, konnte der Einzeller
unbemerkt von Amerika nach Europa geschleust werden.
Auch den Olivenbäumen im Salento ist nach der feind-
lichen Übernahme durch Xylella zunächst nichts anzu-
merken. Bis die Blätter welken, vergehen bis zu zehn
Monate. In dieser Inkubationszeit breitet sich Xylella in
der Pflanze aus. »Wenn sich die ersten Symptome zeigen,
ist es oft schon zu spät«, sagt die Biotechnologin Forne-
feld. Der Baum kann nicht mehr gerettet werden.
Apulische Bauern kultivieren Olivenbäume seit
Jahrtausenden als Nutzpflanze, mit einem solchen An-
griff haben sie nicht gerechnet. Gegen das Bakterium
gibt es keine wirksame Abwehr, und die Pflanzen können
sich nicht aus eigener Kraft verteidigen. Sie müssten
kapitulieren, wäre da nicht ihr kluger Verbündeter: die
Wissenschaft. In Bari, Deutschland und auf europäi-
scher Ebene arbeiten Forscher wie Donato Boscia, Eva
Fornefeld und Alice Del Bianco unter Hochdruck an
der Rettung der Olivenhaine. Doch die Wissenschaftler
sind im Verzug. Das Schlachtfeld wird immer größer,
die Zahl der Opfer steigt. Zu lange wurde der Kampf
als regionaler Konflikt abgetan. Dass er sich aber nicht
auf Süditalien beschränkt, sondern ganz Europa gefähr-
det, zeigen Computermodellierungen. »Wird Xylella
nicht zügig bekämpft, breitet sich der Krisenherd weiter
aus«, sagt Del Bianco. Denn auch das Bakterium hat
einen mächtigen Alliierten, der es unauffällig, aber sehr
zuverlässig unterstützt: den Klimawandel.
Der Erreger hat es gerne warm. Steigen die Tem-
peraturen, kann Xylella auch im Norden Europas über-
leben und sich in Eichen und Ahornen vermehren. Dass
ein Angriff in Deutschland realistisch ist, hat sich 2016
gezeigt. Damals ist Xylella in Sachsen aufgetaucht. Zwar
habe der infizierte Oleander überlebt, weil er in einem
Gewächshaus stand, im Freien sei es hingegen gar nicht
möglich, die Bakterien abzutöten, sagt Eva Fornefeld.
»Man müsste die Pflanze von innen desinfizieren.«
Doch das ist bisher bloß eine Idee – die Wissenschaftler

kennen weder das richtige Mittel noch den Injektions-
weg. Deshalb hat die EU-Kommission einen Krisenplan
für den Salento erstellt. Demzufolge müssten die Land-
wirte ihre Haine durch Brandrodung zerstören, um die
Ausbreitung des Kriegsgebiets zu verhindern. Sie sollen
zehn Millionen Olivenbäume wegbrennen und in ei-
nem hundert Meter breiten Streifen um die Befallszone
sogar gesunde Pflanzen fällen. Eine Katastrophe für die
Bauern – sie sollen ihre Existenz eigenhändig zerstören.
Allerdings haben die Olivenbäume nicht nur einen
ökonomischen Wert für die Menschen im Salento: Sie
werden über Generationen weitervererbt, die Geburt
eines Kindes wird mit dem Pflanzen eines Baums gefei-
ert. Kein Wunder, dass sich Widerstand gegen die Ver-
nichtung der Bäume regt. Umweltschützer haben sich
Die Olivenbäume
müssten kapitulieren,
wäre da nicht ihr
kluger Verbündeter:
Die Wissenschaft
an erkrankte Pflanzen gekettet und sind sogar gegen
Donato Boscia und seine Kollegen vor Gericht gezogen.
Der Vorwurf, Boscia selbst habe Xylella bei Experi-
menten freigesetzt, konnte zwar entkräftet werden, ei-
nige sind aber noch immer misstrauisch.
Währenddessen hat Xylella einen weiteren Ver-
bündeten gefunden: Da es keine längeren Distanzen
zurücklegen kann, ist es auf ein Transportmittel ange-
wiesen. Die Wiesenschaumzikade bringt – ähnlich wie
ein Panzerfahrzeug – kleinere Einheiten sicher über das
Schlachtfeld und in neue Gebiete. Das etwa sechs Milli-
meter lange Insekt hat einen bräunlich gesprenkelten
Körper, spinnenartige Beine. Es kann bis zu 70 Zenti-
meter hoch springen und daher problemlos auf Bäume
hüpfen. Dort saugt die Zikade am Xylem, und eine
Bakterien-Einheit springt in den Mundraum der Zika-
de, wo sich Xylella vermehrt. Saugt sie am nächsten
Baum, verlässt Xylella ihr Transportmittel und gelangt
über den Speichel in den nächsten Baum. Einige Bakte-
rien bleiben dagegen im Überträger zurück, die Zikade
ist weiterhin infiziert. Wieder vermehren sich die Erre-
ger und greifen eine weitere Pflanze an.
Die Wissenschaft setzt trotz der scheinbar aus-
sichtslosen Lage nicht auf Friedensverhandlungen. Im
Gegenteil: Die Forscher sind zuversichtlich, eine Waffe
gegen Xylella zu finden. Sie rüsten auf – und töten die
Überträger. Mit der Vernichtung der Transportmittel,
Foto Patricia Kühfuss
so lautet der Schlachtplan, könnten sich die Bakterien
nicht mehr fortbewegen. Um die Zikaden schon im
Larvenstadium zu zerstören, wird der Boden des Hains
gegrubbert und gemulcht. »Durch diese nicht chemi-
sche Maßnahme kann die Larvendichte stark verringert

werden«, erklärt Michael Maixner vom Julius Kühn-
Institut bei Landau in der Pfalz. Zusätzlich könnten die
Olivenbauern Insektizide einsetzen.
Gleichzeitig forscht der Pflanzenpathologe Donato
Boscia mit seinem Team in Bari an resistenten Oliven-
baumarten, denen Xylella nichts anhaben kann. Dazu
pfropfen sie Triebe gesunder Arten auf die Stämme be-
reits befallener Bäume. Welken die Blätter, hat Xylella
auch dieses Gefecht gewonnen. Zeigen die Triebe jedoch
keine Symptome, schöpfen die Wissenschaftler Hoff-
nung: Die Sorte könnte sich womöglich gegen Xylella
wehren. Zwei Arten sehen vielversprechend aus.
Knapp 800 Kilometer nordwestlich von Bari fährt
Alice Del Bianco von der EFSA ebenfalls schweres Ge-
schütz auf. Forscher hätten ein Molekül entdeckt, das
den Biofilm im Xylem durchbrechen könne, den Xylella
bildet, um sich zu schützen, sagt sie – eine eklatante
Schwachstelle des Bakteriums, die die Wissenschaftler
nutzen wollen. Sie probieren das Molekül in Südame-
rika an Zitruspflanzen aus. »Die Ergebnisse sind vielver-
sprechend«, sagt Del Bianco. Deshalb testen die Pflan-
zenpathologen es jetzt an infizierten Olivenbäumen.
Xylella ist nicht der erste Schädling, der ein herr-
schaftliches Baumvolk bedroht. Vor etwa hundert Jahren
vernichtete ein aus Asien eingeschleppter Pilz die präch-
tigen Kastanienwälder Nordamerikas. In Deutschland
vertrockneten über Jahrzehnte viele Millionen Ulmen,
manche von ihnen waren fast 800 Jahre alt. Wie Xylella
nistet sich auch dieser Erreger, ein Pilz, in den Leit-
bahnen der Ulmen ein. Der Transport von Wasser und
Nährstoffen wird unterbrochen, die mächtige Krone
verdorrt – wie bei den Olivenbäumen. Innerhalb kür-
zester Zeit breitete sich der Pilz in ganz Europa aus.
Infizierte Bäume mussten gefällt werden, denn auch
dieser Pilz hat ein potentes Transportmittel gefunden:
den Ulmensplintkäfer, der wie die Wiesenschaumzikade
den Erreger unbemerkt massenhaft verbreitet.
Der Versuch, den Überträger zu vernichten, war
jedoch genauso erfolglos wie der Einsatz von Pilzgift.
Erst nach Jahren hatten Wissenschaftler endlich Erfolg:
Sie züchteten resistente Arten. Außerdem entwickelten
sie einen Impfstoff, der gesunde Bäume vor den Pilz-
sporen schützt, zumindest ein Jahr lang. Und auch für
die Amerikanische Kastanie gibt es eine Rettung: Gen-
technik. Forscher schleusten resistente Weizen-Gene in
den Baum ein. Bald könnte die veränderte Art zugelas-
sen werden, dann würde die prächtige Kastanie wieder
in die amerikanischen Wälder zurückkehren.
Der Verbündete des Olivenbaums, der Mensch,
hat schon einige Schlachten für sich entschieden. Nun
muss er sein Können in Apulien unter Beweis stellen. —
Rebekka Gottl fand die Vorstellung schrecklich, Bäume
nicht gegen mikroskopisch kleine Angreifer verteidigen zu
können. Doch jetzt hat sie Hoffnung geschöpft und will sich
einen Olivenbaum auf ihren Balkon stellen.


DER BLICK
DER ANDEREN
Jeder Mensch erlangt in seinem Leben ein ganz eigenes
Wissen. Was wir lernen können von einem Notarzt, einer Hackerin,
einem Warentester, einer Friseurin und einem Personaler
Text Tobias Hürter, Max Rauner und Katrin Zeug Illustrationen Noma Bar

W
er laut schreit, der muss
nicht unbedingt schwer
verletzt sein. Sagt Stefan
Kappus. Der hat schon
viele Menschen schreien
gehört. Erst als Mitar-
beiter des Malteser-Rettungsdienstes, da
war er gerade mal 18, und später mehr als
30 Jahre lang als Hubschrauber-Notarzt.
Heute ist Kappus 64 Jahre alt und ärztlicher
Leiter des Rettungsdienstes der Feuerwehr
Hamburg. Er sagt: »Bei einem Notfall hat
jeder eine Vorstellung, was sein könnte. Da
kann man sich leicht vertüddeln.« Deshalb
haben die Experten das Lebenretten über-
sichtlicher gemacht, und auch Nichtmedi-
ziner können sich davon etwas abgucken.
So wie wir alle voneinander etwas lernen
können. Jeder weiß etwas, das sich lohnt,
weitergegeben zu werden. In dieser Serie
versuchen wir, die Expertise ganz unter-
schiedlicher Menschen zu erschließen.
Der Notarzt
»Wo genau ist der Notfallort?« Das ist stets
die erste Frage, wenn in der Einsatzzentrale
der Feuerwehr in Hamburg das Telefon
klingelt. 288.000-mal hat im vergangenen
Jahr jemand die 112 gewählt und ist dort
gelandet. Mehrere Bildschirme hat jeder
der Mitarbeiter vor sich. Sie zeigen den
Stadtplan und eine Übersicht aller Einsatz-
fahrzeuge, die Fragen, die der Reihe nach
gestellt werden müssen, und das Protokoll.
»Sagen Sie mir genau, was passiert ist.«
Früher wäre an dieser Stelle des Ge-
sprächs ein Krankenwagen losgeschickt und
aufgelegt worden. Heute berechnet ein
Computer die Dringlichkeit des Notfalls,
und ein anderer Kollege schickt den Wagen
los, während die Verbindung zum Anrufer
gehalten wird – und ihm ganz genau gesagt
wird, was er zu tun hat. Das kann zum Bei-
spiel so ablaufen: »Sind Sie denn jetzt bei
ihm? Wie alt ist er? 65 Jahre. Männlich war
richtig, ja? Atmet er? Es ist Hilfe unterwegs.
Liegt er denn jetzt auf dem Boden? Gut.
Dann drehen Sie ihn einmal so, dass er flach
auf dem Rücken liegt.« Weil diejenigen, die
die Notrufe annehmen, auch nicht in jeder
Situation wissen, was zu tun ist, werden sie
von einem Algorithmus durch einen Ent-
scheidungsbaum gelotst, mit mehreren Hun-
dert Fragen und Antworten. Von Atembe-
schwerden bis Verkehrsunfall werden 33
Notsituationen abgefragt und mit Schlüssel-
fragen eingegrenzt. »Legen Sie jetzt mal ein
Ohr von sich an seinen Mund. Können Sie
die Atmung fühlen oder hören?«
Besser durchblicken! Woran erkennt
man schnell, woran ein Mensch leidet? »Mit
dem englischen ABCDE-Schema«, sagt
Stefan Kappus. Es verschafft Sanitätern in
90 Sekunden einen Überblick. A wie Airway
(Atemwege): Befinden sich Nahrungsreste
im Mund? Ist die Zunge in den Rachen ge-
rutscht? B wie Breathing (Atmen): Atmet der
Patient? Röchelt oder schnauft er? C wie
Circulation (Kreislauf ). Dafür kurz auf ei-
nen Fingernagel drücken, sodass die Farbe
der Nagelhaut von rosa zu weiß wechselt –
dann loslassen. Bei Kreislaufproblemen
bleibt die Nagelhaut weiß. D wie Disability
(neurologische Defizite): Reagiert die Per-
son auf Ansprache? Wirkt die Person des-
orientiert oder durcheinander? E wie Expo-
sure (Patient entkleiden): Hat die Person
Verletzungen, Prellungen, Schürfwunden?
Auch wenn eine Person nicht lebensbe-
drohlich verletzt ist, braucht sie Unter-
stützung, bis der Rettungswagen eintrifft.
In der Zeit: gut zureden. Halt geben. Ein-
fach nur da sein, auch wenn man es eilig hat.
 Was wir sehen, hängt auch davon ab, was uns gerade viel
beschäftigt. Es lohnt sich immer, mal die Perspektive zu wechseln
 Experten kennen nicht nur die Fakten. Sie besitzen auch stilles
Wissen, gespeist aus Erfahrungen, die ihren Blick geschärft haben

Der Warentester
Holger Brackemann ist Chemiker. Er prüft
seit 16 Jahren Produkte für die Stiftung
Warentest – von Rasenmäher bis Riester-
Rente, von Babybrei bis Sonnencreme. Zu-
sammen mit mehr als 100 Laboren lassen er
und seine Mitarbeiter probemähen, probe-
cremen, Schadstoffe und Akkuleistungen
messen. Brackemann findet es so interes-
sant, wie Unternehmen ihre Produkte ge-
stalten, dass er sogar privat regelmäßig den
Telefonanbieter wechselt – nur um zu
schauen, wie gut das funktioniert.
Herr Brackemann, woran erkennen Sie
die Qualität eines Produktes?
Ich allein ehrlich gesagt: gar nicht. Aber es
ist schon viel wert, das zu wissen. Man muss
gar nicht erst versuchen, die Qualität eines
Produkts mit bloßem Auge zu erkennen.
Oder durch ein bisschen Ausprobieren.
Oder wenn man die technischen Daten
liest. Lange wurde zum Beispiel bei Staub-
saugern ganz groß die Wattzahl draufge-
schrieben. Die Leute dachten: Je höher die
ist, desto besser saugt das Gerät. Dabei hat
das wenig miteinander zu tun. Außerdem
geht es ja nicht nur um die Staubaufnahme,
sondern auch darum, wie gut der Staub im
Gerät behalten wird. Um das zu ergründen,
braucht es richtige Versuchsaufbauten.
Gibt es gar kein Wissen, das dabei hilft?
Ich bekomme hier jedes Jahr einen Staub-
saugertest auf den Tisch, und die Erfahrung
zeigt, dass Sie unter 80 Euro keinen bekom-
men, der qualitativ vernünftig ist. Es gibt
Standardschwachstellen wie die Kabelauf-
rollung, die müssen mechanisch stabil ge-
baut sein. Auch die Kohlebürsten im Motor
sind Verschleißteile; werden die nicht
ausreichend dimensioniert, ist der Motor
irgendwann kaputt. Teure Produkte hin-
gegen haben oft viele spezielle Programme
oder Extradüsen, und da ist meine persönli-
che Erfahrung: Die nutzt man eh nie. Ich
würde also bei elektrischen Geräten weder
unter eine bestimmte Preisgrenze gehen
Illustrationen Noma Bar / Dutch Uncle
noch an den oberen Rand.
Haben Sie ein Gespür für Murks?
Manchmal gibt es Produkte, die einfach
nicht funktionieren können – wie zum Bei-
spiel ein flüssiges Vollwaschmittel. Bleiche,
einen wichtigen Bestandteil, kann man in
eine flüssige Rezeptur einfach nicht reinfor-
mulieren. Ebenso diese Portionswaschmittel:
hübsche bunte Gelkissen, sowohl für
Wasch- wie für Spülmaschinen. Beide haben
in unseren Tests sehr schlecht abgeschnitten.
Auch sind Spülmaschinen eigentlich so
eingerichtet, dass der Klarspüler erst zum
Schluss zugegeben wird. Bei den All-in-
one-Tabs kommt immer alles gleichzeitig
am Anfang rein. Da habe ich schon das
Gefühl, dass der Erfolg durch Marketing
getrieben ist. Die Leute wollen möglichst
wenig nachdenken, darum setzen sich solche
Produkte durch. Obwohl sie viel teurer sind.
DIE SERIE
BESSER
DURCHBLICKEN
Was wir von Experten für den
Alltag lernen können
1. TEIL: JURISTIN, KOMMISSAR, DOMINA,
ZAUBERER, MATHEMATIKER
(nachbestellen unter zeit.de/zw-archiv)
2. TEIL: FOTOGRAFIN, STERNEKÖCHIN,
BAUGUTACHTER, PSYCHOANALYTIKER,
REINIGUNGSKRAFT
(nachbestellen unter zeit.de/zw-archiv)
3. TEIL: HACKERIN, WARENTESTER,
FRISEURIN, PERSONALCHEF, NOTARZT
(in dieser Ausgabe)
Taugen Online-Kundenbewertungen?
Eine Untersuchung hat ergeben, dass die
Sternebewertungen bei Amazon kaum mit
unseren Testergebnissen korrelieren. Das ist
aber auch nicht verwunderlich, weil ja ein
normaler Nutzer so etwas wie Schadstoffe
oder Lebensdauer gar nicht prüfen kann.
Außerdem wird da auch noch viel gefakt. Es
gibt Facebook-Gruppen, bei denen be-
kommt man Produkte genannt, die man
kaufen und bewerten soll. Wer anschließend
eine gute Bewertung schreibt, erhält das
Geld zurück und darf das Produkt behalten.
Besonders bei positiven Bewertungen sollte
man daher skeptisch sein.
Kann man sich an Labels wie »Made in
Germany« orientieren?
Wo etwas hergestellt wurde, sagt – wenn es
überhaupt je etwas ausgesagt hat – heute
nichts mehr über die Qualität aus. Wenn

jemand Geld in die Hand nimmt, dann
kann er in China ebenso gute Zulieferer
finden wie überall sonst auf der Welt. Rela-
tiv neu ist aber, dass Kunden direkt im Aus-
land einkaufen können, auf Plattformen
wie Wish, AliExpress oder Amazon Market-
place. Untersuchungen stellen da immer
wieder erhebliche Sicherheitsrisiken fest.
Zum Beispiel bei Rauchmeldern oder durch
Schadstoffe. Der Verkauf dieser Produkte
ist in Europa verboten, aber die Marktauf-
sicht kommt einfach nicht hinterher.
Was raten Sie?
Grundsätzlich gilt: Wer Qualität herstellen
will, muss einen gewissen Aufwand betrei-
ben. Ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis
haben Eigenmarken von Handelsketten.
Unsere Untersuchungen zeigen immer wie-
der: Es gibt keinen systematischen Qualitäts-
unterschied zwischen Marken wie denen
von Aldi, Edeka und Rewe und anderen.
Oft liegen die Eigenmarken sogar ein kleines
Stück weiter vorne. Die Sonnencremes der
Discounter waren beispielsweise Testsieger
und kosteten nur ein Zehntel.
Die Friseurin
Der Arbeitsplatz von Lisa Zeitler ist eine
lichtdurchflutete Fabriketage in Berlin-
Kreuzberg. Blumen wuchern in dem Raum,
Teppiche machen es sich auf dem Holzbo-
den bequem, die Wände sind verspiegelt,
davor: lederne Frisierstühle. Auf Tischchen
neben den Wartesesseln buhlen Kunstma-
gazine um Leser, es gibt Wasser mit Kräu-
tern und Blüten darin. Hier schneiden,
färben, waschen und legen Lisa Zeitler und
ihre Kollegen, sie glätten, strähnen und lo-
cken. Und wer möchte, wird hier auch
professionell geschminkt. Frisur und Make-
up, sagt Zeitler, verrieten viel über einen
Menschen. Ob jemand überaus pingelig sei,
eher natürlich, trendbewusst oder sparsam,
erkenne sie in den ersten Minuten. Manche
Kunden haben sich vorab auf Instagram
über Trends informiert und wissen genau,
was sie wollen. Andere wirken, als hätten
sie, bis sie sich in den Frisierstuhl setzen
und in den Spiegel schauen, fast vergessen,
dass sie Haare auf dem Kopf haben.
Zeitler hat nicht nur das Haareschnei-
den gelernt, sie ist auch Maskenbildnerin
und weiß: Damit die Frisur zu einer Person
passt, muss sie nicht nur auf Haarstruktur
und Gesichtsform achten, sondern auch auf

die Persönlichkeit. Bei neuen Kunden be-
obachtet sie daher auch Haltung, Kleidung
und Körperspannung, sie fragt nach dem
Beruf und was die Person dort darstellen
muss und möchte und wie viel Zeit für die
Frisur im Alltag bleibt. Sie schaut, wie sich
jemand bewegt, in die eigenen Haare fasst
und in den Spiegel blickt. Zweifelnd? Prü-
fend? Experimentierfreudig? »Manche kom-
men nach einer Trennung und sagen: Bitte
einmal alles anders«, sagt Zeitler. Dann färbt
sie von schwarz auf blond oder schneidet
auch mal 40 Zentimeter ab. Andere bräuch-
ten gerade in Zeiten eines Umbruchs, wenn
sich um sie herum vieles ändert, die Sicher-
heit, dass zumindest sie selbst noch so aus-
sehen wie zuvor. Dann kürzt die Friseurin
nur die Spitzen und hebt sich die große Ver-
änderung fürs nächste Mal auf.
Haareschneiden, sagt Lisa Zeitler, sei
für sie ein liebevoller Umgang mit Men-
schen. Dabei gehe es nicht nur um gutes
Aussehen. Pflege hat für sie mit Wertschät-
zung und Respekt sich selbst gegenüber zu
tun. Wer sich pflege und gut um sich selbst
kümmere, davon ist sie überzeugt, der be-
handle auch andere respektvoll und werde
wiederum von diesen eher wertgeschätzt.
Besser durchblicken! Gutes Aussehen
macht also glücklich. Fehlen nur noch die
Profitipps. Erstens: nicht zu viel Shampoo
und immer gut auswaschen, sonst wird das
Haar schwer und klebrig. Zweitens: lieber
wenige, aber gute und ökologische Produk-
te kaufen, Shampoos ohne Erdöl, Parabene
und Silikone; Masken am besten direkt vom
Friseur, weil die effektiver sind. Drittens:
nicht so viel mit den Händen in Gesicht und
Haare langen, das gibt Unreinheiten und
Schuppen. Viertens: regelmäßige Pflege für
mehr Glanz (und sich selbst)! Ein-, zweimal
die Woche empfiehlt Zeitler eine Haarmaske
oder einen Conditioner, auch im Urlaub
und selbstverständlich auch für Männer.
Der Personaler
Es ist eine Situation, die ganze Lebenswege
bestimmen kann – und die viele fürchten:
das Vorstellungsgespräch. Als Bewerberin
oder Bewerber führt ein Mensch selten
mehr als eine Handvoll davon. Bei Olaf
Christiansen sind es Tausende. Er ist Perso-
nalchef bei HSE24, einem TV- und Online-
Händler aus München, er führt seit
25 Jahren Vorstellungsgespräche. Zu Stoß-
zeiten waren es auch mal fünf am Tag. Es ist
ein starkes Gefälle an Erfahrung, wenn ein
routinierter Personaler wie er einem Bewer-
ber gegenübersitzt. Was passiert dann?
Die schlechte Nachricht für alle, die in
Vorstellungsgesprächen gern mehr Ein-
druck machen würden, als sie verdienen:
funktioniert wahrscheinlich nicht. »Man
kriegt fast alles raus«, sagt Christiansen. Das
ist gleichzeitig die gute Nachricht für alle,
die zeigen wollen, was sie draufhaben.
Man könnte nun vermuten, dass ein
Personaler das alles herausbekommt, indem
er dem Bewerber so richtig auf den Zahn
fühlt. Indem er bohrende Fragen stellt, um
Als sie lernte, wie
leicht es ist, sich in
fremde Computer
einzuhacken, wurde
sie geradezu paranoid
die Schwachstellen bloßzulegen. Aber
Christiansen macht das Gegenteil: »eine
möglichst angenehme, persönliche Atmo-
sphäre schaffen« und »vermeiden, die roten
Knöpfe zu drücken«. Warum er das tut?
Weil er seinem Gegenüber die Chance ge-
ben will, möglichst authentisch und positiv
rüberzukommen. »Je wohler ein Bewerber
sich fühlt, desto ehrlicher ist er«, sagt Chris-
tiansen. Empfinde er sich dagegen wie in
einer Verhörsituation, mache er zu, und der
Personaler sehe nur noch seine Fassade.
Ein Vorstellungsgespräch ist im Grunde
eine Verkaufssituation – allerdings mit zwei
Besonderheiten: Der Verkäufer verkauft sich
selbst, und er ist meistens ziemlich aufgeregt.
Das ist eine brisante Kombination, die man-
chen Bewerber zu Schauspielerei verleitet:
sich als möglichst großartig, talentiert und
erfahren darzustellen. Aber Showtalente
oder Superhelden sind nicht das, wonach
Christiansen Ausschau hält. Die Frage für
ihn ist, ob die Bewerberin oder der Bewerber
ins Team und in die Kultur des Unterneh-
mens passt. Christiansen führt Vorstellungs-
gespräche per Du, so wie auch die Mitarbei-
terinnen und Mitarbeiter des Unternehmens
einander zu duzen pflegen.
Das bedeutet natürlich nicht, dass er
die Bewerber nicht kritisch prüft. Aber eben
anders, als diese es vielleicht erwarten. Er
achtet auf Eigenschaften, die man nicht so
einfach vortäuschen kann: Humor, Ehrlich-
keit, Empathie, Kontaktsinn. Er versucht
herauszuhören, worauf ein Bewerber be-
sonders Wert legt und worauf weniger. Ge-
pflegte Oberbekleidung, klar – aber hat er
auch seine Schuhe geputzt? Toll, wenn sie
viel zu erzählen hat – aber kann sie auch
zuhören? Stellt sie die richtigen Fragen –
zum Beispiel nach Sozialleistungen, Bonus-
zahlungen und der Probezeit? Interessiert er
sich für die Firma, in der er sich gerade
befindet? Für deren Geschichte, für das
Geschäftsmodell? In einem Vorstellungsge-
spräch, wie Christiansen es führt, geht es
nicht um Fakten, die auch den Bewerbungs-
unterlagen zu entnehmen sind, sondern um
den Menschen, der sich vorstellt. Schließ-
lich haben er und das Unternehmen im
besten Fall eine lange Beziehung vor sich.
Besser durchblicken! Wer glaubt, ein
Vorstellungsgespräch sei Showtime, ist
schief gewickelt. Es geht nicht darum, sich
zu Superman oder Wonderwoman zu stili-
sieren. Es geht darum, sich als interessierten,
verträglichen, ehrlichen Menschen zu zei-
gen. Die No-Gos in einem Vorstellungsge-
spräch sind die gleichen wie bei einem Date:
Labern, schlechte Witze, Chauvi-Sprüche.
Die Hackerin
Im ersten Semester, sagt Letitia Kern-
schmidt, sei sie geradezu paranoid gewor-
den. Sie hatte begonnen, Software-Engi-
neering zu studieren, und lernte, wie leicht
es ist, mit digitalen Werkzeugen in fremde
Computer einzudringen. Und umgekehrt
hieß das ja: Auch sie konnte jederzeit Ziel
eines Hackerangriffs werden. Seitdem ach-
tet sie stärker darauf, welche Informationen
sie teilt und welche Links sie anklickt. Aber
absolute Sicherheit gebe es nicht. »Ein biss-
chen Paranoia ist noch da und vielleicht
auch ganz hilfreich«, sagt Kernschmidt.
Heute arbeitet sie im Computer Emergency
Response Team des Bundesamts für Sicher-
heit in der Informationstechnik (BSI), einer
Art schneller Eingreiftruppe zur Abwehr
von Cyberangriffen auf die Bundesregie-
rung und deren Behörden. »Hackerin« ist
nicht ihre offizielle Berufsbezeichnung,
sondern Incident Handler, was so viel heißt
wie »Störfall-Expertin«. Sie ist im Einsatz,
wenn zum Beispiel private Daten von Poli-
tikern und Prominenten im Netz kursieren.

Wie Anfang des Jahres unter #politleak.
Frau Kernschmidt, gleicht Ihr Job dem
einer Grundschullehrerin, die ihre Klasse
immer wieder aufs Neue auffordern muss,
die Bleistifte anzuspitzen?
Bei Privatpersonen ist es in der Tat oft so,
dass man viele Empfehlungen immer wie-
der geben muss in der Hoffnung, dass die
Leute sie umsetzen.
Wie hat sich Ihr eigenes Verhalten im In-
ternet durch Ihre Arbeit geändert?
Ich bin auf jeden Fall viel vorsichtiger ge-
worden. Ich teile weniger Informationen
und überlege zweimal, bevor ich irgendwo
draufklicke oder etwas herunterlade.
Verschlüsseln Sie Ihre privaten Mails?
Kommt drauf an, wem ich schreibe und
worüber. Der Empfänger muss ja wissen,
wie er die Mail entschlüsseln kann.
Geben Sie Kreditkartennummern in On-
line-Formulare ein?
Ja, aber nach Möglichkeit nutze ich immer
eine Prepaid-Kreditkarte, die nicht über-
zogen werden kann.
Wenn Menschen durch große Katastrophen in Not geraten, helfen wir. Gemeinsam, schnell und koordiniert.
Schon ab 5 € im Monat werden Sie Förderer. So helfen Sie Tag für Tag und genau dort, wo die Not am größten ist.
Spendenkonto: DE62 3702 0500 0000 1020 30
Jetzt Förderer werden unter: www.Aktion-Deutschland-Hilft.de
Nutzen Sie WhatsApp?
Ja, denn sonst könnte ich mit der Hälfte
meines Freundeskreises nicht kommunizie-
ren. Anderen schreibe ich über Threema.
Haben Sie die Kamera an Ihrem Compu-
ter zugeklebt?
An jedem Gerät. An meinem Smartphone
klebt zum Beispiel ein Visier, das man auf-
und zuschieben kann.
Loggen Sie sich in offene WLANs ein,
wenn Sie im Café oder im Zug sitzen?
Nachdem ich gelernt habe, wie einfach es
ist, den Datenverkehr aus offenen WLANs
abzufangen, mache ich das nur, wenn es
wirklich dringend ist.
Welche Vorsichtsmaßnahmen sind am
wichtigsten?
Ganz wichtig sind gute Passwörter, das
kann man nicht oft genug sagen. Keine zu
einfachen oder zu kurzen und für jedes
Konto, jedes Netzwerk, jede Website ein
anderes. Zur Passwort-Verwaltung eignet
sich zum Beispiel die Software KeePass.
Mehr Tipps zu Passwörtern gibt es unter
Aktion Deutschland Hilft
Das starke Bündnis bei Katastrophen

bsi-fuer-buerger.de. Außerdem sollten Sie
immer zügig die Sicherheits-Updates Ihrer
Geräte installieren. Und: Vorsicht bei
Links, die etwa per Mail oder WhatsApp
ankommen. Schauen Sie sich die Buchsta-
ben des Links und der Absenderadresse ge-
nau an. Betrüger nutzen zum Beispiel be-
kannte Firmennamen und schreiben diese
mit Buchstaben aus anderen Sprachen wie
dem türkischen »ı« statt »i«. Was uns auch
zunehmend beschäftigt, sind Smart Homes.
Viele Geräte haben oft keine guten Sicher-
heitsstandards. Im schlimmsten Fall kön-
nen Kriminelle Alarmanlagen stilllegen
oder Videokameras fernsteuern. Denken
Sie also nicht nur über Komfort und Preis
nach, wenn Sie neue Geräte anschaffen,
sondern auch über die IT-Sicherheit. —
Tobias Hürter, Max Rauner und Katrin
Zeug haben sich während der Arbeit an dieser
Serie gefragt, welches Expertenwissen sie selbst wei-
tergeben könnten. Vielleicht dieses: Vieles beginnt
im Internet, aber dann – sprich mit Menschen.
 Nachhaltigkeit
Spezial

MOBILITÄT
DER ZUKUNFT
Teil 2
 

WO FAHREN WIR
DENN HIN?
Unser Autor bewegt sich auf seiner Zeitreise weiter bis in
das Jahr 2030. Und entdeckt in der Stadt der Zukunft nicht
nur neuartige Schnellzüge, die durch ganz Europa rasen

Text Niels Boeing Fotos Peter Rigaud Illustrationen Stefan Fähler

Am Alexanderplatz in Berlin gibt es ein Fahrzeug der be-
sonderen Art. Es fährt ein- bis zweimal die Stunde im Kreis
und hat mehr als 200 Sitzplätze. Essen ist dabei erlaubt,
sogar erwünscht. Man steht nie im Stau und kann nicht von
abbiegenden Lastwagen überfahren werden. Willkommen
im Drehrestaurant des Berliner Fernsehturms, 203 Meter
über dem täglichen Verkehrskrampf.
Von hier aus schauen wir auf die in Beton gegossene Vision
einer Stadt, in der Autos Vorfahrt haben. Die Kugel des
Fernsehturms soll uns dabei als eine Art Kristallkugel die-
nen: Ausgerüstet mit Studien und Expertenprognosen, bli-
cken wir von hier in die Zukunft, auf das Berlin des Jahres
2030 – nachdem wir in Teil 1 dieser Serie zur Mobilität
der Zukunft in das Jahr 2025 geblickt haben (siehe ZEIT
WISSEN-Ausgabe 4/2019).
Netz der europäischen Hochgeschwindigkeitszugver-
bindungen war löchrig wie ein Schweizer Käse. Einzig
Frankreich und Spanien hatten sich ins Zeug gelegt
und alle wichtigen Metropolen ihrer Länder mit rasan-
ten Bahnverbindungen verknüpft.
Noch 2018 hatte der Europäische Rechnungshof
kritisiert, dass die hehren Ziele der EU allesamt verfehlt
worden waren. Der Ausbau der Strecken des europäi-
schen Hochgeschwindigkeitsbahnnetzes ging nicht
schnell genug voran. Die Reisegeschwindigkeiten er-
reichten im Durchschnitt nur 45 Prozent des technisch
Möglichen, die investierten Millionen versickerten. Pro
eingesparter Fahrminute seien seit Anfang der 2000er-
Jahre sage und schreibe bis zu 369 Millionen Euro aus-
gegeben worden, rechneten die Prüfer nach. Derweil

E
s ist der 8. Mai 2030. 85 Jahre nach dem
Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa
findet unten im Bahnhof Alexanderplatz
ein besonderes Ereignis statt. Ein langer
schlanker Zug, weiß schimmernd mit fla-
cher Schnauze, ragt aus der alten Bahn-
hofshalle heraus: der neue Transeuropa Express, der auf
seiner Jungfernfahrt ausnahmsweise im Herzen Berlins
haltmacht. Am frühen Morgen ist er in Paris Est los-
gefahren, noch vor Mitternacht wird er Belorusskij
Woksal in Moskau erreichen, den Fernbahnhof der
russischen Hauptstadt. Zehn Jahre zuvor wäre diese
Verbindung noch als Fantasterei abgetan worden. Das
jetteten die EU-Bürger mit Billigstfliegern für einen
Bruchteil der Fahrtkosten über den Kontinent.
Das änderte sich erst im Zuge der Klimadebatte,
die 2019 entbrannte. Die Regierungen gaben dem
Druck der Straße nach und verteuerten das Kerosin
nach und nach, bis Flugtickets nur noch auf wenigen
Strecken mit Bahnfahrkarten mithalten konnten. Einige
EU-Länder erließen gar Inlandsflugverbote.
Der entscheidende Durchbruch war jedoch die
Neuordnung des europäischen Eisenbahnverbunds.
Noch 2018 hatte der Europäische Rechnungshof be-
mängelt, dass es im Gebiet der Union insgesamt 11.000
nationale Einzelregelungen zum Bahnverkehr gab. Hinzu
kamen 25 verschiedene Zugsicherungssysteme, die bei

Geschwindigkeiten über 160 Kilometern pro Stunde
die althergebrachten Streckensignale ablösen. Allein auf
der Fahrt von London nach Amsterdam passierte der
Eurostar damals neun verschiedene Zugsicherungssys-
teme. Es war die pure Kleinstaaterei auf der Schiene.
Doch das änderte sich: Die European Rail Agency
(ERA), 2019 von der EU-Kommission als zentrale
Bahnbehörde installiert, stellte fortan Sicherheitsbe-
scheinigungen für Züge aus, die in ganz Europa verkehren
durften. Und setzte außerdem durch, dass Bahngesell-
schaften, die nicht bis zum 1. Januar 2026 das Euro-
päische Schienenverkehrs-Managementsystem ERTMS
installiert hatten, die Zulassung entzogen wurde. Unter
Aufsicht der ERA wurde eine europäische Zugleitstelle
eingerichtet, die nun analog zur europäischen Flugauf-
sicht Eurocontrol den gesamten Bahnverkehr zwischen
Atlantik und Osteuropa überwachte.
Mit der Abwahl der Autokraten Lukaschenko und
Putin schlossen sich Belarus und Russland dem »balti-
schen Korridor« des Hochgeschwindigkeitsbahnnetzes
an. In Rekordzeit wurde die Verbindung Warschau–
Minsk–Moskau nach den technischen Standards des
französischen TGV ausgebaut. Die Deutsche Bahn
hatte ihren Widerstand gegen das französische Konzept
aufgegeben, das höhere Geschwindigkeiten erlaubt.
Und nun: Paris–Berlin–Moskau in weniger als einem
Welche Art von Auto stößt weniger CO2 aus? Die Emissionen aus Auto-Herstellung
und -Entsorgung sowie dem Verbrauch von Wasserstoff, Strom und Diesel im Vergleich
Tag auf der Schiene. Und auch auf den anderen Korri-
doren hat Europa die Vorzüge des klimafreundlichen
Bahnfahrens neu entdeckt. Von Glasgow nach Marseille,
von Stockholm nach Rom: Es ist, als ob Interrail Volks-
sport geworden wäre. Für die Unter-35-Jährigen ist es
ohnehin keine Frage mehr, ob nicht ein Flug auf diesen
Strecken Zeit sparen würde. Die einen lehnen Flugreisen
innerhalb Europas kategorisch ab. Die anderen könnten
sich einen Flug bei den Treibstoffpreisen und CO-
Steuern des Jahres 2030 ohnehin nicht mehr leisten.
Bereits Ende der 2010er-Jahre hatten Mobilitätsreporte
in Deutschland oder Großbritannien festgestellt, dass
die Mobilität bei der jungen Generation abnimmt –
Quelle »Treibhausgas-Emissionen für Batterie- und Brennstoffzellenfahrzeuge mit Reichweiten über 300 km«, Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme, 2019
auch aufgrund sinkender Einkommen.
Der Transeuropa Express verlässt den Bahnhof
Alexanderplatz, schlängelt sich an der Spree entlang
Richtung Osten, bis er im Häusermeer Berlins ver-
schwunden ist. Doch da ist noch etwas anders auf den
Straßen rund um Alexanderplatz und Marx-Engels-
Forum. Es sind nicht die »BeMos«, die gelben »Berlin-
Mobile« der städtischen Verkehrsbetriebe im Minibus-
format. Die gehören längst zu Berlin wie die etwas
größeren Doppeldecker. Der Blick bleibt an blau
schimmernden Kugeln hängen, die wie überdimensio-
nierte Quecksilbertropfen durch die Straßen gleiten. Es
sind autonome Fahrzeuge, die 2030 endlich im Alltag
Infografik Carsten Raffel
Hochgeschwindigkeitszüge sind die Alternative zu Flugreisen im Fernverkehr. China
will weitere 400 Milliarden Euro in sein Netz investieren. Die EU hinkt bereits hinterher
angekommen sind. In Berlin beherrscht vor allem das
Modell des aus der Fusion von Daimler und BMW her-
vorgegangenen Mobilitätskonzerns ACM (kurz für: »All
Clean Mobility«) die Straßen. Die blauen Kugeln fahren
selbstverständlich elektrisch, und ihre Batterien werden
mit dem Strom aus Offshore-Windparks gespeist. Her-
kömmliche Autos sind kaum zu entdecken.
In den vergangenen Jahren sind viele europäische
Metropolen dem Beispiel etwa von London oder Madrid
gefolgt und haben die Innenstädte zu Umweltzonen er-
klärt. Benziner und Diesel, die nicht die schärfere Ab-
gasnorm Euro-7 erfüllen konnten, bekamen Fahrver-
bote. Das Ende des Pkw, wie man ihn aus dem 20.
Jahrhundert kannte, läutete dann ebenfalls die EU ein:
Seit dem 1. Januar 2030 gilt gemäß der Verordnung
(EU) 2027/1628 ein allgemeines Verbot für Verbren-
nungsmotoren im Straßenverkehr.
Mit diesem Schritt werden bis Ende 2030 die CO-
Emissionen aus dem Straßenverkehr in der Bundesre-
publik noch einmal drastisch sinken, auf 30 Millionen
Tonnen. Das ist ein knappes Fünftel der Emissionen
aus dem Jahr der Wiedervereinigung, 1990. Das ange-
kündigte Ende des Verbrennungsmotors hat in den ver-
gangenen zwei Jahren nebenbei eine ganz neue Branche
entstehen lassen: die Umrüster. Wer sich immer noch
nicht dazu durchringen kann, auf öffentliche und ge-
teilte Verkehrsmittel umzusteigen, kann in zahlreichen
Spezialwerkstätten den Wagen auf einen batteriege-
speisten Elektroantrieb oder auf Brennstoffzellenantrieb
umrüsten lassen. Das kostet Geld, das muss man sich
leisten können. Es sind vor allem Männer über 50 aus den
oberen Einkommensschichten, die noch am (elektro-)
motorisierten Individualverkehr hängen.
Dass die selbstfahrenden Fahrzeuge Jahre später als
erwartet auf die Straßen gekommen sind, ist indes keine
Überraschung. Die Euphorie der 2010er-Jahre, als Un-
ternehmen wie Tesla und Google ihre Robot-Autos
Hunderttausende Testkilometer zurücklegen ließen,
wichen Anfang der 2020er Ernüchterung. Die Sensor-
technik an Bord: zu schwer und zu teuer. Die Sensorik
aus Lidar, Radar und Telemetrie: zu fehleranfällig. Erst
ihre Miniaturisierung auf Spezialchips, wie sie chinesi-
sche und US-amerikanische Labore entwickelten, löste
dieses Problem. Vor allem aber kam der Aufbau des

Autonome Fahrzeuge gelten Auto- und Technik-Konzernen als Hoffnungsträger der
Mobilität von morgen. Noch sind die Robo-Autos vom Stadtgewusel überfordert
5G-Mobilfunknetzes in Europa nicht rasch genug in
Gang. Dieses Mobilfunknetz war die entscheidende
Voraussetzung für die schnelle Übertragung von großen
Datenmengen, um die autonomen Fahrzeuge sicher in
den Straßenverkehr zu integrieren.
In Berlin und anderen Städten Europas hat man
sich dafür entschieden, autonomen Fahrzeugen eigene
Fahrspuren freizuhalten und sie nicht nur in verkehrs-
beruhigten Nachbarschaften zuzulassen. In den chao-
tischen Millionenstädten des globalen Südens wie
Mumbai oder Lagos sind sie bis heute nicht im Einsatz.
Der dortige Extremverkehr überfordert selbst die heuti-
gen neuronalen Netze in der Autosteuerung.
Die Flotten autonomer Fahrzeuge, die seit zwei,
drei Jahren in den Metropolen zigtausende Menschen
täglich durch die Stadt befördern, haben schon jetzt
spürbare Auswirkungen. Sie besiegelten das Ende des
klassischen Taxigewerbes, das schon durch Minibusse
und andere Ride-Pooling-Dienste unter Druck geraten
war. Viel wichtiger: Gemeinsam mit dem Fahrverbot für
Benziner und Diesel haben autonome Fahrzeuge sehr
viele Parkplätze überflüssig gemacht. Ehemalige Park-
streifen verwandeln sich derzeit überall in Blumenra-
batten und Beete – das Urban Gardening boomt wie nie
zuvor. Feinstaub und Abgase machen keinem der vielen
Nachbarschaftsgärtner mehr Sorgen, denn noch nie war
die Luft in Berlin so sauber wie 2030.
Mit batteriebetriebenen Elektromotoren alleine
wäre diese Verkehrswende allerdings nicht zu schaffen
gewesen. Mit Wasserstoff betankte Brennstoffzellen-
Fahrzeuge, auf die noch vor zehn Jahren nur wenige
Experten gesetzt hatten, stellen inzwischen zwei Drittel
der Verkehrsflotte. Das hat zwei praktische Gründe:
Zum einen förderte die Bundesregierung von 2022 an
den Aufbau eines bundesweiten Netzes aus Wasserstoff-
tankstellen. Damals galten tausend Tankstellen im
Bundesgebiet als kritische Zahl, um der Technologie
zum Durchbruch zu verhelfen – die war gut drei Jahre
später erreicht. Zum anderen wurde klar, dass Batterien
nie die Reichweite ermöglichen werden, die Lkw benö-
tigen. Die Brennstoffzelle war hier deutlich überlegen.
Gepaart mit halbautonomer Steuerung, ist der laute,
stinkende Brummi von einst auf den Autobahnen nicht
mehr wiederzuerkennen. Große Lastwagen-Kolonnen

fahren auf den Fernverbindungen auf eigenen Spuren.
Nur im ersten Lkw sitzt aus Sicherheitsgründen noch
Quelle EU-Kommission, https://ec.europa.eu/transport/themes/infrastructure_en (ohne Jahresangabe, das entwickelt sich seit 1996 in verschiedenen Schritten weiter, das Netz, das wir zeigen, ist der aktuelle Stand)
ein Fahrer, dahinter folgen zehn bis zwanzig Trucks,
durch Bordcomputer und Sensoren an das führende
Pilotfahrzeug gekoppelt.
Nur an einem Neuling der Verkehrswende scheiden
sich noch die Geister, und der ist auch aus der Kugel des
Fernsehturms allgegenwärtig: elektrisch betriebene
Lufttaxis. Über dem Tiergarten schnurren vor allem
City-Airbusse dahin und bringen Politiker vom Regie-
rungsflughafen Tegel zum Bundestag, Manager shutteln
quer durch die Stadt zum Meeting oder betuchte Bürger
zum Flughafen BER. Viele Berliner verspotten diese
Urban-Air-Reisenden als »Luftschickeria«.
Die Technik selbst ist inzwischen ausgereift. Li-
thium-Ionen-Batterien, die pro Kilogramm 400 Watt-
stunden Energie speichern, reichen für die Kurzstrecken
der neuen »Urban Air Mobility«. Die Konstruktion der
Lufttaxis ist viel einfacher als die herkömmlicher Ma-
schinen: Die Propeller sitzen direkt am Elektromotor
und sind zudem redundant ausgelegt: Selbst wenn ein
Propeller ausfallen sollte, würde das Luftfahrzeug unein-
Mit dem Trans-European Network will die EU bis 2030 den Bahnverkehr in neun
Verkehrskorridoren beschleunigen – mit Investitionen von etlichen Milliarden Euro
Infografik Carsten Raffel

geschränkt manövrierfähig bleiben. Auch Lärm und
Gestank verbreiten sie nicht. Außerdem haben sich die
Flugsicherungen von rund 80 Staaten auf ein Spur-
system für Städte geeinigt, damit sich im Luftraum die
Miniflieger nicht zu nahe kommen. Doch manchen
Berlinern ist trotzdem nicht wohl dabei. Wie die alten
Gallier scheinen sie Angst zu haben, dass ihnen der
Himmel auf den Kopf fallen könnte.
Auf einmal recken sich in der Glitzerkugel des Fern-
sehturms alle Köpfe: Ein wahrer Koloss schiebt sich unter
blauem Himmel durch die Hauptstadt: ein Luftschiff der
britischen Firma Hybrid Air Vehicle14 ist auf seinem
Testflug von London nach Berlin, mit 20 Passagieren an
Bord. Sind die mutig oder größenwahnsinnig? —
Im nächsten Heft reicht unser Blick in die Zukunft der
Mobilität noch weiter: Autor Niels Boeing wird mit-
hilfe von aktuellen Forschungsergebnissen und Ver-
kehrsexperten die Welt im Jahr 2040 skizzieren.
»Wo fahren wir denn hin?«, Teil 3, erscheint in der
nächsten ZEIT WISSEN-Ausgabe am 15. Oktober.

DAS EXPERIMENT

Die Unsterblichkeit der Knetfiguren

Psychologen ergründen das menschliche Wesen mit ungewöhnlichen
Versuchsanordnungen. Diesmal: Die Angst vor dem Tod

Text Claudia Wüstenhagen Illustration Jean-Michel Tixier

D
ass wir Menschen sterblich
sind, ist für viele eine Zu-
mutung, schon der Ge-
danke daran ist ungeheu-
erlich. Aber wir Menschen
wären nicht, wer wir sind,
wenn wir nicht eine Strategie hätten, um
mit dieser bedrohlichen Vorstellung umzu-
gehen. Verhaltensforscher haben das kürz-
lich untersucht. Mithilfe von Kinderknete.
Wer würde die Eignung von Knete zur
Auslotung psychologischer Tiefen in Zweifel
ziehen, sind doch einige der erfolgreichsten
Filmstars Knetfiguren: Shaun das Schaf
etwa oder Wallace und sein Hund Gromit.
Sogar Teile aus Verdis La Traviata wurden
mit animierten Knetfiguren verfilmt. Es war
nur eine Frage der Zeit, bis die Wissenschaft
die Weisheit der Knete erkennen würde.
Das Team um Simon McCabe von der
University of Stirling hat dies nun getan.
Die Teilnehmer seiner Studie bekamen einen
orangefarbenen Batzen Knete und sollten
daraus eine kleine Kopie von sich selbst
formen: ein Mini-me. Außerdem musste
eine Gruppe der Probanden vor dem Kneten
zwei Fragen zum Tod beantworten: »Was,
glauben Sie, wird mit Ihnen geschehen,
wenn Sie sterben?«, und: »Was passiert Ihrer
Ansicht nach mit Ihrem Körper, wenn Sie
sterben?« Die andere Gruppe musste diese
Fragen nicht beantworten, sondern wurde
zum Thema Schmerz befragt – auch nicht
gerade ein Gute-Laune-Thema.
Worum es den Forschern ging: Würden
sich die Knetfiguren der beiden Gruppen
unterscheiden? Macht es einen Unterschied,
ob man an den Tod denkt, bevor man eine
Kopie von sich selbst anfertigt?
Natürlich war die Bandbreite der Figu-
ren groß – so wie die der Menschen, die an
der Studie teilnahmen. Simon McCabe be-
sitzt noch immer Fotos von hinreißenden
Knetmännchen, die im Rahmen der Studie
entstanden. Zugegeben, nicht alle Kneter
waren gleichermaßen begabt. Manche Figu-
ren gerieten klobig, andere fein und detail-
liert bis hin zu Blumen im Haar oder Knöpf-
chen im Knethemd. Es gab rundliche Leiber
und platt gedrückte. Eine Teilnehmerin
formte ein Mini-me im Spagat, eine andere
knetete nur einen Kopf. Bei aller Indivi-
dualität gab es allerdings eine Auffälligkeit,
die nicht mit persönlichen Eigenheiten zu
erklären war, einen grundlegenden Unter-
schied zwischen den Gruppen: Die Figuren
derjenigen, die vor dem Kneten an ihren Tod
gedacht hatten, waren größer. Und sie be-
standen aus mehr Knete. Die Forscher wis-
sen das, weil sie alle Figuren gewogen haben.
Wer mit dem Gedanken an den Tod
konfrontiert wird, möchte offenbar etwas
Gewichtiges hinterlassen, so die Lesart der
Wissenschaftler. Er möchte der Bedrohung
durch das Ende etwas entgegensetzen, um
der Welt nicht verloren zu gehen. Auf diese
Weise werde der bedrohte Selbstwert auf-
gepolstert, um den Gedanken an die eigene
Sterblichkeit besser ertragen zu können.
Die Knetfiguren hätten den Probanden
also ein Denkmal setzen können. Was aber
geschah mit ihnen nach der Studie? Simon
McCabe gibt unumwunden zu: »Wir haben
sie zerdrückt und zurück in die Knete-Dose
getan.« Eine Grausamkeit, wie sie nur ein
kaltherziger Forscher zustande bringen
kann, möchte man da sagen. Den Knetfigu-
ren jedoch macht der Tod nichts aus, können
sie doch jederzeit in anderer Gestalt wieder-
geboren werden. Sie wissen: Der Tod ist nur
eine Verwandlung. —
NICHTS IST
SPANNENDER ALS
DIE WIRKLICHKEIT

Warum wird ein Mensch zum Mörder?

Steckt in jedem von uns kriminelle
Energie? Wie geht das Leben nach
einem traumatischen Erlebnis weiter?
ZEIT VERBRECHEN holt echte Kriminal-
fälle aus Deutschland ins Hier und Jetzt.
Und blickt auf die Menschen und ihre
Motive hinter den Taten.

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Der Untergang ...
 Fotos Laura Wilson: »Stunt Cowboy Falling off Horse«, Ventura County, Kalifornien, 20. Februar 2007 (9 Bilder)



des Cowboys

Seit vier Monaten Platz 1: Einer der erfolgreichsten
Hits der amerikanischen Musikgeschichte lenkt den
Blick auf einen stürzenden Helden
Text Rudi Novotny Fotos Laura Wilson
D
ie Straße leer, das Städtchen verlassen,
die Banditen im Anmarsch. Nichts vor
Augen, nur den Tod. Nie stand der
Cowboy besser da als in diesem Mo-
ment 1952 im Film High Noon. Gary
Cooper spielt Marshall Bill Kane, der
gerade seine junge Braut geheiratet hat. Am nächsten
Tag will er in ein neues Leben ziehen, da erreicht ihn die
Kunde, dass ein Verbrecher, den er einst ins Gefängnis
brachte, auf dem Weg in die Stadt ist, um sich zu rä-
chen. Entgegen allen Ratschlägen bleibt Kane, um
Recht und Gesetz zu verteidigen. Obwohl ihm nach-
einander alle Bewohner die Unterstützung versagen.
Obwohl sogar seine Frau droht, die Stadt ohne ihn zu
verlassen. »Unser ganzes Leben liegt noch vor uns, du
kannst es doch nicht einfach aufs Spiel setzen«, fleht sie.
»Ich habe nur eine Stunde Zeit und noch eine Menge
zu tun«, sagt er. Eine Antwort, deren Härte für den Zu-
schauer dadurch verstärkt wird, dass es sich bei der
Braut um Grace Kelly handelt. Die will partout nicht
akzeptieren, was ihr Mann da macht. Doch ihr Marshall
ist ein gestandener Cowboy, der keine Wahl hat. Cow-
boys sind echte Männer, und was das bedeutet, ist in
den Fünfzigerjahren klar definiert. In Hollywood, in den
USA, in der gesamten westlichen Welt.
Ein echter Mann redet nicht, er handelt. Er läuft
nicht weg, er stellt sich. Er hat Gefühle, aber er zeigt sie
niemandem. Er ist hart gegen andere, aber noch härter
gegen sich selbst. Hat er eine Familie, kümmert sich die
Ehefrau um die Kinder. Er kümmert sich darum, dass
das Geld nach Hause kommt und Frau und Kindern
nichts passiert. Weshalb er sie eben auch mal wegschickt
und sich dem Schicksal in den Weg stellt. Im Zweifel
allein. Marshall Kane fasst es so zusammen: »Ein Mann
muss tun, was ein Mann tun muss.«
Das Adjektiv »echt« benutzt er nicht. Unnötig.
Schließlich laufen in jener Zeit viele Bill Kanes auf
amerikanischen, deutschen oder französischen Straßen
herum. Männer, die am Fließband Autos montieren
oder in Büros Akten bearbeiten. Streng nach Stechuhr
und für einen Lohn, der reicht, um Frau und Kinder zu
versorgen, außerdem für Auto, Jahresurlaub, Doppel-
haushälfte. Sie sind die heimlichen Herrscher eines Jahr-
zehnts, das als das goldene in die Geschichte eingehen
wird. Inflation und Arbeitslosigkeit sind niedrig, das
Wachstum hoch. Ein Buch des damaligen BRD-Wirt-
schaftsministers Ludwig Erhard bringt die Stimmung
auf den Punkt: Wohlstand für alle. Nie ist die Mittel-
schicht zuversichtlicher.
Das Selbstbild der Männer, die das Leben in dieser
Schicht prägen, spiegelt sich im Cowboy Bill Kane wider.
Rechtschaffen, gestanden – weiß. Diese Männer glauben,
dass sie sich ihren Wohlstand redlich verdient haben.
Durch eigener Hände harte Arbeit. So erschaffen sie sich
ihren eigenen Mythos, genau wie der Western den My-
thos des Cowboys erschafft. Es sind mächtige Mythen.
Sie gründen auf der Idee, dass der Mann allein in die
Welt hinausgeht, niemanden braucht und gerade durch
diese Einsamkeit frei wird. Das stimmt – fast nie. Heut-
zutage ebenso wenig wie damals.
Cowboy, das war ein Schimpfwort für Männer,
häufig schwarz oder mexikanischer Abstammung, selte-
ner so weiß wie in den Filmen. Keine einsamen Helden,
eher eine Gemeinschaft von Verlierern, Geächteten,
Ausgestoßenen. Monatelang saßen sie im Sattel, trieben
die Herden durchs Land, mehr als tausend Kilometer,
von Süden nach Norden. Bei Regen, bei Hitze, bei
Schnee, in einer Staubwolke, aufgewirbelt durch unzäh-
lige Hufe, deren gleichmäßiges Stampfen jederzeit in
wildes Getrampel umschlagen konnte, in eine Stampede,
die alles niederwalzte. Trotzdem war die Arbeit so
stumpfsinnig, dass ein Cowboy namens John per Brief
klagte: »Liebe Jennie, ich fürchte, ich sterbe vor Lange-
weile, bevor wir Abilene erreichen. Ich lese sogar schon
die Etiketten auf den Dosen! Sicher drehe ich bald
durch.« Wenn die Herde rastete, kochten die Cowboys
stark gewürztes Chili, um den Geschmack des verdor-
benen Fleischs zu übertünchen. Geschlafen wurde mit
dem Kopf auf dem Sattel und den Füßen in den Stie-
feln. Ein Diebstahl wäre zu teuer gewesen, angesichts
von 30 Dollar Monatslohn. Auch seinen Strampelanzug
aus Baumwolle, seine einteilige Unterwäsche, behielt
der Cowboy an. Am Ende des Trips roch er manchmal
wie die Tiere um ihn herum. Meist schlimmer.
20 Jahre, von 1865 und 1885, ging das so. Dann
war die Blütezeit des Cowboys auch schon vorbei. Die
Zivilisation in Form von Stacheldraht, Farmern und
Eisenbahn hatte ihn eingeholt. Eine Erfahrung, die von
seinen Nachfolgern ein paar Jahrzehnte später geteilt
wurde: Das goldene Jahrzehnt neigte sich dem Ende zu

und mit ihm die Herrschaft der echten Männer. Als die
1960er-Jahre anbrachen, barsten die Spannungen in
der Gesellschaft. Die stolzen weißen Fabrik- und Büro-
arbeiter waren plötzlich konfrontiert mit schwarzen
Bürgerrechtlern, protestierenden Studierenden, wüten-
den Feministinnen und homosexuellen Aktivisten.
Deren Botschaft formulierte Martin Luther King so:
»Wir können keine aufgeklärte Demokratie haben,
wenn eine große Gruppe in Unwissenheit lebt.«
Ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss? Er
kann es, weil er die Freiheit hat. Weil die Frau auf die
Kinder aufpasst. Weil der Schwarze die schlechten Jobs
macht. Weil, weil, weil. Ihre Illusion von heldenhafter
Einsamkeit bekamen die Männer nie mehr zurück. Im
Gegenteil. Wirtschaftlicher Druck durch die Globalisie-
rung kam hinzu, und der eigene Job wurde plötzlich am
anderen Ende der Welt billiger erledigt. Egal, wie hart
der Mann arbeitete. Ein Schlag für das Selbstbild. Und
doch nichts im Vergleich zu dem, was kurz darauf he-
reinbrach: die Digitalisierung. Eine Revolution, die alles
Ein Mann muss tun,
was er tun muss.
Was aber, wenn sich
keiner mehr dafür
interessiert, was er tut?
ändert. Ganz besonders aber die Arbeitswelt. Seither
geht es für Männer nicht mehr um die Frage, ob ein
anderer Mann die Arbeit billiger erledigen kann. Es geht
darum, ob Männer überhaupt noch gebraucht werden.
Die Digitalisierung automatisiert Fabriken und
Büros. Sie ersetzt Muskeln durch Maschinen. Wenn
Menschen in den Abläufen vorgesehen sind, geht es um
Aufgaben, die zu komplex für den Einzelnen sind. Die
Behauptung, alles zu wissen und zu können, führt nicht
mehr zum Erfolg. Sondern Kreativität, Zusammenar-
beit und die Bereitschaft zum Lernen. Es sind Fähig-
keiten, die von Frauen in all den Jahrhunderten erlernt
wurden, in denen sie immer wieder Kompromisse ein-
gehen und Rücksicht nehmen mussten. Anders als ihre
Männer. Die Folge: Männer leiden ganz besonders unter
der Digitalisierung und den damit einhergehenden Ver-
änderungen. Das zeigt eine Analyse des Center for Ame-
rican Progress, eines US-Thinktanks. Während die
Mehrheit der Frauen durch Weiterbildung nach dem
Jobverlust einen besser bezahlten Arbeitsplatz ergatterte,
rutschte die Mehrheit der Männer sozial ab.
Die Stärken des Cowboys werden in der neuen Welt
zu Schwächen. Sein einsames Handeln? Mangelnde
Teamfähigkeit. Seine Sturheit? Fehlende Flexibilität.
Sein Schweigen? Schlechte Kommunikation. Nicht ein-
mal den Gang zum Therapeuten kriegt er hin. Das haben

Forscher der Indiana University Bloomington gezeigt.
In einer Metastudie untersuchten sie, ob bestimmte
Verhaltensweisen Männern schaden. Dafür werteten
sie 78 Studien mit 19.453 Teilnehmern aus, wobei sie
auf Eigenschaften wie Selbstbeherrschung und domi-
nantes Verhalten achteten. Ergebnis: Einer der schäd-
lichsten Charakterzüge ist der Versuch, autark zu sein.
Diese Männer nehmen seltener psychologische Hilfe in
Anspruch und haben häufiger psychische Probleme.
Einst tötete der Cowboy schweigend, jetzt tötet das
Schweigen den Cowboy. Die Suizidraten älterer Männer
sind in Deutschland dreimal höher als die gleichaltriger
Frauen. Unfähig, über die eigenen Gefühle zu sprechen,
und ohne soziales Netzwerk stehen sie Problemen hilflos
gegenüber. Und während andere Lebensmüde oft durch
einen zufälligen Anrufer oder Besucher vom finalen
Schritt abgehalten werden, bleiben beim Cowboy Tele-
fon und Türklingel selbstverständlich stumm.
Die letzten Cowboys, deren Schicksal andere
Menschen rührte, verkörperten Heath Ledger und Jake
Gyllenhaal. Die beiden Schauspieler spielten die Haupt-
figuren im Drama Brokeback Mountain, einem Film
über eine homosexuelle Liebe inmitten von Rinder-
herden und Berggipfeln, die tragisch endet. Und dann
kam der letzte Mann, der als Cowboy Erfolg hatte. Er
heißt Montero Lamar Hill. Besser bekannt als Lil Nas
X. Ein Rapper, dessen Hit Old Town Road seit vier Mo-
naten die US-Charts anführt – länger als jeder Song
zuvor. Im dazugehörigen Video spielt Lil Nas X einen
Cowboy, der in die Gegenwart katapultiert wird. Dort
liefert er sich Tanzduelle mit Teenagern, Pferderennen
mit Autos und stolpert durch einen Bingonachmittag
voller Hillbilly-Senioren. Sollte noch ein Rest Cowboy-
Mythos übrig gewesen sein, nach diesem Video ist er
Geschichte. Zumal Lil Nas X offen homosexuell ist und
schwarz dazu. Also das Gegenteil der Westernhelden aus
Hollywood. Unnötig zu sagen, dass Old Town Road
mittlerweile auch das Allerheiligste der Cowboy-Musik
erobert hat: die Spitze der Country-Charts.
Ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss. Nur
dann ist er frei. Doch was ist, wenn es keinen mehr in-
teressiert, was er tut? Wenn sein Tun aus der Zeit gefallen
ist? Vielleicht muss der Mann seine Freiheit dann wo-
anders finden: darin, dass er sich frei macht von den
Vorstellungen, Erwartungen und den Rollenbildern der
Väter und Großväter. Und sich zu dem bekennt, was er
ist. So wie die Cowboys in Brokeback Mountain. So wie
ein Rapper, der zu seiner Liebe zu Männern und zur
Countrymusik steht. Zu seinen Gefühlen stehen: Das
verlangt nach viel Mut. Nach echten Cowboys. Jeder
Tag hat einen High Noon. —
Rudi Novotny, 39, ritt in seiner Jugend auf einem pinken
Fahrrad durch die Kleinstadt. Und ruinierte damit seine
Chancen, eine Karriere als klassischer Cowboy zu machen.
Umso mehr freut er sich über den Erfolg des Rappers Lil Nas X.

CITIZEN SCIENCE

Forschung, bei der jeder mitmachen kann:

Immer mehr wissenschaftliche Projekte vertrauen auf die Mitarbeit von Freiwilligen.
Die werten Daten aus, beobachten die Natur, sichten Dokumente oder steuern
ihre Fähigkeiten auf andere Weise bei. Citizen-Science ist in der Regel für alle
Interessierten offen, setzt weder Doktortitel, Immatrikulation oder Abitur voraus noch
das Beherrschen
von Fachchinesisch. Auf dieser Seite
Alles, was Sie stellt ZEIT WISSEN
brauchen, sind regelmäßig
Neugierde und Zeit. spannende
Und einen Citizen-Science-
Internetanschluss. Projekte vor

Was trapst denn da?

Die Nachtigall hat Dichter und Musiker inspiriert.
Jetzt wollen Hobbyforscher mehr über sie wissen

Text Ulf Schönert

J
etzt singen nur noch wenige. Wochenlang
waren die Melodien der Nachtigallen im
nächtlichen Dunkel der Parks und Wälder zu
hören. Doch ist der Sommer erst einmal da,
dann verstummt ihr Gesang allmählich. Denn
Nachtigallen singen nur während der Partner-
suche, und es singen ohnehin nur die Männchen. Ha-
ben sie eine Partnerin gefunden, hören sie auf – wer
übrig geblieben ist, schmettert umso lauter. »Das sind
Männchen, die noch kein Herz erobert haben«, sagt die
Berliner Nachtigallenforscherin Silke Voigt-Heucke,
und es klingt, als habe sie ehrlich Mitleid. Aus bisher
unerforschten Gründen liegt die Zahl der Männchen
über dem der Weibchen und lässt am Ende der Balzzeit
einsame, verzweifelte Single-Vögel zurück, sagt Voigt-
Heucke. Der Gesang der Nachtigall sei nicht nur schön.
Er zeuge von Traurigkeit, Tragik und Drama. Wow!
Voigt-Heucke arbeitet beim Citizen-Science-Pro-
jekt »Forschungsfall Nachtigall« am Berliner Museum
für Naturkunde. Die Nachtigall ist für sie »der beschei-
dene Superstar unter den Vögeln«: weltberühmt, hoch
talentiert – und dennoch ganz unscheinbar in ihrem
braunen Federkleid. »Die Mönchgrasmücke kennt nie-
mand, die löst nichts aus bei Leuten, die ihren Namen
hören. Aber die Nachtigall ...« Da denkt man sofort an
Frühlingsnächte, an Shakespeare, Kristin Hannah oder
Harper Lee (»Wer die Nachtigall stört«).
Im vergangenen Jahr hatte das aus Zoologen, Ver-
haltensbiologen und Bioakustikern bestehende For-
scherteam erstmals die Öffentlichkeit aufgerufen, bei
der Erforschung des nächtlichen Vogelgesangs mitzu-
wirken, zunächst nur auf Berlin beschränkt. Gerade die
verwilderte, chaotische Hauptstadt bietet den Nachti-
gallen viele Plätze zum Brüten – wobei sie auf den Groß- Foto Roger Wilmshurst / FLPA / mauritius images
stadttrubel nicht mit Flucht reagieren, sondern indem
sie lauter singen. Der Gesang der Nachtigall ist dabei
nicht nur schön, er ist vor allem vielfältig. Es gibt zahl-
lose Variationen, Strophentypen, sogar Dialekte. Die
Forscher freuen sich also über Tonaufnahmen, aber auch
über Sichtungen: Welche Nachtigall singt wie wo? Und
wo sind überhaupt die Lebensräume und Brutgebiete
der Vögel? Um das herauszufinden, muss an möglichst
vielen Stellen gelauscht und aufgezeichnet werden. Das
schafft die Handvoll Forscher des Projekts nicht allein.
 

Wer mitmachen will, muss von Vögeln nichts verstehen.
Die App Naturblick, installierbar auf Android- und
Apple-Handys, enthält einen einfachen Naturführer,
der bei der Artbestimmung hilft (über die Merkmale
Gefiederfarbe, Körpergröße, Schnabelfarbe und -form
sowie Farbe der Beine). Und sie bietet die Möglichkeit,
Vogelstimmen mit dem Handymikrofon mitzuschnei-
den. Die Aufnahmen werden dann, inklusive Standort
und weiteren Details, an die Forscher in Berlin gesandt.
Mehr als 5000 Gesänge sind da bereits angekommen,
und Voigt-Heucke hofft, dass noch ein paar dazukom-
men, ehe das letzte Männchen verpartnert ist oder den
Rückflug nach Afrika angetreten hat, wo Nachtigallen
die meiste Zeit des Jahres verbringen.
Nicht nur beim Sammeln der Gesänge machen
Citizen-Scientists mit, auch beim Auswerten unter-
stützen sie inzwischen. Sechs Freiwillige – zwei davon
sind bereits im Rentenalter, eine Schülerin ist dabei und
auch eine Biologiestudentin – kommen regelmäßig ins
Naturkundemuseum und lauschen den klingenden
Einsendungen. Jeder Klangschnipsel wird angehört. Die
Freiwilligen helfen, alles zu katalogisieren. Zunächst ein-
mal geht es darum, den Gesang der Nachtigall zweifels-
frei von dem anderer Arten zu unterscheiden. Dazu vi-
sualisiert eine Software den Vogelgesang in Form eines
Spektrogramms auf einem Monitor. »Ganz schnell ent-
wickelt man dann ein Gefühl dafür, worin das Besondere
des Nachtigallengesangs besteht«, sagt Voigt-Heucke.
Eine Art Gefühl entwickeln soll auch das System,
das bei der Einordnung hilft. Dabei kommt maschinelles
Lernen zum Einsatz: Jedes Mal, wenn die tierakustisch
geschulten Mitarbeiter eine Nachtigall identifiziert
haben, trainiert ihre Einschätzung auch die Software.
Und die wird dadurch immer besser: Hat sie im ver-
gangenen Jahr – dem ersten des Projekts – 70 Prozent
der Nachtigallen automatisch richtig erkannt, sind es in
diesem Jahr mehr als 90 Prozent. Und mit denen füllt
sich auf www.forschungsfallnachtigall.de eine Deutsch-
landkarte. Da kann man sich die Gesänge anschauen
und anhören. Das ganze Jahr über, auch tagsüber. —

NOCH ZWEI CITIZEN-SCIENCE-PROJEKTE

Von Fußballplätzen und Bodenlebewesen

1. Wie viel Mikroplastik gelangt durch
Kunstrasenplätze in die Umwelt? Um
das herauszufinden, ließen norwegische
Forscher 3000 Schüler jeweils eine halbe
Stunde lang Fußball auf einem Kunstra-
senplatz spielen. Anschließend bürsteten
sie die Kinder auf einem weißen Tuch ab
und wogen die Plastikrückstände, die aus
ihrer Kleidung herausfielen. Dabei kamen
pro Kind zwar nur Krümel zusammen.
Hochgerechnet auf alle Kunstrasenplätze
Norwegens sind es aber 65 Tonnen Gum-
mi-Minipartikel, die jedes Jahr auf diese
Weise von den Kindern nach dem Spiel in
die Welt hinausgetragen werden.
2. Im Erdboden ist jede Menge los – aber
was genau? Das Schweizer Forschungs-
zentrum Agroscope will das mikrobiologi-
sche Leben fassbar machen und hat die
Aktion #SoilYourUndies gestartet. Mitma-
chen geht ganz einfach: Man nehme eine
(Baumwoll-)Unterhose, vergrabe sie und
buddele sie nach zwei Monaten wieder
aus. Je weniger von ihr vorhanden ist,
desto aktiver sind die Bodenlebewesen
und desto gesünder ist der Boden. Und
das ist ganz ernst gemeint: Mit der Baum-
wollmethode analysieren die Forscher
tatsächlich die Lebendigkeit der Böden.

Wer inspiriert Sie? Welche Vorbilder haben Sie? Wer verdient aus
Ihrer Sicht den ZEIT WISSEN-Preis Mut zur Nachhaltigkeit 2020?
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gewöhnt hat, geht ihr die Art und Weise, wie hierzu-
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DIE ZUMUTUNG


Manches Wissen wächst in verdammt hohen Gebieten.

Trotzdem sollte man sich hin und wieder dorthin aufmachen,
auch wenn es richtig anstrengend wird.
Willkommen auf dem Pfad der Geschichtswissenschaft

Wie funktioniert
eine Revolution?
Revolution ist etwas Großes.
Alle Zeichen stehen auf Veränderung.
Welche Zutaten braucht sie, wie
gelingt sie? Ein Blick zurück auf die
Schlachtfelder der Macht

Text Gero von Randow



Basislager
Gehen Sie erst los, wenn Sie
die folgenden Grundlagen in Ihren
Rucksack gepackt haben

Z
unächst einmal müssen wir uns orientieren.
Es geht bei dieser Bergtour zur Revolu-
tion. Eine genaue Ortsangabe ist das nicht.
»Revolution ist einer der unbestimmteren
Begriffe«, mit dieser Warnung begann der
amerikanische Historiker Crane Brinton
sein 1936 erschienenes Standardwerk Anatomie der Re-
volution. Revolution ist ein beliebtes Wort. Die Wer-
bung beispielsweise preist die Revolution im Super-
markt, in der Küche, im Abwassermanagement.
Warum? Das Wort erzeugt erstens die Vorstellung,
dass etwas sich dramatisch verändert. Und zweitens
hat es eine emotionale Farbe, es deutet Enthusiasmus
an, ja Überschwang.
Diese zwei Assoziationen des Wortes »Revolution«
haben mit der geschichtlichen Erfahrung zu tun:
Revolutionen sind grundstürzende Ereignisse, begleitet
von starken Gefühlsaufwallungen. Denn sie sind
Massenbewegungen, also Bewegungen vieler Körper,
und die dürfen nicht nur vom Verstand, sondern müssen
auch seelisch angetrieben werden, damit sie jeden Wi-
derstand brechen können.
Für die europäische Moderne ist das Urbild der
Revolution die Französische von 1789. An ihr nahm der
Mathematiker Condorcet teil, ein Liberaler; er schrieb:
»Das Wort ›revolutionär‹ ist nur auf solche Revolutionen
anzuwenden, deren Ziel die Freiheit ist.« Die politische
Philosophin Hannah Arendt pflichtete Condorcet 1963
in ihrem Buch Über die Revolution bei: »Nur wo dieses
Pathos des Neubeginns vorherrscht und mit Freiheits-
vorstellungen verknüpft ist, haben wir das Recht, von
Revolution zu sprechen.« Damit ist der Begriff weiter
eingegrenzt. Es gibt zwar Leute, die von konservativer
oder nationalsozialistischer Revolution sprechen – aber
damit der Begriff trennscharf bleibt, anstatt alles Mögli-
che zu umfassen, suchen wir hier nur nach Revolutionen,
die auch ein Freiheitsversprechen geben (was nicht
heißt, dass sie es einlösen). Historische Beispiele wären
die europäischen Revolutionen von 1848, die deutsche
von 1918/19 oder die tunesische von 2011.

Erster Anstieg
Los geht’s! Auf leichten Anhöhen
begegnen Sie Erkenntnissen, die Sie
ins Schwitzen bringen können

G
leich am Anfang unseres Weges be-
gegnen wir einem Hindernis: nämlich
der Frage, wieso Revolutionen über-
haupt möglich sind. Einigermaßen
verwundert fragte sich das der Öko-
nom Gordon Tullock in einer 1974
erschienenen Studie. Schließlich seien für jedes Indivi-
duum die Kosten und Risiken revolutionären Handelns
viel größer als dessen persönlicher Vorteil im Falle eines
Sieges – abgesehen von einer kleinen Gruppe, die nach
einem Erfolg der Revolution den Löwenanteil an
Macht und Reichtum beanspruchen könne. Trotzdem
kommt es immer wieder zu Revolutionen. Wieso also?
Was Tullock nicht begriff: Es geht den Revolutionen
nicht nur um Materielles. Sondern auch um die Moral,
nicht selten in religiösem Gewand. »Ein Nichts zu sein,
tragt es nicht länger!«, ruft der Liedtext der Internationale
nach dem Mai 1871 den Entrechteten zu. Ein Nichts
zu sein ist aber nur für jemanden unerträglich, der eine
höhere Idee von sich hat.
Ungerechtigkeit und Armut sind entwürdigend,
und noch in jeder Revolution ist der Begriff der Würde
aufgetaucht. So war es beispielsweise in den Sklavenauf-
ständen des europäischen Altertums, so war es in der
Englischen (im 17. Jahrhundert), der Amerikanischen,
Französischen und haitianischen (im 18. Jahrhundert),

den drei chinesischen (im 19. und 20. Jahrhundert),
sowie in der kubanischen und der algerischen Revolution
(im 20. Jahrhundert), und ebenso in der DDR im Jahr
1989 und im Arabischen Frühling 2011.
Doch Armut allein erzeugt noch keine Revolution.
Sonst fänden jederzeit fast überall auf der Welt Revolu-
tionen statt. Es muss zum Beispiel das Wissen hinzu-
kommen, dass das vorherrschende Elend eine Ungerech-
tigkeit ist und kein Schicksal. In seinem Revolutionsbuch
nannte Crane Brinton weitere Faktoren, die er aus der
Analyse mehrerer großer Revolutionen herausdestilliert
hatte: hohes Staatsdefizit und empörende Steuerlast,
Kumpanei der Regierung mit ökonomischen Interessen-
gruppen, Desorganisation der Verwaltung, mangelnde
soziale Durchlässigkeit sowie das verbreitete Gefühl,
dass nicht Begabung, sondern Besitz oder Herkunft
über Karrieren entscheiden. Außerdem ein zerfallendes
Selbstbewusstsein der herrschenden Klasse.
Sind das die Zutaten? Noch immer nicht alle. Wir
müssen noch eine kleine Anhöhe nehmen: Irgendwer
muss die Revolution ja auch machen. Das ist das »re-
volutionäre Subjekt«. Aber wer ist das?
Im Selbstverständnis der Französischen Revolution
war es der »dritte Stand«. Also alle, die nicht Adel oder
Klerus waren, sondern Bürgersleute, Handwerker, Bau-
ern und viele andere. In der Russischen Revolution von
1917 (die zwei Phasen hatte: eine demokratische im
Februar und eine bolschewistische im Oktober) bestand
das revolutionäre Subjekt erstens aus dem in Moskau
und St. Petersburg konzentrierten Fabrikproletariat und
Am Steilhang
Atmen Sie tief durch: Es ist alles
ganz anders, als Sie dachten –
aber Sie schaffen das
U
nser Weg wird nun etwas unübersicht-
lich. Er führt geradewegs in ein dornen-
reiches Dickicht, durch das wir uns
schlagen müssen. Alle von Crane Brinton
genannten Bedingungen können näm-
lich erfüllt sein, und trotzdem scheint
alles wie blockiert. Diese Phase kann lange dauern.
Aber plötzlich bricht dann, wie aus heiterem Himmel,
die Revolution aus. Wie kann das sein?
Konflikte gibt es in jeder Gesellschaft. Und Gesell-
schaften existieren nur, wenn sie Institutionen aufweisen,
die diese Konflikte verarbeiten können – und zwar so,
dass nicht ihretwegen der ganze Laden auseinander-

zweitens aus kriegsmüden Soldaten (überwiegend Bau-
ern). Natürlich machten noch mehr Leute mit, aber dies
waren die beiden wichtigsten Gruppen. In der chinesi-
schen Revolution von 1949 waren es vor allem Bauern;
das zahlenmäßig kleine Fabrikproletariat kämpfte zwar
mit, bestimmte aber nicht die Geschicke. In der tunesi-
schen Revolution von 2011 war es ein Bündnis der ge-
bildeten bürgerlichen Mittelschichten aus den Küsten-
regionen mit den von Arbeitslosigkeit und Armut
gepeinigten Volksmassen im Landesinneren.
Unter Marxisten, die viel über Revolutionstheorien
nachdenken, tobt seit je der Streit darüber, wer das Sub-
jekt einer sozialistischen Revolution sei. Die Arbeiter,
sagte Wladimir Iljitsch Lenin. Die Bauern, sagte Mao
Zedong. Alle Entrechteten, vor allem die in den armen
Ländern, aber auch die vom Kapitalismus angewiderten
Jugendlichen und Studenten, sagte Rudi Dutschke im
Jahr 1967. Alle, die Grund zur Unzufriedenheit haben,
so wollen es einige linke Theoretikerinnen und Theo-
retiker der Gegenwart: die prekär Arbeitenden, die
Arbeitslosen, die Migranten, die Opfer des Rassismus
ebenso wie die diskriminierten LGBTQIA (Lesbian,
Gay, Bisexual, Transgender, Queer, Intersex, Asexual)
und unzählige andere Gruppen außerdem.
Ist das noch Revolutionstheorie oder schon
Wunschdenken? Jedenfalls beißt sich mit solchen
Theorien die Katze in den Schwanz. Denn wenn jeder,
der eine Revolution wollen könnte, damit auch schon
als revolutionäres Subjekt zählt, dann braucht man
diesen Begriff nicht mehr. Er wäre obsolet.
fliegt. Verarbeitungsmethoden gibt es viele: Unterdrü-
ckung und Massenbeeinflussung beispielsweise, Kom-
promisse und demokratische Teilhabe, Gewaltmonopol
des Staates und Rechtsstaat. Wenn aber diese Methoden
nicht mehr greifen, wächst das Konfliktpotenzial wie der
Druck in einem Dampftopf. Dann begehren einzelne
Gruppen auf und setzen sich über Regeln hinweg. Dann
kann es zu Revolten kommen (wie vor hundert Jahren
in Deutschland zu den Hungerrevolten). Für Revolutio-
nen braucht es mehr, nämlich eine revolutionäre Situa-
tion, eine Kombination von Streiks, Aufständen und
politischen Gesten, die ein Land in einen neuen Zu-
stand überführen – wie am Ende der Revolution von


1918/1919: Da gab es keinen Kaiser mehr, sondern eine Sechzigerjahre die Revolution herbeiführen wollte.
Republik. Die klassische Definition der revolutionären Seine »Fokus-Strategie« scheiterte: Ihr zufolge kann eine
Situation stammt von Lenin: »Damit es zur Revolution kleine bewaffnete Gruppe den Kampf beginnen, und
kommt, genügt es in der Regel nicht, dass die ›unteren allmählich scharen sich die Massen um sie. Doch die
Schichten‹ in der alten Weise ›nicht leben wollen‹, es ist wollten von Guevara nichts wissen.
noch erforderlich, dass die ›oberen Schichten‹ in der Revolutionen lassen sich mit Theaterstücken ver-
alten Weise ›nicht leben können‹.« Wann sind diese gleichen. Sie haben nicht nur Akte und Szenen, sondern
Bedingungen erfüllt? Lenin gab darauf leider keine auch Schauplätze und Rollen. Der Berufsrevolutionär
theoretische Antwort. Stattdessen ergriff seine Partei die ist eine der klassischen Rollen. Es gibt derer noch einige
Macht, und zwar in der nicht unberechtigten Hoffnung, mehr, aber jede Revolution gestaltet sich auf andere
dass die Volksmassen sie unterstützen würden. Weise, sodass die Vielzahl der Rollen schon mal unüber-
Damit sind wir am Steilhang angekommen. Ge- sichtlich werden kann. Der erste Akt jedenfalls ist die
witterwolken hängen unter tiefem Himmel. Die Luft ist Phase der Empörung, die sich beschleunigt ausbreitet.
dick. Das Atmen fällt schwer. Auch eine Revolution Die alte Macht bröckelt. Erst setzen sich Intellektuelle
kann in der Luft liegen, und auch sie entlädt sich dra- von ihr ab, dann sogar Angehörige des Sicherheitsappa-
matisch. Man weiß vorher nur nicht, wo und wie. Oft rats. In diesem Akt treten Propagandisten auf, oft sind
genügt ein einziges Ereignis. Eine Zentralregierung will es Journalisten. Typisch für den ersten Akt sind außer-
einer rebellischen Stadtverwaltung dem die Reformer: Sie haben bereits
die Kanonen wegnehmen (Pariser das Ende der Revolution im Sinn.
Kommune 1871). Soldaten schießen Je autoritärer die Etwa dass der Kaiser oder König sich
auf eine Bittprozession (St. Peters- bestehende Macht, vor einem Parlament zu verantwor-
burg 1917). Ein verzweifelter Ge- desto gewaltsamer ten hat oder dass nur eine besonders
müsehändler verbrennt sich (Kasse- verhasste Gruppe von Machthabern
rine, Tunesien, 2011). Der die Revolution zu stürzen sei, ohne dass sich das
aufflammende Zorn kann sich wie System deswegen ändern würde.
ein Flächenbrand ausbreiten: von Mensch zu Mensch, Diese Reformer werden meistens von den vorwärts-
von Betrieb zu Betrieb, von Stadt zu Stadt. Die Emo- stürmenden Massen hinweggefegt.
tionen verstärken einander, bis so viel Wutenergie da ist, Im zweiten Akt sind häufig die Radikalen an der
dass niemand mehr ihre Entladung aufhalten kann. Macht, Leute wie der Jakobiner Robespierre im Jahr
Solche Kopplungsprozesse werden durch Medien 1794 beispielsweise. Sie ergreifen eine umstürzende
verstärkt. In der Französischen Revolution spielten Maßnahme nach der anderen und sichern die revolu-
Flugblätter diese Rolle, in der Russischen waren es Zei- tionäre Macht meistens mit repressiven Mitteln. Aus
tungen, in den antikolonialen Revolutionen nach 1945 Furcht vor der Konterrevolution gehen sie lieber zu hart
war es insbesondere das Radio. Zu den taktischen Zielen als zu weich vor: »Nur die Toten kehren nicht zurück«,
jedes Aufstandes im 20. Jahrhundert gehörten deshalb so begründete der revolutionäre Oberst Pierre Barrère
die Radio- oder Fernsehstationen eines Landes. Im Terror und Schreckensherrschaft durch Robespierre.
21. Jahrhundert spielt das Internet die mediale Haupt- Das kann so lange gehen, bis nicht nur den sozial
rolle bei der Revolution. Nachdem die Tunesier ihren Bessergestellten des Landes, sondern auch der Mehrheit
Diktator Ben Ali abgeschüttelt hatten, prangte auf einer im Volk die Unruhe und Unterdrückung zu viel wird
Mauer der Satz »Merci le peuple, merci Facebook«. Die – man vergesse außerdem nicht, dass in Revolutions-
sozialen Netze sind daher das Erste, was Diktatoren ab- zeiten die Wirtschaft verfällt. Dann kommt es zum so-
schalten, wenn sie in Bedrängnis geraten. genannten Thermidor: Eine gemäßigte Gruppe macht
Wenn Revolutionen nun aber unerwartet und Schluss mit dem Theater und errichtet ein Regime, das
nicht etwa planmäßig auftreten, ist dann der Berufs- gewissermaßen einen Kompromiss zwischen den betei-
revolutionär, also jemand, dessen Lebensziel sie sind, ligten Gesellschaftsklassen darstellt und sich gegen alle
einem Machbarkeitswahn verfallen? Lebt er in einer Gegner von links und rechts mit Gewalt behauptet. Der
Scheinwelt? Hannah Arendt zufolge hat der Berufsre- Name Thermidor kommt vom 27. Juli 1794, an dem
volutionär bestenfalls Glück, wenn er rechtzeitig zur ein Putsch die Schreckensherrschaft Robespierres be-
Stelle ist. Nun, das ist im Prinzip richtig. Aber wenn der endete; im damaligen Revolutionskalender wurde der
Berufsrevolutionär zuvor bereits jahrelang Erfahrungen Tag als 9. Thermidor des Jahres II bezeichnet – abge-
gesammelt hat mit Propaganda und Organisation, kann leitet ist der Begriff von griechisch thermós für warm,
er im revolutionären Moment eine führende Rolle heiß, hitzig oder leidenschaftlich.
spielen. Bleibt der Moment hingegen aus, hat die ganze Das alles sind aber keine zwingenden Gesetzmäßig-
Untergrundarbeit nichts genützt und zu nichts geführt. keiten. Geschichte kennt nämlich keine Regieanwei-
So erging es dem marxistischen Guerillaführer Che sungen, weswegen der Vergleich mit einem Theater-
Guevara im Kongo und in Bolivien, wo er Mitte der stück zwar stimmig ist, aber nicht immer stimmt.

Auf zum Gipfel
Jetzt wird es zugig: Diese Theorie
müssen Sie meistern, um auf
der Höhe der Zeit anzukommen
J
etzt verändert sich die Landschaft radikal.
Kein Gestrüpp, kein Baum, kein anderer Berg-
gipfel verstellt mehr die Sicht. Unser Blick
reicht erstmals in die Ferne. Das Ergebnis einer
Revolution ist immer ein Perspektivwechsel,
eine neue Formel für Politik und Gesellschaft.
Sie definiert die Rollen um, die die unterschiedlichen
Gesellschaftsklassen in einem Land spielen, und sie legt
auch fest, wer sich an der Politik beteiligen darf und
auf welche Weise. Deshalb führen Revolutionen meist
zu neuen Verfassungen; als nach dem Sturz des tunesi-
schen Diktators Ben Ali die Forderung nach einer ver-
fassunggebenden Versammlung populär wurde, begriff
jedermann, dass es sich um eine Revolution handelte
und nicht bloß um einen Wechsel des Personals an der
Staatsspitze. Auf dem Gipfel stellt sich uns die schwie-
rigste Frage von allen: Wie sind Revolutionen zu be-
werten? Stellen wir doch zunächst die Gegenfrage: was
»bewerten« denn heißen soll.
Es gibt Historiker, die Berechnungen darüber an-
stellen, wie viele Menschenleben den Revolutionen
bisher zum Opfer fielen, und die Zahlen sind achtstellig.
Allein in der chinesischen Taiping-Revolution, einer
bewaffneten Sozialrebellion der Jahre 1850 bis 1864,
starben mindestens 20 Millionen Menschen. Und es
taucht die Frage auf, ob die revolutionären Ziele, so sym-
pathisch sie vielleicht gewesen sein mögen, alle diese
Opfer wert waren. Aber die Frage ist unhistorisch. Sie
setzt voraus, dass jemand vor Beginn einer Revolution
die Chancen und Risiken abwägt und es von seiner Ent-
scheidung abhängt, ob nun Revolution sei oder nicht.
Bewerten lassen sie sich dennoch, und zwar wenn
die Frage anders gestellt wird: Sind Revolutionen ein
Glück oder ein Unglück? Auch diese Frage klingt ein-
facher, als sie ist. Denn was ist der Maßstab? Das Glück
der Zeitgenossen einer Revolution? Oder das der kom-
menden Generationen? Und lassen sich Glück und Un-
glück großer Menschenmassen miteinander verrechnen?
Philosophen wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel
oder Karl Marx fassten den Lauf der Geschichte im
Großen und Ganzen als Fortschritt auf. Folglich hatten
sie ein positives Verhältnis zu Revolutionen. Hegel be-
grüßte die Französische Revolution mit begeisterten
Worten, und Marx schrieb: »Die Revolutionen sind die
Lokomotiven der Geschichte.« Da scheint die Vorstel-
lung durch, es existierten Richtungen und Gleise oder

es gebe gar einen heimlichen Fahrplan. Der Philosoph
Walter Benjamin (1892–1940) konterte: »Marx sagt, die
Revolutionen sind die Lokomotiven der Weltgeschichte.
Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind
die Revolutionen der Griff des in diesem Zuge reisenden
Menschengeschlechts nach der Notbremse.«
Man weiß, was bei Notbremsungen geschieht:
Alles wird durcheinandergerüttelt. Und damit sind wir
erneut beim Problem der Gewalt. Noch einmal Mao
Zedong, aus dem Jahr 1927: »Eine Revolution ist kein
Gastmahl, kein Aufsatzschreiben, kein Bildermalen
oder Deckchensticken; sie kann nicht so fein, so ge-
mächlich und zartfühlend, so maßvoll, gesittet, höflich,
zurückhaltend und großherzig durchgeführt werden.
Die Revolution ist ein Aufstand, ein Gewaltakt, durch
den eine Klasse eine andere Klasse stürzt.«
Je autoritärer die bestehende Macht, desto gewalt-
samer die Revolution. Außerdem rufen Revolutionen
meistens konterrevolutionäre Bewegungen hervor, und
wenn beide Seiten in einen Überbietungswettbewerb
eintreten, entsteht eine Gewaltspirale. Nur sehr selten
erlauben die Umstände eine friedliche Revolution wie
1989 in der DDR. Deshalb lassen sich Revolutionen
auch so bewerten: Beinahe alle sind Unfälle der Welt-
geschichte. Besser, ein Land hat keine Revolution nötig.
Aber ist das möglich?
Es ist möglich, wenn die Institutionen eines Landes
es erlauben, die Widersprüche einer Gesellschaft mit
Kompromissen abzuarbeiten. Oder wenn Politik und
Gesellschaft, falls nötig, ohne Gewaltkonflikt in einen
neuen Aggregatzustand übergehen können. Schwer zu
sagen, ob das überall funktioniert. Der ganz große Wider-
spruch der menschlichen Geschichte, der eigentliche
Motor der Revolutionen, bleibt jedenfalls bestehen: Die
materiellen Voraussetzungen eines würdigen Lebens für
alle Menschen sind längst vorhanden, und zwar welt-
weit. Jedoch, um mit Bertolt Brecht zu sprechen, »die
Verhältnisse, sie sind nicht so«. —
Gero von Randow, Jahrgang 1953, hat im Jahr 2011
die tunesische Revolution miterlebt. In jungen Jahren ver-
standen seine Freunde und er sich selbst als Revolutionäre.
Diese Erfahrungen und die Dokumente vieler Revolutionen
in der Geschichte hat er in einem Buch verarbeitet: »Wenn
das Volk sich erhebt – Schönheit und Schrecken der Revolution«
ist 2017 bei Kiepenheuer & Witsch erschienen.
Der
Stoff,
auf den
die
Sonne
brennt
Im französischen Strandbad
Deauville sind die Schirme
die Stars der Saison. Bereits
die Impressionisten malten
ihre sommerlichen Formen.
Der Fotograf John Batho
machte sie weltberühmt

Fotos John Batho

John Batho begann 1977, die Schirme
am Strand von Deauville zu fotografieren.
»In dieser Zeit war ich auf der Suche nach
Orten mit einzigartigen Farben«, sagt er.
Daraus wurde ein Lebensprojekt, Batho
kam anfangs jedes Jahr wieder – »nicht
um die Porträts der einzelnen Schirme
anzufertigen, sondern um immer wieder
neue Farben und Arrangements zu
entdecken«. Am Strand fühlt er sich wie
in einem Konzert, das mit dem Licht der
Tageszeit spielt, mit den Formen, Farben,
Oberflächen: »Es ist Musik für die Augen«

Der tragbare Schatten
Wie der Schirm sich vom Machtsymbol
zum Massenartikel wandelte
Text Sven Stillich
D
ie Sonne ist für alle da, der Schatten
nur für wenige. So ist das gewesen,
jahrtausendelang: Der Platz unter den
Bäumen oder Felsen war knapp. Und
auch als die sonnenversengten Hoch-
kulturen die ersten Schirme erfinden,
ändert sich daran: nichts. Denn die Einzigen, die bei
den alten Ägyptern und Römern, Chinesen, Persern
oder Indern fortan beschirmt werden, sind die Könige,
Kaiser und Pharaonen – diejenigen also, die der Sonne
am nächsten stehen. Einen »tragbaren Schatten« zu be-
sitzen gilt damals als Zeichen von Würde und Rang, als
Teil der Insignien des Amtes. Orientalische Machtha-
ber lassen sich von ihren Dienern unter verzierten
Baldachinen durch die Straßen tragen. In Indien gibt es
den Begriff des »Schirmjuwels« (chhatra-ratna), es krönt
den Herrscher. In Ägypten wird auf alten Darstellungen
sogar die ganze Welt von der Göttin des Himmels be-
schirmt, die nur mit ihren Finger- und Zehenspitzen
die Erde berührt und die den Sonnengott Ra am Abend
verschluckt und am Morgen neu gebiert. Der Sonnen-
schirm wird damals aus Palmblättern gefertigt, aus
Stroh geflochten, mit Samt besetzt oder – vor allem im
alten Asien – mit Ölpapier bespannt.
In den kommenden Jahrhunderten beginnen auch
die Reichen und Schönen Schirm zu tragen – vornehme
Römerinnen und Griechinnen etwa. Dann wird es lange
Zeit dunkel um den Sonnenschirm, bis mit der Renais-
sance das Interesse wieder aufkommt, an den Palästen
der Medici oder am französischen Hof. Der parasol
schützt die vornehme Blässe beim Spazieren unter freiem
Sommerhimmel in den Feldern oder am Strand; er ist
meist rot oder grün. Der Elfenbein-Teint ist ein Standes-
merkmal: Hier arbeitet niemand mit den Händen und
holt sich eine gebräunte Haut. Der Sonnenschirm wird
zum Symbol für müßig verbrachte Freizeit, als sei er
auch ein Schutz gegen die Anstrengungen der Welt. Und
so findet er in ganz Europa seinen Weg in die Kunst, auf

Bildern von Francisco de Goya oder Anthonis van Dyck
etwa, der die Marchesa Elena Grimaldi 1623 mit einem
Sonnenschirm malt (wobei der Schirm von einer Be-
diensteten oder einem Pagen gehalten wird). Auch das
Wörterbuch der Brüder Grimm kennt ihn als »vor-
richtung, um die sonnenstrahlen abzuhalten, ein trag-
bares gestell aus metallstäbchen (früher aus fischbein
oder rohr) mit zeug (seide, baumwolle) bespannt,
meistens von damen gebraucht«.
Richtig zum Modeaccessoire wird der Sonnen-
schirm dann mit dem 19. Jahrhundert. Zum ersten Mal
kommt er ganz beim Volke an – und wird nun auch von
immer mehr Herren benutzt. Mann und Frau haben
einen dabei, sie zeigen ihn gern vor, und es gibt ihn in
immer mehr Farben und Formen. Die neuen Schirme
sind entweder betont schlicht oder mit Rüschen und
Spitzen besetzt, manche haben Fransen. Und es ent-
stehen kuriose Modelle: Der »Knicker« etwa war um
1815 ein Schirm, dessen Stiel geknickt werden konnte,
um sich vor Sonnenstrahlen zu schützen, die von der
Seite kamen. Diese Idee hat alle Zeiten überlebt – jedoch
nicht in ihrer tragbaren Variante, sondern auf Balkonen,
auf denen geknickte Schirme wie Sonnenblumen dem
Lauf der Sonne über den Tag hinweg folgen.
Damals wird auch der Regenschirm populär, vor
allem im wettergeprüften England. Im englischen Wort
umbrella scheint übrigens eine Erinnerung an den älteren
Bruder auf, den Sonnenschirm: umbra ist das lateinische
Wort für Schatten. »Umbrellarius«: Das ist im 19. Jahr-
hundert der respektvolle Begriff für einen Schirmma-
cher, und dessen Kunden lieben damals alles Neue. Es
ist eine Zeit der Wissenschaft, des Experiments. So er-
findet ein französischer Freund von Benjamin Franklin
sogar einen Blitzableiterschirm (mit einem Stock aus
Holz, einer Bespannung aus Seide und einer Metall-
kette, die von der Spitze des geöffneten Schirms bis auf
den Boden herabhängt). Auch die ersten Allzweck-
schirme entstehen, die sowohl als Regen- als auch als
Sonnenschirm genutzt werden können. Die heißen
en tous cas (französisch »für alle Fälle«). Gleichzeitig setzt
die große Vereinfachung ein: Fabriken übernehmen die
industrielle Herstellung der Sonnen- und Regenschirme,
sie werden billiger, ein Massenmarkt entsteht. 1839
malt Carl Spitzweg seinen armen Poeten, den schützt
auf seinem Bett ein Regenschirm vor dem Wasser, das
durch das Dach tropft. Der französische Impressionist
Auguste Renoir stellt eine Straßenszene dar, in der die
Menschen auf den Betrachter zuzubranden scheinen –
und alle tragen Schirme. Und 1886 entwirft Claude
Monet sein berühmtes Bild Femme à l’ombrelle: eine
junge Dame im weißen Jackenkleid auf einer Blumen-
wiese, sonnenbeschienen und beschirmt.
Die vorletzte große Innovation, was den tragbaren
Schirm angeht, entsteht Anfang des 20. Jahrhunderts.
Da muss der Breslauer Hans Haupt nach einer Kriegs-
verletzung am Stock gehen und hat es deshalb schwer,

auch noch einen Schirm dabeizuhaben. Kurzerhand
erfindet er ein zusammenklappbares Modell, das in eine
Tasche passt. So praktisch klein ist sein neuer Schirm,
er nennt ihn »Knirps«.
Heute werden Regenschirme immer noch durch
die Städte und Dörfer getragen (und im Bus oder Zug
liegen gelassen). Daran hat sich kaum etwas geändert,
seit Gene Kelly 1952 im Regen sang oder John Steed
mit Schirm, Charme und Melone über den Schwarz-
Als Hans Haupt nach
dem Krieg am Stock
gehen muss, bastelt
er einen Mini-Schirm.
Er nennt ihn »Knirps«
Weiß-Fernseher flimmerte. Nach einer Umfrage in 35
Ländern besitzt der Durchschnittsbeschirmte 2,4 Schir-
me (3,3 in Japan, 1,9 in England), die mit hoher Wahr-
scheinlichkeit entweder schwarz oder blau sind; Männer
verlieren in ihrem Leben 5,6 Schirme, Frauen 3,3. Vor
20 Jahren wurde in Deutschland der Ausbildungsberuf
des Schirmmachers gestrichen, fast alle Schirme kom-
men heute aus China. Dort gerieten sie bei der »Regen-
schirmrevolution« in Hongkong sogar zum Symbol für
die Proteste. Der letzte Regenschirm, der auffällig wurde,
war der von Donald Trump, der sich an der Tür der Air
Force One weigerte, mit dem Präsidenten einzusteigen.
Sonnenschirme wiederum sind im übertragenen
Sinne untragbar geworden. Sie stehen auf Marktplätzen
oder in Schrebergärten, seit den Konzepten des Archi-
tekten Frei Otto können sie sogar ganze Stadien über-
spannen. 1991 stellte der Künstler Christo in Japan und
den USA mehrere Tausend gelbe und blaue Schirme auf.
Als Zeichen für Gemeinsamkeit und Gleichheit.
Heimisch sind die Schirme mit dem Massentouris-
mus an den Stränden geworden. Dort sind sie am größten
und am buntesten, und dort verdienen sie sogar Geld,
wenn sie verliehen werden. Am schönsten beschirmt ist
wohl der Strand des normannischen Badeorts Deauville.
Bereits die Impressionisten haben dort die Schirme ge-
malt. In den Siebzigerjahren hat der Fotograf John
Batho sie als Motiv neu entdeckt und zeigt die Schirme
als Individuen mit eigener Geschichte – mit all ihren
Formen und Farben, mit ihren Falten und Verletzungen.
»Ich baue mit ihnen Rhythmen aus Farbe«, sagt Batho.
»Das wirkt so spontan, als würde man einen Farbkasten
am Strand verschütten.« Die Sonnenschirme von Deau-
ville kann man übrigens nicht kaufen. Jedes Jahr ver-
schwinden sie im September und tauchen im April
wieder auf. In den kühlen Monaten dazwischen werden
sie repariert, geflickt und wieder auf Vordermann ge-
bracht. Sie sind ein wertvolles Gut. Schließlich sind die
Touristen hier die Könige der Neuzeit. —
 BÜCHER


»Die Luft, die wir

ausatmen, ist so
individuell wie ein
Fingerabdruck«

»Die Welt der Zukunft

wird eine Welt der
Vernetzung sein, der
globalen Gesellschaft«

Wenn Bilder die Welt bedeuten
Sandra Rendgen / Julius Wiedemann:
»History of Information Graphics«
Manchmal kommt Geschichtsschreibung
daher wie eine Festschrift: History of Infor-
mation Graphics feiert auf fast 500 Seiten,
wie Menschen seit dem Mittelalter versucht
haben, ihre Welt zu ordnen, zu verstehen
und zu vermitteln. Das schwere, dicke,
dreisprachige Buch bahnt sich seinen Weg
durch die Jahrhunderte, es zeigt Kupfer-
stiche, Lithografien und handkopierte Gra-
fiken. Welch Reichtum an Ideen da sichtbar
wird, was für eine Pracht an Formen und
Farben! Manches lässt staunen – etwa eine
Lebensgeschichte als Landkarte, inklusive
»Hafen der Ehe«, oder die berühmte Welt-
karte von 1507, auf der zwei Kartografen
die damals Neue Welt erstmals »America«
nennen (wobei es dann blieb). Immer wieder
wird mit Infografiken Geschichte gemacht,
und immer wieder wird auf ihnen Macht
dargestellt, die Erbfolgen der alten Könige
etwa oder der Aufbau der Walt Disney
Company. Denn Grafiken sind stets auch
Weltbilder: In ihnen scheint auf, was die
Menschen als groß ansehen und was als
klein. Die Bedeutung der Infografik heute,
schreiben die Autoren selbstbewusst, »ist
größer denn je, da die großen Datenmengen
(...) über unsere Vorstellungskraft hinaus-
wachsen«. Die Welt begreifen, darum geht
es, immer noch. Und so wie mit dem Auf-
kommen der Statistik Balken- und Kuchen-
diagramme erfunden werden, wird auch
die digitale Ära neue grafische Ausdrucks-
formen suchen und finden. Sven Stillich
Taschen, 462 S. (dt., engl., frz.), 50 €
Die atemlose Gesellschaft
Jessica Braun: »Atmen. Wie die einfachste
Sache der Welt unser Leben verändert«
Der Atem ist ein Alleskönner: Er ist die
Kraft hinter einer schönen Stimme, er lässt
uns tief tauchen und schnell laufen, er
macht gelassen, leistungsfähig und gesund.
Aber nur, wenn wir richtig atmen. Das
kann ja nicht so schwer sein, oder? Doch,
denn die menschliche Atmung ist eine
äußerst komplizierte Angelegenheit, derer
sich die meisten nicht bewusst sind, erfahren
wir durch Jessica Brauns großartige Recher-
che. Die Autorin hat eine beeindruckende
Hymne auf das Atmen geschrieben, gemäß
dem Credo des Künstlers Marcel Duchamp:
»Jede Sekunde, jeder Atemzug ist ein Kunst-
werk.« 20.000-mal am Tag ein und aus, ein
Leben lang mehrere Hundert Millionen
Mal mithilfe unserer Lungenbläschen, die
ausgebreitet die Fläche einer großen Woh-
nung einnehmen würden. Geatmet wird
am besten durch die Nase, denn die Mund-
atmung ist nur Aushilfsatmung, die Nase
hingegen ist Filter, Klimaanlage und Luft-
befeuchter zugleich. Fließt durch sie Luft
hindurch, regt das außerdem die Aktivität
in den Hirnregionen Amygdala und Hippo-
campus an. Jessica Braun hat für ihre Re-
cherche nicht nur Hebammen, Ärzte,
Schlaftherapeuten und einen Schauspieler
getroffen, sondern auch die Kunst des Bo-
genschießens kennengelernt. Der Trick er-
folgreicher Schützen ist nämlich, im Mo-
ment der Anstrengung auszuatmen. Dann
behindert die Atemmuskulatur nicht die
anderen Muskeln. Trainierte Sportler haben
übrigens bis zu sieben Liter Sauerstoff im
Blut und Untrainierte nur die Hälfte. Die
Autorin wird grundsätzlich: Am Leben hal-
ten uns zwei Rhythmen, der Herzschlag
und die Atmung – nur Letztere können wir
beeinflussen. Sie sei ein Medium, sagt die
Philosophin Luce Irigaray, eine Art Unter-
händlerin, mit der wir uns gut stellen soll-
ten. Schließlich hauchen wir mit unserem
letzten Atemzug das Leben aus: Versiegt
unser Atem, enden auch wir. Hella Kemper
Kein & Aber, 368 S., 20 € (E-Book 16,99 €)
Wer wenig verdient, erfährt
kaum Respekt
Elizabeth Anderson: »Private Regierung. Wie
Arbeitgeber über unser Leben herrschen (und
warum wir nicht darüber reden)«
»Wer heute noch sagt, dass freie Märkte die
Freiheit der Arbeiter garantieren, übt sich in
magischem Denken«, schreibt Elizabeth
Anderson. 1776, als Adam Smith sein Buch
Der Wohlstand der Nationen veröffentlichte,
galten freie Märkte liberalen Denkern als
progressives Projekt, das die Lohnabhängi-
gen aus den feudalen Strukturen befreien
werde. Anderson zeigt dagegen in ihrer
packenden Ideologiekritik, dass sich bereits
seit der industriellen Revolution dieses po-
sitive Ideal von freiem Markt und freiem
Arbeiter aufgelöst hat – Fortschrittsglaube,
ade. Heute verbietet Walmart seinen Ange-
stellten das Plaudern, und Apple inspiziert
persönliche Gegenstände seiner Mitarbeiter.
Wir ließen uns regieren, und wir diskutierten
das zu wenig, findet Anderson. Natürlich

bezieht sie sich dabei auf die USA, und
glücklicherweise haben andere Industrie-
nationen wie Deutschland strengere Arbeits-
schutzgesetze. Trotzdem zielt sie auf den
wunden Punkt einer Welt, in der alles – ein-
schließlich der Arbeit und der Arbeiter und
Arbeiterinnen selbst – zur Ware wird. Das
Maß an Respekt und Autonomie, das An-
gestellten zugestanden werde, sei stets un-
gefähr proportional zu ihrem Marktwert,
schreibt sie. Schade nur, dass sie in ihrer
Analyse den Aufstieg der Gig-Economy ver-
gisst, also Plattformen wie Deliveroo oder
Uber. Diese kurzfristigen, extrem flexiblen
Jobaufträge nennen Kritiker wegen der weit-
gehend unklaren Rechte der Beschäftigten
auch: »digitale Sklaverei«. Silke Weber
Suhrkamp, 259 S., 28 € (E-Book 23,99 €)
Der Kitt des Lebens
Mark W. Moffett: »Was uns zusammenhält.
Eine Naturgeschichte der Gesellschaft«
Zwischen San Francisco und der Grenze zu
Mexiko arbeiten Milliarden für das Wohl
ihres Staats, als Bäuerin, Baumeisterin oder
Soldatin. Argentinische Ameisen bilden die
größten bekannten Gesellschaften. Der In-
sektenkundler und Soziobiologe Mark
Moffett hat nicht nur das Leben der Ameisen
erforscht, sondern in jahrelanger Recherche
das Gesellschaftssystem verschiedener Natur-
völker dokumentiert und analysiert. Nun
schlägt er einen großen Bogen zur Moder-
ne: Menschliche Gesellschaften, schreibt er,
ähnelten denen der Ameisen mehr als denen
unserer engsten Verwandten. Während
nämlich Schimpansen alle Fremden als Ge-
fahr einstuften, genüge Ameisen eine Duft-
marke, um Freund und Feind zu unter-
scheiden. Menschen verwendeten dazu
verschiedene Marker wie Aussehen, Sprache
oder Gestik. Solche Analogien klingen nach
einer rein biologistischen Perspektive, doch
Moffett belegt seine Thesen auch mit Argu-
menten aus Anthropologie, Psychologie
und Geschichte. Auf einer Zeitreise von
den frühen Jägern und Sammlern bis zu
den Vereinten Nationen illustriert er wis-
senschaftliche Theorien mit Anekdoten aus
seinen Expeditionen in Dschungel und Sa-
vanne. Dabei zeigt er eindrucksvoll auch
den Fluch des gesellschaftlichen Zusam-
menhalts: Wo Gruppen sich über andere
erheben, entstehen Konflikte, Missachtung
und Unterdrückung. Eva-Lena Stange
S. Fischer, 688 S., 26 € (E-Book 22,99 €)

Überlebenskünstler und Käsehobel
Hans Magnus Enzensberger: »Eine Experten-
Revue in 89 Nummern«
Jeder Mensch ist ein Experte für irgend-
etwas, schreibt Hans Magnus Enzensberger.
Für Bierdeckel, Käse, Primzahlen, Hobel,
Töne, Plastiktüten, Gerüche oder Salz. 89
Experten lässt HME über den Laufsteg sei-
ner Revue laufen und erweist sich dabei als
größter aller Experten: als Menschenkenner.
Man müsse nur genau genug hinsehen, sagt
Enzensberger, dann entdecke man all die
Experten, die uns im Alltag begegnen und
umgeben, dann entdecke jeder und jede,
was seine oder ihre Spezialität sei. Mit den
besonderen Stärken kompensieren wir ei-
gene Defizite und Defekte oder solche der
Gesellschaft. Seit Arnold Gehlen weiß man,
dass der Mensch ein erbärmliches Mängel-
wesen ist: Wir können nicht fliegen, sind
nicht besonders stark, haben keine Reiß-
zähne und vermehren uns vergleichsweise
umständlich. Erst das Spezialistentum oder
die Arbeitsteilung, wie Enzensberger es
nennt, macht uns Menschen zu Überlebens-
künstlern. Über 89 von ihnen berichtet er
in fein- wie scharfsinnigen Lehrstücken, in
denen sich Humor und Intelligenz auf
wunderbare Weise paaren. Seine Porträts
sind Miniaturen, die Menschen und ihre
Leidenschaften wertschätzen. Enzensberger
hat keine Angst vor dem Banalen, Alltägli-
chen: Oder wussten Sie, warum schwedi-
sche Hobel sich besser zum Schneiden von
Käse eignen als deutsche Fabrikate? Oder
was eine Schraube von einer Spirale unter-
scheidet? Das muss man natürlich nicht
wissen, aber es macht Spaß, es zu wissen.
Denn wenn Enzensberger etwas vermittelt,
dann dass (Er-)Kenntnis ein Glück ist.
Schwedische Käsehobel sind übrigens dün-
ner, lassen sich leichter biegen und sind des-
halb variabler in der Schnittstärke. Und die
Spirale kommt im Gegensatz zur Schraube
ohne Widerpart aus. Hella Kemper
Suhrkamp, 335 S., 24 € (E-Book 20,99 €)
Der ewige Wanderer
Johannes Kraus mit Thomas Trappe:
»Die Reise unserer Gene«
Migration sei die »Mutter aller Probleme«,
behauptete einmal Innenminister Seehofer.
Wenn man den Salvinis, Orbáns und
Trumps dieser Tage Glauben schenken will,
ist sie gar widernatürlich. Dass diese Be-
hauptungen wissenschaftlich haltlos sind,
legt Johannes Kraus in seinem brillanten
Report über die neuen Erkenntnisse der
Archäogenetik dar. Der 39 Jahre alte Direk-
tor des Max-Planck-Instituts für Mensch-
heitsgeschichte zeigt, wie die Technik der
Genomsequenzierung ein unerwartetes
Fenster in die Frühgeschichte der Mensch-
heit geöffnet hat. Aus der DNA jahrtau-
sendealter menschlicher Überreste können
Forscher nun exakt rekonstruieren, wann
welche Menschengruppen über den Erdball
zogen. Der Homo sapiens erreichte Europa
zuerst vor 45.000 Jahren – als dunkelhäuti-
ger, blauäugiger Jäger und Sammler. Vor
9000 Jahren wanderten die ersten, hellhäu-
tigen Ackerbauern aus dem Nahen Osten
DAS LESEN
NOBELPREISTRÄGER
Venkatraman
Ramakrishnan,
Chemie-Nobelpreis 2009,
Präsident der Royal Society
Daniel Kahneman:
»Schnelles Denken, langsames Denken«
»Das Buch ist sehr relevant, weil es zeigt,
wie unterschiedlich Menschen denken,
etwa rational oder nur mit dem Bauch.«
Penguin Verlag, 624 S., 14 €
ein, und vor knapp 5000 Jahren folgte eine
dritte Einwanderungswelle aus der Steppe
in Zentralasien. Genspuren aller drei Mi-
grationen finden sich heute in unterschied-
lichen Anteilen in allen Europäern. Was
wir Nationen nennen, hat also keinerlei
genetische Entsprechung: »Die Übergänge
sind hier wie dort fließend«, schreibt Krause
– und das nicht nur in Europa, sondern
weltweit. Die Archäogenetik zeigt damit:
Migration ist seit Jahrzehntausenden der
Normalfall, nicht die Anomalie. Jeder Ver-
such einer Abschottung, so Johannes Krause,
werde in einer Sackgasse enden, denn:
»Solch eine Welt gab es nie.« Sein Werk Die
Reise unserer Gene kommt zur rechten Zeit.
Für mich ist es schon jetzt das Wissen-
schaftsbuch des Jahres. Niels Boeing
Propyläen, 288 S., 22 € (E-Book 19,99 €)
Was tun während der Ewigkeit?
Fabian Vogt: »100 Dinge, die du nach dem Tod
auf keinen Fall verpassen solltest«
Der Theologe Fabian Vogt greift die mo-
dernste aller Ängste auf – stets am falschen
Ort zu sein und nicht das Beste aus dem
Leben herauszuholen – und erzählt augen-
zwinkernd davon, was man nach dem Leben
nicht verpassen darf. Aufgebaut ist sein
Buch wie einer dieser Reiseführer zu Orten,
die man unbedingt besucht haben sollte,
kurz: Der Leser blättert durch die Jenseits-
vorstellungen verschiedener Kulturen. Und
die gleichen sich mehr als gedacht: Immer
wieder werden Brücken überschritten, ger-
ne wird Gericht gehalten über die Existenz
bis zum Abreisedatum, und oft ist das Ziel
– Hölle oder Paradies – weniger spannend
als der Weg dahin. Allein die vielen Flüsse!
Bei den Griechen muss man vor dem Ein-
gang ins Totenreich einen Schluck aus der
Lethe trinken, deren Wasser alle Erinnerung
an das frühere Dasein löscht. Bei den Maya
durchquert man einen Fluss voller Skor-
pione, bei den Buddhisten sitzt am Fluss
Sanzu eine alte Frau und klaut einem die
Kleider, und den siebenarmigen Fluss der
Azteken kann man nur überqueren, wenn
man einen gelben Hund dabeihat. Vogt
reiht die Destinationen mit Leichtigkeit an-
einander. Oft ist er dabei lustig, manchmal
will er das nur sein, aber immer ist er nah
dran am Thema – erstaunlich für einen
Reiseführer, bei dem der Autor wohl kaum
vor Ort recherchiert hat. Sven Stillich
bene!, 256 S., 15 € (E-Book 9,99 €)
Die Rezensenten
Niels Boeing liest derzeit viele Bücher über
China, unter anderem Kai Strittmatters
»Die Neuerfindung der Diktatur«, um
den chinesischen Weg ins 21. Jahrhundert
besser zu verstehen.
Hella Kemper bibbert mit, wenn der
»Kanalschwimmer« von Ulrike Draesner
versucht, den Ärmelkanal zu queren.
Eva-Lena Stange verfolgt in Virginie
Despentes’ Roman »Das Leben des Vernon
Subutex«, wie Individualisten zusammen
Foto Geraint Lewis / ddp images
eine rasante Gruppendynamik entwickeln.
Sven Stillich hätte gerne alle Zeit der Welt,
um über die Ewigkeit nachzudenken, guckt
aber erst mal alte Serien (»Time Tunnel«).
Silke Weber mag das Buch »Bullshit-Jobs«
des Anthropologen David Graeber über die
viele sinnlose Arbeit heutzutage.

»Der Krieg würde
aufhören, wenn
die Toten zurück-
kehren könnten.«
Stanley Baldwin
Stand: 1. 8. 2019. Sie kennen gelungene Wissen-Apps? Wir freuen uns über Vorschläge: redaktion@zeit-wissen.de (IAK = In-App-Käufe möglich)
1!Nie wieder
Wie war es als Kind im
»Dritten Reich«? Was ist im
Krieg passiert? Diese App
beamt Zeitzeugen in den
Raum, in dem man sitzt,
dann erzählen sie ihre Ge-
schichte. Beeindruckend.
Und wichtig, gerade heute.
Entstanden unter Mitarbeit
der Hochschule Düsseldorf.
»WDR AR 1933–1945«,
iOS, Android (gratis)
2!Aufgepasst
Wer viel mit dem Auto
über Land fährt, braucht
diese App, denn sie warnt
vor gefährlichen Wild-
wechselstellen. Und sie hilft
bei einem Unfall weiter.
Mehr als 50.000 Auto-
fahrer nutzen sie bereits.
»Wildwarner«, iOS, Android
(gratis), wuidi.com
APPS
4 3
7
3!Bitte mitmachen
Democracy ist ein direkter
Draht zum Bundestag. Die
App listet zum Beispiel
Gesetzesvorlagen und An-
träge auf. Mit ihr lernt man
einzelne Parteien und ihre
Ideen besser zu verstehen.
»Democracy«, iOS, Android
(gr.), democracy-deutschland.de
4!Alles so grün hier
Was für eine Pflanze wächst
denn dort? Mit Flora In-
cognita findet man das
schnell heraus. Partner des
Projekts sind die TU Ilme-
nau und das Max-Planck-
Institut für Biogeochemie.
»Flora Incognita«, iOS, An-
droid (gr.), floraincognita.com
5!Schluss damit
To-do-Listen sind dafür da,
zu Erledigendes zu planen.

MARKTPLATZ
1 Möbel
2 für drinnen und draußen
5 www.maas-natur.de
6 Sprachen
Eigentlich. In ToDon’t
sammelt man, was man
nicht mehr tun möchte –
zur steten Erinnerung.
»ToDon’t«, iOS (gratis)
6!Kampf gegen
das Vergessen
Wissenschaftler möchten
mehr über Demenz und die
Alzheimer-Erkrankung
wissen. Nutzer von Neotiv
können sie unterstützen.
»Neotiv«, iOS, Android (gra-
tis), citizen-science.neotiv.com
7!Zueinanderfinden
Wenn aus der Beziehung
die Luft raus ist, will diese
App da sein – mit Tipps
für schöne Momente etwa.
Wenn es nichts hilft, hat es
zumindest nicht geschadet.
»Pairfect«, iOS, Android
(gratis, IAK), pairfect.com
Fasten
Dr.Buchinger + Vegan-Basisch
mit Wandern/Yoga/Stressabbau
www.fasteninfos.de
Garten
WUNDERSCHÖNE GARTENMÖBEL
klassisch & stilvoll
www.gartenmoebel-klassiker.de
Gesundheit
AYURVEDA - KUREN - MEDIZIN
Artikel, Videos, Branchenbuch
www.ayurveda-portal.de
Möbel aus aller Welt
www.octopus-hamburg.com
Mode
SCHÖNE MODE AUS NATURFASERN
Ökologisch - Modisch - Fair
BILDUNGSURLAUB IN POLEN
in der Sprachschule Sopot
www.ssp.edu.pl
Weine & Spirituosen
9 - GENERATIONEN WEINBAU
Weingut Adam Müller Leimen
www.weingut-adam-mueller.de
Wohnen
HELFEN SIE VÖGEL RETTEN!
Unsichtbare Vogelschutzfolie
www.vogelglas.de
Kontakt für Anzeigenkunden
!030!/!260!68!530
TVM GmbH, Ihr Ansprechpartner
für Beratung und Verkauf.
A

IMPRESSUM
Herausgeber
Andreas Sentker
Chefredakteur
Andreas Lebert
Art-Direktion
Wiebke Hansen
Redaktion
Hella Kemper,
Dr. Max Rauner,
Katrin Zeug
Bildredaktion
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Layout
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Autoren
Niels Boeing, Sven Stillich
Mitarbeiter dieser Ausgabe
Stephanie Alvarez, Tobias
Bug, Rebekka Gottl, Tobias
Hürter, Ivonne Ilfrich, Filipa
Lessing, Anna von Münch-
hausen, Rudi Novotny, Gero
von Randow, Ulf Schönert,
Eva-Lena Stange, Silke
Weber, Dr. Eva Wlodarek,
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Online-Redaktion
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Korrektorat
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(verantw.), Rüdiger Frank,
Christoph Kirchner, Uta
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39 Euro, des Heftes, liebe Leserin, lieber Leser, sind Sie dran:
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Lassen Sie sich von diesem Mädchen inmitten von Puppen inspirieren!
auf Anfrage; Ihre Frage sollte originell sein und auf einen Erkenntnisgewinn abzielen
Abonnentenservice: (siehe rechte Seite). Die beste eingesandte Frage beantworten wir in der
Telefon 040/42 23 70 70, nächsten Ausgabe. Schreiben Sie bitte bis zum 8. September 2019 an
Fax 040/42 23 70 90, redaktion@zeit-wissen.de. Gewinnen können Sie den aktuellen Band der
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Illustration Lea Dohle
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Das nächste ZEIT WISSEN erscheint am 15. Oktober 2019
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appl Druck, Wemding
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Repro Hören Sie rein: Wir produzieren Folgen Sie uns: auf facebook.
4mat media, Hamburg monatlich den ZEIT WISSEN- com/zeitwissen, auf Twitter und Foto Michael Krebs, aus der Serie »Surplus«
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Anschrift
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ZEIT Wissen RECHERCHEQUELLEN
views und Reportagen. Sie hören
Zeitverlag Gerd Bucerius
ihn auf www. ZEIT WISSEN legt seine Recher-
GmbH & Co. KG
zeit.de/zeitwis- chequellen offen. Unter www.
Buceriusstraße, sen-podcast zeit-wissen.de/0519quellen
Eingang Speersort 1 oder auf iTunes, nennen wir zu zahlreichen Artikeln
20095 Hamburg Spotify und bei dieser Ausgabe Studien und Bücher,
Telefon 040/32 80-0 soundcloud. die unsere Autoren bei der
Fax 040/32 80-553 com/zeitwissen. Recherche zurate gezogen haben.
 DIE BESTE FRAGE AM SCHLUSS 

Welchen Einfluss
hat der Ort auf das
Denkvermögen?
Nicht nur Sie brauchen manchmal
einen Tapetenwechsel. Auch Ihr Gehirn
will raus aus der ewig gleichen Mühle
Text Ivonne Ilfrich Foto Christoph Soeder

A
rchimedes von Syrakus ließ
sich ein warmes Bad ein. Seit
Tagen suchte er verzweifelt
nach einer Lösung: Er sollte
herausfinden, ob die könig-
liche Krone aus reinem Gold
besteht. Als er tiefer in das Badewasser ein-
tauchte, beobachtete er, wie es über den
Wannenrand schwappte. Das war der
Schlüssel zur Lösung: »Heureka!« – »Ich
habe es gefunden!« Er wusste jetzt, wie er
die Reinheit des Goldes überprüfen konnte.
»Bad und Bett, aber auch Sauna und
Schwimmbad sind Orte, an denen unser
Foto Martin Parr / Magnum / Agentur Focus (Ausschnitt)
unwohl oder gestresst, aktiviert der Körper
Hormone und Neurotransmitter, die den
präfrontalen Cortex herunterfahren. Aber
der ist wichtig, um gezielte Bezüge zu unse-
rem Wissen herzustellen.« Dies geschieht,
indem der präfrontale Cortex unsere Impulse
kontrolliert und Gedächtnisinhalte mit
Im vorigen Heft fragten wir Sie,
liebe Leser und Leserinnen, welche
Frage Ihnen zu diesem Bild einfällt.
Hier beantworten wir nun die
Frage von Christin Sydow
lichen Sackgasse fest, kann ein Ortswechsel
für Inspiration sorgen und helfen, den ver-
engten Tunnelblick wieder zu weiten. »Den
meisten Menschen fällt es schwer, sich von
einer einmal eingeschlagenen Denkrichtung
zu lösen«, sagt Schwabe. Dann hilft es
manchmal, etwas anderes zu machen und
gedanklich Abstand zu nehmen, um sich
dann dem Problem erneut zuzuwenden.
Auch ein Spaziergang kann unser Denken
anregen. »Bewegen wir uns, wird das Gehirn
stimuliert, was sich positiv auf Lernprozesse
und Gedächtnis auswirkt.« Idealerweise
bewegen wir uns dabei draußen im Park

Gehirn gut funktioniert«, sagt Rotraut Wal-
den. Sie erforscht als Architekturpsychologin
an der Universität Koblenz, welchen Ein-
fluss die Umgebung auf uns hat. »Warmes
Wasser oder die Weichheit eines Bettes er-
zeugen ein Wohlgefühl«, sagt sie. »Und je
wohler wir uns fühlen, desto leistungsfähiger
sind wir.« Aber was hat ein Whirlpool mit
sprudelnden Ideen zu tun?
»Entspannung ist das Gegenteil von
Stress«, sagt Lars Schwabe. Er forscht als
Kognitionspsychologe an der Universität
Hamburg. »Fühlen wir uns in einer Situation
emotionalen Bewertungen und Handlungen
verknüpft. Fühlen wir uns gestresst, fällt uns
das schwerer. »Auch laute Geräusche oder
solche, die unvermittelt ertönen, stören
uns«, sagt Schwabe, »sie reißen uns aus der
Konzentration.« Unser Gehirn wendet sich
den dominanten Reizen zu.
Manche benötigen eher Ruhe, um sich
zu konzentrieren, andere dagegen lernen
leichter, wenn sie dabei Musik hören. Ar-
beiten in sehr lauter Umgebung ist aber nur
selten produktiv. Steckt man in einer gedank-
oder im Wald, nicht im Fitnessstudio.
In der Natur kann man sich auch In-
spiration für die Gestaltung des eigenen
Denkraums holen. »Das ideale Arbeits-
zimmer ist in lichten Farben eingerichtet«,
sagt die Psychologin Rotraut Walden. »Das
Fenster sollte einen weiten Ausblick und der
Schreibtisch genügend Platz für das Arbeits-
material bieten.« Archimedes jedenfalls
nahm die Krone und prüfte, ob sie ebenso
viel Wasser verdrängte wie ein gleich schwerer
Goldbarren. Und ich habe mich vor Abgabe
dieses Textes ins Bett gelegt. Heureka! —
 EINWURF
Achtung Fußballer: Hier kommt der Ball nicht von der Seitenlinie,
sondern direkt aus der Wissenschaft. Diesmal von der Biomedizin
Text Tobias Bug

Die verdächtige Zeitlupe


B
ei einem harten Foul muss der Schieds-
richter innerhalb kürzester Zeit beurteilen:
War es ein unabsichtliches, »fahrlässiges«
Rempeln, Treten oder Beinstellen? Dafür
gäbe es einen Freistoß, aber keine Ver-
warnung. Oder war es ein beabsichtigtes,
rüdes Foul? Das wäre eine Gelbe Karte. Die Strafe für
»brutales Spiel«, das die Gesundheit des Gegenspielers
gefährdet, wäre Rot: ein Platzverweis. Damit es weniger
Fehlentscheidungen gibt, kann in der Fußball-Bundesli-
ga seit einem Jahr ein Video-Schiedsrichter einschreiten.
Der beobachtet das Spiel live vor einem Bildschirm – in
Echtzeit und in Zeitlupe. Ist er der Meinung, einen
klaren Fehler des Schiedsrichters entdeckt zu haben,
gibt er diesem per Funk ein Signal.
Das Spiel wird dann unterbrochen, der Referee stu-
diert auf einem Monitor am Spielfeldrand die Szene im
Video, auch in Zeitlupe. Das kann Minuten dauern,
denn der Schiedsrichter kann sich nun für seine end-
gültige Entscheidung so viel Zeit nehmen, wie er
braucht. Der Videobeweis soll das Spiel »wahrer« und
gerechter machen. Dennoch haben viele Zuschauer das
Gefühl: Nach Ansicht der Zeitlupe fallen die Strafen
für die Spieler viel strenger aus.
Auch der Biomediziner Jochim Spitz hat sich gefragt,
ob die Zeitlupe bei der Beurteilung von Foulspielen
wirklich sinnvoll ist. Oder ob sie die Urteile des Schieds-
richters beeinflusst und damit sogar das Gegenteil be-
wirkt und das ganze Spiel »unwahrer« und ungerechter
macht. Spitz erforscht Bewegungskontrolle und Neuro-
plastik an der belgischen Universität Leuven, und dort
ist er der Frage mit einigem Aufwand nachgegangen.
Für seine Zeitlupenstudie, die von der europäischen
Fußball-Assoziation Uefa finanziert wurde, hat der
Wissenschaftler 88 Top-Schiedsrichtern aus fünf euro-
päischen Ländern Aufnahmen von Foulspielen aus pro-
fessionellen Fußballspielen vorgespielt. »Jeder Referee
bekam eine Szene nur einmal zu sehen, entweder in
Echtzeit oder in Zeitlupe, viermal langsamer«, sagt
Spitz, »und daraufhin musste er entscheiden, ob er dem
Foulenden eine Karte zeigen würde und wenn ja, wel-
che.« Für seine Entscheidung hatte der Schiedsrichter
pro Szene zehn Sekunden Zeit. In einer weiteren Studie
an der University of San Francisco betrachteten 1600
Foto Sven Hoppe / dpa Picture-Alliance
Teilnehmer in Echtzeit oder in Zeitlupe Videoclips,
unter anderem von einem Foulspiel im American Foot-
ball. Anschließend sollten die Laien-Schiedsrichter die
Strafe für den foulenden Spieler festlegen.
Dabei zeigte sich: »Die Referees haben Fouls strenger
bestraft, wenn sie diese in Zeitlupe gesehen haben«,
sagt der Biomediziner. Zum Beispiel entschieden sie
eher auf Platzverweis, wenn laut Regelwerk eine Gelbe

Karte genügt hätte. Woran liegt das? »Die Zeitlupe be-
einflusst die Wahrnehmung von Körperbewegungen
und Absicht«, sagt Spitz. Er hatte den Schiedsrichtern
Szenen vorgespielt, die das Foul und den Sturz des Ge-
foulten gut zeigten. In Slow Motion, so der Forscher,
erscheine der Vorgang deutlich brutaler, sehe man doch
den Körperkontakt und das schmerzvoll verzerrte Ge-
sicht des Gefoulten ganz genau, und der Fall auf den
Boden mute viel intensiver an. Dieser dramatisierte
Eindruck könne den Unterschied machen zwischen
dem Urteil »fahrlässig« (keine Karte), »rücksichtslos«
(Gelb) oder »brutales Spiel« (Rot).
»Eine Aktion, die in Echtzeit völlig unbeabsichtigt
aussah, kann in Slow Motion klar beabsichtigt erschei-
nen«, sagt auch Zachary Burns, Psychologe an der Uni-
versity of San Francisco. »Da die Aktion verlangsamt
länger dauert, wirkt es, als habe der Täter viel mehr Zeit,
zu handeln und darüber nachzudenken, was er macht.«
Auch in seiner Studie zeigte sich: Das Urteil der Laien-
Schiedsrichter, die das Foul in Zeitlupe gesehen hatten,
fiel deutlich strenger aus. Burns erklärt das mit dem
»Ankereffekt«: »Unser Gehirn verankert sich gerne auf
etwas und trifft davon ausgehend sein Urteil. Es ist
schwierig, sich zu weit von dem ersten Eindruck – dem
Anker – zu entfernen.« Die Teilnehmer, die die Zeitlupe
sahen, wussten zwar, dass die Szene verlangsamt wurde.
Doch sie konnten ihr Gehirn nicht dazu bringen, sich
die Situation in realer Geschwindigkeit vorzustellen. So
trafen sie ihr Urteil auf Basis der Zeitlupe, die ihre Be-
wertung zuungunsten des Foulenden beeinflusste.
Führt also der Videobeweis, der das Spiel eigentlich
gerechter machen soll, zu Fehlurteilen? »Möglich«,
sagt Jochim Spitz, aber das komme auf die konkrete
Spielsituation an: »Bei einem unübersichtlichen Ge-
tümmel nach einem Eckstoß ist es in Echtzeit oft un-
möglich zu erkennen, wer wen gezogen oder gestoßen
hat. Da hilft die Zeitlupe.« Auch wenn entschieden
werden soll, ob ein Ball mit der Hand gespielt wurde
oder nicht, könne die Zeitlupe eine große Hilfe sein. Es
sei wichtig, Slow Motion sinnvoll einzusetzen: nur bei
Entscheidungen über Tatsachen, nicht aber, um Absicht
oder Brutalität eines Fouls zu bewerten. »Die Schieds-
richter müssen sich über den verzerrenden Effekt der
Zeitlupe bewusst sein«, sagt Spitz.
Dieser Einwurf aus der Wissenschaft ist bereits in
die Richtlinien für den Videobeweis eingeflossen. Die
Universität Leuven war beteiligt an dem Handbuch des
Ifab, welches die internationalen Fußballregeln festlegt.
In diesem wird nun hingewiesen auf die »potenziellen
Risiken der Zeitlupe«. Und es wird empfohlen: Der
Schiedsrichter soll ein Foul am Spielfeldrand nur in
realer Geschwindigkeit überprüfen. Damit er sich mög-
lichst nicht täuschen lässt von der Zeitlupe. —
Im nächsten Heft: Der Torwarthandschuh
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 DIE WELT
AUS DER
SICHT EINER
BANDSCHEIBE
L
eider gelte ich als schwierig
und unberechenbar. Warum
geht bloß sofort das große
Stöhnen los, wenn von mir die
Rede ist? Warum bin ich auch
so tief versteckt, hinten, zwi-
schen den Wirbelkörpern der Wirbelsäule?
Ich kritisiere die Schöpfung ungern, aber
viel wäre geholfen, wenn die Menschheit
mich sähe. Nennen Sie mir doch mal bitte
einen anderen Teil des Körpers, der sich an
unauffälliger Stelle derart aufreibt wie ich,
die Bandscheibe, Discus intervertebralis.
Okay, das ist jetzt vielleicht ein bisschen
laut gejammert. Dabei bin ich sonst ja nie
zu hören. Weil ich so weich und elastisch
angelegt bin. Dann sehen wir uns doch mal
meine Bleibe an, diese fantastische Wirbel-
säule, die es dem Menschen seit 3,6 Millionen
Jahren ermöglicht, aufrecht zu gehen.
Selbstverständlich ist das keineswegs, was
die Evolution da zustande gebracht hat. Jeder
Anthropologe wird es Ihnen bestätigen: Nur
mit den knöchernen Wirbelkörpern der
Hals-, Brust- und Lendenwirbelsäule wäre
das mit dem aufrechten Gang niemals was
geworden. Elastizität musste dazukommen,
Beweglichkeit. Und das ist mein Metier,
damit kenne ich mich aus.
23 Bandscheiben hat jeder Menschen-
rücken. Ein elastisches Kissen, jede von uns,
mit jeweils einem Gallertkern im Inneren
und einem Faserring außen herum. Wenn
alles gut geht, machen wir unauffällig unse-
re Arbeit als Druckpolster. Aber angenehm
ist die nicht, diese Existenz zwischen den

Immer dreht sich alles um den
Menschen. Höchste Zeit,
die Perspektive zu wechseln
Text Anna von Münchhausen Illustration Julia Praschma
Wirbelkörpern. Ein einziges Gedrücke und
Gequetsche. Die wichtigsten Leitungen, die
Nervenkanäle, laufen auch direkt an mir
vorbei, um den gesamten unteren Menschen
zu versorgen. Um die Nerven wird sich ge-
kümmert, aber um uns? Tatsache ist, wir
Bandscheiben werden nicht nur unter-
schätzt, nein: Wir werden übel malträtiert.
Zwar spricht es sich langsam herum, dass
Sitzen das neue Rauchen ist, aber so wirklich
ändert sich nichts. Oder was tun Sie gerade?
Die Schultern rund gekrümmt, der gesamte
Rücken verspannt – da nützen auch die fit-
testen Bandscheiben nichts.
Was Laien den »Vorfall« nennen, be-
deutet nur, dass ich irgendwann, wenn Sie
nicht auf mich achten, nicht mehr mag. Ich
binde dann kaum noch Wasser, werde rissig,
Spalten entstehen, und ich kann den Druck
der Wirbel nicht mehr abfangen.
Ich habe verstanden, dass man meine
Funktion erst relativ spät erkannt hat. Aber
jetzt weiß man ja, wie wichtig ich bin und
darum: Leute, gewöhnt es euch endlich an!
Jeden Morgen erst mal die Bandscheiben
auswringen, stimulieren und neu aufpols-
tern. Wenn wir nämlich bewegt werden,
dann nehmen wir Flüssigkeit auf und blei-
ben schön geschmeidig.
Wie? Den Oberkörper drehen und
wenden, dabei die Hüfte stillgestellt. Dann
nach rechts, nach links, die Flanken dehnen.
Aaah, das liebe ich, gleich geht es mir besser!
Und Sie werden sich beim Autofahren wie-
der umschauen können ... Morgen früh
denken Sie mal an mich. Versprochen? —