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Psychologie. Hirnforschung. Medizin.

Nr. 12/2023  € 8,20 · 15,40 sFr. · www.gehirn-und-geist.de

Psycho-
therapie
Besser denken dank Was wirklich

Brainfood?
wirkt

Der Fakten-Check

D 575 25

Alkohol Stolz Teenager


Das macht die Alltagsdroge Ein zweischneidiges Wenn der Schlafrhythmus
mit unserem Gehirn Gefühl aus dem Tritt kommt
Spektrum der Wissenschaft KOMPAKT
Ob A wie Astronomie oder Z wie Zellbiologie:
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EDITORIAL

Futter für das Gehirn I N D I E S E R AU S G A B E

I
ch liebe Obst und Gemüse: Zu meinen Favoriten gehören
unter anderem Beeren, Äpfel, Brokkoli und Tomaten. Dass sie
auch die Gesundheit fördern sollen, ist da für mich erst
einmal nur ein Nebenaspekt – wenngleich ein wichtiger. Man-
chen dieser Leckereien wird zudem eine positive Wirkung auf
unser Gehirn nachgesagt. Die in ihnen vorkommenden Omega–
Fettsäuren, Flavonoide oder B-Vitamine sollen unseren Denk­
apparat leistungsfähig halten: echtes Brainfood, das mindestens
so wichtig ist wie geistig anregende Tätigkeiten. Carolin Reichert und Christian Cajochen vom
Die Belege dafür fehlen allerdings Zentrum für Chronobiologie an den Universitären
noch vielfach, wie Frank Luerweg in Psychiatrischen Kliniken in Basel erforschen,
warum viele Jugendliche erst nach Mitternacht
unserem Titelthema ab S. 12 beschreibt. einschlafen – und wie man zu einem gesunden
Viele Studien basieren demnach auf Schlafrhythmus findet (S. 44).
Korrelationen, die über Umfragen
erfasst wurden. Wer beispielsweise
angab, viele Beeren zu essen, schnitt
Jahre später bei Hirnleistungstests besser

TATJANA DACHSEL; MIT FRDL. GEN.


ab. Ein echter Wirkungszusammenhang
lässt sich daraus jedoch nicht ableiten.

VON ALEXANDRA PHILIPSEN


Daniel Lingenhöhl Denn wer gerne Heidel-, Him- und
Chefredakteur Erdbeeren verspeist, legt wahrscheinlich
lingenhoehl@spektrum.de generell viel Wert auf ausgewogene
Ernährung sowie vermutlich auf Sport
und geistige Anregung. Ergebnisse von Tierstudien wiederum
Warum haben Menschen mit ADHS
sind nicht ohne Weiteres auf uns Menschen übertragbar.
ihre Augen und Ohren überall?
»Es gibt nicht den einen Nährstoff, der geistigen Abbau oder Das erklärt Alexandra Philipsen von der
andere Krankheiten verhindert«, sagt denn auch Veronica Witte ­Universität Bonn ab S. 52.
vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissen-
schaften in Leipzig. Das gezielte Einwerfen von Kapseln oder
Pillen, die besagte Inhaltsstoffe konzentriert dem Körper zufüh-
ren sollen, bringt also womöglich nichts. Ich verzichte darauf
ohnehin und ernähre mich lieber ausgewogen und vielfältig –
­auch geschmacklich ein Gewinn gegenüber den Nahrungs­
ergänzungsmitteln.
Besonders spannend finde ich persönlich unseren Artikel
zu den Schlafrhythmen von Jugendlichen. Mit zwei pubertie-
renden Kindern im Haus kann ich gut beobachten, wie sich die
Wachphasen mehr und mehr in den Abend verlagern. An den
Wochen­enden oder in den Ferien dauert es dafür morgens
immer länger, bis sie aus den Federn kommen. Mal sehen, welche
der Tipps im Artikel ich zu Hause umsetzen kann – und mit
welchem Erfolg.

Allzeit guten Schlaf wünscht Ihnen

GEHIRN&GEIST 3 12_2023
IN DIESER AUSGABE

Editorial  3 Titelthema
Geistesblitze
u. a. mit folgenden Themen: Was
Brainfood auf dem Prüfstand
den Zelltod bei Alzheimer aus-
löst . Doch lieber verdrängen? . 12
Omega-3-Fettsäuren, Pflanzenfarbstoffe und B-Vitamine sollen das
Gehirn leistungsfähig halten. Tun sie das wirklich? Ein Überblick
zur aktuellen Studienlage.
Quallen lernen ohne Gehirn .
Musik ist universell 6 Von Frank Luerweg

Gute Frage 20 Gefühle Guter Stolz, schlechter Stolz


Sind Morgenmenschen gewis- Er fühlt sich gut an, jeder braucht ihn, und doch ist es verpönt, ihn allzu
senhafter?26 sehr zu zeigen: Warum haben wir so ein gespaltenes Verhältnis zum Stolz?
Therapie kompakt Von Jan Schwenkenbecher
Goldstandard – aber nicht für
alle . Gefühle beeinflussen lernen 28 Psychotherapie Seelenhilfe mit Haken
SCHWERPUNKT PSYCHOTHERAPIE

. Selbstoffenbarung im Netz40 Psychotherapie boomt wie nie zuvor. Laut Studien wird ihr effektiver
Nutzen allerdings häufig überschätzt.
Infografik
Von Steve Ayan und Sam Ephron
Bedeutende Durchbrüche der
Hirnforschung64
34 
Therapieforschung Effekte im Visier
Bücher und mehr Wie misst man eigentlich, wann welche Therapieform etwas bringt?
u. a.: Jörg Phil Friedrich: Degene- ­Wirksamkeitsforschung anschaulich erklärt.
rierte Vernunft . Anna Miller: Von Hannah Schultheiß
Verbunden . Tanja Michael,
Corinna Hartmann: 55 Fragen an 44 Chronobiologie Verschlafene Jugendliche
die Seele . Christian Firus: Wenn Die innere Uhr tickt in der Pubertät offenbar anders. So werden Teenager
die Welt aus den Fugen gerät74 oft erst nach Mitternacht müde und fühlen sich morgens nicht fit. Woran
TV- & Radiotipps 79 liegt das?
Von Carolin Reichert und Christian Cajochen
Impressum80
Vorschau81 52 Aufmerksamkeitsstörung »Menschen mit ADHS können
Sinnesreize schlechter vereinen«
Fakt und Fiktion
Finde die Gemeinsamkeit!82 Die Psychiaterin Alexandra Philipsen erklärt im Interview, was im Gehirn
von Betroffenen mit ADHS anders läuft und wie man damit umgeht.

56 Alkohol So wirken Bier, Schnaps und Wein


Neue Serie Pro Jahr nehmen Erwachsene rund elf Liter reines Ethanol zu
sich. Wie verändert der Stoff die Signalübertragung im Gehirn?
Von Anton Benz

66  Kollektive Neurowissenschaft Auf gleicher Wellenlänge


Wenn Menschen miteinander interagieren, synchronisiert sich ihre
­Hirnaktivität. Das gilt auch für viele Tierarten. Womöglich ist dieser
Gleichtakt die Voraussetzung für ein soziales Miteinander.
Von Lydia Denworth

Gehirn&Geist
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GEHIRN&GEIST 4 12_2023
12

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Titelthema
Nahrung fürs Gehirn

56
Wie Alkohol wirkt
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20
Stolz
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34
Psychotherapie
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GEHIRN&GEIST 5 12_2023
GEISTESBLITZE

SVETLANA SULTANAEVA / GETTY IMAGES / ISTOCK


Geschmackssinn
Warum Katzen Tunfisch lieben

K
aum ein Futter ist bei Katzen so beliebt wie aktivieren die Rezeptoren, die Nukleotide verstärken
Tunfisch. Doch eigentlich ist das kurios – denn das Signal.
Katzen entwickelten sich lange vor der Erfin- Bisher war nur bekannt, dass Katzen das Gen Tas1r3
dung des Dosenfisches. Nun allerdings zeichnet sich besitzen. Die Gruppe untersuchte genauer, welche
zumindest ein Teil der Erklärung für diese unwahr- Erbfaktoren in der Zunge einer aus gesundheitlichen
scheinliche Vorliebe ab. Wie eine Arbeitsgruppe um Gründen eingeschläferten Katze aktiv waren. Dabei
Scott McGrane vom Waltham Petcare Science Institute fand sie neben Tas1r3 auch Tas1r1, und tatsächlich
in Großbritannien berichtet, reagieren die Ge- können Katzen damit Umami schmecken. Zudem
schmacksrezeptoren der Stubentiger besonders stark entdeckte sie jedoch entscheidende Unterschiede zu
auf zwei Stoffe, von denen Tunfisch recht große den menschlichen Rezeptoren: Katzen besitzen eine im
Mengen enthält. Vergleich zu uns veränderte Bindungsstelle. Dadurch
Eigentliches Ziel der Studie war der Nachweis, dass funktionieren die Rezeptoren genau umgekehrt – nicht
Katzen den Fleischgeschmack umami wahrnehmen die Aminosäuren liefern das aktivierende Signal,
können – bei einem Fleischfresser eine sinnvolle An- sondern die Nukleotide. Dies führt dazu, dass die Tiere
nahme, aber bisher nicht bewiesen. Bei vielen Tieren andere Stoffe bevorzugen. Während bei Menschen
und auch bei Menschen arbeiten zwei Rezeptoren Glutamat den Umami-Sinn am stärksten anregt, sind
zusammen, um den Umami-Sinn zu erzeugen – co- es bei Katzen das Nukleotid Inosinphosphat und die
diert von den Genen Tas1r1 und Tas1r3. Sie detektieren Aminosäure Histidin – die beide in besonders großen
eine Kombination von Aminosäuren und Nukleotiden, Mengen in Tunfisch vorkommen.
den Bausteinen von RNA und DNA. Die Aminosäuren Chemical Senses 10.1093/chemse/bjad026, 2023

GEHIRN&GEIST 6 12_2023
Kultur
Musik ist universell – außer es geht um Liebe

M
usik gibt es in jeder menschlichen Kultur und Sie sollten die Wahrscheinlichkeit einschätzen, dass es
in vielen Facetten: als Begleitung von sich bei der jeweiligen Probe um einen von vier
zeremoniellen Gruppentänzen bis hin zu Musik­typen handelt: Tanzmusik, Wiegenlieder,
Wiegenliedern. Trotz der Vielfalt zeigen sich weltweit Heilmusik oder Liebeslieder. Unabhängig von der
auffällige Ähnlichkeiten. So singen alle Menschen Sprache erkannten Menschen aus allen Kulturen
ruhige und melodische Lieder, um Babys zu beruhigen, Tanzmusik und Schlaflieder am zuverlässigsten – in
und bewegen sich im Takt zu lauter und rhythmischer geringerem Maß auch Musik, die zum Heilen kompo-
Tanzmusik. Grundlegende musikalische Merkmale niert wurde. Eine größere sprachliche oder geografi-
werden also vermutlich unabhängig von Sprache oder sche Nähe zwischen Zuhörenden und Interpreten
Kultur verstanden. Vorherige Studien zu dem Thema erhöhte die Trefferquote bloß geringfügig. Der weltwei-
waren aber oft auf englischsprachige Personen aus der ten musikalischen Vielfalt liegen laut den Autoren also
westlichen Welt beschränkt, also nicht repräsentativ für universelle psychologische Phänomene zu Grunde.
die Menschheit. Diese Lücke hat nun ein Team um Hingegen gelang es nur 12 der insgesamt 28 Sprach-
Lidya Yurdum von der Yale University in New Haven gruppen, Liebeslieder zu erkennen. Das könnte auf die
geschlossen. große emotionale Bandbreite und den Einfluss
Mehr als 5000 Freiwillige aus 49 Ländern nahmen sprachlicher und kultureller Merkmale zurückzufüh-
an der Studie teil. Der Großteil von ihnen stammte aus ren sein. »Es handelt sich hierbei um eine besonders
Industriegesellschaften, 116 Personen aus eher isolier- unscharfe Kategorie. Zu ihr gehören Lieder, die Glück
ten Gemeinschaften mit begrenztem Zugang zu und Anziehung, aber auch Traurigkeit und Eifersucht
globalen Medien. Die Teilnehmer hörten zufällig ausdrücken«, so Yurdum.
ausgewählte Lieder aus einer repräsentativen Auswahl. PNAS 10.1073/pnas.2218593120, 2023

Gehirn-Computer-Schnittstelle MIKROSKOPISCH | Kochsalz­lösung im


Katheter (türkis) drückt die Sonde (gelb) in
Ohne OP ins Denkorgan ein Blutgefäß (Illustration).

G
elähmte Menschen können kraft ihrer Gedan-

ANQI ZHANG, STANFORD UNIVERSITY


ken Gliedmaßen bewegen oder einen Maus­
zeiger steuern – dank so genannter Gehirn-
Computer-Schnittstellen. In den meisten Fällen
werden dafür Signale aus dem Inneren des Hirns
benötigt. Selbst wenn die eingesetzten Elektroden sehr
fein sind, können sie das Gewebe beschädigen. Doch
es geht auch ohne risikoreiche Operation: Anqi Zhang
von der Stanford University und ihre Kollegen haben Salzlösung in eine noch dünnere Bahn. Dort entfaltete
eine Sonde entwickelt, die über eine Blutbahn ins sich das Minimessgerät. Man kann sich das in etwa wie
Gehirn geschoben wird. eine spiralförmige Feder vorstellen, die sich aufdreht
Nervenzellen sind auf eine gute Sauerstoffversor- und an die Innenwand eines Blutgefäßes schmiegt.
gung angewiesen, weshalb Blutgefäße nie weit entfernt Innen ist sie hohl, so dass das Blut ungehindert
sind. Die Sonde ähnelt einem Stent, wie er bei Gefäß- durchfließen kann.
verengungen eingesetzt wird. Allerdings ist sie viel Weil das Polymergeflecht biegsamer als die Arterien
kleiner, besteht aus einem hochflexiblen Kunststoff­ ist, scheint es keinen Schaden anzurichten. Zumindest
geflecht, einem Führungsdraht und Elektroden. In der fand das Team um Zhang nach einem Monat keine
aktuellen Ausfertigung passt sie in Blutgefäße von Hinweise auf Vernarbungen oder entzündete Stellen.
ungefähr der Dicke eines Haares. Die Wissenschaftler Besonders beeindruckend: Die neue Sonde ist so klein
beluden einen kleinen Katheter mit der Sonde und und empfindlich, dass sie sogar die Aktivität einzelner
führten ihn in eine Hirnarterie von betäubten Ratten. Nervenzellen aufzeichnet. Jetzt geht es darum, die neue
Sobald es für den Katheter zu eng wurde, entluden sie Technik auf den Menschen zu übertragen.
diesen und schwemmten die Fracht mit Hilfe einer Science 10.1126/science.adh3916, 2023

GEHIRN&GEIST 7 12_2023
Negative Gedanken
Doch lieber verdrängen?

W
ährend der Covid-19-Pandemie haben für jeweils 20 Minuten. Die eine Hälfte sollte lernen,
Ängste, posttraumatische Belastungen und negative Gedanken zu unterdrücken, die andere,
Depressionen weltweit zugenommen. neutrale Gedanken zu verdrängen. Hierfür zeigten die
Betroffenen wird in Thera­pien häufig geraten, Sorgen Forscher ihnen das jeweilige Stichwort und baten sie
und Ängste nicht zu verdrängen, denn diese würden so dann, sich das Ereignis erst lebhaft vorzustellen und
nur schlimmer. Zulkayda Mamat und Michael C. dann aktiv abzublocken.
Anderson von der University of Cambridge fanden in Am Ende des dritten Tages und drei Monate später
einer Studie aber das Gegenteil: Einige Formen der wurden die Probanden gefragt, wie intensiv und
Gedankenunterdrückung könnten demnach tatsäch- lebhaft sie sich die Szenen noch vorstellen konnten,
lich hilfreich sein. welche Gefühle diese auslösten und wie es ihnen
Die beiden luden 120 Menschen aus 16 Ländern zu psychisch ging. Gedanken, die die Teilnehmenden
ihren Experimenten ein und baten sie, sich Zukunfts- aktiv verdrängt hatten, nahmen sie nun als weniger
szenarien vorzustellen, die in den nächsten zwei Jahren lebhaft wahr. Das galt für beide Gruppen, jedoch war
auf sie zukommen könnten. Jeder der Teilnehmenden der Effekt bei denen, die Ängste unterdrückt hatten,
nannte 20 negative Szenarien, vor denen er sich stärker. Diese berichteten auch von weniger negativen
fürchtete, wie den Verlust einer geliebten Person. Gefühlen, Ängsten und Depressionen. Die Auswirkun-
Außerdem fielen ihnen 36 neutrale Alltagsszenen ein, gen bestanden noch drei Monate nach dem Training.
etwa das Aufhängen von Wäsche. Für jedes Szenario Psychisch besonders stark Belastete profitierten am
mussten die Probanden ein Stichwort wählen, mit dem meisten davon.
der Gedanke hervorgerufen werden konnte. Trotzdem könnte das Verdrängen bei manchen
Die Freiwilligen sollten jeden Gedanken bewerten: Gedanken schädlich sein, sagt Mamat. »Es gibt einige
unter anderem den empfundenen Grad der Angst oder Sorgen, über die man versuchen sollte nachzudenken
die Intensität des Imaginierten. Sie füllten Fragebogen und damit umzugehen. Aber es gibt auch Gedanken,
aus, um ihre psychische Gesundheit zu beurteilen. gegen die man nichts tun kann, und die zu unterdrü-
Mamat und Anderson unterzogen die Gruppe nun cken könnte helfen.«
einem Training per Zoom – und zwar drei Tage lang Science 10.1126/sciadv.adh5292, 2023

Posttraumatische Belastungsstörung
MDMA hilft auch Minderheiten

D
ie Einnahme der psychedelischen Substanz Prozent als nicht weiß. Das Team wies die Freiwilligen
MDMA verbessert die psychotherapeutische zufällig entweder der MDMA- oder der Placebogruppe
Behandlung von Menschen, die an einer zu. 71 Prozent derjenigen, die zusätzlich zur Psychothe-
Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leiden. rapie MDMA erhalten hatten, erfüllten nach dem
Das ist nun erneut in einer Phase-3-Studie bestätigt Studienzeitraum die Kriterien für PTBS nicht mehr.
worden. Die Arbeit von Jennifer Mitchell und Kollegen Hingegen traf das nur auf 48 Prozent der Teilnehmer
von der University of California in San Francisco der Placebo-Stichprobe zu. Die Behandlung wurde gut
schloss erstmalig auch Personen ein, die in klinischen vertragen. Bisher können aber keine Aussagen über
Studien häufig unterrepräsentiert sind. einen langfristigen Erfolg der Therapieform getroffen
Die neue Studie betrachtete daher eine ethnisch werden.
besonders diverse Gruppe. Sie verglich die Wirksam- In Australien und der Schweiz ist der medizinische
keit und Sicherheit einer MDMA-unterstützten MDMA-Einsatz in Einzelfällen bereits erlaubt. Matthias
Psychotherapie mit einer placebobegleiteten Behand- Liechti vom Universitätsspital Basel bezeichnet die
lung über einen Zeitraum von 18 Wochen. Dazu luden aktuellen Ergebnisse als »Meilenstein«, fügt aber hinzu:
die Forschenden 104 Teilnehmerinnen und Teilnehmer »Das heißt nicht, dass damit MDMA für Patienten
mit der ­Diagnose einer mittelschweren bis schweren gleich verfügbar wird. Dazu braucht es noch die
PTBS ein. 27 Prozent der Probanden bezeichneten sich Zulassung in den Regionen und den Marktzugang.«
als hispanisch/lateinamerikanisch und ungefähr 34 Nature Medicine 10.1038/s41591-023-02565-4, 2023

GEHIRN&GEIST 8 12_2023
GEISTESBLITZE

Medienpsychologie
Triggerwarnungen bringen nichts

S
eriöse Medien meiden die konkrete Darstellung Wenn ein Bild auf Instagram unscharf gemacht und
von Gewalt, sofern sie nicht der Information und mit einer Warnung versehen wurde, wollten 80 bis 85
Aufklärung dient. Weniger zurückhaltend sind Prozent der Leute es trotzdem sehen. Und das galt
Medienschaffende allerdings, wenn es etwa um »True auch für die Gruppe derer, die sich selbst als psychisch
Crime« geht. Dort sind Hinweise verbreitet, die vor labil beschrieben hatten. In einem weiteren Experi-
verstörenden Szenen warnen. Das soll Menschen die ment entschieden sich mehr als 95 Prozent der
Möglichkeit geben, sich emotional zu wappnen oder Personen – selbst unter den traumatisierten – für die
die Inhalte zu meiden, besonders falls diese an ein Lektüre von Gewaltszenen, obwohl sie davor gewarnt
Trauma erinnern könnten. Doch eine Metaanalyse wurden und eine gewaltfreie Passage aus demselben
kommt zu dem Schluss: Triggerwarnungen wirken Buch angeboten bekamen. Teilweise steigerte ein
nicht so, wie sie sollen. Hinweis das Interesse sogar.
Zusammen mit Psychologen der Harvard University »Unsere Ergebnisse legen nahe, dass sich Menschen,
sichtete Victoria Bridgland von der Flinders University wenn sie die Wahl haben, eher für das Material mit
in Adelaide, Australien, die vorliegenden Forschungs- Warnung entscheiden als für das ohne«, berichten die
arbeiten zu dem Thema. Die meisten der Wirksam- Studienautoren. Die verbotene Frucht sei reizvoller, die
keitsstudien erfassten die emotionalen Reaktionen der Warnung wecke Neugier. Triggerwarnungen sind auch
Probanden per Fragebogen oder über biologische deshalb umstritten, weil sich Medienschaffende damit
Stressmarker. Das Fazit der Wissenschaftler: Die selbst das Leben leichter machen können. Sie müssen
Warnungen schützten nicht vor negativen Gefühlen, sich über die Wirkung ihrer Inhalte weniger Gedanken
sondern schürten ganz im Gegenteil vorab leichte machen, weil sie die Verantwortung abschieben – nach
Erwartungsängste. Ebenso wenig sorgten sie für eine dem Motto: Wer weiterschaut oder weiterhört, ist
andere Form von Selbstschutz, nämlich die Konfronta- selbst schuld.
tion ganz zu vermeiden. Clinical Psychological Science 10.1177/21677026231186625, 2023

WARNUNG
ARTISTGNDPHOTOGRAPHY / GETTY IMAGES / ISTOCK; BEARBEITUNG: GEHIRN&GEIST

Das Bild kann den Betrachter


eventuell verstören

GEHIRN&GEIST 9 12_2023
­

Alzheimer
Was den Zelltod auslöst

N
och immer lässt sich wenig gegen Alzheimer aber nur in den menschlichen Zellen der Amyloid-
ausrichten. Das liegt daran, dass die mole­ Mäusehirne Tau-Fibrillen gebildet.
kularen Vorgänge bei den Patienten nicht ganz Der Proteinverklumpung folgte ein Verlust an
entschlüsselt sind. Bei ihnen lagert sich außerhalb menschlichen Neuronen. Die Forscher wiesen nach,
der Nervenzellen ein Proteinfragment namens Beta- dass eine Form des programmierten Zelltods, die
Amyloid in Form von Plaques ab. Innerhalb der Nekroptose, eine entscheidende Rolle dabei spielt.
Neurone dagegen verklumpt das Tau-Protein zu Mittels RNA-Sequenzierung identifizierten sie das
gedrehten Fasern, den Fibrillen. Doch wie hängen Schlüssel­molekül. 36 nicht codierende RNAs waren bei
Plaques, Fibrillen und das Absterben von Hirnzellen den Alzheimermäusen hochreguliert, eine davon
miteinander zusammen? Bart de Strooper vom Leuven besonders stark: MEG3. Das Molekül war in den
Center for Brain & Disease Research und sein Team menschlichen Neuronen um das Zehnfache erhöht.
meinen, das Rätsel gelöst zu haben. Das Vorhandensein von MEG3 löste im Reagenzglas
Sie manipulierten Mäuse genetisch so, dass sich in die Nekroptose aus. Seine Inaktivierung verhinderte
deren Gehirn Beta-Amyloid-Plaques bilden. Die das Absterben. Die Nekroptose folgt also der Anhäu-
Wissenschaftler pflanzten Vorläuferzellen menschlicher fung von Tau und wird durch die Hochregulierung von
Neurone sowohl in diese Amyloid-Mäusehirne als MEG3 gestartet. Damit ließen sich neue Alzheimer­
auch in die Denkorgane von Kontrolltieren ein. Die medikamente entwickeln: MEG3-Blocker. Das dürfte
fremdartigen Neurone entwickelten sich gut und aber noch jahrelange Forschung benötigen.
bildeten Fortsätze. Nach sechs Monaten hatten sich Science 10.1126/science.abp9556, 2023

Kognition
Quallen lernen ohne Gehirn

O
ffenbar sind Quallen im Stande, aus Erlebnis- ausgelöst und sie dazu gebracht, ihr Verhalten zu ändern.
sen zu lernen. Das überrascht, denn sie gehö- Um genauer herauszufinden, wie das funktioniert,
ren zu den Tieren mit den einfachsten Nerven- isolierte das Team die Sinnesorgane der Tiere. Quallen
systemen. Ein Team um Jan Bielecki von der Universi- besitzen mehrere Sinneskolben, so genannte Rhopalien,
tät Kiel hat Mangroven-Würfelquallen darauf trainiert, die am Rand ihres Schirms sitzen. Die Ausstülpungen
Hindernisse zu erkennen und ihnen auszuweichen. enthalten Organe zum Wahrnehmen der Schwerkraft
Die Nesseltiere sind nicht größer als ein Fingernagel sowie Lichtsensoren. Sie sind untereinander durch
und leben in Mangrovensümpfen. Dort nutzen sie ihre Nerven verbunden und erzeugen elektrische Signale,
Lichtsinnesorgane, um im trüben Wasser nach Beute welche die Fortbewegung des Tiers steuern.
zu jagen. Dabei müssen sie sich zwischen den Wurzeln Die Forscher präsentierten einzelnen Sinneskolben
der Mangroven bewegen – möglichst ohne anzustoßen. graue Streifen. Hatten diese einen hellen Grauton,
Bielecki und seine Kollegen setzten die Tiere in einen reagierten die Rhopalien nicht: Die vermeintlichen
runden Tank, dessen Innenwand graue und weiße Hindernisse schienen ja weit entfernt. Verabreichte das
Farbstreifen hatte. Die grauen Streifen imitierten Team zusätzlich elektrische Impulse, wie sie beim
Pflanzenwurzeln, die weißen die Lücken dazwischen. Aufprall einer Qualle auf ein Objekt entstehen, dann
Hatte das Grau einen hellen Farbton mit niedrigem produzierten die Sinneskolben Signale, die zu einer
Kontrast zu Weiß, wirkten die vermeintlichen Wurzeln Ausweichbewegung führten. Demnach spielen die
weit entfernt. Die Quallen kamen den Streifen dann Rhopalien eine zentrale Rolle, wenn Quallen Erfahrun-
häufig sehr nahe und stießen an die Wand. Nach gen verarbeiten und ihr Verhalten anpassen.
jeweils einigen Minuten im Tank begannen sie jedoch, »Es ist erstaunlich, wie schnell die Tiere lernen«, sagt
einen deutlich größeren Abstand einzuhalten, und Anders Garm, einer der beteiligten Forscher. »Selbst das
kollidierten nur noch halb so oft mit der Innenwand einfachste Nervensystem scheint zu fortgeschrittenem
des Tanks. Lernen in der Lage zu sein, und das könnte sich als
Das gleichzeitige Einwirken visueller (Streifen) und grundlegender Mechanismus erweisen, der zu Beginn
mechanischer Reize (Zusammenstöße mit der Wand) der Evolution des Nervensystems ›erfunden‹ wurde.«
habe bei den Tieren einen Prozess assoziativen Lernens Current Biology 10.1016/j.cub.2023.08.056, 2023

GEHIRN&GEIST 10 1 2 _ 2 0 2 3
GEISTESBLITZE

Fremdsprachen
Lehren auf Englisch reduziert den Lernerfolg

M
it Hilfe englischsprachiger Lehre sollen Abbrecherquote. Das Ergebnis: Im Durchschnitt
Studierende ihre Sprachkenntnisse erweitern beantworteten die Teilnehmer und Teilnehmerinnen
und sich besser auf die Berufswelt vorberei- des schwedischsprachigen Kurses 73 Prozent mehr
ten. Allerdings darf ein solcher Unterricht nicht zu Fragen korrekt. Zudem brachen deutlich mehr
Lasten der Lernleistung gehen. Ob das der Fall ist, Studierende das Seminar auf Englisch ab: Die Wahr-
haben sich Olle Bälter vom Royal Institute of Techno- scheinlichkeit, den fremdsprachigen Kurs vorzeitig
logy in Stockholm und seine Kollegen genauer zu verlassen, lag 25 Prozent höher als bei seinem
angeschaut. Pendant in der Muttersprache.
Für ihre Studie boten die Fachleute einen einführen- Zu einem ähnlichen Ergebnis kam das Team, als es
den Programmierkurs an, konzipiert als autodidakti- die Gruppen nach ihrem Sprachniveau von B1 bis C2
sches Onlineseminar. Es meldeten sich 2263 schwedi- unterschied. Bessere Sprachkenntnisse steigerten offen-
sche Studentinnen und Studenten an, die per Zufalls- bar nicht den Lerneffekt. Die Autoren der Studie
generator der englisch- oder der schwedischsprachigen betonen jedoch, dass eine einzelne wissenschaftliche
Version des Kurses zugewiesen wurden. Die Teilneh- Arbeit noch kein Anlass dafür sei, die Lehrsprache an
menden mussten mindestens das Sprachniveau B1 in Hochschulen grundlegend zu ändern. Zuvor müssten
Schwedisch und Englisch nachweisen können. die Ergebnisse durch weitere Forschungen untermau-
Wie gut die Absolventen abschnitten, bemaß die ert werden.
Arbeitsgruppe anhand der Klausurergebnisse und der Applied Linguistics Review 10.1515/applirev-2022-0093, 2023

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GEHIRN&GEIST
12 1 2 _ 2 0 2 3
SVETLANA_NSK / GETTY IMAGES / ISTOCK; BEARBEITUNG: GEHIRN&GEIST
TITELTHEMA

Omega-3-Fettsäuren, Pflanzenfarbstoffe und B-Vitamine


sollen das Gehirn leistungsfähig halten. Tun sie das wirklich?
Ein Überblick zur aktuellen Studienlage.

Brainfood auf
dem Prüfstand
SVETLANA_NSK / GETTY IMAGES / ISTOCK; BEARBEITUNG: GEHIRN&GEIST

VON F R A N K LU E RW E G

U N S E R AU TO R

Frank Luerweg ist Biologe und arbeitet als


Wissenschaftsjournalist in Lüneburg.

Auf einen Blick: Futter für die grauen Zellen

1 2 3
Allen möglichen Nahrungsmit- Belege von so genannten Das Gehirn profitiert aber we-
teln wird nachgesagt, sie seien randomisierten, kontrollierten niger von einer isolierten Gabe
gut für das Gehirn. Allerdings Studien gibt es vor allem für dieser Substanzen als vielmehr
fehlen oft aussagekräftige Untersu- Omega-3-Fettsäuren, B-Vitamine von einer abwechslungsreichen
chungen zur Wirksamkeit. und bestimmte Pflanzenfarbstoffe Ernährung, bei der ein Mangel erst
aus Beeren. gar nicht entstehen kann.

GEHIRN&GEIST 13 1 2 _ 2 0 2 3
I
m Juni 1976 bekamen rund 170 000 Kranken- ZELLSCHUTZ AUS BEEREN | Flavonoide zählen
schwestern in den USA Post aus der altehr­ zu den so genannten sekundären Pflanzenstoffen
würdigen Ostküstenmetropole Boston. »Unsere und existieren in verschiedenen strukturellen
Forschungsgruppe an der Harvard Medical Formen. Sie verleihen vielen Blüten und Früchten
School führt eine Studie zu einer bedeutenden ihre leuchtende Farbe und gelten als Antioxidan­
Angelegenheit der öffentlichen Gesundheit zien – sollen also reaktive Sauerstoffspezies
durch – ob es langfristige Gesundheitseffekte verschie- ­unschädlich machen.
dener Formen der Empfängnisverhütung gibt«, hieß es O
in dem Brief. Dem Anschreiben lag ein zweiseitiges
Formular mit einer Liste von Fragen bei: zu früheren Flavonoid

BEEREN: AK2 / GETTY IMAGES / ISTOCK; FORMEL: YOUSUN KOH


und aktuellen Erkrankungen der Frauen, zu ihrem
­Zigarettenkonsum, dazu, ob sie sich die Haare färbten
(und falls ja: wie oft), und natürlich zu den Methoden,
die sie nutzten, um nicht ungewollt schwanger zu wer-
den. Mehr als 120 000 von ihnen füllten die Bogen aus
und sandten sie zurück.
Das war der erfolgreiche Auftakt zu einem Langzeit-
projekt, das bis heute fortbesteht: der »Nurses’ Health
Study«. Alle zwei Jahre bekommen die Teilnehmerin-
nen einen neuen Fragebogen zugeschickt. Die gesund-
heitlichen Folgen der Pille stehen gegenwärtig nicht
mehr im Fokus. Stattdessen suchen die Fachleute all­ Beeren verzehrt hatten, bauten bei den Hirnleistungs-
gemein nach Faktoren, die bei Frauen das Risiko von tests Jahrzehnte später deutlich langsamer ab. Fazit der
schweren Erkrankungen wie Krebs, Diabetes oder Alz- Forscherinnen: »Eine größere Aufnahme von Flavonoi-
heimer erhöhen – oder die umgekehrt dafür sorgen, den, vor allem aus Beeren, scheint das Tempo des kogni­
dass sie körperlich und geistig fit bleiben. Ein besonde- tiven Verfalls bei älteren Erwachsenen zu verringern.«
res Augenmerk gilt dabei der Ernährung. So machen Zwar ist die Aussagekraft dieser rein korrelativen
die Befragten seit 1980 auch detaillierte Angaben zu ih- Studie umstritten. Dennoch gab sie Rückenwind für die
ren Essgewohnheiten. Erforschung von Nahrungsmitteln, die uns geistig fit
halten oder gar das Gehirn so richtig auf Trab bringen
Wer häufig Beeren aß, blieb länger geistig fit sollen. In den Medien hat sich für sie ein zugkräftiger
Elizabeth Devore von der Harvard Medical School wer- Name etabliert: Brainfood. Aber ist die »Gehirnnah-
tete diese Daten 2012 zusammen mit Kolleginnen aus. rung« tatsächlich so gut wie ihr Ruf? Und wie wirkt sie
Anlass waren Hinweise darauf, dass bestimmte Pflan- überhaupt?
zenfarbstoffe aus der Gruppe der Flavonoide den kogni- »Es gibt gute Belege dafür, dass eine gesunde Ernäh-
tiven Verfall bremsen können. Sie kommen unter ande- rung in ihrer Gesamtheit einen großen Einfluss auf
rem in Blau- und Erdbeeren in großen Mengen vor. De- ­unsere geistigen Fähigkeiten hat«, betont André Klein-
vore suchte nun in den Daten Belege dafür, dass die ridders, Professor für Ernährungswissenschaften an
Substanzen wirklich geistig fit halten. Ein Teil der Kran- der Universität Potsdam. »Kompliziert wird es jedoch,
kenschwestern hatte sich um die Jahrtausendwende wenn es um einzelne Nährstoffe geht: Ob oder in wel-
wiederholt einer Batterie von Hirnleistungstests unter- cher Konzentration sie positiv wirken, lässt sich in Un-
zogen. Die Messungen erstreckten sich über einen Zeit- tersuchungen an Menschen selten sicher nachweisen.«
raum von insgesamt vier Jahren. Sie dokumentieren, Um solche Fragen zu beantworten, setzt die Wissen-
wie sehr sich die geistigen Fähigkeiten der Frauen wäh- schaft zunehmend auf so genannte randomisierte, kon-
renddessen veränderten. trollierte Studien (kurz: RCT, für randomized control­
Devore glich diese Ergebnisse nun mit den Essge- led trials), wie man sie auch aus der Pharmaforschung
wohnheiten ab. Dabei stieß sie auf einen auffälligen Zu- kennt. Dabei werden die Versuchspersonen per Zufall
sammenhang: Krankenschwestern, die seit den 1980er (also randomisiert) in zwei Gruppen eingeteilt. Eine da-
Jahren ein- bis zweimal pro Woche eine halbe Tasse von erhält den potenziellen Wirkstoff, die andere (die
Kontrollgruppe) ein Placebo. Die Probandinnen und
Probanden sind »verblindet«: Sie wissen nicht, zu wel-
cher Gruppe sie gehören. Im Idealfall gilt das auch für
»Gesunde Ernährung diejenigen, die das Experiment durchführen. Man
ist ein Marathon« spricht dann von Doppelblindstudien.
RCTs gelten als Goldstandard der Wirkstofffor-
André Kleinridders, Universität Potsdam schung. Dennoch ist ihre Aussagekraft bei Ernährungs-

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TITELTHEMA

studien begrenzter als bei Medikamententests. Grund a­ ltersbedingten Kognitionsdefiziten sechs Monate lang
ist ein Phänomen, das sich Hintergrundexposition ein Blaubeerpulver oder ein Placebo. In der Beeren-
nennt. »Die Nährstoffe, die wir untersuchen, kommen gruppe verbesserte sich in der Zeit die Verarbeitungsge-
häufig in den unterschiedlichsten Lebensmitteln vor«, schwindigkeit des Gehirns – nicht aber in der Kontroll-
erklärt die Ernährungswissenschaftlerin Catherine
­ gruppe. Ein Team aus Australien bestätigte kürzlich das
Hughes von der nordirischen Ulster University. »Selbst Ergebnis: Ein Extrakt aus Weintrauben und Blaubeeren
bei den Versuchspersonen in der Placebogruppe be- steigerte das Tempo, in dem ältere Versuchspersonen
steht daher die Möglichkeit, dass sie sie mit der übrigen neue Informationen verarbeiteten. Die Gedächtnis­
Nahrung aufnehmen.« Bei einem Schmerzmittel oder leistung blieb allerdings unverändert. »Die bisherigen
einem Blutdrucksenker ist das anders: Es gibt in der Ergebnisse zu Flavonoiden sind viel versprechend, doch
­Regel keine weiteren Quellen, über die der Wirkstoff in wir benötigen dringend weitere Studien, damit wir uns
unseren Körper gelangen könnte. Und damit auch kein sicher sein können«, betont daher Catherine Hughes.
»Hintergrundrauschen«, das einen etwaigen Effekt ver- Wie die Pflanzenfarbstoffe das Gehirn genau schüt-
fälscht oder gar übertönt. zen könnten, ist zumindest in Teilen bekannt. So weiß
man, dass sie antioxidierend wirken und reaktive Sauer-
Das Problem mit der Aussagekraft stoffspezies (abgekürzt: ROS; dazu zählen etwa freie
Die stärksten Hinweise auf die gesundheitliche Wir- ­Radikale und Wasserstoffperoxid) unschädlich machen.
kung bestimmter Nährstoffe stammen daher meist Diese sind äußerst bindungsfreudig. Sie können bei-
nicht aus Untersuchungen mit Menschen, sondern mit spielsweise mit Molekülen in den Zellmembranen, mit
Tieren. Diese lassen sich auf eine streng kontrollierte Enzymen oder auch mit der DNA reagieren und sie da-
Diät setzen und sind in der Regel zudem genetisch weit- durch beschädigen. Das Gehirn hat einen sehr hohen
gehend identisch. Das schließt einen Einfluss der Erb- Sauerstoffbedarf, daher entstehen dort besonders große
anlagen aus, der bei Humanstudien erschwerend hinzu- Mengen ROS. Werden sie nicht neutralisiert, können
kommt. Denn je nach genetischem Bauplan sprechen sie Entzündungen auslösen und das »Suizidprogramm«
womöglich nicht alle Teilnehmer und Teilnehme­rinnen von Zellen aktivieren, die Apoptose. Flavonoide aus Erd-
auf die untersuchte Substanz in gleicher Weise an. Das
kann zum Beispiel dafür sorgen, dass in einem RCT der
Effekt eines Nährstoffs übersehen wird, weil er eben nur
bei manchen Testpersonen auftritt. »Wir sehen die Konse­
Dass die Beerenfarbstoffe eine segensreiche Wirkung
auf das Gehirn haben könnten, wurde denn auch zu-
quenzen unserer
nächst in Tierexperimenten gezeigt. Wie eine For- ­Ernährungsgewohnheiten
schungsgruppe aus Indien 2003 nachwies, verbessert
sich nach Gabe von Flavonoiden das Erinnerungsver-
oft erst viel später«
mögen alter Labormäuse deutlich. Die Farbstoffe in den Soyoung Park, Deutsches Institut
Beeren können zudem die Blut-Hirn-Schranke durch- für Ernährungsforschung, Potsdam
queren. In entsprechend gefütterten Ratten reicherten
sie sich unter anderem im Hippocampus an, einer Hirn-
region, die für das Gedächtnis besonders wichtig ist. und Blaubeeren verhindern das vermutlich. Sie schei-
Beides passt zu den Resultaten aus der Nurses’ Health nen die Nervenzellen nicht nur vor dem Untergang zu
Study. Doch ist die darin beobachtete Schutzwirkung bewahren, sondern regen vielleicht sogar das Wachs-
tatsächlich auf den Blaubeerkonsum zurückzuführen? tum neuer Neurone im Hippocampus an, wie erste Stu-
Es könnte ja auch sein, dass Menschen, die viele Blau- dien nahelegen.
beeren essen, häufiger auf dem Land leben – einfach Die Farbstoffe zählen zur großen Gruppe der Poly-
weil es dort ein größeres Angebot an den süßen Früch- phenole, die unter anderem ebenfalls in Kaffee, Rotwein
ten gibt. Eventuell wären dann nicht die Beeren der und Nüssen vorkommen. Auch diesen Lebensmitteln
Grund für ihre geistige Fitness, sondern die bessere Luft wird eine gesundheitsfördernde Wirkung nachgesagt,
oder schlicht mehr Bewegung. Solche Zusammenhänge in erster Linie auf Grund ihrer antioxidativen Effekte.
sind in Beobachtungsstudien selbst bei sorgfältiger Gerade Nüsse gelten als potentes Brainfood. Ihren
Kontrolle möglicher Störvariablen nie komplett auszu- ­guten Ruf verdanken sie vor allem einer weiteren Nähr-
schließen. Anders ist es in randomisierten Untersu- stoffgruppe, die als wahre Wunderwaffe gegen alle mögli­
chungen, in denen der potenzielle Wirkstoff an zufällig chen Leiden gehandelt wird – den Omega-3-Fettsäuren.
ausgesuchte Testpersonen verabreicht wird. Fette ähneln ein wenig einer dreischwänzigen Peitsche:
Inzwischen gibt es jedoch auch RCTs, die die Befun- Sie bestehen aus einem Glyzerinmolekül, das mit drei
de der Nurses’ Health Study stützen. In einer US-Studie langen Kohlenwasserstoff-Fäden verknüpft ist, den Fett-
etwa erhielten Seniorinnen und Senioren mit milden säuren. Enthalten jene Doppelbindungen, bezeichnet

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FISCHÖL FÜR DIE NERVEN | Die Omega-3-­ sen. In dieser Hinsicht ähneln sie also den Blaubeer-
Fettsäuren Eicosapentaensäure (EPA) und Docosa­ farbstoffen. Sie sind aber vermutlich zusätzlich für die
hexaensäure (DHA) sind vorwiegend in fetthalti­ Bildung und Funktion der Synapsen wichtig – das sind
gen Meeresfischen wie Lachs, Makrele, Hering und jene Strukturen, an denen Informationen von einer
Sardelle enthalten. In geringen Mengen kann unser Nervenzelle an die nächste weitergegeben werden. Es
Körper sie auch aus pflanzlichen Omega-3-Fett­ gibt zudem Hinweise darauf, dass sie den Datentrans-
säuren selbst herstellen. Wahrscheinlich hemmen port im Gehirn beschleunigen: Womöglich fördern sie
sie Entzündungen im Gehirn und unterstützen die die Ummantelung der Nervenstränge mit Myelin, das
Bildung und Funktion von Synapsen. Zudem sollen als Isolierschicht fungiert. Tatsächlich hat Witte in einer
sie an der Ummantelung der Nervenstränge mit eigenen Studie Hinweise auf diesen Effekt gefunden: Im
isolierendem Myelin beteiligt sein und damit die Jahr 2013 ließ sie Versuchspersonen ein halbes Jahr lang
Signalweiterleitung beschleunigen. Fischöl-Tabletten schlucken. Gegenüber der Placebo-
gruppe bewegte sich das Gehirnwasser bei ihnen da-
nach verstärkt entlang bestimmter Bahnen. Eine solche
gerichtete Diffusion gilt als Anhaltspunkt für einen bes-
seren Zustand der Myelinschicht: Diese hält das Ge-
HERING: XAMTIW / GETTY IMAGES / ISTOCK; LACHS: MONIR HOSSAIN /

webswasser gewissermaßen »auf Spur«.

Die Stoffe wirken nicht bei jedem gleich


Bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern in der
GETTY IMAGES / ISTOCK; FORMELN: YOUSUN KOH

Fischöl-Gruppe verbesserte sich außerdem ein be-


stimmtes Maß für die geistige Leistungsfähigkeit. Auch
3 nahm bei ihnen das Volumen mancher Hirnbereiche zu,
O Eicosapentaensäure (EPA) unter anderem im Hippocampus. Allerdings mahnt
Witte zur Vorsicht: »Wir haben seinerzeit gerade einmal
65 Personen untersucht, also eine sehr kleine Stichprobe.
HO
3 Es gibt zudem Studien, in denen keine positiven Verän-
O
Docosahexaensäure (DHA) derungen der Gehirnfunktion gefunden wurden.« Aus
ihrer Sicht neigen die Medien dazu, vorläufige Ergeb-
nisse wie diese zu groß aufzubauschen. »Omega-3-Fett-
man sie als ungesättigt. Omega-3-Fettsäuren zählen zu säuren sind sicher nicht der Heilige Gral«, betont sie:
dieser Gruppe. Ihre erste Doppelbindung liegt zwischen »Es gibt nicht den einen Nährstoff, der geistigen Abbau
dem dritten und vierten Kohlenstoffatom (vom Ende oder andere Krankheiten verhindert. Fettsäuren sind
des Fadens aus betrachtet); daher Omega-3. Dazu kom- nur einer von vielen kleinen Faktoren, die einen positi-
men aber noch weitere. Man bezeichnet sie deshalb ven Einfluss haben können.«
auch als »mehrfach ungesättigt« oder »PUFAs« (aus Wie stark die Wirkung ausfällt, ist noch dazu wahr-
dem Englischen: polyunsaturated fatty acids). scheinlich von Person zu Person verschieden. So weiß
Es gibt eine ganze Reihe verschiedener Omega-3- man etwa von den Flavonoiden, dass manche Men-
Fettsäuren. Sie übernehmen im Körper wichtige Funk- schen sie besser aufnehmen als andere. Die Gründe da-
tionen, etwa als Ausgangsmaterial für Signalmoleküle, für könnten im Erbgut liegen. Und offenbar beeinflusst
die die Blutgerinnung oder die An- und Entspannung auch das Mikrobiom die Wirkung von Nährstoffen ent-
der Arterienwände regulieren. Zwei von ihnen, die als scheidend. Darunter versteht man die Gesamtheit der
ausgesprochen gesund gelten, sind vor allem unter den Mikroorganismen im Verdauungstrakt. Dieser Mix aus
Abkürzungen EPA und DHA bekannt. In besonders Bakterien und Pilzen ist so individuell wie ein Finger­
großen Mengen kommen sie in fettem Fisch wie Lachs abdruck. Sie bauen die Nährstoffe chemisch um, was
oder Hering vor. Der Körper kann sie aber auch aus deren Aufnahme verbessern kann.
pflanzlichen Omega-3-Fettsäuren herstellen. »EPA und Der Effekt von Omega-3-Fettsäuren hängt ebenfalls
DHA zeichnen sich dadurch aus, dass sie über sehr vie- entscheidend davon ab, wie gut sie in die Körperzellen
le Doppelbindungen verfügen – EPA über fünf, DHA
über sechs«, erklärt Veronica Witte, Wissenschaftlerin
an der Tagesklinik für Kognitive Neurologie des Uni-
versitätsklinikums Leipzig und am Max-Planck-Institut »Omega-3-Fettsäuren sind
für Kognitions- und Neurowissenschaften. »Sie werden
in die Membran von Zellen eingebaut, auch im Gehirn.«
sicher nicht der Heilige Gral«
Man nimmt an, dass beide Fettsäuren Entzündungs- Veronica Witte, Max-Planck-Institut für
vorgänge im Gehirn hemmen und die Apoptose brem- ­Kognitions- und Neurowissenschaften Leipzig

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TITELTHEMA

Die MIND-Diät – Hype oder Hoffnung?


In regelmäßigen Abständen liest Geflügel und eine mit Fisch Aussagekräftiger sind so ge-
man von neuen Diäten, die förder- • z um Zubereiten hauptsächlich nannte randomisierte, kontrollierte
lich für die Gesundheit oder beim Olivenöl Studien. Die Ergebnisse einer sol-
Abnehmen sein sollen. Ein aktuel- Ein Team an der Harvard Uni- chen präsentierte dasselbe Har-
ler Trend ist die so genannte versity in Cambridge berichtete vard-Team 2023 im »New England
MIND-Diät, von der hauptsächlich erstmals 2015 von den positiven Journal of Medicine«. Dabei hatte
das alternde Gehirn profitieren soll, Auswirkungen der Diät. Die Fach- eine Gruppe von Senioren und
da sie mutmaßlich den kognitiven leute hatten das Essverhalten und Seniorinnen, die zwar noch nicht
Abbau verlangsamt. Aber tut sie die geistige Gesundheit von rund an Demenz erkrankt, aber familiär
das wirklich? 1000 Altenheimbewohnern in vorbelastet waren, drei Jahre lang
MIND ist eine Abkürzung für einem Zeitraum von bis zu zehn eine leicht kalorienreduzierte
Mediterranean-DASH Diet Inter- Jahren verfolgt. Alle Versuchs­ MIND-Diät erhalten. Die Kontroll-
vention for Neurodegenerative personen waren zu dem Zeitpunkt gruppe bekam lediglich kalorien­
Delay, wobei DASH wiederum für noch nicht an Demenz erkrankt. reduzierte Nahrung, die nicht zum
Dietary Approaches to Stop Hyper- Dabei stellte sich heraus, dass der MIND-Spektrum gehörte.
tension steht. Vereinfacht ausge- kognitive Verfall jener Seniorinnen Das ernüchternde Ergebnis nach
drückt: Man kombiniere den im und Senioren, die sehr häufig drei Jahren: Die kognitiven Leis-
Mittelmeerraum verbreiteten Nahrungsmittel aus der MIND-­ tungen beider Gruppen unterschie-
Speiseplan mit jenen Nahrungsmit- Kategorie zu sich nahmen, signifi- den sich nicht signifikant. Auch
teln, die gegen Bluthochdruck kant langsamer ausfiel als bei jenen, Messungen im Hirnscanner erga-
helfen sollen. die vermehrt andere Dinge aßen. ben keine bedeutenden Abwei-
Der Schwerpunkt liegt auf Die MIND-Diät war demnach chungen. Möglicherweise war
pflanzlichen Lebensmitteln; Fleisch effektiver als die mediterrane oder einfach der Beobachtungszeitraum
und Nahrung mit vielen gesättigten die DASH-Diät allein. zu kurz – vielleicht wird die Aus-
Fettsäuren wie Käse und Butter soll Allerdings handelt es sich bei wirkung der MIND-Diät auf das
man nur in geringen Mengen essen. den Ergebnissen nur um Korrela­ Gehirn aber auch überschätzt. Das
Ein konkreter Ernährungsplan tionen. Das heißt, es ist nicht werden Langzeitstudien zeigen
könnte so aussehen: bewiesen, dass die beobachteten müssen.
• täglich Vollkornprodukte und Unterschiede (allein) auf die Er-
Barnes, L. L. et al.: Trial of the MIND diet
Gemüse, darunter vor allem auch nährung zurückgehen. Da die for prevention of cognitive decline in older
grünes Blattgemüse Teilnehmerinnen und Teilnehmer persons. New England Journal of Medici-
• mehrmals pro Woche Nüsse und alle in Heimen lebten, sollten ne 389, 2023;
Beeren immerhin die Lebensumstände Morris, M. C. et al.: MIND diet slows
• mehrere Mahlzeiten pro Woche während der Datenerhebung recht cognitive decline with aging. Alzheimer’s
mit Bohnen, mindestens zwei mit ähnlich gewesen sein. and Dementia 11, 2015

eingebaut werden. Darauf deutet etwa eine Übersichts- Untersuchungen, in denen die Gabe von Selen das Dia-
arbeit hin, in der Fachleute 33 Studien zum Thema ana- betesrisiko erhöhte«, sagt der Potsdamer Ernährungs-
lysiert haben. In ihnen war jeweils auch der Omega-3- wissenschaftler André Kleinridders.
Index bestimmt worden – das ist der Anteil von EPA Möglicherweise hängt dieser Unterschied mit dem
und DHA in den Zellmembranen der roten Blutkörper- Versorgungszustand zusammen – so lautet zumindest
chen. Stieg dieser im Lauf einer Studie auf über sechs eine Hypothese: In Europa sind wir auf Grund der
Prozent an (was für eine gute Verwertung spricht), war selen­ärmeren Böden eher suboptimal versorgt. Hier
die Wahrscheinlichkeit größer, dass ein positiver Effekt könnte eine ergänzende Einnahme die Gesundheit
auf das Gehirn auftrat. ­unterstützen. In den USA ist die Versorgung deutlich
Ein Mangel an bestimmten Fettsäuren, Spurenele- besser; dort kann zusätzliches Selen eher Schaden an-
menten oder Vitaminen kann krank machen. Doch da- richten. »Man sollte auf keinen Fall zu solchen Mitteln
raus sollte man nicht schließen, dass eine ergänzende greifen, ohne das vorher ärztlich abzuklären«, warnt
Einnahme dieser Nahrungsbestandteile per se positiv Kleinridders daher.
wirkt. Beim Spurenelement Selen zum Beispiel ist das Auch Vitaminpräparate wirken vermutlich vor allem
nicht der Fall: Einigen Studien zufolge kann der Stoff dann, wenn sie einen entsprechenden Mangel ausglei-
zwar die kognitive Leistungsfähigkeit erhöhen und das chen. Das scheint etwa für die B-Vitamine zu gelten, die
Risiko für Typ-II-Diabetes senken. »Es gibt aber auch insbesondere in tierischen Produkten wie Fleisch, Fisch,

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O OH
O Mangel hin und lässt sich durch Gabe entsprechender
OH Präparate senken.
N
OH H Interessant sind in dem Zusammenhang die Ergeb-
N O nisse eines RCTs aus dem Jahr 2010. An der Studie,
N N
H die insgesamt zwei Jahre lief, nahmen 271 Frauen und
Vitamin B9 /
H2N N N Folsäure Männer über 70 Jahre teil. Eine Hälfte von ihnen erhielt
Vitamin B, die anderen ein Placebo. Im Verlauf dieser
Zeit schrumpfte bei allen Senioren und Seniorinnen das
LEBENSMITTEL: SAMAEL334 / GETTY IMAGES / ISTOCK; FORMEL: YOUSUN KOH

Gehirn. Eine solche Atrophie ist eine völlig normale Al-


terserscheinung, solange sie nicht allzu schnell erfolgt.
Insgesamt verlief die Schrumpfung in der Vitamin­
gruppe langsamer als bei den Kontrollprobanden. Und
bei Letzteren fiel der Abbau besonders gravierend aus,
wenn sie einen hohen Homocysteinspiegel auf­wiesen
und damit wahrscheinlich einen suboptimalen Vita-
min-B-Status.
Zusätzlich testeten die Fachleute mehrfach das Erin-
nerungsvermögen ihrer Versuchspersonen. Dabei zeig-
te sich, dass vor allem jene mit erhöhtem Homocystein-
spiegel von der Vitamingabe profitierten. »Wer ohnehin
schon gut versorgt ist, dem hilft eine Supplementation
vermutlich nicht«, betont Catherine Hughes. »Wer aber
SCHUTZ VOR GEISTIGEM ABBAU | Von den ein erhöhtes Risiko für einen Mangel hat – etwa Vegeta-
B-Vitaminen sollen sich vorwiegend die Varianten rierinnen oder Veganer –, sollte erwägen, zur Ergän-
B2, B6, B9 und B12 positiv auf das Gehirn auswir­ zung ein entsprechendes Präparat zu nehmen.«
ken. Sie kommen in vielen tierischen und pflanz­
lichen Lebensmitteln vor, etwa in Milch, Eiern, Keine Vitaminpräparate ohne Mangel
Fleisch, Vollkornprodukten und Gemüse. Im Andere Arbeitsgruppen sind in ihrer Einschätzung
Körper hemmen sie die Bildung von Homocys­tein, nicht so zurückhaltend. Eine Gruppe aus den USA hat
das Studien zufolge in hoher Konzentration Herz- kürzlich in einem RCT gezeigt, dass das Kurzzeitge-
Kreislauf-Erkrankungen und kognitiven Verfall dächtnis von der Gabe von Multivitamintabletten profi-
begünstigt. tiert. Allerdings war der Effekt ein Jahr nach Studienbe-
ginn am stärksten und nahm in den beiden Folgejahren
wieder ab. Das Ergebnis wirft also neue Fragen auf, ge-
Eiern und Milch sowie in Hülsenfrüchten und man- rade was die Langzeitwirkung anbelangt. Dessen unge-
chen Getreide- sowie Gemüsesorten enthalten sind. achtet empfahlen die Wissenschaftler und Wissenschaft­
»Studien deuten darauf hin, dass ein Vitamin-B-Mangel lerinnen, die Verabreichung von Multivitamintabletten
mit einem erhöhten Risiko für kognitiven Abbau und an ältere Menschen in Betracht zu ziehen, um den kog-
Demenzerkrankungen einhergeht«, erklärt Catherine nitiven Abbau zu verlangsamen. Die Studie wurde übri-
Hughes. Diese Substanzklasse hat insgesamt acht Mit- gens vom Pharma-Unternehmen Pfizer unterstützt, das
glieder. Vier davon gelten als besonders wichtig fürs unter anderem die Tabletten zur Verfügung stellte.
­Gehirn: Vitamin B2, B6, B9 (besser bekannt als Folsäure) Ist die ständige prophylaktische Einnahme von Vita-
und B12. »Sie werden alle für einen Stoffwechselweg be- minen gerechtfertigt, auch ohne dass ein Mangel nach-
nötigt, den wir als C1-Metabolismus bezeichnen«, sagt gewiesen wurde? »Auf keinen Fall«, meint Soyoung
Hughes. Er verdankt seinen Namen der so genannten Park, Professorin an der Berliner Charité und Leiterin
Methylgruppe, einem Molekülbaustein mit einem der Abteilung Neurowissenschaft der Entscheidung
Kohlen­stoffatom. Im Körper erfüllen Methylgruppen und Ernährung am Deutschen Institut für Ernährungs-
vielfältige Aufgaben. Werden sie etwa an bestimmte Be- forschung in Potsdam. »Wenn wir ausreichend mit ei-
reiche der DNA angeheftet, können sie Erbanlagen nem Nährstoff versorgt sind, können wir überschüssige
langfristig ausschalten. Mengen oft gar nicht speichern, sondern scheiden sie
Wenn der C1-Metabolismus nicht ausreichend funk- direkt wieder aus.« Park zufolge können manche Vita-
tioniert, sammelt sich im Blutplasma eine Aminosäure mine sogar gefährlich werden, wenn wir sie dauerhaft
namens Homocystein an. »Man weiß heute, dass Alz- im Überfluss nehmen. Sie empfiehlt stattdessen eine
heimerpatienten oft auffallend hohe Homocysteinkon- vielseitige, saisonale und regionale Kost mit viel Obst
zentrationen aufweisen«, erklärt Hughes. Ein erhöhter und Gemüse. Denn dadurch sinke das Risiko, von
Homocysteinspiegel weist häufig auf einen Vitamin-B- ­einem wichtigen Nährstoff zu wenig zu bekommen.

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TITELTHEMA

»Viele Menschen denken, Ernährung funktioniere wie M E H R W I S S E N AU F


»SPEKTRUM.DE«
ein Medikament: Wenn ich jeden Tag Blaubeeren esse,
dann geht es mir besser«, sagt Park. »Fokussiert man Tiefere Einblicke in die Welt der
sich aber auf ein Produkt, geht das oft zu Lasten anderer Nahrungsmittel bietet unser
Lebensmittel, die ebenfalls wichtig sind.« digitales Spektrum Kompakt
»Geschmackssache Ernährung«:
In der Regel wissen wir zudem gar nicht, ob wir von
einem bestimmten Nährstoff überhaupt profitieren. www.spektrum.de/shop
Wer durch andere Nahrungsmittel sowieso viele Poly- UNSPLASH / LINKS: BOZHIN KARAIVANOV
(UNSPLASH.COM/DE/FOTOS/4FTAEH37EH0); RECHTS:
phenole zu sich nimmt, dem helfen Blaubeeren mögli- SAS KIA (UNSPLASH.COM/DE/FOTOS/THKMEXBVYYI)

cherweise gar nicht. Dasselbe gilt, wenn Erbanlagen


oder Mikrobiom so beschaffen sind, dass der Körper Fachleute empfehlen daher die so genannte mediter-
die Inhaltsstoffe der Beeren nur schlecht verwerten rane Diät. Sie zeichnet sich durch einen hohen Anteil
kann. Eine abwechslungsreiche Ernährung steigert die von Früchten, Gemüse, Vollkornprodukten und hoch-
Chancen, dass Nährstoffe dabei sind, von denen wir wertigen Pflanzenölen aus. Fisch steht regelmäßig,
persönlich tatsächlich etwas haben. Es ist wie beim Ak- Fleisch dagegen nur selten auf dem Speiseplan, und
tienkauf: Auch dort gilt die Regel, nie alle Eier in den- wenn, dann vor allem Geflügel. Mit ihr verwandt ist die
selben Korb zu legen. Streuung ist wichtig – nicht zu- MIND-Diät, die manchen Experten zufolge für das
letzt, weil es eben eine ganze Reihe von Nahrungs­ ­Gehirn besonders gut sein soll (siehe »Die MIND-Diät –
inhaltsstoffen gibt, die wir für unsere körperliche und Hype oder Hoffnung?«). Sie legt ein größeres Gewicht
geistige Gesundheit benötigen. »Das Gehirn braucht auf den Verzehr von Blattgemüse wie Salat und Spinat
mehr als nur Polyphenole und Omega-3-Fettsäuren«, sowie von Nüssen und Beeren.
betont Soyoung Park. Es reicht also nicht aus, täglich eine Hand voll Nüsse
zu essen und sonst nichts zu ändern. Besser ist es, die
gesamte Ernährung umzustellen. Die größte Wirkung
entfaltet die neue Diät zudem im Konzert mit weiteren
»Viele Menschen denken, Maßnahmen. Dazu gehört regelmäßiger Sport, aber
auch, auf sein Gewicht zu achten. Denn überflüssige
Ernährung funktioniere wie Pfunde gelten als Risikofaktor für Demenz­erkrankungen.
ein Medikament: Wenn ich »Wir reden hier eigentlich von einer Umstellung des
­Lebensstils«, sagt Kleinridders. Dabei gelte die Regel:
jeden Tag Blaubeeren esse, Alles, was dem Herz-Kreislauf-System guttut, unter-
dann geht es mir besser. stützt ebenfalls die Gesundheit des Gehirns.
Wer mit schnellen Effekten rechnet, wird jedoch si-
­Fokussiert man sich aber auf cherlich enttäuscht. »Wir essen täglich mindestens drei-
ein Produkt, geht das oft zu mal, und das unser Leben lang«, sagt Soyoung Park.
»Die Effekte akkumulieren sich über die Jahrzehnte, so
Lasten anderer Lebensmittel, dass wir die Konsequenzen unserer Ernährungsgewohn-
die ebenfalls wichtig sind« heiten oft erst viel später sehen.« Das bestätigt auch ihr
Kollege Kleinridders: »Gesunde Ernährung ist ein Ma-
Soyoung Park rathon – und zwar einer, der viele Jahre dauert.«  H

QUELLEN

Cheatham, C. L. et al.: Six-month intervention with wild blueberries


improved speed of processing in mild cognitive decline: A double-blind, placebo-controlled,
randomized clinical trial. Nutritional Neuroscience 26, 2022
Moore, K. et al.: Diet, nutrition and the ageing brain: Current evidence and new directions.
Proceedings of the Nutrition Society 77, 2018
Morris, M. C. et al.: MIND diet slows cognitive decline with aging. Alzheimer’s & Dementia 11, 2015
Van der Wurff, I. S. M. et al.: Effect of Omega-3 long chain polyunsaturated fatty acids (n-3 LCPUFA)
supplementation on cognition in children and adolescents: A systematic literature review with a focus
on n-3 LCPUFA blood values and dose of DHA and EPA. Nutrients 12, 2020
Witte, A. V. et al.: Long-chain Omega-3 fatty acids improve brain function and structure
in older adults. Cerebral Cortex 24, 2014
Dieser Artikel im Internet: www.spektrum.de/artikel/2185995

GEHIRN&GEIST 19 1 2 _ 2 0 2 3
GEFÜHLE

Auf etwas stolz zu sein, fühlt sich richtig gut an.


Doch zugleich hat die Emotion oft ein
negatives Image. Wie passt das zusammen?

Guter
Stolz,
schlechter
Stolz VON JAN SCHWENKENBECHER
LUISE AEDTNER

NICK POTTS / EMPICS / PICTURE ALLIANCE

U N S E R AU TO R

Jan Schwenkenbecher ist Psychologe und Wissenschaftsjournalist


in Gießen. Er ist stolz darauf, dass er diesen Beitrag deutlich vor der
gesetzten Deadline ablieferte.

GEHIRN&GEIST 20 1 2 _ 2 0 2 3
MOMENT DES TRIUMPHS | Kaum
ist der entscheidende Elfmeter im
WM-Finale 2022 geschossen, sinkt der
argentinische Superstar Lionel Messi
überglücklich auf die Knie.
NICK POTTS / EMPICS / PICTURE ALLIANCE

GEHIRN&GEIST 21 1 2 _ 2 0 2 3
Auf einen Blick: Kompetenz statt Konkurrenz

1 2 3
Auf eine selbst erbrachte Leis- Die Zwiespältigkeit des Stolzes Da Überheblichkeit oft nach-
tung stolz zu sein, empfinden hat viel damit zu tun, wie sehr teilig wirkt, kann er das
die meisten Menschen als sehr wir uns damit gegenüber ­Wohlbefinden dämpfen. Stolz
positiv. Solche Gefühle äußerlich anderen auszeichnen oder erheben. zu zeigen, funktioniert meist dann
zur Schau zu stellen, wird einem Mit Stolz demonstrieren wir per- am besten, wenn wir andere aner-
jedoch häufig als Arroganz aus­ sönliche Kompetenz, die unseren kennen, statt uns in Konkurrenz zu
gelegt. sozialen Status steigern soll. ihnen zu stellen.

W
as genau Lionel Messi am Abend stärkt den Selbstwert und die Selbstwirksamkeit«, er-
des 18. Dezember 2022 fühlte, klärt Lange (siehe »Kurz erklärt«). »Er gibt einem das
als sein Teamkollege Gonzalo Gefühl, bedeutsam zu sein.«
Montiel mit einem verwandel- Laut dem Forscher zeigen Studien, dass Menschen,
ten Elfmeter Argentinien zum die keinen Stolz empfinden, das aber gerne täten, im
Sieg bei der Fußball-Weltmeis- Schnitt motivierter an Aufgaben herangehen und sich
terschaft schoss, ist schwer zu sagen. Aber es dürfte eine mehr anstrengen. Wer zum Beispiel bei einem Wettlauf
gehörige Portion Stolz im Spiel gewesen sein. Siebenmal langsamer ist als gehofft, dem bleibt der Stolz zunächst
war Messi Fußballer des Jahres, zehnmal spanischer verwehrt – was ihn wiederum dazu antreibt, einen
Meister, mehr als 700 Tore im Verein und gut 100 in der Zahn zuzulegen. »Betrachtet man es allein auf dieser
Nationalmannschaft, zudem Olympiasieger … Allein ­individuellen Ebene, so ist der Wunsch, Stolz zu emp-
der Weltmeistertitel fehlte noch, um die Karriere zu finden, eigentlich ein wichtiger Motivator«, sagt Lange.
krönen. Das war nun geschafft. Messi schrieb noch am Allerdings gebe es noch eine weitere Ebene, auf der
selben Abend auf Instagram: »WELTMEISTER!!!!!!! Ich Stolz eine Rolle spielt: »Viele Leistungen erbringen wir
habe so oft davon geträumt, ich wollte es so sehr, dass relativ gesehen zu anderen. Wenn ich stolz auf meine
ich es immer noch nicht glauben kann.« gute Leistung bin, bedeutet das oft automatisch, dass ich
Mehr als 75 Millionen Menschen likten sein Bild – mich gegenüber anderen durchgesetzt habe und besser
das damit das »Instagram-Ei Eugene« nach fast vier­ war als sie.«
jähriger Erstplatzierung als Foto mit der größten Zahl
an Likes ablöste. Die meisten Menschen gönnten Messi Eigener Erfolg gleich fremde Herabsetzung?
seinen Stolz. Doch das ist längst nicht immer der Fall. Messi hat jedes seiner Tore gegen eine konkurrierende
Wenn jemand sich über einen persönlichen Erfolg Mannschaft geschossen, bei jedem Meistertitel war ein
freut, sein Talent oder Glück herausstellt, reagieren an- anderes Team unterlegen. »Ich glaube, an diesem Punkt
dere mitunter ablehnend darauf. Angenommen, Messi wird das Thema Stolz zwiespältig: Man schreibt sich
hätte an jenem Tag Folgendes gepostet: »Wahnsinn, ich selbst Erfolg zu, und das ist nicht per se schlecht. Aber
habe es geschafft! Komisch, dass es überhaupt so lange damit setzt man zugleich andere herab, wenn auch wo-
gedauert hat bis zum Weltmeistertitel, wo ich doch be- möglich nur gefühlt«, erläutert der Psychologe Lange.
kanntlich der beste Fußballspieler des Planeten bin. Ist ein Vergleich mit anderen nötig, um Stolz zu emp-
#WieGottgegenFrankreich«. So hätte er ebenfalls Stolz finden? Zugegeben, Sport ist eine kompetitive Angele-
ausdrücken können. Doch er gab sich wohlweislich be- genheit. Doch im Alltag kann man etwa ein Projekt gut
scheidener. erledigen, ohne dass es besser als das der Kollegen ge-
Nur warum? Sind stolz sein und es zeigen zwei so lungen sein muss. Ich kann mich auch darüber freuen,
grundverschiedene Dinge? Und wieso finden wir es ei- beim Einkaufsbummel schöne Deko für zu Hause ent-
nerseits schön, stolz wie Bolle zu sein, und erklären es deckt zu haben, ohne zu denken, dass mein Flur nun
im nächsten Atemzug andererseits zur Sünde? viel toller aussieht als der des Nachbarn. Habe ich zu-
Sucht man nach wissenschaftlich fundierten Ant- sätzlich noch Wäsche gewaschen, den Müll rausge-
worten auf diese Fragen, landet man schnell bei Jens bracht, das Kind von der Kita abgeholt und Abend­essen
Lange. Er forscht am psychologischen Institut der Uni- gemacht, kann ich zufrieden auf meine Leistung bli-
versität Hamburg und hat dem Stolz mehrere Studien cken, ohne mich anderen überlegen zu wähnen.
gewidmet. Lange sagt: »Stolz tritt dann auf, wenn man Jens Lange gibt allerdings zu bedenken: »Wissen-
einen Erfolg auf eigene Bemühungen zurückführt.« schaftliche Daten deuten darauf hin, dass wir Stolz in-
Wenn man sich also etwas vornimmt, sich ein Ziel setzt tensiver erleben, wenn er auf einem sozialen Vergleich
und nach einiger Anstrengung das Angepeilte schafft. fußt.« Er gesteht durchaus zu, dass dem Stolz nicht
Auf diese Grundformel gebracht, ist am Stolz erst ein- zwangsläufig eine soziale Konkurrenz zu Grunde liegen
mal nichts Schlechtes zu finden, im Gegenteil: »Stolz muss. Einen Vergleich hingegen brauche es oft schon –

GEHIRN&GEIST 22 1 2 _ 2 0 2 3
GEFÜHLE

und sei es nur der mit sich selbst. »Man kann stolz sein, KURZ ERKL ÄRT:
ohne sich mit anderen zu vergleichen. Aber man zieht
dann meist die eigene Person, sein früheres Ich, als AU T H E N T I S C H E R V E R SU S
Maßstab heran. Das ist in gewissem Sinn auch eine so- ÜBERHEBLICHER STOLZ
ziale Komponente.« Die prosoziale, motivierende Facette des Stolzes, die
Dabei klingt »Vergleich« kompetitiver, als es tatsäch- sich in Leistungswillen und Selbstvertrauen aus-
lich ist. Wir vergleichen uns ständig und brauchen das drückt und mit erhötem Wohlbefinden einhergeht,
zum Beispiel, um zu einer realistischen Selbsteinschät- wird als authentischer Stolz bezeichnet. Dagegen ist
zung zu gelangen. Unser Selbstkonzept (siehe »Kurz er- überheblicher Stolz geprägt durch antisoziale,
klärt«) beruht stark auf Vergleichen: Ob ich mich für aggressive Aspekte, die sich in Arroganz und Eitel-
freundlich, groß gewachsen, schlank und sportlich hal- keit äußern und mit geringerem Wohlbefinden
te, hängt jeweils eng damit zusammen, wie ich andere verbunden sind.
Menschen wahrnehme. »Vergleiche sind allgegenwärtig.
Sie helfen uns, alle möglichen Dinge einzuschätzen, SELBSTKONZEPT
und ohne sie würden wir in der Welt gar nicht zurecht- Gesamtheit der Urteile und Überzeugungen, die
kommen«, so Lange. sich auf die eigene Person, ihre Eigenarten, Fähig-
Das Vergleichen allein – ob mit anderen oder mit keiten, Stärken und Schwächen beziehen. Das
sich selbst – beschert dem Stolz also wohl nicht sein Selbstkonzept eines Menschen speist sich von früher
schlechtes Image. Womöglich bringt eine andere Unter- Kindheit an aus Rückmeldungen der Umwelt,
scheidung mehr Klarheit: nämlich die zwischen authen- biografischen Erinnerungen sowie mit Stolz und
tischem und überheblichem Stolz. Dieses Begriffspaar Scham verknüpften Erfolgs- oder Misserfolgserleb-
prägten vor rund 20 Jahren die Psychologin Jessica Tra- nissen. Häufig ist unser Selbstkonzept leicht ins
cy von der University of British Columbia in Vancouver Positive verzerrt (»positivity bias«): Wir halten uns
und ihr Kollege Richard Robins von der University of in der Regel für etwas kompetenter und moralisch
California in Davis. integrer, als wir sind.

Doppeldeutiger Stolz im Spiegel SELBSTWIRKSAMKEIT


der ­Alltagssprache Subjektiver Glaube an die eigene Handlungsfähig-
In mehreren Studien zeigten Tracy und Robins zunächst, keit. Eine starke Selbstwirksamkeitsüberzeugung
dass Menschen den beiden Facetten unterschiedliche drückt sich darin aus, dass man sein Leben im Griff
Wörter zuordnen, was für zwei getrennte semantische zu haben meint und davon ausgeht, selbst Schick-
Cluster spricht. Dies offenbarte abermals die Doppel- salsschläge und Krisen aus eigener Kraft meistern zu
deutigkeit des Stolzes, denn im einen Cluster fanden können. Gilt als wichtiger Resilienzfaktor.
sich positive Wörter wie »vollendet« oder »selbstbe-
wusst«, im anderen hingegen vermehrt negativ besetzte
wie »arrogant« oder »eingebildet«. Anschließend gaben orientierte Facette des Stolzes. Er geht mit dem Gefühl
die Studienteilnehmer an, wann sie stolz gewesen waren, einher, etwas geleistet zu haben, und stärkt das Selbst-
und die Forscher analysierten, ob und wie sich die bei- bewusstsein. Zudem verbessert der authentische Stolz
den Facetten darin widerspiegelten. Zudem entwickel- das psychische Wohlbefinden. Der überhebliche Stolz
ten sie Fragebogen, mit denen sich diese Aspekte genau- hingegen ist die antisoziale, aggressive Facette des
er erheben ließen. ­Stolzes. Er geht mit Gefühlen wie Arroganz und Eitel-
Die Unterscheidung zwischen authentischem und keit einher und ist mit eher geringerem Wohlbefinden
überheblichem Stolz konnte seither immer wieder verknüpft.
­bestätigt werden und lässt sich wie folgt beschreiben: Könnte das die Erklärung für die verschiedenen Ur-
Authentischer Stolz meint die prosoziale, leistungs­ teile über den Stolz sein? Angesichts der Folgen, die
die beiden Facetten mit sich bringen, erscheint diese
Annahme zumindest plausibel.
»Authentischer Stolz fühlt sich an wie ein Erfolg. Er
M E H R W I S S E N AU F verleiht einem das Gefühl, dass man hart gearbeitet und
»SPEKTRUM.DE« aus eigener Kraft etwas erreicht hat«, erklärt Jessica
Was unsere Personlichkeit aus- ­Tracy. »Das stärkt das Sozialverhalten. Authentischer
macht und wie gut wir uns selbst Stolz regt prosoziales Verhalten an und führt dazu,
kennen, lesen Sie in unserem dass wir anderen eher helfen. Es stärkt Beziehungen,
digitalen Spektrum Kompakt
etwa Freundschaften oder Partnerschaften. Zudem hat,
­»Identität –Wer bin ich?«:
wer häu­figer authentischen Stolz empfindet, seltener
www.spektrum.de/shop Depres­sionen, Angst, soziale Phobien, ist weniger ag-
LAMBADA / GETTY IMAGES / ISTOCK;
BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

GEHIRN&GEIST 23 1 2 _ 2 0 2 3
Ob Stolz gut oder schlecht ist,
hängt auch davon ab, welchen
Zweck er erfüllt

Personen zu erreichen. Ein Team um den Evolutions-


psychologen Daniel Sznycer, heute an der Oklahoma
State University of California in Stillwater, hat das in
­einer 2017 veröffentlichten Studie untersucht. Mehr als
1000 Personen aus 16 Ländern wies man entweder einer
»Stolz-Gruppe« oder einer »Betrachter-Gruppe« zu.
Ers­terer wurden 25 Szenarien aus den Bereichen sozia-
ler Umgang, Fähigkeiten, Wettbewerb, Partner- und
­Elternschaft sowie Führung präsentiert. Darunter zum
Beispiel »Eine Person gleichen Geschlechts und Alters
DRBIMAGES / GETTY IMAGES / ISTOCK (SYMBOLBILD MIT FOTOMODELL)

wie Sie ist besonders vertrauenswürdig» oder »… hat


einzigartige Fähigkeiten« oder »… ist physisch attrak-
tiv«. Anschließend sollten die Teilnehmer auf einer sie-
benstufigen Skala angeben, wie stolz sie selbst in dieser
Situation wären. Die Probanden der Betrachter-Gruppe
wurden hingegen bloß gefragt, wie positiv oder negativ
sie die andere Person bewerteten.
Wie sich herausstellte, stimmte die Intensität des
­eigenen Stolzes eng mit dem Ausmaß der positiven Be-
wertung durch andere überein. Darüber hinaus ähnel-
ten sich über die verschiedenen Kulturen hinweg so-
wohl die Gründe als auch die Bewertungen des Stolzes.
Das deutet darauf hin, dass die grundlegenden Bewer-
tungssysteme recht universell sind.
gressiv und seltener feindselig und kann auch mit Ab-
lehnung besser umgehen.« Kompetenz und sozialer Rang
Die Auswirkungen von überheblichem Stolz gehen Stolz ist in gewisser Weise ein Maß dafür, als wie kom-
häufig in eine andere, sogar in die entgegengesetzte petent wir von anderen angesehen werden. Das Interes-
Richtung. »Überheblicher Stolz scheint in Bezug auf sante daran: Es gilt nicht nur für den authentischen
die psychologischen Folgen nachteilig zu sein«, erklärt Stolz, sondern auch für die überhebliche Variante. »Bei-
Tracy. »So neigen Menschen, die eher überheblichen de Formen gehen mit einem Gewinn an Status und
Stolz zeigen, zu Aggressivität und Feindseligkeit. Sie lei- ­Aufstieg innerhalb der sozialen Hierarchie einher«, sagt
den häufiger unter psychischen Störungen, etwa Ängs- Tracy. »Es gibt also gute Argumente dafür, warum wir
ten und Depressionen.« Zudem sei es wahrscheinlicher, diese Arten von Stolz erleben. Beide helfen uns, in einer
dass sie antisoziales Verhalten an den Tag legen, Drogen sozialen Gemeinschaft erfolgreich zu sein. Dabei ge-
konsumieren oder kriminell werden. schieht dies aber jeweils auf sehr verschiedene Art und
Bei Eigenschaften wie dem überheblichen Stolz, die Weise.«
auf den ersten Blick rein negativ zu sein scheinen, stellt Wie Menschen in Gruppen ihren sozialen Rang si-
sich die Frage, warum es sie überhaupt gibt. Haben sie chern, erklärt eine Theorie der US-amerikanischen An-
nicht auch eine Funktion? Müsste nicht selbst über­ thropologen Joseph Henrich und Francisco Gil-White,
heblicher Stolz einen gewissen Nutzen haben oder ge- die inzwischen gut 20 Jahre alt ist. Demnach steigern
habt haben, weil er sonst schon längst aus dem sozialen Menschen ihren Status vor allem auf zwei Wegen: Pres-
Miteinander verschwunden wäre? tige und Dominanz. Entweder sie glänzen mit Fähigkei-
Da sich Stolz häufig aus sozialen Vergleichen speist, ten und Fertigkeiten, erlangen Prestige und werden so
scheint ein Hauptziel dieser Regung darin zu liegen, von anderen wertgeschätzt. Oder sie sind besonders do-
größere Wertschätzung und Respekt seitens anderer minant und lösen Furcht aus, so dass andere sich ihnen

GEHIRN&GEIST 24 1 2 _ 2 0 2 3
GEFÜHLE

aus Angst unterordnen. Der Gewinn an sozialem Status Erfolge selbst zuschreiben«, so die Psychologin. »Viele
geht laut Tracy auf dem Prestige-Pfad Hand in Hand Menschen haben mittlerweile Probleme damit.«
mit authentischem Stolz, beim Dominanz-Pfad hinge- Doch manchmal ist nicht das Verbergen, sondern
gen mit überheblichem. unbegründetes Zurschaustellen das Problem. Man stel-
Eine Arbeit zweier Psychologen der University of le sich einen Mann vor, Mitte 50, der auf eine Beförde-
Waterloo in Kanada bestätigte das für den Berufskon- rung wartet. Plötzlich wird ihm ein jüngerer Kollege
text: In drei Studien untersuchten Edward Yeung und vorgezogen. »Wahrscheinlich ein beschämender Mo-
Winny Shen, mit welchem Führungsverhalten die Stolz- ment«, sagt Lohr-Berger. Es könne dennoch passieren,
Facetten zusammenhingen. Chefs und Chefinnen, die dass der Mann zu sich sagt: »Ach, den Job wollte ich eh
authentischen Stolz empfanden, hatten demnach mehr nicht. Mit meiner Erfahrung sollte ich direkt in die
Interesse an ihren Mitarbeitern und deren Wohlbefin- ­Geschäftsleitung berufen werden.« In Momenten, in
den, respektierten sie stärker und signalisierten eher denen jemand einen Rückschlag erleidet, entstehen
­
Unterstützung. Je größer hingegen der überhebliche ­andere Gefühle als Stolz, meint Lohr-Berger. »Aber da
Stolz, desto mehr werteten die Vorgesetzten ihre Unter- diese mit Schwäche verbunden sind, kommt es vor, dass
gebenen ab oder machten sich gar über sie lustig. Menschen sie mit Stolz überlagern.«
Gänzlich unumstritten ist die Theorie der beiden Diese Taktik schützt den Selbstwert einer Person. Sie
Stolz-Facetten nicht. Im Großen und Ganzen aber spre- funktioniert oft allerdings nur kurzfristig. Denn irgend-
chen viele Studien dafür, dass es zwei voneinander ver- wann wird dann doch offensichtlich, dass die Vorge-
schiedene Arten der Gefühlsregung gibt – eine sozial- setzten gar keine größeren Pläne mit demjenigen haben.
wohlwollende und eine arrogant-eitle. Ob Stolz also gut oder schlecht ist, hängt auch davon
Offenbar hängt die Bewertung des Stolzes stark da- ab, welchen Zweck er erfüllt – sei es, sich selbst gut zu
von ab, ob man die authentische oder die überhebliche fühlen, andere zu beeindrucken oder Kompetenz aus-
Variante betrachtet. Doch es bleiben Fragen: Wozu zustrahlen. »Schwierigkeiten können dann entstehen,
­benutzen wir Stolz und seinen Ausdruck im Alltag? wenn er benutzt wird, um ein anderes Gefühl zu über­
Welche Funktion erfüllt er im sozialen Miteinander? lagern, und nichts mit einem gerade erreichten Erfolg
Die Psychologin Christina Lohr-Berger hat zusam- zu tun hat.« Häufig liegen dem beispielsweise Scham­
men mit ihrem Kollegen Gernot Hauke ein Buch zur gefühle oder Unsicherheit zu Grunde, die durch stolzes
Emotionsarbeit in der Psychotherapie geschrieben. Sie »Gehabe« kompensiert werden, wie bei dem besagten
sagt: »Stolz ist eine heikle Emotion. Denn viele verbin- Mann, der beim Beförderungskarussell leer ausging.
den damit Arroganz und wollen ihn lieber nicht offen Man kann letztlich nicht pauschal sagen, dass au-
zeigen.« thentischer Stolz generell gut und überheblicher immer
Entsprechend lernen bereits Kinder, dass es schön ist, schlecht ist. So kann auch ehrlich empfundener Stolz
ein Ziel erreicht oder Neues gelernt zu haben, und auch, Neid und Missgunst auslösen, während demonstrative
wie sehr es einen beflügeln kann, schneller, klüger oder Selbstzufriedenheit je nach Kontext bei anderen Ein-
kreativer als andere zu sein. Sie lernen aber genauso, druck macht. Wichtiger findet Lohr-Berger eine andere
dass es andere neidisch machen kann. »Weil vielen Kin- Frage: »Passt das, was ich empfinde und nach außen tra-
dern und Jugendlichen Freundschaften besonders wich- ge, noch zur Situation?«
tig sind, fangen sie automatisch an, ihren Stolz zu ver- Bei Messis Instagram-Post fand die Fußballwelt:
bergen. Sie wollen nicht, dass andere sich schlecht füh- Das passt. Die Menschen hinter dem Instagram-Ei
len«, sagt Lohr-Berger. »Das ist ein gefährlicher Weg.« ­Eugene – einem reinen Marketing-Gag – dachten hin-
Denn werde das Zeigen früh dauerhaft unterdrückt, gegen womöglich: »Ach, der Rekord ist eh nicht wich-
­gelingt auch das Fühlen bald schwer. »Stolz zu fühlen ist tig – das Internet hat bestimmt noch viel Größeres mit
wichtig, damit wir unseren Selbstwert stärken und uns uns vor.« H

QUELLEN

Hauke, G., Lohr-Berger, C.: Stolz – Emotionsarbeit in der Psychotherapie. Beltz, 2023
Snycer, D. et al.: Cross-cultural regularities in the cognitive architecture of pride. PNAS 114, 2017
Tracy, J. L. et al.: Pride: The emotional foundation of social rank attainment. Annual Review of Psychology 74, 2023
Tracy, J. L., Robins, R. W.: The psychological structure of pride: A tale of two facets.
Journal of Personality and Social Psychology 92, 2007
Yeung, E., Shen, W.: Can pride be a vice and virtue at work? Associations between authentic
and hubristic pride and leadership behaviors. Journal of Organisational Behavior 40, 2019
Dieser Artikel im Internet: www.spektrum.de/artikel/2185998

GEHIRN&GEIST 25 1 2 _ 2 0 2 3
GU TE FRAGE

Sind Morgenmenschen
gewissenhafter?

BARTEKSZEWCZYK / GETTY IMAGES / ISTOCK

Haben Sie auch eine Frage an


unsere Experten? Dann schreiben
Sie mit dem Betreff »Gute Frage«
an: gehirn-und-geist@spektrum.de

GEHIRN&GEIST 26 1 20 _ 2 0 2 30
MICHELLE TENNISON

UNSERE EXPERTIN KENNT DIE ANT WORT:

Anita Lenneis ist promovierte Psychologin und erforscht an der University of


­Warwick in England, wie Schlaf und Persönlichkeit zusammenhängen.

E
r gehört wohl zu denjenigen, die am frühen Mor- senhaftigkeit und dem Biorhythmus ebenfalls schon in
gen beherzt aus den Federn springen, erst einmal unseren Genen steckt.
joggen gehen, nach einer kurzen Dusche die Eine Facette von Gewissenhaftigkeit, die Selbstdiszi-
schon vorbereiteten Overnight-Oats frühstücken und plin, hängt besonders klar mit der Tendenz zum Früh-
sich dann voller Elan in die Arbeit stürzen. So jedenfalls aufstehen zusammen. Hier kommt vermutlich ein Ef-
­stelle ich mir den Jogger vor, der mir regelmäßig auf fekt der Gewohnheit hinzu: Wer sich etwa regelmäßig
dem Weg ins Büro begegnet, während ich kaum die Au- dazu durchringt, Frühsport zu treiben, dem fällt es mit
gen offen halten kann. der Zeit leichter. Daher untersuchen wir in der For-
Eine 2017 erschienene Übersichtsarbeit, die die Er­ schung unter anderem, ob man durch ein Training der
geb­nisse mehrerer Studien zusammenfasste, bestätigt Selbstdisziplin den eigenen Schlafrhythmus beeinflus-
das Bild von der fleißigen Lerche. Laut dem Team um sen kann. Eine solche nachhaltige Veränderung könnte
Anastasiya Lipnevich von der City University of New dazu führen, dass man selbst an freien Tagen oder im
York sind Morgenmenschen im Schnitt gewissenhafter Urlaub früh wach wird. Wie gut das klappt und ob es
als Nachteulen. Der Zusammenhang in Sachen Gewis- tatsächlich ratsam ist, müssen künftige Studien klären.
senhaftigkeit ist sogar die am besten bestätigte Verbin- Denn da es zu beträchtlichem Teil in den Genen liegt,
dung zwischen dem Chronotyp und der Persönlichkeit ob wir Morgen- oder Abendmenschen (oder etwas da-
überhaupt. Gewissenhaft zu sein, geht zudem statistisch zwischen) sind, sollte man nicht beliebig stark gegen sei-
mit besserer Gesundheit und mehr beruflichem Erfolg nen natürlichen Schlafrhythmus ankämpfen. Sonst kön-
einher. Menschen mit hohen Werten in diesem Merk- nen gesundheitliche Probleme die Folge sein. Flexiblere
mal handeln besonnen, sind pflichtbewusst, diszipli- Arbeitszeiten erleichtern es heute immerhin, mehr im
niert und leistungsbereit. Solche Unterkategorien eines Einklang mit dem eigenen Schlafrhythmus zu leben.
Persönlichkeitsmerkmals nennt man »Facetten«. Zwar hat es in der Gesellschaft ein gutes Image, zeitig
Warum genau Morgenmenschen gewissenhafter aus dem Bett zu kommen – dennoch will ich nicht un-
sind, ist noch unklar. Vielleicht beeinflusst die Persön- bedingt zur Morgenjoggerin werden. Wie Studien bele-
lichkeit das Schlafverhalten: Wer von Natur aus gewis- gen, sind Abendmenschen zwar im Schnitt nicht ganz
senhaft ist, steht womöglich zeitiger auf, um die Aufga- so gewissenhaft, dafür aber oft offener für neue Erfah-
ben des Tages zu erledigen und keinen Termin zu ver- rungen als Frühaufsteherinnen und Frühaufsteher.  H
passen. Gewissenhafte Menschen gehen eventuell aus
dem gleichen Grund auch früher ins Bett und versagen
sich abendliche Aktivitäten wie Kneipentouren. Es ist QUELLEN
aber denkbar, dass es sich umgekehrt verhält und der Lenneis, A. et al.: Intraindividual variability and
Schlaf die Persönlichkeit prägt. Womöglich beeinflusst temporal stability of mid-sleep on free and workdays.
sich beides gegenseitig. Journal of Biological Rhythms 36, 2021
Die Persönlichkeit eines Menschen sowie sein Schlaf- Lenneis, A. et al.: Personality traits relate to chronotype at both
verhalten sind genetisch verankert. Laut Zwillingsstu- the phenotypic and genetic level. Journal of Personality 89, 2021
dien vererben sich sowohl der Chronotyp als auch Cha-
Lipnevich, A. A. et al.: How distinctive are morningness
raktereigenschaften. Aus weiteren Arbeiten zur Verbin- and eveningness from the Big Five factors of personality?
dung zwischen dem Erbgut und Verhaltensmerkmalen A meta-analytic investigation.
wissen wir zudem, dass die Beziehung zwischen Gewis- Journal of Personality and Social Psychology 112, 2017

GEHIRN&GEIST 27 1 20 _ 2 0 2 30
PSYCHOTHERAPIE

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Angebote zur Stärkung der seelischen Abwehrkräfte und zum
Meistern von Krisen boomen. Forscher ergründen, was am besten
hilft – und wann Therapien unerwünschte Effekte haben.

Seelenhilfe
mit Haken
V O N S T E V E AYA N U N D S A M E P H R O N

GEHIRN&GEIST 28 1 2 _ 2 0 2 3
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HÖR ZU! | Bei einer Psychotherapie,


ob online oder in Präsenz, wirkt
vieles zusammen: Sich aussprechen,
Zuwendung erfahren, Erklärungen
finden – die Methode ist oft zweit-
rangig.

GEHIRN&GEIST 29 1 2 _ 2 0 2 3
Auf einen Blick: Freuds langer Schatten

1 2 3
Psychotherapie boomt. Die Allerdings sind viele Therapie- Um den Gefahren einer über-
Hemmschwelle, einen Seelen- formen bis heute nur mangel- mäßigen Pathologisierung und
profi zu konsultieren, ist im haft empirisch fundiert. Laut Therapeutisierung vorzubeu-
selben Maß gesunken, wie die neueren Analysen fallen die Effekte gen, sollte man bei Selbstdiagnosen
Aufmerksamkeit für psychische oft deutlich schwächer aus, als man und einseitigen Heilsversprechen
Schieflagen wuchs. früher annahm. vorsichtig sein.

M
an kann von der TikTok-Genera- Europa zu verzeichnen. Im Jahr 2022 gab die Welt­
tion halten, was man will – bei gesundheitsorganisation (WHO) bekannt, dass es seit
Fragen der psychischen Gesund- der ­Covid-19-Pandemie weltweit gut ein Viertel mehr
heit ist sie so aufgeschlossen wie Betroffene mit Angststörungen und Depressionen gebe.
noch keine andere vor ihr. Beson- Neun von zehn Ländern finanzierten im Kampf gegen
ders die Covid-19-Pandemie und Corona Hilfsangebote, die die psychische Gesundheit
die damit verbundenen Einschränkungen haben dafür der Bevölkerung stärken sollten.
gesorgt, dass es für viele, vor allem junge Leute zum Allerdings: Von den schätzungsweise rund 500 ver-
Standard wurde, psychologischen Rat und Hilfe einzu- schiedenen Therapieansätzen auf dem Markt sind
holen. In den sozialen Medien kursieren zahllose Vi- die meisten nie methodisch solide überprüft worden.
deos zu allen möglichen Seelennöten, von Trauma bis Das erschwert die Einschätzung ihres konkreten Be-
Perfektionismus. Zudem machen es KI-gestützte Chat- handlungsnutzens deutlich. Immerhin bemühten sich
bots leichter denn je, etwas für das eigene mentale Fachleute in den letzten Jahren intensiv, die klinischen
Gleichgewicht zu tun. Effekte genauer zu differenzieren. Dabei zeigte sich
Auch die Hürden zur Aufnahme einer echten Psycho­ ­unter anderem, dass Psychotherapie nicht immer nur
therapie sind gesunken, seit viele Anbieter online ­tätig hilfreich ist – in manchen Fällen bringt sie auch nichts
sind und spezielle Internetplattformen Hilfesuchende oder schadet sogar.
mit Seelenprofis zusammenbringen. Angesichts all die-
ser neuen Möglichkeiten fragen sich immer mehr Men- Alles, was der Seele guttut
schen, ob eine Therapie ihnen ebenfalls weiterhelfen Der Ausdruck Psychotherapie ist ein Sammelbegriff für
könnte. Die große Frage ist bloß: welche? alle möglichen Ansätze und Methoden zum Beheben
Inzwischen gibt es nämlich eine verwirrende Viel- emotionaler, kognitiver oder sozialer Probleme. Seit
zahl an Verfahren – von der kognitiven Verhaltens- und den Tagen des Wiener Nervenarztes Sigmund Freud
der Gesprächspsychotherapie über die Psychoanalyse (1856–1939), der seine Patienten bat, sich auf eine Couch
bis hin zu körperorientierten oder systemischen Ansät- zu legen und ihren Gedanken freien Lauf zu lassen, ist
zen. Auf die Frage, welche davon zu einem persönlich die Zahl der Ansätze geradezu explodiert. Die geläufigs-
passen könnte, bot die Wissenschaft bislang eher wenig ten Verfahren stützen sich auf Theorien, die sich ent­
Antworten. Menschen und ihre Probleme sind individu­ weder auf das Zusammenwirken von Körper und Geist
ell sehr verschieden, die zumeist üblichen Wirksamkeits­ konzentrieren, auf zwischenmenschliche Beziehungen
tests jedoch bedienen sich standardisierter Methoden oder auf gedankliche und emotionale Muster, die wir
und Gruppenvergleiche (siehe dazu den Artikel »Effek- teils früh im Leben erwerben. Bei wieder anderen ste-
te im Visier« ab S. 34). Über die richtige Passung geben hen Akzeptanz und das Unterbrechen von Grübel-
sie daher kaum Auskunft. schleifen im Vordergrund.
Der rasant wachsenden Nachfrage nach Psycho­ Psychotherapeuten verweisen meist auf zusammen-
therapie tut das keinen Abbruch. In den USA stieg die fassende Metaanalysen von insgesamt hunderten ver-
Zahl der Klienten von rund 27 Millionen im Jahr 2001 schiedenen Einzelstudien, laut denen ihre Arbeit bei
auf 42 Millionen 2020, vergleichbare Zuwächse sind in fast allen psychischen Erkrankungen (die häufigsten

U N S E R E AU TO R E N

Steve Ayan ist Psychologe und »Gehirn&Geist«-Redakteur. Ausgangspunkt dieses


Beitrags war ein im britischen »New Scientist« unter dem Pseudonym Sam Ephron
erschienener Artikel, der inhaltlich und sprachlich gründlich überarbeitetet wurde.

GEHIRN&GEIST 30 1 2 _ 2 0 2 3
PSYCHOTHER APIE

sind Depressionen, Angst und Sucht) kurz- und lang- Warum die Behandlung bei manchen Menschen an-
fristig gut anschlägt und mindestens so wirksam ist wie schlägt, bei anderen aber nicht, ist Gegenstand vieler
die Gabe von Medikamenten. Doch einige Forscher Spekulationen. Es gibt nur wenig Forschung, die ver-
melden an dieser scheinbar so klaren Beweislage neuer- schiedene Therapieformen direkt miteinander ver-
dings Zweifel an. Eine 2017 veröffentlichte Übersichts- gleicht. Die Hoffnung, therapeutische Effekte an mess-
arbeit eines Teams um die Psychologin Elena Dragioti, baren Veränderungen im Gehirn abzulesen und diese
die an der Universität von Linköping in Schweden gezielt herbeizuführen, hat sich bis heute ebenfalls
forscht, unterzog knapp 200 Metaanalysen von Thera- kaum erfüllt.
piewirksamkeitsstudien einer kritischen Prüfung. Zwar Dennoch trägt die jahrelange Therapieforschung ers-
sprachen acht von zehn Arbeiten für eine teils verblüf- te Früchte. Studien zu Angststörungen, zu denen etwa
fend hohe Wirksamkeit von Psychotherapie, aber nur Phobien und Panikattacken zählen, ergaben, dass die
ganze sieben Prozent lieferten methodisch wirklich Symptome in der Regel mit einer Hyperaktivität Angst
wasserdichte Belege. Von diesen 16 Arbeiten galten auslösender Hirnnetzwerke verbunden sind. Vor allem
sechs verhaltenstherapeutischen Interventionen, ande- Schaltkreise im Stirnhirn sind für die Überwachung
re einem Mix aus verschiedenen Therapien. von Gefahren und die Verarbeitung von bedrohlichen
Evangelos Evangelou, Epidemiologe an der Univer­ Szenarien und Gedanken zuständig. Noch ist allerdings
sität von Ioannina in Griechenland und Koautor der unklar, ob manche Therapieformen diese Netzwerke
Übersicht, hält vor allem die Vielzahl kleiner und daher nachhaltig modifizieren, und wenn ja, welche.
wenig aussagekräftiger Studien für problematisch.
Denn eine Metaanalyse sei immer nur so gut wie die Gedämpfte Amygdala
schwächsten in ihr berücksichtigten Arbeiten. Zudem In einer 2018 veröffentlichten Studie untersuchte ein
blieben unerwünschte Ergebnisse häufig in den Schub- Team um Andrea Reinecke von der University of Ox-
laden, während die statistischen Parameter für Wirk- ford mit Hilfe der funktionellen Magnetresonanztomo-
samkeit, ob bewusst oder unbewusst, umgekehrt häufig grafie (fMRT), wie sich die Hirnaktivität bei Menschen
geschönt würden. »Dies trägt zu einer erheblichen Ver- mit Panikstörung im Zuge einer kognitiven Verhaltens-
zerrung der Daten bei«, so Evangelou. Schätzungen therapie verändert. Die Forscherinnen und Forscher in-
teressierten sich besonders für solche Hirnareale, die an
der Verarbeitung von Angstreizen beteiligt sind. Eine
Etwa die Hälfte der Behan- Hälfte der Teilnehmer absolvierte mehrere Therapie­
sitzungen, in denen Strategien im Umgang mit derar­
delten fühlen sich danach tigen Situationen besprochen und eingeübt wurden.
besser; vollständige Heilung Die andere fungierte als Kontrollgruppe im Wartestand.
Bereits nach vier Wochen zeigte die Therapiegruppe
ist hingegen selten eine verringerte Erregbarkeit der Amygdala (auch Man-
delkern genannt), wenn sie Angstreizen ausgesetzt war.
Diese Hirnregion ist für das Erkennen und Bewerten
z­ ufolge sinkt die regelmäßig kolportierte, durchschnitt- von Gefahren wichtig. Nach der Therapie hatte sich ihre
liche Effektstärke von Psychotherapie von 0,7 bis 0,8 auf Aktivität bei fast drei Viertel der Probanden auf einem
einen Wert um 0,3, wenn man strengere Maßstäbe an Niveau eingependelt, das dem von Menschen ohne Pa-
die Daten anlegt und potenzielle Übertreibungen durch nikstörung glich.
zu kleine Stichproben, fehlende Kontrollgruppen und Andere Arbeiten deuten darauf hin, dass durchaus
die Erwartungen der Teilnehmer oder schlicht man- mehrere Wege zum gleichen Ziel führen können. 2019
gelnde Dokumentation aussortiert (siehe »Effekte im berichteten Forscher um Emiliano Santarnecchi über
Visier«, S. 34). verblüffende ähnliche Effekte von zwei sehr unter-
Die mit Abstand am besten untersuchte Therapie- schiedlichen Therapieformen. Sie hatten bei Menschen
form ist die kognitive Verhaltenstherapie (KVT). Das mit Posttraumatischer Belastungsstörung die Wirkung
liegt zum Teil daran, dass es bei ihr zum üblichen Vor- einer kognitiven Verhaltenstherapie mit der von EMDR
gehen gehört, die Fortschritte eines Patienten anhand verglichen (von englisch: eye movement desensitization
geeichter Fragebogen zu bewerten, statt sich wie etwa and reprocessing). Bei Letzterer führen die Betroffenen
manche tiefenpsychologischen oder humanistischen geleitete ­Augenbewegungen aus, während sie sich an ihr
Schulen einer empirischen Überprüfung zu verweigern. traumatisches Erlebnis erinnern. (Die Teilnehmer waren
Unter dem Strich fühlen sich etwa die Hälfte der mit Opfer des Erdbebens in Mittelitalien 2002.) Die Metho-
­einer KVT behandelten Personen danach besser; eine de führt recht zuverlässig zu einer gewissen Linderung
vollständige Heilung (»Remission«) ist hingegen sehr und wird von der WHO zur Traumatherapie empfohlen.
selten. Umgekehrt bedeutet das auch: Rund jeder zwei- Unklar ist aber bis heute, inwiefern die Augenbewegun-
te Patient profitiert eben nicht. gen die emotionale Verarbeitung beeinflussen.

GEHIRN&GEIST 31 1 2 _ 2 0 2 3
PSYCHOTHER APIE

erklärt der britische Psychotherapeut Adam Jones. Das


passt zu der länger bekannten Tatsache, dass manche
Behandler mit der gleichen Methode deutlich bessere
Resultate erzielen als andere.
GALINA VETERTSOVSKAYA / GETTY IMAGES / ISTOCK

Bereits vor rund 50 Jahren, 1974, suchte der Psycho-


loge David Ricks von der Harvard University nach dem
Erfolgsrezept von Therapeuten, denen es gelang, verhal-
(SYMBOLBILD MIT FOTOMODELLEN)

tensauffällige Jugendliche wieder »auf Spur« zu bringen.


Einer bekam von seinen minderjährigen Klienten sogar
den Spitznamen »Supershrink«. Lediglich ein Viertel
der von ihm behandelten Kids entwickelten im Erwach-
senenalter eine psychotische Störung, deutlich weniger
als bei jenen, die einen anderen Psychiater oder Psycho-
logen hatten. Dass manche Therapeuten offenbar mehr
»Laut Studien übt nicht das Fortune besitzen als andere, schien damit belegt – nur
Therapiemodell, sondern was die erfolgreichen konkret anders machten, blieb ein
Geheimnis.
die Beziehung zwischen 2019 widmete sich eine Arbeitsgruppe der American
Therapeut und Patient den Psychological Association (APA) genau dieser Frage.
Sie stellte eine Liste von insgesamt 16 Faktoren zusam-
größten Einfluss aus« men, die gemäß verschiedener Metaanalysen bessere
Behandlungsergebnisse bringen – darunter die Qualität
Adam Jones, Psychotherapeut der Beziehung zum Therapeuten, der Grad der Zu­
sammenarbeit, der Konsens über Ziele und Methoden
In der Studie von Santarnecchi und seinen Kollegen sowie das beiderseitige Einfühlungsvermögen. Keiner
wurden 31 Patienten auch im Hirnscanner untersucht, der Faktoren sei allein für den Therapieerfolg verant-
jeweils vor und nach je vier Sitzungen Verhaltensthera- wortlich, in der Summe jedoch würden sie häufig den
pie oder EMDR. Laut den Ergebnissen schlugen beide Ausschlag geben.
Behandlungen ähnlich gut an: Die klinischen Sympto-
me ließen nach, und die Verknüpfung zwischen dem Therapie für jeden
oberen medialen Schläfenlappen, der an der kognitiven Anfang 2023 äußerten die Psychiater Jacqueline Olds
Kontrolle beteiligt ist, und dem rechten temporalen Pol, und Richard Schwartz von der Harvard Medical School
einer wichtigen Schnittstelle für die emotionale Verar- in Boston eine überraschende Sorge: Demnach kann
beitung, nahm zu. die Tendenz vieler Menschen, sich eher einem Therapeu­
Beide Interventionen regulieren offenbar den Signal- ten als ihren nächsten Angehörigen mit persönlichen
austausch zwischen Hirnbereichen, die visuelle Infor- Problemen anzuvertrauen, ihre Einsamkeit verstärken.
mationen verarbeiten, und solchen, die zur Gedächtnis- Gut ausgebildete Seelenprofis verfügen zwar über mehr
bildung beitragen. Dies könnte erklären, warum die Knowhow als ungeschulte Freunde oder Verwandte,
Probanden nach der Behandlung über weniger Flash- trotzdem lasse sich das meiste alltägliche Missempfin-
backs berichteten. Dabei brechen bedrückende Erinne- den durch offene, vertrauensvolle Gespräche bereits gut
rungen plötzlich in lebhafter Form, meist verbunden lindern. Es bedarf also nicht in jedem Fall einer ausge-
mit intensiven visuellen Eindrücken, über die Betroffe- feilten Therapie.
nen herein – ein typisches Kennzeichen der Belastungs- Angesichts der zahllosen Tipps und Möglichkeiten,
störung. Allerdings fehlte in dieser Studie ebenfalls eine private Beziehungen zu verbessern oder die eigenen
Kontrollgruppe von Probanden, die für die Dauer der Gefühle in angenehmere Bahnen zu lenken, glauben
Untersuchung keine Therapie erhielt. viele, eine Therapie könne im Prinzip jedem nützen,
Zwar wäre es voreilig, aus solchen Studien zu schlie- nicht bloß Kranken. So sieht es auch der Psychologe
ßen, man könne die Unterschiede zwischen verschiede- Jones: »Psychotherapie ist mehr als nur eine Art Repara-
nen Therapien vernachlässigen. Dennoch gibt es einige tur, wenn etwas schiefläuft.« Zahlreiche Menschen wol-
Anzeichen dafür, dass der Erfolg weniger von der Me- len sich verändern oder ihr Potenzial entfalten. Eine
thode selbst abhängt als vielmehr davon, ob man über- Therapie könne in jedem Alter dabei helfen, »ungünsti-
haupt aktiv wird. Bedeutender als die zu Grunde liegen- ge Muster zu durchbrechen, bevor sie sich verfestigen«.
de Technik scheint zu sein, inwieweit man mit dem Die Psychologin Lucy Foulkes von der University of
­Therapeuten eine Allianz schmiedet. »Laut Studien übt Oxford ist da zurückhaltender. »Lange Zeit ging man
nicht das Therapiemodell, sondern die Beziehung zwi- davon aus, dass Psychotherapie schlimmstenfalls ein-
schen Behandler und Patient den größten Einfluss aus«, fach nicht funktioniert. Es wurde kaum diskutiert, ob

GEHIRN&GEIST 32 1 2 _ 2 0 2 3
sie nicht auch schaden kann.« Sie findet das erstaunlich, M E H R W I S S E N AU F
»SPEKTRUM.DE«
schließlich würde doch kaum jemand ausschließen,
dass etwa ein wirksames Medikament unter Umständen Was psychische Leiden lindert,
unerwünschte Nebeneffekte haben kann. »Diese Logik lesen Sie in unserem digitalen
sollten wir genauso auf die Psychotherapie anwenden«, ­Spektrum Kompakt »Traumata –
Wunden in der Seele«:
meint Foulkes.
Die Forschung bestätigt das: Laut einer umfassenden www.spektrum.de/shop
Datenauswertung von 2007 verschlechtert sich bei drei UNSPLASH / STEWART MACLEAN
(UNSPLASH.COM/PHOTOS/IOIFCZHU3D0)
bis zehn Prozent der Menschen nach einer Psychothera-
pie das Befinden. Ein Verfahren, das hierbei besonders
in die Kritik geriet, ist das »critical incident stress de- mit verbundenen Trend, Menschen und Gefühle zu pa-
briefing«. Dabei werden Menschen, die eine traumati- thologisieren, jedoch für bedenklich.
sche Erfahrung durchmachten, unmittelbar nach dem Selbst manche Therapeuten beobachten diese Ent-
Ereignis ermutigt, über ihre Gefühle und Erinnerungen wicklung mit Sorge. »Die Flut der TikTok-Diagnosen,
zu sprechen, um etwa verdrängte Inhalte aufzudecken. also der Selbstzuschreibungen meist junger Social-Me-
Bei einem Teil der Betroffenen verschlimmert das die dia-Nutzer, kann bestimmte emotionale Zustände als
Beschwerden allerdings dauerhaft. krankheitswertig erscheinen lassen«, erklärt die Verhal-
tenstherapeutin Sally Brown. Dass Menschen bei sich
Warum Aufklärungskampagnen auch eine und anderen mehr auf psychische Krisen und Anfällig-
Gefahr bergen keiten achten, sei einerseits zu begrüßen, denn nur so
Foulkes beobachtet zudem mögliche negative Folgen ließen sich Probleme und Fehlentwicklungen frühzeitig
von Aufklärungskampagnen unter Jugendlichen. Wird erkennen und beheben. Andererseits seien die meisten
etwa an Schulen offensiv auf Risiken für die mentale Influencer kaum therapeutisch qualifiziert, ihre Urteile
Gesundheit hingewiesen und die Aussprache darüber stützten sich oft nur auf Einzelaspekte, und ihr Rat sei
forciert – wie dies häufig exzessiv in sozialen Medien nicht unbedingt zielführend. So sehr man das eigene
geschieht, mit ­denen Teenager viel Zeit verbringen –, Gefühlsleben ernst nehmen sollte – mit Tipps wie »Geh
könnten milde Selbstzweifel oder leichtes Unbehagen mal raus, das tut dir gut« ist den schwerer Betroffenen
als gravierende psychische Störung erscheinen. kaum geholfen.
Dass die Offenheit für Fragen der seelischen Ge- Damit fragwürdige Empfehlungen Menschen nicht
sundheit ein zweischneidiges Schwert ist, glaubt auch noch tiefer in die Krise stürzen, sollte man sich verge-
Nick Haslam von der University of Melbourne (Austra- wissern, über welche Ausbildung und Erfahrung der
lien). In einem Fachartikel von 2016 wies er darauf hin, Ratgeber oder potenzielle Therapeut verfügt, und vor
dass viele psychologische Begriffe, insbesondere solche allem bei einseitigen Heilsversprechen hellhörig wer-
für negative Phänomene wie Missbrauch, Trauma, den. »Man bespricht mit Therapeuten oft sehr persönli-
Mobbing oder psychische Störungen, im Lauf der Zeit che Dinge«, so Jones. »Da sollte man demjenigen schon
stark erweitert werden. Als »concept creeps« (zu vertrauen können.« Anders gesagt: Vertrauen Sie ruhig,
Deutsch etwa »Bedeutungszuwachs«) bezeichnet man nur möglichst nicht blind! Denn Therapie ist meist kei-
es, wenn ehemals eng definierte Termini auf deutlich ne Sofortlösung, sondern ein längerer, steiniger Weg.H
harmlosere oder anders gelagerte Fälle ausgedehnt wer-
den. Haslam sieht die Hauptursache dafür in einer stär- © 2023 New Scientist Ltd.
keren Sensibilisierung der Gesellschaft. Er hält den da- Syndiziert durch Tribune Content Agency

QUELLEN

Dragioti, E. et al.: Does psychotherapy work? An umbrella review of meta-analyses of randomized controlled trials.
Acta Psychiatrica Scandinavia 136, 2017
Goodwin, G. M. et al.: From neuroscience to evidence based psychological treatments – the promise and the challenge.
European Neuropsychopharmacology 28, 2018
Olds, J., Schwartz, R.: Why don’t you take this to a friend? A question psychotherapists should ask more often.
Harvard Review of Psychiatry 31, 2023
Reinecke, A. et al.: Early effects of exposure-based cognitive behaviour therapy on the neural correlates of anxiety.
Translational Psychiatry 8, 2018
Santarnecchi, E. et al.: Psychological and brain connectivity changes following trauma-focused CBT and EMDR treatment
in single-episode PTSD patients. Frontiers in Psychology 10, 2019
Dieser Artikel im Internet: www.spektrum.de/artikel/2186001

GEHIRN&GEIST 33 1 2 _ 2 0 2 3
THERAPIEFORSCHUNG

Psychotherapie wirkt im Allgemeinen gut, heißt es. Doch wie misst


man das eigentlich?

Effekte im Visier VO N HA N NA H S C H U LT H E I S S

V
on Psychoanalyse und Verhaltenstherapie sich das etwa anhand von Entzündungsmarkern im
haben die meisten Menschen schon ein- Körper. Allerdings müssen auch hier klinische Test erst
mal gehört. Vielleicht auch von syste- einmal belegen, dass die Genesung nicht einfach spon-
mischer oder Hypnotherapie. Aber wie tan auftrat, sondern tatsächlich durch das Mittel be-
ist es mit Psychodrama? Oder Logothe- wirkt oder mindestens unterstützt wurde.
rapie? Daseinsanalyse? Und sagt Ihnen Bei psychischen Erkrankungen ist das Ganze häufig
Primärtherapie etwas? Inzwischen gibt es hunderte ver- etwas komplizierter. Das beginnt schon damit, dass die
schiedene Psychotherapieansätze und -verfahren, wo- Diagnosen weniger trennscharf sind. Viele Menschen,
bei sich viele davon unter den großen Dächern der tie- die beispielsweise unter Ängsten leiden, fühlen sich zu-
fenpsychologischen, verhaltenstherapeutischen, syste- gleich minderwertig und antriebslos oder neigen mit-
mischen oder humanistischen Schulen eingruppieren unter zu Wutattacken oder selbstverletzendem Ver­
lassen. Einige Methoden wie die kognitive Verhaltens- halten. Leidet ein solcher Betroffener nun an einer
therapie sind hinsichtlich ihrer Wirksamkeit gut er- Angststörung, an einer Depression oder an einer Im-
forscht, andere dagegen kaum oder gar nicht. pulskontrollstörung – oder an allen dreien? Sich über-
Die Effekte von Psychotherapie zu untersuchen, ist in lappende oder parallel auftretende Anzeichen verschie-
den letzten Jahren immer mehr zum Standard gewor- dener Erkrankungen sind bei seelischen Störungen
den, so dass die Zahl der Veröffentlichungen in diesem nicht die Ausnahme, sondern die Regel.
Bereich rasant anstieg. Viele davon drehen sich um die
Frage, wann ein Verfahren eigentlich als wirksam gelten Vom Durchschnitt zum Einzelfall
kann. Woran lässt sich das messen? Sodann fragt sich: Worauf genau geht eine Linderung
Bei körperlichen Erkrankungen erscheint uns das im Einzelfall zurück? Die Krux dabei ist, dass dies von
meist trivial: Kommt ein Patient etwa mit einer Mandel- Patient zu Patient unterschiedlich sein kann, sich die
entzündung zum Arzt, so stellt dieser nach einem Blick Wirksamkeit einer Methode aber nur im Mittel über
in den schmerzenden Hals die entsprechende Diagnose viele Studienteilnehmer erfassen lässt, die man mit so
und verschreibt vermutlich ein Antibiotikum. Als wirk- genannten Kontrollprobanden vergleicht. Was im
sam gilt das Medikament, wenn die Entzündung nach Gruppendurchschnitt gut anschlägt, muss nicht unbe-
vorgeschriebener Einnahme zurückgeht und die dingt bei jedem einzelnen Betroffenen funktionieren.
Schmerzen verschwinden. Physiologisch messen lässt »Was eine bestimmte Psychotherapie bringt, kann
man an unterschiedlichen Parametern festmachen«, er-
klärt Fabian Rottstädt. Er leitet die Lehr- und For-
schungsambulanz am Lehrstuhl für Klinische Psycholo-
gie der Universität Jena. »Als wirksam gelten in der Regel
Verfahren, die einen oder besser noch mehrere empiri-
sche Wirkungsnachweise erbracht haben.« Einen sol-
U N S E R E AU TO R I N chen Nachweis liefern Studien – und zwar im Idealfall
Hannah Schultheiß ist Psychologin und randomisierte, kontrollierte Doppelblind-Interventions-
Wissenschaftsjournalistin in Berlin. studien mit einer ausreichenden Zahl an Teilnehmern.

GEHIRN&GEIST 34 1 2 _ 2 0 2 3
ANDREYPOPOV / GETTY IMAGES / ISTOCK (SYMBOLBILD MIT FOTOMODELL

HAND DRAUF? | Bei manchen körperorien-


tierten Therapien sind Berührungen zwischen
Patient und Behandler üblich. Ob sie lindernd
wirken, muss man empirisch prüfen.

GEHIRN&GEIST 35 1 2 _ 2 0 2 3
Auf einen Blick: Die Kunst des Testens

1 2 3
Zu prüfen, ob und wie sehr eine Näheren Aufschluss liefern Werden methodische Stan-
Heilmethode anschlägt, ist wich- standardisierte Vorher-nach- dards unterlaufen, kann dies zu
tig – denn oft lindern schon her-Tests. Dabei ist unter Verzerrungen führen. Insge­
das Vergehen der Zeit, empathische anderem auf zufällige Verteilung samt wirkt Psychotherapie zwar gut,
Zuwendung und soziale Unterstüt- der Patienten auf eine Behandlungs- jedoch gibt es von Fall zu Fall
zung seelische Probleme. und eine Kontrollgruppe zu achten. große Unterschiede.

Diese so genannten RCT-Studien (von englisch ran- nur 10 oder 20 Personen einzelne Ausreißer bereits eine
domized controlled trials) gelten als Goldstandard der Wirksamkeit suggerieren, die gar nicht gegeben ist.
Wirksamkeitsforschung. Eine solche Untersuchung Daher zieht man statt der bloßen Signifikanz oft die
sieht beispielsweise so aus: Patienten, die an einer De- so genannte Effektstärke als Beurteilungsmaßstab in
pression leiden, werden per Zufallslos jeweils einer von Betracht. In diesen statistischen Kennwert fließt die
zwei Gruppen zugewiesen, der Interventions- oder der Zahl der Probanden mit ein. Die Effektstärke gibt nicht
Kontrollgruppe. Dieses Zufallsprinzip, die »Randomi- nur Auskunft darüber, ob sich die Gruppen unterschei-
sierung«, soll verhindern, dass andere Faktoren wie die den, sondern auch wie sehr. Eine Effektstärke d von 0,2
Herkunft der Personen oder der Grad ihrer Symptome gilt hier als schwach, 0,5 als mittel und ab 0,8 als groß.
die Aufteilung in Gruppen beeinflussen und so die Re- Eine Metaanalyse, die ein Team um Kate Wolitzky-
sultate systematisch verzerren. Die Schwere der Störung Taylor von der University of Texas in Austin 2008 veröf-
jedes einzelnen Probanden wird nun anhand eines stan- fentlichte, untersuchte die Wirksamkeit von Psychothe-
dardisierten Fragebogens erhoben. Die Therapiegruppe rapie bei Phobien. Die Effektstärke der Behandlung be-
wird nach den Regeln des zu testenden Verfahrens be- trug d = 1,05, was einer großen Veränderung entspricht.
handelt. Die andere bekommt zunächst entweder gar Zugleich brachte es die Placebobehandlung jedoch auf
keine Behandlung (Wartegruppe) oder erhält ein Place- einen mittleren Effekt von 0,48 gegenüber einer reinen
bo. Hierbei spricht man mit denjenigen etwa über ihr Wartegruppe. Die Symptome verbesserten sich also in
Befinden und ihre Probleme, ohne dabei jedoch eine beiden Fällen, nach der regelgerechten Therapie fiel die
dezidierte Therapiemethode einzusetzen. Diese zweite Wirkung aber noch einmal deutlich stärker aus.
Gruppe fungiert als Kontrollgruppe. Dabei muss man wissen, dass Phobien als die am
Wichtig ist neben der zufälligen Verteilung, dass die besten zu behandelnden Störungen gelten. Was Ängste
Probanden nicht erfahren, ob sie eine echte Therapie er- lindert, muss bei Depression, Posttraumatischer Belas-
halten. Am besten wissen selbst die Studienleiter nicht, tungsstörung oder gar einer Persönlichkeitsstörung wie
wer in welcher Gruppe ist, denn auch das kann die Aus- Borderline oder Narzissmus längst noch nicht funktio-
wertung verzerren. Hierbei spricht man von einem nieren. Jede Problemlage erfordert eine eigene, metho-
Doppelblind-Verfahren. disch saubere Prüfung.
Eine weitere Frage betrifft die Nachhaltigkeit der er-
Kritischer Faktor Probandenzahl zielten Veränderungen. Der US-amerikanische Thera-
Nach der Intervention werden die Teilnehmenden er- pieforscher Kenneth Howard definierte bereits vor gut
neut zu ihren Symptomen befragt. Nun prüft man, ob 30 Jahren gemeinsam mit Kollegen drei Phasen psycho-
sich die beiden Gruppen hinsichtlich der Schwere un- therapeutischer Prozesse. Die erste ist demnach die Re-
terscheiden. Und zwar sowohl zwischen den beiden moralisierung, in der das subjektive Wohlbefinden im
Gruppen als auch im Verlauf vom ersten zum zweiten Mittelpunkt steht. Es folgt die Remediation, in der spe-
Erhebungszeitpunkt. Ist die Differenz statistisch groß zifische Störungsanzeichen, die Symptome, zurückge-
genug, ist das Ergebnis signifikant – die Intervention hen. In der Rehabilitation wiederum steht die allgemei-
war offenbar erfolgreich. ne Funktionsfähigkeit im Alltag sowie die soziale Un-
Das Ganze steht und fällt allerdings mit der Zahl der terstützung im Fokus. Gemäß diesem Modell muss eine
Probanden: Bei sehr großen Stichproben, wenn die Psychotherapie idealerweise Anpassungen auf allen drei
Gruppen also besonders viele Teilnehmer umfassen, Ebenen anstoßen. Der Patient sollte also subjektiv Er-
können schon minimale Unterschiede statistisch signi- leichterung verspüren, die Symptome sollten zurückge-
fikant werden. Dies ist in der Praxis zwar eher selten der hen oder ganz verschwinden, und er sollte den Alltag
Fall, denn sehr viele Teilnehmer machen eine Untersu- mit weniger Schwierigkeiten bewältigen können.
chung besonders langwierig und teuer. In jüngerer Zeit In empirischen Studien wird die Wirksamkeit hinge-
jedoch kommen etwa bei niedrigschwelligen Online­ gen oft nur auf einer Ebene betrachtet, zum Beispiel im
befragungen durchaus Tausende von Daten zusammen. Hinblick auf die Symptomlage. Dazu nutzt man meist
Umgekehrt können bei allzu kleinen Stichproben von spezielle Fragebögen, die es inzwischen für fast alle psy-

GEHIRN&GEIST 36 1 2 _ 2 0 2 3
THER APIEFORSCHUNG

chischen Erkrankungen gibt. Bei Depressionen ist etwa dazu, die Wirkung auf gesellschaftlicher oder ökonomi-
das Beck-Depressions-Inventar (BDI) gebräuchlich. Es scher Ebene zu ermitteln«, erklärt Rottstädt.
fragt Symptome ab wie »Ich habe Schuldgefühle«, wo- Eine ambulante Kurzzeittherapie kostet die Kran-
bei die Patienten die Häufigkeit des Zutreffens auf einer kenkassen im Schnitt rund 3000 Euro. Da die mittel-
Skala von »nie« bis »fast immer« einschätzen. und langfristigen Einsparungen in der Regel um einiges
»Das Problem mit solchen Instrumenten ist: Je allge- höher ausfallen, lohnt sich die seelische Behandlung für
meiner die Fragebögen, desto weniger lässt sich ein- die Kassen unter dem Strich meist. Das liegt zum einen
schätzen, was genau zum gegenwärtigen Befinden des daran, dass sich Arbeitnehmer nach einer Psychothera-
Patienten beitrug«, sagt Ilona Croy, Klinische Psycholo- pie seltener krankmelden oder in Frühruhestand gehen.
gin an der Universität Jena. Während etwa Antriebslo- Außerdem gehen Menschen mit unbehandelten psychi-
sigkeit oder Schuldgefühle recht eng mit einer depressi- schen Erkrankungen übermäßig häufig zum Arzt. So
ven Erkrankung zusammenhängen, wird das generelle kann ein Patient mit einer unbehandelten Panikstörung
Wohlbefinden noch von vielem anderen beeinflusst, seine Attacken mit einem Herzinfarkt verwechseln und
zum Beispiel von der Partnerschaft oder Belastungen daher eine Notaufnahme aufsuchen. Eine Psychothera-
im Job. pie könnte ihn über seine wahre Erkrankung aufklären
und dazu führen, dass dem Gesundheitssystem insge-
Unterschiedliche Designs und Parameter samt weniger Kosten entstehen.
Bei dem Versuch, Wirksamkeit zu messen, kann man Eine weitere Betrachtungsebene bieten so genannte
unterschiedlich harte Kriterien anlegen. Grundsätzlich Biomarker. Sie zeigen an, ob sich im Zuge einer Psycho-
unterscheidet man experimentelle und quasiexperimen­ therapie körperliche Veränderungen einstellen. So of-
telle Studien. Die experimentellen Designs vergleichen fenbaren Hirnscans Veränderungen vor und nach einer
den seelischen Zustand von Betroffenen vor und nach Therapie, etwa bei der Größe oder Durchblutung von
einer Therapie (der Intervention), wobei man Bedin- Hirnarealen oder deren Vernetzung (Neuromarker).
gungen wie Alter, Schweregrad oder die Lebensumstän- »Das Problem ist, dass Hirnnetzwerke von sehr vie-
de der Betreffenden möglichst vergleichbar hält. Dieses lem beeinflusst werden. Daher ist die Streuung der Da-
Vorgehen ist besonders geeignet, um kausale Zusam- ten groß und die Effekte klein«, sagt Ilona Croy. Neuro-
menhänge aufzuklären – also zu zeigen, ob wirklich die marker dienten momentan vor allem dazu, das Gehirn
Therapie der Grund ist, wenn es Patienten besser geht. besser zu verstehen. »Die Übereinstimmung der Resul-
Krankenkassen oder Kliniken machen die Therapie- tate aus Fragebogen und Scans liegt oft nur wenig über
wirksamkeit dagegen oft an anderen Parametern fest, der statistischen Zufallswahrscheinlichkeit. Da ist es
etwa der Zahl an Fehltagen oder der Einschränkung der derzeit noch billiger und genauer, man fragt die Person
Arbeitsfähigkeit. Oder sie stellen Abschätzungen darü- einfach: Wie geht es Ihnen?«, erläutert Croy.
ber an, welche weiteren Behandlungskosten eine Psy- Ebenfalls eher selten werden andere Biomarker er-
chotherapie einzusparen hilft. »Solche Maße dienen fasst, etwa die parasympathische Aktivität oder Herzra-

Wie ein RCT (randomized controlled trial) abläuft


Intervention
Symptome unverändert /
verschlechtert
Therapieverfahren

Symptome verbessert

Gesamtbevölkerung Stich-
Zufallsverteilung und ggf. Verblindung
probe

Symptome unverändert /
verschlechtert
Placebo- oder Wartegruppe
GEHIRN&GEIST

Symptome verbessert

GEHIRN&GEIST 37 1 2 _ 2 0 2 3
THER APIEFORSCHUNG

tenvariabilität. An der Universität Trier setzen Forscher der Konfrontation mit eigenen Problemen? Oder an der
hierzu Smartwatches und Stressarmbänder ein. Diese positiven Zuwendung? Um die speziellen Wirkmecha-
messen im Verlauf einer Therapie, wie sich das Stressni- nismen zu eruieren, kommen statistische Methoden
veau der Patienten entwickelt. wie die Komponentenanalyse zum Einsatz. Diese ver-
Neben den experimentellen Designs gibt es wie er- gleicht eine Therapie mit einer ähnlichen, nur in einem
wähnt quasiexperimentelle Studien. Hier werden eben- einzigen Bestandteil veränderten Behandlung. Ein Bei-
falls zwei Gruppen miteinander verglichen, allerdings spiel wäre eine Verhaltenstherapie bei Phobien, die mal
ohne die Teilnehmer zufällig zu verteilen. »Dafür kön- mit und mal ohne Exposition arbeitet. Nach jeder Sit-
nen solche Erhebungen unter Routinebedingungen ge- zung füllen Patient und Therapeut Fragebögen aus,
testet werden. Unterschiede zwischen Gruppen kont- auch computerbasierte Auswertungen wie Sprachanaly-
rolliert man dann statistisch«, sagt Wolfgang Lutz, der sen spielen eine wachsende Rolle.
an der Universität Trier die Abteilung für Klinische Psy- Personalisierung ist derzeit die wohl größte Baustelle
chologie und Psychotherapie leitet. »So lässt sich prüfen, in der Wirksamkeitsforschung. Denn immer noch be-
ob sich in der Praxis mit den gegebenen Verfahren tat- schränken sich die meisten Studien darauf, Gruppen zu
sächlich Fortschritte erzielen lassen.« vergleichen statt Individuen. »Wenn einige Patienten
stark von der Therapie profitieren, andere aber nicht
Auf dem Weg zur individualisierten Therapie oder sich sogar verschlechtern, bleibt der Gruppenun-
Das Buch »Bergin and Garfield’s Handbook of Psycho- terschied dennoch signifikant«, erklärt Therapiefor-
therapy and Behavior Change« fasst seit 1971 regelmä- scher Rottstädt. Daher entwickelten klinische Psycholo-
ßig etwa alle acht Jahre aktuelle Erkenntnisse zur Wirk- gen neue Messgrößen wie den so genannten Reliable
samkeit von Psychotherapie zusammen. Wolfgang Lutz Change Index (RCI). »Bei einer Effektstärke von 0,7
arbeitete gemeinsam mit Michael Barkham und Louis kann der RCI zum Beispiel 45 Prozent betragen. Das
Castonguay an der derzeit gültigen Version, die im Ok- heißt, 45 Prozent der Behandelten haben sich klinisch
tober 2021 erschien. Darin lautet eine zentrale Frage: relevant verändert. Die Wahrscheinlichkeit für den Ein-
Wie kann man die Psychotherapie weiter individualisie- zelnen, dass es ihm nach der Therapie besser geht, liegt
ren? Denn nicht bei jeder Person wirkt dieselbe Metho- folglich bei 45 Prozent.«
de in gleicher Weise. »In den letzten Jahren ist immer In dem Bestreben, die Psychotherapie weiter zu per-
deutlicher geworden, dass der Erfolg einer Therapie sonalisieren, entwickelte ein Team an der Universität
maßgeblich von individuellen Patientenfaktoren wie Trier einen so genannten Therapie-Navigator. Dabei
dem Grad der Belastung und Chronifizierung sowie wird nach jeder Sitzung der Fortschritt des Patienten er-
von der Beziehung zum Therapeuten abhängt«, so Lutz. fasst. Ein Algorithmus gleicht die Ergebnisse mit Daten
Auch Fabian Rottstädt betont, wie wichtig es ist, eine ehema­liger Patienten ab und identifiziert Risiken für ei-
Psychotherapie auf die Bedürfnisse der Betroffenen an- nen ungünstigen Verlauf – etwa sich verschlechternde
zupassen. Trotz des Booms an Publikationen haben sich Symptome oder Anzeichen für einen Therapieabbruch.
die Effektstärken seit den 1990er Jahren nicht wesent- Ab einer gewissen Schwelle wird der Therapeut automa-
lich verändert. »Werte von 0,7 hat man schon vor tisch benachrichtigt und bekommt sogar Tipps, an wel-
30 Jahren gefunden, allerdings sind die Verfahren heute cher Stellschraube er ansetzen kann, um die Motivation,
viel differenzierter. Dass die Wirksamkeit sich trotzdem die therapeutische Beziehung oder andere Ressourcen
nicht verbesserte, ist unbefriedigend«, meint Rottstädt. des Patienten zu stärken. »Zu wissen, was wirkt, ist
Und selbst wenn die Patienten im Durchschnitt pro- wichtig«, so Fabian Rottstädt. »Denn nur wenn klar ist,
fitieren, bleibt offen, worauf das zurückgeht. Liegt es an was in einer Psychotherapie hilft, lässt sich das auch in
der Allianz mit dem Therapeuten? An der Methode? An der Ausbildung gezielt vermitteln.«  H

QUELLEN

Barkham, M. et al. (Hg.): Bergin and Garfield’s handbook of psychotherapy and behavior change. Wiley, 2021
Kazdin, A. E.: Understanding how and why psychotherapy leads to change. Psychotherapy Research 19, 2009
Lutz, W. et al.: Psychotherapieforschung. In: Rief, W. et al. (Hg.):
Psychologische Psychotherapie. Ein kompetenzorientiertes Lehrbuch. Elsevier, 2021, S. 855-868
Schmacke, N.: Evidenzbasierte Medizin und Psychotherapie: Die Frage nach den angemessenen
Erkenntnismethoden. Psychotherapie, Psychosomatik, Medizinische Psychologie 56, 2006
Wolitzky-Taylor, K. B. et al.: Psychological approaches in the treatment
of specific phobias: A meta-analysis. Clinical Psychology Review 28, 2008
Dieser Artikel im Internet: www.spektrum.de/artikel/2186004

GEHIRN&GEIST 38 1 2 _ 2 0 2 3
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THERAPIE KOMPAKT

DRAGANA991 / GETTY IMAGES / ISTOCK (SYMBOLBILD MIT FOTOMODELLEN)


Verhaltenstherapie
Goldstandard – aber nicht für alle

D
ie kognitive Verhaltenstherapie (KVT) gilt als das bei schwarzen Teilnehmerinnen und Teilnehmern
Behandlung der ersten Wahl für eine Reihe erfolgreicher verlief, wenn spezifisch für sie relevante
psychischer Probleme. Das scheint aber nicht Themen integriert wurden – etwa das historisch
unbedingt für Patienten zu gelten, die einen Migrati- bedingt geringere Vertrauen von Afroamerikanern in
onshintergrund haben oder einer ethnischen Minder- das US-Medizinsystem, Stressoren wie Diskriminie-
heit angehören. Darauf weist eine Forschungsgruppe rung oder der Einfluss der Nachbarschaft auf das
um Stanley Huey von der University of Southern eigene Verhalten. Chinesisch-amerikanische Patienten
California in einer Übersichtsarbeit hin. mit Depression profitierten davon, wenn in der
Zwar sei die KVT bei Minderheiten wie Afroameri- Therapie auf Unterschiede zwischen dem westlichen
kanern und Menschen asiatischer Abstammung Krankheitsmodell und dem der traditionellen chinesi-
grundsätzlich wirksam, so die Fachleute. Es gebe schen Medizin eingegangen wurde, Stigmatisierung
jedoch Hinweise darauf, dass weiße Patienten von und somatische Aspekte einer Depression besprochen
einer Therapie stärker profitieren. Zudem fehle es an sowie kulturell relevante Metaphern und Weisheiten
ausreichender Evidenz für die Wirksamkeit der KVT integriert wurden.
bei Patienten mit Migrationshintergrund, die an Viele Untersuchungen legen außerdem nahe, dass
bestimmten Störungsbildern wie Autismus-Spektrum- weiße Therapeuten Vorurteile gegen Angehörige
Störungen, bipolarer Störung oder Essstörungen leiden. ethnischer Minderheiten hegen. Vier von fünf Psycho-
Ein Grund für die schlechtere Wirksamkeit schei- therapiepatienten mit Migrationshintergrund berichten,
nen kulturell bedingte Vorurteile gegenüber Psycho- sich während der Behandlung zumindest subtil
therapie zu sein. Angehörige ethnischer Minderheiten diskriminiert gefühlt zu haben. Auch dass Schwarze in
nehmen seltener eine Therapie in Anspruch, auch den USA überproportional häufig eine Schizophrenie-
wenn man ihren sozioökonomischen Status berück- diagnose erhalten, aber seltener die einer Depression,
sichtigt. Studien zeigen, dass sie weniger an die dürfte auf Stereotype zurückgehen. Ein größere Zahl an
Wirksamkeit der Behandlung glauben und sich Therapeuten, die selbst einen Migrationshintergrund
tendenziell lieber auf ihr soziales Netz aus Familie, haben oder in kultureller Sensibilität trainiert werden,
Freunden und spirituellen oder religiösen Führern könnten dabei helfen, Ungleichheiten in der Versor-
verlassen. gung von psychischen Leiden zu bekämpfen, schluss-
Werden KVT-Protokolle entsprechend angepasst, folgern die Autoren.
kann das zu besseren Ergebnissen führen. Das zeigte Annual Review of Clinical Psychology 10.1146/
etwa ein Rauchentwöhnungsprogramm in den USA, annurev-clinpsy-080921-072750, 2023

GEHIRN&GEIST 40 1 2 _ 2 0 2 3
Autor dieser Rubrik: Joachim Retzbach

Emotionsregulation
Gefühle beeinflussen lernen

S
chwierigkeiten bei der Gefühlskontrolle gehen oft In den übrigen Studien lag der Fokus auf dem lang­
Hand in Hand mit psychischen Störungen. Eine fristigen Lernen. Die Versuchsteilnehmer und -teilneh-
aktuelle Übersichtsarbeit hat zusammengefasst, merinnen übten über Wochen oder Monate, »uner-
welche Strategien zur Stärkung dieser Fähigkeit in der wünschte« Emotionen auch im Alltag zuzulassen. Zudem
Therapie vermittelt werden können. trainierten sie Strategien wie die Neubewertung von
Das Team um den japanischen Psychologen Shigeru Situationen oder gedanklich einen Schritt zurückzu-
Iwakabe von der Ritsumeikan-Universität in der Nähe treten, um Abstand zu einer Sache zu gewinnen. Diese
von Osaka analysierte 38 zuvor veröffentlichte Studien Übungen halfen auf Dauer, die eigenen Gefühle besser
aus den Jahren 1986 bis 2022 mit insgesamt mehr als wahrzunehmen und zu akzeptieren, statt sie unter­
1000 Probandinnen und Probanden. Einigen Untersu- drücken zu wollen.
chungen zufolge hat die Anwendung von Regulations- Das Zulassen starker Emotionen sei nicht immer un-
strategien in einer Therapiesitzung unmittelbare problematisch, schränken die Fachleute ein. Für Patien-
Auswirkungen: Die Teilnehmenden sollten zunächst ten mit Störungen der Impulskontrolle oder mit Erkran-
Gefühle zulassen, vor denen sie sich fürchteten, etwa kungen wie Psychosen könne es sogar kontraproduktiv
Trauer oder Selbstmitgefühl. Diese komplexeren, oft sein. Generell scheint ein Training der Emotionsregula­
schmerzhaften Emotionen in vollem Umfang zu akzep- tion aber nicht mehr unerwünschte Wirkungen zu haben
tieren, führte bei vielen Probanden dazu, dass sie als andere psychotherapeutische Interventionen.
anschließend positive Gefühle erlebten. Psychotherapy Research 10.1080/10503307.2023.2183155, 2023

Soziale Medien
Selbstoffenbarung im Netz

D
amit eine Therapie erfolgreich ist, müssen Solche mit sicherer Bindung und einer positiveren
Patientinnen und Patienten manchmal intime Einstellung gegenüber Psychotherapie hielten die
Einblicke in ihr Seelenleben gewähren. Manche, persönliche Aussprache im Praxisraum am ehesten für
denen das schwerfällt, offenbaren persönlich belasten- hilfreich. Unter jenen, die ihre Probleme ins Internet
de Gedanken stattdessen aber im Internet. Die Psycho- trugen, taten dies vor allem Männer und Befragte mit
logen Gus Mayopoulos und Barry Farber von der geringerem Einkommen in nicht anonymer Form. Wer
Columbia University in New York City wollten diesem dagegen ein höheres Bildungsniveau aufwies, besprach
Phänomen auf den Grund gehen. persönliche Themen im Netz lieber anonym, beispiels-
Die 443 Teilnehmenden füllten eine Reihe von weise in Foren wie Reddit.
Fragebögen unter anderem über ihre Psychotherapie- Insbesondere wenn junge, onlineaffine Klienten mit
Erfahrungen und ihre Kommunikation auf Social Media einem vermeidenden und ambivalenten Bindungsstil in
aus. 36 Prozent aller Befragten hatten bereits unter der Therapie wenig Privates preisgeben, lohne es sich
ihrem echten Namen im Internet ein für sie persönlich nachzuhaken, empfehlen die Wissenschaftler. Gemein-
belastendes Thema angesprochen, genauso viele hatten sam könne man klären, warum sie die Therapie nicht als
das anonym getan. Vor allem Probanden mit unsiche- den geeigneten Raum ansehen, um bestimmte Probleme
rem und vermeidendem Bindungsstil offenbarten ihren anzusprechen.
Onlinefreunden und Followern Persönliches. Psychotherapy Research 10.1080/10503307.2023.2256954, 2023

Fehltage auf Grund psychischer Störungen 2021 waren sieben Prozent der Erwerbs-
tätigen in Deutschland mindestens einmal wegen einer psychischen Störung
arbeits­unfähig. Fast die Hälfte der Fehlzeiten entfiel auf Depressionen, ein Fünftel
ging auf »Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen« zurück.
BARMER Gesundheitsreport 2023

GEHIRN&GEIST 41 1 2 _ 2 0 2 3
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CHRONOBIOLO GIE

KIEFERPIX / GETTY IMAGES / ISTOCK


Die innere Uhr tickt in der Pubertät offenbar anders.
So werden Teenager oft erst nach Mitternacht
müde und fühlen sich morgens nicht fit. Woran liegt das?

Verschlafene
Jugendliche
VON CAROLIN REICHERT UND CHRISTIAN CAJO CHEN

GEHIRN&GEIST 44 1 2 _ 2 0 2 3
KIEFERPIX / GETTY IMAGES / ISTOCK

W
ieder gibt es Streit, wie jedes
Wochenende. Es ist Samstag,
14 Uhr, und der 15-jährige Luis*
liegt zum Ärger seiner Eltern
immer noch wie erschlagen im
Bett. Kein Wunder, sagt seine
Mutter. Im Lauf der Schulwoche hat er ein erhebliches
Schlafdefizit angesammelt. Vor ein, mitunter auch zwei
Uhr nachts schläft er selten ein. Früher werde er nun
einmal nicht müde, erklärt Luis. Doch fünf, maximal
sechs Stunden Schlaf unter der Woche sind zu wenig.
Morgens hilft alles Schimpfen nichts, der Neuntklässler
ist einfach nicht wach zu bekommen. Meist wälzt er
sich dann in letzter Minute aus dem Bett: »Mama,
bringst du mich mit dem Auto zur Schule? Sonst kom­
me ich eben zu spät …« Am Nachmittag schläft Luis oft
nochmals für ein bis zwei Stunden ein. Erst am Abend
läuft er zu Hochform auf, macht Hausaufgaben, lernt
ein bisschen für die am nächsten Tag anstehende Klas­
senarbeit, chattet mit Freunden. Um 23 Uhr ist er dann
hellwach: Jetzt ist die perfekte Zeit, um mit den Eltern
über das Leben zu diskutieren – findet er. Die sind aller­
dings seit halb sieben auf Achse und bettreif.
Es kriselt in der Familie. Die Mutter ist der Meinung,
es gehöre ein abendliches oder mindestens nächtliches
Medienverbot her. Sie macht sich Sorgen um Luis’
Schulnoten, noch mehr aber um seine Gesundheit. Der
Vater dagegen ist überzeugt, die Einsicht müsse von
Luis selbst kommen. Das Wichtigste sei, in der schwie­
rigen Phase der Pubertät die gute Beziehung zum Sohn
aufrechtzuerhalten.
Was ist mit Luis los? Ist sein chaotisch anmutender
Schlafrhythmus nur eine Folge fehlender Disziplin, wie
seine Großeltern behaupten? Hat er körperliche Ursa­
chen – oder liegt es an der Nutzung der elektronischen
Medien?
Viele Faktoren bestimmen, wann jemand einschläft
und wie gut und wie lange er schläft. Neben situativen
Einflüssen wie Aufregung und Stress ist daran auch
­unsere so genannte innere Uhr beteiligt. Ihr wichtigster
Taktgeber liegt im Gehirn im vorderen Teil des Hypo­
thalamus. Er generiert einen »zirkadianen Rhythmus«,
also einen Ablauf, der sich ungefähr alle 24 Stunden
wiederholt (lateinisch: circa = ungefähr, dies =Tag).
Selbst wenn wir ohne Uhr, ohne Tageslicht und ohne
tagesstrukturierende Abläufe in einem Bunker lebten,
würde ein Takt beibehalten, der je nach genetischer Ver­
anlagung individuell zwischen 23 und 25 Stunden vari­
UNSERE EXPERTEN
iert. Ihm folgt auch das Auf und Ab diverser Hormone
Carolin Reichert ist stellvertretende Leiterin des im Körper. Einer der prominentesten Vertreter ist wohl
­Zentrums für Chronobiologie an den Universitären das Melatonin, das so genannte Dunkelhormon, das
Psychiatrischen Kliniken und der Universität Basel. durch seinen allabendlichen Anstieg das Einschlafen
Christian Cajochen ist dort Professor und leitet das
Zentrum für Chronobiologie. Als Direktor der Integra­
­erleichtert (siehe dazu »Zeiger für den Schlaf«). Daher
tive Human Circadian Daylight Platform (iHCDP) bezeichnen wir den Zeitpunkt, zu dem sich die Mela­
will er die Erkenntnisse aus der Tageslichtforschung zur toninkonzentration erhöht, mitunter als »Öffnung des
Verbesserung der Lebensqualität nutzbar machen. Tors zur biologischen Nacht«.

* Name geändert
Auf einen Blick: Was beeinflusst die Einschlafzeit?

1 2 3
Mit Beginn der Pubertät ver­ Jugendliche bauen im Lauf des Wegen des frühen Unterrichts­
stellt sich die innere Uhr – des­ Tages möglicherweise weniger beginns leiden viele junge
halb werden Teenager abends »Schlafdruck« auf als Kinder Menschen unter einem extre­
später müde. Auch bei einigen oder Erwachsene. Aufregung, men Schlafmangel. Geht ihre
Säugetieren verschieben sich in der Koffein und helles Licht am Abend innere Uhr zu sehr nach, können
Adoleszenz die Schlaf-wach-Zeiten. bergen die Gefahr, das Einschlafen Lichttherapie, Melatoningabe und
zusätzlich zu verzögern. Lebensstiländerungen helfen.

Ohne äußere »Zeitgeber« würde die innere Uhr eines Anders als bei vielen Tierversuchen läuft die Daten­
Menschen der exakten 24-Stunden-Rotation unseres sammlung nicht automatisiert ab, vielmehr muss jede
Planeten also bald vorangehen oder ihr hinterherhin­ Versuchsperson intensiv aufgeklärt und individuell be­
ken. Unter natürlichen Lebensbedingungen jedoch syn­ treut werden. Regelmäßig suchen wir Freiwillige, die
chronisiert sie sich beständig mit der Erdumdrehung, bereit sind, am Zentrum für Chronobiologie an einer
vor allem durch die Wahrnehmung von Licht und Dun­ Studie teilzunehmen, was meist einen Aufenthalt für
kelheit. Sobald das Auge Licht detektiert, gelangt diese mehrere Tage und Nächte im Labor auf dem Campus
Information über spezifische Sinneszellen in der Netz­ der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel be­
haut direkt zur inneren Uhr. Von dort aus werden ver­ deutet (siehe Weblink S. 51). Hinzu kommt oft noch
schiedene Bereiche des Gehirns gesteuert, die für unser eine mehrtägige Vorbereitung, in der man einen be­
Schlaf-wach-Verhalten eine wichtige Rolle spielen. Set­ stimmten Schlafrhythmus einhalten soll und weder
zen wir uns dagegen am Abend hellem Licht aus, kann Koffein noch Alkohol konsumieren darf. Wenn wir
sich beim Menschen die Melatoninausschüttung etwas etwa jemanden bitten, 40 Stunden lang am Stück wach
verzögern. Darum fällt uns das Wachbleiben in hell zu bleiben oder einige Tage kürzer zu schlafen, braucht
­beleuchteter Umgebung leicht. Umgekehrt schlafen wir das schon viel Durchhaltevermögen – das wissen wir
abends schneller ein, wenn es schon dunkel ist. aus unserer eigenen Erfahrung als Versuchspersonen!
Wie die Forschung belegen konnte, ändert sich im
Aus dem Takt geraten Verlauf des Lebens die chronobiologische Taktung. Des­
Der tägliche natürliche Licht-Dunkel-Wechsel legt die halb fällt es vielen älteren Erwachsenen leicht, früh auf­
Schlaf- und Wachzeiten einer Person relativ genau fest. zustehen, anders als Jugendlichen, die morgens um halb
Gerät ihre innere Uhr nicht durch irgendetwas durchei­ sieben häufig schlecht aus dem Bett kommen. Umge­
nander, wird sie also immer zu einem für sie typischen kehrt ist es für die meisten Teenager und jungen Er­
Zeitpunkt müde, schlägt die Augen morgens stets zur wachsenen kein Problem, bis weit über Mitternacht hi­
selben Zeit auf und erreicht zu einer bestimmten Tages­ naus zu feiern, während ihre Eltern um diese Zeit schon
zeit eine gute Konzentrations- und Leistungsfähigkeit. seit Stunden gegen das Einschlafen ankämpfen. In der
Wie bei Luis scheint bei vielen Jugendlichen dieser Chronobiologie spricht man daher von unterschiedli­
gleichförmige Rhythmus aber verloren gegangen zu sein. chen Chronotypen: Jugendliche sind typischerweise
Am Zentrum für Chronobiologie der Universität Ba­ eher Spättypen (auch als »Eulen« bezeichnet); Kinder
sel erforschen wir das Zusammenspiel zwischen dem und ältere Menschen neigen dagegen zum Frühtyp
Licht-Dunkel-Wechsel und der inneren Uhr von Er­ (»Lerchen«).
wachsenen und Jugendlichen. Welchen Einfluss hat Aber warum geht die innere Uhr während der Puber­
zum Beispiel die Zusammensetzung und Art des Lichts, tät so stark nach? Sicher spielt die Biologie hier eine
der wir in der Wachzeit ausgesetzt sind, und welche wichtige Rolle: Sogar bei Tieren hat man in dieser Ent­
Rolle spielt unsere Konstitution und das Lebensalter? wicklungsphase entsprechende Veränderungen beob­
Wie wirken sich Bewegung (etwa Sport) oder Koffein­ achtet. Etliche Säuger wie Rhesusaffen, Degus, Ratten
konsum auf den Schlaf-wach-Rhythmus aus? und Mäuse zeigen ähnlich wie der Mensch zu Beginn
Die Forschung am Menschen ist aufwändig. Als typi­ oder während der Pubertät einen verspäteten zirkadia­
schen »Uhrzeiger« der inneren Uhr analysieren wir bei­ nen Rhythmus. Fachsprachlich wird das Phänomen oft
spielsweise den Melatoningehalt in Speichelproben, die mit dem englischen Begriff »phase delay« bezeichnet.
wir mehrfach wiederholt über mehrere Stunden hinweg Bei Tieren registriert man im Labor die Bewegungen
sammeln. Noch viele andere Aspekte sind von Interesse: über mehrere Tage oder Wochen und wertet die Ruhe-
Schlafstruktur und -intensität, Aufmerksamkeitsleis­ Aktivitäts-Muster aus. So ist etwa eine ausgewachsene
tung und Reaktionsvermögen, Stimmung, Motivation Ratte während der Nacht relativ durchgehend auf Ach­
und Risikobereitschaft. Es ist uns wichtig, dass die Stu­ se, vergleichbar mit einem erwerbstätigen Menschen
dien alltags- oder praxisrelevante Ergebnisse liefern. tagsüber. Vorpubertäre Ratten dagegen zeigen nachts

GEHIRN&GEIST 46 1 2 _ 2 0 2 3
CHRONOBIOLO GIE

ein so genanntes biphasisches Muster, wie ein Team um Pubertät und »delayed sleep phase syndrome« (DSPS)
Megan Hagenauer von der University of Michigan be­
Kindheit

Melatonin
obachtete: Sie beginnen zwar zur gleichen Zeit wie die DSPS
erwachsenen Tiere aktiv zu werden, legen nachfolgend Jugend
jedoch eine Pause ein und werden erst gegen Ende
der Nacht wieder umtriebig, wenn die älteren Tiere
zur Ruhe kommen. Vielleicht, so vermutet Hagenauer, 8 12 16 20 24 4 8 12 16
gewährt die zeitliche Aktivitätsverschiebung den jun­ Tageszeit
gen Nagern einen Zugang zu Nahrungsressourcen, der
Licht am Abend
zu anderen Zeiten durch aktive ausgewachsene Artge­
nossen blockiert ist. Das Verhaltensmuster der Ratten­ Verspätung

Melatonin
jugend erinnert an die abendlichen Energieschübe von durch
Jugendlichen, die viele Eltern herausfordern, weil sie zu Abendlicht
einer Tageszeit auftreten, zu der diese eigentlich gerade
»runterfahren« wollen.
8 12 16 20 24 4 8 12 16
Tageszeit
Einer ist immer wach

YOUSUN KOH, NACH CAROLIN REICHERT


Eine alternative evolutionäre Erklärung liefert die
Licht am Morgen
»Wächter-Hypothese«, die der Schlafforscher Frederick
Snyder vom US-amerikanischen National Institute of
Melatonin
Vorverschiebung
Mental Health bereits 1966 vorschlug. Da man im Schlaf durch Morgenlicht
leichter von Feinden gefressen oder überfallen wird,
­erhöht es die Sicherheit bei Gruppentieren wie Ratten
und Menschen, wenn nicht alle gleichzeitig schlafen,
8 12 16 20 24 4 8 12 16
sondern immer zumindest eine Wächterin oder ein Tageszeit
Wächter aufpasst. Eine biologisch verankerte, entwick­
lungsbedingte Verschiebung der Schlafenszeit könnte
somit einem Stamm Überlebensvorteile verschafft ha­ Zeiger für den Schlaf
ben. Bemerkenswerterweise präferieren auch junge Bestimmt man während des 24-Stunden-Zyklus
­Erwachsene bei den Hadza, einer sehr ursprünglich le­ mehrmals Melatonin (beispielsweise im ­Speichel),
benden Volksgruppe in Tansania, eher späte Schlafens­ so ergeben sich charakteristische zirkadiane
zeiten. Ein anthropologisches Forschungsteam trackte Konzentrationsprofile, die indivi­duell sowie
2017 die Bewegungen von rund 30 Mitgliedern einer abhängig vom Alter variieren (oben). So verändert
Gemeinschaft und stellte fest, dass so gut wie nie alle sich der Rhythmus der Melatoninausschüttung
gleichzeitig schliefen. mit dem Beginn der Pubertät.
Den Startschuss für die typischen Veränderungen im Die Sekretion setzt in dieser Entwicklungs­
zirkadianen Rhythmus von Jugendlichen geben wahr­ phase abends zunehmend später ein. Jugend­liche
scheinlich Sexualhormone wie Östrogene und Andro­ werden daher quasi von Natur aus abends später
gene, die mit Beginn der Pubertät freigesetzt werden. müde und wachen morgens später auf als Kinder
Blockiert man bei Tieren diesen Prozess schon vor Ein­ und auch als ältere Erwachsene – nach der Puber-
setzen der Geschlechtsreifung, gerät nicht nur die ge­ tät verlagert sich die Melatoninkurve nämlich
schlechtstypische Entwicklung ins Stocken. Ebenso we­ wieder nach vorne. Bei Jugend­lichen mit einem so
nig ändert sich die Taktung der inneren Uhr; das heißt, genannten »delayed sleep phase syndrome«
die alterstypischen Verschiebungen der Ruhezeiten (DSPS) ist die Verschiebung der Melatoninkurve
bleiben aus, wie Hagenauers Team feststellte. Das passt extrem ausgeprägt.
zu dem Ergebnis einer Befragung durch eine unserer Die Sekretion des Melatonins kann durch
Arbeitsgruppen (Cajochen), wonach Mädchen abends äußere Faktoren wie Licht beeinflusst werden. Viel
umso später ins Bett gehen, je weiter sie in ihrer körper­ Licht (insbesondere dessen Blauanteil) am Abend
lichen Entwicklung (gemessen an der ersten Regelblu­ kann die Melatoninausschüttung verzögern
tung) sind. ­(Mitte). Deshalb helfen abends Brillen mit einem
Die spezifischen Effekte der Sexualhormone auf die Blaufilter dabei, früher einzuschlafen. Helles Licht
einzelnen Komponenten des zirkadianen Systems sind am Morgen dagegen verschiebt den Beginn der
vielfältig. Tierversuche legen unter anderem eine direk­ biologischen Nacht eher nach vorne (unten). Diese
te Wirkung auf den Taktgeber im Hypothalamus nahe. Erkenntnis wird bei einer Lichttherapie genutzt,
Zudem scheinen sie auf den endogenen Rhythmus von die das zirka­diane System bei Jugendlichen mit
Nervenzellen in etlichen anderen Hirnregionen Ein­ DSPS neu justieren soll.

GEHIRN&GEIST 47 1 2 _ 2 0 2 3
Nachteile für verspätete Eulen
Zu den möglichen Folgen eines verzögerten Schlafphasensyndroms (DSPS) bei Teenagern zählen:

1. Schlechte schulische Leistungen 4. Fettleibigkeit und Stoffwechselstörungen


DSPS und sozialer Jetlag führen oft zu Tagesmüdig- Laut Studien gehen DSPS und sozialer Jetlag mit
keit und Konzentrationsschwierigkeiten, was einem erhöhten Risiko für Fettleibigkeit und ­Stoff­-
­wiederum schlechte schulische Leistungen nach sich wechselkrankheiten wie Diabetes einher. Das könnte
ziehen kann. zum Teil auf Störungen von Stoffwechsel­prozessen
2. Stimmungsschwankungen zurückzuführen sein, die auf Veränderungen im
DSPS und sozialer Jetlag können Stimmungsschwan- zirkadianen Schlaf-wach-Rhythmus beruhen.
kungen wie Reizbarkeit und Depression hervorru- 5. Schlechte Lebensqualität
fen. Dies addiert sich zu den emotionalen Herausfor- DSPS und sozialer Jetlag können sich negativ auf die
derungen, mit denen viele Jugendliche in der Ado- Lebensqualität auswirken und zu Müdigkeit, Reizbar-
leszenz ohnehin zu kämpfen haben. keit und Schwierigkeiten bei alltäglichen Aktivitäten
3. Unfallrisiko führen.
Da DSPS und sozialer Jetlag Tagesmüdigkeit bewir- 6. Störungen der Aufmerksamkeit
ken können, erhöht sich das Unfallrisiko besonders Viele ADHS-Symptome wie Konzentrationsschwie-
für Jugendliche, die Auto fahren oder schwere Ma- rigkeiten und Impulsivität können durch Schlafman-
schinen bedienen. gel verschlimmert werden.

fluss zu nehmen, etwa in Teilen der Amygdala, die zen­ Und schließlich gelingt es Jugendlichen noch aus ei­
tral an der Emotionskontrolle beteiligt ist. nem anderen Grund, länger wach zu bleiben: Sie bauen
Selbst wenn vieles darauf hindeutet, dass Androgene in der Wachphase, also im Tagesverlauf bis zum Abend,
und Östrogene den Startschuss für zirkadiane Verände­ vermutlich weniger »Schlafdruck« auf. Ergebnisse aus
rungen in der Pubertät geben, ist noch unklar, was mit Tierversuchen weisen darauf hin, dass sich im Verlauf
der inneren Uhr bei Teenagern genau passiert. Tickt sie der Wachphase eine oder mehrere Substanzen im Ge­
einfach langsamer als bei Kindern, so dass die Jugendli­ hirn ansammeln, die ab einer bestimmten Konzentra­
chen deshalb verspätet einschlafen? Die Datenlage tion zu starker Ermüdung führen. Die genauen Abläufe
spricht laut Stephanie Crowley und Charmane Eastman sind noch kaum erforscht. Ein Team um Oskar Jenni
vom Rush University Medical Center in Chicago eher von der Universität Zürich folgerte aber bereits 2005
dagegen. Die beiden Chronobiologinnen hatten 2018 aus seinen EEG-Daten von im Labor wach gehaltenen
die Schlafperioden von rund 45 Jugendlichen mit de­ Teenagern, dass diese mit zunehmendem Alter langsa­
nen von ebenso vielen Erwachsenen verglichen, die al­ mer Schlafdruck aufbauen.
lesamt fünf Tage lang im Schlaflabor ohne äußere Zeit­ Insgesamt begünstigen demnach mehrere unter­
geber ­zubrachten: Die Dauer eines Schlaf-wach-Zyklus schiedliche Faktoren gemeinsam, dass Jugendliche am
unterschied sich in den Altersgruppen nicht. Genauso Abend später einschlafen. Dies kann in Kombination
wenig ließ sich belegen, dass Pubertierende womöglich mit frühen Schulzeiten zu einem gravierenden Schlaf­
stärker als Kinder auf abendliches Licht ansprechen – defizit unter der Woche führen (siehe »Der Schuleffekt«).
im Gegenteil: Je weiter die Pubertät fortschreitet, desto Um trotz des Schlafmangels leistungsfähig zu bleiben,
schwächer reagieren sie offenbar darauf. So unterdrück­ konsumieren viele Jugendliche Koffein. Die psycho­
te nach Crowleys Ergebnissen dieselbe Lichtdosis bei aktive Substanz gilt weltweit als Wachmacher. Bringt sie
Vorpubertären die Bildung des Dunkelhormons Mela­ die innere Uhr der Heranwachsenden durcheinander?
tonin deutlicher als bei Jugendlichen, die sich mitten in Bisher gibt es kaum Studien, die sich mit der Wir­
der Pubertät befanden. kung von Koffein auf das Schlaf-wach-System bei Ju­
gendlichen beschäftigen. Eine kürzlich am Zentrum für
Warum Jugendliche mehr Ausdauer haben Chronobiologie durchgeführte Untersuchung (Rei­
Allerdings setzen sich Letztere am Abend wahrschein­ chert) bestätigte, dass 80 Milligramm Koffein – etwa so
lich wesentlich stärker und länger hellerem Licht aus als viel wie in einem viertel Liter Energydrink – im Ver­
jüngere Kinder. Vor allem, wenn Jugendliche noch spät­ gleich zu einem Placebo bei 14- bis 17-Jährigen am
abends chatten oder am PC daddeln, kann das ihre Abend durchaus ein Gefühl der Wachheit hervorrufen.
Schlafenszeit verzögern – das belegen inzwischen Dut­ Der Schlaf in der nachfolgenden Nacht erschien danach
zende Studien. Neben dem hemmenden Einfluss des allerdings erstaunlicherweise nur moderat gestört. Le­
LED-Lichts auf die Melatoninproduktion spielen dabei diglich bei einem Teil der Teenager verkürzte sich die
mit Sicherheit auch psychologische Faktoren wie Aufre­ Dauer des Tiefschlafs um wenige Prozent. Wir nehmen
gung, Anspannung und Flow-Erleben eine Rolle. an, dass hier ausgleichende Faktoren wie der über Tage

GEHIRN&GEIST 48 1 2 _ 2 0 2 3
CHRONOBIOLO GIE

akkumulierte Schlafdruck ins Spiel kommen. In einer Extrem wird der Schlafmangel beim so genannten
weiteren Studie untersucht unser Team am Zentrum für verzögerten Schlafphasensyndrom (kurz DSPS für eng­
Chronobiologie daher derzeit, ob Teenager nach meh­ lisch: delayed sleep phase syndrome), welches durch
reren Tagen Schlafmangel weniger stark mit Schlafstö­ eine Verzögerung des Schlafbeginns um mehr als zwei
rungen auf Koffein reagieren als ihre Altersgenossen, Stunden verglichen mit der üblichen Schlafenszeit ge­
die ausreichend Schlaf hatten. kennzeichnet ist. Menschen mit DSPS haben große
Schwierigkeiten, vor Mitternacht einzuschlafen. Es fällt
Die Lichtgeschichte ihnen sehr schwer, morgens aufzuwachen, und sie sind
Licht zur richtigen Zeit könnte Jugendliche auch vor mitunter auch tagsüber schläfrig. Auf Grund der biolo­
Schlafstörungen schützen. Ein Team um Cajochen er­ gisch bedingten Verschiebung der zirkadianen Rhyth­
gründet etwa den Einfluss der »Lichtgeschichte« auf die mik sind Teenager besonders anfällig für DSPS.
innere Uhr von Jugendlichen: Wird das zirkadiane Sys­ Frühe Schulanfangszeiten in der Schweiz, Deutsch­
tem beispielsweise schon während des Tages viel Licht land und weiteren Ländern in ähnlichen Breitengraden
ausgesetzt, könnte es sein, dass es abends unempfindli­ verschlimmern die Folgen der DSPS bei Jugendlichen
cher darauf reagiert. Bald wissen wir dazu mehr, die Da­ zusätzlich, darin ist man sich in Forschungskreisen ei­
tenerhebung wurde gerade abgeschlossen. nig. Die Betroffenen können sich an den frühmorgend­

Der Schuleffekt
In dieser Grafik ist das körperliche Aktivitätsprofil einer 17-Jährigen in zwei aufeinander folgenden
Wochen dargestellt. Jede Zeile umfasst zwei Tage, wobei die letzten 24 Stunden einer Zeile mit den
ersten 24 Stunden der folgenden identisch sind. Interessant ist die zeitliche Verschiebung der Ruhefens-
ter während der Ferien (oben) im Vergleich zu der Schulwoche darauf (unten): Die eher frei gewählten
Ruhezeiten während der Ferien begannen deutlich später und dauerten mit ungefähr acht Stunden
wesentlich länger als während der Schulzeit, in der die Schülerin von Montag bis Freitag nur jeweils
rund sechs Stunden schlief. Am Ende der Schulwoche, in der Nacht von Freitag auf Samstag, ergibt sich
ein deutlich in den Vormittag hinein verlängertes Ruhefenster trotz beibehaltenem Schlafbeginn um
Mitternacht. Dadurch verlängerte sich die Schlafdauer um fünf Stunden auf rund elf Stunden. Offenbar
wurde hier versucht, den unter der Woche versäumten Schlaf teilweise »nachzuholen«.

Uhrzeit 00:00 06:00 12:00 18:00 00:00 06:00 12:00 18:00 00:00

So. – Mo.

Mo. – Di.

Di. –Mi.
Ferien

Mi. – Do.

Do. – Fr.

Fr. –Sa.

Sa. – So.

So. – Mo.
YOUSUN KOH, NACH ANNA CAJOCHEN, 2011

Mo. – Di.
Schule

Di. – Mi.

Mi. –Do.

Do. – Fr.

Fr. – Sa.

verkürzte Ruhezeit Kompensationseffekt

GEHIRN&GEIST 49 1 2 _ 2 0 2 3
Hilfe für junge Spättypen Stimmungsschwankungen und Verhaltensprobleme
entwickeln. Darüber hinaus wird DSPS mit verschiede­
1. Späterer Schulbeginn nen negativen körperlichen Auswirkungen in Verbin­
Wenn möglich, Schulen mit einem späterem Unter- dung gebracht, darunter Fettleibigkeit oder das so ge­
richtsbeginn und kurzem (Anfahrts-)Weg wählen. nannte metabolische Syndrom, das sich in Bluthoch­
2. Das richtige Licht zur richtigen Zeit druck und Stoffwechselstörungen äußert. Das Risiko
Morgens Licht ins Zimmer lassen und sich im Freien für psychiatrische Erkrankungen wie Depressionen und
aufhalten (etwa mit dem Fahrrad zur Schule fahren), Angstzustände steigt ebenfalls. Luis’ Mutter hat mit ih­
abends rund zwei Stunden vor der gewünschten Schla- ren Befürchtungen, was die Gesundheit ihres Sohns be­
fenszeit auf eher schummrige Beleuchtung umstellen, trifft, also nicht Unrecht.
gegebenenfalls Brille mit Blaulichtfilter benutzen. Schon eine mäßige Anpassung der Schulanfangs­
3. Weniger Stimulanzien konsumieren zeiten an den natürlichen Schlaf-wach-Rhythmus von
Kaffee oder koffeinhaltige Energydrinks insbesondere Teenagern würde etliche Probleme lindern (siehe »Hilfe
am Abend können den Schlaf stören. Zudem wäre es für junge Spättypen«). So geht laut einer 2013 publizier­
möglich, dass sie die Hirnentwicklung von Jugendli- ten Studie einer Gruppe um Nadine Perkinson-Gloor
chen negativ beeinflussen. von der Universität Basel bereits ein 20 Minuten späte­
4. Medien-Intervallfasten rer Unterrichtsbeginn mit einer höheren Schlafqualität
Am Abend auf anregende Bildschirmtätig­keiten wie und Tagesaufmerksamkeit sowie besseren schulischen
Videospiele verzichten. Leistungen einher. In Ländern wie Frankreich, Spanien
5.Generell abends Stress vermeiden oder England fängt die Schule vielerorts erst um neun
Ein abendlicher Anstieg des Stresshormons Kortisol Uhr an, wovon die dortigen Schülerinnen und Schüler
kann das Einschlafen verzögern. zweifellos profitieren.
6. Entspannende Schlafumgebung
Ein komplett abgedunkeltes, gut belüftetes und ruhiges Chronotherapie mit Licht und Melatonin
Zimmer verbessert den Schlaf. Smartphones und Zu den medizinischen Behandlungsmöglichkeiten ei­
Ähnliches stumm stellen oder am besten in einem ner DSPS gehören die Lichttherapie und eine abendli­
anderen Raum ablegen. che Melatoningabe. Bei der Lichttherapie schauen die
Teenager bei uns morgens regelmäßig 20 Minuten lang
in helles Tageslicht, was den zirkadianen Schlaf-wach-
Rhythmus nach vorn verschiebt. Meist kommen spezi­
lichen Unterrichtsbeginn nur sehr schwer gewöhnen, elle Lampen zum Einsatz, im Sommer reicht auch die
und viele leiden unter einem so genannten sozialen Jet­ Morgensonne.
lag. Er tritt dann auf, wenn die biologische Uhr eines Die Einnahme von Melatonin am Abend kann in
Menschen nicht mehr mit den gesellschaftlich üblichen Kombination mit hellem Morgenlicht ebenfalls dazu
Zeiten für Arbeit, Schule und gemeinsame Freizeitakti­ beitragen, die innere Uhr vorzustellen. Dieses rezept­
vitäten in Einklang zu bringen ist. pflichtige Arzneimittel sollte allerdings nur nach den
Zugleich kommt es meist wie bei Luis zu einer gro­ Vorgaben eines chronobiologisch versierten Mediziners
ßen Abweichung zwischen den Schlaf- und Wachzeiten eingenommen werden, da es sonst leicht zu Überdosie­
an Wochentagen und denen am Samstag, Sonntag und rung oder einem falschen »Timing« mit entsprechend
in den Ferien. Seine Eltern sind frustriert, am Wochen­ unerwünschten Nebenwirkungen kommt.
ende nie Tagesausflüge mit ihrem Sohn planen zu kön­ Außerdem gibt es Brillen, die aus dem Lichtspektrum
nen, weil er vormittags quasi nicht einsatzfähig ist. Dass bestimmte Blaulichtanteile herausfiltern. Das hilft, die
sich der Schlafdruck bei Jugendlichen langsamer auf­ chronobiologischen Effekte abendlichen Lichts abzu­
baut und sie die Fähigkeit besitzen, bis zum Nachmittag schwächen, das von den Bildschirmen von Tablets,
auszuschlafen, befördert die Drift der Schlaf-wach-­ Smartphones und Computern abgestrahlt wird. Eine
Zyklen noch. Arbeitsgruppe am Zentrum für Chronobiologie hat sol­
Zu den chronobiologischen Faktoren kommen in der che Blaufilter bereits 2015 bei männlichen gesunden Ju­
Pubertät soziale Veränderungen hinzu, wie gesteigerte gendlichen getestet und konnte die positive Wirkung be­
sexuelle Aktivität und Kontakt mit Genussmitteln wie stätigen. Allerdings empfiehlt es sich, diese Brillen wirk­
Koffein, Alkohol und Nikotin. Alles zusammen kann lich nur abends, rund fünf Stunden vor dem Zubettgehen,
befördern, dass Jugendliche in ein Fahrwasser geraten, aufzusetzen, da sie tagsüber müde machen können.
das in einem gestörten Schlaf-wach-Verhalten mündet. Änderungen des Lebensstils können Teenagern eben­
Die Folgen von DSPS und sozialem Jetlag können er­ falls etwas helfen, DSPS und den sozialen Jetlag zu be­
heblich sein (siehe »Nachteile für verspätete Eulen«). In wältigen. Die von Luis’ Großeltern geforderte Disziplin
den vergangenen Jahren zeigten mehrere Studien, dass ist nicht völlig altmodisch: Dazu gehören das Streben
betroffene Jugendliche eher schulische Schwierigkeiten, nach einem regelmäßigen Schlafrhythmus (möglichst

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CHRONOBIOLO GIE

GRUPPENSCHUTZ |
Auch bei den Hadza b ­ leiben
junge Erwachsene länger
wach als die Älteren. Für
die Sicherheit einer
­Gemeinschaft könnte es
ALAMY / TANZANIA AFRICA / EREZ HERRNSTADT

Vorteile haben, wenn ihre


Mitglieder nicht gleich­
zeitig, sondern ver­setzt
schlafen.

auch an den Wochenenden), der Verzicht auf koffein­ womöglich weiter, wenn man sie am Wochenende ge­
haltige Getränke und andere Stimulanzien wie Nikotin nauso früh wie unter der Woche weckt.
sowie eine gute »Schlafhygiene«, das heißt etwa eine Luis möchte gerne seine Schulnoten verbessern und
entspannende Schlafumgebung zu schaffen und aufre­ findet es selbst quälend, morgens so todmüde zu sein.
gende Aktivitäten am Abend zu meiden. Zudem wird Er wäre daher bereit, das Licht abends zu dimmen und
Teenagern mit DSPS empfohlen, drei Stunden vor dem eine Brille mit Blaufilter zu tragen. Und auf koffeinhalti­
Zubettgehen gänzlich auf Bildschirmnutzung zu ver­ ge Getränke würde er zumindest unter der Woche ganz
zichten. Ein Team um Christin Lang von der Universität verzichten. Die Kommunikation per Smartphone mit
Basel konnte darüber hinaus 2022 in einem Experiment Freunden dagegen ist ihm gerade abends wichtig. Da
mit 18 zuvor sportlich wenig aktiven Jugendlichen zei­ viele von ihnen ebenfalls »nachtaktiv« sind, fühlt er sich
gen, dass sich ihr Rhythmus durch ein gemäßigtes mor­ nicht im sozialen Jetlag – im Gegenteil. Eine Therapie
gendliches Laufprogramm nach vorne verschieben ließ. lehnt er ab. Mit seinen Eltern vereinbart er dafür ein
Es ist wichtig, dass Teenager mit DSPS eng mit ihren stufenweises Vorgehen. Zunächst beschränken sich die
medizinischen Betreuern zusammenarbeiten, um einen Maßnahmen auf Brille und Koffeinverzicht, und das
individuellen Behandlungsplan zu entwickeln, der auch Handy wird unter der Woche um 23 Uhr stumm ge­
ihre sozialen und privaten Bedürfnisse berücksichtigt. schaltet. Morgens weckt ihn ab sofort ein »Lichtwecker«
Versuche, die Heranwachsenden zum Einschlafen zu mit anschwellendem Tageslicht. Sollte sich aber weiter­
»zwingen« oder am Wochenende abendliche Unterneh­ hin der Schlaf nachts erst weit nach Mitternacht einstel­
mungen zu verbieten, sind in der Regel zum Scheitern len, wollen seine Eltern therapeutische Hilfe in An­
verurteilt. Noch dazu vergrößert es das Schlafdefizit spruch nehmen. H

QUELLEN

Brautsch, L. A. et al: Digital media use and sleep in late adolescence and young adulthood: A systematic review.
Sleep Medicine Reviews 68, 2022
Crowley, S. J. et al.: Increased sensitivity of the circadian system to light in early/mid-puberty.
Journal of Clinical Endocrinology & Metabolism 100, 2015
Reichert, C. F. et al.: Wide awake at bedtime? Effects of caffeine on sleep and circadian timing in male adolescents –
a randomized crossover trial. Biochemical Pharmacology 191, 2021
Van der Lely, S. et al.: Blue blocker glasses as a countermeasure for alerting effects of evening light-emitting
diode screen exposure in male teenagers. Journal of Adolescent Health 56, 2015
Ziporyn, T. D. et al.: Adolescent sleep health and school start times: Setting the research agenda for California
and beyond. A research summit summary. Sleep Health 8, 2022
Weitere Quellen im Internet: www.spektrum.de/artikel/2186007

WEBLINK

Das Zentrum für Chronobiologie sucht regelmäßig Versuchspersonen, die an Schlafversuchen teilnehmen wollen:
https://www.chronobiology.ch/de/studienteilnahme

GEHIRN&GEIST 51 1 2 _ 2 0 2 3
AUFMERKSAMKEITSSTÖRUNG

Menschen mit Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung


haben ihre Augen und Ohren oft überall. Die Psychiaterin
Alexandra Philipsen erklärt, warum das Gehirn der Betroffenen Reize
anders verarbeitet – und was das für den Alltag bedeutet.

»Menschen mit ADHS


können Sinnesreize
schlechter vereinen«

Frau Philipsen, die Natur hat uns mit einer benötigen wir Aufmerksamkeit für unzählige Prozesse,
Fähigkeit ausgestattet, die man Aufmerksamkeit zum Beispiel auch für das Arbeitsgedächtnis. Aller-
nennt. Wozu ist sie gut? dings ist sie nicht immer klar abzugrenzen von Konzen-
Zum einen hilft sie uns dabei, sensorische Prozesse effi- tration und Wachheit. In vielen Situationen profitieren
zient und Energie sparend zu steuern. Ich kann bei- wir von allen drei Eigenschaften.
spielsweise gezielt meinen Blick auf etwas richten, was
mich interessiert. Sie ist zudem wichtig für viele kogni- Aufmerksamkeit ist aber nicht unbegrenzt
tive Vorgänge: Ertönt etwa ein Geräusch im Hinter- verfügbar. Wie schafft es das Gehirn, unwichtige
grund, kann ich es gedanklich ausblenden, aber ich Reize auszublenden?
kann mich ihm auch bewusst zuwenden. Im Grunde Im Gehirn existieren verschiedene neuronale Netzwer-
ke – man kann sie sich wie Rückkopplungsschleifen
vorstellen. Das Aufmerksamkeitsnetzwerk ist eines von
ihnen. Wenn wir uns auf eine Aufgabe fokussieren, er-
TV-Tipp höht das Gehirn die Aktivität der beteiligten Hirnstruk-
turen. Gleichzeitig drosselt es die Aktivität des Ruhe­
»SCOBEL – Fresh Brain« zustands- oder Default-Mode-Netzwerks, das beim
Alexandra Philipsen im Gespräch mit Tagträumen und Nichtstun arbeitet. Ein dritter Schalt-
Gert Scobel und weiteren Experten. Die kreis, das Salienznetzwerk, dient Studien zufolge als
Sendung entstand in redaktioneller Vermittler: Es entscheidet, wann es sich lohnt, die Auf-
Zusammenarbeit mit »Gehirn&Geist« und dem merksamkeitsareale hoch- und zugleich das Default-­
NeuroForum Frankfurt 2023 Mode-Netzwerk herunterzufahren.
der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung.
Auf 3sat am 23. 11. 2023 um 21 Uhr. Bei manchen Menschen funktioniert diese Regu­
lation nicht richtig – ihre Aufmerksamkeit ist
­reduziert und sie sind leichter ablenkbar. Inwiefern
arbeitet ihr Gehirn anders?
Die meisten Erkenntnisse dazu stammen von Studien
an Kindern mit Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivi-

GEHIRN&GEIST 52 1 2 _ 2 0 2 3
??????? FEDERVIEH | E?????pagei erliegt einer
ALEXANDRA PHILIPSEN
optischen Täuschung (oben), ein Kolkrabe
ergattert sich mit einem Werkzeug seine Beloh­ leitet die Klinik für Psychiatrie und
nung (Mitte), Psychotherapie der Universität Bonn und
ist stellvertretende ärztliche Direktorin
der Universitätsklinik. Neben ihrer
klinischen Tätigkeit erforscht sie mit
ihrem Team unter anderem, wie das
Gehirn Emotionen, Impulse und Auf-
merksamkeit reguliert. Mit Hilfe dieser
Erkenntnisse entwickelt und prüft sie
TATJANA DACHSEL; MIT FRDL. GEN. VON ALEXANDRA PHILIPSEN

verschiedene Therapieansätze, insbeson-


dere bei ADHS im Erwachsenenalter.

tätsstörung, kurz ADHS. Bei ihnen sind, statistisch ge- Wie ist der Schwellenwert definiert? Schließlich ist
sehen, manche Hirnareale minimal kleiner, also in ihrer jeder hin und wieder mal unkonzentriert.
Entwicklung leicht verzögert. Das sind neben Regionen Wie bei allen psychischen Erkrankungen gibt es bei
im Stirnhirn auch solche im Scheitel- und Schläfen­ ADHS ein großes Spektrum an Ausprägungen. Deshalb
lappen sowie im Kleinhirn und in den Basalganglien. hat man für die Diagnose bestimmte Schwellen festge-
Man muss dazu sagen, dass es sich zum Teil nur um legt. Bei einer definierten Anzahl an Symptomen spre-
Bruchteile von Millimetern handelt. Bis zum Erwach­ chen wir von einer Diagnose, sofern – und das ist ganz
senen­alter gleichen sich die Unterschiede in der Regel wichtig – die Person sich dadurch stark beeinträchtigt
wieder aus. fühlt. Man hat für die Hyperaktivität und Impulsivität
sowie für die Unaufmerksamkeit jeweils neun Kriterien
Verschwinden dann auch die Symptome wieder? formuliert, von denen bei Kindern je sechs und bei Er-
Schließlich werden die meisten ADHS-Diagnosen wachsenen je fünf erfüllt sein müssen. Weil der Lei-
im Kindesalter gestellt. densdruck aber individuell so unterschiedlich ist, ist die
Leider nur in den seltensten Fällen. Ich habe während Diagnose immer im Gesamtkontext zu stellen.
meines Studiums noch gelernt, ADHS wachse sich in
der Regel spätestens mit 18 Jahren aus, weil das damals Gibt es denn auch Auffälligkeiten im Gehirn von
in den diagnostischen Systemen als »Kinderkrankheit« Erwachsenen mit ADHS?
klassifiziert war. Heute wissen wir, dass nur etwa 20 Bei ihnen spielen die Volumenunterschiede keine Rolle
Prozent der Menschen, die in der Kindheit eine ADHS- mehr. Hier können wir allerdings Veränderungen in der
Diagnose erhalten, die Symptome im Erwachsenenalter Hirnaktivität sehen. Wie Studien mittels Elektroenze-
ganz verlieren. Das haben verschiedene longitudinale phalografie (EEG) gezeigt haben, findet man im Gehirn
Studien ergeben, also Untersuchungen, bei denen man von Betroffenen häufiger bestimmte langsame Hirnwel-
die Teilnehmer über viele Jahre begleitete. Eine neuere len, die bei Gesunden in der Regel vor allem dann auf-
Erhebung erfasste die Symptome beispielsweise alle treten, wenn sie schläfrig sind. Wahrscheinlich hat das
zwei Jahre und zeigte, dass sie bei den meisten Patienten etwas mit den erwähnten Netzwerken zu tun. Mögli-
und Patientinnen schwanken: Mal kommen die Betrof- cherweise kann die Aktivität des Aufmerksamkeitsnetz-
fenen über den Schwellenwert für eine ADHS-Diagno- werks weniger lange aufrechterhalten werden, so dass
se und mal liegen sie knapp darunter. das Ruhezustandsnetzwerk schneller wieder das Ruder

GEHIRN&GEIST 53 1 2 _ 2 0 2 3
übernimmt. Untersuchungen mit funktioneller Magnet­ dacht, weil meine Erfahrung im Umgang mit ihnen
resonanztomografie stützen das: Lässt man Erwachsene zeigt, dass sie allgemein sehr schnell auf Input von au-
mit ADHS im Hirnscanner Aufmerksamkeitstests ßen anspringen.
durchführen, sieht man, dass die relevanten Hirnareale Aber sie brauchen anscheinend länger für die Verar-
im Vergleich mit anderen Testpersonen weniger aktiv beitung. Damit ist die Kapazität für die Aufmerksam-
sind. Das sind der präfrontale Kortex sowie andere keit länger blockiert, weshalb ihre Reaktionszeit in ver-
­Regionen des Aufmerksamkeitsnetzwerks. Gleichzeitig schiedensten Tests verlängert ist. Zudem weisen unsere
schneiden die Betroffenen bei den Aufgaben im Grup- Studien darauf hin, dass die Betroffenen, während sie
penvergleich durchschnittlich etwas schlechter ab. sich auf das Hören konzentrieren, gleichzeitig ihr Seh-
system aktivieren – wir sprechen von crossmodaler Ak-
Was sind das für Aufgaben? tivierung. Diese lenkt womöglich von der eigentlichen
Ein Beispiel ist der Flankertest. Hiermit untersucht man Aufgabe ab.
die geteilte Aufmerksamkeit: Auf einem Bildschirm er-
scheinen nebeneinander drei Pfeile. Die Probandinnen Wie unterscheiden sich in der Hinsicht die einzelnen
und Probanden müssen per Tastendruck angeben, ob ADHS-Typen, etwa der unaufmerksame und der
der mittlere Pfeil nach links oder nach rechts zeigt. Wei- hyperaktiv-impulsive Typ?
sen alle Pfeile in dieselbe Richtung, ist das noch sehr Unsere Studie hat keinen Unterschied ergeben, aber wir
leicht. Schwieriger wird es, wenn die äußeren Pfeile in hatten auch nur eine kleine Stichprobe. Ich gehe davon
eine andere Richtung zeigen als der mittlere. Das erfor- aus, dass die Hyperaktivität bei der sensorischen Inte­
dert eine geteilte Aufmerksamkeit. Menschen mit gration eine geringere Rolle spielt als die reduzierte
ADHS brauchen für solche Aufgaben im Schnitt länger Aufmerksamkeit. Um das zu überprüfen, bräuchten wir
und machen mehr Fehler. jedoch größere Untersuchungen.

»Beim Hören das visuelle System zu aktivieren,


hilft dabei, gedankliche Verknüpfungen zu bilden«

Sie sagten, die meisten Kinder mit ADHS weisen Gibt es Möglichkeiten, das Fokussieren auf eine
im Erwachsenenalter weiterhin Symptome Aufgabe zu trainieren?
auf. Kann die Störung bei Erwachsenen auch neu Das haben wir tatsächlich getestet, und zwar mit Hilfe
auftreten? virtueller Realität (VR). Wir haben einen Seminarraum
Nein. Zwischenzeitlich glaubte man das. Da haben ein entworfen, den man über eine VR-Brille »betreten«
paar große Kohortenstudien für viel Wirbel gesorgt. Als kann. Es entsteht der Eindruck, man sitze in diesem
man die Kohorten dann aber noch mal genauer unter Raum, in dem man sich umsehen und bestimmte Auf-
die Lupe nahm, wurde deutlich, dass die Studien Schwä- gaben bearbeiten kann. Wir wollten Menschen mit
chen hatten. Inzwischen besteht der wissenschaftliche ADHS dabei unterstützen, bei einem Konzentrations-
Konsens: ADHS ist eine Entwicklungsstörung, die spä- test seltener mit dem Blick abzuschweifen. Deshalb lie-
testens im frühen Jugendalter zu Tage tritt. Es kann ßen wir jedes Mal, wenn sie ihre Augen vom Zielort ab-
höchstens durch ein Schädel-Hirn-Trauma oder eine wendeten, kurz einen Ton erklingen – als Erinnerung,
schwere Infektion des Gehirns zu ähnlichen Sympto- sich wieder der Aufgabe zuzuwenden.
men kommen, aber das ist dann keine ADHS im eigent-
lichen Sinne. Und, hat das geholfen?
Die gesunden Kontrollprobanden und -probandinnen
Menschen mit ADHS berichten oft von Reizüber­ haben tatsächlich von der akustischen Mahnung profi-
flutung. Nehmen die Betroffenen Sinneseindrücke tiert. Die Versuchspersonen mit ADHS allerdings emp-
intensiver wahr? fanden sie eher als störend; der Ton hat sie zusätzlich
Wahrscheinlich ist das so, wobei das Phänomen bei abgelenkt.
Menschen mit Autismus ja auch auftritt. Meine Arbeits-
gruppe an der Universität Bonn hat selbst Untersuchun- Wie können Patientinnen und Patienten im Alltag
gen dazu durchgeführt und fand etwas, was uns über- Reizüberflutung vermeiden?
raschte: Offenbar können Menschen mit ADHS Reize Man muss hier individuell schauen, in welchen Situa­
aus verschiedenen Sinneskanälen schlechter vereinen. tionen es der Person leichter und in welchen es ihr
Sie benötigen mehr Zeit dafür. Das hätte ich nicht ge- schwerer fällt, sich zu konzentrieren. Manche brauchen

GEHIRN&GEIST 54 1 2 _ 2 0 2 3
AUFMERKSAMKEIT SSTÖRUNG

es eher ruhig, anderen hilft Musik im Hintergrund. Und M E H R W I S S E N AU F


»SPEKTRUM.DE«
dann sind natürlich Rituale ganz wichtig, vor allem sol-
che, die die »Mental Load« verringern, also die mentale Mehr über ADHS und Autismus
Belastung durch Organisatorisches. Es ist beispielsweise lesen Sie in unserem digitalen Spekt­
ratsam, den Schlüssel an einen festen Platz zu legen, im- rum Kompakt »Neurodiversität«:
mer zur gleichen Zeit aufzustehen, feste Abläufe bei der www.spektrum.de/shop
Arbeit zu etablieren und so weiter. Man sollte möglichst
viele Tätigkeiten automatisieren, da eine hohe mentale VIKTOR PRAVDICA / STOCK.ADOBE.COM

Last Menschen mit ADHS mehr Energie kosten kann


als andere. Wenn man aber wirklich etwas im Hirnstoff-
wechsel ändern möchte, ist eine Medikation oder kör- Wirkt sich eine frühe Behandlung im
perliche Aktivität ratsam. Auch Meditation empfinden Kindesalter positiv auf die Symptome im
einige als hilfreich. späteren Leben aus?
Leider in der Regel nicht. Doch eine rechtzeitige Thera-
Sie nennen körperliche Aktivität in einem pie kann natürlich andere psychische Störungen oder
Zug mit Medikamenten. Kann Sport ähnlich negative psychosoziale Konsequenzen abwehren, die
viel ausrichten? nicht selten mit ADHS einhergehen. Durch eine effek­
Nein, das nicht. Aber er kann durchaus die Aufmerk- tive Behandlung können etwa die schulische Entwick-
samkeit steigern, wie wir in neuropsychologischen Tests lung und das soziale Miteinander gefördert werden. Es
zeigten: Menschen mit ADHS profitierten von einer gibt zudem Hinweise, dass eine Therapie das Risiko für
30-minütigen Sporteinheit hinsichtlich ihrer Reaktions- Depressionen und Angststörungen, aber auch für
zeit deutlich mehr als Personen ohne ADHS. Zwar wis- Schlafprobleme und Sucht senkt.
sen wir noch nicht genau, welche Sportart sich hier am
besten eignet, doch vermutlich genügt moderate Bewe- Hat die leichte Ablenkbarkeit auch Vorteile
gung, die den Kreislauf auf bis zu 70 Prozent der maxi- für die Betroffenen?
malen Herzschlagrate anregt. Extreme Anstrengung da- Eine populäre Erklärung ist die des evolutionsbiologi-
gegen kann die Aufmerksamkeit stören. schen Vorteils, den Thom Hartmann in seinem Buch
»Eine andere Art, die Welt zu sehen« beschreibt: Wer
In welchen Fällen empfehlen Sie eine medika­ sehr reizoffen war und ungewöhnlich viele Details
mentöse Behandlung? wahrnahm, wurde in der Urzeit nicht so schnell vom
Wenn sich die Betroffenen stark in für sie wichtigen Tiger gefressen. Allerdings sprechen die epidemiologi-
­Lebensbereichen eingeschränkt fühlen, raten wir ihnen, schen Daten leider dagegen. Die Betroffenen haben, sta-
es mit Stimulanzien zu probieren, also mit Methylphe- tistisch gesehen, mehr Unfälle und sterben eher durch
nidat oder Amphetaminen. Gängigen Theorien zufolge riskantes Verhalten. Zumindest in unserer heutigen
erhöhen die Mittel die Verfügbarkeit der Neurotrans- Welt ist dieser evolutionäre Vorteil fraglich.
mitter Dopamin und Noradrenalin im Gehirn. Die zu
Grunde liegenden Wirkmechanismen gehen aber ver- Und abgesehen vom vermeintlichen Überlebens-
mutlich noch darüber hinaus. Wir empfehlen, mit einer vorteil?
niedrigen Dosis zu beginnen – zusammen mit einer Ich denke, Menschen mit ADHS sind häufig kreativer
ärztlichen oder auch psychotherapeutischen Begleitung. und können leichter assoziieren. Möglicherweise hängt
Die Substanzen sind in der Regel gut verträglich und das mit dem Ruhezustandsnetzwerk zusammen, das
sehr wirksam. Etwa 60 bis 70 Prozent der Patientinnen bei ihnen allgemein aktiver ist. Sie sind in der Regel
und Patienten sprechen gut darauf an. ­verträumter und lassen ihre Gedanken oft schweifen,
was der Quell vieler neuer Ideen ist. Eventuell spielt hier
Inwieweit gleichen die Mittel die Defizite bei auch die crossmodale Aktivierung eine Rolle. Beim
der multisensorischen Integration aus? ­Hören das visuelle System zu aktivieren, hilft vielleicht
Dazu führen wir gerade eine Studie durch. Ich erwarte, dabei, gedankliche Verknüpfungen zu bilden. Es gibt
dass die Substanzen die Integration verbessern. Wie also durchaus positive Seiten, die man nicht außer Acht
Untersuchungen gezeigt haben, nehmen die Reaktions- lassen darf! H
zeiten bei neuropsychologischen Tests unter Methyl-
phenidat ab. Und wenn wir davon ausgehen, dass die Die Fragen stellte Spektrum-Redakteurin Anna von
Schwierigkeiten bei der multisensorischen Integration Hopffgarten.
zumindest zum Teil auf eine verlangsamte Verarbeitung
und auf Schwierigkeiten bei der Aufmerksamkeitsallo-
kation zurückzuführen sind, sollten die Stimulanzien Dieses Interview im Internet:
ebenfalls das Zusammenspiel der Sinne beeinflussen. www.spektrum.de/artikel/2186010

GEHIRN&GEIST 55 1 2 _ 2 0 2 3
VIEWAPART / GETTY IMAGES / ISTOCK (SYMBOLBILD MIT FOTOMODELLEN)
ALKOHOL

Die Droge mit den weltweit meisten abhängigen Menschen


beeinflusst diverse molekulare Mechanismen.

So wirken Bier,
Wein und Schnaps VON ANTON BENZ

GEHIRN&GEIST 56 1 2 _ 2 0 2 3
VIEWAPART / GETTY IMAGES / ISTOCK (SYMBOLBILD MIT FOTOMODELLEN)

Die neue Gehirn&Geist-Serie


»Alkohol« im Überblick:
Teil 1: So wirken Bier, Wein und Schnaps (dieses Heft)
Teil 2: Kontrolliert statt abstinent? (G&G 1/2024)
Teil 3: Wann Menschen abhängig werden (G&G 2/2024)

GEHIRN&GEIST 57 1 2 _ 2 0 2 3
Auf einen Blick: Kleines Molekül mit großen Auswirkungen

1 2 3
Es gibt keinen spezifischen Die Hochstimmung zu Beginn Ab einem Konsum von mehr
Alkohol-Rezeptor im Gehirn. des Konsums ist auf die als 100 Gramm reinem Al­
Das den Rausch verursachende ­Aus­schüt­tung von Dopamin, kohol pro Woche beginnt die
Molekül Ethanol wirkt deshalb Opioiden und Serotonin zurück­ Lebenserwartung langsam zu
erst in relativ großen Mengen, zuführen. Das typische Betrunken- sinken. Als Faustregel gilt: Man
indem es mit zahlreichen Transmit- heitsgefühl hingegen hat mit sollte nicht zu viel auf einmal
tersystemen interagiert. ­veränderten GABA- und Glutamat­ trinken und nicht jeden Tag.
pegeln zu tun.

S
ucht man im Internet nach »lauer Sommer- sern Wein oder 730 großen Schnapsgläsern entspricht)?
abend«, erscheinen Bilder von Weinflaschen Bei trinkbarem Alkohol handelt es sich um Ethanol.
und Sektgläsern, in denen sich die unterge- Über Mundschleimhaut, Magen und Dünndarm ge-
hende Sonne oder der Kerzenschein eines ro- langt das Molekül (C2H6O) schnell ins Blut und verteilt
mantischen Dinners spiegelt. Sie wirkt ganz sich von dort in sämtliche Körpergewebe sowie ins Ge-
natürlich, diese Verknüpfung von Alkohol hirn. »Es ist in keiner Weise vor dem Alkohol geschützt«,
und Alltag. Als wäre ein »Drink« die gewöhnlichste sagt Wolfgang Sommer, der am Zentralinstitut für See-
­Nebensache der Welt. Und es stimmt ja auch: Sieben lische Gesundheit in Mannheim forscht und als Ober-
von zehn Erwachsenen in Deutschland trinken laut arzt im Krankenhaus Bethanien in Greifswald arbeitet.
­einem aktuellen Bericht des Instituts für Therapiefor-
schung (IFT) in München regelmäßig. Feierabendbier, »Schmiermittel« Alkohol
Sektempfang, Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt – Lange glaubte man, Alkohol wirke, indem er die Zell-
bei zahlreichen gesellschaftlichen Ritualen spielt Alko- membran angreift. Doch das hat sich als falsch erwiesen.
hol eine Rolle. Man könnte meinen, die Substanz sei für Vielmehr interagiert die Substanz mit zahlreichen
Hirnforscher deshalb kaum spannender als ein abge- Transmittersystemen, die für die Reizweiterleitung ver-
standenes Pils. Welche Rätsel kann die weltweit am wei- antwortlich sind. Grundsätzlich funktioniert diese Art
testen verbreitete Droge schon noch bergen? der Kommunikation zwischen den Nervenzellen so:
Ein Blick in die Studien offenbart: eine ganze Menge! Wenn ein Molekül in die Nähe seines Zielproteins
Insbesondere im Hinblick auf die Wirkung von Alkohol kommt und dort andockt, »verbiegt sich dieses dabei
im Gehirn sind viele Fragen offen. Das liegt daran, dass physisch«, erklärt Sommer. Eine solche so genannte
es nicht einen einzigen, speziellen »Alkohol-Rezeptor« Konformationsänderung stößt weitere Prozesse an. Es
gibt. Das unterscheidet das Suchtmittel beispielsweise öffnet sich etwa ein Kanal in der Zellmembran, durch
von Nikotin, Cannabis oder Opiaten. Warum machen den geladene Ionen ein- und ausströmen und so einen
uns Bier, Wein oder Schnaps trotzdem betrunken? Um Nervenimpuls von einer Zelle zur nächsten weitergeben.
das zu veranschaulichen, begleiten wir einen fiktiven Die Bindungsenergien von Ethanol reichen jedoch
jungen Mann namens Finn bei einer gemütlichen Zu- nicht aus, um auf direktem Weg einen Kanal zu öffnen.
sammenkunft mit Freunden. Die Sonne steht tief an Das erklärt, weshalb man vergleichsweise viel trinken
diesem warmen Abend im August. Und natürlich wird muss, um etwas davon zu spüren. Fünf Milligramm
getrunken. Es ist halb acht, als Finn die erste Halbliter- Tetra­hydrocannabinol (THC) – der Wirkstoff von Can-
flasche Bier öffnet. In wenigen Minuten wird die Wir- nabis – reichen aus, um »high« zu machen. Auch das in
kung einsetzen – nicht viel Zeit also, um die Grundla- Opium enthaltene Morphin wirkt im Milligrammbe-
gen zu erläutern. reich. Von Alkohol muss man ungefähr die 1000-fache
Was ist das für ein Stoff, von dem sich Erwachsene Menge einnehmen, damit er wirkt.
hier zu Lande etwa elf Liter pro Jahr in Reinform zufüh- »Man kann sich Alkohol wie ein Schmiermittel vor-
ren (was 615 0,33-Liter-Flaschen Bier, 890 0,1-Liter-Glä- stellen, das Konformationsänderungen in Rezeptoren
erleichtert«, sagt Sommer. An manchen Andockstellen
funktioniert das besser als an anderen. Zudem können
die Veränderungen in den Rezeptoren ganz unter-
schiedliche Prozesse anstoßen, was das breite Wirkungs­
U N S E R AU TO R spektrum von Alkohol erklärt.
Anton Benz arbeitet als Wissenschafts-
In Finns Gehirn hat sich das Ethanol schon nach we-
journalist in Magdeburg. Bei der nigen Minuten relativ gleichmäßig verteilt. Ein halber
­Recherche überraschte ihn, wie wenig Liter Bier führt bei ihm zu einer Blutalkoholkonzentra-
Alkohol bereits zu viel ist. tion von etwa 0,35 Promille. Das bedeutet: Jeder Liter

GEHIRN&GEIST 58 1 2 _ 2 0 2 3
AL KOHOL

aktivierende Wirkung dämpfende Wirkung


YOUSUN KOH, NACH SCHRIEKS, I.C.: INFLUENCE OF MODERATE ALCOHOL CONSUMPTION

Dopamin
GABA zentrales
Serotonin
ON EMOTIONAL AND PHYSICAL WELL-BEING. THESIS FOR PHD, 2015, FIG. 1.2

Glutamat Nervensystem
Opioide
Blutalkoholkonzentration

Sympa- autonomes
thikus Nervensystem

Zeit

Zwischen Euphorie und Apathie


Alkohol wirkt zunächst aktivierend und dann dämpfend. In Laborexperimenten, in denen der
Alkoholpegel über einen längeren Zeitraum hinweg konstant gehalten wird, erreicht die durch
Dopamin, Serotonin und Opioide vermittelte Anregung nach etwa einer halben Stunde ihren Höhe-
punkt. Nach ungefähr ein bis anderthalb Stunden haben die beruhigenden Effekte ihr Maximum
erreicht. Verantwortlich dafür sind eine zunehmende Aktivität des ­hemmenden Botenstoffs GABA
und eine verringerte seines Gegenspielers Glutamat. Die dämpfende Wirkung von Alkohol hält
wesentlich länger an als das euphorisierende Gefühl. Da diese biphasische Wirkung sowohl bei
geringen als auch bei größeren Mengen Alkohol auftritt, scheint nicht die Menge an Ethanol dafür
verantwortlich zu sein, sondern die vergangene Zeit.

Blut enthält etwa 0,35 Gramm reines Ethanol. Das ist Die Stimmung ist lockerer, genau wie die Gespräche.
allerdings nur eine Annäherung mit einem Online-­
­ Wie seine schlechten Scherze bei den anderen ankom-
Promillerechner, da neben Größe, Gewicht, Geschlecht men? Das interessiert Finn deutlich weniger als noch
auch der Stoffwechsel eine Rolle spielt. eine Stunde zuvor.
Denn obgleich Alkohol auf das Gehirn hauptsäch-
Lockere Stimmung und schlechte Scherze lich dämpfend wirkt – am Anfang überwiegen seine
Die Trinkgewohnheiten haben einen Einfluss darauf, ­aktivierenden Effekte (siehe »Zwischen Euphorie und
wie schnell man von einem Getränk etwas merkt: Wer Apathie«). Über die gegensätzlichen Wirkungen von Al-
selten trinkt, spürt schneller etwas. Ab 0,25 Promille kohol witzelte schon Shakespeare: »Buhlerei befördert
sind bei vielen Menschen die ersten Effekte erkennbar, und dämpft er zugleich: Er befördert das Verlangen und
wie ein Team um die Neurowissenschaftlerin Karina dämpft das Tun.« Die belebende Wirkung hat damit zu
Abrahao von der brasilianischen Universität von São tun, dass die Substanz zunächst den Sympathikus akti-
Paulo in einer 2017 erschienenen Übersichtsarbeit viert, jenen Teil des unwillkürlichen Nervensystems,
schreibt. Die Sehfähigkeit und das Konzentrationsver- der den Körper auf geistige und körperliche Leistung
mögen lassen nach, Verhalten und subjektives Emp­ vorbereitet. Das geschieht unter anderem durch die
finden verändern sich. Finn bekommt von einem Bier Freisetzung von Dopamin, Opioiden und Serotonin.
vor allem eines: Lust auf ein zweites. Das öffnet er nach Schauen wir uns die Wirkung dieser Botenstoffe der
einer Dreiviertelstunde. Wenn es halb leer ist, wird er Reihe nach an.
ungefähr 0,5 Promille haben. Ab diesem Zeitpunkt tritt Dopamin sorgt nicht selbst für ein gesteigertes Wohl-
laut dem US-amerikanischen Suchtforschungszentrum befinden, sondern wirkt neuromodulatorisch, indem es
National Institute on Alcohol Abuse and Alcoholism Verarbeitungsprozesse im Gehirn verändert: Ein Ereig-
eine angstlösende und euphorisierende Wirkung ein. nis oder eine Tätigkeit (etwa der Konsum eines Biers)

GEHIRN&GEIST 59 1 2 _ 2 0 2 3
Häufig hört man, dass mende Interneurone im ventralen tegmentalen Areal
heften, die die ­Aktivität von Dopaminneuronen norma-
­Serotonin Glücksgefühle lerweise einschränken. Löst sich diese »Bremse«, tritt
auslöst. Doch so einfach Dopamin u ­ ngehindert aus.
Zügig steigt nach dem Alkoholkonsum auch die
ist es nicht Konzentration von Serotonin, unter anderem im Hip-
pocampus, dem VTA und dem Nucleus accumbens. In
einer Studie mit Mäusen zeigte eine Arbeitsgruppe um
Lynette Daws vom University of Texas Health Science
wird mit einer Belohnung verknüpft (dem Rausch). Ein Center (San Antonio) 2006, dass Ethanol den Abtrans-
Team um Sargo Aalto von der finnischen Universität port von Serotonin aus dem synaptischen Spalt verhin-
Turku verabreichte Alkohol per Infusion, während die derte, weshalb der Neurotransmitter länger an seinen
Versuchspersonen ruhig im Scanner lagen. So fanden Rezeptoren haften konnte.
die Forscher heraus, dass deren Dopaminspiegel im Häufig hört man, dass Serotonin Glücksgefühle aus-
Belohnungssystem bereits binnen weniger Minuten
­ löst. Doch so einfach ist es nicht. »Es gibt 15 verschie­
­anstieg, vor allem im Nucleus accumbens (siehe »Ein dene Arten von Rezeptoren für den Botenstoff, die an
Zentrum für Belohnungen«). Die Blutalkoholkonzent­ diversen Orten im Gehirn verteilt sind«, sagt Sommer.
ra­tion bestimmten die Wissenschaftler allerdings erst »Da sie ihre Wirkung unterschiedlich entfalten, kann
nach 25 Minuten, weshalb unklar ist, ab wie viel Pro­ man nicht einfach sagen, dass Serotonin die Stimmung
mille der Botenstoff freigesetzt wurde. hebt.« Untersuchungen mit Antidepressiva – die ähn-
Praktisch alle Suchtstoffe wirken auf das Dopamin- lich wie Alkohol den Abtransport von Serotonin verzö-
system, was dazu verleitet, sie erneut einzunehmen. gern – deuten zwar darauf hin, dass der Neurotrans­
Deshalb hatte Finn so schnell Lust auf ein zweites Bier. mitter dabei hilft, Dinge in einem guten Licht zu sehen.
Dennoch ist Alkohol nicht der Dopamin-»Booster«, für Direkt nach der Gabe eines Serotonin-Wiederaufnah-
den man die Droge mit den weltweit meisten Abhängi- mehemmers fiel es Versuchspersonen in einer Studie
gen halten könnte. Voneinander unabhängige Forscher- von Catherine Harmer an der University of Oxford
gruppen entdeckten eine verstärkte Ausschüttung des leichter, glückliche Gesichter zu erkennen. Allerdings
Neurotransmitters vor allem bei suchtanfälligen Perso- dauerte es Tage bis Wochen, bis sich merkliche stim-
nen und allgemein bei Männern. Wie Alkohol auf das mungsaufhellende Effekte einstellten. Akut scheint der
Belohnungs­system wirkt, scheint also auch eine Frage Botenstoff in Tierversuchen sogar Angst auszulösen.
der Genetik und des Geschlechts zu sein. Dafür sprechen auch die Studienergebnisse von Har-
mer: Ihre Probanden erkannten nach Gabe des Wirk-
Erhöhte Feuerrate stoffs angsterfüllte Gesichter ebenfalls besser.
»Es ist nicht genau verstanden, wie es zur erhöhten Do- Gerald Deehan von der US-amerikanischen Kansas
paminausschüttung kommt«, sagt Sommer. Dem Sucht- State University und seine Kollegen beobachteten 2016
forscher Hitoshi Morikawa von der University of Texas bei Ratten eine interessante Dynamik: Grundsätzlich
(Austin) zufolge ist der Anstieg der Transmitterkonzen- erhöhte sich deren Serotoninspiegel mit der verabreich-
tration im Nucleus accumbens auf eine erhöhte Feuer- ten Menge von Ethanol – ab einer bestimmten Ration
rate von Dopaminnervenzellen im ventralen tegmenta- Alkohol verzeichneten die Forschenden jedoch immer
len Areal (VTA) zurückzuführen, das ebenfalls Teil des geringere Anstiege. Zudem kehrte der Neurotransmit-
Belohnungssystems ist. Vermutlich verändert Ethanol ter bei Überschreiten dieses Grenzwerts schneller auf
dort die Durchlässigkeit der Zellmembran für bestimm- sein Ausgangsniveau zurück als bei niedrigeren Dosen.
te Ionen und löst damit Nervenimpulse aus. Bei Dopamin scheint es ganz ähnlich zu sein.
Eng mit dem Dopaminnetzwerk verdrahtet ist das Finn hat so einen Kipppunkt eventuell gegen 21 Uhr
Opioidsystem. Endorphine – zu den Opioiden zählende, erreicht: Er hängt an seinem dritten Bier und hat laut
körpereigene »Glückshormone« – docken an µ-Opioid­ Berechnung einen Blutalkoholspiegel von etwa 0,8 Pro-
rezeptoren an, lindern Schmerzen und erzeugen ein
wohliges Gefühl. Laut einer Studie eines Teams um
­Jennifer Mitchell von der University of California in­ M E H R W I S S E N AU F
San Francisco aus dem Jahr 2012 erhöht Alkohol die »SPEKTRUM.DE«
Ausschüttung von Opioiden im Nucleus accumbens
Welche Funktion Alkohol in der
und in Teilen des präfrontalen Kortex. Das trägt zum Gesellschaft erfüllt, lesen Sie
Betrunkenheitsgefühl bei: Je höher der Botenstoffspie- in unserem digitalen Spektrum
gel bei den Versuchspersonen, desto stärker spürten sie Kompakt »Alkohol«:
den Rausch. Opioide sorgen außerdem dafür, dass noch www.spektrum.de/shop
mehr Dopamin freigesetzt wird, indem sie sich an hem-
UNSPLASH / PATRICK FORE
(UNSPLASH.COM/DE/FOTOS/P1WB-F_P_VK)

GEHIRN&GEIST 60 1 2 _ 2 0 2 3
AL KOHOL

Das Kind trinkt mit


Im Jahr 1973 beschrieben Ärzte Alkohol gelangt über die Plazen- Jugendlichen trinken 14 Prozent
der University of Washington ta problemlos in den Fötus. Die der Schwangeren in Deutschland
Entwicklungsstörungen bei acht sich entwickelnde Leber kann ihn zumindest gelegentlich. Frauen mit
nicht miteinander verwandten nur schlecht abbauen. Zudem hohem Sozialstatus tun das 2,5-mal
Kindern. Die Mädchen und Jungen sammelt sich der Alkohol im häufiger als Frauen mit niedrigem
hatten ein ungewöhnlich geringes Fruchtwasser, das das ungeborene Sozialstatus. Und Frauen ohne
Geburtsgewicht, waren kleiner als Kind trinkt. Dort baut er sich nur Migrationshintergrund dreimal
die meisten anderen Neugeborenen sehr langsam ab. Bei der Verstoff- häufiger als Frauen mit Migrations-
und wiesen Deformationen im wechslung des Alkohols entstehen geschichte.
Gesicht sowie Störungen im Ner- freie Radikale, die bei dem sich Am höchsten ist das Risiko für
vensystem auf. Eine weitere entwickelnden Hirngewebe einen FASD, wenn Schwangere regel­
­Gemeinsamkeit: Ihre Mütter waren Selbstzerstörungsmodus einleiten. mäßig viel auf einmal trinken, vor
alkoholabhängig und hatten Ethanol hindert Neurone außer- allem im ersten Schwangerschafts­
­während der Schwangerschaft dem daran, sich miteinander zu trimester. Einen Grenzwert für
getrunken. verschalten, und beeinträchtigt unbedenklichen Konsum während
Heute kennt man diese Störung deren Wachstum und Differenzie- der Schwangerschaft gibt es nicht:
unter der Bezeichnung fetales rung. Das Zellgift verengt die Fachleute raten dazu, während der
Alkoholsyndrom (FAS). Weil es Plazenta, weshalb weniger Sauer- gesamten Schwangerschaft nüch-
sich unterschiedlich ausprägen stoff und Nährstoffe zum Fötus tern zu bleiben.
kann, sprechen Fachleute auch von gelangen. So kann ein Vitamin-B-
Bergmann, K. E. et al.: Perinatale Ein-
­fetalen Alkoholspektrumstörungen Mangel entstehen, der das Hirn- flussfaktoren auf die spätere Gesundheit.
(FASD). Längst nicht allen betroffe- wachstum weiter bremst. Bundesgesundheitsblatt 50, 2007;
nen Kindern sieht man das an. Nicht überraschend also, dass
Gupta, K. K. et al.: An update on fetal
Jugendliche mit FASD sind häufig Alkoholkonsum in der Schwanger- alcohol syndrome – pathogenesis, risks,
aggressiv oder depressiv, und oft schaft die häufigste bekannte and treatment. Alcohol: Clinical &
werden die mit dem Syndrom Ursache für Entwicklungsverzöge- Experimental Research 40, 2016;
einhergehenden Konzentra­tions­ rungen ist. Laut einer Langzeit­ Jones, K. et al.: Pattern of malformation
schwierigkeiten mit ADHS ver- studie des Robert Koch-Instituts in offspring of chronic alcoholic mothers.
wechselt. zur Gesundheit von Kindern und The Lancet 301, 1973

mille. Spätestens jetzt, nach rund eineinhalb Stunden, Die bei Genuss größerer Mengen Alkohol einsetzen-
überwiegt bei Konsumenten ohne starke Toleranz die den Bewegungsstörungen sind auf eine erhöhte GABA-
dämpfende Wirkung von Ethanol – und zwar unabhän- Menge im Kleinhirn zurückzuführen, genau wie die
gig davon, ob der Pegel weiter steigt oder ob er sinkt, Doppelbilder und die verwaschene Sprache. Bei rund
weil man aufhört zu trinken. Wie genau es zu diesem einem Promille spürt Finn deutliche Zeichen davon.
Umschwung kommt, ist ein weiteres ungelöstes Rätsel. Gerade gehen kann er noch, doch er verhaspelt sich öf-
ter. Und als er seine leere Flasche wegräumt, sieht man,
Beruhigend und angstlösend dass seine Feinmotorik nicht mehr gut funktioniert.
Alkohol wirkt auf zwei weitere Transmittersysteme: Er Glutamat ist der größte Gegenspieler von GABA und
verstärkt die Wirkung der Gamma-Aminobuttersäure wirkt erregend. Besonders gut erforscht ist der Effekt
(GABA) und bremst die von Glutamat. GABA verhin- von Alkohol auf das Glutamatsystem im Hippocampus.
dert die Weiterleitung von Signalen zwischen Nerven- Da er die durch Glutamat vermittelte Reizweiterleitung
zellen und ist der wichtigste hemmende Neurotrans- drosselt, wandern Gedächtnisinhalte nicht mehr vom
mitter im Gehirn. Kurz- ins Langzeitgedächtnis. Die Folge sind Aufmerk-
Er wirkt beruhigend und angstlösend. Benzodiaze­ samkeits- und Gedächtnisstörungen. Für einen echten
pine werden als Beruhigungsmittel eingesetzt, weil sie »Filmriss« hätte Finn aber noch mehr trinken müssen.
an GABA-Rezeptoren binden. Ethanol kann an Letztere Es ist kurz nach 22 Uhr und Zeit, aufzuhören. Nach
nicht direkt andocken, erleichtert aber die Freisetzung dem dritten Bier beginnt Finns Alkoholpegel langsam
von GABA und erhöht so die Wahrscheinlichkeit, dass zu sinken, und zwar mit etwa 0,1 bis 0,2 Promille pro
der Botenstoff in den synaptischen Spalt gelangt und Stunde. Doch was würde passieren, wenn Finn am
dort über seine Bindungsstellen hemmende Neurone nächsten Tag wieder zur Flasche griffe und begänne, re-
aktiviert. gelmäßig viel zu trinken?

GEHIRN&GEIST 61 1 2 _ 2 0 2 3
Ein Zentrum für nigrostriataler Pfad
Belohnungen
mesokortikaler
Dopaminerge Neurone des Pfad
Belohnungssystems befin-
präfrontaler
den sich in der Substantia
Kortex
nigra und dem ventralen
tegmentalen Areal des
Mittelhirns. Von dort
ragen ihre Axone in das
Striatum, den Nucleus Striatum

YOUSUN KOH
accumbens sowie den
präfrontalen Kortex. Alle
Drogen wirken auf das
Belohnungssystem, wobei
eine erhöhte Ausschüttung
Substantia
des Neurotransmitters vor Nucleus accumbens
nigra
allem bei suchtanfälligen
mesolimbischer Pfad
Personen und allgemein
bei Männern gefunden Area tegmentalis
wurde. ventralis

Ständige Alkoholzufuhr verändert mit der Zeit das institut für Seelische Gesundheit in Mannheim 2017
Gehirn. Dramatisch zeigt sich das an den Glutamat­ eine deutlich verringerte Anzahl von µ-Opioidrezepto­
rezeptoren. Weil Ethanol die Freisetzung des Neuro- ren in Teilen des Gehirns. Auch das ist offenbar eine
transmitters bremst, herrscht bei chronischen Trinkern Folge der Gewöhnung des Gehirns an den Alkohol und
ein ständiger Glutamatmangel. Das hat zur Folge, dass die dadurch verursachte Steigerung der Opioidmenge.
mehr Rezeptoren entstehen. »Lässt man den Alkohol Das erklärt einige typische Entzugserscheinungen, so
weg, kommt es zu einer Überreaktion des Glutamatsys- Sommer: Abstinente Alkoholabhängige werden häufig
tems«, sagt Sommer, der diesen Effekt gemeinsam mit ängstlich und depressiv.
Kollegen 2011 erstmals bei Menschen nachwies. Mit der Zeit gibt es zudem immer weniger Dopamin-
Durch die plötzliche und starke Aktivität an den rezeptoren, wie ein Team um die Psychiaterin Diana
­Glutamatrezeptoren sterben Nervenzellen ab, was zu Martinez von der Columbia University 2005 feststellte.
Krampfanfällen führen kann. In schweren Fällen Auch die Aktivität in den präfrontalen Hirnregionen
kommt es zum Alkoholdelir: Betroffene werden rastlos, nimmt ab, die unter anderem für der Bewertung von
beginnen zu zittern und verlieren ihre Orientierung. Es Belohnungsreizen zuständig sind. Da diese Bereiche die
folgen starke Schweißausbrüche und Herzklopfen. Un- Selbstkontrolle steuern, kann Alkoholverzicht impul­
behandelt liegt die Sterblichkeit bei zirka 20 Prozent. siver machen – was einen Rückfall wahrscheinlicher
Deshalb sollten Alkoholabhängige nicht unbegleitet macht. »Nach einem Entzug ist man aber nicht grund-
und abrupt mit dem Trinken aufhören. sätzlich in einem Dopamindefizit«, sagt Sommer. »Mal
scheint ein Überschuss zu herrschen, mal ein Mangel.
GABA-Rezeptoren bilden sich zurück Es dauert lange, bis sich da wieder ein Gleichgewicht
Bei den GABA-Rezeptoren ist es genau umgekehrt. Der eingestellt hat.«
ständige Überschuss des Botenstoffs durch fortwähren- Nicht eindeutig geklärt ist, wie sich das Serotonin­
des Trinken sorgt dafür, dass sich die Rezeptoren mit system durch chronischen Alkoholkonsum verändert.
der Zeit zurückbilden. Ohne Alkohol bleiben die hem- Das hat damit zu tun, dass es sehr komplex ist. Die
menden Signale aus, weshalb die Hirnaktivität insge- ­Rezeptoren in den verschiedenen Bereichen des Ge-
samt steigt. Trinker sind daher oft unruhig, und die hirns ­reagieren unterschiedlich auf ständige Zufuhr
­Hyperaktivität im Hippocampus führt zu Gedächtnis- von Ethanol. Laut Studien aus den 1980er und 1990er
problemen. Jahren sinkt der Serotoninspiegel bei alkoholab­ hän­
Bei verstorbenen Alkoholabhängigen fanden For- gigen Menschen. 1985 etwa fand ein Team um Stefan
scher um den Mediziner Derik Hermann vom Zentral- Borg, damals am Karolinska-Institut in Stockholm, im

GEHIRN&GEIST 62 1 2 _ 2 0 2 3
AL KOHOL

Blut abstinenter Trinker geringere Mengen von 5-Hy­


droxy­­indolylessigsäure (5-HIES), einem wesentlichen
Trinker sind oft unruhig,
Abbauprodukt von Serotonin. »Die Dysphorie, die fast und die Hyperaktivität
alle Alkoholabhängigen erleben, wenn sie nicht trinken,
hat vermutlich teilweise mit dem Serotoninsystem zu
im Hippocampus führt zu
tun«, sagt Sommer. Gedächtnisproblemen
Alkohol schädigt das Gehirn auch noch auf viele
­andere Weisen. Je jünger die Betroffenen bei Alkohol­
konsum, desto schlimmer die Folgen (siehe »Das Kind
trinkt mit«). Bei der Verstoffwechslung von Ethanol zu als 36 000 Erwachsenen in Großbritannien. Sie schau-
Acetaldehyd entstehen freie Radikale. Diese hochreak­ ten sich die Hirnscans der im Schnitt 64 Jahre alten Pro-
tiven Sauerstoffmoleküle können zelleigene Strukturen bandinnen und Probanden an und werteten deren
angreifen. Und ein durchs Trinken hervorgerufener Trinkverhalten aus. Demnach sind bereits 200 Milli­liter
Vitamin-B1-Mangel kann zum Wernicke-Korsakow-
­ Wein (oder etwas weniger als ein halber Liter Bier) pro
Syndrom führen, einer mitunter tödlichen Kombina­ Tag mit einer statistisch signifikanten Abnahme der
tion aus Bewegungs- und Gedächtnisstörungen. Hirnmasse verknüpft. Bei diesen Mengen war der Scha-
den aber noch nicht so groß.
Entzündungsreaktionen in Körper In einer großen Übersichtsarbeit mit Daten von über
und Gehirn einer halben Million Menschen stellte ein Team um die
Zudem gibt es Hinweise darauf, dass größere Mengen Biostatistikerin Angela Wood von der University of
an Bier, Schnaps und Wein in Körper und Gehirn eine Cambridge fest, dass die Lebenserwartung ab einem
Entzündungsantwort auslösen. Mikroglia – die Immun- Konsum von mehr als 100 Gramm reinem Alkohol pro
zellen des Gehirns – scheiden Zytokine aus, die Nerven- Woche langsam zu sinken beginnt. Der Suchtforscher
zellen angreifen. Entzündungsprozesse schaden unter Sommer hat deshalb eine einfache Faustregel parat: 330
anderem der Myelinscheide. Das ist eine Isolierschicht, Milliliter Bier enthalten ungefähr so viel Alkohol wie 125
welche die leitenden Fortsätze der Neurone umhüllt Milliliter Wein oder 4 Zentiliter Schnaps, nämlich 12 bis
und eine schnelle Kommunikation zwischen diesen er- 15 Gramm. Teilt man die 100 Gramm, die man pro Wo-
möglicht. Wolfgang Sommer stellte mittels Diffusions- che maximal trinken sollte, durch sieben, landet man
Tensor-Bildgebung (DTI) in Versuchen mit alkoholab- bei knapp 15 Gramm pro Tag. »Man soll aber nicht je-
hängigen Männern und Ratten fest, dass die Schäden den Tag trinken und die 100 Gramm auch nicht auf ei-
sogar nach Abstinenz weiter voranschreiten. Dafür er- nen Schlag«, sagt Sommer. »Bei drei bis vier Trinktagen
hielt er im Jahr 2020 vom Bundesverband Suchthilfe mit ein bis zwei Drinks ist man vermutlich sicher.«
den Wolfram-Keup-Förderpreis. Vermutlich, weil es keine kleinste Menge Alkohol
Wie viel Alkohol ist zu viel? Hat Finn seinem Gehirn gibt, bei der man eine Unschädlichkeit garantieren
an diesem Abend geschadet? Schon geringe Mengen kann. Mit seinen drei Halbliterflaschen Bier ist Finn an
Alkohol können Spuren hinterlassen. Fachleute um
­ einem Abend auf 60 Gramm gekommen. Er hat damit
­Reagan Wetherill von der University of Pennsylvania wohl doch etwas über die Stränge geschlagen. Das
analysierten in einer aktuellen Publikation die in einer merkt er am nächsten Morgen auch: Als er aufwacht,
Biobank vorliegenden medizinischen Daten von mehr begrüßt ihn ein leichter Kater.  H

QUELLEN

Abrahao, K. P. et al.: Alcohol and the brain: Neuronal molecular targets, synapses, and circuits.
Neuron 96, 2017
Daviet, R. et al.: Associations between alcohol consumption and gray and white
matter volumes in the UK Biobank. Nature Communications 13, 2022
De Santis, S. et al.: Microstructural white matter alterations in men with alcohol use disorder and
rats with excessive alcohol consumption during early abstinence. JAMA Psychiatry 76, 2019
Volkow, N. D. et al.: Neurochemical and metabolic effects of acute and chronic alcohol in
the human brain: Studies with positron emission tomography. Neuropharmacology 122, 2017
Wood, A. M. et al.: Risk thresholds for alcohol consumption: Combined analysis
of individual-participant data for 599 912 current drinkers in 83 prospective studies.
The Lancet 391, 2018
Dieser Artikel im Internet: www.spektrum.de/artikel/2186013

GEHIRN&GEIST 63 1 2 _ 2 0 2 3
DIE GEHIRN&GEIST-INFO GR AFIK

Bedeutende Durchbrüche
der Hirnforschung
In den letzten 20 Jahren hat sich viel getan in den Neurowissenschaften. Hier einige der
wichtigsten Errungenschaften und preisgekrönten Entdeckungen im Überblick.
Text: Tanguy Sourd, Anna von Hopffgarten / Grafik: Yousun Koh

Der US-amerikanische Chemiker Karen-Anne McVey Neufeld


Paul Lauterbur und der britische von der McMaster Universi-
Physiker Peter Mansfield erhalten ty in Kanada züchtet Mäuse,
den Nobelpreis für Physiologie oder deren Verdauungssystem
Medizin für die Entwicklung der keinerlei Bakterien enthält,
Magnetresonanztomografie (MRT) und beobachtet bei ihnen
seit den 1970er Jahren. Mit dem gravierende Verhaltensauf-
Verfahren lassen sich dreidimensio­nale fälligkeiten. Damit eröffnet sich
Bilder des Gehirns erstellen. Etwa zur selben Zeit ein neues Forschungsfeld: Inzwischen untersuchen
entwickelte ein Team um Denis Le Bihan vom CEA diverse Arbeitsgruppen, was Darmbakterien mit
Paris-Saclay die Diffusions-Tensor-Bildgebung weiter, um psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Angst-
damit Nervenverbindungen im Gehirn sichtbar zu machen. störungen und sogar Autismus zu tun haben.

NOBELPREIS FÜR MAGNET­ DIE ROLLE DER


RESONANZTOMOGRAFIE DARM-HIRN-ACHSE

Jahr 2003 2004 2005 2010 2012

GERUCHS­ ENTWICKLUNG EIN ABWASSER-


REZEPTOREN DER OPTOGENETIK SYSTEM IM GEHIRN

2012: NEDERGAARD LAB, UNIVERSITY OF ROCHESTER MEDICAL CENTER; MIT FRDL. GEN. VON MAIKEN NEDERGAARD
HINTERGRUND UND COMPOSING: YOUSUN KOH; 2003: TEMET / GETTY IMAGES / ISTOCK; 2004: NEMES LASZLO /
GETTY IMAGES / ISTOCK; 2005: MIKE J.F. ROBINSON, MIT FRDL. GEN. DES BERRIDGE LAB; 2010: YOUSUN KOH;
Für ihre Entdeckungen zum Geruchs- Ein Team um den Neurowissenschaftler Die Dänin Maiken Nedergaard
sinn werden die Biologen Linda Edward Boyden vom Massachussetts entdeckt mit ihrer Arbeitsgruppe
Buck und Richard Axel, damals beide Institute of Technology in Cambridge das glymphatische System im
an der Columbia University in (USA) erfindet eine Art Schalter, mit dem Gehirn. Dabei handelt es sich um
New York, mit dem Nobelpreis für sich einzelne Nervenzellen im Gehirn ein Netz von Kanälen, die
Physiologie oder Medizin geehrt. nach Belieben ein- und ausschalten lassen. die Abfallstoffe der Nervenzellen
Ihnen gelang es, die Gene für Dazu schleust man mit Hilfe von Viren abtransportieren – vor allem
verschiedene Geruchsrezep­toren das lichtempfindliche Kanalprotein während des Schlafs. Funktioniert
im Riech­epithel zu Channelrhodopsin-2 aus einer Alge in es nicht richtig, häufen sich
isolieren. das Neuron ein. Sobald man die Zelle nun Giftstoffe an, die neurodegenerative
mit Licht bestrahlt, öffnet sich Erkrankungen wie Alzheimer
der eingebaute Kanal begünstigen.
und lässt positiv
geladene Ionen
einströmen.
Das löst
neuro­nale
Aktivität aus.

GEHIRN&GEIST 64 1 2 _ 2 0 2 3
Elf Babys, die an
erblich bedingter
spinaler Muskel­-
atrophie litten,
werden durch die
Injektion eines spe­-
ziellen Virus gerettet.
Bei den Betroffenen ist ein bestimmtes
Gen verändert, was dazu führt, dass sich
Nervenzellen im Rückenmark zurück­bilden. Die US-Forscher
Nur vier
Die jungen Patienten sind zunehmend David Julius und Ardem
Jahre nachdem es Forscherin-
gelähmt und sterben meist früh durch Patapoutian werden für ihre
nen und Forschern gelang,
Atemstillstand. Das Virus führt eine intakte Arbeiten zum Tastsinn mit dem
Darmgewebe aus Stamm­zellen
Kopie des fehlerhaften Gens in den Körper Nobelpreis ausgezeichnet.
herzustellen, entwickeln öster­-
ein. Nach der Behandlung lernten alle Dank ihrer Erkenntnisse wissen
reichische Wissenschaftler
Kinder sprechen, sitzen und gehen. Seit wir heute, wie Wärme, Kälte
das erste »Hirnorganoid«: ein
2019 ist diese Genersatztherapie in den USA und mechanische Kräfte Nerven­
menschliches Minigehirn in
und seit 2020 in Europa zugelassen. impulse auslösen.
der Petrischale, das einfache
Grundfunktionen besitzt. GENTHERAPIE TEMPERATUR-
MINIGEHIRNE BEI SPINALER UND BERÜHRUNGS­
AUS DEM LABOR MUSKELATROPHIE REZEPTOREN

2013 2014 2017 2021 2023

DAS INNERE GPS DIE URSACHE DER


Der Brite John O’Keefe und die Norweger May-Britt und NARKOLEPSIE
Edvard Moser erhalten den Nobelpreis für Medizin oder
2014, 2017, 2021: YOUSUN KOH; 2023: STOCKPHOTOPRO / STOCK.ADOBE.COM (SYMBOLBILD MIT FOTOMODELL)

Emmanuel Mignot und Masashi Yanagisawa


HINTERGRUND UND COMPOSING: YOUSUN KOH; 2013: MIT FRDL. GEN. VON MADELINE LANCASTER / IMBA;

Physiologie für ihre Arbeiten zum inneren Navigations­


erhalten den Breakthrough Prize in Life Sciences
system. Sie fanden eine Gruppe von Nervenzellen im Gehirn,
für ihre Erkenntnisse zur Narko­lepsie. Die
mit deren Hilfe wir uns im Raum orientieren. O’Keefe
Betroffenen schlafen tagsüber immer wieder
entdeckte im Hippocampus die so genannten Ortszellen,
unvermittelt ein. Verantwortlich dafür ist ein
die uns Informationen über unsere aktuelle Position liefern.
Mangel an Orexin. Der Botenstoff ist schon
Das Ehepaar Moser beschrieb erstmals Rasterzellen im
länger dafür bekannt, den Appetit zu regulieren.
benachbarten entorhinalen Kortex, die jeweils an verschiede-
Er hält uns aber auch wach, indem er die
nen Orten im Raum feuern. Verbindet man diese Stellen
Aktivität von »Schlafneuronen« in einem Bereich
miteinander, entsteht ein Raster aus
des Hypothalamus hemmt.
zusammenhängenden gleichseitigen
Laut neuesten Er-
Dreiecken. So kann das Gehirn den
kenntnissen greift
eigenen Standort bestimmen.
das Immunsystem
von Narkoleptikern
die Orexin produ­-
zierenden Nerven-
zellen an.

Diese Grafik im Internet:


www.spektrum.de/artikel/2186016
KOLLEKTIVE NEUROWISSENSCHAFT

Wenn Menschen miteinander interagieren, können sich ihre


Hirnwellen aneinander angleichen. Die neueste Forschung
zeigt, dass hinter dieser Synchronizität mehr steckt als nur das
Verarbeiten gleicher Erfahrungen.

Auf gleicher
Wellenlänge VO N LY D IA D E N WO RT H

N
ormalerweise untersuchen Neurowis- eine Erfahrung teilen. Die Nervenzellen in den jeweili-
senschaftler ein einzelnes Gehirn je- gen Gehirnen feuern dann zur gleichen Zeit und erzeu-
weils für sich. Sie beobachten zum gen deckungsgleiche Muster – ähnlich wie Tänzer, die
Beispiel, wie Nervenzellen feuern, sich im Gleichtakt bewegen. Das gilt sowohl für Hör-
wenn eine Person bestimmte Wörter und Sehbereiche als auch für Areale höherer Ordnung,
liest oder ein Videospiel spielt. Da wenn es darum geht, Gesehenes oder Gehörtes mit ei-
auch Forscherinnen und Forscher soziale Wesen sind, ner Bedeutung zu versehen. Der Eindruck, auf der glei-
verrichten sie einen Großteil ihrer Arbeit gemeinsam – chen Wellenlänge wie jemand zu sein, ist also real und
sie stellen zusammen Hypothesen auf, besprechen ihre lässt sich an der neuronalen Aktivität festmachen.
Probleme und stimmen ihre Versuchspläne untereinan- Tatsächlich beginnt der Forschungsbereich, eine
der ab. Da liegt die Idee nahe, einmal zu untersuchen, neue Ebene an Komplexität der sozialen Interaktion zu
wie sich Gehirne bei solchen oder anderen Kooperatio- enthüllen. So gleichen sich die Signalmuster im Gehirn
nen in Bezug aufeinander verhalten. von Schülerinnen und Schülern an diejenigen ihrer
Die daraus entstandene »kollektive Neurowissen- Lehrkraft an, wenn sie deren Ausführungen folgen. Und
schaft«, wie sie von einigen Fachleuten genannt wird, ist eine größere Übereinstimmung bedeutet, dass sie bes-
ein schnell wachsendes Forschungsgebiet. Ein erstes gut ser lernen, wie Ido Davidesco von der University of
belegtes Ergebnis ist, dass sich die Hirnwellen von Men- Connecticut und sein Team 2023 zeigten. Zudem stim-
schen synchronisieren, wenn sie sich unterhalten oder men laut einer Studie der East China Normal Universi-
JESSICA BARTHEL

U N S E R E AU TO R I N

Lydia Denworth ist Wissenschaftsjournalistin und Redakteurin bei »Scientific American«.


Sie schrieb mehrere populärwissenschaftliche Bücher.

GEHIRN&GEIST 66 1 2 _ 2 0 2 3
ALENA KRAVCHENKO / GETTY IMAGES / ISTOCK

??????? FEDERVIEH | E?????pagei erliegt einer


optischen Täuschung (oben), ein Kolkrabe
ergattert sich mit einem Werkzeug seine Beloh-
nung (Mitte),

MITSCHWINGEN | Während eines Konzerts


können sich die Hirnwellen des Zuhörers und
des Interpreten synchronisieren.

GEHIRN&GEIST 67 1 2 _ 2 0 2 3
Auf einen Blick: Gehirne im Gleichtakt

1 2 3
Gehirnwellen von Menschen Es wurde unter anderem Diese Synchronizität könnte
und auch bei manchen Tier­ beobachtet, dass Schüler und soziale Interaktionen erleich-
arten können sich offenbar Lehrer oder Musiker und ihr tern und uns zu geselligeren
synchronisieren, wenn Individuen Publikum gleiche neuronale Aktivi- Wesen machen.
gewisse Erfahrungen teilen. tätsmuster aufweisen können.

ty von 2020 die Wellen in bestimmten Hirnregionen ein Merkmal von Beziehungen zu betrachten. Ein Vor-
von Zuhörern eines Violinkonzerts mit denen des Inter- teil von synchronen Erfahrungen könnte darin liegen,
preten überein: je stärker die Synchronizität, desto grö- dass diese oft als angenehm erlebt werden. Der Gleich-
ßer das Vergnügen. Paare weisen ein höheres Maß an klang hilft uns bei der Interaktion und könnte die Ent-
neuronalem Gleichtakt auf als zwei Menschen, die sich wicklung von Geselligkeit begünstigt haben. Womög-
nicht in einer Partnerschaft miteinander befinden. Das lich erklärt er ebenfalls, warum es nicht mit jedem klick
gilt ebenso für enge Freunde im Vergleich zu entfernte- macht oder soziale Isolation derart schädlich für die
ren Bekannten (siehe »Was ist Hirnsynchronizität?«). Gesundheit ist.
Diese Vorstellung fand ich faszinierend. Daher zog
Vorbereitung für soziale Interaktion ich mir im Dienst der Forschung im Dezember 2022 ei-
Aber wie kommt es zu der Synchronizität? Vieles an nen Patientenkittel an und legte mich in die Röhre eines
dem Phänomen ist noch rätselhaft – selbst Wissen- Magnetresonanztomografen (MRT) an der Harvard
schaftler benutzen gelegentlich das Wort Magie, wenn University in Cambridge, Massachusetts. Wie angeord-
sie darüber sprechen. Eine einfache Erklärung könnte net versuchte ich, meinen Kopf nicht zu bewegen, wäh-
sein, dass sie das Ergebnis gemeinsamer Erfahrungen rend mein linker Daumen auf einem Notrufknopf lag.
ist, die ähnlich verarbeitet werden. Damit wäre sie ein- Die Situation war genauso unangenehm, wie mir im
fach ein Zeichen dafür, dass wir das Gleiche hören oder Vorfeld angekündigt worden war.
sehen wie jemand anderes. Doch laut neuesten Er- Dann ertönte eine Stimme in meinen Kopfhörern:
kenntnissen steckt oft mehr hinter dem neuronalen »Kannst du mich verstehen?« Das war Sid. Er sollte für
Gleichtakt. Um besser zu verstehen, was dabei vor sich die nächste Stunde mein Gesprächspartner sein. Wir
geht, kartieren Forscherinnen und Forscher die Cho- stellten uns einander vor: Ich sei Wissenschaftsjourna-
reografie der Synchronizität – ihren Rhythmus, ihr Ti- listin, er arbeite in einem Labor für soziale Neurowis-
ming und ihre Wellenbewegungen. Sie wollen verste- senschaften am Dartmouth College in Hanover, New
hen, ob sie uns Vorteile bringt. Hampshire. Sid und ich kommunizierten über das In-
Es fanden sich zum Beispiel Hinweise darauf, dass ternet, während wir mehr als 200 Kilometer voneinan-
die Kohärenz in den Hirnwellen Menschen auf soziale der entfernt in getrennten Bildgebungsröhren lagen.
Interaktionen vorbereitet. Daher beginnt man, sie als Auf den Bildschirmen über uns blinkten Anweisun-
gen auf. Unsere Aufgabe war es, abwechselnd für jeweils
30 Sekunden zusammen eine Geschichte zu erfinden.
Der Titel wurde vorgegeben: »Eine Gruppe von Kin-
KURZ ERKL ÄRT: dern begegnet Außerirdischen.« Ich begann von einer
Schulklasse zu erzählen, die mit ihrem Lehrer in einem
HIRNWELLEN Park spazieren geht und zufällig die Landung eines au-
Wie Wellen im Wasser können die elektrischen ßerirdischen Raumschiffs beobachtet. Dann war Sid an
Wellen im Gehirn schneller und langsamer wan- der Reihe. Er ließ einige der mutigeren Kinder näher
dern. Die fünf gebräuchlichen Wellenarten, die je herangehen, angeführt von einem Jungen namens Ke-
nach ihrer Schwingungsrate Alpha, Beta, Gamma, vin. So ging es abwechselnd weiter.
Delta und Theta genannt werden, stehen für Danach musste jeder von uns eine eigene Geschichte
unterschiedliche Zustände des Gehirns. Delta- für jeweils 30 Sekunden erzählen. Dazwischen lausch-
wellen mit einer Frequenz von 0,5 bis 4 Hertz (ein ten wir der Erzählung des anderen. Am Schluss sollten
Hertz ist eine volle Schwingung pro Sekunde) wir alle drei Geschichten nacherzählen: unsere gemein-
stehen normalerweise für tiefen, erholsamen same und die beiden, die wir getrennt erfunden hatten.
Schlaf. Andere Wellen sind schneller und abge- Die Story, die Sid und ich uns gegenseitig erzählten,
hackter – Wachheit und bewusste Aktivität sind war nicht besonders originell, meine eigene noch weni-
typischerweise mit Beta- (13 bis 30 Hertz) und ger. Aber eine Sache fiel mir auf: Es machte mir deutlich
Gammawellen (etwa 30 bis 100 Hertz) verbunden. mehr Spaß, mit Sid zusammenzuarbeiten als allein – so

GEHIRN&GEIST 68 1 2 _ 2 0 2 3
KOLLEKTIVE NEUROWISSENSCHAFT

sehr, dass ich während des Teamworks mein Unbeha- Um nach diesem Besonderen zu suchen, vergleichen
gen vergaß. Als ich ihm am nächsten Tag in Dartmouth Wheatley und ihre Kollegen die Aktivität in meinem
traf, stimmte er mir zu. Auch ihm hatte es mehr Freude und in Sids Gehirn sowie bei allen anderen Paaren der
bereitet, mit mir eine Geschichte zu erfinden, als einen Studie – Sekunde für Sekunde, Gitterpunkt für Gitter-
eigenen Plot zu entwickeln. Thalia Wheatley vom Dart- punkt über die ganze Erzählstunde hinweg. Sie hoffen
mouth College, die uns für die Studie angeworben hatte, so, Anzeichen von Kohärenz zu finden. Darüber hinaus
überraschten unsere Erfahrungen nicht. werten sie unsere Fragebögen und Erfahrungsberichte
aus. Darin wurde etwa gefragt: »Wie sehr hat dir die Ge-
Vereint zu einem Überhirn schichte gefallen, die du mit deinem Partner erfunden
Die Ergebnisse der funktionellen MRT-Bildgebung zei- hast?« Wenn alles nach Plan läuft, erscheinen die ersten
gen – allerdings indirekt über Änderungen im Blut- Ergebnisse Mitte 2024.
fluss – wo im Gehirn etwas passiert. Zum Beispiel sollte Die erste derartige Hyperscanning-Studie – mit zwei
die Hörrinde aktiv sein, während man dem anderen Personen und zwei MRTs – fand am Baylor College of
lauscht, aber auch andere Bereiche im Schläfenlappen, Medicine in Houston statt. Read Montague, der mittler-
die Sprache und Bedeutung verarbeiten. Das Team um weile am Virginia Polytechnic Institute and State Uni-
Wheatley will herausfinden, wie sich zwei Denkorgane versity in Blacksburg arbeitet, legte zwei Probanden in
im Zusammenspiel verändern und vielleicht sogar ge- getrennte Scanner und zeichnete ihre Hirnaktivität auf,
meinsam etwas Neues schaffen. »Wenn wir miteinander während sie ein einfaches Wettkampfspiel absolvierten.
reden, erzeugen wir eine Art Überhirn, das nicht auf Die Ziele des Experiments waren noch recht begrenzt:
die Summe seiner Teile reduziert werden kann«, sagt Man wollte nachweisen, dass es prinzipiell möglich ist,
Wheat­ley. Zumindest ist das die Idee. »Wenn sich Sau- die neuronale Aktivität in zwei Gehirnen gleichzeitig zu
erstoff und Wasserstoff zu Wasser verbinden, entsteht verfolgen. Die Ergebnisse veröffentlichten Montague
etwas Besonderes, das sich nicht auf Sauerstoff und und seine Kollegen im Jahr 2002. Seitdem wurde das
Wasserstoff allein reduzieren lässt«, vergleicht sie. Hyperscanning mittels funktioneller MRT weiterent­

Was ist Hirnsynchronizität?


Interagieren Menschen nicht sozial, sind ihre individuellen Gehirnwellen sehr unterschied­
lich (links). Aber wenn sie als Reaktion auf andere denken, fühlen und handeln, gleichen
sich die Signalmuster in ihren Gehirnen an (rechts). Wissenschaftler nennen dieses Phäno­
men Synchronizität. Die Neurone in den verschiedenen Gehirnen feuern gleichzeitig – und
je länger die Interaktion andauert, desto mehr ähneln sich Zeitpunkt und Ort der Hirnak­
tivität. Das Ausmaß der Synchronizität ist ein Indikator für die Stärke einer Beziehung. So
stimmen die Gehirnwellen zwischen engen Freunden oder zwischen einem guten Lehrer
und seinen Schülern besonders stark überein.

Neurons
Neurone
im Gehirn
in the
brain
NOW MEDICAL STUDIOS / SCIENTIFIC AMERICAN JULI-AUGUST 2023

1 2 3 1 2 3

getrennte
Separate social neuronale
Neuronal Aktivität
activity getrennte
Shared social neuronale
Neuronal Aktivität
activity interagierende
Interacting
soziale Umge-
environments soziale Umge-
environment Individuen
individuals
bungen 1 2 3 bungen 1 2 3

Time
Zeit Time
Zeit

GEHIRN&GEIST 69 1 2 _ 2 0 2 3
wickelt und auf andere Technologien ausgeweitet (siehe Es ist leicht, das Labor von Michael Yartsev an der
»Der Hirnaktivität auf der Spur«). University of California in Berkeley zu finden. Kleine,
In neuen Studien will man nun über diese ersten Er- schwarze Fledermausflügel aus Plastik sind neben sei-
gebnisse hinausgehen. Zum Beispiel versuchen Wheat- nem Namensschild an die Wand gepinnt, als würden sie
ley und ihr Team herauszufinden, ob Erzählerpaare, die vor seiner Tür umherflattern. Hier ist gewissermaßen
kreative Geschichten erfinden, eine stärker gekoppelte immer Halloween. Und hier haben Yartsev und Wujie
Hirnaktivität haben als diejenigen, deren Bemühungen Zhang 2019 zum ersten Mal gezeigt, dass Fleder-
ein wenig langweilig daherkommen. Die Korrelationen maushirne sich genauso synchronisieren wie menschli-
zwischen den beiden Gehirnen sollten dabei »nicht ein- che Denkorgane.
fach mit dem Sprechen oder Zuhören und dem gegen- Yartsevs Studie belegte die wahrscheinlich einfachste
seitigen Verstehen auf sprachlicher Ebene verbunden Bedeutung von Synchronizität: Sie ist ein deutliches Si-
sein«, sagt Adam Boncz vom Forschungszentrum für gnal für soziale Interaktion. Bei Fledermäusen tritt das
Naturwissenschaften in Budapest, der an der Studie be- Phänomen nur dann auf, wenn sie zusammen sind. Sie
teiligt ist. »Es sollte schon etwas mehr sein.« leben im Erdgeschoss, in der »Fledermaushöhle«, wie
Um die neuronalen Grundlagen der Synchronizität Yartsev sie liebevoll nennt. Diese beherbergt etwa
zu erforschen, wenden sich einige Fachleute Tieren zu. 300 Tiere in zwei Kolonien, eine mit Männchen, die an-
Bei ihnen lassen sich bestimmte neurobiologische De- dere mit Weibchen. Die beiden Räume sind schwarz ge-
tails besser ergründen als beim Menschen. Zu den faszi- strichen und von Netzen durchzogen. An der Decke
nierendsten sozialen Säugetieren, die sie untersuchen, hängen Obstspieße mit Melonen- und Apfelstücken.
zählen zankende, kuschelnde und umherschwirrende Ursprünglich interessierte sich Yartsev für die Fleder­
Fledermäuse. tiere auf Grund ihrer vokalen Lern- und Kommunikati-
onsfähigkeiten. Schnell merkte er aber, dass sich Fleder-
mäuse hervorragend eignen, um Sozialverhalten zu stu-
dieren.
Der Hirnaktivität auf der Spur Lehrstunde in technischer Präzision
Weil feuernde Neurone mit ausreichend Sauer­ Steht man in einem der Kolonieräume, in dem die ge-
stoff versorgt werden müssen, sind aktive Hirn­ flügelten Säuger von der Decke hängen, lässt sich leicht
areale besser durchblutet als solche, die eher in nachvollziehen weshalb: Obwohl sie viel Platz hätten,
Ruhe sind. Mit Hilfe starker Magnetfelder er­ um sich auszubreiten, kauern die meisten der grau-
kennt der fMRT-Scanner den Sauerstoff im Blut. braunen, zwischen sechs und acht Zentimeter großen
Auf diese Weise kann das Gerät Bilder erstellen, Tiere in Gruppen zusammen. In freier Wildbahn ver-
die zeigen, welche Teile des Gehirns gerade gut bringen die äußerst sozialen Fledermäuse ihre Nächte
durchblutet sind. So lässt sich herausfinden, mit der Nahrungssuche und einen Großteil des Tags
welche Hirnareale bei bestimmten Aufgaben oder schlafend in großen, dicht gedrängten Kolonien in
Emotionen aktiv sind. Höhlen oder Bäumen – manchmal zusammen mit
Wie die fMRT zeichnet die funktionelle Nah­ Hunderten oder Tausenden von Artgenossen. Auf
infrarotspektroskopie (fNIRS) die Veränderun­ engstem Raum streiten sie sich um Futter, Schlafplätze
gen des Sauerstoffgehalts im Blut auf und somit und Sexualpartner.
die Aktivität verschiedener Bereiche des Gehirns. In Berkeley gibt es neben den Koloniezimmern einen
Die fNIRS verwendet hierzu lediglich eine Kappe großen »Flugraum« für Experimente. Während Yartsev
aus Lämpchen und Sensoren – sauerstoffreiches und ich zuschauen, tragen Doktoranden zwei Plastikbe-
Blut reagiert anders auf Licht als sauerstoffarmes. hälter mit Deckeln hinein und lassen eine Gruppe Fle-
Daher ist fNIRS billiger und weniger aufwändig dermäuse frei. Im Kontrollraum nebenan sind die Tiere
als fMRT. Sie ist jedoch begrenzter, weil sie nur als Punkte auf den Computermonitoren zu sehen. Sie
die oberen Schichten des Gehirns erreicht. sehen aus wie ferngesteuerte Tischtennisbälle, die durch
Die Elektroenzephalografie, kurz EEG, wiede­ den Raum schwirren.
rum misst die elektrische Aktivität der Nerven­ Frei fliegende Fledermäuse zu studieren, ist eine
zellen des Gehirns mit Elektroden, die auf der Lehrstunde in technischer Präzision. Um ihren Stand-
Kopfhaut angebracht werden. Diese Art der ort, ihr Verhalten und ihre Gehirnaktivität zu verfolgen,
Untersuchung erfasst die Geschwindigkeit und haben die Wissenschaftler den Flugraum mit 16 Kame-
die Abfolge der Hirnaktivität. Sie konzentriert ras und mehreren Antennen ausgestattet. An den winzi-
sich mehr auf das Wann als auf das Wo. Das EEG gen Transpondern, die um den Hals jeder Fledermaus
spiegelt auch das relative Tempo der verschiede­ hängen, befinden sich Mikrofone, mit denen das Team
nen Arten von Gehirnwellen oder Oszillationen feststellen kann, welches Tier gerade Laute von sich gibt.
wider. Die Hirnaktivität wird über Elektroden am Kopf über-

GEHIRN&GEIST 70 1 2 _ 2 0 2 3
KOLLEKTIVE NEUROWISSENSCHAFT

Fledermausgehirne im Gleichtakt
Fledermäuse sind soziale Tiere, und wenn sie zusammen sind, synchronisieren sich ihre
Gehirnwellen. Forscher der University of California, Berkeley, zeichneten die neuronale
Aktivität von vier ägyptischen Flughunden auf, während diese frei miteinander inter­
agierten – beim Fliegen, beim Streiten und beim Ruhen. Die Synchronizität war am
stärksten bei »befreundeten« Fledermäusen, die häufig zusammen Zeit verbrachten. Die
Daten zeigten zudem, welche Neurone für welche andere Fledermaus codierten.

Wenn eine Fledermaus einen Schrei ausstößt, löst das Die Schreie aktivierten auch eine separate Gruppe
bei allen zuhörenden Artgenossen eine kollektive Kopp- von Neuronen, je nachdem, welche Fledermaus in der
lung im Gehirn aus. Die Wissenschaftler fanden heraus, Gruppe ruft. Diese Neurone codieren die Identität, wo-
dass die Synchronizität bei jenen Tieren am stärksten ist, bei einige für das Selbst und andere für die schreiende
die nahe beieinanderhängen. Fledermaus stehen.

zuhörendes
Daten- Tier
logger
NOW MEDICAL STUDIOS / SCIENTIFIC AMERICAN JULI/AUGUST 2023, NACH ROSE, M.C. ET AL.:
CORTICAL REPRESENTATION OF GROUP SOCIAL COMMUNICATION IN BATS. SCIENCE 374, 2021

schreiende
Fledermaus

Schreier-
Zuhörer- zuhörendes
Kopplung Tier
Zuhörer-
Zuhörer-
Vorderhirn Kopplung

schreiende
Fledermaus schwächere aktiviertes Neurone, die für andere aktiviertes
außerhalb der Gruppe Korrelation »Selbstneuron« Individuen codieren »Fremdneuron«

wacht und drahtlos übermittelt. 2019 zeichneten Yartsev robust«, erinnert sich Yartsev. Dies deute darauf hin,
und Zhang das Verhalten und die neuronale Aktivität dass man es mit einem realen Phänomen zu tun habe.
der Fledermäuse für etwa 100 Minuten am Stück auf. »Wir konnten jedes Mal sehen, wenn sie sozial inter-
Sie stellten fest, dass sich die Säuger annähernd syn- agierten.«
chron verhielten – sie ruhten etwa zur gleichen Zeit und Als Yartsev und Zhang ihre Versuchstiere in getrenn-
waren zur gleichen Zeit aktiv. Zu ihren aktiven Phasen ten Räumen fliegen ließen, gingen die Korrelationen
gehörten sowohl soziale als auch nicht soziale Ver­ verloren. Die Gehirnaktivität der Fledermäuse war
haltensweisen wie Kämpfe untereinander oder die Fell­ nicht mehr synchron – selbst dann nicht, wenn das
pflege. Team die Rufe der Artgenossen einspielte. Und es gab
Um die neuronalen Signale zu vergleichen, analysier- noch mehr verblüffende Details: Die Synchronizität
ten die beiden Berkeley-Forscher ein Spektrogramm al- wuchs, je mehr die Tiere miteinander interagierten.
ler Hirnwellen (siehe »Kurz erklärt«) der Fledermäuse. Dieser Anstieg ging der Zunahme der sozialen Begeg-
Die hochfrequenten Bänder von 30 bis 150 Hertz waren nung sogar voraus. Yartsev und Zhang schlossen daraus,
während aktiver Phasen stärker ausgeprägt, niederfre- dass neuronale Synchronizität die soziale Interaktion
quente Bänder von 1 bis 29 Hertz dominierten in den begünstigt.
Ruhephasen. Zudem fiel auf, dass die Hirnsignale sehr
synchron waren, vor allem bei hohen Frequenzen. Die Synchronizität bis auf die Zellebene
Muster waren sich so ähnlich, dass sie zunächst nicht Die Betrachtung von synchronen Hirnwellen ist ledig-
glauben konnten, was sie sahen – doch die Daten waren lich eine Methode der kollektiven Neurowissenschaft.
überzeugend. »Die Korrelationen waren unglaublich Eine andere ist, die Aktivität einzelner Neurone zu stu-

GEHIRN&GEIST 71 1 2 _ 2 0 2 3
dieren. »Letztendlich sind unsere Gehirne keine Suppe
aus Durchschnittswerten. Sie bestehen aus einzelnen
»Indem sie miteinander
Nervenzellen, die unterschiedliche Dinge tun«, sagt sprachen und als Gruppe
Weizhe Hong von der University of California in Los
Angeles. Er und seine Kollegen gehörten zu den Ersten,
zu einem Konsens kamen,
die sich auf die Suche nach diesen Details machten und richteten die Menschen
interagierende Gehirne Neuron für Neuron unter die
Lupe nahmen – allerdings bei Mäusen. Was sie dabei
ihre Gehirne aufeinander
entdeckten, machte die Sache noch komplexer. aus«
Wie Yartsev zweifelte auch Hong anfangs an der Exis-
tenz der Hirnsynchronizität. Er sagte seinem damaligen Beau Sievers, Neurowissenschaftler
Studenten Lyle Kingsbury, der die Experimente leitete,
dass etwas nicht stimmen könne. Mit Hilfe einer Tech-
nologie namens mikroendoskopische Kalziummessung,
die experimentell hervorgerufene Fluoreszenz in einzel- Tieren, die im Rang näher beieinanderstanden. Fach-
nen Zellen misst, untersuchten die Forscher 2019 Hun- leute in China fanden etwas Ähnliches bei menschli-
derte von Neuronen zur gleichen Zeit. Bei Mäusepaa- chen Anführern und Untergebenen. In einer Studie von
ren, die sozial interagierten, fanden sie einen Gleichtakt 2015 war die neuronale Kohärenz zwischen Angehöri-
bei verschiedenen Zellpopulationen im präfrontalen gen verschiedener Hierarchieebenen höher als zwi-
Kortex, die Hong »Selbstzellen« und »Fremdzellen« schen den Untergebenen. Nachdem sie die Bedeutung
nennt: Erstere codieren das eigene Verhalten, Letztere des sozialen Status erkannt hatten, gelang es Hong und
jenes eines anderen Individuums. »Die Summe der Ak- Kingsbury, innerhalb der ersten Minuten vorherzusa-
tivität von Selbst- und Fremdzellen war der Summe der gen, ob eine Maus im Röhrentest dominieren und wie
Aktivität im anderen Gehirn ähnlich oder korrelierte viel weiter sie die andere zurückdrängen würde.
gar mit ihr«, berichtet Hong. Es ist nicht klar, wie hierarchisch Fledermäuse sind.
Diese Beobachtung geht weit über bisherige For- Offensichtlich haben sie aber bevorzugte Gefährten.
schungen zu so genannten Spiegelneuronen hinaus, die Yartsev und sein Team stellten fest, dass die meisten ih-
das eigene sowie das fremde Verhalten repräsentieren – rer Fledertiere dazu neigten, sich zusammenzutun, aber
und zwar so: Wenn ich einer anderen Person zuschaue, es gab auch einige, die ihre Zeit lieber etwas abseits ver-
wie sie einen Ball wirft, aktiviert das eine Reihe von brachten. Wie beeinflussen Rufe aus diesen verschiede-
Spiegelneuronen in meinem Gehirn, die ebenfalls dann nen Populationen die neuronale Korrelation der Grup-
aktiv sind, wenn ich dasselbe tue. Im Gegensatz dazu pe? Um das herauszufinden, zeichneten die Wissen-
codieren die von Hong und Kingsbury entdeckten schaftler nicht nur die Hirnaktivität auf der Ebene von
Selbst- und Fremdzellen nur das Verhalten der eigenen Frequenzbändern auf, sondern zudem die Signale ein-
beziehungsweise der anderen Person. zelner Neurone.
2021 zeigte die Arbeitsgruppe: Der Ruf einer Fleder-
Der soziale Status ist bedeutsam maus löst eine kollektive Kopplung der Gehirne aller
Die Mäusestudie deutet auf eine weitere Bedeutung der zuhörenden Individuen in dem Raum aus. Und wie bei
Synchronizität hin: Sie sagt das Ergebnis zukünftiger In- den Mäusen werden dabei verschiedene Neuronen­
teraktionen voraus. Wie Fledermäuse genießen auch populationen aktiv, je nachdem, welches Tier in der
Mäuse die Gesellschaft von Artgenossen und schlafen Gruppe schreit. Die Muster waren so eindeutig, dass die
eng aneinandergekuschelt. Gleichwohl haben sie hier­ Wissenschaftler allein anhand der neuronalen Signale
archische Strukturen, einige der Nagetiere sind domi- erkennen konnten, welche der Fledermäuse gerufen
nanter als andere. Um das Dominanzverhalten zu tes- hatte. Die Korrelation zwischen ihren Gehirnen war
ten, führten Hong und Kingsbury ein Standardexperi- dann am stärksten, wenn die Schreie von »befreunde-
ment durch, den so genannten Röhrentest. Das Prinzip ten« Artgenossen kamen, also von solchen, die sich
ist ähnlich wie bei einem Fußballspiel, bei dem die bei- häufiger zusammentaten (siehe »Fledermausgehirne im
den Teams jeweils versuchen, in die gegnerische Hälfte Gleichtakt«).
zu gelangen. Die Forscher setzten zwei Tiere in eine Die Studien an Fledermäusen und Mäusen waren
Röhre, eines an jedem Ende, und beobachteten, wie sie technisch sehr unterschiedlich, aber »die beiden Ge-
sich aufeinander zubewegten. Diejenige Maus, die wei- schichten sind überraschend ähnlich«, sagt Hong. »Das
ter in die Hälfte ihres »Gegners« kommt, gilt als domi­ ist der aufregende Teil der Wissenschaft – wenn man
nanter. sieht, dass die Arbeit eines anderen die Schlussfolgerun-
Überraschenderweise war die Synchronizität zwi- gen bestätigt, die man unabhängig davon gemacht hat.«
schen Mäusen höher, die in ihrem sozialen Status weiter Thalia Wheatleys Studie an Menschen, an der ich
voneinander entfernt waren, und schwächer zwischen teilgenommen habe, will nun klären, ob sich Gehirne

GEHIRN&GEIST 72 1 2 _ 2 0 2 3
KOLLEKTIVE NEUROWISSENSCHAFT

auch auf der Ebene des Verstehens angleichen können. M E H R W I S S E N AU F


»SPEKTRUM.DE«
»Wir glauben zum Beispiel, dass Synchronizität sogar
dann auftritt, wenn Personen unterschiedliche Reize Musik kann in unser Innerstes vor-
auf dieselbe Weise interpretieren«, sagt Boncz. Die vor- dringen, uns beruhigen, uns beflü­geln.
läufigen Ergebnisse: Erzählen sich zwei Menschen eine Was sie im Gehirn bewirkt, lesen
Sie in unserem digitalen Spektrum
gemeinsame Geschichte, ist die Korrelation in einigen Kompakt »Musik im Kopf«:
Hirnregionen – insbesondere im Scheitellappen – grö-
www.spektrum.de/shop
ßer, als wenn die beiden für sich allein jeweils eine Ge- AGUSTIN / STOCK.ADOBE.COM; BEARBEITUNG:
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
schichte erfinden. »Dieser Bereich ist für das Gedächt-
nis und die Konstruktion von Erzählungen aktiv«, sagt
Wheatley. und Beau Sievers, der derzeit in Harvard und an der
Das Team will aber ebenfalls herausfinden, ob der Stanford University forscht, wie sehr Gespräche die
Inhalt der Geschichten und die dabei empfundene neuronalen Aktivitätsmuster zweier Gehirne einander
Freude der Paare mit einem höheren oder niedrigeren angleichen können. 49 Teilnehmerinnen und Teilneh-
Grad an Synchronizität zusammenhängt. Wie Sid und mer sahen sich unbekannte Stummfilmclips an und teil-
ich berichteten die meisten Teilnehmer, dass sie das ge- ten sich dann in kleine Gruppen auf, um darüber zu dis-
meinsame Geschichtenerzählen dem Alleingang vor- kutieren. Jede Gruppe sollte einen Konsens finden, wo-
zogen. Auf alle traf das allerdings nicht zu. Sind syn- rum es darin ging.
chrone Gehirne kreativer? Oder haben sie einfach mehr Nach den Gesprächen sahen sich die Probanden die
Spaß? Die Antworten müssen auf weitere Analysen Videos noch einmal an. In dieser zweiten Runde glichen
warten. Eine der Herausforderungen ist es, in den gro- sich die Signalmuster der Teilnehmer der jeweiligen
ßen Datenmengen sinnvolle Muster und Zusammen- Gesprächsgruppe an, und zwar in Hirnbereichen, die
hänge zu finden. Wie die frühen Astronomen, die zum für das Sehen, das Gedächtnis und das Sprachverständ-
ersten Mal die Sternbilder am Himmel kartierten, müs- nis zuständig sind. Die Denkorgane derjenigen, die sich
sen die Wissenschaftler Ordnung in das scheinbare am stärksten um einen Konsens bemüht hatten – und
Chaos bringen. nicht jene, die am meisten geredet hatten –, synchroni-
In einer weiteren Studie, die bisher nur als Vorabver- sierten sich dabei zuerst mit den anderen. »Indem sie
öffentlichung verfügbar ist, zeigten Thalia Wheatley miteinander sprachen und als Gruppe zu einem Kon-
sens kamen«, so Sievers, »richteten sie ihre Gehirne auf-
einander aus.«
Zusammengenommen zeigen die Ergebnisse, wie
»Wenn wir miteinander unser Gehirn auf faszinierende Art und Weise soziale
Interaktionen ermöglicht. Ohne Synchronizität und
reden, erzeugen wir eine diese tieferen Formen der Verbindung zu anderen ha-
Art Überhirn, das nicht auf ben wir möglicherweise ein größeres Risiko für psychi-
sche und körperliche Erkrankungen. Mittels neurona-
die Summe seiner Teile len Gleichtakts lehren und lernen Menschen, schließen
reduziert werden kann« Freundschaften, kooperieren und unterhalten sich. Wir
wollen uns verbinden, und Synchronizität ist offenbar
Thalia Wheatley, Neurowissenschaftlerin ein Weg, wie unser Gehirn uns dabei hilft. H

QUELLEN

Davidesco, I. et al.: The temporal dynamics of brain-to-brain synchrony between


students and teachers predict learning outcomes. Psychological Science 34, 2023
Kingsbury, L. et al.: Correlated neural activity and encoding of behavior across brains
of socially interacting animals. Cell 178, 2019
Montague, R. et al.: Hyperscanning: Simultaneous fMRI during
linked social interactions. Neuroimage 16, 2002
Rose, M. C. et al.: Cortical representation of group social communication in bats.
Science 374, 2021
Zhang, W., Yartsev, M. M.: Correlated neural activity across the brains of socially
interacting bats. Cell 178, 2019
Dieser Artikel im Internet: www.spektrum.de/artikel/2186019

GEHIRN&GEIST 73 1 2 _ 2 0 2 3
BÜCHER UND MEHR

IMAGINIMA / GETTY IMAGES / ISTOCK


Reizvoll, aber nicht lebendig
Eine sensible Analyse des Unterschieds zwischen künstlicher und menschlicher Intelligenz

K
ünstliche Intelligenz verändert unser Leben und KI wie eine künstliche Blume: oberflächlich betrachtet
unsere Arbeitswelt radikal. Nicht verwunder- reizvoll und funktional, aber nicht lebendig. Die
lich ist es daher, dass sich viele besonders reiße- derzeit realisierbare, schwache KI geniert keine eigen-
risch mit technischen Dystopien auseinandersetzen. ständige Bedeutung und entfaltet ihre Stärken nur in
Man fürchtet etwa wild gewordene, autonome Killer- jenen Bereichen der menschlichen Intelligenz, die von
Roboter oder die Zentralisierung von Macht und Infor- formalen Abläufen und vorhersehbaren Erwartungen
mation. Das sind selbstverständlich wichtige Themen – geprägt sind. Vielleicht kann sie uns dadurch von
allerdings sind sie bereits seit Jahrzehnten Teil des Dis- lästigen Routineaufgaben befreien, so Friedrich, damit
kurses. »Degenerierte Vernunft« bietet etwas erfreulich wir die »wilde Schönheit« der menschlichen Vernunft
anderes: Eine sensible Analyse des Unterschieds entfalten können, also mehr Zeit und Energie für Sinn
zwischen künstlicher und menschlicher Intelligenz. stiftende Kreativität und Zwischenmenschliches
Jörg Phil Friedrich ist nicht nur Philosoph und Pub- haben? Kurzweilig, gut lesbar, hochrelevant und ori-
lizist, sondern auch seit mehr als 25 Jahren als Soft- ginell.
wareentwickler tätig, was ihn zu realitätsnahen und Ronald Sladky ist promovierter Medizinphysiker und kognitiver Neuro-
verständlichen Funktionsanalysen von KI und maschi- wissenschaftler. An der Universität Wien erforscht er Emotionen und
nellem Lernen befähigt. Kurz diskutiert er zunächst die Amygdala.
die Vorschläge des britischen Logikers und Mathemati-
kers Alan Turing, wie wir testen könnten, ob sich ein
System intelligent verhält. Danach beschreibt er elegant
den Ansatz des amerikanischen Philosophen John
Searles, der argumentiert, dass intelligentes Verhalten
TIPP
DES MONATS
allein noch nicht ausreicht, um sagen zu können, dass HHHHH
ein System tatsächlich intelligent ist – also über echte Jörg Phil Friedrich
Einsicht und Verständnis verfügt. Friedrich findet, dass
wir noch unabsehbar weit von dieser so genannten DEGENERIERTE VERNUNFT
starken KI entfernt sind. Künstliche Intelligenz und
Im Gegensatz zu künstlichen Aromen und Kunst- die Natur des Denkens
schnee, die durchaus als echt durchgehen könnten, sei Claudius, 2023, 128 S., € 20,–

GEHIRN&GEIST 74 1 2 _ 2 0 2 3
HHHHH den erhält, erklärt Anna Miller, Journalistin, Autorin
Anna Miller und Expertin für digitale Achtsamkeit.
Den Weg dorthin beschreibt sie in zwei Abschnitten.
VERBUNDEN Zunächst ergründet sie auf rund 50 Seiten, worin die
Wie du in digitalen Zeiten Faszination des Digitalen liegt und wie es Dinge
wieder Platz schaffst verdrängt, die uns glücklich machen. Dabei geht Miller
für Dinge, die dir wirklich auch auf wissenschaftliche Hintergründe ein. Im
wichtig sind
zweiten, längeren Teil wird es praktisch: Die Autorin
Ullstein, 2023, 368 S., € 12,99 stellt zehn Wege vor, die helfen, dem Digitalen einen
angemessenen Raum im Alltag zuzuweisen. Wem das
gelingt, der findet Fokus, Energie, Kreativität, Nähe
Strategien für digitale und echte Verbundenheit.
Achtsamkeit Das Buch hat eine besondere Stärke: Die Autorin
Wege zu einem sinnvollen Umgang mit weiß das Digitale zu schätzen. Sie zeigt auf, wie die
Smartphone und Computer Onlinewelt Hand in Hand gehen kann mit einem
erfüllten Leben. Und sie hat einen differenzierten Blick

S
chnell noch etwas posten, die Timeline checken, auf das Thema. Es komme nicht allein darauf an, wie
ein oder zwei lustige Videos ansehen – und lange man sein Smartphone nutze. Wichtig sei vor
plötzlich ist der Tag vorbei. Viele Menschen allem, weshalb und wann man die Geräte verwende
verbringen täglich zahlreiche Stunden in der digitalen und mit welchen anderen Tätigkeiten man seine Zeit
Welt, vor allem in den sozialen Medien. Das Digitale verbringe.
kann nützlich sein und manches vereinfachen. Aber Um die Lesenden bei der Selbstreflexion zu unter-
nur, wenn man es sinnvoll verwendet. Wie das stützen, streut die Autorin Fragen und Übungen ein.
funktionieren kann und wie man die Verbindung zum Teilweise fühlt sich das Buch wie eine Therapie an. Es
echten Leben und zu realen Freundinnen und Freun- weckt Lust, über das eigene Verhalten nachzudenken.

AboVorteile
Tasting und Vortrag
Die Wissenschaft vom Whisky
Whisky ist ein komplexes Getränk – er überspannt das gesamte
Spektrum von fruchtigen Noten bis zu herben Raucharomen. Doch
welche Stoffe erzeugen Geruch und Geschmack der verschiedenen
Whiskys, und wie kommen sie ins Glas? Der Chemiker und
Journalist Lars Fischer erklärt die molekularen Hintergründe des
schottischen Nationalgetränks und beantwortet nebenbei auch
die alte Streitfrage: mit Wasser – ja oder nein?
TERMIN: Freitag 17. 11. 2023, Offenbach
Preisvorteil für Abonnentinnen und Abonnenten!
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GEHIRN&GEIST 75 1 2 _ 2 0 2 3
DENP
Etwas unangenehm fällt Millers Vorliebe für Kategori- nen geht, sondern um all das, was uns in unserem
en auf. Zum Beispiel beschreibt sie vier »Happiness- täglichen Leben bewegt«. Das bedeutet keineswegs, dass
Typen«: diszipliniert, hinterfragend, pflichtbewusst die beiden nur anekdotische Berichte aus der psycho­
oder rebellisch. Das ist natürlich recht oberflächlich, da logischen und psychotherapeutischen Praxis liefern.
sicherlich nur wenige in solche Schubladen passen. Im Gegenteil lassen die Autorinnen wissenschaftliche
Einige Tipps der Autorin sind zudem sehr kopflastig. Erkenntnisse sowie Standpunkte von Expertinnen und
Man soll beispielsweise Pläne erstellen und seine Experten immer wieder in den Text einfließen.
Aufgaben strukturieren. Konkrete Übungen und Tipps helfen dabei, das Gele-
Dennoch ist es ein vielseitiges Buch, das hinterfragt, sene anzuwenden. So bekommt das Buch den Charakter
warum sich negative Verhaltensmuster ausbilden. eines SOS-Helfers, wie Michael und Hartmann selbst
Anna Miller zufolge ist das Digitale oft nicht das eigent- schreiben. Die Autorinnen laden zur Metta-Meditation
liche Problem. Sie zeigt auf, welche tiefer liegenden ein, vermitteln die Wechselatmung oder schlagen ein
Schwierigkeiten zu einem ungesunden digitalen Feierabendritual vor. Sie erklären die Verwendungsweise
Konsum führen – und wie man diese in den Griff einer Tageslichtlampe bei Winterblues sowie Ansätze
bekommt. aus der Psychotherapie wie die innere Teamsitzung oder
Stefanie Uhrig ist Wissenschaftsjournalistin und promovierte Neuro- die Konfrontation mit Ängsten im Rahmen der kogniti-
wissenschaftlerin in Erbach im Odenwald. ven Verhaltenstherapie. Selbst negativ konnotierte
Aspekte des (Seelen-)Lebens wie Wut, Angst und
Einsamkeit werden so eingeordnet und beschrieben,
dass man ihren Wert erkennen und besser mit ihnen
umgehen kann.
HHHHH Den Autorinnen ist ein spannendes und informatives
Tanja Michael, Buch für alle gelungen, die alltagstaugliche Antworten
Corinna Hartmann auf psychologische Fragen suchen. Dass das Buch »55
55 FRAGEN AN DIE SEELE Fragen an die Seele« verspricht, die Autorinnen diese
allerdings nicht direkt an den »Protagonisten« Seele
Wie sie tickt und was ihr
Halt gibt stellen, sondern eher über sie sprechen, ist eine kleine
Unstimmigkeit. Michael und Hartmann schreiben
dtv, 2023, 304 S., € 17,–
jedoch so kundig, dass das nicht ins Gewicht fällt.
Psychische Balance für ein gutes Marie-Thérèse Fleischer arbeitet als Journalistin in Baden bei Wien. Sie
hat Psychologie, Kommunikationswissenschaft und biomedizinische
Leben Analytik studiert.

Ein praktischer Kompass für alle, die ihr


Innerstes besser verstehen wollen

W
er sein Innerstes versteht, ist besser in der HHHHH
Lage, psychische Herausforderungen zu
Christian Firus
meistern. Dieser Überzeugung folgen die
Psychologische Psychotherapeutin Tanja Michael und WENN DIE WELT
die Psychologin und Wissenschaftsjournalistin AUS DEN FUGEN GERÄT
Corinna Hartmann in ihrem Buch. In 55 Kapiteln Vom Umgang mit Angst
erklären sie nicht nur, was die Seele gesund oder krank in unsicheren Zeiten
macht, sondern auch, wie man seine Ressourcen Patmos, 2023, 208 S., € 20,–
bestmöglich nutzt, mit bestimmten Emotionen umgeht
und das eigene Leben positiv(er) gestaltet.
Der Band gliedert sich in vier Abschnitte: Zunächst Mit Gelassenheit zur seelischen
wird die »Anatomie der Seele« beleuchtet, es folgen Gesundheit
eine »Gebrauchsanweisung« derselben sowie ein Strategien gegen alltägliche Ängste und
»Gefühlskompass«, bevor die Autorinnen schließlich Unsicherheiten
»Die Formel für ein gutes Leben« entwickeln. Gleich

D
zu Beginn erläutern Michael und Hartmann, warum ie Corona-Pandemie, der Klimawandel und der
sie sich für den Begriff »Seele« entschieden haben, wo Krieg in der Ukraine haben dazu beigetragen,
doch in der wissenschaftlichen Literatur eher von dass viele Menschen verunsichert sind und
»Psyche« die Rede ist: »weil es in diesem Buch nicht unter Ängsten leiden. Depressionen und emotionale
nur um Diagnosen, Definitionen, Daten und Neuro- Störungen haben deutlich zugenommen. Das erlebt

GEHIRN&GEIST 76 1 2 _ 2 0 2 3
BÜCHER UND MEHR

auch der Psychiater und Psychotherapeut Christian »Ronja Räubertochter«. Zudem bezieht er sich häufig
Firus in seinem Arbeitsalltag. Mit seinem Buch auf religiöse Traditionen, die aus seiner Sicht eben-
möchte er Betroffenen helfen, einen konstruktiven falls dabei helfen können, gelassener mit den Heraus-
Umgang mit ihren Ängsten zu finden und mehr forderungen des Alltags umzugehen. Allerdings geht
Resilienz im Umgang mit Krisen zu entwickeln. er dabei nur auf das christliche Kulturerbe ein. Im
Dabei richtet er sich vor allem an Menschen, deren Kontext von heilsamem Verzicht beispielsweise
Symptome keinem spezifischen Krankheitsbild drückt er Bedauern darüber aus, dass die christliche
entsprechen und die keinen akuten professionellen Fastenzeit an Bedeutung verloren hat. Andere Reli-
Behandlungsbedarf haben. Obwohl der Titel des gionen, für die dieses Thema bis heute eine wichtige
Buchs sich auf Ängste bezieht, handelt dieses nicht Rolle spielt, bleiben außen vor.
schwerpunktmäßig von Angststörungen oder Pho- Die Kapiteleinteilung suggeriert eine klare Struktur.
bien, sondern es geht eher um Gefühle allgemeiner Der erste Teil soll das Phänomen Angst beleuchten,
Verunsicherung, die mit Ängstlichkeit und Hoff- der zweite Strategien gegen die Angst darstellen und
nungslosigkeit einhergehen können. Zur Bewältigung der dritte die Chancen der Angst aufzeigen. An dieser
empfiehlt Firus unter anderem, den Blick auf eigene Einteilung orientiert sich Firus allerdings kaum.
Stärken und Erfolgserlebnisse zu richten und Freund- Stattdessen mischt er ohne erkennbaren roten Faden
schaft mit sich selbst zu schließen. Statt zu versuchen, die Aspekte aller Kapitel und schweift zudem häufig
Ängste zu verdrängen, solle man sich ihnen liebevoll ab. So legt er ausführlich seine Meinung zu Maßnah-
zuwenden und die dahinterstehenden Bedürfnisse men gegen den Klimawandel dar und baut dabei nur
erforschen. am Rande Brücken zum eigentlichen Thema, der
Das Buch enthält ein ausführliches Literaturver- Zukunftsangst.
zeichnis und viele Verweise mit Endnoten, die An- Dennoch kann das Buch Unterstützung bieten
regungen zum Weiterlesen liefern. Um seine Kern- für Menschen, die sich angesichts aktueller Krisen
aussagen zu verdeutlichen, zitiert Firus aus verschie- geängstigt fühlen. Obwohl die Ausführungen von
denen bekannten Romanen, von »Harry Potter« bis Christian Firus unterm Strich wenig Neues beinhal-

Dienstag
14. November
2023
LIVE
ONLINE-VORTRAG

FORSCHUNG VERSTÄNDLICH ERKLÄRT:


WIE FUNKTIONIERT
WISSENSCHAFTSKOMMUNIKATION?«
In diesem kostenfreien virtuellen Spektrum LIVE-Vortrag wird
Prof. Carsten Könneker, ehemaliger Chefredakteur von
Spektrum der Wissenschaft, über Rollen, Akteure
und neue Wege der Wissenschaftskommuni-
kation sprechen.
FOTOGRAFIELINK / GETTY IMAGES / ISTOCK

Infos und Anmeldung:

Spektrum.de/live

GEHIRN&GEIST 77 1 2 _ 2 0 2 3
Bestseller ten, können sie durch die mehrfache Wiederholung im
Verlauf des Buchs dabei helfen, die genannten Strate­
Die aktuellen Spitzentitel aus den Bereichen gien für mehr Selbstliebe und Resilienz zu verinnerli-
Psychologie, Hirnforschung und Gesellschaft chen. Konkrete Tipps und Übungen ermutigen dazu,
an der eigenen Sicht auf sich selbst und auf die Welt zu
arbeiten.
Elena Bernard ist Wissenschaftsjournalistin in Dänemark.

1 JAMES CLEAR
Die 1%-Methode – Minimale Veränderung,
maximale Wirkung
HHHHH
Bianca Sparacino
Goldmann, 2020, 368 S., € 13,–
THE STRENGTH

2 KEN MOGI IN OUR SCARS


Ikigai: Die japanische Lebenskunst Was uns Kraft gibt und heilt
DuMont, 2020, 176 S., € 12,– Aus dem Englischen von Renate Graßtat
Piper, 2023, 157 S., € 20,–

3 MARTIN WEHRLE
Wenn jeder dich mag, nimmt keiner dich ernst
Mosaik, 2023, 240 S., € 22,–
Trost für gebrochene Herzen
Ein einfühlsamer, aber wenig abwechs-
lungsreicher Begleiter für Menschen in
4 DAVID GOGGINS
Can’t Hurt Me
Riva, 2023, 368 S., € 22,–
Krisenzeiten

L
iebe, Verlust, Verletzungen, Neubeginn – das sind

5 SABRINA FLEISCH
Meine Reise zu mir selbst
Remote, 2021, 386 S., € 19,99
die Themen der Text- und Gedichtsammlung
von Bianca Sparacino. Die im kanadischen
Toronto lebende Autorin hat schon mehrere Gedicht-
bände und einen Podcast veröffentlicht.

6 ANDREA WEIDLICH
Wo ein Fuck it, da ein Weg
MVG, 2022, 288 S., € 17,–
In ihrem neuen Buch taucht sie tief in die Welt der
Gefühle ein, die mit Beziehungen und deren Ende
verbunden sind. Der Tonfall ist mal einfühlsam, mal
ermutigend, mal aktivierend. Sparacino erklärt, wie man

7 LEON WINDSCHEID
Besser fühlen
Rowohlt, 2021, 272 S., € 16,–
das Unglück überwindet, indem man zerbrochene
Beziehungen aufarbeitet, vermittelt aber auch ganz
allgemeine Lebensweisheiten und bemüht sich, den
Selbstwert ihrer Leserschaft zu stärken. Das Buch

8 BRIANNA WIEST
When You’re Ready, This Is How You Heal
Piper, 2022, 224 S., € 22,–
enthält positive Affirmationen, die dabei helfen können,
Herausforderungen zu meistern, sowie praktische
Tipps, etwa dass man sein Handy weglegen und besser
in tiefgrün­dige Gespräche mit seinen Liebsten eintau-

9 HENNING BECK
12 Gesetze der Dummheit
Econ, 2023, 256 S., € 20,–
chen solle.
Insgesamt finden sich viele Impulse für Menschen in
Krisenzeiten. Die Leserinnen und Leser finden Trost,
indem sie erkennen, dass sie nicht die Einzigen sind,

10 MARIE LUISE RITTER


Vom Glück, allein zu sein
Piper, 2023, 240 S., € 17,–
die Derartiges durchleben. Der Stil der Autorin – sie
spricht ihre Leserschaft häufig direkt an und arbeitet mit
vielen Wiederholungen – ist jedoch leider nicht sehr
abwechslungsreich. Weniger Texte sowie ein stärkerer
Fokus auf deren unterschiedliche Botschaften wären
womöglich die bessere Wahl gewesen. ­
Marie-Thérèse Fleischer arbeitet als Journalistin in Baden bei Wien. Sie
Nach Verkaufszahlen von media control hat Psychologie, Kommunikationswissenschaft und biomedizinische
gelistet (Zeitraum: 31. 8. 2023–27. 9. 2023​) Analytik studiert.

GEHIRN&GEIST 78 1 2 _ 2 0 2 3
T V- UND RADIOTIPPS

TIPP

CINDY SHEBLEY / GETTY IMAGES / ISTOCK


DES MONATS

Das Glück und das Wohnen


Samstag, 18. November
Dokumentationsreihe »Unhappy«, arte, 0.05 Uhr (Nacht auf Samstag)
Welche Bedingungen muss ein Zuhause erfüllen, damit 29-jährige Patricia Sachau hat ihr Heim in Hamburg
wir uns darin wohlfühlen? Ist der Mensch überhaupt gegen einen Wohnwagen neben ihrer Schafherde in
für das Stadtleben geeignet oder braucht er um sich Mecklenburg-Vorpommern getauscht. Wie viel Platz,
herum die Natur? Matthias Heitzler lebt seit mehr als wie viel Komfort brauchen wir wirklich zum Glücklich-
20 Jahren in einer kleinen Wohnung im »Corbusier- sein? Die Professorin für Architekturpsychologie
Haus«, einem 17-stöckigen Bau aus den 1950er Jahren Alexandra Abel von der Bauhaus-Universität Weimar
in Berlin, bekannt auch als »die Wohnmaschine«. Die erforscht, welche Gebäudemerkmale der Seele guttun.

TV Fred Mast von der Uni-


versität Bern und Anna
nur die entschei­den­den
Reize und Inhalte heraus-
Mobbing in der Schule –
was Eltern und Lehrer
Samstag, 4. November Abraham von der Uni- zu­filtern. tun können
Angstlust – Faszination versity of Georgia unter­- MDR um 4, Magazin,
True Crime suchen das Potenzial Montag, 6. November MDR Fernsehen, 17 Uhr
Dokumentation, 3sat, der Fantasie. Macht sie Brauchen wir Stress? Rund zehn Prozent aller
19.20 Uhr empathischer, weil sie Terra Xplore, Dokumen­ Schülerinnen und Schüler
Nervenkitzel allein kann dabei hilft, die Gedanken tation, ZDF, 4.30 Uhr leiden unter Ausgrenzung
den Erfolg des TV- unserer Mitmenschen (Nacht auf Montag) und Demütigung durch
Formats »True-Crimes« besser nachzuvollziehen? Die Mainzer Psychologin Gleichaltrige. Besonders
nicht erklären. Die und Resilienzforscherin betroffen sind Fünft- bis
Medienpsychologin Jo­- Sonntag, 5. November Donya Gilan erklärt, Zehntklässler.
hanna Börsting von der Wie Klänge uns be­ warum sich viele kleine
Hochschule Ruhr West einflussen Alltagssorgen in der Mittwoch, 8. November
kennt weitere Gründe. alles wissen, Magazin, Summe so negativ auf die Lebensglück – Was uns
hr fernsehen, 15.35 Uhr Psyche auswirken. Wie er zufrieden macht
Wozu gibt es Fantasie? Unsere Ohren sind im­- in Extremsituationen Planet Wissen, Magazin,
42 – Die Antwort auf fast mer auf Empfang, selbst handlungsfähig bleibt, SWR Fernsehen, 11.05 Uhr
alles, Dokumentation, arte, im Schlaf. Dafür hat beschreibt der Notarzt Was macht glücklich? Am
23.30 Uhr das Gehirn die Fähigkeit, Florian Reifferscheid. wichtigsten sind laut

GEHIRN&GEIST 79 1 2 _ 2 0 2 3
T V- UND R ADIOTIPPS

Gehirn&Geist Studien: Gesundheit,


Freundschaften, Selbstbe-
Montag, 6. November
Die Selbstvergiftung der
Chefredakteur: Dr. Daniel Lingenhöhl (v.i.S.d.P.)
stimmung – und ausrei- Seele überwinden
Artdirector: Karsten Kramarczik chend Erholung. Zu Gast Feature, Deutschlandfunk
Redaktionsleitung: Dr. Hartwig Hanser
Redaktion: Dipl.-Psych. Steve Ayan (stv. Redaktionsleitung, Ressortleitung
im Studio sind der Sozio- Kultur, 19.30 Uhr
­Psychologie), Dipl.-Psych. Liesa Bauer, Dr. Katja Gaschler (Koordination loge Martin Schröder Kränkungen und die da­-
Sonderhefte), Dr. Anna von Hopffgarten (Ressortleitung Hirnforschung),
Dr. Anna Lorenzen, Dr. Michaela Maya-Mrschtik (Ressortleitung und die Psychoanalytike- bei erfahrene Ohnmacht
Medizin), Claudia Wolf (M. Sc. Biol.) rin Julia Leithäuser. zementieren einen nega­-
Redaktionsassistenz: Andrea Roth
Schlussredaktion: Christina Meyberg (Ltg.), Sigrid Spies, Katharina Werle ti­ven Geisteszustand,
Bildredaktion: Lea Bayer, Alice Krüßmann (Ltg.), Anke Lingg,
Gabriela Rabe
Donnerstag, 9. November befürchtet der Philosoph
Layout: Anke Heinzelmann, Karsten Kramarczik Wellness für die Seele – und Theologe Thomas
Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. Angela D. Friederici, Max-Planck-
so bleiben wir psychisch Gutknecht.
Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften, Leipzig; gesund
Prof. Dr. Jürgen Margraf, Arbeitseinheit für klinische Psychologie und
Psychotherapie, Ruhr-Universität Bochum; Prof. Dr. Michael Pauen,
Planet Wissen, Magazin, Sonntag, 12. November
Institut für Philosophie der Humboldt-Universität zu Berlin; SWR Fernsehen, 11.05 Uhr Die Psychologie des
Prof. Dr. Frank Rösler, Institut für Psychologie, Universität Hamburg;
Prof. Dr. Henning Scheich, Leibniz-Institut für Neurobiologie, Bei den Fehlzeiten im Alterns
Magdeburg; Prof. Dr. Wolf Singer, ­Max-Planck-Institut für Hirnforschung, Job gehören psychische Wissenschaftsgespräch,
Frankfurt am Main; Prof. Dr. Elsbeth Stern, Institut für Lehr- und
Lernforschung, ETH Zürich Erkrankungen inzwi- SWR2, 8.30 Uhr
Herstellung: Natalie Schäfer
schen zu den Hauptursa- Altern wir heute besser als
Marketing: Annette Baumbusch (Ltg.), Tel.: 06221 9126-741, chen. Was beugt der früher? Ein Gespräch
E-Mail: service@spektrum.de
Einzelverkauf: Anke Walter (Ltg.), Tel.: 06221 9126-744
Überlastung vor? mit dem Alternsforscher
Verlag: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Hans-Werner Wahl von
Postfach 10 48 40, 69038 Heidelberg, Tel.: 06221 9126-712,
E-Mail: gehirn-und-geist@spektrum.de;
Lisas Paarschitt: Mütter der Universität Heidelberg.
Hausanschrift: Tiergartenstraße 15–17, 69121 Heidelberg, Talkshow, WDR Fernsehen,
Tel.: 06221 9126-600, Fax: 06221 9126-751,
Amtsgericht Mannheim, HRB 338114 22.45 Uhr Sonntag, 19. November
Die Psychologin Stefanie Sanguiniker zwischen
Geschäftsleitung: Markus Bossle
Assistenz Geschäftsleitung: Stefanie Lacher Stahl erzählt, warum es in Spaß und Unvernunft
Leser- und Bestellservice: Helga Emmerich, Estefanny Espinosa de Rojas,
Sabine Häusser, Tel.: 06221 9126-743, E-Mail: service@spektrum.de
ihrer Beratungspraxis Deutschlandfunk,
Vertrieb und Abonnementsverwaltung: Spektrum der Wissenschaft früher oder später immer 20.05 Uhr
Verlagsgesellschaft mbH, c/o ZENIT Pressevertrieb GmbH,
Postfach 81 06 80, 70523 Stuttgart, Tel.: 0711 7252-192, Fax: 0711 7252-366,
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Stuttgart, IBAN: DE52 6001 0070 0022 7067 08, BIC: PBNKDEFF
»Unhappy«, arte, 2.25 Uhr
Die Mitglieder von ABSOLVENTUM MANNHEIM e. V., der DGPPN,
des VBio, der GNP, der DGNC, der GfG, der DGPs, der DPG, des DPTV,
(Nacht auf Samstag) Montag, 20. November
des BDP, der GkeV, der DGPT, der DGSL, der DGKJP, der DGSF, der ECA, Macht Geld nun glück­- Jung und schon dement
der Turm der Sinne gGmbH, der NOS (Neurofeedback Orga­nisation
Schweiz), von KORTIZES Institut für populärwissenschaftlichen Diskurs
lich – oder nicht? Dazu Feature, Deutschlandfunk
sowie von Mensa in Deutschland erhalten die Zeitschrift »Gehirn&Geist« äußern sich Fachleute aus Kultur, 19.30 Uhr
zum gesonderten Mitgliedsbezugspreis.
Psychologie, Philosophie, Rund 100 000 Menschen
Anzeigen: E-Mail: anzeigen@spektrum.de, Tel.: 06221 9126-600 Soziologie und den sind in Deutschland
Druckunterlagen an: Natalie Schäfer, E-Mail: schaefer@spektrum.de
Anzeigenpreise: Zurzeit gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 22 vom 1. 1. 2023. Neurowissenschaften. von Demenz betroffen,
obwohl sie noch nicht
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einmal 65 Jahre alt sind.
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Sonntag, 5. November Programmänderungen
schriftliche Einwilligung der Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesell­ Gedächtnisforscherin sind jederzeit möglich.
schaft mbH unzulässig. Jegliche unautorisierte Nutzung des Werks ohne
die Quellenangabe in der nachstehenden Form berechtigt den Verlag zum Hannah Monyer Aktuelle Sendedaten
Schadensersatz gegen den oder die jeweiligen Nutzer. Bei jeder utorisierten Gespräch, Deutschland­ entnehmen Sie bitte den
(oder gesetzlich gestatteten) Nutzung des Werks ist die folgende
Quellenangabe an branchenüblicher Stelle vorzunehmen: © 2023 (Autor), funk, 13.30 Uhr Internetseiten der jewei­
Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg. Für Die Neurobiologin ligen Sender. Zur Druck­
unaufgefordert eingesandte Manuskripte und Bücher übernimmt die
Redaktion keine Haftung; sie behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen. Hannah Monyer erforscht, legung waren noch keine
wie wir lernen, uns zu späteren Sendungen
ISSN 1618-8519 erinnern und zu vergessen. bekannt.

GEHIRN&GEIST 80 1 2 _ 2 0 2 3
VORSCHAU

Heft 1/2024 erscheint am 1. Dezember

Der Fluch der


Super-Eltern
Alleinerziehende oder
Mütter und Väter, denen
es an sozialer Unterstüt-
zung mangelt, neigen zu
SDOMINICK / GETTY IMAGES / ISTOCK (SYMBOLBILD MIT FOTOMODELL)

chronischer Erschöpfung –
dem so genannten Eltern-
Burnout. Allerdings droht
dieser auch dann, wenn
überhöhte Erziehungsan-
sprüche und bestimmte
Persönlichkeitsmerkmale
aufeinandertreffen.

Neue Waffen
gegen Demenz
Therapeutische Antikör-
Außerkörperliche Erfahrungen per haben in klinischen
Studien bei Menschen mit
Etliche Menschen sind davon überzeugt, ihre Seele hätte beim Einschlafen,
Alzheimer erstmals Wir-
beim Aufwachen oder in einer lebensbedrohlichen Situation schon einmal für
kung gezeigt: Die Medika-
kurze Zeit ihre sterbliche Hülle verlassen. Haben sie vielleicht nur geträumt?
mente Lecanemab und
So einfach ist es nicht, denn zum Teil erinnern sie sich an Details aus der Zeit
Donanemab reduzieren
ihrer Bewusstlosigkeit, die sie eigentlich nicht wissen können. Weltweit
Proteinablagerungen im
interessieren sich Fachleute aus den Neurowissenschaften und der Psycholo-
Gehirn von Patienten und
gie dafür, wie das Phänomen zu Stande kommt.
bremsen den kognitiven
Verfall. In Europa stehen
die Arzneien nun kurz vor
der Zulassung. Doch die
Belästigt Behandlung mit ihnen hat
auch Schattenseiten.
und verfolgt
Mehr als elf Prozent aller Deut-
schen sind bereits Stalking-Opfer
geworden, die meisten von ihnen
weiblich. Die Drohungen der Täter
sollte man nicht auf die leichte
Schulter nehmen: Betroffene Frau-
OLASER / GETTY IMAGES / ISTOCK (SYMBOLBILD MIT FOTOMODELLEN)

en haben nicht nur ein erhöhtes Newsletter


Risiko für psychische und körperli- Lassen Sie sich jeden
che Erkrankungen – die Täter Monat über Themen
können auch gewalttätig werden. In und Autoren des neuen
seltenen Fällen kommt es sogar zu Hefts informieren!
Tötungsdelikten. Wie kann man Wir halten Sie gern per
sich schützen? E-Mail auf dem Laufen-
den – natürlich kostenlos.
Registrierung unter:
www.spektrum.de/
gug-newsletter

GEHIRN&GEIST 81 1 2 _ 2 0 2 3
­
­ FAKT UND FIKTION

DANIEL PASCHE FÜR CEMAS; MIT FRDL. GEN. VON PIA LAMBERTY
Finde die
Gemeinsamkeit!
M acht man sich im Internet oder in Fachbüchern
auf die Suche nach kognitiven Verzerrungen, so
stößt man auf eine schier endlose Vielzahl an Phäno-
PIA L AMBERT Y

ist Psychologin und Expertin für Verschwörungsdenken. Sie arbeitet


am CeMAS – Center für Monitoring, Analyse und Strategie.
menen, die unsere Wahrnehmung auf die eine oder an-
dere Weise verzerren können.
Die Flut an möglichen Biases, wie Psychologen dazu Die Bevorzugung von Gruppen, denen man selbst
sagen, scheint unüberschaubar: Der Ikea-Effekt erklärt, angehört, sowie der so genannte fundamentale Attribu-
warum wir selbst gebauten Dingen mehr Wert beimes- tionsfehler (welcher besagt: Andere Menschen tun das,
sen als fix und fertig gekauften; »illusorische Korrelati- was sie tun, weil sie so sind, wie sie sind, und nicht, weil
onen« beschreiben unsere Tendenz, Dinge zu verknüp- die Umstände sie dazu verleiten) sind Varianten der
fen, die gar nicht unbedingt etwas miteinander zu tun Idee, dass die eigene Gruppe im Kern positiv ist. Selbst
haben; und beim Effekt der bloßen Begegnung fin­ - der Verschwörungsglaube ist eng daran gekoppelt: Man
det wir schön, was uns schon häufiger unterkam. Was hegt eine Annahme über die Welt (»Die da oben sind
es mit dem Rhyme-as-reason-Effekt, dem Bizarreness- böse«) und verarbeitet alle weiteren Informationen ent-
Effekt oder der Illusion einer asymmetrischen Einsicht sprechend.
auf sich hat, würde hier leider zu weit führen. Das bedeutet andererseits natürlich nicht, dass wir
Beim Durchforsten der Menge an kognitiven Verzer- alles Wissen über die einzelnen Verzerrungen über
rungen kann man leicht den Eindruck gewinnen, dass Bord werfen sollten. Ein genauerer Blick auf die Ge-
sie alle völlig unabhängig voneinander existieren und meinsamkeiten kann jedoch dabei helfen, die wahren
unser Verhalten und Denken wild beeinflussen. Nun Unterschiede klarer zu erkennen. Obwohl zum Beispiel
haben die Psychologen Aileen Oeberst und Roland Im- Verschwörungsglaube und das in bestimmten Zirkeln
hoff in einer Veröffentlichung diese Sichtweise gerade- verbreitete »Lügenpresse«-Vorurteil grundlegende As-
gerückt. Statt ständig neue Begriffe und Konzepte zu pekte gemeinsam haben dürften, sind es dennoch ver-
(er)finden, sollten sich Forscher darauf konzentrieren, schiedene Phänomene.
was all die Verzerrungen eigentlich gemeinsam haben Arbeiten wie die von Oeberst und Imhoff zeigen:
und wie man sie am besten systematisiert, so Oeberst Eine Systematisierung kognitiver Verzerrungen schärft
und Imhoff. nicht nur den Blick auf das Denken der anderen, son-
Denn: Viele Vorurteile sind im Wesentlichen eine dern lässt uns auch bewusster mit den eigenen Über-
Kombination aus bereits bestehenden Grundüberzeu- zeugungen und Wahrnehmungen umgehen. H
gungen über die Welt und unserer hartnäckigen Nei-
gung, Informationen so zu verarbeiten, dass sie mit un-
seren bereits gefassten Überzeugungen in Einklang ste- QUELLE
hen. So haben die meisten Verzerrungen vermutlich
Oeberst, A., Imhoff, R.: Toward parsimony in bias research: A
einen gemeinsamen Nenner in einem zu Grunde lie- proposed common framework of belief-consistent information
gende Glaubenssatz, der da lautet: »Ich treffe korrekte processing for a set of biases. Perspectives on Psychological
Annahmen über die Welt.« Science, doi: 10.1177/17456916221148147, 2023

GEHIRN&GEIST 82 1 2 _ 2 0 2 3
Unsere Neuerscheinungen
Ob Naturwissenschaften, Raumfahrt oder Psychologie:
Mit unseren Magazinen behalten Sie stets den Überblick
über den aktuellen Stand der Forschung
UNSPLASH / HANS ISAACSON (unsplash.com/photos/4O_PTF9WHvI)

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