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gehirn&Geist

gehirn&Geist 4/2012

Nr. 4/ 2012
€ 7,90 / 15,40 sFr.

Das Magazin
für Psychologie und Hirnforschung gehirn-und-geist.de

7
Bauchhirn · Neuroimaging · Menschenkenntnis · Balkenagenesie · Klischee Blondine · Politiker mit Doppelmoral · Neuromythen

gehirn&Geist

Die größten
Neuromythen
Hirnjogging, freier Wille, Gedankenlesen … Was ist dran?

Doppelmoral
Sind wir nicht alle ein
bisschen Wulff? (S. 14)

Darm fühlt mit


Im Bauch steckt
ein zweites Gehirn (S. 50)

Blond = blöd?
Ein Klischee und
seine Folgen (S. 20)
D 57525
Sonderhefte aus dem Lesershop

Spektrum-Spezial Grüne Reihe 1/2012


WIE ENTSCHEIDEN WIR?
Es gehört zum menschlichen Leben, sich immer wieder entscheiden zu müssen – spontan oder
langfristig. Wovon lassen wir uns dabei leiten, vom Verstand oder vom Bauchgefühl? Und was ist besser?
Nicht nur Psychologen haben solche Fragen untersucht und dabei teils überraschende Erkenntnisse
gewonnen. Auch Hirnforscher beschäftigen sich zunehmend mit dem Thema. Sogar Genetiker liefern
neue Ergebnisse, wonach erblich bedingte Ängstlichkeit die Entscheidungen von Menschen wesentlich
prägt. Soziologen haben erforscht, wie die Risikoneigung zwischen verschiedenen Bevölkerungsgrup-
pen verteilt ist. Wirtschaftswissenschaftler schließlich ergründeten, welche Rolle die Ungeduld beim
Profitstreben spielt. Vertreter all dieser Disziplinen legen ihre neuesten Ergebnisse in diesem Spektrum-
Spezial dar und zeichnen so ein komplexes Bild des Menschen, der im Zwiespalt zwischen Kopf und
Bauch immer wieder die beste Entscheidung für sich selbst zu treffen sucht.
Das Spektrum-Spezial Grüne Reihe 1/2012 »Wie entscheiden wir?« kostet € 8,90.
Nähere Informationen zu unseren Spektrum-Spezial-Reihen: www.spektrum.de/spezialabo

Gehirn&Geist-Highlights 1/2012
PSYCHOTHERAPIE HEUTE
Nach Schätzungen erkranken rund 40 Prozent der Deutschen im Lauf ihres Lebens mindestens
einmal an einer psychischen Störung und brauchen einen Therapeuten. Die Frage ist nur: Welcher
Therapeut ist dann der richtige? Bin ich beim Gesprächstherapeuten gut aufgehoben oder sollte
ich einen Psychoanalytiker kontaktieren?
In diesem Heft sind Artikel zum Thema Psychotherapie aus Gehirn&Geist zusammengestellt.
Anhand von Fallbeispielen werden die großen Schulen der Psychotherapie vorgestellt und gezeigt,
wie sie arbeiten. Daneben finden Sie Beispiele unterschiedlichster Therapien mit bewährten
Methoden bis hin zu fernöstlichen Meditationen und Computersimulationen.
Unveränderte Neuauflage. Das Gehirn&Geist-Highlights kostet € 8,90.

Gehirn&Geist-Dossier 1/2012
Psychologie im Alltag – Wie wir besser leben
Stellen wir uns einen Zeitreisenden aus den 1960er Jahren vor, der in unserer Gegenwart landet. Wie
merkwürdig muss ihm das Leben im 21. Jahrhundert erscheinen! Erwachsene und Kinder sprechen
an jeder Straßenecke in winzige Geräte, sie pflegen Freundschaften am Computer, und manche bauen
sogar eine emotionale Beziehung zu einem scheibenförmigen Staubsauger auf. Damit sich die
Menschen in ihrer technisierten Umwelt wohl und sicher fühlen, lassen sich Produktdesigner einiges
einfallen. Wir glauben, das Leben fest im Griff zu haben. Doch was bestimmt tatsächlich unsere
Entscheidungen und Vorlieben? Was verraten sie über uns selbst? Wie lassen wir uns von unserer
Umwelt beeinflussen? Und vieles mehr …
Das Gehirn&Geist-Dossier »Wie wir besser leben« kostet € 8,90.

gehirn-und-geist.de/themen Fax: 06221 9126-751


E-Mail: service@spektrum.com Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Slevogtstraße 3–5 | 69126 Heidelberg
WISSENSCHAF T AUS ERSTER HAND Tel.: 06221 9126-743
editorial

Steve Ayan
Redaktionsleiter
ayan@gehirn-und-geist.de

irren ist … nützlich Autoren in diesem Heft

Jeder wissenschaftliche Fortschritt beginnt mit einem Irrtum. Denn erst wenn Als Assistant Professor für
sich eine Annahme durch findige Experimente als falsch erweist, wird der Weg Theorie und Geschichte der
frei zu tieferem Verständnis. Wissenschaft, erklärte der Philosoph Sir Karl Pop- Psychologie blickt Stephan
per, produziert keine absolute Wahrheit, sondern nur vorläufige Theorien, die ge- Schleim von Berufs wegen
rade so lange Gültigkeit besitzen, bis sie durch bessere ersetzt werden. Auf diese über den Tellerrand der
Weise schreiten Forscher zu immer tragfähigeren Modellen voran. Laborforschung. In seinem
Jene sieben »Neuromythen«, die Stephan Schleim in diesem Heft ab S. 38 ent- Beitrag ab S. 38 nimmt er d
­ ie
larvt, entstammen freilich weniger der Wissenschaft selbst als dem missglückten populärsten Mythen über
Versuch, ihre Ergebnisse der Öffentlichkeit zu vermitteln. Sie alle besitzen einen das Gehirn ins Visier.
wahren Kern. Es gibt Ansätze, die Gedanken von Probanden im Hirnscanner zu
lesen. Es gibt auch durchaus berechtigte Zweifel an der Willensfreiheit. Und ja, re-
gelmäßiges Hirnjogging hat Auswirkungen auf das Denkorgan. Doch die popu- Nicht nur im Kopf dirigieren
lären Schmalspurversionen dieser und weiterer Forschungsbefunde resultieren Neurone das Geschehen –
aus unzulässiger Vereinfachung oder gar Verfälschung. auch unser Verdauungstrakt
Als ich den Wissenschaftssoziologen Nikolas Rose von King’s College in Lon- ist von einem engmaschi­gen
don zur Legendenbildung in Sachen Gehirn befragte (siehe S. 44), fiel seine Ant- Nervengeflecht durch­zogen.
wort überraschend deutlich aus: Im Gerangel um öffentliche Aufmerksamkeit Die Geheimnisse der Bauch-
verkünde so mancher Forscher Dinge, die sich bei näherem Hinsehen als unhalt- hirns lüftet die Wiener
bar erwiesen. Im »Gehirn-Übertreibungssyndrom« sieht er den Kern des Pro- Medizinerin Gabriele Moser
blems. Hier sind auch wir Wissenschaftsjournalisten gefordert. Schließlich ist es ab S. 50.
unser Job, Forschung auf das Wesentliche zu reduzieren, um die entscheidende
Erkenntnis und ihre Bedeutung herauszuschälen und verständlich zu machen.
Doch dabei gilt es, nicht übers Ziel hinauszuschießen! G&G will – nicht nur mit Die Neurobiologin Claudia
dieser Ausgabe – einen Beitrag zur Entmystifizierung von Gehirn und Psyche Christine Wolf von der
­leisten. Ruhr-Universität Bochum
­schildert das Schicksal von
Unter diesem Vorzeichen steht auch der dritte Teil unserer Serie zu den großen Menschen, die ohne Balken –
Themen von G&G ab S. 62. Redakteurin Anna von Hopffgarten blickt auf 20 Jah- die Hauptverbindung
re funktionelle Bildgebung am menschlichen Gehirn zurück. Was haben die bun- zwischen den Hirnhälften –
ten Bilder aus dem Hirnscanner bewegt, und wohin geht die Entwicklung des zur Welt kommen (S. 70).
Neuroimaging aktuell? In gewisser Weise schärft auch dieser Beitrag das Be-
wusstsein dafür, dass unser Wissen stets vorläufig und im Wandel begriffen ist.
Wir sollten uns, bei allem Erklärungseifer, hin und wieder daran erinnern.
Jetzt neu
Eine erhellende Lektüre wünscht HINTER DEN SCHLAGZEILEN
Ihr Ab sofort beleuchten wir für Sie regelmäßig
aktuelle Fragen des Zeitgeschehens. Lesen Sie
ab S. 14: Doppelmoral aus psychologischer
Sicht – sind wir nicht alle ein bisschen Wulff?


www.gehirn-und-geist.de 3
inhalt

Doppelmoral 14

frontotemporale Demenz 56 BesitzDenken 24 Bildgebung 62

Psychologie TITELthema
8 Geistesblitze Hinter den Schlagzeilen 38 Die 7 gröSSten Neuromythen
14 Doppelte Buchführung Das Ich existiert nicht, weil es sich nicht im
3-D im Gehirn Politikern scheint es besonders schwerzu- Gehirn verorten lässt? Der freie Wille ist
Bestimmte Neurone unterscheiden fallen, ein Fehlverhalten zuzugeben. bloß eine Illusion? Hirnjogging macht
zwischen konkav und konvex Allerdings zeigen die meisten von uns schlau? »Das ist noch lange nicht gesagt!«,
Schwere Erblast? einen Hang zum Selbstbetrug entgegnet der Psychologe Stephan
Die Gehirne Süchtiger und ihrer Ge­- Schleim. Im Licht neuester Forschung
schwister zeigen ähnliche Merkmale 20 Blond sein zwischen Witz rechnet er mit einigen weit verbreiteten
Ungesunder Charakterzug Legenden ab
und Wirklichkeit
Narzissmus ist schlecht für die
Die Medien präsentieren gerne das Kli-
Gesundheit – vor allem bei Männern interview
schee der attraktiven, einfältigen Blondine.
Subtile Wahl 44 »Mancher leidet am Gehirn-
Forscher ergründen, woher das Stereo-
Der Ort der Stimmabgabe kann den
typ stammt und wie es uns beeinflusst ÜbertreiBungssyndrom«
Ausgang einer Wahl beeinflussen
Neuro ist in – aber die Popularität hat
Trügerischer Frieden
24 meins! auch ihre Schattenseiten. Der britische
Negative Gefühle sind nach der Nacht-
Besitzstreben gilt als typisch mensch­- Wissenschaftssoziologe Nikolas Rose
ruhe so intensiv wie am Tag zuvor
lich – doch wie entwickelt sich eigentlich erklärt, warum sich so viele Gerüchte um
Spendable Alpha-Männchen
der Umgang mit Eigentum? das Gehirn spinnen
Wenn Frauen rar sind, versuchen
Männer mit Geld zu beeindrucken
Ohne Worte
30 Auf Anhieb durchschaut?
Auf seine »gute Menschenkenntnis« sollte
Autisten lösen komplexe Aufgaben
man sich lieber nicht verlassen. Psycholo-
ohne Selbstgespräche
gen erforschen die Fallstricke, über die wir
Mit Links
beim Einschätzen von anderen stolpern
Das Gehirn reorganisiert sich rasch,
wenn der rechte Arm eingegipst ist
Angemerkt!
Gemeinsam isst’s sich anders
In Gesellschaft passen wir unsere 36 Im Fadenkreuz
Essgewohnheiten dem Gegenüber an Symbole beeinflussen auf subtile Weise
unsere Gewaltbereitschaft

4 G&G 4_2012
TITELTHEMA

7
Die größten
Neuromythen
38 Populäre Ansichten über das
Gehirn auf dem Prüfstand
44 Interview mit dem
Neurokritiker Nikolas Rose

medizin Hirnforschung rubriken

50 Aus der Mitte des Körpers Serie »Die groSSen G&G-Themen« Teil 3 3 Editorial
Unser Verdauungssystem enthält ein 62 Zoom in die Denkzentrale 6 Leserbriefe
ausgedehntes Nervengeflecht. Es ist eng Vor 20 Jahren entstand der erste Hirn- 78 Impressum
mit dem Gehirn verschaltet und beein- scan per fMRT. Heute ist die Methode aus 78 Bücher und mehr, u. a. mit
flusst, ob wir uns gut oder schlecht fühlen. den Neurowissenschaften nicht mehr  Dick Swaab: Wir sind unser Gehirn
Mediziner nutzen die neuronalen Ver­ wegzudenken. G&G begleitete die rasante Birk Engmann:
bindungen zwischen Kopf und Bauch, um Entwicklung seit der ersten Ausgabe Mythos Nahtoderfahrung
Erkrankungen des Ver­dauungstrakts Tobias Hürter: Du bist, was du
psychotherapeutisch zu behandeln interview schläfst
67 »Wir wollen die nächste Phase 82 Kopfnuss
56 Wenn der Charakter zerfällt der Hirnforschung einläuten« 86 Auf Sendung
Demenzerkrankungen gelten als Geißel Der Psychologe und Informatiker Rainer 87 Termine
des Alters. Eine spezielle Form trifft jedoch Goebel von der Universität Maastricht 89 Hirschhausens Hirnschmalz
vor allem jüngere Menschen: die fronto- erklärt, wie die funktionelle Bildgebung 90 Vorschau
temporale Demenz. Sie beeinträchtigt das das Wissen über das Gehirn revolutioniert
soziale Mitgefühl und zerstört nach und hat und was sie in Zukunft zu leisten
nach die Persönlichkeit der Betroffenen vermag

70 Keine Verbindung
Titelmotiv: Lampe: Fotolia / Orlando Florin Rosu [M];
Linke und rechte Hirnhälfte sind durch Gehirn: Fotolia / Vasiliy Yakobchuk; Composing:
einen großen Nervenstrang miteinander Gehirn&Geist
verbunden. Bei einer »Balkenagenesie«
Das sind unsere Coverthemen
fehlt er, so dass der Infor­mationsfluss
zwischen den beiden Hemisphären stark
eingeschränkt ist. Die Neurobiologin
Claudia Christine Wolf schildert Ursachen Gehirn&Geist – das Magazin für Psychologie
und Folgen dieser angeborenen Störung und Hirn­forschung aus dem Verlag Spektrum
der Wissenschaft

www.gehirn-und-geist.de 5
leserbriefe
Abgeschnitten Selbstgespräche als Merkhilfe
Eines der äußersten Zwangsmittel in psychia­ Über die Vorteile von Selbstgesprächen
trischen Ein­richtungen ist die Isolierung. berichtete Klaus Wilhelm (»Schweigen ist
Dabei werden die Patienten in einen leeren, Silber, Reden ist Gold«, Heft 12/2011, S. 14).
reizarmen Raum eingeschlossen. Das Foto
links entstand am Zentrum für Psychiatrie Frank Svoboda, Burscheid: Neben den
Südwürttemberg. im Artikel genannten Aspekten gibt es
meines Erachtens noch eine weitere Di-
mension des Selbstgesprächs: Als Soft-
scheiden können – zumindest so frei wie wareentwickler muss ich oft etliche Zah-
jeder andere Durchschnittsbürger auch. lenwerte und Namen eine Zeit lang im
Mit frdl. Gen. von Tilman Steinert

Bei psychisch Erkrankten ist genau diese Kopf behalten. Wenn ich diese einmal
Fähigkeit in Frage gestellt. Wenn sie sich laut ausspreche, fällt mir das wesentlich
gegen eine Maßnahme heftig zur Wehr leichter, und ich mache bedeutend weni-
setzen, ist also keineswegs gesagt, dass ger Fehler – besonders was Zahlendreher
die Gegenwehr auf Grund einer freien angeht. Daher nutze ich es ganz bewusst,
Willensentscheidung zu Stande kommt. mit mir selbst zu sprechen.
Keine Diskriminierung Natürlich besteht genau darin das Di-
Psychiatrische Einrichtungen dürfen auch lemma, das es zu lösen gilt. Von Diskrimi- neuronales feuerwerk
heute noch Patienten gegen ihren Willen nierung kann aber definitiv keine Rede »Hirschhausens Hirnschmalz« heißt die
Medikamente verabreichen oder zeitweise sein. Diskriminierung würde ich – verein- neue Kolumne des Mediziners und Kabaret-
einsperren. Die Folgen dieser Zwangsmaß- facht gesagt – definieren als Benachteili- tisten Eckart von Hirschhausen. Unter
nahmen sollen besser erforscht werden, gung einer Gruppe zu Gunsten einer an- www.gehirn-und-geist.de/hirschhausen
berichtete Susanne Rytina (»Letztes Mittel«, deren. Dies kann auch unbewusst gesche- stellte sich unser Autor vorab den Fragen
Heft 1-2/2012, S. 56). hen; für den Diskriminierenden erscheint von Chefredakteur Carsten Könneker
die Benachteiligung dann als nicht vor- (»›Im Herzen bin und bleibe ich Arzt‹«).
Detlef Schroedter, Hamburg: Ich möch- handen. Bei Zwangsanwendung ist dies Sein erster Beitrag im Heft widmete sich
te Ihnen zunächst für Ihr tolles Maga- aber nicht der Fall. Der Ausübende weiß der Selbst­überschätzung (»Gefühlte
zin gratulieren. Nach »Eingewöhnungs- grundsätzlich, dass er hier eventuell je- Größe«, Heft 3/2012, S. 89).
schwierigkeiten« in den ersten ein, zwei mandem Unrecht antut. In der Abwä-
Ausgaben gehört G&G inzwischen zu gung könnte ein Unterlassen jedoch das Nathalie Buscher, Essen: Endlich haben
meinem festen Lektüreplan. größere Unrecht darstellen. sich der beste Kabarettist und das beste
In dem Kasten »Zwang in der Psychiat- Natürlich gibt es auch schwarze Scha- Übersichtsmagazin zur Wissenschaft zu-
rie« des Artikels »Letztes Mittel« werden fe, die sich mit Fixierung und Sedierung sammengetan!
Bedenken gegenüber Diskriminierung nur die eigene Aufgabe erleichtern wol-
von psychisch Kranken geltend gemacht, len. Dass diese schwarzen Schafe viel- Rosa Dafonte, Bötzingen am Kaiser-
da diese nicht unbedingt wie körperlich leicht sogar mit einer dramatisch hohen stuhl: Das In-die-Knie-Gehen wird die
Kranke das volle Recht haben, eine Be- Dunkelziffer auftauchen (womit wir uns verzerrte Selbsteinschätzung eines Nar-
handlung zu verweigern. Körperlich Ver- stark dem Thema Alterspflegeproblema- zissten leider auch nicht revidieren.
sehrte können jedoch frei über eine Be- tik nähern), steht dabei auf einem ganz Wenn das so einfach wäre, müssten viele
handlung entscheiden, weil sie frei ent- anderen Blatt. Politiker, ­Manager, Ärzte, Professoren

Briefe an die Redaktion Zuletzt erschienen:

… sind willkommen! Schreiben Sie bitte


mit Ihrer vollständigen Adresse an:
Gehirn&Geist
Petra Mers
Nachbestellungen unter:
Postfach 10 48 40, 69038 Heidelberg
E-Mail: leserbriefe@gehirn-und-geist.de www.gehirn-und-geist.de
Fax: 06221 9126-779 oder telefonisch:
Weitere Leserbriefe finden Sie unter: 06221 9126-743
www.gehirn-und-geist.de/leserbriefe 3/2012 1-2/2012 12/2011

6 G&G 4 _2012
dann kann man sich auf die Lektüre tun, um seine Hirnleistung erheblich zu
­freuen. Oder es wird genüsslich verrissen, verbessern. Natürlich ist das aufwändiger
dann macht die Lektüre der Rezension und vielleicht deshalb für den Autor
schon Spaß. ­Thomas Grüter nicht ganz so interessant,
aber doch wesentlich umfassender und
Sehr wohl verbesserbar effektiver – und hält dazu noch lebens-
Steve Ayan stellte das Buch »Klüger als lang an.
wir?« vor, in dem der Autor Thomas Grüter
die Möglichkeiten der Intelligenzsteige- Schulsystem als Ursache
rung kritisch auslotet (»Auf dem Boden der Warum in Großstädten mehr Menschen
Eckart von Hirschhausen Tatsachen«, Heft 1-2/2012, S. 79). unter psychischen Krankheiten wie
­Depression oder Schizophrenie leiden als
oder Unternehmer ständig in die Knie Herbert von Bolander (per E-Mail): Die auf dem Land, schilderte Andreas Meyer-
gehen. kognitiven Fähigkeiten des Menschen Lindenberg, Direktor des Zentralinstituts
sind mit allen Eigenschaften wie Denk­ für Seelische Gesundheit in Mannheim
Ingo Damith, Nesselwang: Nach diesem fähigkeit, Verhalten, Entscheidungsfähig- (»Urbane Seelennöte«, Heft 1-2/2012, S. 50).
genialen Intro freue ich mich schon auf keit oder Motorik sehr wohl erheblich
das »neuronale« Feuerwerk an Hirn- verbesserbar. Dass hier wieder jemand Diane de Reynier, Brunnthal: Ein sehr
schmalz mit heilsam bewegenden, erhei- auf die Idee kommt, dafür Pillen zu ent- interessanter Artikel, der schwierige Zu-
ternden und erhellenden Kolumnen von wickeln, ist natürlich typisch. Nach dem sammenhänge klar darlegt. Unser Schul-
Eckart von Hirschhausen. Motto: Wirf eine Pille ein, und du be- system, bei dem die Notengebung die
stehst die anstehende Prüfung! Das wäre Leistung nicht absolut, sondern relativ
Schwere Entscheidung zwar komfortabel, funktioniert aber zu den Klassenkameraden misst, könnte
Die martialische Rhetorik in Frank Hennings höchs­tens kurzzeitig – von den negativen demnach auch als Ursache für diese psy-
Buch »Krieg im Gehirn« empfand unsere Begleiterscheinungen der Medikamente chischen Krankheiten in Frage kommen.
Rezensentin Sarah Zimmermann als ab­- einmal abgesehen. Wer ein wenig mehr Weiterführende Schulen findet man eher
schreckend (»Schlachtfeld der Metaphern«, Geduld aufbringt, kann aber auch einiges in Großstädten.
Heft 1-2/2012, S. 76).

Hubertus Feldmann, Modautal: Ge-


hirn – Stress – Krieg. Sicher eine willkür-
liche Aneinanderreihung der Schlag-
worte des Buchs »Krieg im Gehirn«. Da
der Einband ohne weitere bildliche Un-
termalung daherkommt, ist man als neu-
rowissenschaftlich interessierter Mensch
gleich geneigt zuzugreifen. Man fühlt
sich auf jeden Fall angesprochen – und
wäre ganz glücklich, endlich einmal je-
manden gefunden zu haben, der das eige-
ne Leben ein wenig zu entkrampfen hilft,
ein wenig stressfreier macht. Und nun
diese Rezension. Klar formuliert, in sich
stimmig. Also doch nicht kaufen? Was ist,
wenn dort ein entscheidender Schlüssel-
satz meines Lebens verborgen liegt? An-
dererseits ist die Zeit zu kostbar, um sich
stundenlang durch ­ansonsten Bekanntes
und in einer bestimmten Weise hochge-
kochtes Wissen zu quälen. Die Entschei-
dung fällt nicht leicht.
iStockphoto / René Mansi

Anonyme Masse
York Karsunke, Wolnzach: Das ist das Gedränge und Hektik kennzeichnen
Schöne an Buchrezensionen: Entweder das Leben in der Großstadt.
das besprochene Buch wird gepriesen,


www.gehirn-und-geist.de 7
geistesblitze Autorin dieser Rubrik: Daniela Zeibig

Wahr nehmung

3-D im Gehirn
Bestimmte Neurone unterscheiden zwischen konkav und konvex.

W enn wir ein Objekt betrachten,


entsteht ein zweidimensionales
Abbild davon auf der Netzhaut des Au­
vex oder konkav gekrümmt waren. Zeit­
gleiche Aktivitätsmessungen im unteren
Schlä­fenlappen der Tiere offenbarten,
dem wählten die Tiere dank der künst­
lichen Nervenimpulse konvexe Objek­
te schneller aus, während sie bei nach
ges. Wie unser Gehirn aus diesen Infor­ dass sich dabei je nach Krümmung ganz innen gewölbten Gegenständen länger
mationen eine plastische Welt zaubert, bestimmte Neurone regten. brauchten.
blieb lange ein Rätsel. Der Neurophysio­ Anschließend beeinflussten die Wis­ Damit konnten die Wissenschaftler
loge Peter Janssen und sein Team von senschaftler die räumliche Wahrneh­ erstmals nachweisen, dass spezielle
der Katholischen Universität Löwen in mung der Affen, indem sie die entspre­ Hirnzellen für die Wahrnehmung von
Belgien haben nun spezielle Neurone chenden Hirnzellen gezielt stimulier­ plastischen Objekten zuständig sind.
im Gehirn von Affen entdeckt, die beim ten: Reizten sie etwa die Neurone, die Wie Janssen und seine Kollegen vermu­
dreidimensionalen Sehen eine wichti­ auf konvexe Formen reagierten, dann ten, dürfte der untere Schläfenlappen
ge Rolle spielen. nahm der Rhesusaffe den Gegenstand, auch beim Erkennen wesentlich kom­
Die Forscher präsentierten Rhesus­ den er gerade betrachtete, häufiger als plexerer dreidimensionaler Strukturen
affen (Macaca mulatta) auf einem Bild­ nach außen gewölbt wahr – unabhän­ beteiligt sein.
schirm Gegenstände, die entweder kon­ gig von der tatsächlichen Gestalt. Zu­ Neuron 73, S. 171 – 182, 2012

sucht

Schwere Erblast?
Drogenabhängige zeigen ähnliche Hirnmerkmale wie ihre
Geschwister.

W as war zuerst da: das Ei oder die Henne? Vor einer ähn­
lichen Frage stehen Hirnforscher, die nach den mögli­
chen Ursachen von Drogenabhängigkeit suchen. Verschiedene
Studien konnten belegen, dass Menschen, die etwa regelmäßig
Cannabis oder Heroin konsumieren, veränderte Hirnstrukturen

Karen Ersche / Science / AAAS


aufweisen. Beruhen diese aber auf dem Drogenmissbrauch,
oder greifen die Betroffenen umgekehrt eher zu Rauschmitteln,
weil ihre neuronalen Schaltkreise auf besondere Weise ver­
knüpft sind? Laut Karen Ersche von der University of Cam­
bridge und ihren Kollegen deutet vieles darauf hin, dass der neuronale gemeinsamkeiten
Hang zu Abhängigkeit durch das Erbgut mitbestimmt wird. Suchtkranke wie auch ihre Geschwister besitzen im Schnitt weniger
Die Wissenschaftler untersuchten insgesamt 50 Geschwister­ weiße Substanz als Kontrollpersonen (gelbe Bereiche). Auch das
paare, bei denen eine Person jeweils drogenabhängig war, Volumen der Hirnrinde ist in einigen Regionen vermindert (blau), in
die andere jedoch nicht. Zunächst absolvierten die Probanden anderen dagegen erhöht (rot).
einen Reaktionstest, den sie schnellstmöglich beenden sollten,
sobald ein akustisches Signal erklang. Frühere Studien hatten
ergeben, dass Drogenabhängige bei diesem Test im Schnitt und weißer Hirnsubstanz als die Kontrollgruppe (siehe Bild). We­
schlechter abschneiden. In Ersches Versuch reagierten die nicht­ niger weiße Substanz (die vor allem aus Nervenbahnen besteht)
abhängigen Versuchsteilnehmer aber genauso langsam wie war vor allem im rechten inferioren frontalen Gyrus zu beob­
ihre Geschwister. achten, was die verzögerten Reaktionen im ersten Test erklären
Daraufhin verglichen die Forscher bestimmte Hirnstrukturen könnte. Die Resultate von Ersche und ihren Kollegen lassen da­
der Probandenpaare – und konnten auch hier Gemeinsamkeiten rauf schließen, dass das Risiko, drogensüchtig zu werden, zumin­
feststellen: Sowohl die Suchtkranken als auch ihre gesunden Ge­ dest zu einem gewissen Teil vererbt wird.
schwister zeigten eine deutlich andere Verteilung von grauer Science 335, S. 601 – 604, 2012

8 G&G 4_2012
fotolia / Lunamarina, Tono Balaguer
mannomann! Selbstverliebtheit kann zum Stressfaktor werden.

P ersönlichkeit

Ungesunder Charakterzug
Narzissmus ist schlecht für die Gesundheit – vor allem bei Männern.

N arzissten fallen häufig durch ihr sicheres und einneh­


mendes Auftreten auf, neigen jedoch auch zu Selbst­
überschätzung und Aggression, wenn sie ihr Ansehen in Ge­
der Gedanke, die Welt zu beherrschen, ängstigt mich zu
Tode« wählen. Außerdem gaben die Probanden Auskunft
über ihr aktuelles Wohlbefinden, ihren Beziehungsstatus, ih­
fahr wähnen. Offenbar hat Narzissmus aber nicht nur für die ren sozialen Rückhalt und darüber, wie oft sie sich ange­
Mitmenschen unangenehme Folgen: Speziell Männer mit spannt fühlten.
diesem Charakterzug leben tatsächlich weniger gesund. Wie sich herausstellte, wiesen die eher narzisstisch veran­
Wie seit Längerem bekannt ist, produzieren Menschen lagten Versuchspersonen auch in entspannten Situationen
mit übersteigertem Ego in angespannten Situationen beson­ eine erhöhte Cortisolproduktion auf: Je größer die Selbst­
ders viel von dem Stresshormon Cortisol. Sara Konrath von verliebtheit, desto mehr von dem Hormon war im Speichel
der University of Michigan in Ann Arbor und ihre Kollegen nachzuweisen. Die Narzissten selbst empfanden sich aber
untersuchten nun anhand von Speichelproben, inwieweit nicht als­besonders gestresst. Der Zusammenhang zwischen
Versuchspersonen auch ohne konkreten Anlass mehr Cor­ Narzissmus und Cortisolspiegel tauchte allerdings nur bei
tisol ausschütten, also chronisch gestresster sind. Zusätzlich Männern auf; bei Frauen fand er sich nicht. Chronischer
sollten die insgesamt 106 Studenten aus einem Satz von Stress kann auf lange Sicht zu gesundheitlichen Problemen
40 verschiedenen Aussagen jeweils zwischen einer narziss­- des Herz-Kreislauf-Systems führen und die Immunabwehr
ti­schen Antwort wie »Wenn ich die Welt beherrsche, dann schwächen.
wird sie besser« oder einer gegenteiligen Ver­sion wie »Allein PLoS One 7, e30858, 2012


www.gehirn-und-geist.de 9
Tagesaktuelle Meldungen aus
Psychologie und Hirnforschung finden
Sie im Internet unter
www.spektrum.de/psychologie
Entscheidungen

Subtile Wahl
Der Ort der Stimmabgabe kann den Ausgang einer Wahl beeinflussen.

E gal ob bei Kommunal-, Landtags- oder


Bundestagswahlen: Schulen, Rathäu­
ser und Gemeinderäume von Kirchen
weitestgehend ausschließen. Wie For­
scher um Jordan LaBouff von der Univer­
sity of Maine in Orono herausfanden,
In London befragten die Wissenschaft­
ler Probanden aus mehr als 30 verschie­
denen Ländern zu ihrer politischen Ein­
sind beliebte Orte für Wahllokale. Persön­ kann aber schon die Umgebung, in der stellung sowie zu ihren Ansichten über
liche Wahlbenachrichtigungen und Aus­ wir wählen gehen, unsere Stimmabgabe Menschen anderer Religionszugehörig­
weiskontrollen sollen Manipulationen beeinflussen. keit oder Herkunft. Ihre Interviews führ­
ten LaBouff und seine Kollegen bewusst
an zwei sehr prominenten Orten durch:
einmal nahe Westminster Abbey und ein­
mal in der Nähe des Parlamentsgebäu­
des. Um die Versuchsergebnisse nicht zu
verzerren, hatten sie nur Passanten ange­
sprochen, die lediglich an der Kirche oder
dem Regierungsgebäude vorbeigekom­
men, nicht aber hinein- oder hinausge­
gangen waren.
Die Versuchsteilnehmer, die mit Blick
auf das Gotteshaus befragt wurden,
zeigten sich politisch konservativer und
Nichtchristen gegenüber weniger aufge­
schlossen. Zudem schätzten sich die Be­
fragten selbst als weitaus religiöser ein.
Gerade bei knappen Wahlergebnissen
könnten solche unbewussten Beeinflus­
sungen ins Gewicht fallen, argumentie­
ren die Wissenschaftler.
Bereits 2010 hatte Abraham Rutchick
von der California State University in
Northridge nachgewiesen, dass in den
USA konservative Kandidaten mehr Stim­
men in Wahllokalen erhalten, die in einer
Kirche eingerichtet werden (siehe G&G
12/2010, S. 24). Wie weitere Studien be­
legten, lassen wir uns in vielerlei Hinsicht
von unserer Umgebung subtil beeinflus­
sen. Der Anblick von Fitnessdrinks statt
Wasserflaschen bescherte Probanden et­
wa ein längeres Durchhaltevermögen bei
körperlichen Aktivitäten, und im Super­
markt werden mehr Weine aus Frank­
reich verkauft, wenn im Hintergrund
französische Musik läuft.
Int. J. Psychol. Relig. 22, S. 1 – 9, 2012

Säulen der Macht


dreamstime / Paul Reid

Bereits der Anblick einer Kirche – wie hier


der Westminster Abbey in London – beein-
flusst die politische Meinung.

10 G&G 4_2012


Sch l af

University of Massachusetts Amherst


Trügerischer Frieden
Negative Gefühle sind nach der Nachtruhe so intensiv
wie am Tag zuvor.

N och einmal darüber schlafen, lautet ein häufiger Ratschlag


vor schweren Entscheidungen. Doch nicht alles verarbeitet
man am besten im Schlaf: Die Erinnerung an weniger erfreu­
liche Erlebnisse kann sich dadurch sogar verfestigen.
Rebecca Spencer und ihre Kollegen von der University of Mas­
sachusetts in Amherst zeigten 106 Probanden Bilder, die entwe­
der als fröhlich oder traurig bewertet werden sollten. Zusätzlich
schätzten die Versuchsteilnehmer auch ihren eigenen seelischen Schlumemreffekt
Zustand als ruhig oder aufgeregt ein. Die Experimente fanden Während des Schlafs ruht das Gehirn nicht, sondern verarbeitet
bei einem Teil der Probanden abends statt, so dass sie sich an­ die Erlebnisse des Tages – samt deren emotionaler Note.
schließend schlafen legen konnten, während die zweite Gruppe
morgens getestet wurde und wach blieb. Nach zwölf Stunden be­
urteilten die Teilnehmer abermals einige Bilder; manche davon Was heute als Nachteil erscheint, kann sich einst als evolutio­
waren neu, andere hatten sie bereits vorher gesehen. närer Vorteil erwiesen haben, erklären die Forscher. Die Verknüp­
Erwartungsgemäß konnten sich die Probanden besser nach fung von bedrohlichen Ereignissen mit unangenehmen Gefüh­
einer ausgeruhten Nacht an die Bilder erinnern als ohne Schlaf. len schärfte dem Menschen ein, solche Situationen in Zukunft
Doch die Ruhepause dämpfte die negativen Gefühle nicht – sie besser zu meiden, und erhöhte so seine Überlebenschancen.
trug eher dazu bei, die unschönen Emotionen zu verfestigen. J. Neurosci. 32, S. 1035 – 1042, 2012

Psychologie

Spendable Alpha-Männchen
Wenn Frauen rar sind, versuchen Männer besonders mit Geld zu beeindrucken.

I m Tierreich ist das altbekannt: Sind die


Weibchen einer Population in der Un­
terzahl, entbrennt ein erbitterter Kampf
ob­achten: Männer werden plötzlich spen­
dabel, wenn es an Frauen mangelt.
Die Wissenschaftler präsentierten 46
dem die Probanden am Ende wählen
durften, ob sie lieber direkt für ihre Teil­
nahme bezahlt werden wollten oder ei­
zwischen den Vertretern des männlichen männlichen Studenten manipulierte Zei­ nen Monat später – dafür dann aber we­
Geschlechts. Forscher um Vladas Griske­ tungsartikel, die entweder von zu wenig sentlich besser. Auch hier nahmen Män­
vicius von der University of Minnesota in Männern oder aber zu wenig Frauen auf ner lieber Verluste in Kauf und forderten
Minneapolis konnten entsprechende Ver­ dem Campus berichteten. Anschließend ihr Geld sofort, wenn sie glaubten, dass es
haltensmuster auch beim Menschen be­ befragten sie die Probanden, wie viel sie zu wenige Frauen gab. Anhand statisti­
in Zukunft von ihrem Geld sparen möch­ scher Daten konnten Griskevicius und
ten oder ob sie ihre Liquidität vielleicht seine Kollegen außerdem belegen, dass in
sogar mit einem Kredit verbessern wür­ amerikanischen Städten mit vergleich­
den. Waren die Studentinnen angeblich baren sozialen und infrastrukturellen Be­
in der Minderheit, zeigten sich ihre dingungen tatsächlich mehr Geld ausge­
männlichen Kommilitonen auffallend geben wird, wenn junge Singlemänner in
spendabel. Sie wollten 42 Prozent weni­ der Überzahl sind.
ger sparen und waren auch eher geneigt, Wie sah es bei den Frauen aus? Stu­
sich Geld zu leihen. dentinnen ließen sich zwar nicht zu über­
Einen ähnlichen Effekt entdeckten die flüssigem Konsum drängen, hatten aber
Forscher in einem Versuchsszenario, bei eine klare Vorstellung, wofür Männer ihr
Geld ausgeben sollen, wenn das weibliche
dreamstime / Iryna Rasko

Geschlecht rar ist: für romantische Re­


Lockruf des Geldes staurantbesuche, Valentinstagsgeschen­ke
Ob das die richtige Strategie ist, um die und Verlobungsringe!
Damenwelt zu bezirzen? J. Pers. Soc. Psychol. 102, S. 69 – 80, 2012


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Autismus

Ohne Worte
Komplexe Aufgaben lösen Autisten ohne unterstützende Selbstgespräche.
Gehirn&Geist

A ls Kinder neigen wir dazu, leise Selbstgespräche zu führen,


um unsere Gedanken auf eine Aufgabe zu konzentrieren
(siehe G&G 12/2011, S. 14). Im Lauf des Erwachsenwerdens ver­
Turmbau mit babbeln
Die bunten Scheiben im Bild links sollten in möglichst wenigen Zügen
so wie im Bild rechts angeordnet werden, während die Probanden
stummen diese Monologe meist, und wir denken im Stillen, was Wochentage aufsagten.
wir vorher laut ausgesprochen hätten. Forscher um David Wil­
liams von der Durham University (Großbritannien) fanden ­nun
heraus, dass Autisten beim Lösen komplexer Probleme auf das Test. Dabei sollten die Teilnehmer mit fünf verschieden großen
innere Sprechen verzichten können. farbigen Scheiben, die auf zwei Stäben gestapelt waren, einen
Williams und seine Kollegen führten zwei Experimente mit ganz bestimmten dritten Turm aufschichten – und zwar in
erwachsenen Autisten und einer gesunden Kontrollgruppe möglichst wenigen Zügen (siehe Bilder oben). Auch hier muss­
durch. Im ersten Versuch sollten die Probanden sich verschiede­ ten die Probanden ständig die Worte »Dienstag« oder »Don­
ne Bilder merken. Die Wissenschaftler funkten ihnen jedoch da­ nerstag« wiederholen, während sie den Planungstest in unter­
zwischen, indem sie sie immer wieder baten, die Worte »Diens­ schiedlichen Schwierigkeitsgraden absolvierten.
tag« oder »Donnerstag« laut vor sich her zu sagen. Mit diesem Fast alle nichtautistischen Probanden scheiterten mit dieser
Trick wollten die Forscher verhindern, dass die Versuchsteilneh­ Ablenkung an der Aufgabe. Die Autisten dagegen ließen sich
mer in Gedanken mit sich selbst sprachen, um die Aufgabe bes­ weit weniger davon beeinträchtigen. Wie die Forscher vermu­
ser lösen zu können. Durch die Ablenkung hatten sowohl die ten, lösen Autisten zwar Gedächtnisaufgaben, indem sie wie
Autisten als auch die Kontrollgruppe Schwierigkeiten, die Bilder nichtautistische Menschen in Worten denken – bei der Entwick­
in der richtigen Reihenfolge wiederzugeben. lung komplexer Planungsstrategien greifen sie womöglich je­
In einem ähnlichen Versuchsaufbau konfrontierten die For­ doch eher auf bildhafte Vorstellungen zurück.
scher die Probanden mit dem so genannten Tower-of-London- Dev. Psychopathol. 24, S. 225 – 239, 2012

Hir nforsch ung

Mit links
Das Gehirn reorganisiert sich rasch bei verletzungsbedingter Bewegungseinschränkung des Arms.

S ich als Rechtshänder die rechte Hand


zu brechen, macht die meisten alltäg­
lichen Handgriffe zu einer echten He­
Wochen lang gezwungen, alle alltäglichen
Dinge mit links zu erledigen. Direkt zu
Beginn der Studie und nach Ablauf der
die Steuerung der linken Hand zuständig
sind, hatten die Probanden deutlich
mehr weiße und graue Hirnsubstanz auf­
rausforderung. Wie Nicolas Langer von 14 Tage untersuchten Langer und seine gebaut. Die neuronalen Netzwerke auf
der Universität Zürich und seine Kollegen Kollegen die Versuchsteilnehmer per der anderen Seite hatten sich dagegen ein
entdeckten, kann uns das Gehirn in sol­ ­Magnetresonanztomografie und testeten Stück zurückgebildet.
chen Fällen allerdings helfen: Es baut ge­ ihre motorischen Fähigkeiten. Die Forscher betonen, man solle ver­
zielt in jenen Regionen Hirnsubstanz auf, Nach zwei Wochen hatte sich die Fein­ letzte Körperteile nur so kurz wie nötig
die für die Steuerung der unverletzten motorik auf der linken Seite erwartungs­ schonen, um den Abbau der Hirnsub­
Hand verantwortlich sind. gemäß deutlich verbessert. Parallel dazu stanz zu vermeiden. Ob diese Verände­
Zehn Probanden – durchweg Rechts­ konnten die Wissenschaftler auch in der rungen von Dauer sind oder mit zwei ge­
händer – konnten verletzungsbedingt ih­ Hirnstruktur Veränderungen feststellen. sunden Händen bald wieder verschwin­
ren rechten Arm nicht benutzen und wa­ In den motorischen und sensorischen den, ist allerdings noch ungeklärt.
ren durch Gips oder Armschlinge zwei ­Bereichen der rechten Hirnhälfte, die für Neurology 78, S. 182 – 188, 2012

12 G&G 4_2012


Sozi alver halten

Gemeinsam isst’s sich anders


In Gesellschaft passen wir unsere Essgewohnheiten dem Gegenüber an.

Z u zweit isst es sich bekanntlich ge­


nussvoller als allein. Wie zwei For­
schergruppen nun herausgefunden ha­
nen nah­men bevorzugt binnen weniger
Sekunden nach ihrem Gegenüber auch
einen Happen. Zudem ahmten sie die Mi­
In einem zweiten Versuch sollten sich
die Probanden ganz bewusst Situationen
aus ihrem Alltag vorstellen, in denen sie
ben, schmeckt es in Gesellschaft nicht mik der anderen besonders gern wäh­ von anderen dazu gedrängt worden wa­
nur besonders gut, sondern auch unsere rend der ersten zehn Minuten des ge­ ren, mehr oder ungesunde Speisen zu
Essgewohnheiten verändern sich. Ohne meinsamen Essens nach. ­essen. Auch hier erwiesen sich die Sozio­
es zu merken, passen wir uns in der Nah­ Ein ähnliches Experiment führten tropen als nachgiebiger und aßen mehr,
rungsmenge und der Essgeschwindigkeit Forscher um Julie Exline von der Case obwohl sie gar keinen Appetit hatten. Of­
unserem Gegenüber an. ­Western Reserve University in Cleveland fenbar sind diese Zeitgenossen eher da­
Roel Hermans von der niederländi­ (US-Bundesstaat Ohio) durch. Hier bot rum bemüht, anderen ein gutes Gefühl
schen Radboud-Universität in Nimwegen eine eingeweihte Person rund 100 Stu­ zu vermitteln. Da Essgewohnheiten im
und seine Kollegen beobachteten 70 denten und Studentinnen je eine Schale sozialen Kontext eine große Rolle spielen,
Frauenpaare beim Essen. Die Wissen­ mit Schokolinsen an. Zuvor hatte die achten vor allem derart veranlagte Per­
schaftler interessierten sich besonders Komplizin selbst eine Hand voll davon sonen penibel darauf, nicht unangenehm
dafür, wann genau ihre Probandinnen genommen. Dabei griffen vor allem die­ aufzufallen. Womöglich werden deshalb
zugriffen. Ihre Theorie: Weil beim Be­ jenigen Teilnehmer beherzt ins Glas, die Menschen, die beim Kaffeeklatsch lieber
obachten einer Bewegung die gleichen laut eines von den Forschern eingesetz­ auf ein Stück Kuchen verzichten, von an­
Zentren im Gehirn angesprochen wer­ ten Fragebogens besonders viel Wert auf deren zwar als attraktiver und diszipli­
den, wie wenn wir uns selbst bewegen, das Urteil ihrer Mitmenschen legten. Of­ nierter eingeschätzt, aber auch als weni­
neigen Menschen dazu, das Verhalten fensichtlich versuchten diese »soziotro­ ger sympathisch.
von anderen nachzuahmen. So auch im pen« Personen, mit einem angepassten PLoS One 7, e31027, 2012
Experiment: Die Versuchsteilnehmerin­ Verhalten nicht unhöflich zu erscheinen. J. Soc. Clin. Psychol. 31, S. 169 – 193, 2012

genuss im gleichtakt
Je mehr Wert jemand auf das Urteil anderer legt, desto stärker passt er sein Essverhalten dem Gegenüber an.

dreamstime / Monkey Business Images


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hinter den schlagzeilen

psychologie ı selbstbetrug

Doppelte Buchführung
Ob Kreditgeschäfte, Plagiatsvorwürfe oder Schwarzgeldaffäre – immer wieder
geraten Politiker mit zweifelhaften Praktiken in die Schlagzeilen. Doch keiner
von ihnen wähnt sich im moralischen Abseits. Glauben sie tatsächlich selbst,
dass sie sich untadelig verhalten haben? Möglich wär’s: Die Mechanismen der
Selbsttäuschung können das Urteilsvermögen gewaltig trüben.

Von Christiane Gelitz

Au f ei n en B l ic k W ie sich die Bilder gleichen. Anfang 2011 er-


klärt der damalige Verteidigungsminister
einem Team von der Harvard Business School
veröffentlichte. Der Mittvierziger gilt dank vie-

Der Wulff in uns Karl Theodor zu Guttenberg, die abgekupferten ler gewitzter Experimente als Star seiner Zunft.
Passagen seiner Doktorarbeit seien das Ergebnis Zuletzt testeten er und seine Kollegen die mora-

1 Sobald es um die
eigene Person geht,
beeinträchtigen Selbst­
von Überlastung und Nachlässigkeit – und kei-
neswegs der Versuch einer vorsätzlichen Täu-
lische Integrität ihrer Studenten, indem sie ih-
nen die Gelegenheit zum Mogeln gaben, wäh-
schung. Anfang 2012 gerät der amtierende Bun- rend sie zehn Fragen zum Allgemeinwissen be-
überschätzung und despräsident Christian Wulff in Verdacht, in sei- antworten sollten, zum Beispiel »In welchem
Doppelmoral das Urteils­ ner Zeit als niedersächsischer Ministerpräsident US-Bundesstaat liegt der Mount Rushmore?«.
vermögen. Vorteile angenommen und dienstliche mit pri- Am Fuß des Aufgabenblatts standen die Lö-

2 Diesem Phänomen vaten Interessen verquickt zu haben. Auch er sungen; mit ihrer Hilfe sollten die Teilnehmer
liegen allgemeine gesteht nur vereinzelt Fehler ein und will die ihre Ergebnisse selbst auswerten.
psychologische Prinzipien ­Affäre aussitzen, muss schließlich aber wie Dass einige die Gelegenheit ergriffen und
zu Grunde: Die meisten ­Guttenberg sein Amt räumen. Doch Zweifel an schummelten, ließ sich daran ablesen, dass sie
Menschen halten lieber seiner moralischen Integrität will er bis heute sich im Schnitt neun richtige Antworten attes-
an ihrem verzerrten nicht zulassen. tierten, die Kontrollgruppe ohne Lösungs-
Selbstbild fest, als sich Ist es denkbar, dass Wulff und Guttenberg an schlüssel aber nur auf rund sechs kam. Danach
einen Fehler einzuge­ ihrem Tun tatsächlich nichts Unmoralisches sollten alle Probanden vorhersagen, wie sie bei
stehen. finden konnten? Und wie ließe sich eine derart weiteren zehn Fragen abschneiden würden. Sie
verzerrte Wahrnehmung erklären? durften schon einen Blick auf den nächsten Test

3 Sie passen ihr Verhal­


ten aber an mora­
lische Standards an, wenn
Diese Fragen haben Psychologen anhand
zahlreicher Experimente beantwortet – mit er-
werfen und konnten sehen, dass hier keine Lö-
sungen dabeistanden.
staunlichen Befunden. Wulff und Guttenberg Die Kontrollgruppe tippte gemäß ihren Er-
diese schriftlich fixiert sind demnach nur zwei prominente Beispiele gebnissen im ersten Durchgang im Schnitt auf
sind und sie – im wörtli­ für ein durchaus verbreitetes Phänomen: ein sechs richtige Lösungen. Wer beim ersten Mal
chen oder im übertrage­ positives Selbstbild aufrechtzuerhalten, auch mogeln konnte, meinte im zweiten Test knapp
nen Sinn – einen Spiegel wenn offenkundige Beweise für moralisches acht Aufgaben lösen zu können. Offenbar korri-
vorgehalten bekommen. Fehlverhalten vorliegen. Diese Neigung kann gierten die Schummler ihre Erwartung zwar ein
demnach so hartnäckig sein, dass wir uns einen wenig nach unten, überschätzten sich aber im-
Irrglauben auch dann nicht bewusst machen, mer noch deutlich. Sie führten ihr gutes Ab-
wenn dafür Konsequenzen drohen. schneiden im ersten Test also trotz Mogelei
Das ist eines der Ergebnisse, die der bekannte größtenteils auf eigene Kompetenz zurück. Und
Psychologe Dan Ariely 2011 gemeinsam mit wenn sie zusätzlich ein Zertifikat für ihre gute

14 G&G 4_2012


ddp images / dapd

Leistung erhalten hatten, überschätzten sie sich Die Fehleinschätzung und ihre Folgen fallen Präsidiale Scheuklappen
noch mehr: Die soziale Anerkennung für das er- noch gravierender aus, wenn jemand grund- Eine Vermengung dienstlicher
schummelte Ergebnis verstärkte den Effekt. sätzlich schon zur Selbsttäuschung neigt. Die und privater Interessen stritt
An den überhöhten Erwartungen änderte Tendenz dazu erfassten die Forscher um Ariely Christian Wulff bis zuletzt ab.
sich auch nichts, als die falschen Prognosen in einem Fragebogen anhand von typischen Noch bei seinem Rücktritt
spürbare Folgen hatten, wie die Forscher in ei- ­Anzeichen für Selbstbetrug, zum Beispiel der erklärte er, immer aufrichtig
ner Anschlussstudie feststellten. Sie erhöhten Überzeugung, das eigene Schicksal voll und gewesen zu sein.
den Anreiz, das eigene Abschneiden realistisch ganz im Griff zu haben (siehe Kasten auf S. 16).­
vorherzusagen, indem sie den Probanden je Je stärker die Probanden solchen Aussagen zu-
nach Treffgenauigkeit mehr oder weniger Geld stimmten, desto mehr überschätzten sie auch
in Aussicht stellten. Trotzdem überschätzten ihre Leistung.
diejenigen, die zuvor mogeln konnten, ihren Es gilt als Merkmal für psychische Gesund-
Testscore im Schnitt um knapp drei Fragen und heit, sich in vielen Belangen überdurchschnitt-
erhielten deshalb rund drei Dollar weniger als lich vorteilhaft einzuschätzen, sei es im IQ-Test
die Kontrollgruppe. Die Selbstüberschätzung oder beim Autofahren (siehe Artikel auf S. 30).
ließ sich also auch dann nicht korrigieren, wenn Pessimisten und depressive Patienten sehen
der resultierende Fehler die Probanden etwas sich selbst und die Welt realistischer; der Ver-
kostete. lust der rosaroten Schutzbrille scheint ein Teil
ihrer Krankheit zu sein. Dient der Mechanis-
Im eigenen Irrglauben gefangen mus also dazu, dass wir uns mit uns selbst
Übertragen auf politische Karrieren bedeuten wohler fühlen?
Arielys Befunde: Man muss einem Kandidaten Das bezweifelt der Evolutionsbiologe und Verdammt lang her
nur die Gelegenheit bieten, sich mit unmora- Sachbuchautor Robert Trivers. Vielmehr habe In der Rückschau tun wir
lischen Mitteln einen Vorteil zu verschaffen, sich die menschliche Neigung zur Selbsttäu- vergangene Fehler schnell als
und dann den Mechanismen der Selbsttäu- schung deshalb durchgesetzt, weil sie einen Jugendsünden ab. Unser
schung ihren Lauf lassen. Er wird wahrschein- ­weiteren Vorteil verschaffe: die Umwelt besser aktuelles Tun betrachten wir
lich glauben, den Erfolg nicht seinem Betrug, hinters Licht führen zu können. Um etwaige dagegen durch die rosarote
sondern seinem Können zu verdanken, und sich Täuschungsmanöver zu erleichtern, würden wir Brille. Das gilt umso mehr, je
von diesem Irrglauben auch durch drohende kurzerhand unsere Selbstwahrnehmung »um- selbstbewusster wir uns
Konsequenzen nicht abbringen lassen – er weiß organisieren«. Das spare nicht nur geistige fühlen.
es einfach nicht besser. Und wird er dafür auch Ener­gie, sondern sichere auch ein glaubwür- (Ross, M., Wilson, A. E.: It Feels Like
noch mit Wählerstimmen oder Ämtern belohnt, diges Auftreten, so Trivers’ Theorie. Das er- Yesterday. In: Journal of
Personality and Social Psychology
verliert er weiter an Bodenhaftung. wünschte Selbstbild lagern wir deshalb gut zu- 82, S. 792 – 803, 2002)


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GLOSSAR gänglich im Gedächtnis und blenden zugleich
die unschöne Wahrheit aus.
Selbstüberschätzung Bei den Inhabern politischer Ämter darf man
Die eigenen Fähigkeiten und getrost ein gewisses Naturtalent für diese Art
Zukunftsaussichten für von doppelter Buchführung voraussetzen; ein
besser halten, als sie sind Hang zur Schönfärberei erscheint geradezu als
Selbsttäuschung Voraussetzung für eine solche Karriere. Ist es
Das Ignorieren von Beweisen denkbar, dass auch Wulff und zu Guttenberg auf
dafür, dass die eigenen irgendeiner – mehr oder weniger bewussten –
Überzeugungen falsch sind Ebene die Fragwürdigkeit ihres Tuns erkennen,

ddp images / AP / Karl-Heinz Kreifelts


diese Einsicht aber lieber ausblenden?
Doppelmoral
Das unverfälschte, wahre Urteil über die ei-
Ein und dasselbe Verhalten
gene Person brachten zwei Psychologen von der
bei sich selbst als weniger
Northeastern University in Boston mit Hilfe ei-
unmoralisch bewerten als bei
ner List ans Licht. Peircarlo Valdesolo und David
anderen
DeSteno baten ihre Versuchspersonen, sich
selbst und einem weiteren Mitspieler jeweils Vorgänger in Amt und Affären
eine von zwei Aufgaben zuzuteilen: eine ein- Der 2006 verstorbene Exbundespräsident Johannes
fache und eine anstrengende. Dabei konnten sie Rau soll sich in seiner Zeit als Landeschef von
einen Zufallsgenerator verwenden oder aber Nordrhein-Westfalen etliche Flüge von der Landes-
willkürlich entscheiden – der zweite Proband bank West LB bezahlt haben lassen. Sein späterer
würde davon nichts erfahren. Nachfolger im Amt, Christian Wulff, kommentierte
Nur acht Prozent nutzten den Zufallsgenera- 2000, es sei tragisch, »dass Deutschland in dieser
tor oder teilten dem Mitspieler gleich die ein- schwierigen Zeit keinen unbefangenen Bundesprä-
fachere Aufgabe zu. Noch bedenklicher: Jene gut sidenten hat, der seine Stimme mit Autorität
90 Prozent, die sich einen Vorteil verschafft hat- erheben kann«. Daran musste er sich nun selbst
ten, bezeichneten ihre Entscheidung im Schnitt messen lassen.
als moralisch akzeptabel. Von außen betrachtet
sah das allerdings ganz anders aus. Probanden,
die am Monitor beobachten konnten, wie sich teil abgeben. Erstaunlicherweise genügte diese
jemand selbst die einfachere Aufgabe zuteilte, Zusatzaufgabe, um das Urteil zu korrigieren.
hielt das eher für unmoralisch. Auch diejenigen, die den Mitspieler übervorteilt
Soweit nicht allzu überraschend. Aber nun hatten, fanden ihr eigenes Verhalten jetzt mora-
folgte ein kleines Manöver, mit dem die For- lisch fragwürdig!
scher die Doppelmoral aushebeln wollten. Sie Die für die Doppelmoral nötige Schönfär­
ließen ihre Probanden abwechselnd Zahlen­ berei funktioniert offenbar nur dann, wenn wir
folgen auswendig lernen und wieder aufsagen, genug geistige Kapazität dafür übrig haben. In-
und dazwischen sollten sie ihr moralisches Ur- tuitiv aber verurteilen wir auch unsere eige-
nen Fehltritte, so die Forscher. Die Doppelmoral
zum Schutz des Selbstbilds entsteht demnach
Das Balanced Inventory of Desirable Responding – auf einer höheren Ebene der Informationsverar-
ein Maß für den Hang zur Selbsttäuschung beitung.
Die rosarote Brille wird allerdings zum Fluch,
Der Test unterscheidet drei Fassetten der Selbsttäuschung. Der Befragte gibt wenn sie allzu fest auf der Nase sitzt. Diese Ge-
auf einer Skala von 1 (trifft überhaupt nicht zu) bis 7 (trifft voll zu) an, inwie­ fahr laufen vor allem ausgemachte Talente der
weit er einer vorgegebenen Aussage aus drei Kategorien zustimmt: Selbsttäuschung: Sie verteidigen ihr geschöntes
1. Selbstüberschätzung (self-deceptive enhancement) Selbstbild um jeden Preis, wie Forscher der Uni-
Beispiel: »Ich habe die volle Kontrolle über mein Schicksal.« versitäten in Toronto, Harvard und London
2. Verleugnung sozial unerwünschten Verhaltens 2003 demonstrierten. Sie luden Harvard-Stu-
(impression management) denten zu einem Computerspiel ein, bei dem
»Ich bin immer ehrlich zu anderen.« sie nacheinander je eine von insgesamt 100 ver-
3. Verleugnung sozial unerwünschter Gedanken und Gefühle deckten Karten umdrehen sollten und je nach
(self-deceptive denial) Kartenmotiv Geld erhielten oder verloren. Das
»Ich habe noch nie Schadenfreude empfunden.« Spiel war derart programmiert, dass die Stu-
denten zunächst sehr oft und dann kontinuier-

16 G&G 4_2012


lich seltener gewannen. Sie durften aber jeder-
zeit aussteigen und das übrige Geld behalten.
Je stärker die Probanden laut Fragebogen zur
Im Ego-Tunnel der Macht
Selbsttäuschung neigten, desto länger blieben Beim Aufstieg auf der Karriereleiter verlieren Menschen offenbar zuneh­
sie dabei und desto weniger Geld nahmen sie mend ihre Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen. Dafür genügt schon
am Ende mit nach Hause. Jene 13 der insgesamt ein kurzzeitig anhaltendes Machtgefühl, wie amerikanische Ökonomen um
42 Studenten, die bis zum bitteren Ende dabei­ Deborah Gruenfeld von der Stanford University demonstrierten. Das Gefühl
blieben, wiesen im Fragebogen in allen As­pek­ von Macht erzeugten die Forscher gleich auf zwei Wegen. Zunächst riefen
ten der Selbsttäuschung Höchstwerte auf. In an- sich die Probanden einen Moment ins Gedächtnis, in dem sie über andere
deren Persönlichkeitsmerkmalen wie Extraver- bestimmen konnten. Zusätzlich sollten sie Lotterielose nach eigenem Gut­
sion oder Neurotizismus unterschieden sie sich dünken verteilen. Dann folgte die eigentliche Aufgabe: so schnell wie mög­
aber nicht von den übrigen Teilnehmern. lich ein »E« auf die eigene Stirn zu zeichnen. Im Vergleich zu einer Kontroll­
gruppe schrieben sie daraufhin mit dreimal höherer Wahrscheinlichkeit das
Kurskorrektur? Fehlanzeige! »E« derart auf die Stirn, dass es aus eigener Sicht richtig herum war, für ein
Die Wurzel dieses Verhaltens, glaubt Studien­ Gegenüber aber falsch herum. In einem Anschlussexperiment sollten Pro­
leiter Jordan Peterson von der University of banden den Gesichtsausdruck auf 24 Fotos einschätzen: Spiegelte sich darin
­Toronto, liegt in einer Art Beratungsresistenz: Freude, Angst, Wut oder Trauer? Die Probanden mit Machtgefühl lagen im
»Sie ignorieren das negative Feedback und kor­ Schnitt 4,5-mal daneben, während die Kontrollgruppe rund drei Fehler
ri­gieren ihr Verhalten nicht.« Der Psychologe machte. Aus weiteren Studien ist bekannt, dass Menschen in Machtposi­
­erkennt darin Parallelen zu Psychopathen, die tionen auch weniger Mitgefühl für das Leid anderer empfinden. Stanford-
sich ebenfalls kaum von drohenden negativen Ökonomin Gruenfeld glaubt, die Missachtung der Perspektive und Belange
Konsequenzen beeindrucken lassen. der Mitmenschen sei »ein Teil des geistigen Werkzeugkastens, mit dem
Wenn man Trivers’ Theorie folgt, haben die Mächtige die Oberhand behalten«.
13 Harvard-Studenten damit die beste Voraus- (Galinsky, A. D. et al.: Power and Perspectives Not Taken.
setzung für ein politisches Amt. Sie haben mit In: Psychological Science 17, S. 1068 – 1074, 2006;
Van Kleef, G. A. et al.: Power, Distress, and Compassion: Turning a Blind Eye to the
Wulff, Guttenberg & Co aber nicht nur ein ge- Suffering of Others. In: Psychological Science 19, S. 1315 – 1322, 2008)
wisses Talent zur Selbsttäuschung gemeinsam,
sondern müssen auch mit den Konsequenzen
leben: den richtigen Zeitpunkt zum Absprung
verpasst zu haben. spieler für ihre Versuchsteilnahme Lotterielose
Sind das hoffnungslose Fälle? Oder gibt es erhalten würden. Dazu bekamen sie eine Mün-
Mittel und Wege, Schönfärberei und Selbstbe- ze, die sie unbeaufsichtigt werfen konnten; sie
trug einen Riegel vorzuschieben? Dieser Frage durften die Zuteilung aber auch willkürlich vor-
ging schon 1999 ein Team um den Psychologen nehmen. 10 der 40 Versuchspersonen verzich-
Daniel Batson von der University of Kansas teten auf die Münze und teilten sich kurzer-
nach. Im Rahmen eines Experiments ließen die hand selbst die Gewinnchance zu; nur zwei ent-
Forscher ihre Probanden zunächst unter einem schieden vorab zu Gunsten des Mitspielers.
Vorwand bestimmen, ob sie selbst oder ein Mit- Immerhin 28 Probanden warfen die Münze.
Rein statistisch hätte nun der Zufall in 14 Fäl-
len den Mitspieler begünstigen müssen. Dies
berichteten aber nur vier Teilnehmer. Zirka
zehn Probanden hatten wohl nur so getan, als
würden sie die Münze entscheiden lassen, sich
dann aber doch selbst begünstigt, als der Zufall
nicht das erwünschte Ergebnis brachte.

Schuld und Bühne


Ein »ungeheuerlicher Fehler«, doch »kein Betrug«:
Exverteidigungsminister Karl Theodor zu Gutten-
berg wollte die abgekupferten Passagen seiner
Doktorarbeit als Resultat von Überarbeitung und
Kai Mörk / CC-by-3.0

Nachlässigkeit verstanden wissen. Wochenlang


klammerte er sich 2011 an Amt und Image als
aufrechter Politiker und verlor schließlich beides.


www.gehirn-und-geist.de 17
Um ihnen das zu erschweren, platzierten die
Versuchsleiter nun bei jedem zweiten Teilneh-
mer einen Spiegel so, dass dieser sich darin be­
ob­achten konnte. Mit durchschlagen­dem Erfolg:
In 50 Prozent der Fälle, genau wie rein statis­
tisch zu erwarten wäre, kam nun der Mitspieler
in den Genuss der Lose. Offenbar brachte der
Blick in den Spiegel die Probanden dazu, ihr Ver-
halten den moralischen Normen anzupassen.
Doch warum taten sie das? Fühlten sie sich
ihren eigenen moralischen Prinzipien nun stär-
ker verpflichtet – sozusagen, um sich selbst

DPA / Ralf Hirschberger


noch im Spiegel betrachten zu können? Oder
Quellen rief er ihnen nur ins Gedächtnis, wie ihr zweifel-
Chance, Z. et al.: Temporal haftes Verhalten nach außen wirken würde?
View of the Costs and Bene- Um das herauszufinden, löschten die For-
fits of Self-Deception. In: Pro- scher aus einem Teil der Instruktionen das zu- Die verloRene Ehre des Helmut Kohl
ceedings of the National vor explizit erwähnte moralische Prinzip (dem Der Altkanzler räumte im Dezember 1999 zwar ille-
Academy of Sciences 108, S. anderen die Lose oder eine faire Chance zu ge- gale Parteispendenkonten der CDU ein, wollte aber
15655 – 15659, 2011 ben). Das Ergebnis war entlarvend. Ohne vorge- die Namen der Spender nicht nennen, weil er ihnen
Peterson, J. B. et al.: Self-De- schriebenen Verhaltenskodex verlor der Spiegel sein »Ehrenwort« gegeben habe. Ein gesetzwidri­
ception and Failure to Modu- seine Wirkung. Noch dazu behaupteten die Pro- ges Verhalten seinerseits erkannte er nicht.
late Responses Despite Acc- banden gar, es gäbe in dieser Angelegenheit kei-
ruing Evidence of Error. In: ne moralisch korrekte Entscheidung. Offenbar
Journal of Research in Perso- verschoben sie die Grenze zwischen mora- haft darzustellen. Demnach würde es womög-
nality 37, S. 205 – 223, 2003 lischem und unmoralischem Verhalten zu ih- lich genügen, Politikern inmitten ihrer Schwarz-
Valdesolo, P., DeSteno, D.: ren Gunsten, so die Interpretation der Forscher. geld-, Kredit- und Plagiatsaffären mit dieser
The Duality of Virtue: De- Kappe zu Leibe zu rücken: Schon lüftet sich der
constructing the Moral Hy- Machen wir uns doch nichts vor Schleier der Selbsttäuschung, und die hässliche
pocrite. In: Journal of Experi- Übertragen auf die politische Praxis bedeutet Realität tritt hervor.
mental Social Psychology 44, das: Amtsinhaber und Würdenträger sollte man Unserer den Menschenrechten verpflichte-
S. 1334 – 1338, 2008 besser regelmäßig an einen vorgegebenen Ver- ten Demokratie ist es zu verdanken, dass sich
haltenskodex erinnern. Zusätzlich sollten sie Politiker wohl weniger vor Magnetimpulsen als
Weitere Quellen im Internet: bei kritischen Entscheidungen immer wieder vielmehr vor Umfrageergebnissen fürchten
www.gehirn-und-geist.de/ mal einen Blick in den (Presse-)Spiegel werfen. müssen. »Wulff unbeliebter als Westerwelle« –
artikel/1142223 Dadurch steigt das Gefühl, sich für das eigene an solchen Schlagzeilen wird auch ein Ausnah-
Handeln rechtfertigen zu müssen. Laut Stan- metalent in Sachen Selbsttäuschung zu knab-
Literaturtipps ford-Ökonomin Deborah Gruenfeld kann das bern haben. Laut einer repräsentativen Befra-
Trivers, R.: Deceit and Self- Menschen in Machtpositionen auch veranlas- gung von Infratest hielten Anfang Februar drei
Deception. Fooling Yourself sen, die Perspektive ihrer Mitmenschen stärker Viertel der Wähler ihren Bundespräsidenten
the Better to Fool Others. zu berücksichtigen (siehe Kasten auf S. 17). für unehrlich. Es dürfte Wulff allerdings in sei-
­Allen Lane, London 2011 Sollte das nicht helfen, bleibt als letzte Hoff- ner fragwürdigen Amtsmoral bestätigt haben,
Biologie und Psychologie der nung eine Art magnetische Badekappe. Was sich dass trotzdem nur jeder zweite seinen Rücktritt
Selbsttäuschung anhört wie die unheimliche Erfindung eines forderte. Offenbar störten sich viele nicht da-
Wirth, H.-J.: Narzissmus und Sciencefiction-Autors, ist laut einer 2007 veröf- ran, dass der Präsident an der Grenze zur Illega-
Macht. Zur Psychoanalyse fentlichten Untersuchung an der Princeton Uni- lität manövrierte. Er selbst beschrieb sein Ver-
seelischer Störungen in der versity längst möglich. Die Psychologin Virginia halten ungeniert als »normal und menschlich«.
Politik. Psychosozialverlag, Kwan stülpte ihren Versuchspersonen eine Kap- Ein Staatsoberhaupt sollte die moralische
Gie­ßen, 4. korrigierte Auflage pe über, mit deren Hilfe sie magnetische Im- Messlatte nicht tiefer, sondern höher legen.
2011 pulse auf ausgewählte Hirnareale richten und Doch immerhin repräsentierte Wulff die ver-
Analytische Fallstudien an so kurzzeitig deren Aktivität manipulieren breitete Neigung zu Selbstbetrug und Doppel-
politischen Machthabern wie konnte. Hemmten die Magnetfelder eine be- moral ganz vortrefflich. Ÿ
Helmut Kohl und Slobodan stimmte Region im Stirnhirn, den medialen
Milosevic präfrontalen Kortex, so neigten die Probanden Christiane Gelitz ist Diplompsychologin und Redak-
weniger dazu, sich in einem Fragebogen vorteil- teurin bei G&G.

18 G&G 4_2012


Die neuen Spektrum Spezial
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Unsere Themen 2012:


Wie entscheiden wir? – Januar • Vorstoß in die Nanowelt – Februar • Philosophie – April • Mathematische Unterhaltun-
gen IV – Mai • Alzheimer – Juli • Erde 3.0 – August • Genetik – Oktober • Mathematische Struktur der Welt – November

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Au f e i n e n B l i c k

Haarige
Ange­legenheit

1 Viele Experimente
belegen, dass Männer
Blondinen bei der Part-
nerwahl deutlich bevor-
zugen.

2 In Berufen, in denen
intellektuelle Fähig-
keiten gefragt sind, ist
Blondsein dagegen von
Nachteil.

3 Die Medien haben


das Stereotyp der ein-
fältigen, aber attraktiven
Blondine entscheidend
geprägt: Hier sind Frauen
mit blonden Haaren deut-
lich überrepräsentiert.

Blond und Blöd?


Das Klischee vom blonden
Dummchen ist so tief in unserer
Gesellschaft verankert, dass
sogar viele blonde Frauen selbst
daran zu glauben scheinen.

20 G&G 4_2012


psychologie ı vorurteile

Blond sein zwischen


Witz und Wirklichkeit
Blondinenwitze kennt jeder. Doch woher stammt das Klischee vom dummen
Blondchen eigentlich? Der Sozialpsychologe Nicolas Guéguen erklärt,
warum blonde Frauen als Tramperinnen erfolgreicher sind als an der Börse
und wie die Medien unser Bild von Blondinen prägen.

Von Nicolas Guéguen

»T reffen sich eine Blondine und eine Brü-


nette in einer Bar. Sagt die Blondine …«
Egal, wie es weitergeht – am Ende wird die Blon-
dienerinnen entstanden sein? Das ist wenig
wahrscheinlich, denn die Bevorzugung am
­Arbeitsplatz hat enge Grenzen. So hängen die
Warum sind blonde
Haare so selten?
Die wenigsten Menschen sind
dine als einfältiges Dummchen dastehen, das Einstellungsquoten offenbar deutlich vom be- ohne die Hilfe künstlicher
nicht bis drei zählen kann oder aberwitzige Nai- trachteten Sektor ab. Bleichmittel blond. Schuld
vität unter Beweis stellt. Aber warum sind aus- Laut der Psychologin Margaret Takeda und daran ist das Zusammenspiel
gerechnet blonde Frauen das bevorzugte Opfer ihren Kollegen von der University of Tennessee von zwei Farbpigmenten, die
solcher Scherze? Wie jeder weiß, entspricht das in Chattanooga haben Blondinen einen Vorteil Einfluss auf unsere Haarfarbe
Klischee der dummen Blondinen genauso we- in den Berufen, in denen das äußerliche Erschei- nehmen: Phäomelanin sorgt
nig der Realität wie das der dummen Ostfriesen. nungsbild wichtig ist, zum Beispiel als Emp- für rötliche oder blonde
Aus welchem Grund also sind sie zur Zielscheibe fangsdame. Anders sieht es dagegen in Jobs aus, Haare, Eumelanin für braune
von Spott und Hohn geworden? Erst seit weni- in denen verstärkt geistige Kompetenzen gefor- oder schwarze. In den meis­
gen Jahren ergründen Wissenschaftler die Hin- dert sind und in denen die Konkurrenz zwi- ten Fällen setzt sich Letzteres
tergründe des Stereotyps – und entdecken des- schen den Bewerbern härter ist. Takeda und ihre durch, und die Haare werden
sen erstaunliche Folgen im Alltag. Kollegen erfassten die Haarfarben der besten dunkel. Nur wer wenig
David Johnston von der Queensland Uni­ Börsenmaklerinnen Londons. In diesem Milieu Eumelanin besitzt, hat die
versity of Technology in Brisbane (Australien) sind die Hürden für die Einstellung sehr hoch. Chance, blond zu sein.
untersuchte 2010, ob Blondinen besser oder Um am Ende eines langen Auswahlparcours ei-
schlechter verdienen als andere Frauen. Der nen Job zu ergattern, müssen die Bewerber eine
­Forscher konnte nachweisen, dass die Gehälter Vielzahl an Eignungen vorweisen. Folglich sollte
von blonden Frauen nach mehreren Jahren man meinen, in dieser Umgebung sei kaum
­Berufserfahrung höher waren als die von ande- Platz für Vorurteile und Stereotype. Laut der
ren Frauen auf gleichem Niveau. Die blonde Psychologin sind jedoch Blondinen unter den
Haarfarbe käme etwa dem Mehrwert eines 500 besten Börsenmaklerinnen deutlich gerin-
zusätz­lichen Ausbildungsjahres gleich, so der ger vertreten (zu fünf Prozent) als in der Ge-
Forscher. Natürlich zeigen derlei Studien nur samtbevölkerung (zehn Prozent in Großbritan-
Kor­relatio­nen auf, die konkrete Ursache des nien). Das passt gut zu dem Rollenbild der weni-
Sachverhalts bleibt offen. Zum Beispiel beob­ ger kompetenten Blondine.
achtete Johnston außerdem, dass auch die Ehe- Offenbar kann die Haarfarbe einer Bewerbe-
männer von Blondinen mehr verdienten. Viel- rin je nach Berufszweig Vor- oder Nachteile ver-
leicht bewegen sich Blondinen also vermehrt in schaffen: Eine blonde Frau findet sich bevorzugt
einem beruflichen Umfeld, das ihnen Anspruch in solchen Branchen, in denen das Aussehen
auf ein gehobenes Einkommen verschafft? eine große Rolle spielt; benachteiligt ist sie da-
Könn­ten die Witze am Ende aus dem Neid gegen, wenn der Arbeitgeber jemanden mit ho-
­an­derer Frauen auf die blonden Besserver­ hen intellektuellen Fähigkeiten sucht.


www.gehirn-und-geist.de 21
Im Experiment Doch keine einzige Untersuchung hat je ei- Män­ner Blondinen in der Disko dennoch häu-
nen faktischen Zusammenhang zwischen der figer an. Über die Ursachen dieser rätselhaften
­finden Männer meist
Intelligenz einer Person und ihrer Haarfarbe be- Anziehungskraft lässt sich nur spekulieren. Drei
Frauen mit braunen legen können. In Sachen Attraktivität allerdings ganz unterschiedliche Erklärungen kommen
Haaren schöner. In nehmen Blondinen bei Männern durchaus ei- dafür in Frage. Die erste ist einfach: In der
der Disko sprechen nen besonderen Stellenwert ein. Zu den unter- Marktwirtschaft – und das gilt auch für die Part-
sie d
­ ennoch häufiger haltsamsten zu diesem Thema durchgeführten nersuche – ist alles, was selten ist, begehrt. Nun
Experimenten gehört das von Viren Swami von machen Naturblonde lediglich zwei Prozent der
Blondinen an
der University of Westminster in London: Mit Weltbevölkerung aus. Sie ziehen also mehr Auf-
blonder, brünetter und roter Perücke besuchte merksamkeit auf sich und könnten dadurch im
eine junge Frau diverse Nachtklubs der eng- Vorteil sein. Der zweite mögliche Grund hängt
lischen Metropole. Für jede Haarfarbe zählten mit der Jugend zusammen. Der Psychologe Da-
die Forscher, wie oft sie von Männern angespro- vid Matz vom Augsburg College in Minneapolis
chen wurde. Die blonde Perücke allein zog ge- (USA) konnte zeigen, dass eine Frau umso jün-
nauso viele Männer an wie die brünette und ger eingeschätzt wird, je heller ihre Haare sind.
rote zusammen! Und Männer werden von jüngeren Frauen deut-
lich mehr angezogen, vermutlich weil ihre
Begehrte Raritäten Fruchtbarkeit größer ist und sie sich daher als
Auch eine blonde Tramperin hat mehr Erfolg als Fortpflanzungspartnerinnen eignen. Glaubt
eine brünette oder rothaarige, wie wir bei einer man einer anderen Hypothese, so suchen Män-
Variation des obigen Versuchs herausfanden. ner bevorzugt deshalb eine jüngere Partnerin,
Dieses Mal stellte sich eine junge Frau entweder um in der Beziehung den dominanten Part ein-
mit blonder, brünetter oder roter Perücke an nehmen zu können.
den Straßenrand, um Autos anzuhalten. Auch Diese beiden Gründe erklären jedoch noch
hier gewann die Blondine deutlich. nicht die Vorurteile gegenüber blonden Frauen.
Macht Blondsein eine Frau in den Augen der Hier könnte ein dritter Faktor von Bedeutung
Männer etwa schöner? In einem weiteren Ver- sein. Seit einem halben Jahrhundert werden
such retuschierte Swami das Foto einer jungen Blondinen in Kino und Fernsehen bevorzugt als
Männermagnet Frau so, dass sie jeweils eine andere Haarfarbe einfache, sinnliche Frauen dargestellt, die sich
Blonde Frauen bekommen hatte, und bat junge Männer, die ­Attraktivität mehr auf ihre physische Anziehungskraft als
in Diskotheken und auf Partys der Abgebildeten zu bewerten. Dabei wurde das auf ihre geistigen Gaben verlassen. Es ist schwie-
mehr Aufmerksamkeit Mädchen mit braunen Haaren als am schöns­- rig, die Hintergründe dieser Tradition zu klä-
vom anderen Geschlecht. ten empfunden. Merkwürdigerweise sprechen ren, die in den 1950er Jahren mit Filmikone
­Marilyn Monroe begann und über Grace Kelly,
Brigitte Bardot, Sharon Stone und Scarlett Jo-
hansson bis heute fortlebt. Ein möglicher Grund
könnte sein, dass im Kino Helligkeit und Bril-
lanz eine wesentliche Rolle spielen und Blondi-
nen in diesem Medium deshalb seit jeher favo-
risiert wurden. Doch der Trend zeigt sich nicht
nur auf der Leinwand. Blonde Frauen sind in
sämtlichen Medien zu einem deutlich größeren
Anteil vertreten als in der Realität. Melissa Rich
und Thomas Cash von der Old Dominion Uni-
versity in Norfolk (USA) analysierten die letzten
40 Jahrgänge diverser Frauenzeitschriften, etwa
des Modemagazins »Vogue«, sowie von ein-
schlägigen Männermagazinen. Resultat: Wäh-
rend nur fünf Prozent der US-Bevölkerung
blond sind, präsentierten die Zeitschriften zu
35 Prozent blonde Frauen.
dreamstime / Yuri Arcurs

Beim »Playboy« gab es sogar mit 41 Prozent


rund achtmal mehr Blondinen zu sehen als in
Wirklichkeit. Berücksichtigt man noch die Tatsa-
che, dass sich zahlreiche Darstellerinnen in der

22 G&G 4_2012


Mitfahrgelegenheit
Wer per Anhalter reisen möchte,
sollte sich vielleicht eine blonde
Perücke aufsetzen. Blondinen
werden am Straßenrand häufi-
ger mitgenommen.
iStockphoto / Ilya Bushuer

Pornoindustrie die Haare blond färben, so ist die Tests eher – und erscheinen folglich genau so,
Assoziation zwischen Haarfarbe und Körperlich- wie man sie dargestellt hat. Das Phänomen der
keit endgültig besiegelt. Das Stereotyp der Blon- Selbsterfüllung wurde von der Psychologin
dine, die ausschließlich als Sexobjekt dargestellt Clémentine Bry und ihren Kollegen von der
wird, könnte also die Blondinenwitze erklären. Université de Nanterre erforscht, die das Allge-
Dass der Zusammenhang zwischen Blond- meinwissen junger blonder und brünetter
sein und sexueller Verfügbarkeit medial kon- Frauen prüften. Kurz vor dem Test erinnerte
struiert ist, wird auch dadurch deutlich, dass man die Probandinnen diskret an die Existenz
kein männlicher Gegenpart existiert: Es gibt des Stereotyps, dem zufolge »sich Blondinen
keine »Blondenwitze« über blonde Männer, die bekanntlich mehr durch ihr Äußeres hervortun
überdies auch keinerlei besondere Anziehung als durch ihre geistigen Fähigkeiten«, oder
auf Frauen ausüben. In unseren Versuchen zeigte ihnen Fotos mit blonden Schönheitsköni-
konnten wir beobachten, dass Männer, die als ginnen. Das Ergebnis: Nach der Erwähnung die-
Tramper unterwegs waren, nicht mehr Erfolg ser Vorurteile erzielten die blonden Teilneh-
hatten, wenn sie eine blonde Perücke trugen. merinnen prompt weniger gute Ergebnisse –
Auch sind Männer mit blonden oder braunen obwohl ihre Leistungen völlig normal waren,
Haaren, die in einer Disko Frauen zum Tanzen wenn man sie nicht an die Ste­reotype erinnerte. Quellen
auffordern, gleich erfolgreich. Das Experiment von Bry liefert gleichzeitig Bry, C. et al.: Blonde Like me:
einen Schlüssel dazu, der selbsterfüllenden When Self-Construals Mo­
Vorurteile und ihr Folgen Kraft des blonden Stereotyps nicht zum Opfer derate Stereotype Priming
Wie auch immer das Stereotyp der dummen, zu fallen: Wenn man die Teilnehmerinnern ­Effects on Intellectual Per­
aber attraktiven Blondine entstanden sein mag, durch Sätze wie »Ich bin einzigartig und anders formance. In: Journal of Ex­
heute ist es jedenfalls fest verankert. Bei un- als andere Menschen« dazu bewegte, sich als perimental Social Psychology
seren Forschungen haben wir beobachtet, dass unabhängige Persönlichkeit wahrzunehmen, 44, S. 751 – 757, 2008
die bloße Anwesenheit einer jungen Frau mit litten die Testergebnisse nicht unter dem Ein- Guéguen, N., Lamy, L.: Hitch-
blonder Perücke und Zeitschrift auf der Terrasse fluss des Rollenklischees. hiking Women’s Hair Color.
eines Cafés mehr Machosprüche und anstößige Für Erzieher und Eltern könnte es daher vor- In: Perceptual and Motor
Scherze von Männern hervorruft als die einer teilhaft sein, bei blonden Mädchen besonders Skills 109, S. 941 – 948, 2009
Frau mit anderer Haarfarbe. Ebenso konnte Vi- auf die Entwicklung einer unabhängigen Per- Swami, V. et al.: The Influence
ren Swami anhand von retuschierten Fotos zei- sönlichkeit zu achten. Die Seltenheit der Haar- of Skin Tone, Hair Length and
gen, dass allein die blonde Haarfarbe dazu führt, farbe könnte zum Beispiel mit positiven Assozi- Hair Colour on Ratings of
eine junge Frau als weniger intelligent und mo- ationen verbunden werden, um die Leistungen Women’s Physical Attractive-
ralisch verwerflicher einzuschätzen. der Kleinen zu fördern. Auf keinen Fall sollte ness, Health, and Fertility. In:
Auch wenn diese Rollenbilder keinen wahren man ihnen schon im frühen Alter das Rollenbild Scandinavian Journal of Psy-
Kern haben, können die Stereotype in einigen des braven und verführerischen Mädchens na- chology 49, S. 429 – 437, 2008
Fällen selbsterfüllend sein: So fühlen sich man- hebringen. Vielleicht verwischen sich dann im
che Blondinen etwa machtlos oder unter Druck Lauf der Jahre auch die Stereotype. Ÿ Weitere Quellen im Internet:
gesetzt, wenn sie hören, blonde Frau­en seien im www.gehirn-und-geist.de/
Schnitt weniger intelligent als andere. Durch Nicolas Guéguen ist Sozialpsychologe an der Univer­ artikel/1141575
den zusätzlichen Stressfaktor versagen sie bei sité de Bretagne-Sud in Vannes.


www.gehirn-und-geist.de 23
psychologie ı Verhaltensökonomie

MEINS!
Schon Dreijährige verteidigen leidenschaftlich ihre Spielsachen. Ist uns
das Streben nach Eigentum angeboren? Der Psychologe Bruce Hood
von der University of Bristol schildert, nach welchen Regeln Mensch und Tier
mit Besitz umgehen.

Von Bruce Hood

Au f ei n en B l ic k H anna betrachtet entzückt den Schmetter­


ling, den sie gerade mit einem Förmchen
Vögel so etwas wie Besitz kennen. Menschen da­
gegen sammeln, tauschen und schätzen Ob­

Haben und in die Knete gedrückt hat. »Von wem hast du die jekte seit Beginn der Zivilisation offenbar allein
Knete bekommen?«, fragt Patricia. »Na, von um deren selbst willen.
behalten dir«, erwidert Hanna. »Und wem gehört der Eines der ältesten Zeugnisse davon ist ein am

1 Menschen schätzen
den Wert eines
Gegenstands höher ein,
Schmetterling?« »Mir!«, entgegnet Hanna im
Brustton der Überzeugung.
Hanna ist eine typische Dreijährige und Pa­
Westkap in Südafrika gefundenes Stück Ocker­
gestein mit eingeritzten Kreuzen. Sehr wahr­
scheinlich stellt es ein Kunstwerk oder einen
wenn er ihnen selbst tricia Kanngiesser meine Doktorandin in un­ heiligen Gegenstand dar. Solche Funde deuten
gehört. Dieser so genann- serem Labor an der Bristol University. Zusam­ darauf hin, dass Menschen schon seit mindes­
te Endowment-Effekt men erforschen wir, wie das Verständnis von Ei­ tens 70 000 Jahren Dinge allein aus Freude an
(Besitztumseffekt) lässt gentum bei Kindern entsteht. Dazu nutzen wir Schönheit anfertigen. Kunstobjekte aus dem
sich schon bei Sechsjäh- festgelegte Szenarien, in denen etwas geliehen, späteren Jungpleistozän sind bereits so sorgfäl­
rigen beobachten. ausgetauscht oder verkauft wird. Es handelt tig und aufwändig gearbeitet, dass ihre Schöp­
sich dabei um typische Experimente aus der fer dafür beträchtliche Zeit geopfert haben müs­

2 Selbst Kapuzineräff-
chen und Menschen-
affen tauschen ein
Verhaltensökonomie, welche die kognitiven
Prozesse bei Entscheidungen in Besitzfragen
sen, anstatt sich beispielsweise der Nahrungs­
suche oder der Jagd zu widmen.
und geschäftlichen Dingen untersucht. Es geht Warum hängt der Mensch sein Herz an Din­
einmal erworbenes Gut
uns also um eines der wohl größten Reizthemen ge ohne besonderen Nutzen oder Wert? Etwa
nur gegen einen höheren
in der Geschichte: den Umgang mit Eigentum. 60 Prozent der Kleinkinder in westlichen Kul­
Preis wieder ein. Dies gilt
Offenbar sind wir die einzige Spezies, die Ge­ turen haben ein ganz bestimmtes Spielzeug,
allerdings ausschließlich
genstände sowohl anfertigt als auch begehrt. Es etwa eine Puppe oder ein Plüschtier, von dem
für Nahrungsmittel.
gibt zwar Menschenaffen, die grobe Werkzeuge sie sich nicht trennen möchten. Eltern berich­

3 Bei US-Bürgern ist der


Endowment-Effekt
deutlich ausgeprägter als
herstellen, mit denen sie Nüsse knacken oder in
Termitenhügeln herumstochern. Meist werfen
sie diese aber weg, sobald sie ihren Zweck erfüllt
ten von dramatischen Szenen, sollte das voll­
kommen abgewetzte Stofftier einmal verloren
gegangen sein. Ähnlich, wie die Comicfigur Li­
beispielsweise in Ost­ haben. Manche Tiere, insbesondere diverse Vö­ nus aus der Serie »Die Peanuts« seine Kuschel­
asien oder Nigeria. Dies gel, sammeln Dinge oder stehlen sie sogar. Von decke überallhin mitschleift, mögen sich man­
könnte damit zusammen- Elstern etwa ist die Vorliebe für Glitzerndes be­ che Kinder von ihren Lieblingsspielsachen
hängen, dass Menschen kannt. Und auch die Männchen der australi­ kaum trennen. Die auserkorenen Dinge werden
im Westen sich selbst schen Laubenvögel sammeln Gegenstände und als einzigartig und unersetzlich angesehen, und
stärker über Besitztümer stellen sie als Teil des Werbungsrituals kunstvoll der Nachwuchs weigert sich beharrlich, sie für
definieren. angeordnet zur Schau. Doch dabei handelt es Kopien oder neuere Versionen herzugeben.
sich um ein relativ stark instinktgebundenes Diese frühe Bindung an einen einzigen, ganz
Verhalten – es bedeutet noch lange nicht, dass speziellen Gegenstand rührt möglicherweise

24 G&G 4_2012


dreamstime / Kirill Medvedev

unzertrennlich
In westlichen Ländern besitzen sechs von zehn Kleinkindern ein bevorzugtes Spielzeug, das sie nie hergeben
würden und als ihr unbedingtes Eigentum betrachten. In Japan sind es dagegen weniger als 40 Prozent.


www.gehirn-und-geist.de 25
die sich auch in Änderungen der elektrischen
Hautleitfähigkeit niederschlugen – einem ty­
pischen Stressanzeichen. Als wir die Teilnehmer
dagegen baten, Bilder von Wertgegenständen
wie dem eigenen Mobiltelefon zu zerstören, war
die Reaktion erheblich schwächer.
Doch nicht nur was solche Lieblingssachen
betrifft, ist der Mensch hemmungslos besitz­
ergreifend. Kleine Kinder streiten sich ständig
um Spielzeuge und alles mögliche andere, um
ihren sozialen Status in der Gruppe zu erpro­
ben. Landesweit erklingt auf Spielplätzen im­
mer wieder der schrille Schrei »Meins!«, gefolgt
von Tränen und den vergeblichen Beschwich­
tigungsversuchen der Eltern: »Ihr könnt euch
doch abwechseln!«
Ein Konzept von Eigentum entwickeln Kin­
der tatsächlich bereits im Wickelalter. In un­
serem Labor fanden wir 2010 heraus, dass schon
Dreijährige bei der Frage, wem ein bestimmtes
Objekt zusteht, die Arbeit für seine Herstellung
berücksichtigen – etwa beim Bau einer Burg aus
Klötzen oder dem Fabrizieren von Knetmänn­
chen. Aber selbst im Vorschulalter achten sie
Blickwinkel / G. Kopp nur selten darauf, wem das Ausgangsmaterial
eigentlich gehörte, worüber wiederum Erwach­
sene genau wachen. Kleinkinder beschränken
die Vorstellung von Eigentum zudem auf ihre
ATTRAKTIVES GLITZERWERK daher, dass Kinder in westlichen Ländern be­ eigenen Habseligkeiten und lernen erst später,
Auch verschiedene Vögel reits früher selbstständig werden sollen und auch die Besitztümer anderer zu respektieren.
interessieren sich für Gegen­ etwa allein schlafen müssen. Kleinkinder su­ Im Lauf unseres Lebens dienen Objekte dann
stände ohne direkten Nutzen. chen sich dann eine Decke oder ein Kuscheltier zunehmend als Ausdruck des »Selbstkonzepts«,
Die intelligente Elster trägt in ihrem Bettchen, um sich damit zu trösten. dem Produkt unserer Selbstwahrnehmungen
glänzende Objekte manchmal Mieko Hobara vom New York State Psychiatric und -einschätzungen.
sogar weg und versteckt sie Institute berichtete 2003, dass derartige Über­ Der amerikanische Psychologe William
unter Laub. Ihre Beweggründe gangsobjekte in Japan, wo Kleinkinder bis zur James (1842 – 1910) erkannte als einer der Ersten,
sind Forschern bisher jedoch Mitte der Kindheit bei ihren Müttern schlafen, dass Besitz geradezu ein Teil des eigenen Ichs
verborgen geblieben. viel seltener sind. So fanden die Forscher he­ werden kann. Bereits 1890 schrieb er in seinem
raus, dass nur etwa 38 Prozent der von ihnen ge­ berühmten Lehrbuch »Principles of Psycholo­
testeten japanischen Zwei- bis Vierjährigen sol­ gy«: »Das Selbst eines Mannes ist die Summe al­
che Dinge besaßen! les dessen, was er als das Seine bezeichnen
KANN: nicht nur sein Körper und seine geisti­
Trauern um Habseligkeiten gen Fähigkeiten, sondern auch seine Kleidung
Die große Liebe zu einem bestimmten Gegen­ und sein Haus, seine Frau und Kinder, seine Ah­
stand steigt im Alter zwischen ein und drei Jah­ nen und Freunde, sein Ruf und seine Werke, sein
ren, erreicht zwischen drei und vier Jahren ih­ Grund und Boden, seine Pferde, seine Jacht und
ren Höhepunkt und lässt mit dem Schulalter sein Bankkonto.«
meistens wieder nach. Manche Leute behalten Da sich der Mensch zum Teil durch seine Be­
ihre Lieblingssachen jedoch bis ins Erwachse­ sitztümer definiert, empfindet er ihren Verlust
nenalter. Das Trauma, das wir bei ihrem Verlust häufig als demütigend. Zu den erschütterndsten
erleiden, kann man sogar physiologisch nach­ Bildern aus den Konzentrationslagern der Nazis
vollziehen. Für eine 2010 veröffentlichte Studie zählen die Berge von persönlichen Gegenstän­
baten wir 31 Erwachsene, Fotos von Lieblings­ den und Gepäckstücken, die man den Opfern
sachen aus ihrer Kindheit zu zerschneiden. Die abgenommen hatte, um sie ihrer Identität zu be­
Tat verursachte ihnen offenbar Beklemmungen, rauben. Der Franzose Michel Levi-Leleu, ein 66-

26 G&G 4_2012


jähriger Ingenieur im Ruhestand, besuchte im von Kahnemans Team wurde jedoch insgesamt Früher Sinn
Jahr 2005 mit seiner Tochter eine Holocaust­ nur wenig Handel getrieben. Das lag an der er­ für Besitzrechte
ausstellung in Paris. In der Sammlung erblickte staunlichen Diskrepanz zwischen der Höhe der
Das Verständnis für fremdes
er den Pappkoffer seines deportierten Vaters, mit Verkaufsofferten und dem, was die Interessen­
Eigentum entwickelt sich im
dessen Initialen und Adresse. Für Levi-Leleu han­ ten für eine Tasse zu zahlen bereit waren. Die
Lauf des dritten Lebensjahrs –
delte es sich um ein Objekt von unschätzba­rem Verkäufer erachteten den Becher in ihrem Be­
das stellten Forscher um
Wert: Er forderte die Herausgabe, was zu einem sitz nämlich jeweils als wertvoller als jene Stu­
den Leipziger Anthro­pologen
Rechtsstreit mit dem Museum Auschwitz-Bir­ denten, die ihn erwerben sollten. Entsprechend
Michael Tomasello fest, als
kenau führte. Vier Jahre später einigten sich die waren die Preise hoch und die Gebote niedrig.
sie 60 Zwei- bis Dreijährige
Parteien darauf, dass der Koffer der Pariser Aus­ Bereits 1980 bezeichnete der amerikanische
be­ob­achteten. Schon die
stellung als Dauerleihgabe überlassen wird. Wirtschaftwissenschaftler Richard Thaler von
Zwei­jährigen wehrten sich
Besitztümer können aber auch unsere per­ der University of Chicago dieses Phänomen als
häufig, wenn eine Hand­
sönlichen Vorlieben zum Ausdruck bringen: Endowment-Effekt (Besitztumseffekt). Inzwi­
puppe etwa das Halstuch des
Leute kaufen Produkte, die ihrer Meinung nach schen konnten Forscher ihn für vielerlei Gegen­
Kindes in ihre Tasche steckte
Qualitäten widerspiegeln, mit denen sie in Ver­ stände belegen – von Weinflaschen über Ein­
und mitnehmen wollte.
bindung gebracht werden möchten. Diese Nei­ trittskarten bis hin zu Schokoriegeln.
Gehörte das Kleidungsstück
gung machen sich Werbeagenturen seit vielen Der Psychologe James Wolf von der Illinois
dagegen offensichtlich einer
Jahren zu Nutze. Je stärker eine Marke Erfolg si­ State University veranstaltete 2008 gemeinsam
anderen anwesenden Person,
gnalisiert, desto größer die emotionale Bindung mit Kollegen von der Ohio State University eine
protestierten nur die Drei­
an das Produkt. Rolex-Uhren, iPods und Nike- Spaßauktion mit 84 Studenten – wiederum mit
jährigen.
Schuhe – das sind nur einige Beispiele für Mar­ Kaffeebechern. Die Hälfte der Teilnehmer durf­
kenartikel, die manche Menschen schon mit te die Porzellantassen vor dem Verkauf zehn Se­ (Rossano, F. et al.: Young Children’s
Understanding of Violation of
dem Leben bezahlten, als sie ihren Besitz gegen kunden in der Hand halten, die anderen etwa Property Rights. In: Cognition 121,
S. 219 – 227, 2011)
Diebe verteidigten. dreimal so lang. Die Forscher stellten fest, dass
Der Marketingprofessor Russell Belk von der das erfolgreiche Durchschnittsgebot in der
York University in Kanada nennt diese materia­ Gruppe der Studenten mit 30 Sekunden Berüh­
listische Sicht das »erweiterte Selbst«: Wir sind, rungszeit mit 5,80 Dollar (etwa 4,50 Euro) deut­
was wir besitzen. Und wenn dieser Besitz durch lich höher lag als bei der 10-Sekunden-Gruppe
Diebstahl, Verlust oder Beschädigung in Mitlei­ mit 3,70 Dollar (2,80 Euro). Offenbar verstärkte
denschaft gezogen wird, erleben wir das als per­ allein der um 20 Sekunden längere Kontakt mit
sönlichen Schicksalsschlag. Auch ich selbst war dem Becher den Endowment-Effekt.
äußerst aufgebracht, als mir jemand vor ein Die Wissenschaftler prüften in einem Ver­
paar Monaten offenbar absichtlich die Lackie­ such mit weiteren 60 Studenten, wie die offene
rung meines VW Golf zerkratzt hatte – als habe Konkurrenzsituation beim Bieten die Wert­
jemand dieses Vergehen vorsätzlich mir gegen­ schätzung beeinflusst. Sie verwendeten daher
über verübt. Dabei bin ich eigentlich kein Auto­ ein verdecktes Bieterverfahren, bei dem das ei­
narr und wusste, dass ich nur ein zufälliges Op­ gene Höchstgebot in einem versiegelten Um­
fer war. schlag abgegeben wurde. Insgesamt waren die
Gebote geringer, was darauf hindeutet, dass die
Das »Mein« macht es so wertvoll
Warum schätzen wir unser Eigentum so viel ILLUSIONSVERLUST
Knutson, B.  et al., Neuron 58, S. 814–822, 2008, fig. 5; Abdruck genehmigt von Elsevier / CCC

­höher als das von anderen? Sogar flüchtige Ver­ Als Probanden im Scanner einen
bindungen zu einem Gut erhöhen messbar den Gegenstand in ihrem Besitz
Wert, den wir ihm subjektiv zuschreiben. Der zu einem geringeren Preis als
Nobelpreisträger Daniel Kahneman arrangierte erwartet verkaufen sollten,
hierzu im Jahr 1991 eine mittlerweile klassische wurde die rechte Insula (rot)
Studie: Seine Mitarbeiter verteilten Kaffeebe­ auffallend aktiv. Möglicher­
cher im Wert von etwa vier Euro an eine Reihe weise handelt es sich dabei um
von Studenten und ermutigten sie, die Becher einen Teil eines Reaktions­
an ihre Kommilitonen zu verkaufen. Die Ver­ musters, das »Enttäuschung«
suchspersonen wickelten mehrere Geschäfte im Gehirn repräsentiert.
ab, bei denen sie immer wieder die Rolle als
Käufer und Verkäufer tauschten. Die Forscher
wollten die Angebote mit den Verkaufspreisen
rechte Hirnhälfte linke Hirnhälfte
für die Becher vergleichen. Zur Überraschung


www.gehirn-und-geist.de 27
Unsere Angst, etwas Öffentlichkeit der Auktion tatsächlich einen ge­ terer wichtiger Teil des neurona­len Belohnungs­
wissen Einfluss hatte. Es stellte sich jedoch he­ systems.
zu verlieren, ist we-
raus, dass das Durchschnittsgebot der Gruppe In einem anderen Experiment hielten die
sentlich größer als mit dem längeren Haltekontakt mit 3,07 Dollar Forscher die Versuchspersonen dazu an, ein
die freudige Aussicht immer noch deutlich höher lag als das der ande­ Produkt in ihrem Besitz zu einem geringeren
auf einen möglichen ren mit 2,24 Dollar. Preis als erwartet zu verkaufen: Nun wurde die
Gewinn Die Forscher machten zudem noch eine rechte Insula (siehe Bild S. 27) aktiv, die zum
­weitere aufschlussreiche Beobachtung: Je län­ ­Beispiel bei der emotionalen Bewertung von
ger jemand als Höchstbietender in einer Online­ Schmerzen eine Rolle spielt. Handelt es sich bei
auktion agierte und sich somit Hoffnung auf diesem Reaktionsmuster etwa um die neuro­
den zukünftigen Besitz machen konnte, desto nale Entsprechung von Enttäuschung? Je höher
mehr zahlte er verglichen mit seiner ursprüng­ die Aktivität in der rechten Inselrinde, desto
lichen Absicht. Die Betreffenden gerieten also ausgeprägter war jedenfalls der Endowment-­
regelrecht in ein Auktionsfieber. Effekt – das heißt, umso mehr hatte der Teilneh­
mer den Wert des Besitzguts überschätzt, das er
Schmerzhafte Verluste verkaufen sollte.
Eine allgemein akzeptierte Erklärung für den En­ Der Endowment-Effekt lässt sich bereits bei
dowment-Effekt ist die so genannte Verlustaver­ sechsjährigen Kindern beobachten. Den Ver­
sion. Laut Daniel Kahneman halten wir einen dacht, es könne sich hierbei um einen sehr
Verlust für uns persönlich bedeutsamer als ei­ grundlegenden Mechanismus handeln, legt
nen entsprechenden Profit: Die Angst, etwas zu auch eine 2007 veröffentlichte Studie von Sarah
verlieren, ist wesentlich größer als die freudige Brosnan und Mitarbeitern an der Emory Uni­
Aussicht auf einen möglichen Gewinn. Ein Team versity in Atlanta nahe. Die Forscher trainierten
um den Neurowissenschaftler Brian Knutson Schimpansen darauf, ihr Essen sowie Spiel­
von der Stanford University entdeckte 2008 zeuge wie etwa verknotete Seile gegen andere
Hirnaktivitätsmuster, welche die Annahme stüt­ Dinge einzutauschen. Die Forscher konnten be­
AFFENWIRTSCHAFT zen, dass Emotionen den Endowment-Effekt obachten, dass die Affen ihr Futter nur ungern
Kapuzineräffchen können verstärken. für anderes Essbares herausrückten, Spielzeuge
lernen, mit Wertmarken So wird etwa der Nucleus accumbens, ein Be­ jedoch ohne Zögern abgaben. Normalerweise
Lebensmittel zu kaufen und reich des Belohnungssystems im Gehirn, stärker zeigten die Tiere bei einer Auswahl verschie­
zu verkaufen. Dabei verlangen aktiv, wenn Menschen Produkte ansehen, die sie dener Nahrung keine Vorliebe für gerade dieses
sie wie Menschen mehr Geld mögen – egal ob sie diese kaufen oder verkaufen. bestimmte Futter. Demnach maßen sie Ess­
für Futter, das sie besitzen, Glauben wir, eine Sache zu einem günstigen barem größeren Wert bei, sobald sie es besaßen.
als sie für das gleiche Lebens­ Preis erwerben zu können, regt sich zudem ver­ Der Psychologe Venkat Lakshminaryanan
mittel zu zahlen bereit sind. mehrt der mediale präfrontale Kortex, ein wei­ von der Yale University untersuchte, ob andere
Affenarten ein ähnliches Verhalten zeigen. Sein
Team berichtete 2008, dass sie Kapuzineräff­
chen beigebracht hatten, Essen gegen Wertmar­
ken einzutauschen. Die Tiere besaßen sogar
kleine Brieftaschen, in denen sie ihr Geld aufbe­
wahren konnten. Die Affen bewiesen einen gu­
ten Geschäftssinn, denn sie lernten schnell, mit
jenem Wissenschaftler zu handeln, der ihnen
das beste Angebot machte. Es zeigte sich auch
rasch, welchen Preis die einzelnen Tiere für die
verschiedenen Futtersorten zu zahlen bereit
waren. Und wenn sie Nahrung verkaufen
sollten, erwarteten die Äffchen genau wie Men­
schen für das gleiche Essen einen höheren Preis
als im Einkauf!
mit frdl. Gen. von Laurie Santos

2011 berichtete Patricia Kanngiesser aus mei­


ner Arbeitsgruppe, dass das Verhalten verschie­
dener Menschenaffenarten – darunter Gorillas
und Orang Utans – vom Endowment-Effekt
­beeinflusst wird. Kanngiessers Arbeit bestätigt

28 G&G 4_2012


SOZIALES GERANGEL
Handgreifliche Streitereien ums
Spielzeug sind unter Kindern
normal. Auf diese Weise testen
sie ihren Status in der Gemein­
schaft.
fotolia / Somenski

zudem einen entscheidenden ­Unterschied zwi­ mierten Wirtschaftshochschule Insead in Paris,


schen Menschen und anderen Primaten, der dass der Endowment-Effekt auch bei Studenten Quellen
sich bereits in Brosnans Schimpansenstudie mit ostasiatischem Hintergrund schwächer Kanngiesser, P.: The Effect of
­abzeichnete: Affen und Menschenaffen zeigen ausgeprägt ist. In der individualistisch orien­ Creative Labor on Property-
den Endowment-Effekt nur bei Lebensmitteln, tierten westlichen Kultur tragen Besitztümer Ownership Transfer by
nicht bei anderen Objekten – und zwar nicht vielleicht stärker zur Erweiterung des eigenen Preschool Children and
einmal dann, wenn man diese benutzen könnte, Selbst bei, vermuteten die Forscher. Daher bat Adults. In: Psychological Sci-
um Essen zu bekommen. Der Endowment-Ef­ Maddux einen Teil der Probanden, vor dem ei­ ence, S. 1236 – 1241, 2010
fekt für Gegenstände, die keinen unmittelbaren gentlichen Verkaufsversuch etwas über ihre Maddux, W. W. et al.: For
Nutzen haben, ließ sich bisher also nur bei Men­ Freundschaften zu anderen Menschen aufzu­ Whom Is Parting with Pos-
schen beobachten. schreiben. Die anderen Teilnehmer dagegen sessions More Painful? Cul-
sollten Gedanken über sich selbst zu Papier zu tural Differences in the
Auch eine Frage der Kultur bringen. Nachdem sich die Ostasiaten im Zuge ­Endowment Effect. In: Psy-
Mehr als 30 Jahre lang beschränkte sich die For­ der zweite Aufgabe stärker auf sich selbst kon­ chological Science, S. 1910 – 
schung zum Endowment-Effekt auf nordame­ zentriert hatten, erachteten sie ihren Besitz als 1917, 2010
rikanische Studenten. Erst vor Kurzem baten wertvoller. Westliche Studenten hingegen, die Lakshminaryanan, V. R. et al.:
Wissenschaftler auch einmal Vertreter anderer über ihre Freunde und Bekannte nachgedacht Endowment Effect in Capu-
Kulturen zu ihren verhaltensökonomischen hatten, zeigten anschließend einen geringeren chin Monkeys. In: Philoso­
Versuchen. Hierbei zeigte sich, dass etwa Men­ Endowment-Effekt! phical Transactions of the Ro-
schen in Afrika oder Asien durchaus andere Ein­ Die Rolle des Selbst in der Gemeinschaft – yal Society B, S. 3837 – 3844,
stellungen zu Besitz haben. Die Marketing­ also ob wir uns eher als unabhängiges In­di­vi­ 2008
expertin Melanie Wallendorf und der Anthro­ duum betrachten oder als Teil einer Gruppe –
pologe Eric Arnould von der University of scheint die Einstellung gegenüber Besitz tat­ Weiter Quellen im Internet:
Arizona verglichen US-Amerikaner mit Dorf­ sächlich zu beeinflussen. Dennoch entstammen www.gehirn-und-geist.de/
bewohnern in Nigeria. Dabei fanden sie heraus, die materiellen Bindungen offenbar dem tief artikel/1142173
dass die Schwarzafrikaner Geschenken ver­ in uns verwurzelten Verlangen, Dinge zu besit-
gleichsweise mehr Wert beimessen und einen zen – ein Bedürfnis, das aus dem ursprüng­ Literaturtipp
geringeren Endowment-Effekt für ihre Besitz­ lichen Begehren nach Nahrung entstanden sein Hood, B.: The Self Illusion.
tümer zeigen. Offenbar ist die ländliche Bevöl­ könnte. Heute handelt es sich dabei um einen How the Social Brain Creates
kerung in Nigeria insgesamt eher weniger an in­ wichtigen psychologischen Prozess, der nicht Identity. Oxford University
dividuellem Besitz interessiert. Demgegenüber nur das Geschäftsleben bestimmt, sondern auch, Press (USA), Mai 2012
hat es für sie einen größeren Stellenwert, kultu­ wie wir uns selbst und andere betrachten. Ÿ Der Autor beschreibt, wie
rell bedeutsame Objekte untereinander aus­ das »Selbstkonzept« entsteht
zutauschen und in der Gemeinschaft zu teilen. Bruce Hood ist Professor für Psychologie und und wovon es in der heuti­
Im Jahr 2010 ergab eine Studie von Psycholo­ leitet das Bristol Cognitive Development Centre an gen Gesellschaft geprägt ist.
gen um William Maddux, heute an der renom­ der dortigen Universität.


www.gehirn-und-geist.de 29
psychologie ı menschenkenntnis

Auf Anhieb durchschaut?


»Ich habe eine gute Menschenkenntnis«: Diese Aussage hört man häufig.
Doch stimmt sie auch? Der Psychologe Chaehan So erklärt, weshalb wir
oft nur glauben, wir könnten andere gut einschätzen – und was vor solchen
Verzerrungen schützt.

Von Chaehan So

Au f ei n en B l ic k I st Ihnen schon einmal aufgefallen, dass viele


Menschen von sich sagen, sie besäßen eine
So beurteilen die meisten von uns ihre Leis­
tungen und Begabungen als überdurchschnitt­

Begrenzte gute Menschenkenntnis – aber fast niemand lich, egal auf welchem Gebiet: Wir halten uns
das Gegenteil behauptet? Aussprüche wie »Ich etwa für klüger, kompetenter und attraktiver als
Urteilskraft täusche mich oft in anderen« hört man selten. das Mittelmaß – und eben auch für besonders

1 Unser Eindruck, ande-


re zutreffend ein-
schätzen zu können, lässt
Ist es wirklich so einfach zu durchschauen, ob
jemand ein eingebildeter, oberflächlicher oder
gutherziger Zeitgenosse ist? Oder bilden wir uns
gute Menschenkenner.
Wie die Psychologen Justin Kruger und Da­
vid Dunning von der Cornell University 1999
sich mit einer Reihe gut das vielleicht nur ein? in mehreren Experimenten zeigten, ist das
untersuchter kog­nitiver Tatsächlich gibt es eine Reihe von gut doku­ ­Ausmaß der Selbstüberschätzung sogar umso
Verzerrungen erklären. mentierten psychologischen Urteilsverzerrun­ ­größer, je inkompetenter man auf einem Gebiet
gen, denen wir alle – ob wir wollen oder nicht – ist. So beurteilten bei einem Grammatiktest die

2 Zum Beispiel suchen


und verarbeiten wir
unbewusst vor allem
sowohl beim Einschätzen anderer Personen
­unterliegen als auch beim Beurteilen unserer
schlechtesten 25 Prozent der Probanden die ei­
gene Leistung als ebenso überdurchschnittlich
eigenen Fähigkeiten. Wenn wir diese Tendenzen wie der Rest der Versuchsteilnehmer. Lediglich
solche Informationen, die
kennen, mag es uns besser gelingen, sie im All­ das bes­te Viertel zeigte Bescheidenheit: Sie un­
unseren Erwartungen
tag aufzudecken und ihnen bewusst entgegen­ terschätzten ihre Leistungen etwas (siehe Grafik
entsprechen. Auch färben
zusteuern. auf S. 32).
wir unser Urteilsvermö-
Solche Urteilsverzerrungen tauchen beson­
gen rückblickend schön.
ders häufig in einem bestimmten Bereich un­ Verzerrter Blick in den Spiegel

3 Indem wir unsere


Bewertungen auf
diese Tendenzen überprü-
serer Gedankenwelt auf, der »Metakognition«,
also dem Nachdenken über das eigene Wissen
und die eigenen Fähigkeiten. Dass Menschen
Wahrscheinlich ist es ein Stück weit sinnvoll,
dass die meisten Menschen beim Blick in den
Spiegel eine rosarote Brille aufsetzen. Wer sich
fen, können wir zu einer sehr oft unbemerkt metakognitive Fehlurteile besser einschätzt, als er ist, wird eine schwierige
zutreffenderen Einschät- treffen, wissen Forscher schon seit geraumer Aufgabe eher angehen – und möglicherweise öf­
zung von anderen Men- Zeit. Bereits in den 1980er Jahren stellten Psy­ ter dafür belohnt werden. Beim Beurteilen an­
schen gelangen. chologen die bis dahin gängige Lehrmeinung in derer aber führt diese Selbstüberhöhung meist
Frage, eine möglichst realistische Wahrneh­ dazu, dass wir sie schlechter beurteilen, als sie es
mung der Welt sei normal, ja unerlässlich für verdienten. Denn wir bewerten unsere Mitmen­
die geistige Gesundheit. Immer mehr Studien schen immer im Vergleich zu unserem eigenen
zeigten damals, dass gut angepasste, »normale« Selbst, das ins Positive verzerrt ist.
Personen mit einer Reihe von so genannten po­ Die Selbstüberschätzung geht Hand in Hand
sitiven Illusionen leben – die ihr Selbstbild in mit einem anderen psychologisch tief veran­
ein besseres Licht rücken, als es objektiv gebo­ kerten Irrtum: dem so genannten Bestätigungs­
ten wäre. fehler – also der Tendenz, einmal bestehende

30 G&G 4_2012


Vertrauenswürdig?
Wann immer wir jemand kennen lernen, bilden wir uns blitzschnell eine Meinung.
Diese ändern wir später nur noch widerwillig.

dreamstime / Andrzej Podsiad


www.gehirn-und-geist.de 31
fragwürdige einschätzung
Im Bewerbungsgespräch
bietet sich die Gelegenheit,
systematisch und objektiv
Informationen über den
anderen zu sammeln – doch
auch hier lauern psychologi-
sche Fallstricke.

fotolia / Adam Gregor


Urteile immer wieder zu bestätigen, anstatt sie fest. Wenn wir etwas beobachten, was nicht zu
in Frage zu stellen. Der Kognitionspsychologe diesem ­Gefüge passt, legt unser Unbewusstes
Peter Wason (1924 – 2003) beschrieb diese men­ das Puz­zleteil einfach beiseite. So bewahrheitet
tale Fehleinschätzung bereits 1960 in einem sei­ sich letztlich immer unser anfängliches Bild des
ner klassischen Experimente am University Col­ anderen – und wir bleiben davon überzeugt,
lege London: Darin sollten seine Versuchsper­ eine gute Menschenkenntnis zu haben.
sonen beispielsweise raten, nach welcher Regel Diese Illusion tritt auch deswegen so hartnä­
die Ziffernfolge 2–4–6 gebildet wurde. Die Pro­ ckig auf, weil wir unseren ersten Eindruck nur
banden konnten sich an eigenen Reihen versu­ äußerst widerwillig ändern. Das konnte 2010
Ignorant gegenüber der chen und bekamen zurückgemeldet, ob diese eine Studie der britischen Psychologin Natalie
eigenen Inkompetenz der zu findenden Regel entsprachen oder nicht. Wyer von der University of Plymouth zeigen.
In einer Studie von Justin Kruger Ihre Versuchspersonen sahen das Foto eines
und David Dunning schätzten Fragen will gelernt sein jungen, kahlköpfigen Mannes ­namens Edward,
nach einem Grammatiktest alle Die meisten Versuchspersonen tippten im ge­ der ihnen entweder als Krebs­patient oder als
Probanden ihr Abschneiden nannten Fall auf eine aufsteigende Zahlen­reihe Skinhead vorgestellt wurde. Erwartungsgemäß
ähnlich gut ein. Die schlechtes- mit einem Intervall von 2 und führten daher schätzen die Probanden ihn als feindseliger ein,
ten Teilnehmer überschätzten Beispiele wie 4–6–8 oder 10–12–14 an, ­worauf- wenn sie ihn für einen ­Skinhead hielten. Wenn
die eigene Leistung damit am hin sie stets positives Feedback erhielten. So sie danach weitere Informationen erhielten, die
stärksten. ­kamen sie allerdings nicht auf die tatsächlich Edward in einem günstigeren Licht darstellten,
(Kruger, J., Dunning, D.: Unskilled zu Grunde liegende Gesetzmäßigkeit: eine be­ änderten sie diese Meinung zwar – aber nur in
and Unaware of It. How Difficul- liebig aufsteigende Folge von Zahlen. Um das zu Äußerungen, die sie bewusst tätigten. In einem
ties in Recognizing One’s Own
Incompetence Lead to Inflated entdecken, hätten sie als Gegenprobe ungerade Test, der implizite, also unbewusste Einstel­
Self-Assessments. In: Journal of
Personality and Social Psychology oder ­unregelmäßige Intervalle wie 2–5–8 oder lungen aufzudecken vermag (der Implizite As­
77, S. 1121 – 1134, 1999) 3–6–17 nennen müssen, was aber die wenigsten soziationstest, siehe Kasten S. 34), reagierten die
100 taten. Versuchspersonen weiterhin schneller auf ne­
Selbsteinschätzung
Gehirn&Geist, nach: Justin Kruger und David Dunning, 1999

90 Der Bestätigungsfehler ist auch für unser gative Adjektive in Verbindung mit Edward als
der Teilnehmer
Prozentrang der Probanden

80 ­Gefühl verantwortlich, einen Menschen bereits auf positive. Ihre Einschätzung Edwards als
70 nach dem ersten Kontakt richtig eingeschätzt feindselig blieb also unverändert, obwohl sie ob­
60 zu haben (siehe Kasten rechts). Denn bei wei­ jektive Informationen bekommen hatten, die
50 teren Treffen fühlen wir uns immer wieder in ihrem ers­ten Eindruck widersprachen.
40 diesem anfänglichen Urteil bestätigt. Schuld Menschen sitzen bei ganz verschiedenen all­
30 ­daran sind automatisiert ablaufende kognitive täglichen Urteilen dem Bestätigungsfehler auf,
20
tatsächliches Prozesse, die alle neu beobachteten Verhaltens­ nicht nur beim Kennenlernen neuer Personen.
10 Testergebnis
weisen mit unserer Erwartung abgleichen, ähn­ Eine besonders große Rolle spielt er auch bei der
0
lich wie bei einem Puzzle. Die Lösung, die am Verbreitung von Vorurteilen. Stereotype über
schlechtes­ bestes
tes Viertel Viertel Ende herauskommen soll, steht von vornherein bestimmte Personengruppen – etwa Vorstel­

32 G&G 4_2012


lungen davon, was typisch Mann oder typisch Probanden hielten das tatsächlich eingetretene Wenn wir das
Frau ist – erzeugen eine starke Erwartungshal­ Ereignis für »objektiv« viel wahrscheinlicher als
­Ergebnis von Fuß-
tung. Unbewusst ablaufende kognitive Prozesse solche, die das Ende noch nicht kannten.
sorgen dafür, dass nur dazu passende Informa­ Viele weitere Studien bestätigten seitdem,
ballspielen oder
tionen in unser Bewusstsein gelangen. Unsere dass Menschen sich im Nachhinein kaum ihrer ärztlichen Untersu-
Aufmerksamkeit gleicht dann einem Schein­ Urteilsverzerrung bewusst sind. Im Alltag ist chungen erfahren,
werfer im Dunkeln: Wir sehen nur das, was sich das häufig zu beobachten. Wenn wir etwa das ist die Erinnerung an
im Lichtkegel befindet – daher können sich Vor­ ­Ergebnis von Fußballspielen oder ärztlichen
unsere anfängliche
urteile hartnäckig halten, selbst wenn gegentei­ Untersuchungen erfahren, ist die Erinnerung
lige Informationen verfügbar sind. an unsere anfängliche Prognose bereits schön­
Prognose bereits
gefärbt – wir sind davon überzeugt, es schon schön­gefärbt – wir
Vorhersagen im Rückblick ­immer genau so vorhergesagt zu haben. sind ­davon über-
Der Bestätigungsfehler entsteht also dadurch, Diesen Effekt hat Hartmut Blank von der zeugt, es schon immer
dass sich unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit University of Portsmouth zusammen mit sei­
genau so vorherge-
unseren Erwartungen anpasst. Dieses Prinzip nen Kollegen Volkhard Fischer und Edgar Erd­
der »Erwartungskongruenz« funktioniert auch felder sowohl bei den ersten Bundestagswahlen
sagt zu haben
im Nachhinein – und führt dann zum so ge­ nach der Wiedervereinigung als auch bei den
nannten Rückschaufehler: »Ich habe es von An­ Landtagswahlen 2000 in Nordrhein-Westfalen
fang an gewusst!« Der Psychologe Baruch Fisch­ untersucht. Drei Monate im Voraus sollten die
hoff untersuchte diese Urteilsverzerrung erst­ Probanden eine Prognose abgeben, wie die ein­
mals 1975 an der Hebräischen Universität in zelnen Parteien abschneiden würden. Einen
Jerusalem. In seinen Studien lasen die Versuchs­ Monat nach der Wahl wurden sie gebeten, ihre
personen zum Beispiel einen Bericht von einem ursprüngliche Vorhersage noch einmal aufzu­
unbekannten historischen Ereignis, zu dem es schreiben. Erwartungsgemäß waren die Pro­
vier denkbare Ausgänge gab. Dann sollten sie die gnosen in der Erinnerung deutlich näher am
Wahrscheinlichkeit für jede dieser Wendungen tatsächlichen Wahlausgang. Im Schnitt er­
einschätzen. Einen Teil der Probanden infor­ laubte sich das Gedächtnis zirka zehn Prozent
mierte Fischhoff bereits am Ende der Geschich­ »Schönheitskorrektur«. Der Rückschaufehler
te über den »wahren« Ausgang. Die Folge: Diese dürfte daher wohl ebenfalls eine große Rolle da­

Der erste Eindruck: Wie wir andere einschätzen


In Kinofilmen erkennen wir die Bösen sofort, indem wir auf kantige Gesichts­
züge und finstere Blicke achten. Doch auch im Alltag fällen wir allzu oft solche
pauschalen Urteile – und zwar in Sekundenbruchteilen, wie die Psychologen
­Janine Willis und Alexander Todorov von der Princeton University 2006 zeigten.
Die Forscher präsentierten ihren Versuchspersonen etliche Fotos von Laien-
schauspielern und stellten ihnen jedes Mal eine Frage zur Persönlichkeit der ab-
gebildeten Person, etwa wie vertrauenswürdig, kompetent, liebenswert oder
aggressiv diese sei. Ein Teil der Probanden konnte sich dafür beliebig viel Zeit
lassen; andere sahen die Bilder nur für 100, 500 oder 1000 Millisekunden.
Die verblüffende Erkenntnis der Psychologen: Die Versuchspersonen kamen
immer zum nahezu gleichen Ergebnis, egal, ob sie die Porträts beliebig lange
iStockphoto / Abel Mitja Varela

­betrachten durften oder nur für 100 Millisekunden – kürzer als ein Lidschlag!
­Lediglich die Zuversicht, eine korrekte Einschätzung vorgenommen zu haben,
wurde mit zunehmender Betrachtungszeit größer. Forscher streiten noch da­
rüber, wie zuverlässig dieser erste Eindruck ist. Plausibel scheint jedoch, dass
die Urteile treffender werden, wenn wir sie nicht nur auf Grundlage etwa eines
Schnelle Begutachtung Fotos fällen, sondern den anderen auch reden hören oder etwas über seine
In einer Zehntelsekunde fällen wir ein Urteil ­persönlichen Vorlieben oder seine Vergangenheit erfahren.
darüber, wen wir sympathisch finden und wem
(Willis, J., Todorov, A.: First Impressions: Making Up Your Mind After a 100-ms Exposure
wir lieber nicht zu nahe kommen möchten. to a Face. In: Psychological Science 17, S. 592 – 598, 2006)


www.gehirn-und-geist.de 33
staunlicherweise blieben sie sogar dann bei die­
ser Deutung, wenn ­ihnen mitgeteilt wurde, dass
Der Implizite Assoziationstest (IAT): Welche dem Verfasser die politische Meinung des Auf­
Einstellungen in unserem Unbewussten schlummern satzes vorgegeben worden war.
Manche kognitiven Prozesse laufen vollkommen automatisch ab – weshalb Zahllose weitere Experimente belegen, dass
es ausgeklügelter Methoden bedarf, diese zu messen. Um beispielsweise un- wir die Umstände, die Menschen zu ihren Hand­
bewusste Einstellungen zu Personen oder Themen zu testen, erfassen Psy- lungen veranlassen, gerne ausblenden. 2010
chologen so genannte Implizite Assoziationen. Das bekannteste Verfahren versuchten die Psychologen Christopher Bau­
dazu hat Anthony Greenwald von der University of Washington in Seattle man von der University of Washington in
1998 entwickelt: den Impliziten Assoziationstest (IAT). Bei dieser Methode Seattle und Linda Skitka von der University of
vergleicht man die Reaktionszeiten auf verschiedene Wortpaare. Das erste ­Illinois in Chicago zu bestimmen, wie verbreitet
Wort stellt den zu testenden Reiz dar, zum Beispiel »Manager«. Das zweite der fundamentale Attributionsfehler in der All­
Wort bezeichnet eine Eigenschaft mit positiver (etwa »freundlich«) oder ne- gemeinbevölkerung ist. Sie gaben einer für die
gativer Bewertung (»aggressiv«). Auf einem Bildschirm erscheinen beide USA repräsentativen Stichprobe von Probanden
Elemente kurz hintereinander, die Versuchspersonen müssen jeweils nach einen Aufsatz über die Förderung von Minder­
dem zweiten Wort per Knopfdruck entscheiden, ob es auf den ersten Begriff heiten zu lesen. Zuvor erklärten sie den Ver­
zutrifft oder nicht. Reagieren die Probanden schneller auf »freundlich« als suchsteilnehmern jedoch, die Pro- oder Kontra-
auf »aggressiv«, spricht dies für eine positive unbewusste Einstellung zum Meinung sei dem Autor per Münzwurf beschie­
Zielreiz – denn Wortpaare, die man als zusammengehörig wahrnimmt, kön- den worden. Anschließend gab nur rund ein
nen schneller verarbeitet werden. Drittel der Befragten an, die wahre Position des
Autors könne man nicht feststellen, da ihm die­
se ja vorgegeben war. Rund die Hälfte identifi­
bei spielen, unsere Illusion einer hervorragen­ zierte den Schreiber mit seinem Text; ein Fünf­
den Menschenkenntnis aufrechtzuerhalten – tel glaubte, er habe privat eine dem Aufsatz ge­
charakteristisch dafür sind Aussprüche wie nau entgegengesetzte Meinung.
»Ich habe es von Anfang an gewusst!« oder Beim fundamentalen Attributionsfehler
»Dachte ich mir doch gleich, dass das so eine zeigt sich die menschliche Neigung, sich selbst
Person ist!«. vorteilhaft zu betrachten: Denn wenn es um die
Aus Erfahrung eigene Person geht, dreht sich die Richtung des
nicht schlauer Vernachlässigte Umstände Fehlers einfach um. Haben wir uns etwa sozial
Eine weitere Ursache für die eingebildete Men­ unerwünscht verhalten, neigen wir dazu, das
Neurowissenschaftler von der
schenkenntnis ist der so genannte fundamen­ auf die Umstände zu schieben – wir »konnten
University of New Mexico
tale Attributionsfehler. Er besagt, dass wir die je­ schließlich nichts dafür«. Psychologen sprechen
demonstrierten 2011, dass die
weilige Situation und die Umstände, unter de­ von einer selbstwertdienlichen Verzerrung.
Anfälligkeit für den Bestä­
nen eine Person handelt, oft ignorieren und den Im Allgemeinen fühlen sich Menschen, die
tigungsfehler – die Tendenz,
Grund für ein Verhalten stattdessen in der Per­ einen Fehler begangen haben, als Opfer der Si­
anfängliche Urteile immer
son selbst suchen. Treffen wir zum Beispiel je­ tuation und halten es für unfair, wenn andere
wieder zu bekräftigen – an-
manden, der uns unfreundlich oder aggressiv daraus auf ihre Persönlichkeit schließen. Da-
scheinend auch genetisch
behandelt, schieben wir das automatisch auf bei verdrängen sie, wie leicht sie genau diesen
verankert ist: Die Probanden
dessen Charakter. Äußere Faktoren, also bei­ Fehler selbst begehen, wenn sie über andere
sollten eine Aufgabe bearbei-
spielsweise ob diese Person gerade gestresst ist ­urteilen.
ten, bei der sie lernten, Sym-
oder soeben eine belastende Nachricht erhalten Verzerrte metakognitive Urteile, Selbstüber­
bole als richtig oder falsch
hat, kommen uns dabei nicht in den Sinn. höhung, Bestätigungs-, Rückschau- und Attribu­
einzustufen. Probanden mit
Aufgedeckt haben diese Urteilsverzerrung tionsfehler: Können wir nichts gegen diese Ver­
einer bestimmten Genvarian-
Edward Harris und Victor Jones von der ameri­ zerrungen tun? Doch! Eine große Rolle spielt
te konnten schlechter um­
kanischen Duke University. Bereits 1967 berich­ zum Beispiel, ob wir uns der Faktoren, die uns
denken, nachdem sich zuvor
teten sie von einem mittlerweile klassischen zu unserem Urteil verleitet haben, bewusst sind.
gelernte Informationen als
­Experiment, in dem die Versuchspersonen ei­ Menschen mit besseren metakognitiven Fähig­
falsch entpuppten. Das Gen
nen Aufsatz über den kubanischen Führer Fidel keiten sind hier im Vorteil. Besonders effektiv
beeinflusst Botenstoffe des
Castro lasen, der entweder positiv oder negativ ist es, die möglichen Fehlerquellen bewusst ab­
gehirneigenen Belohnungs­
ausgerichtet war. Danach mussten sie einschät­ zufragen, etwa: »Person X wirkt auf mich in­
sys­tems.
zen, wie der Verfasser des Aufsatzes persönlich kompetent. Aber könnte das daran liegen, dass
(Doll, B. et al.: Dopaminergic Genes
Predict Individual Differences in zu Castro steht. Dabei schrieben die meisten ich ihr Äußeres nicht mag und ich ihr deshalb
Susceptibility to Confirmation Bias. Probanden dem Autor die politische Meinung die Kompetenz abspreche – rein intuitiv, ohne
In: The Journal of Neuroscience 31,
S. 6188 – 6198, 2011) zu, die dem Tenor des Textes entsprach. Er­ rationale Gründe?« Durch solche Fragen gelingt

34 G&G 4_2012


eine gedankliche Korrektur von Fehlurteilen gegen Wohnungslose tatsächlich abnahmen,
leichter. wenn sich die Teilnehmer wiederholt vornah­ Quellen
Eine zweite Lösungsstrategie bezieht sich da­ men: »Wenn ich einen Obdachlosen sehe, sage Nickerson, R. S.: Confirmation
rauf, den Widerwillen gegen eine Korrektur des ich mir: ›Jetzt keine Vorurteile!‹« Bias: A Ubiquitous Phenome-
ersten Eindrucks zu bekämpfen. Menschen än­ Wer alle drei Strategien beherzigt, wird am non in Many Guises. In: Re-
dern ihre Einstellung im Unbewussten erst Ende vielleicht erkennen, dass Personen, die view of General Psychology 2,
dann, wenn sie gegenteilige Informationen ihm »komisch« vorkamen – sei es die neue Kol­ S. 175 – 220, 1998
»elaborieren«, also intensiv darüber nachden­ legin oder der Außenseiter im Sportverein –, Petty, R. E. et al.: The Role of
ken. Es reicht nicht aus, die gegenteiligen Infor­ doch nicht so seltsam sind wie zunächst ge­ Meta-Cognition in Social
mationen nur zur Kenntnis zu nehmen. Suchen dacht. Überhaupt zeigt die Forschung zu unbe­ Judgment. In: Higgins, E. T.,
Sie also bewusst nach Informationen, die Ihrer wussten kognitiven Verzerrungen: Wir sollten Kruglanski, A. (Hg.): Social Psy-
erstmaligen Einschätzung einer Person wider­ es mehr zu schätzen lernen, wenn sich Men­ chology: Handbook of ­Basic
sprechen. Dann erst können Sie wahrnehmen, schen etwas nicht zutrauen. Sei es ein Arzt, der Principles. Guilford Press, New
dass sich diese Person anders verhält, als Sie zu­ einen Patienten lieber zu einem Spezialisten York 2007, S. 254 – 284
nächst angenommen haben. Falls Sie Ihre Be­ schickt, anstatt eine Fehldiagnose zu stellen; Wyer, N. A.: You Never Get a
urteilung revidieren müssen, bedenken Sie: Ein oder ein Manager, der sich eingesteht, für ein Second Chance to Make a
Irrtum ist kein Misserfolg, sondern die Chance, Thema nicht ausreichend fachlich kompetent First (Implicit) Impression:
einen Denkfehler zu korrigieren! zu sein. Sie kennen ihre Grenzen wahrschein­ The Role of Elaboration in the
Eine dritte Methode, um Urteilsverzerrun­ lich besser als jene, die an Selbstüberschätzung Formation and Revision of
gen entgegenzutreten, ist eine entsprechende leiden. Ÿ Implicit Impressions. In: So-
innerliche Fokussierung. Dies gilt insbesondere cial Cognition 28, S. 1 – 19, 2010
beim Erreichen von schwierigen Zielen. Der Mo­ Chaehan So hat an der Humboldt-Universität
tivationsforscher Peter Gollwitzer von der New zu Berlin in Organisations- und Sozialpsy­chologie Weitere Quellen im Internet:
York University hat dafür den Begriff »Imple­ promoviert und ist Dozent für allgemeine www.gehirn-und-geist.de/
mentierungsintentionen« geprägt. Er konnte Psycho­logie. Daneben arbeitet er als Management-/  artikel/1141642
bei­spielsweise demonstrieren, dass Vorurteile IT-Berater und Coach für Führungskräfte.

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35
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Stephanie Heyl ist Diplombiologin


und freie Wissenschaftsjournalistin in
Freiburg.

Im Fadenkreuz
Symbole beeinflussen auf subtile Weise unsere Entscheidungen.
Daher sollten wir sie stets umsichtig verwenden!

D ie Erfindung des Symbols hat den Menschen zum Kulturwe-


sen gemacht. Dabei vermitteln solche Bedeutungsträger oft
auch eine emotionale Note und wirken – ohne dass wir es mer-
ken – an unserer Meinungsbildung mit. Das machen sich auch
viele Institutionen zu Nutze.
Was sich in der Religion Missionierung und in der Wirtschaft
Werbung nennt, wird in der Politik als Propaganda bezeichnet: der
systematische Versuch, Sichtweisen zu formen und Verhalten in
Richtung einer erwünschten Reaktion zu steuern. In der Psycholo-
gie spricht man bei einem ganz ähnlichen Vorgang von »Priming«
(zu Deutsch: Bahnung). Hier wecken offenbar auch symbolhafte
Reize unbewusst bestimmte Assoziationen und rufen damit auto-
matische Handlungstendenzen hervor.
Muss man also mit potenziell bedenklichen Emblemen vor-
sichtig sein? Diese Frage wurde Anfang 2011 in den USA hitzig
­diskutiert, nachdem die demokratische Abgeordnete Gabrielle
Giffords in Tucson (Arizona) durch ein Attentat schwer verletzt
worden war. Insbesondere Sarah Palin, die Tea-Party-Politikerin,
geriet heftig in die Kritik, weil sie zuvor auf Facebook eine US-Kar-
te veröffentlicht hatte, auf der mit Fadenkreuzen Wahlbezirke
markiert waren, welche die Republikaner von den Demokraten zu-
rückerobern wollten. Einer der Bezirke war der von Giffords.
Der Psychologe Claus-Christian Carbon von der Universität
Bamberg wollte daraufhin herausfinden, ob solche Symbole tat-
Picture Alliance / Landov / Gary C. Caskey

sächlich die Gewaltbereitschaft steigern. Zusammen mit seinen


Kollegen Jan Schoormans und Valentin Gattol von der Universität
Delft (Niederlande) befragte Carbon 170 zufällig ausgewählte Pro-
banden zu einem fiktiven Szenario. Angeblich streunten zu viele
Füchse in der Nähe von Utrecht umher. Die Tiere ernährten sich
vom Wohlstandsmüll und seien für die Bevölkerung zur Plage ge-
Opfer der Gewalt worden. Die Wissenschaftler zeigten der Hälfte der Teilnehmer
Die US-Kongressabgeordnete Gabrielle Giffords wurde 2011 durch ein eine Karte, auf der die betroffenen Orte mit fadenkreuzähnlichen
Attentat in Tucson schwer verletzt. Viele Bürger bekundeten vor Emblemen markiert waren (siehe Karten rechts oben). Die Kon-
dem Büro der Politikerin mit Blumen und Kerzen ihre Anteilnahme. trollgruppe sah an denselben Stellen lediglich leere Kreise. An-

36 G&G 4_2012


Weesp (NH) Weesp (NH)

Soest Soest
Gehirn&Geist / Buske-Grafik, nach: Schoormans, Carbon und Gattol

Maarssen Maarssen

Amersfoort Amersfoort
Bilthoven Bilthoven

Woerden Utrecht Woerden Utrecht


Zeist Zeist

Driebergen Driebergen
Nieuwegein Doorn Nieuwegein Doorn
Veenendaal Veenendaal
Usselstein Culemborg (GD) Usselstein Culemborg (GD)

Töten oder Leben lassen?


Sollte eine Fuchsplage lieber von Jägern oder von Tierfängern eingedämmt werden? Probanden wählen eher
die tödliche Variante, wenn Fadenkreuze die betroffenen Gebiete auf einer Karte kennzeichnen (links).

schließend sollten sich die Probanden entscheiden, ob man die deckt man ein solches Symbol, und jedem Kind ist klar, dass es hier
Füchse erschießen oder lieber einfangen, sterilisieren und wieder um Gewalt geht.
frei lassen sollte. Die Folgerung aus Carbons Experiment ist damit offensicht-
Tatsächlich entschieden sich vor allem diejenigen für eine ge- lich: nie Sinnbilder der Gewalt mit Menschen verbinden! Denn
waltsame Lösung, die zuvor durch Fadenkreuze auf die Problem- derartige Anspielungen können schlimme Konsequenzen haben.
zonen hingewiesen worden waren. Wer dagegen nur Kreise gese- Selbst bei friedfertigen Menschen weckt der Anblick solcher Zei-
hen hatte, sprach sich deutlich häufiger für die tierfreundliche chen unter Umständen Aggressionen. Wir können uns der Macht
Variante aus. Fazit der Autoren: Durch subtile Symbole lässt sich der Symbole nicht entziehen. Gehen wir also verantwortungs­
Gewaltbereitschaft provozieren – unabhängig von Alter und Ge- bewusst und behutsam mit ihnen um!
schlecht der Teilnehmer.
Dass es sich bei den Emblemen um »bloße Markierungen«
handelt, wie Sarah Palin entschuldigend meinte, ist ein fataler Irr- Quelle
tum. Fadenkreuze sind eindeutig mit dem Akt des Schießens asso- Schoormans, J. P. L. et al.: »It’s Time to Take a Stand«: Depicting Cross-
ziiert und werden in der Öffentlichkeit aus gutem Grund kaum hairs Can Indeed Promote Violence. In: Perception 40, S. 371 – 372, 2011
verwendet. Allein am Sonntagabend im »Tatort«-Vorspann ent-

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titelthema ı hirnforschung

Die größten
Neuromythen
»Hirnjogging macht schlauer«, »Psychopathen lassen sich am Gehirn
Mehr zum titelthema
erkennen«, »Forscher können Gedanken lesen« – diese und weitere
> »Manche leiden am Gehirn-
Legenden entlarvt der Psychologe und Philosoph Stephan Schleim von Übertreibungssyndrom«
der Universität Groningen. Interview mit dem britischen
Neurokritiker Nikolas Rose
(S. 44)
Von Stephan Schleim

S pinat enthält viel Eisen, lesen bei schlechtem Licht schadet


den Augen, und einen Kaugummi verschlucken ist schlecht
für den Magen. Das Gemeinsame dieser drei Aussagen? Genau –
In der realen Forschung dagegen kommt das Hirnjogging
deutlich schlechter weg. Nach einer groß angelegten Online­
untersuchung, an der über 11 000 Versuchspersonen sechs Wo-
es handelt sich um Mythen. Wissenschaftlich lässt sich keine der chen teilnahmen, stellten Adrian Owen von der Cambridge Uni-
Behauptungen stützen. Auch um unser Denkorgan ranken sich versity und seine Kollegen die Behauptungen auf den Prüfstand.
Legenden, die trotz zweifelhafter Grundlage in der Öffentlich- Zu Beginn ermittelten sie die Denkfähigkeiten jedes Teilnehmers
keit kursieren. Die Komplexität des Gehirns, der Boom neuro- mit verschiedenen neuropsychologischen Tests. Danach teilten
wissenschaftlicher Forschung und das große Interesse der Be- sie die Versuchspersonen zufällig einer von drei Gruppen zu: Die
völkerung bieten einen idealen Nährboden für die Verbreitung erste erhielt Trainingsaufgaben zum Schlussfolgern, Planen und
von Halbwahrheiten. Und manch hartnäckigem Mythos sind Problemlösen; die zweite eine an Gehirnjoggingprogramme an-
nicht nur Laien, sondern auch Wissenschaftler – ich eingeschlos- gelehnte Auswahl an Aufgaben für Gedächtnis, Aufmerksam-
sen – schon auf den Leim gegangen. Höchste Zeit für eine Klar- keit, räumliche Wahrnehmung und mathematisches Verständ-
stellung. nis; die dritte musste nur belanglose Fragen beantworten.
Die Auswertung der Ergebnisse förderte ein ernüchterndes
1. Hirnjogging macht schlau Ergebnis zu Tage – zwar verbesserten sich die ersten beiden
Gruppen im Gegensatz zur dritten in jenen Tests, die sie geübt
Wer regelmäßig joggt, steigert damit seine Laufleistung, gleich- hatten. Dies übertrug sich jedoch nicht auf die generelle geistige
zeitig verbessert er sich aber auch in anderen Sportarten wie Leis­tungsfähigkeit.
dem Radfahren. Doch wie sieht es mit dem viel beschworenen Die Studie zeigt damit zwar nicht, dass Gehirnjogging prin­
Jogging für das Oberstübchen aus? Aktuelle Befunde belegen: zipiell unmöglich ist. Man sollte sich aber keine allzu großen
Langjährige Taxifahrer oder Berufsmusiker zeigen tatsächlich Hoffnungen machen, durch Verwendung der verfügbaren Pro-
eine veränderte Hirnstruktur – ihr permanentes Training schlägt gramme seine allgemeine Intelligenz zu steigern. Forscher ver-
sich also nicht nur in ihren Fähigkeiten, sondern auch auf neuro- muten, dass ein individuell abgestimmtes Training zu vor­teil­
naler Ebene nieder. haf­teren Ergebnissen führen kann.
Der millionenschweren Industrie des Gehirnjoggings geht es
jedoch nicht nur darum, ob ihre Denkaufgaben unser Können in
bestimmten Gebieten verbessern. Sie preist ihre Programme
2. Psychopathen lassen sich am
Gehirn erkennen
vielmehr mit dem Versprechen an, die Nutzer würden dadurch
allgemein intelligenter. Die so geweckten Hoffnungen werden Psychopathen gelten als Inbegriff des ruchlosen, unsozialen und
von Werbespots genährt, die eine vermeintliche wissenschaft- hinterlistigen Verbrechers, der fern jeglicher sozialer Konventi-
liche Fundierung suggerieren. Häufig treten in derartigen Rekla- on agiert. Sie scheinen sich so stark von der Normalbevölkerung
men etwa Personen mit Professor- oder Doktortitel auf. zu unterscheiden, dass die Vermutung naheliegt, sie hätten auch

38 G&G 4_2012


Lampe: fotolia / Orlando Florin Rosu;  Gehirn: fotolia / Vasiliy Yakobchuk; Composing: Gehirn&Geist

WUNSCH STATT WIRKLICHKEIT


Manche »Fakten« über das
Gehirn entpuppen sich
bei genauerem Hinsehen
als haltlos.


www.gehirn-und-geist.de 39
außergewöhnliche Gehirne. Dieser Gedanke hat sich sogar in der ren demnach nicht automatisch zu gefühlskalten Psychopathen.
Forschung hartnäckig am Leben gehalten, vor allem dank seiner Oft haben die Betroffenen Schwierigkeiten im Umgang mit ih-
besonderen historischen Wurzeln. ren Mitmenschen. Doch ob und wie sich ihre Persönlichkeit ver-
Fast jeder Neurointeressierte ist mit dem Schicksal des US- ändert, dürfte auch wesentlich davon abhängen, wie ihr Umfeld
Amerikaners Phineas Gage vertraut. Der Bahnarbeiter verlor auf die Erkrankung reagiert.
1848 bei einer missglückten Sprengung einen Teil seines Frontal- Dank moderner bildgebender Verfahren lässt sich das Phäno-
hirns. Ärzte hielten ein Überleben für unmöglich. Noch während men nun zudem in umgekehrter Richtung untersuchen: Haben
Gage in seinem Hotelzimmer gepflegt wurde, stellte man vor alle Psychopathen ein auffälliges Gehirn? Diese Frage ver-
der Tür den Sarg auf. Doch Gage überlebte das Unglück – und gilt suchten Sabrina Weber und ihre Kollegen von der Rheinisch-
heute als einer der berühmtesten neurologischen Patienten der Westfälischen Technischen Hochschule in Aachen 2008 zu be-
Geschichte. antworten. Nach einer Sichtung des Forschungsstands kamen
Sein Fall wurde immer wieder dazu herangezogen, eine be- sie zu dem Schluss, dass Psychopathen im Frontalhirn, wo Gages
stimmte Sichtweise auf das Gehirn zu belegen. Die Verletzung Verletzung lag, weniger Neurone besitzen. Auch in Teilen des
habe aus dem tadellosen Bahnarbeiter einen unausstehlichen, Temporallappens, des limbischen Systems und des Balkens fan-
unzuverlässigen, enthemmten und alkoholabhängigen Psycho- den sich weniger graue Zellen. Die Befunde galten jedoch jeweils
pathen gemacht, so eine auch in Wissenschaftskreisen verbrei­ nur für den Durchschnitt der Probanden. Anhand der Bilder
tete Meinung. eines einzelnen Gehirns kann man nach wie vor nicht die geis­
Es ist der akribischen Arbeit des Wissenschaftshistorikers tige Gesundheit beurteilen.
Malcolm Macmillan zu verdanken, dass sich langsam eine ande-
re Sichtweise durchsetzt. Macmillan hat sämtliche verfügbaren
Details zum Fall Gage und seiner Rezeption zusammengetragen.
3. Das Gehirn besteht im
Wesentlichen aus Nervenzellen
So waren etwa die ursprünglichen medizinischen Berichte in
Fachzeitschriften nur schwer zugänglich – sie sind nur noch in Bei diesem Mythos dürften die Meinungen weit auseinanderge-
wenigen Bibliotheken erhalten. Die Dokumente lassen den Ein- hen. Laien würden das Gehirn wohl hauptsächlich als Ansamm-
fluss des Unfalls in einem anderen Licht erscheinen: So traten lung von Nervenzellen bezeichnen. Lehrbücher verbreiten dage-
den Originaldarstellungen zufolge erst Wochen später, nachdem gen eine ganz andere Wahrheit: Nicht die Neurone selbst, son-
Gage schwerste Entzündungen und Fieberdelirien überstanden dern Zellen, die sie stützen und in Stand halten, überwögen im
hatte, psychische Auffälligkeiten auf. Gehirn – so genannte Gliazellen. Laut Standardwerken wie den
Der ehemalige Vorarbeiter konnte zum Beispiel nicht mehr »Principles of Neural Science« von Eric Kandel und Kollegen
richtig mit Geld umgehen und widersetzte sich ärztlichen Aufla- gebe es rund 100 Milliarden Nervenzellen, aber zehnmal mehr
gen. Dass er nach vielen Wochen im Bett wieder draußen spazie- Gliazellen im Gehirn.
ren oder zu seiner Familie wollte, kann man ihm kaum verübeln. Der Anatomin Suzana Herculano-Houzel von der Universität
Spätere Berichte seines Arztes deuten eher auf einen reizbaren in Rio de Janeiro fiel jedoch auf, dass die Neurolehrbücher keine
und cholerischen Menschen als auf einen Psychopathen hin. Quellen für die Herkunft dieser Zahlen angeben. Ihr Eindruck
Gages liebevoller Umgang mit Verwandten und Tieren ging in bestätigte sich auch, als sie zahlreiche Kollegen dazu befragte:
der Wissenschaft ebenso unter wie die Tatsache, dass er seiner Niemand wusste, woher die Zahlen eigentlich stammen.
späteren Arbeit als Kutscher in Chile zuverlässig nachkam. Gage Also machte sie sich mit ihrer Arbeitsgruppe selbst ans Zäh-
und Menschen mit ähnlichen Schäden des Frontalhirns mutie- len. Das Ergebnis dieser neueren Untersuchung aus dem Jahr
2009: Ein menschliches Gehirn besitzt bei etwa 1,5 Kilogramm
BERÜHMTER FALL um die 86 Milliarden Neurone. Daneben gibt es mit 85 Milliar-
In dieser historischen Auf- den etwa genauso viele andere Zellen – unter ihnen die Gliazel-
nahme posiert der ehemalige len. Über die Hälfte aller Nervenzellen befindet sich im Klein-
Bahn­arbeiter Phineas Gage hirn, wo es umgekehrt besonders wenig Gliazellen gibt. Insge-
mit der Eisenstange, die ihm samt verteilen sich die Neurone im Gehirn so, wie es
1848 bei einer missglückten stammesgeschichtlich zu erwarten war (siehe Kasten rechts).
Sprengung durch den Kopf Jedoch erscheint nicht nur die Zahl der Neurone und Gliazel-
schoss. Gage verlor bei len, sondern auch die klassische Idee der Arbeitsteilung im Ge-
dem Unfall große Teile des hirn neuerdings fragwürdig. Bislang ging man davon aus, dass
linken Frontalhirns sowie Neurone Informationen verarbeiten, während Gliazellen nur für
sein linkes Auge. Reparatur- und Stützarbeiten zuständig sind. Diese Ansicht
brachten James Schummers und seine Kollegen vom Massachu-
setts Institute for Technology 2008 ins Wanken. Sie unter-
suchten den visuellen Kortex von Frettchen, während sie diesen
public domain

visuelle Reize darboten. Es zeigte sich, dass Astrozyten, die am


häufigsten vorkommende Art von Gliazellen, auf eingehende Si-

40 G&G 4_2012


Vorläufer unseres Gehirns

Viele Forscher betonen die Einzigartig-


Kurz- Ostamerika-
keit des menschlichen Denkorgans. Rotzahn- Ratte nischer
schwanz- Hamster Sternmull Maulwurf
Ein für unsere Körpergröße überdimen­- spitzmaus spitzmaus Maus
sioniertes Gehirn sei ein klares Anzei-
chen für einen qualitativen Unter- 0,176 0,347 0,416 1,020 0,802 1,802 0,999
36 52 71 90 131 200 204
schied zu sämtlichen Tieren.
Der Neurowissenschaftlerin Suzana
Herculano-Houzel von der Universität Hausmeer-
in Rio de Janeiro erscheint dieser Zu- schweinchen Aguti Buschbaby Nachtaffe
sammenhang fragwürdig: Denn was
hat die Körpergröße mit der geistigen
3,759
Leis­tungsfähigkeit zu tun? Die For- 240 10,15
18,365 15,73
scherin bestimmte 2009 die Anzahl 857 936
1468
Herculano-Houzel, S.: The human brain in numbers – a linearly scaled-up primate brain. In: Frontiers in human Neuroscience 3, S. 1–11, 2009, fig. 3

von Neuronen in den Gehirnen ver-


schiedener Säugetiere und setzte sie in
Wasserschwein Totenkopfaffe
Beziehung zum jeweiligen Gewicht Kapuzineraffe
des Denkorgans. Vergleiche zeigten,
dass es in Primatenhirnen wesentlich
mehr Nervenzellen im Verhältnis zur
30,22
Hirnmasse gibt als in denen von 3246
76,036
niederen Säugern – der Autorin zufol- 1600 53,21
3690
ge ein qualitativer Sprung.
Die Zahl der Neurone im menschli- Mensch
chen Gehirn entspricht dagegen etwa
jener, die ein Primatenhirn dieser Makake
Größe haben müsste. Herculano-
Houzels Fazit: Von weniger entwi-
ckelten Säugetieren unterscheiden wir
uns durch eine andere Art der Hirnor-
ganisation, von Primaten dagegen nur
auf Grund eines Plus an Hirnschmalz. 87,35
6376
(Herculano-Houzel, S.: 1 cm
The Human Brain in Numbers: A Linearly 1508
Scaled-up Primate Brain. In: Frontiers in Gewicht des Gehirns in Gramm 86 000
Human Neuroscience 3, S. 1 – 11, 2009) Anzahl der Neurone in Millionen

gnale mit Änderungen ihres chemischen Potenzials reagierten. verlässige physiologische Merkmale von bestimmten Gedanken
Teilweise waren die Antworten der Astrozyten sogar feiner auf oder »Bewusstseinsinhalten« aufgespürt, kann man im Um-
den Stimulus abgestimmt als die der nahe gelegenen Neurone. kehrschluss von ihnen auf psychisches Geschehen schließen.
Dass dies tatsächlich funktioniert, konnten einige Wissen-
4. Forscher können Gedanken lesen schaftler bereits nachweisen. Forscher um Jack Gallant an der
University of California in Berkeley zeigten ihren Probanden
Gedankenlesen – diesen Begriff verwenden in letzter Zeit immer 2011 kurze Filmsequenzen und zeichneten dabei deren Hirnsi-
mehr Neurowissenschaftler. Sie meinen damit den direkten gnale mittels funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT)
Blick ins Innerste des Menschen mittels moderner bildgebender auf. Die aus der Hirnaktivität des visuellen Kortex berechneten
Verfahren. Die raschen Fortschritte bei der Messung und Aus- Videos ähnelten dem, was die Probanden zuvor gesehen hatten.
wertung von Hirnscans ließen deren Bedeutung stetig wachsen. Enthusiasten, die auf Grund solcher Befunde unsere Gedan-
Doch können Forscher an der neuronalen Aktivität wirklich ein- ken bereits entschlüsselt sehen, vergessen allerdings zwei ent-
zelne Gedanken erkennen? Dieses Unterfangen scheint auf den scheidende Tatsachen: Zum einen kann in solchen Experimen­
ersten Blick gar nicht so schwierig zu sein: Hat man einmal zu- ten bislang nur eine kleine Anzahl psychischer Inhalte bestimmt

www.gehirn-und-geist.de 41
werden. Andererseits ist die Versuchsperson selbst die größte
Stütze beim Gedankenlesen: Die Untersuchungen funktionie-
ren nur, wenn die Probanden kooperieren.
Eine Gruppe um Giorgio Ganis von der Harvard University
machte 2010 die Probe aufs Exempel. In der Standardbedingung
ihres Experiments konnten sie zuverlässig aus der Hirnaktivität
der Probanden darauf schließen, ob diese die Wahrheit sagten
oder logen. Dann baten sie ihre Versuchspersonen, ihr Wissen
durch ein mentales Ablenkungsmanöver zu verbergen. Dadurch
brach die Erkennungsrate dramatisch ein – auf nur ein Drittel.

dreamstime / Abidal, Issam Khriji


Wie hatten die Probanden die Maschine überlistet? Sie hatten le-
diglich minimal mit ihren Fingern gewackelt.
Neben derlei praktischen Schwierigkeiten krankt die Idee des
neurowissenschaftlichen Gedankenlesens aber auch an dem al-
ten Problem, jedem psychischen Prozess ein eindeutiges physio-
logisches Muster zuschreiben zu wollen. Diesbezüglich hat Rus- RECHENMASCHINE GEHIRN?
sell Poldrack, inzwischen an der University of Texas in Austin, Die neuronale Architektur folgt anderen Prinzipien als die Hardware
schon 2006 auf ein unter Forschern verbreitetes Missverständnis eines Computers.
hingewiesen: Wenn im Experiment einem mentalen Phänomen
ein Hirnprozess zugeordnet wird, muss dieser noch lange nicht
für den psychischen Vorgang spezifisch sein. Wie genau neuro- zur Simulation eines gesamten Gehirns geprahlt. Begriffe wie
nale Aktivität mit einzelnen Gedanken zusammenhängt, weiß »Cognitive Computing« oder die Behauptung, man habe ein Pa-
heute noch niemand. Daher ist auch das viel zitierte Neurogedan- tent auf die Funktionsweise des Gehirns erhalten, schafften es
kenlesen ein Mythos. immer wieder in die Schlagzeilen. Experten im Bereich der
künstlichen Intelligenz wie Raúl Rojas von der Freien Universität
5. Das Gehirn ist eine Art Computer Berlin nehmen diese Berichte kaum ernst. Trotz mancher Paral-
lele, die sich zwischen Hirn und Rechner erkennen lässt, handelt
Dass das Gehirn eine Art Computer sei, ist ein immer wieder ver- es sich doch um grundverschiedene Dinge.
breiteter Irrtum. Er besagt im Kern, dass das Gehirn eine Rechen-
und Steuereinheit besitzt und mit Hilfe eines Speichers Einga-
ben zu Ausgaben verarbeitet, wie der heimische PC. So ist die in
6. Neuroforscher haben bewiesen,
dass der freie Wille eine Illusion ist
der Gedächtnispsychologie gängige Unterscheidung zwischen
Langzeit- und Arbeitsgedächtnis eigentlich dem Computerreich Wenige Ideen aus der Hirnforschung haben so viel öffentliche
entliehen: Sie ähnelt den verschiedenen Funktionen von Fest- Aufmerksamkeit erfahren wie die Behauptung, es gebe keinen
platte und Arbeitsspeicher. freien Willen. Für viele entscheidet sich dieses Problem am De-
Mittlerweile weiß man, dass unser Hirn deutlich kompli- terminismus, also der Vorstellung, dass zukünftige Ereignis­se
zierter ist als in derartigen Modellen angenommen. Während die durch aktuell herrschende Bedingungen bereits vorherbestimmt
Arbeitsweise eines Computers – da von Menschenhand entwor- sind. Schon lange streiten sich Philosophen darüber, ob der
fen – grundsätzlich erfassbar ist, hat die Forschung das Gehirn menschliche Geist durch natürliche oder göttliche Gesetze de-
noch längst nicht entschlüsselt. So kommt es, dass Computer- terminiert ist. Immanuel Kant etwa schlug im 18. Jahrhundert
wissenschaftler sich umgekehrt das Gehirn zum Vorbild neh- eine Lösung vor, die den Menschen als Natur- und als Vernunft-
men. Sie entwickeln Architekturen und Algorithmen, die die wesen begreift.
neuronale Informationsverarbeitung imitieren. Gemäß neuerer philosophischer Entwicklungen im 20. Jahr-
Ein Beispiel dafür ist die Modellierung so genannter künst- hundert folgen wieder mehr Fachleute einer so genannten kom-
licher neuronaler Netze. Die Knotenpunkte dieser Netze verfü- patibilistischen Sicht: Nicht ob wir determiniert sind oder nicht,
gen wie Nervenzellen über einen oder mehrere Eingänge, durch sondern was uns determiniert, ist essenziell. Demnach sind die-
die sie aktiviert oder gehemmt werden. Überschreitet die Akti- jenigen Entscheidungen frei, die wir selbst im Einklang mit un-
vierung einen kritischen Schwellenwert, gibt der Knoten selbst seren Wünschen und Überzeugungen treffen und nicht etwa
ein Signal durch seinen Ausgang ab. Durch Gewichtung von durch Zwang. Die unlösbare Frage, ob jeder Zustand des Univer-
Knotenverbindungen lassen sich Lernvorgänge abbilden, die sums eindeutig durch den vorherigen Zustand und die Natur­
den künstlichen Netzen beachtliche Fähigkeiten beispielsweise gesetze festgelegt ist, verliert dann an Bedeutung.
zur Mustererkennung verleihen. Eine andere Frage ist, inwieweit uns das Unterbewusstsein
Auf Grund solcher Erfolge schießt der ein oder andere Com- unsere Entscheidungen diktiert. Insbesondere eine Serie von Ex-
puterhersteller in seinem Marketing schon mal übers Ziel hinaus. perimenten des Neurowissenschaftlers Benjamin Libet interpre-
Insbesondere der IT-Konzern IBM hat in jüngster Zeit mit Plänen tieren manche Hirnforscher und Philosophen in diesem Sinn als

42 G&G 4_2012


Widerlegung der Willensfreiheit: Wir dächten zwar, wir hätten Fron­talhirn, der zinguläre Gyrus und der mediale Parietalkortex
bewusste Kontrolle über uns selbst – in Wirklichkeit bestimmten spielen demnach beim Icherleben eine wichtige Rolle. Wenn ihre
aber unbewusste Gehirnprozesse unser Handeln. Probanden über sich selbst nachdachten oder ihre Persönlich-
In seinem bekanntesten Experiment maß der Wissenschaftler keit bewerten sollten, fanden die beiden Forscher in diesen Regi-
von der University of California in San Francisco 1983 mittels onen eine verstärkte neuronale Aktivität.
Elektroenzephalografie (EEG) die Hirnströme seiner Probanden. Der Grundgedanke der Ichverleugner scheint zu sein, dass es
Schon bevor sie nach eigenen Angaben einen bewussten Drang keine zentrale Gehirnregion gibt, zu der alle anderen hinführen.
verspürten, ihren Finger zu bewegen, trat ein elektrisches Signal Dem Einheitsgefühl des Ichs entspräche keine Einheitsregion
auf, das die Bewegung vorhersagen konnte – ein so ge­nanntes Be- des Gehirns. Diese Sichtweise hängt jedoch immer noch der
reitschaftspotenzial. Liest man Libets Original­arbei­ten, dann jahrhundertealten Idee an, im Gehirn gäbe es einen Homunku-
stolpert man jedoch über das Vorhandensein dieses Sig­nals auch lus – ein kleines Männchen, das für uns wahrnimmt, denkt und
dann, wenn die Versuchspersonen den Finger nicht bewegten. Es das Verhalten steuert. Schon längst glauben Forscher jedoch,
kann daher nicht eins zu eins das Verhalten vorher­sagen. dass das Ichgefühl auch ohne eine zentrale physiologische Steu-
Eine Gruppe um den Berliner Neurowissenschaftler John-­ erung entstehen kann.
Dylan Haynes wiederholte das Experiment 2008 im Magnet­ Ähnliche Überlegungen gab es schon zum so genannten Bin-
resonanztomografen und kam zu einem noch frappierenderen dungsproblem. Hierbei geht es um die Frage, wie das Gehirn
Fazit. Die Entscheidung stehe im Gehirn nicht Zehntelsekunden, eine Vielzahl von Sinneseindrücken, beispielsweise eines roten,
sondern häufig bereits geschlagene zehn Sekunden fest, bevor schnell fahrenden und hupenden Autos, zu der einheitlichen
sie ins Bewusstsein dringt. Wahrnehmung eines Objekts verbindet. Ein Lösungsvorschlag
Davon abgesehen, dass der gemessene spontane Drang, ei- weist nicht auf räumliche, sondern auf zeitliche Eigenschaften
nen Knopf zu drücken, für den Alltag ziemlich irrelevant ist, blei- der Verarbeitung hin: Nicht weil alle Informationen zu einem
ben wichtige Kennzeichen freier Willensbeschlüsse bei diesen bestimmten Ort fließen, werden die Eindrücke demnach zu ei-
Untersuchungen außen vor: Menschen planen ihre Handlungen ner Wahrnehmung integriert – sondern weil verschiedene Neu-
oft lange im Voraus, manchmal brechen sie diese auch mitten- ronenverbände im Gleichtakt feuern. Ob man ein Ich im Gehirn
drin ab. Beides war in den Experimenten verboten. Gerade das findet oder nicht, hängt demnach davon ab, nach was für einem
langfristige Planen von Handlungen hat sich in vielen psycholo- Ich man überhaupt sucht.
gischen Studien als sehr wichtig herausgestellt, um Verhalten zu
beeinflussen. Wer sich Situationen erst vor dem inneren Auge Was lernen wir das daraus?
vorstellt oder bestimmte Verhaltensregeln formuliert, führt Die hier vorgestellten Mythen haben verschiedene Ursachen –
eine intendierte Handlung mit größerer Wahrscheinlichkeit er- vom Vermarktungsdrang der Hirnjoggingindustrie bis hin zu
folgreich aus. überkommenen Ansichten über das Gehirn, etwa bei der Suche
Das Libet-Experiment und seine Nachfolger ignorieren den nach dem Sitz des Ichs. Generell gilt: Wissenschaftler wie Laien
Zeithorizont menschlicher Entscheidungen. Sie haben der De- sollten das, was sie als gegeben ansehen, ruhig öfter hinter­
batte um die Willensfreiheit noch kein Ende bereitet, auch wenn fragen. Manch ein ad acta gelegter Forschungsgegenstand wür-
manche Wissenschaftler etwas anderes behaupten. de dann wieder interessant! Das Aufdecken von Neuro­mythen
kann also neue Untersuchungen inspirieren. Ÿ
7. Das Ich ist nicht im Gehirn zu Stephan Schleim ist promovierter Kognitionswissenschaftler und Assis­-
finden, also existiert es nicht
tant Professor für Theorie und Geschichte der Psychologie an der Uni­-
Wissenschaftssoziologen von der McGill University in Montreal versität Groningen (Niederlande). Seine Forschungsschwerpunkte sind
haben mehrere Jahre damit zugebracht, Medienberichte über Theorie sowie öffentliche Debatte der kognitiven Neurowissenschaft.
Hirnforschung auszuwerten. Einen der Trends, den die Forscher
um Eric Racine dabei entdeckten, nennen sie »Neuro-Realis-
mus«. Diese Sichtweise sieht psychische Phänomene nur dann
als real an, wenn sie mit einem neurowissenschaftlichen Verfah- quellen
ren belegt werden können. Nishimoto, S. et al.: Reconstructing Visual Experiences from Brain
Neurowissenschaftler haben verschiedene Regionen des Ge- Activity Evoked by Natural Movies. In: Current Biology 21, S. 1 – 6, 2011
hirns als Sitz des Ichs vorgeschlagen. So ist der Präfrontalkortex Racine, E. et al.: Contemporary Neuroscience in the Media. In: Social
ein Kandidat, der in diesem Zusammenhang häufig Erwähnung Science & Medicine, S. 725 – 733, 2010
findet. Georg Northoff von der University of Ottawa und Jaak Soon, C. S. et al.: Unconscious Determinants of Free Decisions in the
Panksepp von der Washington State University haben ein an- Human Brain. In: Nature Neuroscience 11, S. 543 – 545, 2018
deres Modell entwickelt. Ihnen zufolge sind kortikale und sub-
kortikale Strukturen entlang der Fissura longitudinalis – der Weitere Quellen im Internet:
Furche zwischen den Hirnhälften – für mehrere auf das Selbst www.gehirn-und-geist.de/artikel/ 1142313
be­zogene Verarbeitungsprozesse entscheidend. Das mediale


www.gehirn-und-geist.de 43
titelthema ı interview

»Mancher leidet am
Gehirn-Übertreibungssyndrom«
Neuro boomt – und das hat Folgen: Der Londoner Wissenschaftssoziologe
Nikolas Rose erklärt, wie die ungebrochene Beliebtheit der Hirnforschung
zu so mancher Legendenbildung beiträgt.

Mehr zum titelthema


> Die 7 größten Mythen über
V iel war in den letzten Jahren die Rede von
der Deutungshoheit der Neurowissen­
schaften. Experimente von Hirnforschern wer­
Welche Erwartungen meinen Sie damit bei-
spielsweise?
Der populäre Glaube an die neuronale Plastizi­
das Gehirn den gern als schlagende Belege dafür ange­ tät besagt etwa, dass wir unsere Gehirne auf
Hirnjogging, Gedanken­- führt, dass geistige Phänomene wie Gefühle sehr grundlegende Weise selbst formen könn­
lesen, Willensfreiheit … Was oder Wünsche bloße Produkte neuronaler Akti­ ten. Natürlich entwickeln sich neuronale Ver­
ist dran? (S. 38) vität seien. Die Entdeckung damit verknüpfter knüpfugen laufend weiter und verändern sich
biochemischer Mechanismen sowie die faszi­ etwa durch Sinnesreize, Bewegung, Ernährungs­
nierenden Aufnahmen aus dem Hirnscanner gewohnheiten, aber auch durch geistige Aktivi­
gaben dazu Anlass. Doch eine wachsende Zahl täten. Doch die Vorstellung, man könne per
von Neuroskeptikern wendet sich gegen diese Hirnjogging – also etwa mittels Sudokus und
reduktionistische Sichtweise. Der Brite Nikolas Kreuzworträtseln – das Risiko einer Demenz­
Rose vom Londoner King’s College ist einer der erkrankung minimieren, ist unrealistisch.
profiliertesten unter ihnen. Wie kommt es zu solchen verbreiteten Miss-
verständnissen?
Herr Professor Rose, seit Jahren machen in Zweifellos haben Forscher beeindruckende
der Öffentlichkeit Schlagwörter wie Neuroöko- neue Einsichten darin gewonnen, wie das Ge­
nomie, Neurodidaktik oder Neuroethik die hirn funktioniert. Doch manche Wissenschaft­
Runde. Warum ist alles, was mit »neuro« zu tun ler haben die gesellschaftliche Bedeutung die­
hat, offenbar so interessant für die Menschen? ses Wissens deutlich übertrieben. Das Gehirn
Das Gehirn nahm schon immer einen besonde­ soll alles Mögliche erklären – vom freien Willen,
ren Platz im Selbstverständnis des Menschen den es vermeintlich nicht gibt, bis zur richtigen
ein. Die funktionelle Bildgebung und andere Kindererziehung. Dass neurowissenschaftliche
Methoden zur Erforschung des tätigen Gehirns Ergebnisse derartig überstrapaziert werden, ist
erlauben es heute, neuronale Vorgänge zu ein Problem.
einem gewissen Grad sichtbar zu machen. Die­ Sind also die Forscher selbst verantwortlich
se Neurotechnologien haben uns neue Wege für so manchen populären Irrglauben?
zum Verständnis des Gehirns eröffnet. Sie näh­ Dahinter stecken oft einfach die PR-Abteilun­
ren aber teilweise auch sehr optimistische gen von Universitäten und Forschungseinrich­
Hoffnungen – etwa hinsichtlich der Frage, wie tungen. Viele Pressemitteilungen haben allein
sich geistige Leistungen verbessern oder psy­ das Ziel, eine griffige Headline in der Zeitung zu
chische Störungen beheben lassen. Außerdem bekommen. Aber auch einige Wissenschaftler
heißt es, wir könnten schon bald in der Lage selbst schlagen in der Öffentlichkeit gern auf
sein, Gedanken aus der Hirnaktivität auszule­ die Pauke, um Aufmerksamkeit auf ihre Arbeit
sen oder unsere Stimmungen und geistigen Fä­ zu ziehen. Ein großes Medienecho ist immer
higkeiten direkt zu beeinflussen. Viele Men­ ein gutes Argument für weitere staatliche För­
schen erwarten heute von der Hirnforschung derung. Die Art und Weise, wie Forschungs­
unmittelbare Hilfestellungen für ihren Alltag. gelder heutzutage verteilt werden, führt zu ei­

44 G&G 4_2012


ner Doppelzüngigkeit: gegenüber der Presse die Annahme durchgesetzt, die Neurowissen­
verkündet man eine reißerische Variante der ei­ schaften würden harte, verlässliche Fakten prä­
genen Studienergebnisse, im Kreis der Kollegen sentieren – beispielsweise Messungen von Hirn­
hingegen werden viel moderatere Töne ange­ aktivitätsmus­tern oder biochemische Mecha­
schlagen. nismen, mittels deren Botenstoffe und andere
Welche Rolle spielt dabei die Öffentlichkeit? Substanzen auf unser Befinden wirken. Ganz so
Nehmen wir zum Beispiel die Erforschung der eindeutig sind aber ihre Ergebnisse oft auch
Alzheimerdemenz. Die Zunahme der neuro­ nicht.
degenerativen Erkrankungen bereitet heute zu Ist die vermeintliche »Deutungshoheit« der
Recht vielen Menschen Sorge. Entsprechend Neurowissenschaften selbst ein Irrtum?
groß ist die Hoffnung, die Wissenschaft möge Zu verstehen, wie geistige Phänomene zu Stan­
bessere Diag­nosetechniken und mögliche Ge­ de kommen, gilt nicht mehr primär als Sache
gen­mittel finden. Wir dürsten geradezu da­ der Sozial- und Geisteswissenschaften, sondern
nach, gesagt zu bekommen, der Durchbruch der neurowissenschaftlichen Laborforschung.
zur Heilung liege in greifbarer Nähe. Doch lei­ Es herrscht die Überzeugung vor, man könne
der werden solche hochgespannten Erwartun­ psychologische Theorien danach beurteilen, in­ Nikolas Rose
gen laufend enttäuscht. Auf einem anderen wiefern sie mit den Beobachtungen am Gehirn >G
 eboren 1947 in London
Forschungsfeld haben wir das Gleiche erlebt: übereinstimmen. Metaphorisch gesprochen > Studierte Biologie, Psycholo-
bei der Gentherapie. Riesige Hoffnungen auf hat das den »tiefen inneren Raum«, dem in der gie und Soziologie an der
individuelle Diagnosen und maßgeschneiderte ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts so viel Auf­ University of Sussex und der
Arzneien mittels Gentechnik wurden geweckt, merksamkeit zuteilwurde, regelrecht eingeeb­ University of London
aber so gut wie nichts davon ist Realität gewor­ net. In der Psychoanalyse musste noch alles da­ > 2 002 – 2011 Martin-White-­
den. Ich fürchte, mit der Hirnforschung ergeht raus geschlossen werden, was Menschen sagten Professor für Soziologie and
es uns nicht viel anders. Am Ende erweisen sich oder taten; heute glaubt man, man brauche nur Direktor des BIOS Centre
die Dinge doch als viel komplizierter als ange­ noch das Gehirn zu betrachten, Reden und Aus­ for the Study of Bioscience,
nommen. deuten seien überflüssig geworden. Biomedicine, Biotechnology
Wo sehen Sie die Wurzel des Problems? Blenden wir damit nicht eine wichtige Di- and Society an der London
Der Zusammenhang zwischen Funktionsstö­ mension des Menschseins aus? School of Economics
rungen des Gehirns auf der einen Seite und den Nun, dazu muss man sagen: So ganz geheuer ist > Seit 2012 Professor für Sozio-
Symptomen einer Depression, Angststörung den meisten Menschen diese reduktionistische logie und Leiter des Depart-
oder anderer Leiden auf der anderen scheint Sichtweise nicht. Wir glauben ja nicht wirklich ment of Social Science, Health
deutlich schwächer ausgeprägt zu sein, als viele daran, dass wir letztlich nur »eine Ansamm­ and Medicine am King’s
glauben. So hatte etwa die Entdeckung der lung von Neuronen« seien, wie es der Nobel­ College in London
­Neurotransmitter Dopamin und Serotonin ge­ preisträger Francis Crick einmal ausdrückte.
radezu eine Euphorie ausgelöst. Man glaubte, Wir haben zwar begriffen, dass das Gehirn eine
bestimmte Erkrankungen bald umfassend be­ wichtige Rolle beim Denken, Fühlen und Han­
heben zu können: Schizophrenie sei durch deln spielt. Doch deshalb kann man geistige
künstliche Ankurbelung des Dopaminsystems Phänomene nicht einfach auf neuronale redu­
heilbar und Depression durch entsprechende zieren. Der Marionettenglaube nach dem Mot­
Steigerung des Serotoninhaushalts. Nichts da­ to »Mein Gehirn hat mich das tun lassen, mein
von hat sich bewahrheitet. Vielmehr scheint Gehirn hat so oder so entschieden« läuft un­
mit diesen Hypothesen etwas grundlegend serer Lebenserfahrung zuwider. Ich glaube so­
falsch zu sein. Kein Mittel, das auf ihrer Grund­ gar, auch die meisten Neurowissenschaftler
lage entwickelt wurde, ist von durchschla­ denken das nicht, obwohl man es ihnen oft
gendem Erfolg. Und von den bekanntermaßen nachsagt. So manche Forscher beschäftigen
wirksamen, wie etwa Lithium, weiß man kaum, sich mit Fragen der Emergenz und Komplexi­
worauf der Effekt beruht. tät, und die meisten wissen sehr wohl, dass die
Hat die Neurofaszination auch damit zu Erklärungslücke zwischen Körper und Geist so
tun, dass der Blick ins Gehirn beweist: Gefühle leicht nicht zu überbrücken ist.
und Gedanken sind nichts rein Geistiges – sie Wie steht es mit der Übertragung auf das
haben vielmehr eine materielle Grundlage? Alltagsleben: Ist der Satz »Wer besser leben will,
Ich denke, die Hirnforschung hat zu einem sehr muss sein Gehirn optimieren« ebenfalls zu re-
grundlegenden Perspektivwechsel beigetragen. duktionistisch?
Rein psychologische Erklärungen erscheinen Man erklärt uns zwar gerne, wie wichtig die
uns heute weich und beliebig. Dagegen hat sich Hirnfitness für unser Leben ist, für das emotio­


www.gehirn-und-geist.de 45
nale Gleichgewicht, für unsere Fähigkeit, Pro­ uns effektive Heilmittel bescheren. Doch de
bleme zu lösen oder im Beruf voranzukom­ facto gibt es bislang leider nur sehr wenig Be­
men. Aber das ist oft stark übertrieben. Es wird lege dafür.
mehr behauptet, als man eigentlich über das Verändert die Neuroperspektive die Einstel-
Gehirn weiß, und dem vorhandenen Wissen lung gegenüber psychischer Krankheit?
wird gleichzeitig zu viel Relevanz beigemessen. Auffällig ist der wachsende Bedarf danach, die
Stephen Morse, Professor für Strafrecht an der verschiedensten Probleme mittels Pharmaka in
University of Pennsylvania, prägte den Begriff den Griff zu bekommen. Wer Kopfschmerzen
»Gehirn-Übertreibungsyndrom« (englisch: hat, greift zur Pillenschachtel, wer unter sexuel­
brain overclaim syndrome) für Erklärungsan­ ler Unlust leidet, tut es ebenfalls, ja auch, wer
sprüche von Hirnforschern in juristischen sein Gedächtnis verbessern oder Stressbelas­
Schuldfragen vor Gericht. Mancher Neurowis­ tun­­gen meistern will, sucht nach einem pas­
senschaftler scheint an diesem Syndrom zu senden Mittel. Doch das allein hilft selten. Laut
leiden. epidemiologischer Studien ist etwa jeder dritte
Können Sie das an einem Beispiel erläutern? Mensch innerhalb eines Jahres von einer see­
Nehmen wir die Behauptung, man hätte die ge­ lischen Störung betroffen. Diese reichen von
netische Grundlage der Aufmerksamkeitsdefi­ Depression und Angst bis zur Demenz, von
zit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) entdeckt – ­Alkoholsucht bis zu Zwängen. Die Tatsache,
in Wirklichkeit konnten Forscher aber lediglich dass das Gehirn an allen diesen Störungen be­
zeigen, dass eine Gruppe von Probanden mit teiligt ist, bedeutet nicht, dass es sich um Hirn­
bestimmten genetischen Kennzeichen im erkran­kungen handelt.
Schnitt ein ­etwas erhöhtes Risiko für die Stö­ Was schlussfolgern Sie daraus? Sollte die
rung tragen. Das heißt, viele Erkrankte verfü­ neuropsychiatrische Forschung ganz einge-
gen nicht über diese Erbgutmerkmale, welche stellt werden?
»Es wird mehr umgekehrt aber auch bei vielen Gesunden vor­ Nein, aber wir sollten uns schon fragen, ob wir
liegen. Oder wenn die Rede davon ist, Forscher an der richtigen Stelle nach potenziellen Heil­
behauptet, als könnten die Gedanken von Testpersonen lesen. mitteln suchen. Vielleicht sind psychische Stö­
Dabei kann man gerade einmal mit etwas über­ rungen eben doch eher Störungen des ganzen
man eigentlich zufälliger Wahrscheinlichkeit die neuronalen Menschen in der jeweiligen Gesellschaft, in der

über das Gehirn Aktivie­rungs­­muster bei einfachen, exakt defi­


nierten Aufgabenstellungen unterscheiden.
er lebt, und nicht allein Defizite im Stoffwech­
sel des Gehirns.
weiß, und dem Die Vorstellung, man könne zum Beispiel durch Bei einigen Störungen scheint die Kausal-
einen Hirnscan am Flughafen feststellen, ob je­ kette zum Gehirn zumindest stärker zu sein als
vorhandenen mand böse Absichten hegt oder nicht, ist illuso­ bei anderen.
risch. Die Experimente zum Brain Reading sind
Wissen wird hoch spannend, aber mit Gedankenlesen haben
Ja. Doch selbst die am stärksten körperlich ba­
sierten Erkrankungen wie etwa Chorea Hunting­
gleichzeitig zu sie sehr wenig zu tun. ton, die Schüttellähmung, sind deshalb nicht
Inwiefern schlägt sich die aktuelle Populari- leichter behandelbar. So ähnlich ist es auch
viel Relevanz tät der Hirnforschung auch auf unser Bild von bei der Alzheimerdemenz. Die genauen Entste­
uns selbst nieder? hungsmechanismen sind schwer zu ­entwirren,
beigemessen« Die Menschen in der westlichen Welt, aber zu­ und man macht es sich zu einfach, wenn man
nehmend auch in China oder Indien, beschäfti­ die Ursache allein in der genetischen Ausstat­
gen sich heute sehr viel intensiver mit ihrem tung, im Gehirn oder beim Konkur­renzdruck in
körperlichen und geistigen Wohlbefinden als der Gesellschaft sucht. Wir müssen wegkom­
früher, und sie fühlen sich für deren Erhalt men von diesem monokausalen Denken.
­zunehmend selbst verantwortlich. Das geht Führt die Betonung des Gehirns auch zu ei-
einher mit dem besagten Perspektivwechsel – ner neuen Art der Stigmatisierung?
weg von der Psychologie hin zur Physiologie, Das ist eine spannende Frage. Die meisten Psy­
also den »harten«, neurobiologischen Vorgän­ chiater erklären das Gegenteil: Der Hinweis,
gen, die wir hinter unserem subjektiven Befin­ dass seelische Störungen etwas mit dem Ge­
den vermuten. So gibt es heute eine Menge Ex­ hirn zu tun haben, reduziere Stigmatisierun­
perten, die psychiatrische Erkrankungen mit gen. Ein ansonsten mysteriöses Leiden er­
Hirnerkrankungen gleichsetzen, etwa mit dem scheint als »Krankheit wie jede andere«, sobald
Mangel an bestimmten Botenstoffen. Sie glau­ sie sich im Gehirn manifestiert. Aber wenn
ben, allein die Erforschung des Gehirns werde man nach persönlichen Berührungsängsten

46 G&G 4_2012


fragt – etwa ob es in Ordnung wäre, wenn je­ psychiatrischen Störungen scheint sich heute
mand aus der eigenen Familie einen Menschen immer mehr auszudehnen.
mit psychischer Störung heiraten würde –, ist Werfen wir noch einen Blick in die Zukunft.
die Stigmatisierung dann auf einmal sogar grö­ Werden wir das »Gehirn-Übertreibungssyn-
ßer! Wenn etwas im Gehirn aus dem Lot gera­ drom« in zehn Jahren überwunden haben?
ten ist, vermutet man eher genetische Faktoren Ich hoffe jedenfalls, dass wir dann eher in kom­
dahinter. plexen Zusammenhängen denken. Die Ent­
Die Angst vor erblich bedingten Krankheits- wick­lung des Gehirns, seine Interaktionen mit
risiken scheint seit der Sequenzierung des der Umwelt, die große Frage, wie Gehirne im
menschlichen Genoms gewachsen zu sein. Austausch miteinander Sinn konstruieren –
In der Tat, und dabei werden meist die gesell­ all das gilt es zu berücksichtigen. Ich erwarte
schaftlichen Rahmenbedingungen ausgeblen­ auch eine wachsende Frustration in Sachen
det, denen die Ausprägung psychischer Störun­ Psychopharmaka. Ich bin nicht der Ansicht, Pil­
gen unterliegt. len seien per se schlecht, Psychotherapie gut.
Welchen Einfluss hat die Gesellschaft da- Aber die Idee, man brauche nur das richtige
rauf, dass die Zahl der seelischen Leiden heute Medikamente, um defekte neuronale Netz­ LITERATURTIPPS
offensichtlich zunimmt? werke wieder auf Vordermann zu bringen, und Caspary, R.: Alles Neuro? Was
Psychiater und Epidemiologen gehen davon schon sei alles wieder im Lot, ist ein Irrtum. die Hirnforschung verspricht
aus, dass nicht unbedingt die Zahl der psy­ Nicht umsonst ­haben sich viele Pharmafirmen und nicht halten kann. Her-
chisch Kranken selbst steigt, sondern eher die aus der Entwicklung neuer Psychopharmaka der, Freiburg 2010
Aufmerksamkeit für solche Probleme. Einer­ zurückgezogen. Forscher werden stattdessen Ein kompakter Führer
seits sind Ärzte und Angehörige, aber auch die noch tiefer in die neuronale Hardware vordrin­ durch den Irrgarten der Neu­-
Betroffenen selbst heute sensibler gegenüber gen. Gehirn-Computer-Schnittstellen, Hirnsti­ romythen
Seelennöten und sprechen diese offener an. mulation, neue For­men der Neuroprothetik Vaas, R.: Schöne neue Neuro-
Das ist auch gut so. Andererseits verschwim­ sind viel ver­spre­chen­de Ansätze. Wir werden si­ Welt: Die Zukunft des Ge-
men aber häufig die Grenzen zwischen Norma­ cher noch eine Menge erstaunliche Dinge über hirns. Eingriffe, Erklärungen
lität und Krankheit: Es sollte schon einen Un­ das Gehirn lernen. und Ethik. Hirzel, Stuttgart
terschied geben zwischen Unbehagen oder Vielen Dank für das Gespräch. 2007
einem Stimmungstief und einer klinischen Die großen Visionen der Hirn-
Depres­sion, oder zwischen gelegentlichen Ein­ Die Fragen stellte Steve Ayan, Redaktionsleiter forschung im 21. Jahrhundert
schlafproblemen und Insomnie. Das Feld der von G&G.


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medizin ı ENTERISCHES NERVENSYSTEM

Aus der Mitte des Körpers


Unser Verdauungssystem bestimmt mit darüber, ob wir uns gut oder schlecht
fühlen. Verantwortlich dafür sind das Nervengeflecht im Darm und seine
zahlreichen Verbindungen zum Gehirn. Mediziner wie Gabriele Moser nutzen
diese Pfade, um Erkrankungen des Verdauungstrakts psychotherapeutisch
zu behandeln.

Von Gabriele Moser

Au f ei n en B l ic k J eder kennt die Redewendungen: »etwas aus


dem Bauch heraus entscheiden«, »eine Ent­
täuschung herunterschlucken« oder »das La­
ähnelt es in vielerlei Hinsicht dem Zentralner­
vensystem. So finden sich hier wie dort drei Sor­
ten von Zellen: sensorische Neurone, die ein­
Leib und Seele chen bleibt einem im Halse stecken«. Wenn wir gehende Sinnesreize registrieren; Interneurone,

1 Ein ausgedehntes
Nervengeflecht, das
»Bauchhirn«, steuert
zuversichtlich sind, haben wir »ein gutes Bauch­
gefühl«, fürchten wir uns vor etwas, dann haben
wir »die Hose voll«, und wenn wir über ein Pro­
die als Zwischenstation die Aktivität anderer
Nervenzellen steuern; und Motorneurone, die
Bewegungen des Verdauungsorgans auslösen.
die Funktionen unseres blem nachgrübeln, »liegt es uns schwer im Ma­ Auch sind die Nervenknoten des Bauchhirns
Verdauungstrakts. Es gen«. Was der Volksmund schon lange be­ ähnlich wie im Gehirn oder Rückenmark ver­
enthält mehr Nervenzel­ schreibt, erkennen Forscher inzwischen immer schaltet, um Informationen zusammenzufüh­
len als das Rückenmark. detaillierter: Der Verdauungstrakt arbeitet eng ren und zu verarbeiten.
mit dem Gehirn zusammen.

2 Zwischen dem
Bauchhirn und dem
Zentralnervensystem
Unsere Darmtätigkeit wird von hunderten
Millionen Nervenzellen gesteuert. Sie bilden zu­
Signale aus dem Körper
Wie sich immer deutlicher zeigt, gibt es zahl­
sammen das Bauchhirn oder, in der Fachspra­ reiche Verbindungen zwischen dem Bauchhirn
bestehen zahlreiche
che, das »enterische Nervensystem«. Es ist die und dem Zentralnervensystem. Die meisten die­
neuronale Verbindungen.
größte Ansammlung von Nervenzellen außer­ ser Nervenbahnen, etwa 90 Prozent, führen auf­
Aus diesem Grund
halb des Zentralnervensystems: Die Anzahl sei­ wärts, also vom Bauch- zum Kopfhirn. Sie über­
beeinflussen sich Psyche
ner Neurone übersteigt sogar die des Rücken­ mitteln Reize, die vom Verdauungssystem kom­
und Verdauungstätigkeit
marks. Das Bauchhirn regelt die Kontraktionen men und die wir meist nicht bewusst wahrneh­
gegenseitig.
des Darms, den Stofftransport durch die Darm­ men. Vermutlich erzeugen sie dennoch eine Art

3 Bei bestimmten
Krankheitsbildern,
etwa dem Reizdarm­
schleimhaut und den Blutfluss innerhalb der
Darmwand. Je nach Bedarf wählt es dabei ver­
emotionales Hintergrundrauschen, das sich in
positiven wie auch negativen Stimmungen nie­
schiedene Programme, etwa zur Verdauung, derschlägt. Wir haben dann einfach »so ein
syndrom, sind diese oder verordnet dem Gedärm eine Ruhephase. Bauchgefühl« oder – wenn wir verliebt sind –
Ver­bindungen funktional Während wir schlafen, löst das Bauchhirn rhyth­ »Schmetterlinge im Bauch«. Tatsächlich bildet
verändert. Mit Psycho­ mische Wellenbewegungen im Darm aus, die das enterische Nervensystem wohl einen Teil des­
therapien und Hypnose­ den schnellen Augenbewegungen während der sen, was Sigmund Freud das Unbewusste nannte.
verfahren können Me- REM-Schlafphasen ähneln. In die andere Richtung, also vom Kopf- zum
di­ziner den Betroffenen Zwar zählt das Bauchhirn zum autonomen Bauchhirn, gibt es ebenfalls Nervenverbindun­
helfen. Nervensystem, also zur Gesamtheit jener Ner­ gen. Deshalb beeinflusst das Zentralnervensys­
venzellen, die grundlegende Körperfunktionen tem auch die Verdauung, obwohl diese im Prin­
regeln und dabei dem Einfluss von Willen und zip unabhängig von ihm arbeitet. So können
Bewusstsein nicht direkt unterliegen. Trotzdem starke Gefühle, emotionaler Stress oder trau­

50 G&G 4_2012


Speiseröhre

Speiseröhre

Leber
Magen
Bauchspeicheldrüse
Leber
Gallenblase Magen
Zwölffingerdarm
Bauchspeicheldrüse
Dickdarm
Gallenblase
Zwölffingerdarm
Dickdarm
Dünndarm

Blinddarm Dünndarm
Ringmuskulatur
Blinddarm
Mastdarm Submucosa
Ringmuskulatur

Wurmfortsatz Mastdarm Submucosa

BAUCHHIRN
Wurmfortsatz
BAUCHHIRN

Längsmuskulatur

Längsmuskulatur

Darmschleimhaut mit Falten


Darmwand und Zotten
Darmschleimhaut mit Falten
Darmwand und Zotten

Nerven Venen
Entspannen
Arterien
Nerven Venen
Entspannen Muskel-
anspannung Arterien
Muskel-
anspannung
Entspannen

Muskel- Entspannen
anspannung Wellenbewegung
Zusammenziehen Richtung Darmausgang
Muskel-
anspannung Wellenbewegung
Zusammenziehen Richtung Darmausgang

Bindegewebe
mehr als nur ein Schlauch
Gehirn&Geist / MEGANIM

Bindegewebe Er besteht aus mehreren


Der Dünndarm ist der größte Teil unseres Verdauungstrakts.
Schichten und transportiert den Speisebrei mittels Wellenbewegungen durch den
Körper. Gesteuert wird er vom enterischen Nervensystem, dem »Bauchhirn«, das sich
aus hunderten Millionen Nervenzellen zusammensetzt.


www.gehirn-und-geist.de 51
Morbus Hirsch- matische Ereignisse zu Bauchschmerzen bezie­ wendung »es liegt mir was im Magen«. Bei Pa­
sprung – eine hungsweise -krämpfen, Durchfall, Übelkeit oder tienten mit Angststörungen hingegen war die
Erkrankung des Erbrechen führen. Nahrungspassage beschleunigt, insbesondere
Bauchhirns Schon 1833 hatte der amerikanische Chirurg im Dickdarm.
Die Hirschsprung-Krankheit William Beaumont solche Effekte an einem Pati­ In einem anderen Versuch beobachteten For­
ist eine angeborene, gefähr­ enten mit einer schlecht verheilten Bauchwand­ scher um Brecht Geeraerts vom Center for Gas­
liche Verengung des Darms. verletzung beobachten können. Er sah dem troenterological Research in Löwen (Belgien),
Sie führt zu schwerer Ver- Kranken bei den Untersuchungen quasi direkt wie sich Stress oder Angst auf die Nahrungs­
stopfung, wobei der gestaute in den Magen und bemerkte dabei je nach Stim­ aufnahme auswirken. Die Wissenschaftler prä­
Kot vor der verengten Stelle mung des Patienten eine Rötung der Magen­ sentierten gesunden Versuchsteilnehmern, die
den Darm abnorm erweitert. wand oder die Sekretion von Verdauungssäften. gerade eine Mahlzeit zu sich nahmen, verschie­
Die Ursache der Krankheit War der Mann schlecht gelaunt, erschien sein dene Gesichtsausdrücke zusammen mit neu­
liegt in einem missgebildeten Magen schlaff, bei Freude hingegen gut durch­ tralen oder Furcht einflößenden Tonaufnah­
Bauchhirn. Es fehlen Nerven­ blutet, und bei Ärger krampfte er sich heftig zu­ men. Zugleich wurde bei den Probanden die
knoten in der Darmwand, sammen. Diese Beobachtungen wurden später Ausdehnung des Magens gemessen. Ergebnis:
wodurch die Ringmuskulatur durch moderne Messmethoden bestätigt. Bei den Teilnehmern, denen die Forscher Angst
im betroffenen Abschnitt machten, weitete sich der Magen deutlich weni­
keine Peristaltik mehr ausübt Schwermut führt zu Völlegefühl ger als bei den Personen, die entspannt essen
und sich dauerhaft zusam­ Angststörungen und Depressionen verändern konnten. Ein frühes Sättigungsgefühl war die
menzieht. Die Fehlbildung erwiesenermaßen das Tempo des Verdauungs­ Folge; dementsprechend kommentieren wir be­
tritt bei einem von 5000 vorgangs: Depressive tendieren zu Verstopfun­ lastende Situationen gern mit dem Spruch »ich
Kindern auf; Jungen sind gen, Menschen mit chronischer Angst dagegen habe es satt«. Über diesen Mechanismus kann
drei- bis fünfmal so häufig haben häufig Durchfall. Dies konnte ein For­ der Magen im Lauf der Zeit eine »Neurose« ent­
betroffen wie Mädchen. scherteam um David Angelo Gorard vom wickeln: Wenn man belastende Dinge oft bei Ar­
Mediziner behandeln die Londoner St. Bartholomew’s Hospital im Jahr beitsessen bespricht oder regelmäßig am Früh­
Krankheit, indem sie den 1996 zeigen. Die Wissenschaftler untersuchten stückstisch streitet, verlernt er es, sich beim Es­
betroffenen Darmabschnitt an insgesamt 42 Studienteilnehmern, wie lange sen auszudehnen.
operativ entfernen oder den es dauerte, bis die Nahrung den Verdauungs­ Über frühes Sättigungsgefühl, Schmerzen
dauerkontrahierten Muskel trakt passiert hatte. Bei depressiven Patienten oder Spannungen klagen etwa Patienten mit
einschneiden. Gegebenen- nahm es mehr Zeit in Anspruch; vor allem war funktionellen Oberbauchbeschwerden. Deren
falls legen sie vorübergehend die Magenentleerung verzögert, verglichen mit Magen erscheint zwar organisch gesund, funk­
einen künstlichen Darm­ gesunden Menschen. Dem entspricht die Rede­ tioniert aber nur eingeschränkt. Das lässt sich
ausgang.

Mikroben steuern unser Gemüt


Neueste Erkenntnisse zeigen, dass nicht nur zwischen Darm und Gehirn intensive Verbin­
dungen bestehen, sondern sogar die Darmflora unsere Stimmung beeinflusst – jene zahllosen
Mikroben in unserem Darm, die unter anderem dabei helfen, die Nahrung in ihre Bestandteile
zu zerlegen. Die Zusammensetzung der Darmflora unterscheidet sich von Mensch zu Mensch
und ist so einzigartig wie ein Fingerabdruck. Noch wissen Forscher kaum etwas darüber, wie sie
auf unser Gehirn wirkt. Bekannt ist, dass Darmbakterien die Ausschüttung entzündungsför­
dernder Substanzen, etwa des C-reaktiven Proteins (CRP), verstärken können. Diese Eiweiß­
stoffe mindern ihrerseits den Spiegel des »Glückshormons« Serotonin – wohl einer der Gründe
dafür, warum Patienten mit chronischen Darmerkrankungen während entzündlicher Phasen
oft depressiv verstimmt sind. Hersteller werben mit probiotischen Lebensmitteln, die die Darm­
flora günstig beeinflussen und so das Wohlbefinden steigern sollen. Probiotika spielen tatsäch­
lich eine positive Rolle in der Therapie, sowohl beim Reizdarmsyndrom als auch bei chronisch
entzündlichen Darmerkrankungen. Französische Forscher haben in Experimenten nachgewie­
sen, dass Laktobazillen und Bifidobakterien in der Nahrung sowohl Stimmungen als auch die
Stresswahrnehmung beeinflussen können.
(Messaoudi, M. et al.: Assessment of Psychotropic-like Properties of a Probiotic Formulation
(Lactobacillus Helveticus R0052 and Bifidobacterium Longum R0175) in Rats and Human Subjects.
In: The British Journal of Nutrition 105, S. 755 – 764, 2011)

52 G&G 4_2012


GESTÖRTES KÖRPERGEFÜHL
aus: Ringel, Y.  et al., Gastroenterology 134, S. 396–404, 2008; Abdruck genehmigt von Elsevier / CCC

US-Forscher untersuchten,
PCC MCC wie sich die Hirnaktivität
verändert, wenn der Mastdarm
künstlich gedehnt wird. Bei
Frauen mit Missbrauchserfah-
rungen reagierten gefühls­
verarbeitende Hirnareale im
mittleren und hinteren zin­
gulären Kortex (im Bild mit
»PCC« und »MCC« markiert)
überdurchschnittlich stark auf
den Reiz.

einerseits auf eine gestörte Magenweitung zu­ haften Durchfällen und Bauchkrämpfen, etwa
rückführen, andererseits auf Überempfindlich­ beim Reizdarmsyndrom.
keiten, die durch Stress entstehen können. Wegen ihrer Rolle im Verdauungsgeschehen
Schon seit einiger Zeit ist bekannt, dass bei Pa­ werden die Mastzellen auch als »Endeffekto­
tienten mit funktionellen Oberbauchbeschwer­ ren« der Gehirn-Bauch-Achse bezeichnet. Psy­
den sowohl Missbrauchserfahrungen als auch chischer Stress bewirkt, dass ihre Anzahl in der
Symptome einer Depression sehr häufig zu­ Schleimhaut der Speiseröhre zunimmt. Infolge­
sammen mit einer erhöhten Empfindlichkeit dessen erweitern sich die Zwischenräume der
des Magens auftreten. Schleimhaut, saurer Verdauungssaft tritt hin­
durch und reizt das darunterliegende Gewebe.
Krank machender Fluchtreflex Das erklärt, warum Sodbrennen durch Stress
Liegt möglicherweise ein tieferer Sinn darin, ausgelöst werden kann und wieso wir bei gro­
dass psychische Belastungen unsere Verdauung ßem Ärger »sauer« sind.
beeinträchtigen? Stress ist eine evolutionär an­ CRF und andere Stresssignale erhöhen auch
gepasste Reaktion von Tieren und Menschen, die Durchlässigkeit der Darmschleimhaut. Das
die es erleichtert, in brenzligen Situationen lässt körperfremde Stoffe und Mikroben leichter
rasch Kraftreserven zu mobilisieren. Sie soll die in die Darmwand eindringen und fördert dort
Überlebenschancen des Individuums erhöhen. das Entstehen von Entzündungen. Schon länger
Vermutlich war es für unsere Ahnen von Vorteil, ist bekannt, dass anhaltender Stress bei Darm­
bei Gefahr den Darm zu entleeren, um schneller erkrankten die Wiederkehr von entzündlichen
weglaufen zu können. Jedenfalls kennt jeder den Phasen mit blutigen Durchfällen begünstigt.
Angstreflex, der auch bei flüchtenden Tieren zu Psychische Verletzungen, etwa eine Miss­
beobachten ist: Der Körper wirft Ballast aus dem brauchserfahrung, können zudem die Schmerz­
Hinterausgang ab, und das oft sehr rasch! wahrnehmung im Magen-Darm-Trakt verstär­
Dabei spielen Stresshormone eine wichtige ken. Dehnungsreize im Darm aktivieren dann
Rolle, etwa der Cortico-Releasing-Faktor (CRF). Regionen im limbischen System des Gehirns,
In gefährlichen oder stark belastenden Situa­ das Gefühle verarbeitet und eine wichtige Rolle
tionen schüttet das Zwischenhirn CRF-Moleküle beim Angstempfinden spielt. Forscher um Ye­
aus, die an Bindungsstellen im Magen-Darm- huda Ringel von der University of North Caro­
Trakt ankoppeln. Das veranlasst dort Zellen der lina in Chapel Hill (USA) haben dies in einer
Immunabwehr, die Mastzellen, bestimmte Sig­ ­Studie an 20 Frauen mittels funktioneller Bild­
nalsubstanzen abzusondern. Darauf wiederum gebung nachweisen können. Sowohl Frauen, die
reagiert das Bauchhirn, indem es Durchfall, missbraucht worden waren, als auch solche mit
Übelkeit oder Erbrechen hervorruft. Sinnvoll ist Reizdarmsyndrom reagierten besonders emp­ Wenn man beim
diese Reaktionskette etwa, wenn der Körper findlich auf eine Reizung des Mastdarms. Zu­ Essen oft belastende
rasch schädliche Stoffe ausscheiden muss, um dem antworteten bei ihnen zwei gefühls- und
Dinge bespricht,
den Verdauungstrakt zu schützen. Aber wenn Angst verarbeitende Regionen im limbischen
sie durch chronischen Stress, seelische Trauma­ System überdurchschnittlich stark auf den
kann der Magen es
ta oder häufige Angstzustände aktiviert wird, künstlichen Dehnungsreiz, während die Akti­ verlernen, sich aus-
leiden die betroffenen Menschen unter dauer­ vität in einer schmerzhemmenden Region ver­ zudehnen


www.gehirn-und-geist.de 53
mindert war. Am stärksten waren die Reaktio­ war laut der Analyse geringfügig wirksamer als
nen bei Teilnehmerinnen, die sowohl unter die Psychotherapie, allerdings stützt sich dieser
einem Reizdarmsyndrom litten als auch miss­ Befund auf sehr wenige Studien.
braucht worden waren. Verschiedene Formen Psychotherapeutische Verfahren scheinen
der Psychotherapie können solche Symptome vor allem dadurch zu wirken, dass sie die Betrof­
lindern und die Lebensqualität der Betroffenen fenen zu einer veränderten Wahrnehmung von
heben, wie zahlreiche Studien nachwiesen. Reizen aus dem Körperinnern anleiten. Die Pa­
tienten gewinnen das Gefühl, die Magen-Darm-
Schmerzen lindern Funktionen besser kontrollieren zu können –
ohne Medikamente abgesehen davon, dass die Therapie zugleich
Das Reizdarmsyndrom gehört zu den funktio­ Ängste, Depressionen und posttraumatischen
nellen, also nicht organisch bedingten Darmer­ Stress lindert, die möglicherweise zusammen
krankungen; schätzungsweise 10 bis 20 Prozent mit dem Reizdarmsyndrom vorliegen.
der Bevölkerung leiden daran. Die Betroffenen Eine besondere Form der Psychotherapie, die
spüren häufig Schmerzen oder Unwohlsein im auf den Bauch gerichtete Hypnosetherapie, hat
Bauchraum, begleitet von Übelkeit und Erbre­ der Mediziner Peter Whorwell von der Univer­
chen sowie von Durchfall oder Verstopfung. sity of Manchester (England) entwickelt. Bei die­
Auch die Empfindlichkeit des Darms gegenüber sem Verfahren setzt der Therapeut spezifische
mechanischen Reizen ist erhöht. Viele Betrof­ Suggestionen ein, die in mehreren Sitzungen
fene suchen medizinische Hilfe, die Therapie­ wieder das Gefühl der Kontrolle über den Darm
erfolge sind aber bislang unbefriedigend. vermitteln sollen. Zusätzlich verwendet er »ich-
Paul Enck vom Universitätsklinikum Tübin­ stärkende« Formeln wie bei jeder therapeuti­
gen und sein Team haben im Jahr 2010 belegt, schen Hypnose. Studien haben bewiesen: Hyp­
dass Psychotherapie das Reizdarmsyndrom nosetherapien beeinflussen die Magensäure­-
sehr effektiv lindert – besser als fast alle derzeit se­kretion, die Magen- und Darmperistaltik so­
verfügbaren Medikamente. Die Forscher hatten wie die Dauer der Nahrungspassage im Verdau­
121 Studien aus den vergangenen 35 Jahren aus­ ungstrakt. Auch die Schmerzschwelle für Reize
gewertet. Nur die Einnahme von Pfefferminzöl aus den Eingeweiden ist damit veränderbar,
­wodurch die Überempfindlichkeit des Magen-
passt gerade gar nicht Darm-Trakts herabgesetzt werden kann.
Reizdarmpatienten leiden oft Mediziner um Arine Vlieger vom St. Anto­
unter Bauchschmerzen, Durch- nius Hospital in Nieuwegein (Niederlande) ha­
fällen oder Blähungen. Viele ben 2007 den Erfolg der Hypnosetherapie bei
neigen dazu, bei jeder wahr- Kindern belegt. Sie teilten 53 Kinder mit funk­
nehmbaren Regung im Magen- tionellen Störungen des Verdauungstrakts in
Darm-Trakt vom Schlimmsten zwei Gruppen ein: Eine erhielt eine Hypnose­
auszugehen – vor allem, wenn therapie, bestehend aus sechs Sitzungen in drei
sie sich fern eines rettenden Monaten, die andere bekam eine Standardbe­
WCs wissen. handlung mit Medikamenten. Innerhalb von
zwölf Monaten nach Beginn der Behandlung
nahmen Intensität und Häufigkeit der Schmer­
zen in der Hypnosegruppe um mehr als 90 Pro­
zent ab, in der Medikamentengruppe hingegen
nur um etwa 40 Prozent.
In einer anderen Studie sprachen Patienten
mit funktionellen Oberbauchbeschwerden so
erfolgreich auf eine Hypnosetherapie an, dass
sie am Ende der Behandlung vollständig auf
Medikamente verzichten konnten und auch bei
der Nachkontrolle ein Jahr später noch »arznei­
dreamstime / Richard Nelson

frei« waren. Mediziner um Emma Louise Calvert


vom Wythenshawe Hospital in Manchester hat­
ten 126 Patienten zufällig in drei Gruppen ein­
geteilt, von denen eine die Hypnosetherapie
­erhielt, während die anderen beiden Medi­ka­

54 G&G 4_2012


Erlernte Verstopfung

Die Lernfähigkeit des Verdauungssystems kann uns krank machen. Mediziner um Andreas
Klauser von der Ludwig-Maximilians-Universität München forderten gesunde Männer auf, eine
Woche lang den Stuhldrang immer wieder zu ignorieren und zu unterdrücken. Daraufhin ging
die Aktivität des Dickdarms deutlich zurück, was bei einigen Teilnehmern zu Verstopfung
führte. Darmträgheit kann also erlernt werden, wenn man den Gang aufs WC ständig auf­
schiebt – etwa weil man sich aus Scham oder Ekel nicht auf fremde Toiletten setzt oder in
Stress­phasen den Stuhldrang unterdrückt.
(Klauser, A. G. et al.: Behavioral Modification of Colonic Function. Can Constipation be Learned?
In: Digestive Diseases and Sciences 35, S. 1271 – 1275, 1990)

men­te oder Scheinbehandlungen bekamen. Auch was die Behandlungskosten anbelangt, Psychotherapeu-
Nicht nur, dass die Menschen in der Hypnose­ steht die Psychotherapie des Reizdarmsyn­
tische Verfahren
gruppe im Gegensatz zu den übrigen Patienten droms sehr gut da. Wissenschaftler um Francis
komplett auf eine medikamentöse Behandlung Creed von der University of Manchester haben
scheinen vor allem
ihrer Beschwerden verzichten konnten – auch 2003 die Therapiekosten pro Patient und Jahr dadurch zu wirken,
gingen die Symptome bei ihnen stärker zurück für verschiedene Behandlungen ermittelt. Das dass sie die Betrof-
als bei den anderen. Bereits aus früheren Unter­ beste Aufwand-Nutzen-Verhältnis wies die Psy­ fenen zu einer verän-
suchungen war bekannt, dass die Hypnose­ chotherapie auf: Sie verbesserte die Lebensqua­
derten Wahrneh-
therapie einen beachtlichen Langzeiteffekt hat: lität der Patienten deutlich, bei durchschnitt­
Sie kann die Symptome des Reizdarmsyndroms lichen Kos­ten von 976 Dollar. Etwas schlechter
mung von Reizen aus
auf Jahre hinaus eindämmen. Zudem hebt sie schnitt die Behandlung mit dem Antidepressi­ dem Körper­innern
die Lebensqualität der Betroffenen deutlicher vum Paroxetin ab – sie kostete bei ähnlichem anleiten
als medikamentöse Therapien. Behandlungserfolg 1252 Dollar.
Antidepressiva haben sich als wirksam gegen
Wider die Panik funktionelle Magen-Darm-Erkrankungen erwie­
Meine Kollegen und ich haben kürzlich in einer sen, da sie den Spiegel des Botenstoffs Serotonin
randomisierten Studie am Allgemeinen Kran­ beeinflussen, der im Verdauungstrakt hoch kon­
kenhaus Wien gezeigt, dass die Hypnosethera­ zentriert vorliegt. Deshalb werden sie auch er­
pie gegen das Reizdarmsyndrom auch in Grup­ folgreich gegen das Reizdarmsyndrom einge­
pensitzungen (mit je sechs bis acht Patienten) setzt, unabhängig davon, ob eine Depression
sehr gut wirkt. Das bedeutet, dass wir mittels oder Angststörung vorliegt. Am schlechtesten
kollektiver Behandlung einer größeren Zahl von kam in der Studie die Routinebehandlung des
Patienten helfen können. Reizdarmsyndroms weg, also die Gabe von Me­
Vermutlich beeinflussen psychotherapeu­ dikamenten gegen Durchfall oder Krämpfe. Sie Quellen
tische Methoden auch das »Katastrophisieren«, kostete bei mäßigem Behandlungserfolg durch­ Enck, P. et al.: Therapy Op-
also die unter Reizdarmpatienten verbreitete schnittlich 1663 Dollar pro Patient und Jahr. tions in Irritable Bowel Syn-
Tendenz, bei jeder wahrnehmbaren Regung im Aus unserer Sicht besteht die optimale drome. In: European Journal
Magen-Darm-Trakt vom Schlimmsten auszuge­ ­Therapie gegen schwere funktionelle Magen-­ of Gastroenterology and
hen: »Oh, es beginnt schon wieder, es wird si­ Darm-Störungen deshalb in einer Kombination ­Hepatology 22, S. 1402 – 1411,
cher gleich ganz schlimm werden … und kein aus Psycho- oder Hypnosetherapie mit Medi­ 2010
WC in der Nähe, keiner kann mir helfen!« Häufig kamenten, die die Symptome lindern. Sie kann Mayer, E. A.: Gut Feelings: The
ziehen sich die Betroffenen zurück, schlagen den ­Patienten am ehesten das Gefühl wieder­ Emerging Biology of Gut-
Einladungen zum Essen aus, meiden Kinobe­ geben, ihre Magen-Darm-Funktionen kontrol­ Brain Communication. In: Na-
suche und öffentliche Verkehrsmittel, verzich­ lieren zu können. Und ihnen so ein »sicheres ture Reviews Neuroscience
teten auf Ausflüge oder gar Urlaube. Solange sie Bauchgefühl« verschaffen. Ÿ 12, S. 453 – 466, 2011
sich zu Hause in Sicherheit wiegen, nah dem Moser, G. (Hg.): Psychosoma-
eigenen WC, treten Bauchkrämpfe, Durchfälle Gabriele Moser leitet die Spezialambulanz für gastro- tik in der Gastroenterologie
oder Blähungen in der Tat seltener auf. Doch enterologische Psychosomatik der Universitätsklinik und Hepatologie. Springer,
schon die Vorstellung, weggehen zu müssen, für Innere Medizin am Allgemeinen Krankenhaus der Wien, New York 2007
verursacht erneut Beschwerden. Stadt Wien.

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iStockphoto / Julien Tromeur

Sozialabbau im kopf
Bei der frontotemporalen Demenz gehen hauptsächlich die vorderen Bereiche des
Gehirns zu Grunde. Die Betroffenen zeigen Probleme im zwischenmenschlichen Umgang.

56 G&G 4_2012


medizin ı Demenz

Wenn der Charakter zerfällt


Demenzerkrankungen gelten als Geißel der alternden Gesellschaft.
Eine spezielle Form tritt jedoch häufig schon im mittleren Erwachsenen-
alter auf: die frontotemporale Demenz. Sie beeinträchtigt das soziale
Mitgefühl und zerstört nach und nach die Persönlichkeit der Betroffenen.

Von Ingfei Chen

H arriet Holliday war eine bezaubernde Per-


son. Die geistreiche und witzige Manage-
len Umgangsformen und ihr Einfühlungsver-
mögen. Typischerweise tritt FTD in jüngeren Au f e i n e n B l i c k
rin eines Weinguts im kalifornischen Napa Val- Jahren auf als Morbus Alzheimer; bei Personen
Gefühlsverlust
ley war es gewohnt, Veranstaltungen für Hun- unter 60 gilt sie als häufigste Demenzerkran-
derte von Gästen zu organisieren. Doch als sie
49 Jahre alt war, bemerkte ihr Ehemann Kevin
kung. Schätzungsweise 15 von 100 000 Men-
schen im Alter zwischen 45 und 64 sind betrof- 1 Die frontotemporale
Demenz (FTD) raubt
den Betroffenen zunächst
Horowitz auffällige Veränderungen an ihr. Sie fen. Das Leiden führt im Schnitt innerhalb von
reagierte oft empfindlich oder sarkas­tisch und etwa acht Jahren zum Tod. nicht das Gedächtnis,
entfremdete sich zunehmend ihren Freunden. Diese tragische Krankheit legt auf schonungs­ sondern das Empathie-
»Sie wurde immer gehässiger«, erzählt Horo- lose Weise offen, wie sehr wir auf unsere sozia- vermögen. Sie gilt als
witz. »Sie wusste einfach nicht, wann sie besser len Kompetenzen angewiesen sind. Patienten, die häufigste Demenz­
den Mund hielt.« die an dieser Form der Demenz leiden, lehren erkrankung von Personen
Schließlich verlor Holliday durch ihre auf- Forscher aber auch, auf welcher neuronalen unter 60 Jahren.
brausende Art sogar ihren Job. Immer mehr Ab- ­Basis unser Sozialverhalten und die charakter-
sonderlichkeiten kamen hinzu. Zu einem Essen
erschien sie im Restaurant in einem schicken
lichen Eigenschaften eines Menschen beruhen. 2 Angehörige und Ärzte
deuten die ersten
Symptome der Krankheit
Abendkleid – und Hausschuhen. Sie flirtete Lange bekannt – lange verkannt oft fälschlicherweise als
hemmungslos mit wildfremden Männern. Als 1892 beschrieb der österreichisch-tschechische Lebens- oder Ehekrise.
Horowitz entdeckte, dass seine Frau Kredit­kar­ Neurologe und Psychiater Arnold Pick (1851 –
tenschulden in Höhe von 74 000 US-Dollar an-
gesammelt hatte, wurde ihm klar, dass irgend­
1924) erstmalig eine Form der frontotempora-
len Demenz. Da die »Pick-Krankheit« schwer 3 FTD-Patienten geben
Forschern Einblicke
in das neuronale Funda-
etwas mit ihr nicht stimmte. von anderen Leiden zu unterscheiden war,
Der Hausarzt diagnostizierte Alzheimerde- führte sie fast ein Jahrhundert lang ein Schat- ment von Selbstwahr­
menz; doch erst die Überweisung ans Memory tendasein. Noch in den 1980er Jahren betrachte- nehmung und sozialer
and Aging Center der University of California in ten Ärzte Morbus Alzheimer als einzig bedeut- Kompetenz.
San Francisco brachte 2009 endlich Klarheit: same Ursache für Demenz. Doch anhand von
Harriet Holliday litt an einer wenig bekannten, Gewebeproben von 158 verstorbenen Demenz-
unheilbaren Hirnerkrankung: frontotemporale kranken stellten der Neuropathologe Arne Brun
Demenz (FTD). Hierbei degenerieren Teile der und der Psychiater Lars Gustafson von der
frontalen und temporalen Hirnrinde, also des schwedischen Universität Lund 1987 fest, dass
Stirn- und Schläfenlappens. 13 Prozent der Patienten tatsächlich an der Pick-
Mit Demenz verbinden die meisten von uns Krankheit oder anderen Formen der frontotem-
den schleichenden Verlust des Erinnerungs- poralen Demenz gelitten hatten.
und Denkvermögens. Doch diese besondere Der Neurologe Bruce Miller, Direktor des Me-
Form raubt ihren Opfern stattdessen ihre sozia- mory and Aging Center in San Francisco, beob­


www.gehirn-und-geist.de 57
frontotemporale Demenz achtete bereits in den 1990er Jahren den auffäl- Grafik rechts). Diese nach dem österreichischen
ligen sozialen Abstieg, den Patienten mit FTD Neurologen Constantin von Economo (1876 – 
typischerweise erleben. Damit unterscheiden 1931) benannten Von-Economo-Neurone (VEN)
sich die Betroffenen deutlich von Alzheimer­ werden im Frühstadium der Krankheit gezielt
patienten, die zunächst ihre sozialen Fähigkei- attackiert, wie ein Team um den Neurologen
ten behalten und oft bis zum Ende warmher- William Seeley von der University of California

mit frdl. Gen. von Howard Rosen, UC San Francisco


zig und empfindsam bleiben. Bei ihnen zerstört in San Francisco 2006 herausfand.
Alzheimerkrankheit die Krankheit zunächst vor allem hintere Hirn­ Die betroffenen Hirnregionen regen sich, so-
regionen, die für Gedächtnis, Sprache und bald wir Hunger, Durst oder Schmerzen spüren –
räumliches Vorstellungsvermögen zuständig oder wenn wir sehen, dass ein anderer Schmerz
sind, und breitet sich erst später auf weiter vorn erleidet. Insbesondere die Inselrinde überwacht
gelegene Bereiche aus. FTD verschont dagegen sowohl unsere eigenen körperlichen Empfin-
meist die hinteren Areale (siehe Bild links oben). dungen als auch die Einfühlung in andere. Die
Miller ist davon überzeugt, dass immer noch ungewöhnliche Größe der VEN, so spekulieren
viele FTD-Fälle übersehen werden, da die Ange- die Forscher, könnte dafür sorgen, dass emotio-
neuronensterben hörigen der Betroffenen – sowie auch zahl- nale Signale aus dem gesamten Gehirn schneller
Weit reichende Gewebeverluste reiche Ärzte – die ersten Anzeichen häufig als Si- miteinander verrechnet werden. Wenn diese
im Stirn- und Schläfenlappen gnale für eine Lebens- oder Ehekrise deuten. So Hirnzellen und das zugehörige neuronale Netz
sind für die frontotemporale hatten nahezu die Hälfte aller FTD-Patienten, absterben, »verlieren die Patienten ganz allmäh-
Demenz typisch (oben). Bei der die an das Memory and Aging Center überwei- lich ihre Mitmenschlichkeit«, meint Seeley.
Alzheimerkrankheit treten sen wurden, zunächst eine falsche Diagnose er-
dagegen größere Schäden vor halten – meistens Alzheimerdemenz, Depressi- Hilflos wie ein Kind
allem in den hinteren Hirn­ on, manisch-depressive Erkrankung, gelegent- Harriet Hollidays Launen ließen sich durch
regio­nen auf (unten), die bei lich auch Schizophrenie. ­Antidepressiva besänftigten. Die inzwischen 55-­
der frontotemporalen Demenz Heilen lässt sich FTD bislang nicht. Ärzte jäh­­rige Frau verhielt sich nun zwar nicht mehr
zunächst verschont bleiben. können lediglich versuchen, die Verhaltenspro- so aggressiv wie sechs Jahre zuvor, wirkte jedoch
bleme mit Medikamenten zu lindern; Psycholo- abwesend und ausdruckslos. »Sie fühlt kaum
gen können die Patienten unterstützend beglei- noch so wie wir«, erklärt ihr Mann Kevin Horo-
ten. Wie Mediziner inzwischen wissen, bilden witz mit sorgenvoller Miene. So verstand sie bei
sich bei etwa der Hälfte der FTD-Patienten in einer Beerdigung nicht, worum so viel Aufhe-
den Nervenzellen der frontal und temporal ge- bens gemacht wurde. Die frühere Harriet war
legenen Hirnregionen toxische Klumpen des eine Modenärrin gewesen – nun musste ihr
auch für die Alzheimerdemenz typischen Tau- Mann ihr jeden Morgen die Sachen herausle-
betroffene Patientin Proteins. In den meisten anderen Fällen werden gen, damit sie nicht das Gleiche wie am Vortag
Harriet Holliday (unten links im die Hirnzellen durch Anhäufungen des Proteins anzog. Horowitz brachte seine Frau drei Tage
Jahr 1999) war vor dem Aus- TDP-43 geschädigt, das auch bei der amyotro- pro Woche in eine Betreuungseinrichtung. Wie
bruch der frontotemporalen phen Lateralsklerose unter Tatverdacht steht. ein kleines Kind musste sie dort ständig beauf-
Demenz eine lebenslustige Angriffspunkt für FTD scheinen besonders sichtigt werden.
Frau. In der Aufnahme rechts große, spindelförmige Hirnzellen zu sein, die Beim Mini-Mental-Status-Test, einem stan-
aus dem Jahr 2010 ist sie nur in den vorderen Regionen des Gehirns exis­ dardisierten Verfahren zur Ermittlung der
zusammen mit ihrem Ehemann tieren – genauer gesagt in der vorderen Insel- grundlegenden geistigen Fähigkeiten einer Per-
Kevin Horowitz zu sehen. rinde und im vorderen zingulären Kortex (siehe son, schnitt sie normal ab. Weitere Untersu-
chungen, die Bruce Miller in San Francisco mit
ihr durchführte, offenbarten jedoch schwere
Defizite beim Problemlösen und Denken, wie
sie bei mittleren bis fortgeschrittenen Stadien
links: mit frdl. Gen. von Kevin Horowitz;  rechts: Ingfei Chen

der Erkrankung typisch sind. Während der Tests


war die Patientin zudem sehr albern, kicherte
und imitierte Tiergeräusche.
Im Vergleich zu anderen Patienten verhielt
sich Holliday noch verhältnismäßig normal. So
brach beispielsweise ein ebenfalls erkrankter
pensionierter Chirurg bei seinem Nachbarn ein,
um Alkohol zu stehlen, und belästigte bei einem
Festessen Frauen mit sexuellen Annäherungs-

58 G&G 4_2012


Charakterzonen
Zu den für Persönlichkeit und
Einfühlungsvermögen beson-
ders wichtigen Hirnregionen
zählen der vordere zinguläre
vorderer zingulärer
Kortex Kortex, die vordere Inselrinde,
die Stirnlappenspitze (frontaler
Pol), der orbitofrontale Kortex
und die Schläfenlappenspitze
vordere
Inselrinde (temporaler Pol).

frontaler Pol

orbitofrontaler
Kortex

temporaler Pol
Melissa Thomas

versuchen. Etwa jeder zweite FTD-Patient Schrecktest löst einen typischen Alarmreflex
kommt mit dem Gesetz in Konflikt und fällt aus. Im Labor erkennen gesunde Menschen nor-
durch Delikte wie Alkohol am Steuer oder La- malerweise jedoch, dass sie getestet werden,
dendiebstahl auf. und belächeln ihre Reaktion. Levenson und sei-
Tomografische Aufnahmen von Hollidays ne Kollegen fanden 2008 heraus, dass die meis­
Gehirn offenbarten Gewebsverluste an den Rän- ten Patienten, die wie Holliday an FTD leiden,
dern des Stirnlappens. Vor allem die Inselrinde, weder verlegen noch amüsiert reagieren (siehe
der vordere zinguläre Kortex sowie der orbito- Grafik S. 61 unten).
frontale Kortex – ein hinter und über den Augen Grundemotionen wie Angst, Zorn, Traurig-
liegendes Areal, das an der Entscheidungsfin- keit oder Freude funktionieren bei FTD-Patien­
dung mitwirkt – zeigten starke Schädigungen. ten zwar oft noch – differenzierte soziale oder
Auch der rechte vordere Schläfenlappen, der für selbstbezogene Gefühle jedoch verkümmern.
die Erkennung von Gefühlen und Gesichtern Sie erfordern die Fähigkeit, einzuschätzen, in-
zuständig ist, hatte deutlich an Volumen ein­ wieweit das eigene Verhalten sozialen Normen
gebüßt. Zusammen mit den Mandelkernen entspricht – und genau das scheint den Betrof-
(Amygdala) sind diese Regionen an komplexen fenen nicht mehr zu gelingen.
Gefühlen und am Sozialverhalten beteiligt. So
konnte der Neurologe Howard Rosen von der Ohne Mitgefühl
University of California in San Francisco mittels Neben ihrem fehlenden Einfühlungsvermögen
bildgebender Verfahren 2005 nachweisen, dass fallen die Patienten durch ihre Gefühlskälte auf.
orbitofrontale Gewebsverluste mit enthemm­ In Filmausschnitten können sie zum Beispiel
tem Verhalten und Schäden am vorderen zingu- nicht mehr erkennen, wann ein Darsteller verle-
lären Kortex mit Apathie einhergehen. gen ist oder sich schämt, und sie zeigen nur we-
Der klinische Psychologe Robert Levenson nig Anteilnahme, wenn sie Bilder von leidenden
von der University of California in Berkeley Menschen sehen. Auch im wirklichen Leben
zeichnete eine Reihe von Emotionstests mit macht sich bei den Patienten der Verlust des
Holliday auf Video auf. In einem davon starrt Mitgefühls bemerkbar. So erlitt die Ehefrau
die verkabelte Patientin ein großes X auf einem eines an FTD erkrankten Rentners einen Ohn- Mehr zum Thema Demenz
Bildschirm an, als plötzlich ein lauter Knall er- machtsanfall. Vom Sohn alarmiert, seine Mutter im nächsten heft (5/2012):
tönt. Sie fährt auf, fasst sich an die Brust, die müsse sofort ins Krankenhaus, bemerkte der Serie »Die großen
blauen Augen vor Angst geweitet – dann sitzt sie gärtnernde Vater nur lakonisch: »Ich muss mich G&G-Themen«
einfach nur da und schaut sich um. Eine andere, erst um meine Setzlinge kümmern.« – »Und Teil 4: Alzheimer & Co. –
gesunde Probandin dagegen erschrickt – und mit diesem Mann war ich 44 Jahre verheiratet«, Das kranke Gehirn
fängt gleich darauf an zu lachen. Der akustische erzählte die Frau später voll Bitterkeit.

www.gehirn-und-geist.de 59
Pflegende Angehörige haben mit einer sozia- nichtung ihrer Stirnlappen könnte erklären, wa-
len Demenz besonders hart zu kämpfen. »Es ist rum sie nun geradezu unterwürfig und naiv
viel schlimmer und schmerzlicher, wenn ein wirkte. Persönlichkeit resultiert somit nicht ein-
Mensch, den Sie lieben, zwar noch weiß, wer Sie fach nur aus der Hirnchemie, meint Rankin.
sind, Sie ihm aber nichts mehr bedeuten«, er- Zwischenmenschliche Charakterzüge spiegeln
klärt Levenson. Diese Zurückweisung kränkt sich vielmehr in Hirnstrukturen wider und ver-
nicht nur. »Das macht einen rasend!« fügen »über eine eigene Anatomie«.
Die Neuropsychologin Katherine Rankin von Wie Rankin jedoch betont, lassen sich die
der University of California in San Francisco anatomischen Grundlagen von Persönlichkeits-
identifizierte 2009 die Hirnregionen, die bei merkmalen nie auf einzelne Hirnstrukturen
derartigen Ausfällen im Sozialverhalten betrof- eingrenzen. Wichtiger scheint vielmehr zu sein,
fen sind (siehe Kasten unten). So schien Holli- wie gut bestimmte Regionen zusammenarbei-
day vermutlich auf Grund der Atrophie ihres ten und zu so genannten intrinsischen Netz­
Schläfenlappens nicht mehr unterscheiden zu werken verknüpft sind. Inzwischen stellte sich
können, wann eine Stimme traurig, fröhlich heraus, dass einige der Schlüsselregionen, die
oder sarkastisch klang. Die weit reichende Ver- Rankin mit menschlicher Wärme in Verbindung

Im Fadenkreuz: Gehirn und Persönlichkeit


Von Patienten mit frontotemporaler Demenz lernen Forscher, grauen Substanz in bestimmten Teilen des Stirnlappens zu-
wie sich Persönlichkeit und Sozialverhalten im Gehirn wider- sammen, wie Hirnscans ergaben. Alzheimerpatienten, bei
spiegeln. In einer 2009 veröffentlichten Studie baten Wissen- ­denen sich die Krankheit bereits auf einige Frontalbereiche
schaftler um Katherine Rankin von der University of California ausgebreitet hat, zeigten ähnliche, wenn auch nicht ganz so
in San Francisco die Angehörigen von 214 Personen mit neu­ stark ausgeprägte Symptome. Die auffallende Gefühlskälte
rodegenerativen Erkrankungen oder leichten kognitiven Stö- fand sich jedoch nur bei FTD-Patienten.
rungen, die Patienten mit einer Skala von 64 Eigenschaften Offensichtlich geht das Einfühlungsvermögen im Alltag

Sollberger, M.  et al.: Neural basis of interpersonal traits in neurodegenerative diseases. In: Neuropsychologia 47, S. 2812–2827, 2009, fig. 1 + 4 C; Abdruck genehmigt von Elsevier / CCC
wie »schüchtern« oder »hartherzig« einzuschätzen. Damit verloren, wenn der Abbau ­be­stimmte Teile der rechten Hemi-
konnten die Forscher den Charakter der Betroffenen entlang sphäre – insbesondere des Schläfenlappens, des orbitofronta-
der vier Persönlichkeitsachsen Dominanz–Unterwürfigkeit, len Kortex, der vorderen Inselrinde sowie des rechten Mandel-
Gefühlskälte–Warmherzigkeit, Introversion–Extraversion und kerns – betrifft (siehe Hirnscans rechts). »Diese Strukturen«, so
Arroganz–Naivität einstufen (siehe Grafik links). Rankin, »brauchen wir anscheinend, um ein warmherziger,
Im Vergleich zu 43 gesunden älteren Personen erwiesen kontaktfreudiger Mensch zu sein.«
sich FTD-Patienten als weniger durchsetzungsfähig und intro- (Sollberger, M. et al.: Neural Basis of Interpersonal Traits in Neurodegene-
vertierter. Die Ergebnisse hingen eng mit dem Schwund der rative Diseases. In: Neuropsychologia 47, S. 2812 – 2827, 2009)

Dominanz
orbitofrontaler
Kortex
Arroganz Extraversion
rechte rechte
Hirnhälfte Hirnhälfte

Gefühls- Warmherzigkeit
kälte

Introversion Naivität

Unterwürfigkeit vordere Inselrinde mittlere Schläfenlappenbereiche/Mandelkern

Zunehmend kälter
Patienten mit frontotemporaler Demenz reagieren weniger warmherzig, durchsetzungsfähig und
extravertiert als gesunde Menschen. Ihre Persönlichkeit lässt sich in der grafischen Darstellung (links)
somit im unteren linken Quadranten des Kreises verorten. Diese Verschiebung des Charakters scheint
auf Gewebsverluste in der rechten Hirnhälfte zu beruhen. Betroffen sind vor allem die vordere Inselrinde,
der orbitofrontale Kortex und der rechte Mandelkern (rechts).

60 G&G 4_2012


Wachsende Vernichtung
Im Verlauf der frontotemporalen
Demenz vom Anfangsstadium
(links) bis zu den späteren
Phasen (rechts) breiten sich
vorderer
zingulärer geschädigte und abgestorbene
Kortex Gewebe (gelb, orange) in Be-
reichen des Stirnlappens immer
mit frdl. Gen. von William W.  Seeley, UC San Francisco

weiter aus. Der Verfall beginnt


offenbar im vorderen zingulären
Kortex (obere Reihe) und in der
vorderen Inselrinde (unten), in
vordere
Inselrinde denen ein Netzwerk für soziales
Mitgefühl und menschliche
Wärme verankert ist.

brachte, zu einem solchen Netzwerk gehören: Inzwischen loten Ärzte die wenigen Behand-
vor allem die vordere Inselrinde und der vorde- lungsmöglichkeiten für soziale Demenz aus. So
re zinguläre Kortex (siehe Bilder oben). Wie Ran- erproben Forscher der University of California
kins Kollege William Seeley vermutet, filtern die in San Francisco den experimentellen Wirkstoff
darin verschalteten Neurone rasend schnell aus Methylthioniniumchlorid an FTD-Patienten.
allen Sinneseindrücken, Gefühlen und sozialen Das unter den Namen »Rember« vertriebene
Signalen, die das Gehirn in jeder Sekunde über- Alzheimermittel soll toxische Tau-Proteinan- Quellen
schwemmen, die wichtigsten heraus. Das Netz- sammlungen in Neuronen verhindern. Holliday Levenson, R. W., Miller, B. L.:
werk analysiert somit, was gerade für den Kör- käme für eine solche Teststudie in Frage; doch Loss of Cells – Loss of Self:
per wichtig ist – sei es Hunger, sei es eine ange- angesichts ihrer fortgeschrittenen Hirnatrophie Frontotemporal Lobar Dege­
spannte zwischenmenschliche Situation. dürfte ihr die Therapie kaum noch helfen. neration and Human Emo­
Die Krankheit hat den Traum des Ehepaars tion. In: Current Directions
Zerrissenes Netz Holliday-Horowitz vom gemeinsamen Lebens­ in Psychological Science 16,
Bricht dieser Mechanismus zusammen, reagie- abend in Mexiko zerstört. Horowitz sieht einer S. 289 – 294, 2007
ren die Betroffenen nicht mehr auf soziale Si- düstereren Zukunft entgegen: »Ich gehe mit ihr Seeley, W. W. et al.: Anteri-
gnale und können kaum noch abschätzen, was bis zum bitteren Ende.« Aber inmitten dieses or Insula Degeneration in
ihr Tun für ihre Mitmenschen bedeutet, erklärt Albtraums ist er entschlossen, »irgendeinen Nut­ Frontotemporal Dementia.
Seeley. »Sie können nicht mehr erkennen, dass zen darin zu sehen«. Die kranken Gehirne von In: Brain Structure and Func­
andere Menschen wichtig sind«, ergänzt Kathe- Harriet Holliday und anderen können wertvolle tion 214, S. 465 – 475, 2010
rine Rankin. Hinweise für eine mögliche Heilung liefern –
Seeley hofft, mit verbesserten Methoden und zeigen, was uns menschlich macht. Ÿ Weitere Quellen im Internet:
­herauszufinden, wie die zu den intrinsischen www.gehirn-und-geist.de/
Netzwerken gehörenden Hirnregionen bei FTD- Ingfei Chen ist freie Wissenschaftsjournalistin in San artikel/1141167
Pa­tienten verschaltet sind. Dann könnte die Francisco (USA).
Krankheit vielleicht früher diagnostiziert wer-
den, und experimentelle Behandlungsansätze
ließen sich erproben. Vielleicht wird es in Zu- Schrecktest
40
kunft auch möglich sein, Umfang und Verknüp- Ein lauter Knall erschreckt jeden.
fung der neuronalen Netzwerke per Hirnscan so Sofern keine Gefahr besteht,
Anteil in Prozent

Gehirn&Geist, nach: Robert W.  Levenson, UC Berkeley

30
genau zu erfassen, dass damit sogar das Einfüh- lachen oder erröten daraufhin
lungsvermögen eines Menschen gemessen oder mehr als ein Drittel der Gesunden 20
einige grundlegende Aspekte seiner Persönlich- aus Verlegenheit über ihre Reak­
keit wie etwa Ängstlichkeit bestimmt werden tion (oranger Balken). Dagegen 10
könnten. Viele Wissenschaftler sind jedoch zeigen nur wenige Patienten mit
skeptisch, ob die Erkenntnisse über die »Anato- frontotemporaler Demenz solche 0
gesunde FTD-
mie der Persönlichkeit« jemals so weit gediehen Reaktionen (roter Balken). Probanden Patienten
sein werden.


www.gehirn-und-geist.de 61
hirnforschung ı SERIE »DIE GROSSEN G&G-THEMEN« TEIL 3

Zoom in die Denkzentrale


Vor 20 Jahren entstand der erste Hirnscan per funktioneller Magnetresonanz­
tomografie. Heute ist die Methode aus der Hirnforschung nicht mehr weg­
zudenken und hat weiteren Techniken den Weg bereitet. G&G begleitete die
­rasante Entwicklung des Neuroimaging seit der ersten Ausgabe.

Von Anna von Hopffgarten

D ie Geburt der Hirnbildgebung war stra-


pa­ziös. Der amerikanische Neurochirurg
­Walter Edward Dandy stach im Jahr 1919 eine
siehe Kasten S. 64) dreidimensional und äu­
ßerst detailliert abbilden.
Interessant für Psychologen und kognitive
Nadel in den Rückenmarkskanal eines Patienten Neurowissenschaftler wurde die MRT aber erst
und tauschte über ein Schlauchsystem die vor 20 Jahren. Forscher entdeckten, dass das
austre­ten­de Gehirnflüssigkeit gegen Luft aus. Blut je nach Sauerstoffgehalt unterschiedliche
Als das Nervenwasser fast vollständig ersetzt magnetische Eigenschaften hat, die sich im
SERIE IM ÜBERBLICK war, drehte er seinen Patienten auf einem ro­ Scanner registrieren lassen. Da die Aktivität von
Die großen tierbaren Stuhl mit dem Kopf nach unten und Nervenzellen im Gehirn mit einer verstärkten
G&G-Themen durchleuchtete den Schädel mit Röntgenstrah­ Durchblutung des entsprechenden Areals ein­
len. Die resultierende Aufnahme zeigte eine dif­ hergeht (siehe Kasten S. 65), war klar: Die so
Teil 1: Wie alles begann. fuse, von einem weißen Schleier umgebene ­genannte funktionelle Magnetresonanztomo­
Ein Rückblick auf zehn Struktur – das Gehirn. grafie (fMRT) erlaubt es – wenn auch indirekt –,
Jahre G&G (1-2/2012) Pneumenzephalografie nannte Dandy seine dem Gehirn bei der Arbeit zuzusehen, während
Teil 2: Willensfreiheit und Erfindung, die im frühen 20. Jahrhundert die sein Besitzer etwa Bilder betrachtet oder Denk­
Bewusstsein (3/2012) Neurologie revolutionierte. Durch die unter­ aufgaben löst. »Erstmals konnten Forscher nach
Teil 3: Blick ins Gehirn – schiedliche Dichte von Luft und Hirnmasse den neuronalen Korrelaten kognitiver Prozesse
Neuroimaging und die konnten erstmals Tumoren und Läsionen im suchen«, erklärt Rainer Goebel, Leiter des Maas­
Folgen (4/2012) Gehirn lokalisiert werden, ohne die Schädel­ tricht Brain Imaging Centre in Holland.
Teil 4: Alzheimer & Co. decke zu öffnen. Die Methode war allerdings
Das kranke Gehirn (5/2012) ­äußerst schmerzhaft und gefährlich für die Pa­ Dem »Unbewussten« auf der Spur
Teil 5: Psychotherapie tienten – Kopfschmerzen und Erbrechen waren Tatsächlich hat die fMRT der Hirnforschung in
und seelische Gesundheit meist die Folge, manche erlitten sogar epilep­ den letzten 20 Jahren zu faszinierenden Erkennt­
(6/2012) tische Anfälle. nissen verholfen. So war etwa das Phänomen der
Teil 6: Kinder, Erziehung, Heute geht der Blick ins Denkorgan deutlich unbewussten Wahrnehmung unter Experimen­
Neurodidaktik (7-8/2012) bequemer vonstatten. Ausgestreckt auf einer talpsychologen zuvor tabu. 1998 veröffentlichte
Teil 7: Psychogenetik – Liege, ein Kopfkissen im Nacken, liegt der Pati­ dann Paul Whalen, damals an der Harvard Medi­
vom Erbgut zum Verhalten ent in einer Röhre und muss lediglich Enge und cal School in Boston, eine fMRT-Studie, die das
(9/2012) Lärm über sich ergehen lassen. Doch nicht nur mit einem Schlag änderte. Whalen wies nach,
Teil 8: Glaube und Neuro- der Komfort hat sich durch die Anfang der dass unbemerkt präsentierte Bilder von ängst­
theologie: Wo Gott wohnt 1970er Jahre unter anderem von den späteren lichen Gesichtern die Aktivität der Mandelkerne
(10/2012) Nobelpreisträgern Paul Lauterbur und Peter enorm steigerte. Mittlerweile ist belegt, dass bei
Teil 9: Die Gabe der Mansfield entwickelte Magnetresonanztomo­ vielen kognitiven Vorgängen unbewusste Pro­
­Sprache (11/2012) grafie (MRT) verbessert. Produzierte die Pneu­ zesse ablaufen – etwa bei der Konsolidierung,
Teil 10: Chancen und menzephalografie noch äußerst verschwom­ also der Verfestigung, von Gedächtnisinhalten.
Risiken des Neuro­ mene zweidimensionale Bilder, lässt sich das Zwar hatte man schon früher Hirnarealen be­
enhancements (12/2012) Gehirn per MRT und auch mit der etwa zeit­ stimmte Funktionen zugeschrieben, wenn etwa
gleich entwickelten Computertomografie (CT, ihre Beschädigung zu Ausfällen führte. Doch

62 G&G 4_2012


kritischer Blick
Bilder aus dem Hirnscanner
verraten manches über die
Arbeit unseres Denkorgans –
wenn man sie richtig zu
interpretieren weiß.
Gehirn&Geist / Martin Burkhardt


www.gehirn-und-geist.de 63
durch die fMRT gelang das nun viel sicherer. »Zu auf diesem Gebiet ist der Tübinger Hirnforscher
Mehr zum thema Beginn der funktionellen Bildgebung gab es Nikos Logothetis, der damit die Interaktionen
> »Wir wollen die nächste ständig neue Hirnareale zu vermelden«, so Goe­ zwischen verschiedenen Hirnarealen misst.
Phase der Hirnforschung bel. Als man die groben Zuständigkeiten kannte, Doch die bunten Bilder aus dem Hirnscan­
einläuten« beispielsweise die Rolle des so genannten fusi­ ner bereichern nicht nur die Grundlagenfor­
Interview mit dem formen Gyrus als Gesichtserkennungsareal, än­ schung. Die Methode ist auch in der Praxis
Neuro­imaging-Experten derten sich die Fragestellungen jedoch wieder. ­angekommen. So berichtete Herta Flor vom
Rainer Goebel (S. 67) »Heute interessieren wir uns weniger für das Wo Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) in
als für das Wie«, erklärt der Psychologe und In­ Mannheim in G&G (Heft 1-2/2010, S. 50), wie
formatiker (siehe auch Interview ab S. 67). So un­ Psychiater und Psychotherapeuten von der
tersuchen Hirnforscher zunehmend, wie ver­ fMRT profitieren könnten. Zwar eignen sich
schiedene Hirnareale zusammenarbeiten. bildgebende Verfahren derzeit noch nicht zur
Au f ei n en B l ic k Individualdiagnostik, so die Psychologin. Aber

Bilder des Verkabelungen der Psyche sie liefern Hinweise auf mögliche Ursachen und
Wie die Regionen miteinander verdrahtet sind, machen außerdem die Wirkung von Psychothe­
Geistes lässt sich beispielsweise durch die Diffusions- rapie physiologisch nachvollziehbar. Ein will­

1 Die funktionelle Tensor-Bildgebung (siehe G&G 6/2011, S. 64) kommener Begleiteffekt: Auch Patienten und
Magnetresonanz­ auf­klären. Diese Variante der Magnetresonanz­ Angehörige lassen sich mit Hirnaufnahmen oft
tomografie (fMRT) tomografie misst die Bewegung von Wasser­ leichter von der Richtigkeit einer Behandlung
ermög­licht es, kognitive molekülen im Gehirn. Weil das Wasser in lang überzeugen.
­Prozesse im Gehirn zu gestreckten Zellen wie Neuronen bevorzugt in Martin Hautzinger von der Universität Tü­
beobachten. Richtung der Längsachse hin- und herflottie- bingen ist allerdings skeptisch, ob man am
ren, erlaubt das Verfahren, große Nervenfasern Hirnscan wirklich erkennen kann, wenn bei psy­

2 Da die Methode nur


indirekt neuronale
Aktivität misst, müssen
sichtbar zu machen. Auch manche neurologi­
schen Erkrankungen, die mit geschädigten Ner­
chischen Störungen physiologisch etwas aus
dem Lot geraten ist (G&G 1-2/2010, S. 58). »Wir
venbahnen einhergehen, lassen sich damit dia­ wissen viel zu wenig darüber, was dieses Lot
die Messdaten mit
gnostizieren. überhaupt ist.« Man bräuchte eine riesige Stich­
Vorsicht interpretiert
Bei einem anderen Verfahren, der so genann­ probe von standardisierten Hirnscans, um so
werden.
ten esfMRT (von englisch: electrical stimulati­ ­etwas wie »normale« Hirnaktivierungen bei ei­

3 Forscher entwickeln
das Verfahren immer
weiter. In Zukunft könnte
on), reizen Forscher bestimmte Hirnareale und
beobachten per fMRT, wie sich die Erregung im
Gehirn ausbreitet. Dazu erzeugen sie etwa ein
ner ganz bestimmten Aufgabe oder einem Reiz
auch nur ansatzweise definieren zu können, so
der Psychologe.
es sogar möglich sein, per starkes Magnetfeld an der Schädeldecke über Das berührt ein allgemeines Problem der
fMRT Gedanken zu lesen. der entsprechenden Region oder stimulieren ­fMRT-Bildgebung: »Weil wir mit dieser Me­
die Neurone mit einer feinen Elektrode. Pionier thode nur Durchblutungsänderungen messen,
können wir Hirnaktivität nicht absolut quantifi­
zieren«, so Rainer Goebel. Es geht also immer
Verfahren der Hirnbildgebung um »Mehr-Aktivität« verglichen mit anderen
Hirnzuständen, nie um absolute Werte. Das ma­
Bei der Computertomografie (CT) wird der Körper des Patienten schichtwei- che die Vergleichbarkeit zwischen Versuchsper­
se von Röntgenstrahlen durchleuchtet. Ein Computer setzt anschließend die sonen enorm schwierig. Allein eine Tasse Kaffee
Daten zu einem dreidimensionalen Bild zusammen. Vor allem Hirntumoren am Morgen könne dazu führen, dass sich der
und Blutungen können damit gut untersucht werden. Ein Nachteil ist die Blutfluss im Gehirn gravierend verändert. Um
hohe Strahlenbelastung, der die Patienten ausgesetzt sind. eine psychische Störung richtig einordnen und
Die Magnetresonanztomografie (MRT) misst das physikalische Verhalten gezielt behandeln zu können, müsse man daher
von Wasserstoffkernen im Gewebe. Die Drehachsen der Kerne richten sich möglichst viele Quellen berücksichtigen, meint
im MRT-Scanner an einem starken Magnetfeld aus. Durch ein elektromag­ Martin Hautzinger. Dazu gehörten Gespräche
netisches Signal werden sie angeregt. Sobald sie wieder in ihren ursprüng- und Fragebögen ebenso wie Verhaltenstests
lichen Zustand zurückspringen, senden sie Wellen aus, die vom Gerät gemes- und Hirnscans.
sen und per Computer zu dreidimensionalen Bildern verarbeitet werden. Die Wenn die fMRT auch bahnbrechende Er­
fMRT erfasst die Durchblutung des Gehirns (siehe Kasten rechts). kenntnisse hervorgebracht hat – kaum eine neu­
Die Positronenemissionstomografie (PET) registriert die Verteilung einer rowissenschaftliche Methode hat so viele hitzige
zuvor injizierten radioaktiv markierten Substanz im Körper. Das erlaubt Debatten provoziert wie die bunten Hirnbilder.
Rückschlüsse auf Stoffwechselvorgänge im Gewebe. Zu indirekt, zu ungenau, zu langsam, monieren
die Kritiker. Schließlich gebe das Verfahren le­

64 G&G 4_2012


Bisherige Highlights
Was misst die funktionelle Magnetresonanztomografie? zum Thema
In G&G 6/2004:
Anders als oft angenommen, weisen die bunten Flecken auf Hirnscans nur indirekt auf neuro-
> Das Manifest (S. 30)
nale Aktivität hin. Denn die fMRT registriert die Durchblutung des Nervengewebes (Bilder un-
Elf führende Neurowissen-
ten). Schon 1935 stellten Linus Pauling und Charles D. Coryell fest, dass die magnetischen Eigen-
schaftler über Gegenwart und
schaften des Blutfarbstoffs Hämoglobin variieren, je nachdem, ob er mit Sauerstoff beladen ist
Zukunft der Hirnforschung
oder nicht. Wie Forscher Anfang der 1990er Jahre entdeckten, lassen sich diese Änderungen als
»BOLD«-Signal (blood oxygen level dependent) im Kernspintomografen erfassen. In Hirnare- In G&G 3/2009:
alen, die gesteigert durchblutet werden (rechtes Bild), erhöht sich die Konzentration an sauer- > Warum das Gehirn kein
stoffbeladenem Hämoglobin in den Blutgefäßen, da die Nervenzellen weniger Sauerstoff ver- Schweizer Taschenmesser ist
brauchen, als nachgeliefert wird. Die Folge: Das fMRT-Signal wird stärker. Doch wie hängt das (S. 29)
mit der Hirnaktivität zusammen? Nikos Logothetis vom Max-Planck-Institut für biologische Michael Shermer erläutert,
­Kybernetik in Tübingen konnte durch zeitgleiche Messungen mit Spezialelektroden zeigen, dass warum Bilder aus dem
das BOLD-Signal weniger mit dem Feuern der Neurone als mit der synaptischen Aktivität zu- Hirnscanner uns zu falschen
sammenhängt – also dem Einlaufen von Signalen aus anderen Hirnregionen. Vorstellungen vom Gehirn
verleiten
Blutflu In G&G 1-2/2010:
ss
Blutfl > Bilder für eine gesunde
uss
Psyche (S. 50)
Wie Diagnose und Therapie
seelischer Leiden von der
funktionellen Bildgebung
profitieren können, erklärt die
Neuropsychologin Herta Flor
Gehirn&Geist / MEGANIM

Hämoglobin
In G&G 3/2010:
Sauerstoff
> Mit Hirnscans zum Seelen-
heil? (S. 28)
Die Mediziner Gerd Rudolf
diglich Auskunft über den Blutfluss im Gehirn, venverbände an. Um die Daten vernünftig inter­ und Peter Henningsen
mit neuronaler Aktivität habe das nur sekundär pretieren zu können, müssten sie mit weiteren ­diskutieren, ob der Blick ins
zu tun. Das sei etwa so, als versuchte man die Methoden wie etwa Einzelzellableitung bei Tie­ Gehirn Psychotherapie
Funktionsweise eines Computers zu ergründen, ren oder EEG bei Menschen kombiniert werden, unterstützen kann
indem man seinen Stromverbrauch messe, wäh­ so der Neurowissenschaftler.
In G&G 6/2011:
rend er verschiedene Aufgaben abarbeite. Bitter stößt vielen Forschern auch der
> Der Traum vom Gedanken-
schlampige Umgang mit der statistischen Aus­
lesen (S. 14)
Indirekt, aber aufschlussreich wertung von fMRT-Daten auf. Während einer
Der Neurobiologe Daniel Bor
Indirekt sei die Methode schon, aber dennoch Messung nimmt der Scanner eine gigantische
über die Frage, ob sich
sehr aufschlussreich, entgegnen die Befürwor­ Datenmenge auf, die anschließend mittels sta­
Denkinhalte an Aktivitäts­
ter. So konnte etwa Nikos Logothetis durch tistischer Verfahren ausgewertet wird. Kompli­
mustern des Gehirns
gleichzeitige Einzelzellableitungen und fMRT zierte Algorithmen berechnen für jeden drei­
ablesen lassen
bei Affen zeigen, dass das Signal des Hirnscan­ dimensionalen Bildpunkt, in der Fachsprache
> Pfadfinder durch die weiße
ners durchaus mit neuronalen Antworten ein­ »Voxel« genannt, ob sich dessen Aktivität zwi­
Substanz (S. 64)
hergeht – allerdings weniger mit dem Feuern schen verschiedenen Versuchsbedingungen
Rainer Goebel und Jan
der Nervenzellen als mit der synaptischen Akti­ ­unterscheidet. Da für jeden der rund 100 000
­Zimmermann erklären die
vität, also damit, wie viele Botenstoffe eine Sy­ Voxel ein statistischer Test durchgeführt wird,
Methode der Diffusions-­
napse ausschüttet. kann es zu vielen falsch positiven Ergebnissen
Tensor-Bildgebung
Dennoch gibt es laut Logothetis ein weiteres kommen. Dafür gibt es eigentlich mathema­
Problem: Die Stärke des fMRT-Signals werde tische Korrekturverfahren, die allerdings oft un­ In G&G 10/2011:
maßgeblich durch die Zahl der aktiven Neurone genutzt bleiben. > Lenke dein Gehirn! (S. 28)
bestimmt. Doch für viele Wahrnehmungs- und Auf dieses methodische Problem wollten Neurofeedback per fMRT
Denkleistungen sei die Masse gar nicht ent­ Craig Bennett und sein Team von der University
scheidend. Vielmehr komme es auf das Zusam­ of California in Santa Barbara 2009 mit einem
menspiel verschiedener, eng umgrenzter Ner­ kuriosen Experiment hinweisen: Die Forscher


www.gehirn-und-geist.de 65
Historische Stationen der Hirnbildgebung
1975
1919 Erfindung der Positronen­
Walter Dandy führt die Technik emissionstomografie (PET)
der Pneumenzephalografie ein.
Hierbei wird die Zerebrospinal- 1924 1968
flüssigkeit um das Gehirn durch Erstes Elektro­- Erste Hirnstrommessung 1992
Luft ersetzt. Die Hirnstruktur enzephalogramm (EEG) per Magnetoenzepha­ Beginn der
lässt sich so besser auf Röntgen- beim Menschen lografie (MEG) durch fMRT-Bildgebung
bildern erkennen. David Cohen mit Hilfe des
BOLD-Signals

1927 1973
Egas Moniz (Nobelpreisträger von Einführung der Computertomo-
1949) führt die zerebrale Angiografie grafie (CT) sowie erste Arbeiten zur
ein. Mit ihr lassen sich Blutgefäße im Magnetresonanz­tomografie durch
Röntgenbild darstellen. Paul Lauterbur und Peter Mansfield
(2003 mit dem Medizinnobelpreis
aus­gezeichnet)

KURZ ERKLÄRT legten einen toten Lachs in einen Hirnscanner in G&G (6/2011, S. 14). So konnten Forscher mit
Ein Voxel ist das dreidimen­ und präsentierten ihm Fotos von Menschen in Hilfe eines komplizierten Rechenverfahrens al­
sionale Pendant zu einem unterschiedlichen sozialen Situationen. Wie die lein anhand von fMRT-Daten mit einer Wahr­
Pixel, also der kleinste Be- Auswertung der fMRT-Daten ergab, traten im scheinlichkeit von bis zu 80 Prozent korrekt
reich, den man per MRT ab- Gehirn des Fischs tatsächlich vereinzelt höhere identifizieren, welches von zwei Objekten eine
bilden kann. Ein typischer Aktivierungen bei Präsentation der Fotos auf als Testperson gesehen hatte.
Voxel von 55 Kubikmillimeter unter einer Ruhebedingung! Rainer Goebel verfolgt noch eine andere
enthält etwa 5,5 Millionen Fährte: Neurofeedback per fMRT. Hierbei lernen
Neurone. Immer feinere Details Probanden, ihre neuronale Aktivität selbst zu
Als BOLD-Signal (von englisch: Trotz zahlreicher kritischer Stimmen sind sich beeinflussen. Während sie in der Röhre liegen,
blood oxygen level depen- die meisten Hirnforscher und Psychologen da­ bekommen sie auf einem Bildschirm die Reak­
dent) bezeichnen Forscher die rin einig, dass die Bilder aus dem Hirnscanner – tion eines bestimmten Hirnareals quasi in Echt­
Änderung des Blutflusses in sorgfältig analysiert und behutsam interpre­ zeit zurückgemeldet. Konzentrieren sie sich
einem Hirnareal, die per fMRT tiert  – momentan die zuverlässigsten Auf­ nun auf verschiedene Aufgaben, etwa in Gedan­
registriert wird. schlüsse über die Funktionsweise des mensch­ ken durch die heimische Wohnung zu gehen,
Die Diffusions-Tensor-Bild­ lichen Denkorgans liefern. Forscher arbeiten löst das typische Aktivierungsmuster aus, die
gebung (DTI) macht die Wan- zudem permanent daran, die Methode zu ver­ sich mit einiger Übung steuern lassen. Neue
derung von Wassermo­lekülen bessern. So entwickeln sich auch die Scanner Echtzeit-Hirnscanner erlauben dabei sogar eine
im Gehirn sichtbar. Das er- immer weiter. Konnten die ersten Geräte nur Rückmeldung aus tieferen Hirnregionen, die
laubt es, Verknüpfun­gen von Bereiche von etwa vier bis fünf Millimetern auf­ etwa für Emotionen wichtig sind.
Hirnarealen aufzuklären. lösen, offenbaren heute übliche Scanner schon »Das fMRT-Neurofeedback wird mehr und
Details von nur zwei Millimeter Größe. Moder­ mehr zu einem klinischen Hilfsmittel«, sagt
ne »Hochfeldscanner« mit besonders starken Goebel. So zeigen erste Studien, dass die Metho­
Quellen Magnetfeldern haben sogar eine Auflösung von de die Symptome von depressiven Patienten re­
Logothetis, N.: What We Can unter einem Millimeter. »Das eröffnet ganz duzieren kann. Bei neueren Verfahren sehen die
Do and What We Cannot Do neue Möglichkeiten«, schwärmt Rainer Goebel. Betroffenen nicht nur, wie stark ein Areal ak­
with fMRI. In: Nature 453, S. Der Psychologe träumt schon vom Gedan­ tiviert ist, sondern auch, wie es andere Regionen
869 – 878, 2008 kenlesen per fMRT: »Wir wollen in die Hirnare­ beeinflusst. »Wir hoffen, damit irgendwann
Raichle, M. E.: A Brief History ale hineinzoomen und untersuchen, wie einzel­ auch andere Störungen wie Schizophrenie be­
of Human Brain Mapping. In: ne Komponenten kognitiver Leistungen darin handeln zu können.« Möglicherweise könnten
Trends in Neurosciences 32, kodiert sind.« Das reicht von der Frage, wie ge­ die Patienten auf die Weise Hirnareale wieder
S. 118 – 126, 2008 nau Gesichter im Areal für Gesichtserkennung miteinander in Einklang bringen, die nicht
repräsentiert sind, bis zu dem Rätsel, warum mehr richtig zusammenarbeiten, so der Psycho­
Weitere Quellen im Internet: Dyslexiker die Buchstaben p und q verwechseln. loge. »Doch das ist noch Zukunftsmusik.« Ÿ
www.gehirn-und-geist.de/ Über erste Erfolge in Sachen Gedankenlesen
artikel/1142086 per Hirnscan berichtete der Neurowissenschaft­ Anna von Hopffgarten ist promovierte Biologin und
ler und Wissenschaftsautor Daniel Bor ebenfalls G&G-Redakteurin.

66 G&G 4_2012


hirnforschung ı Interview

»Wir wollen die nächste Phase


der Hirnforschung einläuten«
Techniken der funktionellen Bildgebung haben unser Wissen über das Gehirn
revolutioniert – und entwickeln sich derzeit rasant weiter. Der Psychologe
und Infor­matiker Rainer Goebel von der Universität Maastricht berichtet, was
das Neuroimaging heute zu leisten vermag und was die Zukunft bringen wird.

Die funktionelle Magnetresonanztomogra- erhalten. Für mich ist das EEG erst durch die
fie (fMRT) feiert 2012 ihr 20-jähriges Jubiläum. fMRT so richtig interessant geworden.
Inzwischen ist sie aus den Neurowissenschaften Wie hat sich die funktionelle Bildgebung in
und der Psychologie nicht mehr wegzudenken. den letzten beiden Jahrzehnten entwickelt?
Wie hat sie diese Disziplinen verändert? Rein technisch hat sich vor allem die räumliche
Früher konnten Forscher nur vergleichsweise Auflösung verbessert – von etwa vier bis fünf
einfache Modelle über die Arbeitsweise des Ge­ Millimetern zu Beginn der 1990er Jahre auf
hirns aufstellen. Dank fMRT können wir nun zwei bis drei Millimeter bei heute üblichen
­direkt die neuronalen Korrelate verschiedener Scannern. Die neuesten Geräte mit extrem
geistiger Leistungen ergründen. Das erlaubt starken Magnetfeldern können sogar nur ein
uns, die zu Grunde liegenden Vorgänge auf ei­ Kubikmillimeter große Gewebeabschnitte er­
ner tieferen Ebene zu verstehen. Ein Beispiel aus fassen. Wir können heute also viel kleinere Akti­
der Aufmerksamkeitsforschung: Vor der Bildge­ vierungsbereiche beschreiben als früher.
Rainer Goebel bung gab es eine große Diskussion darüber, ob Haben sich auch die Fragestellungen der
> Geboren 1964 in Fulda wir unsere Aufmerksamkeit auf Reize lenken, Hirnforscher gewandelt?
> Studierte Psychologie und bevor oder nachdem wir ihre Bedeutung erfasst Ja. In den ersten zehn Jahren konzentrierten sich
Informatik an der Philipps- haben. Die fMRT beendete die Debatte. Wissen­ Wissenschaftler vor allem darauf, Hirnarealen
Universität Marburg und schaftler bemerkten, dass sich die neuronale bestimmte Funktionen zuzuordnen. Es herrsch­
promovierte an der Tech- Aktivität bereits in der primären Sehrinde ver­ te eine regelrechte Goldgräberstimmung. Das
nischen Universität Braun- ändert, wenn wir einen visuellen Stimulus an Areal, das am spezifischsten auf einen bestimm­
schweig ­einer bestimmten Position im Raum erwarten – ten Stimulus reagierte, galt fortan als Experte
> 1995 – 1999 Postdoc bei Wolf noch bevor er überhaupt erscheint. für den entsprechenden kognitiven Aspekt –
Singer am Max-Planck-­ Waren solche Erkenntnisse nicht schon durch etwa für Gesichtsverarbeitung, Worterkennung
Institut für Hirnforschung in die Elektroenzephalografie (EEG) und die Mag­ oder das Kurzzeitgedächtnis. Später wollte man
Frankfurt am Main netoenzephalografie (MEG) möglich? dann vor allem wissen, wie die Hirnregionen zu­
> Seit 2000 Professor für Das Problem dieser Methoden ist ihre schlechte sammenarbeiten. Auch die Stärke der Aktivie­
Kognitive Neurowissen­ räumliche Auflösung. Zwar ließen sich damit be­ rung wurde zunehmend interessant. Statt etwa
schaften an der reits Aussagen über allgemeine Veränderun­gen zu fragen: »Ist das Gesichtsareal aktiv, wenn
Universität Maastricht in neuronalen Aktivierungsmustern machen – ich ein Gesicht sehe?«, interessiert Forscher in­
> Direktor des Maastricht Brain und das mit sehr hoher zeitlicher Auf­lösung –, zwischen eher, ob es stärker oder weniger stark
Imaging Centre (M-BIC) jedoch waren diese nur schwer einzelnen Hirn­ re­agiert, wenn ich beispielsweise einen Asiaten
> Entwickler der Software regionen zuzuordnen. Die Hirnstrommessung oder einen Mitteleuropäer betrachte.
»Brain Voyager« zur Analyse per EEG hat sich aber als ideale Ergänzung zur Gibt es auch neue Analysetechniken?
von fMRT-Daten fMRT erwiesen. Zuerst dachten viele, die Hirn­ Heute verwenden wir zunehmend so genannte
scanner würden die Elektrodenhauben verdrän­ multivariate Verfahren. Wir untersuchen nicht
gen. Doch inzwischen versuchen Forscher, bei­ mehr nur das einzelne Voxel, das dreidimensio­
de Verfahren miteinander zu kombinieren, um nale Pendant eines Pixels, sondern ganze Ak­
eine hohe räumliche und zeitliche Auflösung zu tivierungsmuster im Gehirn: Was ist etwa das

www.gehirn-und-geist.de 67
»In 20 Jahren prototypische Muster für das Betrachten glück­ des Sauerstoffgehalts im Blut, bevor frisches
licher versus trauriger Gesichter? Das erlaubt es Blut nachströmt. Sie tritt schon nach wenigen
werden wir per fMRT
uns, viel subtilere Unterschiede zu registrieren, hundert Millisekunden auf, ist aber so schwach,
feststellen können, als wenn man nur die Aktivierung in einzelnen dass sie mit herkömmlichen Forschungsscan­
woran ein Proband Voxeln beobachtet. nern nicht registriert werden kann. Meine Ar­
gerade denkt« Wo liegen Ihrer Meinung nach die Schwach- beitsgruppe bekommt in Kürze Geräte mit deut­
stellen der fMRT? lich stärkeren Magnetfeldern. Damit werden wir
Wer Hirnscans interpretiert, muss sich im Kla­ den Initial Dip vermutlich sehen können.
ren darüber sein, dass diese Methode nicht die Was wird die fMRT in 20 Jahren leisten?
neuronale Aktivität selbst, sondern die Blutver­ In Zukunft dürften vermehrt Scanner mit sehr
sorgung des Gehirns misst. Das verbietet auch, starken Magnetfeldern zum Einsatz kommen,
die registrierten Signale absolut zu quantifizie­ die die räumliche Auflösung auf unter einen
ren. Sie sind nur im Vergleich zwischen ver­ Millimeter reduzieren. Das eröffnet ganz neue
schiedenen experimentellen Bedingungen aus­ Fragestellungen. Wir fragen dann etwa nicht
sagekräftig. Ende der 1990er Jahre haben For­ mehr, wo im Gehirn Gesichter verarbeitet wer­
scher versucht, eine Gleichung aufzustellen, die den, sondern, wie deren einzelne Merkmale in­
verrät, wie die Signalstärke der fMRT mit der nerhalb des betreffenden Areals kodiert sind:
Feuerrate der entsprechenden Neurone zusam­ Augen, Mund, Haare und so weiter.
menhängt. Doch irgendwann stand fest, das Selbst ein halber Kubikmillimeter Hirngewe-
funktioniert nicht. be enthält noch mehrere tausend Nervenzellen.
Warum? Braucht man für so spezielle Fragestellungen
Weil weniger das »Feuern« der Neurone, son­ nicht spezifischere Methoden wie etwa Einzel-
dern vielmehr die synaptische Aktivität das zellableitung?
­fMRT-Signal bestimmt – also wie rege eine Sy­ Nicht unbedingt. Der große Vorteil ist, dass die
napse Botenstoffe entlässt. Das verbraucht deut­ Hirnrinde in so genannten kortikalen Kolum­
lich mehr Energie und erhöht damit den Sau­ nen organisiert ist. Das sind Ansammlungen
erstoffbedarf, muss aber nicht zwangsläufig Ak­ von Tausenden von Neuronen, die alle das glei­
tionspotenziale zur Folge haben. Das entdeckten che Merkmal kodieren. Diese Einheiten haben
vor einigen Jahren Nikos Logothetis und sein einen Durchmesser von etwa einem halben bis
Team in Tübingen, als sie mit Elektroden zusätz­ einem Millimeter, was recht genau der Auflö­
lich die Aktivität einzelner Hirnzellen von Affen sung moderner Scanner entspricht. Nach einer
maßen, während sie die Gehirne per fMRT ersten Studie, die wir in den USA durchgeführt
scannten. haben, scheint es möglich, Aktivitätswechsel in
Wenn das fMRT-Signal kein absolutes Maß diesen winzigen Bereichen nachzuverfolgen.
darstellt, wie sind dann Vergleiche zwischen Wir konnten an dem Erregungsmuster inner­
verschiedenen Personen möglich? halb einer Hirnregion nicht nur erkennen, dass
Die Vergleichbarkeit zwischen Probanden ist sich ein visueller Stimulus bewegte, sondern
aus genau diesem Grund sehr schwierig. Ein auch, in welche Richtung! Nun wollen wir den
großes Problem ist zudem, dass alles, was den »kolumnären Kode« höherer Hirnareale kna­
Blutfluss im Gehirn verändert – beispielsweise cken und damit die nächste Phase der humanen
Kaffee oder bestimmte Medikamente –, auch Hirnforschung einläuten.
das fMRT-Signal beeinflusst. Mit einer neuen Das klingt nach Gedankenlesen.
Variante des fMRT, dem »Arterial Spin Label­ Tatsächlich glaube ich, dass wir in 20 Jahren per
ling« (ASL, zu Deutsch: arterielle Spinmarkie­ fMRT feststellen können, woran ein Proband ge­
rung), können wir die Effekte von Koffein und rade denkt. Allerdings werden wir nur erkennen
Arzneimitteln aber ganz gut herausrechnen. können, was sich während der Messung im Ge­
Bis das fMRT-Signal erscheint, vergehen oft hirn verändert. Alles, was im Langzeitgedächt­
mehrere Sekunden. Kann man damit trotzdem nis gespeichert ist, bleibt verborgen. In Science­
auch feine zeitliche Abfolgen untersuchen? fiction-Filmen wird häufig so getan, als könnten
Die schlechte zeitliche Auflösung ist tatsächlich Wissenschaftler mit Hilfe eines Hirnscans das
Mehr zum thema ein Problem. Sie entsteht dadurch, dass das Ner­ Gehirn komplett »auslesen«. Das wird mit fMRT
> Zoom in die Denkzentrale vengewebe erst nach einer gewissen Zeit mit niemals möglich sein. Ÿ
20 Jahre funktionelle sauerstoffreichem Blut versorgt wird. Eine mög­
Hirnbildgebung (S. 62) liche Lösung ist die Messung des »Initial Dip«. Die Fragen stellte G&G-Redakteurin Anna von
So nennen Forscher die kurzzeitige Abnahme Hopffgarten.

68 G&G 4_2012


Georg von Holtzbrinck
Preis Für Wissenschaftsjournalismus

AU S S C H R E I B U N G 2012
Der Preis wurde anlässlich des 150jährigen Jubiläums Teilnahmeberechtigt sind alle deutschsprachigen
von Scientific American, einer der ältesten Wissen­ oder in deutschsprachigen Medien veröffentlichen­
schaftszeitschriften der Welt, von der Verlagsgruppe den Journalistinnen und Journalisten. Die einge­
Georg von Holtzbrinck 1995 ins Leben gerufen. Die reichten Arbeiten sollen allgemeinverständlich sein
Auswahl der Preisträger erfolgt jährlich durch eine und zur Popularisierung wissenschaftlicher Sachver­
Jury. Deren aktuelle Mitglieder sind: halte beitragen. Entscheidend ist die originelle
Dr. Stefan von Holtzbrinck (Vorsitz) journalistische Bearbeitung aktueller wissenschaft­
Vorsitzender der Geschäftsführung, licher Themen.
Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck GmbH
Es wird jeweils ein Preis in der Kategorie Print und
Prof. Dr. Dr. Andreas Barner ein Preis in der Kategorie elektronische Medien
Sprecher der Unternehmensleitung, vergeben. Jeder Preis ist mit 5.000 EUR dotiert.
Boehringer Ingelheim GmbH
Erstmals wird ein Nachwuchspreis für Bewerber, die
Ulrich Blumenthal Jahrgang 1983 und jünger sind, ausgelobt.
Redaktionsleiter „Forschung aktuell“, Der Nachwuchspreis ist mit 2.500 EUR dotiert.
Deutschlandfunk
Prof. Dr. Angela Friederici Die detaillierten Teilnahmebedingungen erhalten
Direktorin, Max­Planck­Institut für Sie unter www.vf-holtzbrinck.de.
Kognitions­ und Neurowissenschaften
Bewerben Sie sich mit drei Arbeitsproben und
Prof. Dr. Peter Gruss einem Kurzlebenslauf bis zum 1. April 2012.
Präsident, Max­Planck­Gesellschaft zur
Förderung der Wissenschaften e.V.
Prof. Dr. Matthias Kleiner
Präsident, Deutsche Forschungsgemeinschaft e.V.
Ko N tA K t
Dr. Carsten Könneker
Chefredakteur, Spektrum der Wissenschaft Veranstaltungsforum
Joachim Müller-Jung der Verlagsgruppe
Leiter des Ressorts Natur und Wissenschaft, Georg von Holtzbrinck GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung Taubenstraße 23
Andreas Sentker 10117 Berlin
Ressortleiter Wissen, DIE ZEIT Telefon +49/30/27 87 18 20
Ranga Yogeshwar Telefax +49/30/27 87 18 18
Moderator der ARD­Sendungen „Quarks & Co.“, gvhpreis@vf-holtzbrinck.de
„Wissen vor acht“ u. a. www.vf-holtzbrinck.de
hirnforschung ı Balkenagenesie

Keine Verbindung
Ein großer Nervenstrang verknüpft die beiden Hirnhälften
miteinander. Bei Menschen mit einer »Balkenagenesie«
fehlt er. Die Biologin Claudia Christine Wolf schildert Ursachen
und Folgen der angeborenen Erkrankung.

Von Claudia Christine Wolf

Au f ei n en B l ic k I ngrid und David freuen sich riesig. Ingrid ist


schwanger – mit einem Wunschkind, das ihr
Familienglück komplett macht. Emsig bereiten
des 19. Jahrhunderts beschrieb der britische
Neurologe John Langdon Down (1828 – 1896),
der heute vor allem wegen des nach ihm be-
Zusammen- sie die Ankunft des kleinen Lars vor, richten das nannten Downsyndroms (Trisomie 21) bekannt
hangslos Kinderzimmer ein, kaufen Kinderwagen und ist, einen Fall von Balkenagenesie.

1 Der Balken verknüpft Teddybär. Umso schockierter reagieren sie, als Das Corpus callosum ist die größte Verbin-
rechte und linke der Arzt ihnen bei einer Routineuntersuchung dung zwischen den Hirnhälften. Die aus mehr
Hirnhälfte. Bei der Balken­- mitteilt, dass im Ultraschall Hinweise auf eine als 190 Millionen Nervenfasern bestehende
agenesie wird diese unnatürliche Hirnentwicklung zu erkennen Querbahn verknüpft die Hirnareale der linken
Verbindung während der seien. Bald darauf erhärtet sich der Verdacht des und rechten Hemisphäre miteinander. Infor-
Embryonalentwicklung Arztes: Das Ungeborene leidet an einer Balken­ mationen können so blitzschnell von einer
nicht ausgebildet. Betrof- agenesie. Die größte Verbindung zwischen den Hirnhälfte in die andere gelangen. Eine Unter-
fen ist mindestens eines beiden Hirnhälften – das Corpus callosum, auch brechung dieser Highspeed-Datenleitung teilt
von 4000 Neugeborenen. Balken genannt – fehlt. das Gehirn gewissermaßen in zwei Teile.
Was bedeutet die Diagnose für die Entwick-

2 Ursache hierfür sind


meist kleine geneti­
sche Veränderungen. Aber
lung des Kindes? Der Arzt kann dem frisch ver-
heirateten Paar keine sichere Auskunft geben.
Pioniere unter den Nervenzellen
Bei Gesunden bildet sich der Balken etwa ab der
Vielleicht wird Lars schwere geistige Beeinträch- elften Schwangerschaftswoche aus. Botenstoffe
auch Umweltgifte kön- tigungen haben, möglicherweise aber auch gar leiten die ersten Nervenfasern – so genannte
nen zu dem Störungsbild keine Symptome davontragen. Manche »Bal- ­Pionieraxone – zu ihrem Bestimmungsort in
beitragen. kenagenetiker« verfügen sogar über besondere der gegenüberliegenden Hemisphäre. Weitere

3 Kinder mit einer Talente, wie der US-Amerikaner Kim Peek Fasern folgen der Marschroute der Pioniere, in-
Balkenagenesie ent- (1951 – 2009). Er zeigte starke autistische Züge, dem sie an ihnen entlangwachsen, und die vier
wickeln sich meist ver­ verblüffte aber zugleich mit außergewöhnli­ Abschnitte des Balkens entwickeln sich: Schna-
zögert. Dennoch scheint chen Gedächtnisleistungen (siehe Bild rechts). bel, Knie, Stamm und Hinterende.
ihr Gehirn die fehlende Wie sich Lars’ Erkrankung später einmal äu- Eine Balkenagenesie entsteht, wenn die quer
Verbindung zumindest ßern wird, kann niemand vorhersehen. Diese wachsenden Neurone nicht zu ihrem Zielort ge-
teilweise zu kompen­ Unkenntnis überrascht, ist doch die Balken­ langen. Anstatt in die gegenüberliegende Hemi-
sieren. agenesie eine recht häufig diagnostizierte Fehl- sphäre zu kreuzen, verbleiben sie in ihrer Ur-
bildung. Schätzungen zufolge tritt sie bei min­ sprungshälfte und bilden charakteristische,
des­tens einem von 4000 Neugeborenen auf – längs der Mittellinie verlaufende Strukturen:
wobei die Dunkelziffer vermutlich noch um die Probst-Bündel, benannt nach dem österrei-
einiges höher liegt. Zudem kennen Mediziner chischen Neuroanatomen Moriz Probst (1867 –  
das Krankheitsbild schon lange. Bereits Ende 1923). Ob die Probst-Bündel beim Menschen Si-

70 G&G 4_2012


Prominenter Patient
Im Gehirn des US-Amerikaners Kim Peek (1951 – 2009) fehlte der Balken, der die beiden Hirnhälften
miteinander verbindet. Berühmt wurde Peek als Vorbild für die Figur des autistischen Raymond
­Babbitt in dem Film »Rain Man« mit Dustin Hoffman. Peek war geistig und körperlich beeinträchtigt;
neben dem fehlenden Balken offenbarten MRT-Aufnahmen ein deformiertes und ungewöhnlich
­winziges Kleinhirn. Jedoch verfügte er über eine außergewöhnliche Begabung: Binnen weniger
­Sekunden konnte Peek etwa den Text eines aufgeschlagenen Buchs speichern, wobei er sich laut eige-
ner Aussage zeitgleich die linke und rechte Seite einprägte. Als »wandelndes Lexikon« kannte er den
Getty Images / Ethan Hill

­Inhalt von etwa 10 000 Büchern auswendig.


www.gehirn-und-geist.de 71
UNABHÄNGIGE HIRNHÄLFTEN
Bei Split-Brain-Patienten wurde
der Balken operativ durch-
trennt, um epileptische Anfälle
zu verhindern. Das hier dar­
gestellte Experiment demons-
triert, dass ihre Hirnhälften
kaum noch in Verbindung

SCHLÜSSEL RING
stehen. Taucht nur auf der
rechten Seite des Bildschirms
für kurze Zeit ein Wort auf, sind
die Patienten nicht in der Lage,
dieses zu nennen – da die
visuelle Information in die linke Ring
Gehirnhälfte gelangt, die
Sprache verarbeitet. Auf der
linke rechte
linken Seite aufblitzende Gehirn- Gehirn-
Wörter können sie nicht hälfte hälfte
verbalisieren, wohl aber den

Gehirn&Geist / MEGANIM
passenden Gegenstand hinter
dem Bildschirm ertasten.

gnale weiterleiten können, ist bis heute unge- tiert der US-Bundesstaat Kalifornien vorgeburt-
klärt. Zumindest bei Mäusen scheint das aber liche Erkrankungen und Fehlentwicklungen,
der Fall zu sein: Wie die Arbeitsgruppe um Jerry um deren Ursachen auszumachen und Mög-
Silver von der Case Western Reserve University lichkeiten für eine zukünftige Prävention zu
Organisationstalent in Cleveland 1991 feststellte, weisen die probst- entwickeln. Das Ergebnis der Studie: Struktur-
Gehirn schen Bündel von Nagern ohne Corpus callo- veränderungen in zwölf DNA-Abschnitten er-
sum ähnliche Leitungseigenschaften auf wie in- wiesen sich als zuverlässige Indikatoren für eine
In einer Studie von Forschern
takte Nervenzellen. Balkenagenesie; Mutationen in mehr als 30 wei-
um Onur Güntürkün von der
teren Genen scheinen zumindest zur Entste-
Universität Bochum sollten
Große Zahl an Störfaktoren hung des Syndroms beizutragen.
Menschen ohne Balken mit
Nach der Diagnose stellt sich für Ingrid und Da- Doch auch schädliche Umwelteinflüsse
den Fingerspitzen feine
vid die Frage: Weshalb hat es ausgerechnet Lars ­können zu der Fehlbildung führen – etwa Alko-
Vibratio­nen ertasten. Wenn
getroffen? Doch auch darauf können ihnen die holkonsum der Mutter während der Schwan-
zeitgleich Leuchtdioden
Ärzte keine klare Auskunft geben. Tatsächlich gerschaft. Da das Zellgift die Entwicklung des
aufblinkten, verschlechterte
kennen Mediziner die Ursachen einer Balken­ gesamten Gehirns beeinträchtigt, tritt Balken­
das die taktile Wahrnehmung
agenesie meistens nicht. Die Entstehung des agenesie dann meist als Folge des fetalen Alko-
der Versuchspersonen –
­Faserbündels ist ein äußerst komplizierter Vor- holsyndroms auf, einer komplexen Erkrankung,
­genau wie bei Gesunden.
gang, der in vielen, genau aufeinander abge- die verschiedene geistige und körperliche Ent-
Das spricht dafür, dass ihre
stimmten Schritten vonstattengeht – entspre- wicklungsstörungen umfasst.
Sin­nessysteme auch ohne
chend groß ist die Zahl möglicher Störfaktoren. Mutationen und Umweltgifte rufen aller-
Balken Informationen austau-
Meist handelt es sich dabei um Mutationen be- dings nicht immer eine komplette Balkenage-
schen. Offenbar nutzt das
stimmter Gene, die an der Entwicklung des Bal- nesie hervor. Bei manchen Betroffenen fehlen
Gehirn alternative Übertra-
kens beteiligt sind. nur Teile des Balkens – ein Phänomen, das Me­
gungswege, beispielsweise
Wissenschaftler von der University of Man- diziner als partielle Agenesie oder Hypo­genesie
die anteriore Kommissur, die
chester (England) wollten es 2010 genauer wis- des Corpus callosum bezeichnen. In wiederum
bei den meisten Probanden
sen und durchforsteten das Erbgut von rund anderen Fällen sind zwar alle vier Abschnitte
stark vergrößert war.
370 Balkenagenetikern. Die Forscher um Mary des Balkens vorhanden, jedoch außer­ge­wöhn­
(Wolf, C. C. et al.: Visuotactile
Interactions in the Congenitally O’Driscoll verwendeten hierfür Gendaten- lich dünn. Bei dieser Störung, Hypoplasie ge-
Acallosal Brain: Evidence for banken wie jene des CDBMP (California Birth nannt, ist die Zahl der Nervenfortsätze, die das
Early Cerebral Plasticity. In: Neuro­
psychologia 49, S. 3908 – 3916, 2011) Defects Monitoring Program). Darin dokumen- Corpus callosum bilden, viel geringer als üblich.

72 G&G 4_2012


Eines haben die verschiedenen Fehlbildungen Andererseits legt die Studie von Doherty ei- Gut die Hälfte der
jedoch gemeinsam: Eine auffällige Vergröße- nen Zusammenhang zwischen Balkenagenesie
Betroffenen zeigte
rung der Seitenventrikel, der mit Liquor ge- und Autismus nahe. Denn bei rund acht Prozent
füllten Hohlräume des Großhirns. In Aufnah- ihrer Probanden stellten die Forscher autis­
eine verminderte
men per Magnetresonanztomografie (MRT) ist tische Verhaltenszüge fest – ein deutlich grö­ Schmerzempfindlich-
das deutlich erkennbar. ßerer Anteil als in der Normalbevölkerung. Bei keit. Im Gegenzug
Umstritten ist die These, dass Balkenagene- 13 Balkenagenetikern diagnostizierten sie au- reagierten sie jedoch
sie häufiger bei Menschen mit Schizophrenie ßerdem eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyper­
sensibler auf Berüh-
vorkommt. So untersuchte ein brasilianisches aktivitätsstörung (ADHS), ein Syndrom, das sich
Team um Jaime Hallak von der Universidade de durch eine gestörte Konzentrationsfähigkeit
rungsreize
São Paolo 2007 einen 21-jährigen schizophrenen und gesteigerte Impulsivität auszeichnet.
Mann, der bereits als Kind an Halluzinationen
und Wahnvorstellungen gelitten hatte und Verzögerte Entwicklung
durch aggressives Verhalten aufgefallen war. Im Ein Fehlen des Balkens scheint sich zudem auf
Hirnscanner zeigte sich, dass bei dem jungen die Wahrnehmung auszuwirken. So zeigte gut
Mann tatsächlich der Balken fehlte. Den For- die Hälfte der Betroffenen in Dohertys Studie
schern zufolge untermauert diese Diagnose die eine verminderte Schmerzempfindlichkeit. Im
Vermutung, bei schizophrenen Menschen funk- Gegenzug reagierten sie jedoch sensibler auf
tioniere die Kommunikation zwischen den bei- Berührungsreize. Weshalb Balkenagenetiker
den Hirnhälften nicht richtig. Allerdings hatten Sin­nesreize offenbar anders verarbeiten als an-
bereits ein Jahr zuvor Donna Doherty und ihre dere Menschen, ist noch nicht geklärt.
Kollegen von der University of Maine festge- Am häufigsten geht ein Fehlen des Corpus
stellt, dass in einer Stichprobe von 189 Balken­ callosum mit einer verlangsamten Entwicklung
agenetikern kein einziger an Schizophrenie oder einher, etwa im sprachlichen oder motorischen
einer Psychose litt. Bereich. Bis zu 80 Prozent der Balkenagenetiker

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mit Julia Fischer, Achim Peters,


Volker Sommer und vielen weiteren
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Ein Symposium für die interessierte Öffentlichkeit –
Jede(r) kann teilnehmen!
Der Mensch fiel nicht vom Himmel. Er entstammt dem Tierreich. Das merkt man ihm bis
heute an, nicht nur in anatomischer und physiologischer Hinsicht. Auch unsere Gefühle,
Antriebe und Verhaltensdispositionen kommen von weit her. Plakative Begriffe wie
„Reptiliengehirn“, „Herdentrieb“ oder „Alphamännchen“ erinnern daran.
Evolutionäre Ursprünge und frühe Prägungen zeigen sich etwa im Sozialverhalten bei
Aggressionen, Machtkämpfen und Revierabgrenzungen, aber auch bei Kooperations-
leistungen, Liebesglück und Mitleid. Wie beeinflusst diese „biologische Erdung“ unser
Menschenbild?
Die höheren Kulturleistungen des Menschen wurzeln in seiner Neugier, Weltoffenheit und
Sprachfähigkeit. Doch was wird aus der Einzigartigkeit des Menschen? Kann die Kluft
zwischen alten Schlüsselreizen und neuen Vernunftidealen überbrückt werden?
Wie oberflächlich ist unsere Humanität?
Auf den Feldern der Evolutionsbiologie, der vergleichenden Neuroanatomie, der
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Großhirnrinde

Balken

Kleinhirn
Hirnstamm

Mit frdl. Gen. von Tamás Sebestény


STARKES NERVENBÜNDEL sind hiervon betroffen. Meist manifestiert sich liche Leben der Patienten kaum zu beeinträchti-
Der Balken, der bei Gesunden solch eine Entwicklungsverzögerung, die mehr gen. Allerdings hielt sich auch der medizinische
die beiden Hirnhälften mit­ oder weniger stark ausgeprägt sein kann, im Erfolg in Grenzen, weshalb Ärzte heute keine
einander verbindet, besteht aus frühen Kindesalter: Während Gleichaltrige das kompletten Split-Brain-Operationen mehr vor-
mindestens 190 Millionen Laufen und Sprechen schon längst beherrschen, nehmen.
Zellfortsätzen. Auf diesem Bün- tun sich Kinder mit Balkenagenesie damit oft Trotzdem beschäftigen sich Wissenschaftler
del in der Mitte des Gehirns schwer. Ähnlich häufig treten Lernschwierig- weiterhin mit den Folgen der Callosotomie.
lagern sich jeweils zwei längs keiten auf, die häufig im Grundschulalter zu Denn entgegen den zunächst vorherrschenden
verlaufende Nervenstränge an. Tage treten. Beobachtungen ging sie an den Patienten nicht
spurlos vorbei. Vielmehr hat der Eingriff subtile
Hirnteilung auf Krankenschein Veränderungen in der Wahrnehmung zur Folge,
In Anbetracht der zahlreichen mehr oder min- wie ein ausgeklügeltes Versuchsdesign von Wis-
der schweren Begleiterscheinungen einer Bal- senschaftlern um Roger Sperry (1913 – 1994) und
kenagenesie erscheint es zunächst schwer be- Michael Gazzaniga vom California Institute of
greiflich, weshalb Neurologen den Balken früher Technology in den 1960er Jahren aufdeckte
mitunter bewusst durchtrennten. Die US-Medi- (Sperry erhielt hierfür 1981 den Nobelpreis für
ziner William Van Wagenen und Yorke Herren Physiologie oder Medizin).
von der University of Rochester entwickelten Die Neurowissenschaftler forderten die Pa­
1940 diese Split-Brain-Operation oder Calloso- tienten auf, einen Punkt in der Mitte eines Bild-
tomie, um schwere Fälle von Epilepsie zu be- schirms zu fixieren, während sie links oder
handeln. Ihre Vermutung: Die neurochirurgi­ rechts davon Bilder einblendeten. Das überra-
sche Durchtrennung des Balkens würde die schende Ergebnis: Erschien das Bild auf der
Ausbreitung eines epileptischen Anfalls von rechten Seite, so konnten die Patienten es ohne
­einer Hirnhälfte in die andere verhindern und Weiteres benennen – jedoch nicht, wenn es auf
dadurch das Risiko für Krämpfe und die damit der linken Seite auftauchte. Warum? Die Eindrü-
verbundene Verletzungsgefahr durch Stürze cke des rechten Gesichtsfelds erreichten die lin-
senken. Tatsächlich schien der Eingriff das täg- ke Hirnhälfte, die Sprache verarbeitet. Informa-

74 G&G 4_2012


tionen des linken Gesichtsfelds gelangten dage- erweitert, um die Funktionen des fehlenden zu
gen in die »sprachlose« rechte Hälfte. Da der übernehmen.
Balken fehlte, hatte die linke Hemisphäre kei- Genau diese Plastizität scheint dem Gehirn
nen Zugriff auf die Informationen der rechten von Menschen mit Balkenagenesie zugutezu-
Seite (siehe Grafik auf S. 72). kommen. Ihr Gehirn, so vermuten Wissen-
Interessanterweise zeigen Menschen mit an- schaftler, nutzt vermehrt alternative Übertra-
geborener Balkenagenesie dieses Diskonnekti- gungswege. Denn die beiden Hirnhälften sind
onssyndrom nicht. Genau wie Menschen mit nicht nur durch das Corpus callosum verbun-
intaktem Balken können sie Bilder und andere den. Vielmehr gibt es zahlreiche weitere Quer-
visuelle Reize problemlos sprachlich benennen, verbindungen – allerdings sehr viel kleinere.
auch wenn diese zunächst in die rechte Hirn- Die anteriore Kommissur etwa, ein kleines
hälfte gelangen. Doch aus welchem Grund? Faserbündel vor dem dritten Ventrikel, ver-
Schließlich scheinen sie genau die gleichen Vo- knüpft die beiden Schläfenlappen. Und diese
raussetzungen wie Split-Brain-Patienten mitzu- Verbindung erweist sich als äußerst plastisch,
bringen: das Fehlen des Balkens. wie Wissenschaftler um James Barkovich von
der University of California in San Francisco
Frühes Umlernen feststellten: Bei den meisten Balkenagenetikern
1991 verglichen Maryse Lassonde und ihre Kol- ist sie zwar verkleinert oder fehlt sogar kom-
legen von der kanadischen Université de Mon- plett, bei einigen Betroffenen kann sie jedoch Quellen
tréal vier Menschen mit angeborener Balken­ ungewöhnlich groß ausgebildet sein – viel- Doherty, D. et al.: Health-­
agenesie und fünf Split-Brain-Patienten. Zwei leicht, weil sie bei ihnen zusätzliche Aufgaben Related Issues in Individuals
von ihnen lebten seit der frühen Kindheit, drei übernommen hat (siehe Randspalte S. 72). with Agenesis of the Corpus
seit dem Erwachsenenalter mit einem operativ Es gibt keine Möglichkeit, eine Balkenagene- Callosum. In: Child: Care,
durchtrennten Balken. Lassondes Team führte sie zu behandeln oder gar zu heilen. Trotz der Health and Development 32,
ein ähnliches Experiment durch wie Gazzaniga enormen Plastizität des Gehirns wird ein feh- S. 333 – 342, 2006
und Sperry. Allerdings sollten die Probanden lender Balken niemals nachwachsen. Auch lässt Hallak, J. E. C. et al.: Total Age-
nun keine Bilder benennen, sondern verschie- sich kaum vorhersagen, ob und wie stark ein nesis of the Corpus Callosum
dene Objekte, von denen sie zwei gleichzeitig Kind im Einzelfall beeinträchtigt sein wird. Das in a Patient with Childhood-
mit der linken und rechten Hand ertasten muss- kann Eltern wie Ingrid und David stark verun­ Onset Schizophrenia. In: Ar-
ten, ohne sie zu sehen. Da die Information der sichern. Am besten klärt man Fragen im ärzt- quivos de Neuropsiquiatria
rechten Hand in die linke Hirnhälfte gelangt lichen Gespräch – gerade weil zu diesem Thema 65, S. 1216 – 1219, 2007
und umgekehrt, gingen die Forscher davon aus, im Internet widersprüchliche oder schwer ein- Paul, L. K. et al.: Agenesis of
dass die Aufgabe von den Probanden nur schwer zuordnende Aussagen kursieren. Eltern können the Corpus Callosum: Gene-
zu meistern sei. sich zudem an psychologische Beratungsstellen tic, Environmental and Func-
Erstaunlicherweise zeigten jedoch nur die wenden, die professionelle Hilfe anbieten. Als tional Aspects of Connec­
Split-Brain-Patienten, die erst im Erwachsenen- enorm wichtig hat sich ein starker Zusammen- tivity. In: Nature Reviews
alter operiert worden waren, ein Diskonnekti- halt in der Familie herausgestellt, doch auch Neuroscience 8, S. 287 – 299,
onssyndrom: Sie konnten nicht angeben, ob eine Vertrauensperson aus dem Freundeskreis 2007
zwei Objekte, die sie mit verschiedenen Händen kann helfen, mit der Situation zurechtzukom-
ertasteten, identisch waren oder nicht. Hinge- men. Ein Kinderarzt sollte die Entwicklung eines Weitere Quellen im Internet:
gen erwies sich die Aufgabe für die beiden Pa­ Kindes mit Balkenagenesie genau beobachten www.gehirn-und-geist.de/
tienten, die seit ihrer frühen Kindheit mit ei­ und gegebenenfalls entwicklungsfördernde artikel/1142563
nem durchtrennten Balken lebten, als problem- Maßnahmen wie Ergo-, Physio- oder Sprach­
los – genau wie für jene Probanden, die schon therapie verschreiben. Literaturtipp
ohne Balken auf die Welt gekommen waren. Zudem tut Aufklärung der Bevölkerung not. Treffert, D. A., Christensen,
Diese Ergebnisse legen nahe, dass das Gehirn Kim Peek, der wohl berühmteste Balkenageneti- D. D.: Blick in ein Superge-
die Funktion des Corpus callosum bis zu einem ker, sagte einmal treffend: »Wir alle sind anders. dächtnis. In: Spektrum der
gewissen Grad ersetzen kann, wenn dieses von Dazu bedarf es keiner Behinderung. Behandle Wissenschaft 10/2006, S.
Geburt an fehlt oder in den ersten Lebensjahren andere Menschen so, wie du selbst behandelt 68 – 73
durchtrennt wird. Tatsächlich erweist sich das werden möchtest, und die Welt wird ein besse- Die amerikanischen Psychia­
Gehirn in der frühen Kindheit als außerordent- rer Ort sein.« Ÿ ter Darold Treffert und
lich formbar. Auf angeborene Fehlbildungen, Daniel Christensen porträtie­
Verletzungen oder operative Eingriffe reagiert Claudia Christine Wolf ist Biologin und Doktorandin ren Kim Peek und seine
es, indem es neue Neuronenverbindungen in der Abteilung Biopsychologie an der Ruhr-Univer­ Inselbegabung
knüpft oder ein Hirnbereich sein Aufgabenfeld sität Bochum.


www.gehirn-und-geist.de 75
impressum bücher und mehr

Chefredakteur: Dr. Carsten Könneker (verantwortlich)


T IPP Swaab führt diesen Gedanken in ver­
des
Artdirector: Karsten Kramarczik
Redaktionsleiter: Dipl.-Psych. Steve Ayan schiedenen Kapiteln aus. Er beginnt mit
S
Redaktion: Dr. Katja Gaschler (Koordination Sonderhefte),
Dipl.-Psych. Christiane Gelitz, Dr. Anna von Hopffgarten, Dr. Andreas M O N AT der These, dass das Gehirn pränatal ty­
Jahn (Online-Koordinator), Dr. Frank Schubert pisch männliche oder weibliche Merk­
Freie Mitarbeit: Dipl.-Psych. Joachim Marschall
Schlussredaktion: Christina Meyberg (Ltg.), Sigrid Spies,  male entwickelt – anders lautende Be­
Katharina Werle funde verschweigt der Autor allerdings. Er
Bildredaktion: Alice Krüßmann (Ltg.), Anke Lingg, Gabriela Rabe
Layout: Karsten Kramarczik führt dann durch die Baustelle der Puber­
Redaktionsassistenz: Petra Mers tät, diskutiert Drogenerfahrungen, lehrt
Redaktionsanschrift: Postfach 10 48 40, 69038 Heidelberg
Tel.: 06221 9126-776, Fax: 06221 9126-779
Dick Swaab den Leser etwas Neuroanatomie und
E-Mail: redaktion@gehirn-und-geist.de WIR SIND UNSER GEHIRN
schließt mit dem alternden Gehirn. Zu­
Wissenschaftlicher Beirat: Wie wir denken, leiden und lieben
Prof. Dr. Manfred Cierpka, Institut für Psychosomatische Koopera- [Droemer, München 2011, 511 S., € 22,99] dem räumt er Störungen wie Autismus,
tionsforschung und Familientherapie, Universität Heidelberg;
Prof. Dr. Angela D. Friederici, Max-Planck-Institut für neuro- Kopfschmerz oder Narkolepsie den ge­
psychologische Forschung, Leipzig; Prof. Dr. Jürgen Margraf, bührenden Raum ein. Zum Schluss kom­
Arbeitseinheit für klinische Psychologie und Psychotherapie, Ruhr-
Universität Bochum; Prof. Dr. Michael Pauen, Institut für Philosophie
Ansichten eines men dann die Evergreens der Hirnfor­
der Humboldt-Universität zu Berlin; Prof. Dr. Frank Rösler, Fachbereich Reduktionisten schung an die Reihe, wie die Debatte um
Psychologie, Universität Potsdam; Prof. Dr. Gerhard Roth, Institut für
Hirnforschung, Universität Bremen; Prof. Dr. Henning Scheich, Leibniz- Von der Unmöglichkeit, über den den freien Willen sowie die neurobiolo­
Institut für Neurobiologie, Magdeburg; Prof. Dr. Wolf Singer, Max-
Planck-Institut für Hirnforschung, Frankfurt/Main; Prof. Dr. Elsbeth »zerebralen Schatten« zu springen gische Verortung von Geist und Religio­
Stern, Institut für Lehr- und Lernforschung, ETH Zürich
Übersetzung: Christine Kemmet, Claudia Krysztofiak
sität. Auch hier zeigt Swaab auf, inwiefern
Herstellung: Natalie Schäfer, Tel.: 06221 9126-733
Marketing: Annette Baumbusch (Ltg.), Tel.: 06221 9126-741,
E-Mail: service@spektrum.com
Einzelverkauf: Anke Walter (Ltg.), Tel.: 06221 9126-744
D ick Swaab ist eine sympathische
Plaudertasche. Man fühlt sich ein
bisschen, als hätte der Autor zum Kaffee­
etwa unser Glaube von Biologie und Um­
welt bestimmt ist – und keineswegs einer
freien Willensentscheidung unterliegt.
Verlag: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH,
Postfach 10 48 40, 69038 Heidelberg, Hausanschrift:
klatsch eingeladen und wolle die Zuhörer
Slevogtstraße 3–5, 69126 Heidelberg, Tel.: 06221 9126-600, mit frechen Sprüchen und Wissenswer­
Fax: 06221 9126-751, Amtsgericht Mannheim, HRB 338114 Der Mensch ist nicht so
Verlagsleiter: Richard Zinken tem zum Gehirn unterhalten: Wie entwi­
Geschäftsleitung: Markus Bossle, Thomas Bleck ckelt es sich im Mutterleib und nach der frei, wie er gern wäre
Leser- und Bestellservice: Helga Emmerich, Sabine Häusser, Ute Park,
Tel.: 06221 9126-743, E-Mail: service@spektrum.com Geburt? Wie wird es auch im späteren
Vertrieb und Abonnementsverwaltung: ­Leben noch geprägt? Der Autor, einer der Dabei trifft der ehemalige Professor
Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, c/o ZENIT
Pressevertrieb GmbH, Postfach 81 06 80, 70523 Stuttgart, führenden niederländischen Hirnforscher, für Neurobiologie von der Universität
Tel.: 0711 7252-192, Fax: 0711 7252-366, E-Mail: spektrum@zenit-presse.
de, Vertretungsberechtigter: Uwe Bronn
kam selbst im Hungerwinter 1944 zur Welt. Amsterdam einen Ton, der weder zu ober­
Bezugspreise: Einzelheft: € 7,90, sFr. 15,40, Jahresabonnement Inland Er weiß, wie sich das hätten auswirken flächlich noch zu dozierend daherkommt.
(10 Ausgaben): € 68,–, Jahresabonnement Ausland: € 73,–,
Jahres­abonnement Studenten Inland (gegen Nachweis): € 55,–, können, denn im Säuglingsalter reagiert Das ist nicht allein das Ergebnis seiner
Jahres­abonnement Studenten Ausland (gegen Nachweis): € 60,–.
das Gehirn sehr empfindlich auf Unter­ rund 40 Jahre währenden Forschungs­
Zahlung sofort nach Rechnungserhalt.
Postbank Stuttgart, BLZ 600 100 70, Konto 22 706 708. versorgung mit Nährstoffen. So man­ches arbeit, sondern auch die Frucht einer Aus­
Die Mitglieder der DGPPN, des VBio, der GNP, der DGNC, der GfG, der
DGPs, der DPG, des DPTV, des BDP, der GkeV, der DGPT, der DGSL, der Kind trägt langfristige Schäden davon. einandersetzung mit Patienten auf Au­
DGKJP, der Turm der Sinne gGmbH sowie von Mensa in Deutschland
Der Tenor des Buchs ist klar: Wir sind genhöhe. Außerdem bereitet es Vergnü­
erhalten die Zeitschrift G&G zum gesonderten Mitgliedsbezugspreis.
Anzeigen/Druckunterlagen: Karin Schmidt, Tel.: 06826 5240-315, nicht so frei, wie wir gern wären. Unser gen, dass sich Swaab nicht unnötig in
Fax: 06826 5240-314, E-Mail: schmidt@spektrum.com
Gehirn ist ein Produkt aus genetischen Diplomatie übt. Ungeniert verteilt er Sei­
Anzeigenpreise:
Zurzeit gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 11 vom 1. 11. 2011. Anlagen und einer »Programmierung«, tenhiebe gegen politische, religiöse oder
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die während der Entwicklung in der Ge­ mütterliche Mehrheiten und Minder­
Sämtliche Nutzungsrechte an dem vorliegenden Werk liegen bei der bärmutter beginnt und sich in der ersten heiten.
Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH. Jegliche
Nutzung des Werks, insbesondere die Vervielfältigung, Verbreitung, Lebenszeit fortsetzt. Erst wirke die che­ Swaab ist Reduktionist und verortet
öffentliche Wiedergabe oder öffentliche Zugänglichmachung, ist ohne mische Umgebung bei der Gestaltung die Wurzeln der menschlichen Persön­
die vorherige schriftliche Einwilligung der Spektrum der Wissenschaft
Verlagsgesellschaft mbH unzulässig. Jegliche unautorisierte Nutzung des Gehirns mit, später das soziale Um­ lichkeit in den Strukturen und Prozessen
des Werks berechtigt die Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesell­
schaft mbH zum Schadensersatz gegen den oder die jeweiligen feld. Manche Eigenschaften wie Sexua­ des Gehirns. Das heißt jedoch nicht, dass
Nutzer. Bei jeder autorisierten (oder gesetzlich gestatteten) Nutzung lität oder Aggressionsverhalten seien er dem Biologismus das Wort redet. Als
des Werks ist die folgende Quellenangabe an branchenüblicher Stelle
vorzunehmen: © 2012 (Autor), Spektrum der Wissenschaft schon zum Zeitpunkt der Geburt fest­ menschenfreundlicher Utopist ist er der
Verlagsgesellschaft mbH, Hei­delberg. Jegliche Nutzung ohne die
Quellenangabe in der vorstehenden Form berech­tigt die Spektrum der geschrieben. In der ersten Schwanger­ Ansicht, dass ein tieferes Verständnis des
Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH zum Schadensersatz gegen schaftshälfte etwa würden die Ge­ Gehirns zu einer besseren Welt beitragen
den oder die jeweiligen Nutzer. Für unaufgefordert eingesandte
Manuskripte und Bücher übernimmt die Redaktion keine Haftung; schlechtsorgane ausgebildet, in der zwei­ kann. Und während er seinen Lesern die
sie behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen.
ten Hälfte dann die sexuelle Orientierung. nötigen Einblicke vermittelt, trinken wir
Bildnachweise: Wir haben uns bemüht, sämtliche Rechteinhaber In mancherlei Hinsicht sei es deshalb un­ mit ihm gern noch eine Tasse Kaffee.
von Ab­bildungen zu ermitteln. Sollte dem Verlag gegenüber dennoch
der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das möglich, über den eigenen »zerebralen
branchenübliche Honorar nach­träglich gezahlt.
Schatten« zu springen – also den eigenen Olaf Schmidt ist promovierter Biologe und
ISSN 1618-8519
www.gehirn-und-geist.de Anlagen zuwiderzuleben. arbeitet als freier Journalist in Essen.

78 G&G 4_2012


   
exzellent solide durchwachsen mangelhaft

lung durch: Er blüht auf und führt lebhaf­ ses Thema hat man allerdings schon allzu
 te Diskussionen. Nur bei der Erinnerung häufig auf der Leinwand gesehen, auch
an neue Erlebnisse hakt es weiterhin. wenn die Musik jener Zeit dabei selten
Der mit kleinem Budget realisierte In­ eine so tragende Rolle gespielt hat. Zu­
dependent-Film basiert in Teilen auf einer dem gerät die allmähliche Wiederannä­
Fallgeschichte des bekannten Neurologen herung zwischen Gabriel und seinem Va­
und Bestsellerautors Oliver Sacks, der sich ter arg harmonieselig: Der Vater beginnt
eine Zeit lang mit Gabriels realem Vorbild seine eigenen politischen und musika­
THE MUSIC NEVER STOPPED beschäftigt hat. Die Musikthe­rapeutin im lischen Vorlieben zu hinterfragen, kauft
Regie: Jim Kohlberg
Film stellt die Forscherin Concetta Tomai­ die Lieblingsplatten seines Sohnes und
[Senator Film Verleih 2011, 105 Minuten]
Kinostart in Deutschland: 29. März 2012 no vom Institute for Music and Neuro­ entwickelt Verständnis für dessen Re­
logic Function in New York dar, eine Pio­
nierin ihres Fach, mit der Sacks des Öf­
Gefangen Der sentimentale Film
teren zusammengearbeitet hat. Mittels
in der Vergangenheit musi­kalischer Übungen hilft sie Patien­ konzentriert sich auf den
Eine neurologische Fallgeschichte ten nach Schlaganfällen oder Hirn-OPs, Generationenkonflikt
mit 68er Flair wieder sprechen oder sich bewegen zu ler­
nen. Bei Menschen mit Alzheimerkrank­

M anche Menschen leben mehr in der


Vergangenheit als in der Gegen­
wart. In einer ganz besonderen Weise
heit oder einer anderen Demenzform
setzt sie Musik ein, die eine autobiogra­
fische Bedeutung für den Patienten hat.
bellentum. Getragen von der Musik star­
ten Vater und Sohn eine Erinnerungs­
reise zurück in die 1960er Jahre und in
trifft das auf die Hauptfigur dieses Films Sie versucht auf diese Weise tief liegende die eigene Lebensgeschichte. So war es
zu. Gabriel (Lou Taylor Pucci) entfernt Erinnerungen zu Tage zu fördern. Bei ih­ der Vater selbst, der Gabriel auf dessen
sich in den späten 1960er Jahren immer rer Arbeit macht sich Tomaino zu Nutze, ­erstes Grateful-Dead-Konzert mitgenom­
weiter von seiner Familie und taucht dass Harmonien oder Rhythmen wie die men hatte. Dieses Ereignis grub sich tief
nach einer heftigen Auseinandersetzung der Grateful Dead besonders intensiv wir­ in ­Gabriels Langzeitgedächtnis ein. Ob
mit seinen Eltern in den politischen Un­ ken: Je komplexer die Klangstimuli, desto der etwas harmlose und sentimentale
tergrund ab. 20 Jahre hören Mutter und stärker würden neurologische Funktio­ Film auch einen Platz im Langzeitge­
Vater nichts von ihm. Dann klingelt eines nen im Gehirn aktiviert. dächtnis des Zuschauers erhalten wird,
Tages das Telefon, und man erklärt ihnen, Gerne hätte man im Film noch mehr ist letztlich wohl auch eine Generations­
ihr Sohn sei verwirrt durch New York ge­ zu den psychologischen und neurolo­ frage.
laufen und nun im Krankenhaus. gischen Aspekten der Amnesie erfahren,
Wie sich herausstellt, hat Gabriel ei­ doch die Story konzentriert sich auf den Christian Wolf ist promovierter Philosoph und
nen Tumor im Temporallappen, unter Generationenkonflikt der 68er Jahre. Die­ freier Wissenschaftsjournalist in Berlin.
anderem im Hippocampus, der für das
Langzeitgedächtnis eine entscheidende
Rolle spielt. Als der Tumor entfernt ist,
wird deutlich, welchen Schaden er an­ 
gerichtet hat. Gabriel leidet an einer so Max J. Kobbert
­genannten anterograden Amnesie: Alle DAS BUCH DER FARBEN
neuen Erlebnisse verschwinden nach kur­ [Primus, Darmstadt 2011, 240 S., € 39,90]
­zer Zeit wieder aus seinem Gedächtnis.
Noch dazu sind auch die vergangenen Farben erscheinen uns als objektive Eigenschaften unserer Um-
Jahrzehnte für ihn wie weggewischt. Sein welt – und doch sind sie nur subjektive Entsprechungen bestimmter
Gehirn gaukelt ihm vor, er lebe noch im­ physikalischer Merkmale. Warum also erscheinen Pigmente und Photonen farbig?
mer im Jahr 1968. Wie verwandeln Auge und Gehirn das Licht in Farbeindrücke? Worauf beruhen
Gabriels Vater macht eine Musikthe­ Rot-Grün-Schwäche, Kontrastwahrnehmung und Synästhesie? Diese und viele wei-
rapeutin ausfindig, die dem Gedächtnis tere Fragen beantwortet der emeritierte Psychologieprofessor Max J. Kobbert. Er
des verwirrten Patienten mit vertrauten scheut dabei die neuro- und sinnesphysiologischen Details ebenso wenig wie einen
Klängen auf die Sprünge zu helfen ver­ Ausflug in Goethes Farbenlehre und reichert naturwissenschaftliche Erläuterungen
sucht. Grateful Dead, Bob Dylan oder die mit ethnologischen Exkursen und Umfragen zur Lieblingsfarbe an. Nach dieser
Beatles – wenn die Musik seiner Jugend bunten und bilderreichen Lektüre betrachtet der Leser seine Umwelt mit anderen
erklingt, macht der wie erstarrt wirkende Augen. Die Welt der Farben, wie wir sie sehen, ist laut Kobbert nämlich nur eine von
Gabriel eine außergewöhnliche Verwand­ vielen: »Mit jedem Menschen entfaltet sich ein neuer Farbenkosmos.«


www.gehirn-und-geist.de 79


schaufenster – weitere neuerscheinungen

HIRNFORSCHUNG UND PHILOSOPHIE


Günter Ewald
• Hoerster, N.: MUSS STRAFE SEIN? Positionen der Philosophie [C.H.Beck, München AUF DEN SPUREN
2012, 160 S., € 12,95] DER NAHTODERFAHRUNGEN
• Schnädelbach, H.: WAS PHILOSOPHEN WISSEN Und was man von ihnen lernen Gibt es eine unsterbliche Seele?
[Butzon & Bercker, Kevelaer 2011, 176 S.,
kann [C.H.Beck, München 2012, 237 S., € 19,95]
€ 16,95]
• Sitskoorn, M.: DU WILLST ES DOCH AUCH! Warum uns das Gehirn sündigen lässt
[Bastei Lübbe, Köln 2012, 224 S., € 16,99]

PSYCHOLOGIE UND GESELLSCHAFT
• André, C.: DIE LAUNEN DER SEELE Vom Umgang mit unseren Stimmungen
[Aufbau, Berlin 2012, 477 S., € 12,99]
• Eisner, M.: ÜBER SCHÜCHTERNHEIT Tiefenpsychologische und anthropologische
Aspekte [Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2012, 134 S., € 29,90]
• Hellbrück, J., Kals, E.: UMWELTPSYCHOLOGIE [Vs, Wiesbaden 2012, 144 S., € 16,95]
• Hornsteiner, G.: DATEN UND STATISTIK Eine praktische Einführung für den
Birk Engmann
Bachelor in Psychologie und Sozialwissenschaften [Spektrum Akademischer MYTHOS NAHTODERFAHRUNG
Verlag, Heidelberg 2012, 352 S., € 24,95] [Hirzel, Stuttgart 2011, 112 S., € 14,90]
• Linden, D. J.: HIGH Woher die guten Gefühle kommen [C.H.Beck, München 2012,
272 S., € 19,95]
Zwei Blickwinkel
MEDIZIN UND PSYCHOTHERAPIE Richtung Jenseits
• Barkley, R. A.: DAS GROSSE HANDBUCH FÜR ERWACHSENE MIT ADHS Die Wissenschaft kann die Existenz
[Hogrefe, Göttingen 2012, 336 S., € 29,95] einer unsterblichen Seele nicht
• Kleinstäuber, M., Thomas, P., Witthöft, M., Hiller, W.: KOGNITIVE VERHALTENS­ ­widerlegen. Aber sie kann Nahtod­
THERAPIE BEI MEDIZINISCH UNERKLÄRTEN KÖRPERBESCHWERDEN erfahrungen erklären
UND SOMATOFORMEN STÖRUNGEN [Springer, Berlin 2012, 250 S., € 39,95]
• Lutz, W., Stangier, U., Maercker, A., Petermann, F.: KLINISCHE PSYCHOLOGIE
Intervention und Beratung [Hogrefe, Göttingen 2012, 336 S., € 29,95] S chon immer hat sich der Mensch mit
der Frage beschäftigt, ob es eine un­
sterbliche Seele gibt. Als vermeintlich
KINDER UND FAMILIE wissenschaftlichen Beleg ihrer Existenz
• Alsaker, F.: MULTI GEGEN MOBBING in Kindergarten und Schule [Hogrefe, betrachten manche so genannte Nahtod­
Göttingen 2012, 271 S., € 29,95] erfahrungen: Patienten, die nach einem
• Omer, H., Lebowitz, E.: ÄNGSTLICHE KINDER UNTERSTÜTZEN Die elterliche Herzstillstand wiederbelebt wurden, be­
Ankerfunktion [Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2012, 207 S., € 19,95] richten zum einen von so genannten
• Schäfer, M., Herpell, G.: DU OPFER! Wenn Kinder Kinder fertigmachen »out-of-body experiences« (auf Deutsch:
[Rowohlt, Reinbek 2011, 256 S. € 8,99] außerkörperlichen Erfahrungen), bei de­
• Schlarb, A. A.: PRAXISBUCH KVT MIT KINDERN UND JUGENDLICHEN nen sie ihren eigenen Körper von oben
Störungsspezifische Strategien und Leitfäden [Beltz, Weinheim 2012, 368 S., schwebend beobachten konnten, zum
€ 44,95] anderen davon, sie hätten sich durch eine
Art Tunnel auf ein strahlendes Licht zu­
RATGEBER UND LEBENSBERATUNG bewegt. Die Betroffenen glauben in der
• Abel, P.: KEINE ZEIT FÜR BURNOUT Vom Arbeitsstress zur Herzensruhe Regel, dass sich im Sterben ihre Seele
[Vier Türme, Münsterschwarzach 2012, 144 S., € 16,90] vom Körper gelöst und an der Schwelle
• Giger-Bütler, J.: DEPRESSION IST KEINE KRANKHEIT Neue Wege, sich selbst zu zum Jenseits gestanden hätte, bevor sie
befreien [Beltz, Weinheim 2012, 214 S., € 19,95] ins Leben zurückgeholt worden seien.
• Heinemann, H.: ELTERN WERDEN – LIEBESPAAR BLEIBEN 50 Tipps, damit die Zwei kürzlich erschienene Bände dis­
Liebe überlebt [Westhafen, Frankfurt am Main 2012, 154 S., € 14,95] kutieren die Frage, ob Nahtoderfahrun­
gen tatsächlich ein stichhaltiges Argu­
ment für eine unsterbliche Seele darstel­

80 G&G 4_2012


len. Dem Mathematiker Günter Ewald Körper – versucht Ewald mittels Quan­ Physik und nicht auf Quantenphysik be­
von der Ruhr-Universität Bochum zufol­ tenphysik zu zerschlagen. Nach dem ruhe und somit keine Kompetenz in Be­
ge zeigen solche Erlebnisse, dass sich im Prinzip der Quantenverschränkung sind zug auf das Verhältnis von Körper und
Tod die unsterbliche Seele vom Körper zwei miteinander verbundene Teilchen Seele beanspruchen könne.
löst und ins Jenseits eingeht. Dagegen nicht eigenständig, sondern ihr Verhal­ Dabei können Nahtoderfahrungen
wendet der Neurologe Birk Engmann ten nur im Gesamtsystem interpretier­ durchaus schon weit gehend neurowis­
von der Universität Leipzig ein, dass sich bar. In ähnlicher Weise sollen nach Ewald senschaftlich erklärt werden, wie der
Nahtod­erfahrungen weit gehend neuro­ auch Körper und Seele miteinander ver­ Leipziger Neurologe Engmann zeigt. Er
biologisch erklären ließen und somit kei­ schränkt sein. verweist zunächst darauf, dass klinisch
nerlei Hinweise auf ein Leben nach dem tote Patienten keineswegs hirntot seien,
Tod lieferten. Keine Kompetenz für die Seele sondern ihr Gehirn auf Grund des Sau­
Die Debatte wird dadurch erschwert, Doch solchen Verrenkungen zum Trotz erstoffmangels lediglich an schweren
dass die beiden Lager keine einheitliche ist auch die Quantenphysik nur eine The­ Funktions­störungen leide. Insofern ver­
Definition des Begriffs »Nahtoderfah­ orie über das Verhalten physikalischer wundere es auch nicht, dass zentrale As­
rung« zu Grunde legen. Engmann weist Teilchen und lässt keine seriösen Aus­ pekte von Nahtodberichten wie Tunnel­
darauf hin, dass die damit verbundenen sagen über eine immaterielle Seele zu. visionen und Außerkörpererfahrungen
Phänomene wie Außerkörper- und Tun­ Ewald hätte sich bei seiner Argumenta­ auch bei anderen Funktionsstörungen
nelerfahrungen nur in den seltensten Fäl­ tion vielleicht mehr mit neurowissen­ des Gehirns wie Schizophrenie oder Dro­
len gemeinsam auftreten. Es sei somit schaftlichen Erklärungen von Nahtod­ genmissbrauch auftreten. Die »out-of-bo­
keineswegs klar, von welchen Wahrneh­ erfahrungen auseinandersetzen sollen. dy ex­perience« könne man beispielsweise
mungen berichtet werden müsste, um Doch die tut er mit dem Verweis ab, dass auf eine gestörte Integration verschiede­
von einer Nahtoderfahrung zu sprechen. Neurowissenschaft eben auf klassischer ner Wahrnehmungsprozesse zurück­füh­
Ewald hingegen bemüht sich gar nicht
erst um eine präzise Definition. Stattdes­
sen wendet er den Begriff auf alle Jenseits­
erfahrungen an, selbst wenn zum Zeit­
punkt des Erlebens gar keine Lebensge­
G&G – Bestsellerliste
fahr bestand. 1. Dobelli, R.: Die Kunst des klaren Denkens 52 Denkfehler, die Sie besser
Ähnlich unpräzise fällt auch Ewalds anderen überlassen [Hanser, München 2011, 246 S., € 14,90]
weitere Argumentation aus. Nach eigener 2. Friedrichs, J.: iDEALE Auf der Suche nach dem, was zählt [Hoffmann und Campe,
Aussage möchte er eigentlich gar nicht Hamburg 2011, 256 S., € 19,99]
dafür plädieren, dass die Existenz einer 3. Keil, A.: Auf brüchigem Boden Land gewinnen Biografische Antworten auf
unsterblichen Seele naturwissenschaft­ Krankheit und Krisen [Kösel, München 2011, 253 S., € 17,99]
lich belegt werden könne. Er wolle nur
4. Riemann, F.: Grundformen der Angst Eine tiefenpsychologische Studie
aufzeigen, dass Naturwissenschaften und
[Reinhardt, München, 40. Auflage 2011, 244 S., € 14,90]
die Idee einer solchen Seele einander
5. Lütz, M.: Irre – Wir behandeln die Falschen Unser Problem sind die
nicht widersprechen. Denn dass sie nach
dem Tod ins Jenseits eingeht und dass ­Normalen [Goldmann, München 2011, 189 S., € 9,99]
Nahtoderfahrungen Einblicke in dieses 6. Baker, R.: Wenn plötzlich die Angst kommt Panikattacken verstehen und
Jenseits liefern, setzt er schon als gegeben überwinden [SCM R. Brockhaus, Witten, 15. Auflage 2011, 192 S., € 9,95]
voraus! Doch auch wenn die Gesetze der 7. Bruno, T., Adamczyk, G.: Körpersprache [Haufe-Lexware, Freiburg, 2. Auflage
Physik der Existenz einer unsterblichen 2012, 251 S., € 8,95]
Seele nicht widersprechen, so folgt daraus 8. Croos-Müller, C.: Kopf hoch – das kleine Überlebensbuch Soforthilfe bei
natürlich keineswegs, dass sie mit einer Stress, Ärger und anderen Durchhängern [Kösel, München 2011, 40 S., € 9,99]
hohen Wahrscheinlichkeit existiert. 9. Bode, S.: Nachkriegskinder Die 1950er Jahrgänge und ihre Soldatenväter
Ewald wird daher wohl keinen Skep­
[Klett-Cotta, Stuttgart 2011, 302 S., € 19,95]
tiker von der Existenz einer Seele über­
10. Kitz, V., Tusch, M.: Psycho? Logisch! Nützliche Erkenntnisse der Alltags­
zeugen. Darüber hinaus ist fraglich, ob er
psychologie [Heyne, München 2011, 285 S., € 8,99]
seinem Anspruch gerecht wird, zumin­
dest den fehlenden Widerspruch zwi­
schen unsterblicher Seele und Naturwis­ Nach Verkaufszahlen des Buchgroßhändlers KNV in Stuttgart
senschaften zu belegen. Den gordischen Mehr Informationen und Bestellmöglichkeiten:
Knoten – die Verbindung zwischen im­ www.science-shop.de/bestsellerliste
materieller Seele und physikalischem


www.gehirn-und-geist.de 81
ren, die auch bei Epileptikern auftritt und
sich mittels transkranieller Magnetstimu­
Kopfnuss lation des parietalen Kortex sogar künst­

das G&G-Gewinnspiel
lich induzieren lässt.
Zudem, so Engmanns nächstes Argu­
ment, beeinflusse die jeweilige Kultur den
Inhalt von Nahtoderfahrungen. Während
Hätten Sie’s gewusst? 1. Welche dieser kognitiven Verzer- zum Beispiel hier zu Lande mancher
Die Antworten auf die folgenden rungen ist nicht am Werk, wenn wir Wiederbelebte behauptet, er wäre an der
Fragen finden Sie in der aktuellen andere Menschen beurteilen? Schwelle zum Jenseits von einem Ange­
Ausgabe von Gehirn&Geist. Wenn Sie a) der fundamentale Attributionsfehler hörigen oder Engel zurück ins Leben ge­
an unserem Gewinnspiel teilnehmen b) die Clustering-Illusion schickt worden, finden sich in Asien keine
möchten, schicken Sie das Lösungswort c) der Rückschaufehler derartigen Erlebnisse. Das deute darauf
bitte mit dem Betreff »April« per hin, dass solche Elemente eine nachträg­
E-Mail an: 2. Einer Studie zufolge werden blonde liche Konstruktion darstellen, bei der das
kopfnuss@gehirn-und-geist.de. Frauen in Nachtklubs deutlich häufiger Erlebte vor dem eigenen kulturellen Hin­
von Männern angesprochen als brünet- tergrund interpretiert wird.
Unter allen korrekten Zuschriften te. Profitieren umgekehrt auch blonde In seiner sachlichen Analyse gibt der
verlosen wir drei Exemplare von: Männer von ihrer Haarfarbe? Neurologe auch zu, dass das Wissen über
a) Ja, sie haben mehr Erfolg beim weib- die Vorgänge im Gehirn kurz vor dem Tod
lichen Geschlecht. noch zu gering sei, um alle Elemente von
b) Nein, die dunkelhaarigen werden Nahtoderfahrungen erklären zu können.
häufiger von Frauen angesprochen. Es ist jedoch gerade die Stärke seines
c) Die Haarfarbe spielt bei Männern Buchs, Erkenntnislücken offen anzuspre­
keine Rolle. chen – und gleichzeitig eine begrifflich
und empirisch fundierte Diskussion an­
3. In welcher Hirnregion befinden sich zubieten. Einziger Makel: Die sachliche
rund 80 Prozent aller Nervenzellen? Herangehensweise manifestiert sich auch
a) Hirnstamm in einem trockenen, wenig anschaulichen
Dick Swaab b) Kleinhirn Stil. Dennoch demonstriert Engmann
WIR SIND UNSER GEHIRN c) Großhirn überzeugend, wie fragwürdig es aus wis­
Wie wir denken, leiden und lieben senschaftlicher Sicht ist, Nahtoderfah­
[Droemer, München 2011, 511 S., € 22,99] 4. Zwischen Bauchhirn und Zentralner- rungen als Beweis für eine unsterbliche
vensystem gibt es zahlreiche neuronale Seele heranzuziehen. Ob sie exis­tiert oder
Einsendeschluss ist der 15. April 2012. Verbindungen. Wie viele davon führen nicht, bleibt eine Frage des Glaubens,
Die Auflösung finden Sie in G&G »aufwärts«, vom Bauch zum Kopf? nicht der Wissenschaft.
6/2012. a) 50 Prozent
b) 70 Prozent Alexander Soutschek ist promovierter Philo­
Ihre persönlichen Daten werden c) 90 Prozent soph und arbeitet am Department Psycholo­
allein zur Gewinnbenachrichtigung gie der Ludwig-Maximilians-Universität
verwendet und nicht an Dritte 5. Eine Balkenagenesie ist eine Hirnent- München.
weitergegeben. Namen der Gewinner wicklungsstörung, bei der die wichtigste
werden an dieser Stelle veröffent- Verbindung zwischen den Hirnhälften …
licht. Eine Barauszahlung der Preise a) fehlt oder stark unterentwickelt ist Alle rezensierten Bücher,
ist nicht möglich. Der Rechtsweg ist b) an der falschen Stelle liegt CD-ROMs und DVDs können Sie
ausgeschlossen. c) chronisch übererregt ist im Science-Shop bestellen

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Ingrid Brand, Gerald Eichner, Marianne Flori, Peter Strobel

82 G&G 4_2012


D I E

ptome hervorrufen, die einer Demenz äh­ S A M M E L K A S S E T T E


 neln, und so die Differenzialdiagnostik er­
schweren. Das sagt aber letztlich nichts
darüber aus, ob es die Alzheimerkrank­
heit gibt.
Cornelia Stolze Die eigentlich spannende Frage stellt
VERGISS ALZHEIMER!
Die Wahrheit Stolze denn auch gar nicht: Wie lässt sich
über eine Krankheit, Alzheimer besser diagnostizieren und im
die keine ist klinischen Alltag gegen andere Krank­
[Kiepenheuer & Witsch, Köln 2011, 245 S., heiten abgrenzen? Da die Biologin fest
€ 18,99]
von der Nichtexistenz der Krankheit
überzeugt ist, bemüht sie sich auch nicht,
die Häufigkeit etwaiger Fehldiagnosen
Der groSSe
zu erfassen. Wissenschaftler, die entspre­
Alzheimer-Schwindel chende Verfahren entwickeln, stellt sie
Ein Buch zum Vergessen noch dazu unter den Generalverdacht,
aus wirtschaftlichem Eigennutz Scharla­

V iele Menschen fürchten sich davor,


an Alzheimerdemenz zu erkranken.
Doch die meisten von ihnen wissen nicht,
tanerie zu betreiben.
Auch an anderer Stelle mangelt es der
Autorin an differenzierter Betrachtung.
dass die Krankheit schwer zu diagnosti­ So diskreditiert sie jegliche Zusammen­
zieren ist und in welchem Ausmaß die arbeit zwischen Wissenschaft und Indus­
Entwicklung diagnostischer und thera­ trie, ohne zu bedenken, dass Forscher nur
peutischer Verfahren von wirtschaftli­ auf diesem Weg aus ihren Ergebnissen
chen Interessen abhängt. Ein Buch, das Produkte entwickeln können, die den be­
differenziert über diese Problematik auf­ troffenen Patienten helfen.
klärt, könnte deshalb helfen, eine etwaige Tatsächlich sind Zweifel gegenüber der
Diagnose und die empfohlene Behand­ Verlässlichkeit klinischer Alzheimerdia­
lung kritisch zu hinterfragen. gnosen und der Wirksamkeit der gängi­

Die vermeintliche Erfindung der Alzheimerdemenz


belegt die Autorin mit Scheinargumenten

Die Diplombiologin und Wissen­ gen Medikamente durchaus angebracht.


schaftsjournalistin Cornelia Stolze schießt Nicht von der Hand zu weisen sind auch
leider weit über das Ziel hinaus. Von An­ Beobachtungen wie die, dass gerade äl­
fang an scheint für sie festzustehen, dass tere Menschen zu viele Medikamente ver­
es Alzheimer gar nicht gibt und die schrieben bekommen und deren Kom­
Die Sammelkassette von Gehirn&Geist
Krankheit vielmehr ein Produkt einer bination oft unvorhergesehene Neben­
länder­übergreifenden Verschwörung von wirkungen haben kann, inklusive einer bietet Platz für 12 bis 15 Hefte. Sie können
Pharma­industrie, Wissenschaftlern und Beeinträchtigung kognitiver Fähigkeiten. darin alle Ihre Monats- und Sonderhefte
Ärzten ist. Leider geht all dies in den Verschwörungs­ aufbewahren. Die stabile Sammel-
Klingt weit hergeholt? Ist es auch. Die theorien und der letztlich nicht belegten
kassette ist aus schwarzem Kunststoff
Autorin liefert so gut wie keinen wissen­ These der Erfindung einer Krankheit voll­
schaftlichen Beleg, der an der Existenz der kommen unter. Damit hat die Autorin und kostet € 9,50 (zzgl. Porto).
Krankheit zweifeln ließe. Stattdessen eine Chance vertan: Mit ein wenig mehr
zählt sie eine ganze Reihe von Scheinar­ Sorgfalt und Ausgewogenheit hätte sie ei­
www.spektrum.com/sammeln
gumenten auf. So weist sie etwa darauf nen bedeutsamen Beitrag zum öffentli­
hin, dass viele Patienten eigentlich an an­ chen Diskurs über Demenzerkrankungen Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft
deren Krankheiten leiden, dass sie (zu) leisten können. mbH | Slevogtstraße 3–5 | 69126 Heidelberg | Tel.:
06221 9126-743 | Fax: 06221 9126-751 | service@
viele Medikamente auf einmal nehmen, spektrum.com
dass sie schwerhörig sind oder zu wenig Markus Elsner ist promovierter Biochemiker
trinken. All dies kann tatsächlich Sym­ und Redakteur bei »Nature Biotechnology«.


www.gehirn-und-geist.de WISSENSCHAF T AUS ERSTER HAND
er in der Kürze gerecht werden. Unter­ kennen lernen und weniger bekannten
 stützt wird dieser Eindruck durch die un­ Phänomenen begegnen, etwa der Wieder­
gewöhnliche Struktur: Der Text ist an­ entdeckung des »ersten Schlafs«: Histo­
hand des Verlaufs einer Nacht aufgeteilt, rische Analysen zeigen, dass erst die in­
von 21 Uhr bis 7.30 Uhr. Das ist zwar origi­ dustrielle Revolution dazu führte, dass
nell, doch ließen sich die Inhalte offenbar wir nur noch einmal im Lauf von 24 Stun­
Tobias Hürter
DU BIST, nur mit Gewalt in das Schema pressen – den eine Auszeit einlegen – unsere Vor­
WAS DU SCHLÄFST nicht immer erschließt sich, warum fahren hatten noch zwei getrennte Schlaf­
Was zwischen Wachen und Träumen alles Informa­tionen an dieser oder jener Stelle phasen, um Mitternacht herum waren sie
geschieht stehen. dagegen zwei Stunden wach. Insgesamt
[Piper, München 2011, 272 S., € 19,99]
Wettgemacht wird dieses Manko aber eine gute Übersicht für alle, die mehr da­
durch die Fülle an aktueller und gut auf­ rüber wissen wollen, womit sie einen Gut­
bereiteter Wissenschaft, die Hürter zum teil ihrer Lebenszeit verbringen.
Von Einnicken
Kernthema des Buchs zusammenstellt.
bis Aufstehen Auch wer sich schon mit der Materie be­ Joachim Marschall ist Diplompsychologe und
Die Wissenschaft vom Schlaf – schäftigt hat, wird neue Hintergründe G&G-Redakteur.
mit Lust erzählt

R und ein Drittel unseres Lebens ver­


bringen wir im Schlaf. Umso rätsel­
hafter, dass Mediziner und Psychologen
drei fragen an …
erst vor relativ kurzer Zeit damit began­ Matthias L. Schroeter, promovierter Philosoph und Medi­
nen, das Phänomen empirisch zu unter­ ziner. Er arbeitet als Professor für Kognitive Neuropsych­iatrie
suchen: Wie viel Schlaf ist gesund? Haben am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissen-
Träume eine Bedeutung? Und warum schaften und als Oberarzt am Universitätsklinikum Leipzig.
gähnen wir eigentlich? Diese und Dut­ Außerdem bloggt er unter »NeuroKognition« auf Scilogs.de.
zende weiterer Fragen sind noch längst
nicht abschließend geklärt. Der Journalist Herr Professor Schroeter, welches Anliegen verfolgen Sie mit diesem Buch?
Tobias Hürter – nach eigenem Bekenntnis Die kognitiven Neurowissenschaften leisteten in den letzten Jahren wesentliche
eine »Schlafmimose« – hat aber für jede Beiträge zum Verständnis von Denkprozessen, indem sie diese im Gehirn veror­
von ihnen den aktuellen Stand der For­ teten. Allerdings schlägt der Anspruch aktuell in eine Hybris um – jeder Wissens­
schung recherchiert. Seine persönlichen bereich wird mit der Vorsilbe »Neuro« versehen. Ich zeige auf, dass das oft nicht
Erkenntnisse und Aha-Erlebnisse fasst er gerechtfertigt ist.
in diesem Band zusammen. Wie gehen Sie dabei vor, und wie lautet Ihr Fazit?
Dabei hat der Autor spürbar Lust am Mein Fokus liegt auf einem Hotspot der Philosopie des Geistes, dem Verständnis
Erzählen: Zu jeder Forschungsfrage prä­ der Grundlagen von Bewusstsein. Ich untersuche, welchen Einfluss die Entwick­
sentiert er nicht nur aktuelle Befunde, lung der kognitiven Neurowissenschaften darauf hat. Das Ergebnis lautet: Ob­
sondern schildert Anekdoten aus dem wohl bereits viele kognitive Funktionen im Gehirn verortet werden konnten,
Fachgebiet und stellt die Menschen vor, wird diese Herangehensweise einigen wesentlichen Eigenschaften des Men­
die sich in Schlaflabors im Dienst der Wis­ schen, zum Beispiel der Ich-Perspektive, nicht gerecht. Deshalb brauchen wir
senschaft die Nächte um die Ohren schla­ ­neben der »positiven Phrenologie« auch eine »negative Phrenologie«, die kogni­
gen. Das dürfte dazu beitragen, dass das tionswissenschaftlich nicht zugängliche Phänomene umfasst.
Buch trotz stellenweise vieler Fachwörter An welche Zielgruppe wendet sich das Buch?
leicht und flüssig zu lesen ist. Die Arbeit leistet einen Beitrag zu einer allgemeinen Theorie des Bewusstseins
Allerdings gerät Hürter auch dort ins und zur Fundamentalkritik der zeitgenössischen kognitiven Neurowissenschaf­
Schwadronieren, wo er sich von seinem ten. Insofern wendet es sich an Hirnforscher und Philosophen, die sich für eine
eigentlichen Thema entfernt. So spinnt er kritische Sicht auf diese Disziplin interessieren.
nicht nur zu jeder großen Frage der Schlaf­
forschung eine Geschichte, sondern geht Matthias L. Schroeter
ebenfalls auf die Entwicklung des EEG, DIE INDUSTRIALISIERUNG DES GEHIRNS
die Historie der Psychoanalyse oder der Eine Fundamentalkritik
Bewusstseinsforschung ausgiebig ein. Da­ der kognitiven Neurowissenschaften
durch droht der Text hier und da ausei­ [Königshausen & Neumann, Würzburg 2011, 227 S., € 36,–]
nanderzufallen, nicht allen Themen kann

84 G&G 4_2012


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auf sendung
Montag, 12. März Sie bilden Netzwerke, die besonders aktiv soll am besten gleich »verduften«. Diese
Geist und Gehirn sind, wenn wir uns nicht bewusst mit et- alltäglichen Metaphern haben dabei
Das Gehirn beim Nichtstun was beschäftigen. durchaus ihren Sinn: Ob sich zwei Men-
Die meisten Menschen glauben, dass sich BR-alpha, 10.15 Uhr schen sympathisch oder unsympathisch
auch unser Gehirn eine Pause gönnt, finden, entscheiden deren Gehirne zu
wenn wir gerade keine bestimmten Auf- LexiTV – Wissen für alle einem Großteil anhand des Körperge-
gaben zu erledigen haben. Tatsächlich be- Düfte: Wohltat für die Nase ruchs. Schon seit Jahrtausenden wollen
findet sich unser Denkorgan aber nicht Unser Geruchssinn ist der am meisten Parfümeure ihm mit künstlichen Aro-
einmal im Zustand der Ruhe, wenn wir unterschätzte Sinn. Im Sprachgebrauch men auf die Sprünge helfen. Welche Sub-
schlafen. Die Erkenntnisse der Hirnfor- ist er allerdings sehr präsent: Wir kön- stanzen zeigen sich dabei als besonders
schung zeigen, dass ganz bestimmte Re- nen jemanden »dufte« finden oder »nicht wirkungsvoll?
gionen für das Nichtstun zuständig sind: riechen«, und eine unliebsame Person MDR, 14.30 Uhr

Radiotipps
Dienstag, 13. März helfen. Bei kaum einer anderen Behinderung weichen Mythos
Kulturtermin und Wirklichkeit so stark voneinander ab wie bei Autismus.
Frühes Vertrauen für späteres Selbstvertrauen Kein Autist gleicht dem anderen, was es häufig erschwert, die
Der Wert frühkindlicher Bindungen Störung überhaupt erst zu diagnostizieren.
In den ersten Lebensjahren werden die Weichen für die wei- NDR Info, 6.30 Uhr
tere Entwicklung eines Menschen gestellt. In der Debatte über
Krippenbetreuung und berufstätige Eltern wächst die Sorge Freitag, 23. März
über eine zu frühe Abnabelung der Kinder von Mutter und Das Feature
­Vater. Doch sind diese Zweifel wirklich begründet? Wie viel Ich sehe was, was du nur hörst
Vertrauen entwickelt ein Kind in seine Eltern, in seine Umge- Über synästhetische Wahrnehmungen
bung, in das Leben? Einen Ton nicht nur hören, sondern auch sehen oder sogar
rbb Kulturradio, 19.04 Uhr schmecken, einen Menschen in bestimmten Farben sehen:
Syn­ästhesie bedeutet das Erleben zweier oder mehrerer zu-
Samstag, 17. März sammen auftretender Sinneseindrücke. Das Phänomen ist
Zeitzeichen schon lange bekannt, doch erst seit der Entwicklung der Ma-
17. 3. 1877: Zum Geburtstag des Psychoanalytikers und gnetresonanztomografie richtet sich auch das Interesse der
Anarchisten Otto Gross Neurowissenschaften auf diese Art der Wahrnehmung. Wie
Der österreichische Psychiater Otto Gross zählt zu den ver- können ­Synästheten ihre Fähigkeit sinnvoll nutzen? Wie
kannten Köpfen der Moderne. Der charismatische Mann und könnte eine Gesellschaft aussehen, die solche Gaben in den
kreative Denker beeinflusste Künstler, Lebensreformer und Alltag und vielleicht sogar in den Bildungskanon integriert –
Anarchisten zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Sigmund Freud wenn also zwei mal zwei nicht nur vier, sondern auch rosa ist?
und viele andere hielten ihn dagegen für einen »armen Irren«. Deutschlandfunk, 20.10 Uhr
Denn Otto Gross war seit seinem 23. Lebensjahr drogenabhän-
gig, kämpfte gegen seinen Vater, der ihn entmündigen ließ, Sonntag, 25. März
und führte ein provozierend unangepasstes Leben. Musikszene
NDR Info, 19.05 Uhr Wenn Finger plötzlich stolpern – die Musikerkrankheit
»fokale Dystonie«
Sonntag, 18. März Ein Pianist kann plötzlich einen Finger nicht mehr richtig be-
Lokaltermin wegen, dann einen zweiten. Der Musikerkrampf, auch fokale
Vergiss »Rain Man«! – Alltag in der Autismus-Ambulanz Dystonie genannt, bedeutet für viele Künstler das Ende der
Rostock Karriere. Denn die bisher bekannten Behandlungsmethoden
Der eine kontrolliert bis zu 100-mal am Tag, ob die Tür ver- helfen nur bedingt. Mittlerweile sind Forscher jedoch mit den
schlossen ist, ein anderer isst jeden Tag Teewurst auf seinem modernen Methoden der Hirnforschung den Ursachen der
Pausenbrot – feste Rituale vermitteln Autisten Sicherheit. ­fokalen Dystonie auf der Spur. Durch eine gezielte »Umpro-
Wenn sie in die Autismus-Ambulanz zur Therapie kommen, grammierung« der verantwortlichen Hirnbereiche könnte die
geht es nicht um Heilung. In kleinen Schritten versuchen die Störung möglicherweise behoben werden.
Mitarbeiter, den Patienten zu mehr Selbstständigkeit zu ver- Deutschlandfunk, 15.05 Uhr

86 G&G 4_2012


Termine
22. März, Berlin Telefon: +49 5206 707275
Vortrag Achtsamkeit – was ist das? E-Mail: bielefeld@dorothearzepka.de
Ort: CHAMP Seminarzentrum, Reinhardtstr. 29 D, www1.uni-hamburg.de/giwk
10117 Berlin
Kontakt: Charité Ambulanz für Prävention und Integrative 29. – 30. März, Bern (Schweiz)
Medizin (CHAMP) 1. Internationaler Psychiatriekongress zu Seelischer
Telefon: +49 30 450529083 Gesundheit und Recovery
E-Mail: annette.wagner@charite.de Ort: Universitätsklinik für Psychiatrie, Bolligenstrasse 111,
www.champ-info.de 3000 Bern 60, Schweiz
Kontakt: Universitäre Psychiatrische Dienste Bern (UPD)
22. – 25. März, Bad Kissingen E-Mail: marion.roggo@gef.be.ch
Jahrestagung der Milton Erickson Gesellschaft für www.recovery-psychiatrie.eu
Klinische Hypnose
Ort: Regentenbau Kissingen, Am Kurgarten 1, 30. – 31. März, Kassel
97688 Bad Kissingen Deutsches Forum für Sucht
Kontakt: Congress Organisation, Claudia Winkhardt Ort: Hotel La Strada, Raiffeisenstraße 10, 34121 Kassel
Telefon: +49 30 36284040 Kontakt: Franziska Beuermann, Telefon: +49 561 2079836
E-Mail: mail@cwcongress.org E-Mail: organisation@forumsucht.de
www.meg-tagung.de www.forumsucht.de

23. – 24. März, Kassel 30. März – 1. April, Göttingen


4. Kongress des Bundesverbands Niedergelassener 26. Jahrestagung der Gesellschaft für Psychohistorie
Verkehrspsychologen und Politische Psychologie
Ort: Schlosshotel Wilhelmshöhe Kassel, Schlosspark 8, Ort: Universität Göttingen, Tagungszentrum an der
34131 Kassel Sternwarte, Geismarlandstr. 11, 37083 Göttingen
Kontakt: BNV, Dipl.-Psych. Rüdiger Born Kontakt: Heike Knoch und Winfried Kurth
Telefon: +49 40 27873810 E-Mail: wk@informatik.uni-goettingen.de
E-Mail: Info@bnv.de www.psychohistorie.de
www.bnv.de
12. – 14. April, Graz (Österreich)
23. – 24. März, München 10. Tagung der Österreichischen Gesellschaft für
15. Mediations-Kongress Psychologie
Ort: Große Aula der Ludwig-Maximilians-Universität, Ort: Campus der Karl-Franzens-Universität Graz
Geschwister-Scholl-Platz 1, 80539 München Kontakt: Institut für Psychologie der Universität Graz,
Kontakt: Centrale für Mediation, Beate Ortmann Martina Feldhammer, Telefon: +43 316 3808477
Telefon: +49 221 93738821 E-Mail: oegp2012@uni-graz.at
E-Mail: cfm@mediate.de www.oegp.net
www.cfm-kongress.de
15. – 27. April, Lindau
28. – 31. März, München 62. Lindauer Psychotherapiewochen
Deutscher Kongress für Psychosomatische Medizin und Ort: Verschiedene Tagungsräume in der Stadt
Psychotherapie Kontakt: Lindauer Psychotherapiewochen
Ort: Technische Universität München, Arcisstraße 21, Telefon: +49 89 2916-3855
80333 München E-Mail: info@lptw.de
Kontakt: Seminar- und Kongress-Service www.lptw.de
Telefon: +49 711 22987-46
E-Mail: info@deutscher-psychosomatik-kongress-2012.de 17. – 20. April, Wien (Österreich)
www.deutscher-psychosomatik-kongress-2012.de 16. Bundeskongress der Psychologinnen und Psychologen
im Justizvollzug Deutschlands
29. – 30. März, Bielefeld Ort: Kardinal König Haus, Kardinal-König-Platz 3, 1130 Wien
Tagung Kriminalität in der Krise Kontakt: Institut für Gewaltforschung und Prävention (IGF)
Ort: Universität Bielefeld, Universitätsstraße 25, Telefon: +43 1 4810943
33615 Bielefeld E-Mail: office@igf.or.at
Kontakt: Prof. Dr. Dorothea Rzepka www.igf.or.at


www.gehirn-und-geist.de 87
Freitag, 30. März
X:enius
Einkaufen – warum kaufen wir mehr,
als wir brauchen?
Shopping ist für viele Menschen Hobby
Nummer eins. Gegen ein gut geplantes
Verkaufsregal kommt dabei kaum ein
Einkaufszettel an: Bis zu zwei Drittel der
Themenabend: Die überforderte Kaufentscheidungen fällen Konsumen­
Gesellschaft ten erst im Geschäft. Marketingexperten
Tabu – psychisch krank im Job wollen vor allem die Prozesse durch-
Psychisch krank zu sein wird häufig als schauen, die sich beim Kaufrausch in un-
gesellschaftliches Tabu betrachtet. Men- serem Gehirn abspielen. Warum fühlen
schen, die sich offen über ihre Probleme wir uns so gut dabei, Geld auszugeben,
äußern, verlieren nicht selten Freunde und warum kaufen wir eigentlich genau
und Job und erleben einen sozialen Ab­ das, was wir kaufen?
stieg. Krankenkassen und Experten schät­ arte, 8.25 Uhr
­zen die Dunkelziffer der Betroffe­nen, die Wdh. am 3. 4. um 17.55 Uhr
ihre Erkrankung nicht behandeln lassen,
mittlerweile als beunruhigend hoch ein. Montag, 2. April
arte, 21.10 Uhr X:enius
Wdh. am 3. 4. um 11.50 Uhr Fasten – Wohltat für Körper und Seele?
Auf Essen verzichten kann man aus den
Donnerstag, 15. März Dienstag, 27. März unterschiedlichsten Gründen: um abzu-
Mosleys Reise in die Psyche (3) Themenabend: Dürfen wir Tiere essen? specken, seinen Körper zu entgiften oder
Kaputte Gehirne Nie wieder Fleisch? aber schlicht auf der Suche nach einer
Was wir heute über die Funktionsweise Immer mehr Menschen essen immer spirituellen Erfahrung. Experten erklä-
unseres Gehirns wissen, verdanken wir mehr Fleisch. Und obwohl zahlreiche wis- ren, wie man richtig fastet und wie das
zu einem nicht unbeträchtlichen Teil der senschaftliche Untersuchungen zeigen, Hungern tatsächlich zur Gesundheit bei-
Forschung an kranken oder bei Operatio­ dass der Verzehr von zu viel Fleisch unge- tragen kann.
nen geschädigten Gehirnen. Einer dieser sund ist, ändert sich dieser Trend kaum. arte, 8.25 Uhr
Denkapparate ist der des Amnesiepatien­ Ganz im Gegenteil: Schätzungen zufolge Wdh. am 3. 4. um 13 Uhr und am 4. 4. um
ten Henry Molaisen, der mittlerweile als wird sich die Fleischproduktion in den 17.55 Uhr
besterforschte Person in der Geschichte nächsten 35 Jahren weltweit sogar noch
der Psychologie gilt. verdoppeln. Ethische Aspekte scheinen Mittwoch, 4. April
ZDFneo, 0.15 Uhr für die meisten Menschen eher zweitran- X:enius
gig zu sein. Wie viel Erziehung brauchen unsere
Dienstag, 20. März arte, 10.30 Uhr Kinder?
Themenabend: Die überforderte Wdh. am 5. 4. um 10.30 Uhr Eltern wollen das Beste für ihr Kind und
Gesellschaft in der Erziehung alles richtig machen.
Unser anstrengendes Leben Mittwoch, 28. März Das ist wahrscheinlich auch der Grund
Arbeitsverdichtung, fehlende Perspekti- X:enius dafür, dass unzählige Ratgeber immer
ven und Angst vor dem Verlust des Ar- Neuroenhancement – Doping fürs wieder die Bestsellerlisten anführen und
beitsplatzes führen zu Stress und auf Gehirn in der Öffentlichkeit heiß diskutiert wer-
Dauer häufig auch zur totalen Erschöp- Wenn es möglich wäre, ohne Anstrengun­ den. Den einzig richtigen Weg gibt es aber
fung. Der Medizinsoziologe Johannes gen unsere Intelligenz zu verbessern  – nicht, daher verunsichert die Vielfalt der
Siegrist zeigt anhand aktueller Studien, würden wir da Nein sagen? Prä­parate, die Erziehungskonzepte Eltern zunehmend.
warum mangelnde Wertschätzung am die Denkleistung verbessern sollen, gibt Wie viel Erziehung müssen Eltern leisten,
Arbeitsplatz nachweislich krank macht, es schon: So genannte Neuroenhancer wie viel die Schule?
und stellt europaweite Projekte und und Modedrogen wie Ritalin und Moda­ arte, 8.25 Uhr
Denkansätze vor, die Dauerüberlastung finil dopen das Gehirn. Die beste Droge Wdh. am 5. 4. um 13 Uhr und am 6. 4. um
im Beruf wirkungsvoll verhindern oder für unser Gedächtnis ist aber immer 17.55 Uhr
bekämpfen sollen. noch ein gesunder Schlaf.
arte, 20.15 Uhr arte, 8.25 Uhr Kurzfristige Programmänderungen der
Wdh. am 3. 4. um 10.55 Uhr Wdh. am 30. 3. um 17.55 Uhr Sender sind möglich.

88 G&G 4_2012


Hirschhausens Hirnschmalz

Dr. med. Eckart von Hirschhausen


ist Autor, Moderator und geht mit
medizinischem Kabarett auf Tour. Sein
kreatives Kredo: Das Auge liest mit!

Am Anfang war das Wort


W as macht ein Pirat am Computer? Er drückt die Entertaste!
Finden Sie nicht komisch? Dann denken Sie doch mal »um
die Ecke«, »über den Tellerrand hinaus« oder einfach »außerhalb
könnte auch auf Schifahrer zutreffen. Sie rasen so schnell abwärts,
dass der Nervenimpuls aus den Füßen, der für die Feinabstim-
mung der Schi sorgt, in den wenigen Millisekunden gar nicht bis
der eingefahrenen Bahnen«. Dass dies wirklich Ihren Horizont er- ins Großhirn gelangen kann! Aber was denkt sich eigentlich das
weitert, zeigt eine neue Studie der Psychologin Angela Leung. Ge- Hindernis beim Abfahrtsrennen? »Hier steh ich nun, ich armes
meinsam mit ihren Kollegen stellte sie populäre Metaphern über Tor?« Vielleicht sollte ich selbst mal einen kurzen Boxenstopp im
das kreative Denken auf den Prüfstand – indem sie diese ganz Denken einlegen. Apropos – ist bei Formel-1-Rennfahrern Déjà-vu
wörtlich nahm. als Berufskrankheit anerkannt? Dieses mulmige Gefühl: Diese
Die Forscher wählten das im Englischen arg strapazierte »thin- Kurve hab ich genau so schon mal gesehen. Ein kreativer Pilot
king outside the box«, was auf Deutsch als »außerhalb der Kiste wäre demnach ein Quer-Lenker.
denken« nie so gebräuchlich wurde. Bei uns steckt man Gedanken
eher in Schubladen. Über 100 Freiwillige setzten die Forscher ent-
weder in einen Pappkarton oder direkt daneben. Dann sollten die
Psyc hotest
Teilnehmer klassische Kreativitätsaufgaben absolvieren, zum Bei- Messen Sie Ihre Kreativität
spiel möglichst originelle Verwendungen für einen Gegenstand Womit glauben Sie zu denken?
finden. Das Ergebnis: Die ungewöhnlichsten Ideen lieferten die A) Gehirn B) Geist C) Knie D) Sonstiges
Probanden, wenn sie buchstäblich außerhalb der Kiste dachten.
Okay – der statistische Effekt war klein, aber trotzdem: Was er-
gibt sich aus diesem Ergebnis, wenn wir es für bare Münze neh- Wie ich auf all diesen Schmarren komme? Kann ich Ihnen auch
men? Soll man jetzt lauter Boxen bauen, nur um sie nicht zu be- nicht erklären. Ich hab schon mal ein MRT von meinem Kopf ma-
nutzen? Was bedeutet das für Menschen mit Fertighäusern? Sind chen lassen. Ergebnis: »o. B.«, ohne Befund. In jedem populären
sie vor der Tür früher mit dem Denken fertig als drinnen? Oder Buch zur Kreativitätsförderung wird empfohlen, man möge doch
sind sie dazu ohnehin zu fertig, weil sie zu wenig nach draußen rechte und linke Hirnhälfte miteinander verbinden. Die beruhi-
gehen? Und soll man Künstlern raten, sich nicht in die Badewanne gende Nachricht: Die Hirnhälften sind bereits miteinander ver-
zu legen, sondern daneben? Wobei, die besten Ideen kommen oh- bunden. Bei Ihnen auch! Die Verbindung nennt sich Corpus callo-
nehin unter der Dusche. Aber nur, wenn man nicht auf dem sum, besser bekannt als der Balken. Nur bei wenigen Menschen
Schlauch steht. fehlt er (siehe Artikel ab S. 70). Tätigkeiten, die uns auf vielen Ebe-
In der Psychiatrie gilt es nicht als Zeichen von besonderer geis­ nen fordern, fördern das Wachstum dieser Rechts-links-Verbin-
tiger Leistung, alles wörtlich zu nehmen, im Gegenteil: Dieser dung, allen voran so schöne Dinge wie Tanzen, Musik machen
»Konkretismus« weist auf krankhaft eingeschränktes Denken hin. oder Frau sein. Vereinfacht gesagt: Je dicker der Balken im Kopf,
Ein Arztkollege erzählte mir einmal, wie es ihn auf der Station ge- desto dünner das Brett vor dem Kopf. Horizont ist der Abstand von
nervt hat, dass die Patienten immer unangekündigt in sein Arzt- der Stirn bis zu diesem Brett. Und der kann offenbar erweitert
zimmer liefen. Er klebte ein Schild an die Tür: »Bitte klopfen!« Jetzt werden, wenn man ab und an mal dicke Bretter bohrt. Na gut – ich
pochten einige bei jedem Vorbeigehen drauflos, auch wenn sie hör schön auf. Seit meiner Knieoperation weiß ich: Nicht alles, was
gar nicht zu ihm wollten – einfach weil sie impulsiv der Aufforde- hinkt, ist eine Metapher! Aber einen hab ich noch: Wie nennt man
rung folgten. Tja, noch schwerer als aus seiner Haut kommt man einen Bumerang, der nicht zurückkommt? Stock.
aus seinem Hirn! Der große Joseph Beuys machte es da wohl rich-
(Leung, A. K. et al.: Embodied Metaphors and Creative »Acts«.
tig, denn er meinte: »Ich denke sowieso mit dem Knie.« Das In: Psycholocial Science, im Druck)


www.gehirn-und-geist.de 89
vorschau ı G&G 5/2012 erscheint am 16. april 2012

Nahrung
für die Seele
Schadet Fastfood dem Wohlbefinden? Und tut
umgekehrt gesundes Essen dem Gefühlsleben
gut? Mediziner und Psychologen wissen: Was wir
essen, beeinflusst unsere psychische Gesundheit.
Entgegen gängigen Vorurteilen taugt als Gute-
Laune-Futter aber weniger Schokolade als viel­
mehr frischer Fisch! Denn die Omega-3-Fett­
säuren in Lachs oder auch Walnüssen heben die
Stimmung und beugen sogar aggressivem
Verhalten vor. Vorsicht ist dagegen bei industriell
gehärteten Fetten geboten – sie sollen sogar
zu depressiven Verstimmungen beitragen. Ein

Dreamstime / Tofuxs
Speiseplan fürs seelische Gleichgewicht

Schau mir in die Augen, Papa! SPEZIAL Das demente Gehirn


Schon kurz nach der Geburt interessieren sich Babys für Bereits mehr als eine Million Menschen in Deutschland leiden
alles, was einem Gesicht ähnlich sieht. Und schnell lernen sie, an der Alzheimerkrankheit. Was lässt sich gegen den schlei­
ver­schiedene Individuen voneinander zu unterscheiden – chen­den Gedächtnisverlust tun? Gibt es gar Aussichten auf
übrigens unabhängig davon, ob es sich um Tiere oder Men­ Heilung? Können auch Umweltfaktoren wie Stress Demenz
schen handelt. Forscher ergründen, wie Säuglinge diese auslösen? G&G schildert den Stand der Dinge in der Alzheimer­
bemerkenswerte Fähigkeit entwickeln forschung

Die Friedensstifter
Ein neues Gesetz soll es künftig erleichtern, Streitfälle per
Mediation zu schlichten. Auf welchen Prinzipien und Tech­
niken basiert das Konflikt-Coaching – und wie wird man
eigentlich Mediator?

Geschmackssache
Lieber Sushi oder Schweinshaxe? Das ist nicht nur eine Frage
unserer Erfahrungen oder des kulturellen Hintergrunds. Denn
Sinnesphysiologen sind sich sicher: Individuelle Vorlieben
sind auch deshalb so verschieden, weil Menschen Geschmacks­
qualitäten unterschiedlich wahrnehmen

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wissenschaftler Daniel Levitin eine Reise unterwegs: Mit vier Reißverschlussfächern, hatte es, Picasso auch: Das Notizbuch (9 x 14 cm)
ins Gehirn des britischen Popmusikers Spiegel und drei kleinen Steckfächern hat einen festen Einband und wird mit einem
Sting unternimmt. Dabei zeigt sich, welche bietet die zusammenrollbare und auf- Gummiband verschlossen. Alle Seiten sind mit
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