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Lehrbuch Kognitive Neurowissenschaften
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Aus Lutz Jäncke: „Lehrbuch Kognitive Neurowissenschaften“ (9783456861173) © 2021 Hogrefe Verlag, Bern.
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Lehrbuch Kognitive Neurowissenschaften


Lutz Jäncke
Wissenschaftlicher Beirat Programmbereich Psychologie:
Prof. Dr. Guy Bodenmann, Zürich; Prof. Dr. Lutz Jäncke, Zürich;
Prof. Dr. Astrid Schütz, Bamberg; Prof. Dr. Markus Wirtz, Freiburg i. Br.,
Prof. Dr. Martina Zemp, Wien

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Lutz Jäncke

Lehrbuch
Kognitive Neuro­
wissenschaften
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3., überarbeitete Auflage

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Prof. Dr. rer. nat. Lutz Jäncke
Universität Zürich
Psychologisches Institut
Lehrstuhl für Neuropsychologie
Binzmühlestrasse 14/25
8050 Zürich
Schweiz
E-Mail: lutz.jaencke@uzh.ch

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Lektorat: Dr. Susanne Lauri


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Herstellung: René Tschirren
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Umschlaggestaltung: Claude Borer, Riehen
Satz: Claudia Wild, Konstanz
Druck und buchbinderische Verarbeitung: Finidr s.r.o., Český Těšín
Printed in Czech Republic

3., überarbeitete Auflage 2021


© 2013 Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern
© 2017, 2021 Hogrefe Verlag, Bern

(E-Book-ISBN_PDF 978-3-456-96117-0)
(E-Book-ISBN_EPUB 978-3-456-76117-6)
ISBN 978-3-456-86117-3
http://doi.org/10.1024/86117-000

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort zur 3. Auflage  15


Vorwort zur 2. Auflage  17
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Vorwort zur 1. Auflage  19

1. Kognitive Neurowissenschaft – Was ist das?   21


1.1. Einführung  23
1.2. Geschichte der ­kognitiven Neuro­wissenschaften  24
1.3. Beziehung zwischen Psychologie und Hirn­forschung  29
1.4. Zusammenfassung  32
1.5. Fragen und Aufgaben  33
1.6. Weiterführende Literatur  33

2. Das menschliche Gehirn: Eine kurze Einführung   35


2.1. Orientierung im Gehirn  37
2.2. Grobe Einteilung des menschlichen Gehirns  40
2.2.1. Graue Substanz, weiße ­Substanz und das Ventrikelsystem  40
2.2.2. Hierarchische Organisation des zentralen Nervensystems  42
2.2.3. Zerebraler Kortex  42
2.2.4. Basalganglien  47
2.2.5. Limbisches System  48
2.2.6. Zwischenhirn  49
2.2.7. Hirnstamm  50
2.2.8. Hirnnerven  53
2.3. Hirnhäute  55
2.4. Zusammenfassung  55
2.5. Fragen und Aufgaben  56
2.6. Weiterführende Literatur  57

3. Nervenzellen, Module, Kabel und Netzwerke   59


3.1. Einführung  61
3.2. Enzephalisations­quotient  61
3.3. Neurone und Gliazellen  65
3.4. Brodmann-Areale  67

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6 Inhaltsverzeichnis

3.5. Von der Phrenologie zu Netzwerken  68


3.6. Zusammenfassung  72
3.7. Fragen und Aufgaben  75
3.8. Weiterführende Literatur  75

4. Reifung des Gehirns   77


4.1. Allgemeines zur ­Reifung und Entwicklung des ­Gehirns  79
4.2. Embryonalentwicklung  80
4.2.1. Von der Neurulation zum Gehirn  80
4.2.2. Neurogenese  82
4.2.3. Migration  84
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4.2.4. Verknüpfung der Neurone und Dendritisierung  85


4.2.5. Synaptogenese und ­programmierter Zelltod  87
4.2.6. Myelinisierung  87
4.2.7. Zusammenfassung der wichtigsten Entwicklungsschritte
in der Embryonalphase  88
4.3. Gehirnentwicklung in den ersten Lebensjahren bis zur Adoleszenz  89
4.4. Gehirnentwicklung in der Adoleszenz  92
4.5. Entwicklung des Gehirns und neurophysiologische Aktivität  95
4.6. Hirnentwicklung und Verhalten  97
4.7. Kritische Phasen  105
4.8. Zusammenfassung  106
4.9. Fragen und Aufgaben  109
4.10. Weiterführende Literatur  109

5. Methoden der kognitiven Neurowissenschaften   111


5.1. Einleitung  113
5.2. Klassische Methoden aus der kognitiven ­Psychologie  113
5.3. Bildgebung  114
5.3.1. Magnetresonanztomografie – das Grundprinzip  115
5.4. Elektrophysiologie  125
5.4.1. Frequenzbezogene Analysen  127
5.4.2. Ereigniskorrelierte Potenziale  129
5.4.3. Elektrophysiologische Grundlage von EEG und ERP  132
5.5. Dipolanalysen und ­elektrische Tomografie  133
5.6. Magnetenzephalografie (MEG)  134
5.7. Nahinfrarot­spektroskopie  136
5.8. Biofeedback von ­kortikaler Aktivität  138
5.9. Beeinflussung des Gehirns  140
5.10. Läsionsstudien  141
5.11. Weiterführende Methoden  142
5.12. Übersicht über die ­Methoden der kognitiven Neurowissenschaften  144
5.13. Zusammenfassung  145

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Inhaltsverzeichnis 7

5.14. Fragen und Aufgaben  149


5.15. Weiterführende Literatur  149

6. Hemisphärenasymmetrie   151
6.1. Allgemeines  153
6.2. Funktionelle Links-rechts-Asymmetrien  153
6.2.1. Sprachlateralisierung  153
6.2.2. Händigkeit  154
6.2.3. Experimentalpsychologische Verfahren  158
6.2.4. Neurophysiologische ­Asymmetrien  163
6.2.5. Zusammenfassung der ­funktionellen Asymmetrien  167
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6.2.6. Befunde aus der Neurologie  167


6.3. Corpus callosum und ­interhemisphärischer ­Informationsaustausch  168
6.3.1. Split brain  168
6.3.2. Corpus-callosum-Anatomie  169
6.4. Anatomische ­Asymmetrien  171
6.4.1. Sylvische Fissur  172
6.4.2. Globale Links-rechts-­Unterschiede  173
6.4.3. Die Planum-temporale- und Planum-parietale-­Asymmetrie  175
6.4.4. Weitere anatomische ­Asymmetrien  176
6.5. Verhaltensauffällig­keiten und atypische Asymmetrien  180
6.6. Dynamik der ­Asymmetrien  180
6.6.1. Asymmetriewechsel bei ­auditorischer Wahrnehmung  181
6.6.2. Interaktionen zwischen ­beiden Hemisphären beim motorischen ­
Lernen  182
6.7. Ursachen der ­Asymmetrien  186
6.8. Geschlechts­unterschiede bei ­Asymmetrien  187
6.9. Zusammenfassung  190
6.10. Fragen und Aufgaben  192
6.11. Weiterführende Literatur  192

7. Allgemeines zur Wahrnehmung   193


7.1. Bedeutung der ­Wahrnehmung  195
7.2. Was ist Wahrnehmung?  195
7.3. Ablauf der ­Wahrnehmung  196
7.4. Psychophysik  198
7.5. Bottom-up- und Top-down-Verarbeitung  203
7.6. Beziehung zwischen Top-down- und Bottom-up-Verarbeitung  205
7.7. Bindungsproblem und dynamische Kopplung  206
7.8. Synästhesie  208
7.9. Zusammenfassung  210
7.10. Fragen und Aufgaben  212
7.11. Weiterführende Literatur  212

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8 Inhaltsverzeichnis

8. Visuelle Wahrnehmung   213


8.1. Vom Auge zum Gehirn  215
8.1.1. Retina  215
8.1.2. Sehbahn  216
8.1.3. Rezeptive Felder  218
8.2. Visueller Kortex  218
8.2.1. Visuelle Areale  218
8.2.2. Verschaltungsprinzip im visuellen Kortex  223
8.2.3. Retinotopie  225
8.3. Blindsight – Blindsicht  229
8.4. Einfache und grundlegende Wahrnehmungsleistungen  229
8.4.1. Tiefenwahrnehmung  229
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8.4.2. Farbwahrnehmung  232


8.4.3. Bewegungswahrnehmung  234
8.5. Objektwahrnehmung  236
8.5.1. Das Problem der Objekt­wahrnehmung  236
8.5.2. Theoretische Konzepte zur Erklärung der Objektwahrnehmung  236
8.5.3. Kortikale Repräsentation der Objektwahrnehmung  238
8.5.4. Raumwahrnehmung  251
8.6. Störungen der visuellen Wahrnehmung  254
8.7. Visuelle Vorstellungen  258
8.8. Zusammenfassung  259
8.9. Fragen und Aufgaben  262
8.10. Weiterführende Literatur  263

9. Auditorische Wahrnehmung   265


9.1. Einleitung  267
9.2. Akustische Signale  267
9.3. Lautstärke und Isophone  269
9.4. Auditorisches System  270
9.4.1. Ohr  270
9.4.2. Zentrale Verarbeitung akustischer Reize  276
9.5. Zusammenfassung  295
9.6. Fragen und Aufgaben  298
9.7. Weiterführende Literatur  298

10. Aufmerksamkeit   301


10.1. Das Wesen der ­Aufmerksamkeit  303
10.2. Bewusstsein – ­Aufmerksamkeit  304
10.3. Kontrollierte und automatische Prozesse  306
10.4. Aufmerksamkeits­metaphern und Aufmerksamkeitsinstanzen  308
10.4.1. Die „Filter“-Metapher  308

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10.4.2. Die „Spotlight“-Metapher  308


10.4.3. Die „Spotlight-in-the-brain“-Metapher  308
10.4.4. Die „Attention-as-vision“-Metapher  309
10.4.5. Top-down-Ansätze  309
10.4.6. Bottom-up-Ansätze  309
10.4.7. Hybrid-Ansätze  309
10.5. Neuropsychologie der Aufmerksamkeit  310
10.5.1. Taxonomie der Aufmerksamkeit nach Zoomeren-Sturm  310
10.5.2. „Biased-competition“-Modell der Aufmerksamkeit  312
10.5.3. Neuroanatomie der Aufmerksamkeit  315
10.6. Neurophysiologie der Aufmerksamkeit  321
10.6.1. Verstärkung neuronaler ­Aktivität  321
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10.6.2. Aufmerksamkeit und ­elektrische Hirnoszillationen  326


10.6.3. Neurochemie der ­Aufmerksamkeit  327
10.7. Zeitlicher Verlauf von Aufmerksamkeits­prozessen  329
10.8. Neurophysiologie ­bewusster und reflexiver Aufmerksamkeits­steuerung  331
10.9. Aufmerksamkeitsmodelle  333
10.9.1. Aufmerksamkeitsmodell nach Posner  333
10.9.2. Aufmerksamkeitsmodell nach Mesulam  335
10.9.3. Aufmerksamkeitsmodell nach Mirsky  336
10.9.4. Aufmerksamkeitsmodell nach Corbetta und Shulman  338
10.10. Aufmerksamkeits­störungen  339
10.10.1. Neglekt  340
10.10.2. Bálint-Holmes-Syndrom  342
10.11. Zusammenfassung  343
10.12. Fragen und Aufgaben  346
10.13. Weiterführende Literatur  346

11. Exekutive Funktionen   349


11.1. Was sind exekutive Funktionen?  351
11.2. Theoretische Über­legungen zu den exe­­kutiven Funktionen  352
11.2.1. System der überwachenden Aufmerksamkeit  352
11.2.2. Handlungstheoretische ­Modelle  352
11.2.3. Arbeitsgedächtnismodelle  353
11.2.4. Theorie der somatischen ­Marker  354
11.2.5. Reduktion auf Basisprozesse  354
11.2.6. Konzept der exekutiven Funktionen nach Drechsler  355
11.3. Anatomie der ­exekutiven Kontrolle  358
11.3.1. Anatomisch-funktionelles Netzwerk der exekutiven Funktionen  360
11.3.2. Rolle der Basalganglien  362
11.3.3. Frontalkortex  362
11.4. Modelle der Frontal­kortexfunktionen  364
11.4.1. Domänenspezifisch oder funktionsspezifisch  364
11.4.2. Hierarchische Modelle  365

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10 Inhaltsverzeichnis

11.4.3. Dorsolaterales präfrontales Kontrollsystem  368


11.4.4. Ventromediales präfrontales System  373
11.5. Zusammenfassung  379
11.6. Fragen und Aufgaben  381
11.7. Weiterführende Literatur  382

12. Motorische Kontrolle   383


12.1. Faszination der ­Bewegung  385
12.2. Das motorische Transformationsproblem  385
12.3. Ein einfaches Modell der menschlichen Bewegungskontrolle  387
12.3.1. Regelung und Steuerung  388
12.3.2. Das motorische Programm  389
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12.4. Motorareale  390


12.4.1. Organisation der Motorareale  392
12.4.2. Funktion einzelner kortikaler Areale – der Informationsfluss
im motorischen System  395
12.5. Planung von ­Bewegungen  402
12.6. Bewegungsvorbereitung und Willenshandlungen  404
12.7. Bewegungslernen  409
12.8. Bewegung, Vorstellung und Sprache  411
12.9. Störungen der Motorik  415
12.10. Zusammenfassung  418
12.11. Fragen und Aufgaben  422
12.12. Weiterführende Literatur  422

13. Allgemeines zum Gedächtnis   423


13.1. Warum das Gedächtnis so wichtig ist?  425
13.2. Gedächtnissysteme  426
13.3. Gedächtnisprozesse  426
13.4. Messung des ­Gedächtnisses  427
13.5. Taxonomie des Langzeitgedächtnisses  427
13.6. Gedächtnis auf der zellulären Ebene  429
13.6.1. Habituation und ­Sensitivierung  430
13.6.2. Langzeitpotenzierung und Langzeitdepression  431
13.6.3. Veränderung der Synapsen beim Lernen  432
13.6.4. Zusammenfassung der synaptischen Mechanismen  433
13.7. Neuronale Netze  433
13.8. Mesiotemporales ­Gedächtnissystem  439
13.9. Von der zellulären Ebene zum übergeordneten System  441
13.10. Konsolidierung im ­deklarativen Gedächtnis  441
13.11. Gedächtnis und ­Emotionen  444
13.12. Zusammenfassung  446
13.13. Fragen und Aufgaben  448
13.14. Weiterführende Literatur  448

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14. Deklaratives Gedächtnis   449


14.1. Das deklarative ­Gedächtnis und seine Teilkomponenten  451
14.2. Mesiotemporaler Hirnbereich und das deklarative Gedächtnis  451
14.2.1. Theorien  451
14.2.2. Integration aller neuro­wissenschaftlichen Gedächtnistheorien  454
14.3. Frontalkortex und ­deklaratives Gedächtnis  455
14.3.1. Encodieren im Frontalkortex  456
14.3.2. Abruf von Informationen  457
14.3.3. Zusammenfassung  460
14.4. Parietallappen und ­deklaratives Gedächtnis  460
14.5. Sensorische Areale und deklaratives Gedächtnis  461
14.6. Elektrophysiologische Kennwerte des deklarativen Gedächtnisses  461
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14.7. Wie ist Wissen ­repräsentiert?  465


14.7.1. Semantisches Netzwerk  466
14.7.2. Prototypenmodell  468
14.7.3. Exemplartheorie  468
14.7.4. Neurowissenschaftliche ­Befunde  469
14.8. Beeinflussung des ­deklarativen Gedächtnisses  470
14.9. Zusammenfassung  472
14.10. Fragen und Aufgaben  474
14.11. Weiterführende Literatur  474

15. Nondeklaratives Gedächtnis   475


15.1. Einleitung  477
15.2. Verschiedene Formen des Primings  478
15.2.1. Perzeptuelles Priming  478
15.2.2. Konzeptuelles Priming  482
15.2.3. Semantisches Priming  484
15.2.4. Theorien zum Priming  486
15.3. Lernen von Fertigkeiten  487
15.3.1. Lernen von motorischen ­Fertigkeiten  491
15.3.2. Perzeptuelles Lernen  495
15.3.3. Lernen von kognitiven ­Fertigkeiten  498
15.4. Konditionierung  500
15.5. Zusammenfassung  503
15.6. Fragen und Aufgaben  504
15.7. Weiterführende Literatur  504

16. Arbeitsgedächtnis   505


16.1. Einführung  507
16.2. Arbeitsgedächtnismodelle  508
16.3. Hirnaktivität bei Arbeitsgedächtnisaufgaben  511

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16.4. Verbales Arbeitsgedächtnis  512


16.4.1. Phonologisches Arbeitsgedächtnis  512
16.4.2. Arbeitsgedächtnis für Grapheme  513
16.4.3. Semantisches Arbeitsgedächtnis  515
16.4.4. Zusammenfassung zum verbalen Arbeitsgedächtnis  515
16.5. Visuelles Arbeitsgedächtnis  516
16.6. Auditorisches Arbeitsgedächtnis  518
16.7. Die Rolle des dorsolateralen Präfrontalkortex  518
16.8. Elektrophysiologie des Arbeits­gedächtnisses  519
16.9. Zusammenfassung  523
16.10. Fragen und Aufgaben  525
16.11. Weiterführende Literatur  525
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17. Plastizität   527


17.1. Einleitung  529
17.2. Genetik und Umwelt  531
17.3. Funktionelle Plastizität bei Tieren  532
17.4. Funktionelle Plastizität beim Menschen  533
17.5. Strukturelle Plastizität  541
17.6. Rehabilitation  545
17.7. Zusammenfassung  548
17.8. Fragen und Aufgaben  550
17.9. Weiterführende Literatur  551

18. Sprache und Kommunikation   553


18.1. Einführung  555
18.2. Was ist Sprache?  556
18.3. Sprache der Tiere  561
18.4. Produktion von Lauten und Sprache  561
18.5. Funktionelle Neuro­anatomie sprachlicher Äußerungen  564
18.5.1. Zeitliche Organisation der ­auditiven Sprachverarbeitung  569
18.5.2. Neurale Signatur der lautsprachlichen Verarbeitung  574
18.5.3. Neuroanatomische Korrelate der Sprachartikulation  581
18.6. Die Sprache des Gehirns  584
18.7. Gebärdensprache  586
18.8. Die Evolution der Sprache  589
18.9. Zusammenfassung  592
18.10. Fragen und Aufgaben  594
18.11. Weiterführende Literatur  594

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Inhaltsverzeichnis 13

19. Lesen und Schreiben   597


19.1. Das Wesen des Lesens  599
19.2. Wie lesen wir?  600
19.3. Funktionelle Neuro­anatomie und Neuro­physiologie des Lesens  603
19.4. Leseprozess  604
19.5. Lesestörungen  606
19.6. Schreiben  609
19.7. Lesen in anderen Sprachen  610
19.8. Zusammenfassung  612
19.9. Fragen und Aufgaben  613
19.10. Weiterführende Literatur  613
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20. Emotion und Motivation   615


20.1. Einleitung  617
20.2. Emotion und Motivation – was ist das?  617
20.3. Emotionstheorien  620
20.4. Konzept der Basis­emotionen – von Darwin zu Ekman  624
20.5. Theorie von Panksepp – die Rolle von Emotionssystemen  625
20.6. Theorie der somatischen Marker von Damasio  627
20.7. Emotionen und Lernen  631
20.7.1. Furchtkonditionierung  631
20.7.2. Indirektes Konditionieren  632
20.7.3. Informationswege der Amygdala  632
20.7.4. Amygdala und Lernen  633
20.8. Asymmetrie-Hypothese der Emotions­verarbeitung  635
20.9. Verstärkung und ­Motivation  638
20.10. Frontalkortex  638
20.11. Funktionelle Spezialisierung des Frontalkortex  640
20.12. Konzept der Verstärkung  640
20.12.1. Verstärkung im Affengehirn  641
20.12.2. Verstärkung im ­Menschengehirn  641
20.13. Wanting und Liking  643
20.14. Impulskontrolle  644
20.15. Zusammenfassung  645
20.16. Fragen und Aufgaben  648
20.17. Weiterführende Literatur  649

21. Urteilen und Entscheiden   651


21.1. Einleitung  653
21.2. Psychologische Entscheidungstheorien  653
21.2.1. Klassische Entscheidungstheorie – eine Frage des ­Nutzens  653
21.2.2. Prospect-Theorie und ­Rahmungseffekte  654
21.3. Einfluss von Emotionen auf Entscheidungen  657

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14 Inhaltsverzeichnis

21.4. Spieltheorien  659


21.5. Neuronale Grundlagen  661
21.5.1. Interaktives Entscheidungsverhalten  666
21.5.2. Entscheidungspräferenzen  670
21.5.3. Entscheidungsverhalten und Informationsintegration  672
21.6. Theory of mind  674
21.7. Oxytocin und Entscheidungsverhalten  676
21.8. Zusammenfassung  676
21.9. Fragen und Aufgaben  678
21.10. Weiterführende Literatur  679
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22. Das Gehirn in Ruhe   681


22.1. Einleitung  683
22.2. Ruhezustand gemessen mit der funktionellen Magnetresonanz­tomografie  684
22.3. Ruhezustand gemessen mit dem EEG  686
22.4. Interindividuelle Unterschiede in den Ruhe­netzwerken  690
22.5. Der Schlaf – ein besonderer Ruhezustand des Gehirns  690
22.6. Zusammenfassung  695
22.7. Fragen  697
22.8. Weiterführende Literatur  698

Literatur   699

Index   726

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15

Vorwort zur 3. Auflage

Mit dieser 3. Auflage haben wir die Gelegen- und Bewusstsein ist eigentlich zu breit und
heit genutzt, um Ergänzungen und Verbes- wenig fokussiert, um es in einem Lehrbuch
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serungen im Vergleich zur 2. Auflage einzufü- zur Einführung in die Neurowissenschaften


gen. Wie immer bemühen wir uns, Fehler zu zu besprechen. Hinzugekommen sind neue
identifizieren und sie zu eliminieren. Einige und interessante Befunde zur Neuroplastizi-
haben wir entdeckt und entsprechend korri- tät, zur Hemisphärenasymmetrie, Methoden
giert. Es sind auch neue Abbildungen hin- und Neuroanatomie. Wie auch immer, wir
zugekommen, andere wurden angepasst, ver- hoffen, dass wir mit der 3. Auflage wichtige
bessert und korrigiert. Ich hatte eigentlich Ergänzungen und Verbesserungen hinzuge-
vorgehabt, ein eigenes Kapitel zur Neurowis- fügt haben, die dem Studierenden helfen,
senschaft des Bewusstseins hinzuzufügen. sich in dieses faszinierende Gebiet hinein-
Dies habe ich aber nach reiflicher Überlegung zuarbeiten.
unterlassen und lediglich einige Absätze zum
Bewusstsein im Kapitel Aufmerksamkeit hin- Lutz Jäncke
zugefügt. Das Thema Neurowissenschaften Zürich, im August 2020

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17

Vorwort zur 2. Auflage

„Kognitive Neurowissenschaft“ ist ein Sam- hirns dargestellt habe. Ein großer Teil der
melbegriff, unter dem verschiedene Wissen- aktuellen neurowissenschaftlichen Arbeiten
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schaftsdisziplinen, die sich alle mit dem Zu- konzentriert sich auf die neurophysiologi-
sammenhang zwischen Gehirn und Verhalten schen Grundlagen und Begleiterscheinungen
auseinandersetzen, zusammengefasst wer- dieses Zustandes, da er viele interessante In-
den. Jede dieser Disziplinen (z. B. Neuroanato- formationen über die Arbeitsweise und Orga-
mie, Neurophysiologie, Bildgebung, Kognitive nisation des Gehirns liefert. 
Psychologie etc.) hat sich in den letzten 10 Jah- Natürlich haben wir uns auch bemüht,
ren enorm entwickelt. Viele dieser Disziplinen Fehler zu identifizieren und sie zu eliminie-
erleben methodische, technische und inhalt- ren. Trotz aller Mühe schleichen sich immer
liche Weiterentwicklungen, welche außer in wieder Rechtschreib-, Interpunktions- oder
den Ingenieur- und Computerwissenschaften Grammatikfehler ein, die nicht gerne gefun-
in kaum einer anderen Wissenschaftsdisziplin den werden wollen, insbesondere nicht vom
anzutreffen sind. Im Zuge dieser Entwicklung Autor. Wir haben allerdings einige entdeckt,
werden ständig neue Befunde berichtet, an- die wir entsprechend korrigiert haben. Auch
dere werden bestätigt oder gar verworfen. In- einige Abbildungen sind angepasst, verbessert
sofern ist eine enorme Dynamik in dieser For- und korrigiert worden. Hierfür danke ich ins-
schungsdisziplin zu vermerken.  besondere meinen Studierenden in Zürich, die
In der vorliegenden 2. Auflage sind des- immer wieder Ungereimtheiten und Fehler
halb einige neue Befunde aufgenommen wor- entdecken. 
den, um dieser rasanten Entwicklung Rech- Ich hoffe, dass mit der 2. Auflage ein inte-
nung zu tragen. Da vor allem die EEG- ressantes und für den Studierenden hilfreiches
Technologie einen enormen Fortschritt und Werk vorliegt, mit dem man einen Einstieg in
Aufschwung erfahren hat, habe ich insbeson- die faszinierende Welt der Kognitiven Neuro-
dere neue Informationen aus diesem Me- wissenschaften findet. 
thodenbereich aufgenommen. Des Weiteren
wurde ein neues Kapitel eingefügt, in dem ich Lutz Jäncke
die Bedeutung des „Ruhezustandes“ des Ge- Zürich, im April 2017

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19

Vorwort zur 1. Auflage

Dieses Lehrbuch beruht auf den Einführungs- Lehrbücher und insbesondere Einfüh-
vorlesungen zur kognitiven Neurowissen- rungsbücher „leben“ von den Befunden, die
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schaft, die ich an der Universität Zürich und an viele Wissenschaftler der Gemeinschaft zur
der ETH Zürich in den Jahren 2002 bis 2012 Verfügung gestellt haben. Nicht alle konnten
gehalten habe. Der Leser sollte berücksichti- berücksichtigt werden und ich habe die aus
gen, dass dies ein Einführungsbuch ist. Ich be- meiner Sicht wichtigen dargestellt. Dies ist
tone das, weil sich die kognitiven Neurowis- keine Wertung, sondern nur dem selektiven
senschaften in den letzten 25 Jahren enorm Blick geschuldet, den man bei der Flut der
entwickelt und viele Zweige eingeschlagen und vielen Befunde einnehmen muss. Insofern
verfolgt haben, die meines Erachtens nicht zu- entschuldige ich mich bereits an dieser Stelle
sammengefasst in einem Lehrbuch dargestellt bei den Kollegen, deren Arbeiten ich in diesem
werden können. In diesem Lehrbuch habe ich Lehrbuch nicht angemessen würdigen konnte,
mich v. a. auf die kognitive Neurowissenschaft aber eigentlich hätte aufnehmen müssen.
aus dem Blickwinkel des Menschen konzen- Für die Durchsicht bestimmter Kapitel
triert. Tierversuche und Ergebnisse daraus bedanke ich mich bei Klaus  Oberauer (Ar-
wurden weitgehend ausgeklammert und nur beitsgedächtnis), Renate Drechsler (Exekutive
jene ausgewählt, die für das Verständnis der Funktionen) und Kai Lutz (Motorik). Ebenso
kognitiven Neurowissenschaften des Men- bedanke ich mich bei Frau Susanne Richli, die
schen wichtig sind. Viele interessante Bereiche viele Kapitel gelesen hat, um diese aus Sicht
der modernen kognitiven Neurowissenschaf- eines Studierenden zu beurteilen. Mein be-
ten konnten aus Platzgründen, aber auch aus sonderer Dank gilt Frau Edelmann, die die Ab-
Gründen der Didaktik nicht dargestellt wer- bildungen entweder völlig neu gezeichnet oder
den. Dazu gehören die kognitive Psychophar- anhand von Vorlagen modifiziert und nach-
makologie, die Genetik, die vielen Befunde aus gezeichnet hat. In einigen Abbildungen habe
der Molekularbiologie und v. a. aus dem sich ich ein Standardgehirn aus dem Programm
derzeit schnell entwickelnden Gebiet der ma- MriCro von Chris Rorden genutzt. Ich danke
thematisch orientierten kognitiven Neurowis- Chris für seine Zustimmung hierzu.
senschaften. Ich habe auch vermieden, die kli- Für Hinweise auf etwaige Fehler, Miss- und
nische Neuropsychologie und Neurologie zu Unverständlichkeiten bin ich dankbar.
stark zu betonen, sondern mich v. a. auf die
normale Funktion des Gehirns konzentriert. Lutz Jäncke
Trotz allem oder vielleicht gerade deswegen Zürich, im Juni 2013
denke ich, dass der Leser einen Überblick über
das neue Gebiet der kognitiven Neurowissen-
schaften erhält.

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  21

1. Kognitive Neurowissenschaft –
Was ist das?
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1.1. Einführung 23

1.1. Einführung schen funktionieren, ist das Hauptanliegen.


Während die kognitive Psychologie klar um-
Die kognitive Neurowissenschaft ist eine junge schrieben ist und vorwiegend von Psychologen
Disziplin. Einer Anekdote zufolge wurde der betrieben wird, arbeiten in den Neurowissen-
Begriff von Michael Gazzaniga spontan erfun- schaften Wissenschaftler unterschiedlicher
den, als er während einer U-Bahn-Fahrt in Pa- Disziplinen zusammen, denen die Erforschung
ris von einem Mitfahrenden gefragt wurde, in des Gehirns bzw. des zentralen Nervensystems
welchem Wissenschaftsbereich er arbeite. Un- gemeinsam ist und die mittels biologischer,
geachtet dessen, ob diese Anekdote wahr ist, physikalischer, chemischer und mathemati-
haben sich die kognitiven Neurowissenschaf- scher Methoden das Gehirn von Menschen und
ten als Kombination aus kognitiver Psychologie Tieren untersuchen. Teildisziplinen sind Neu-
und den Neurowissenschaften in den späten robiologie, Neurophysiologie, Neuropsycholo-
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1980er Jahren entwickelt. Die kognitive Psy- gie und klinisch-medizinische Fächer, die sich
chologie untersucht seit Ende der 1960er Jahre mit den Fehlfunktionen des Gehirns befassen
die internen psychischen Vorgänge, die im Zu- (Tab. 1-1).
sammenhang mit den kognitiven Funktionen Insbesondere durch die Entwicklung der
wirksam sind. Herauszufinden, wie Denken, bildgebenden Verfahren (z. B. funktionelle
Lernen, Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Wahr- Magnetresonanztomografie, fMRT; Kap. 5) zu
nehmung, Motorik, mentale Repräsentation, Beginn der 1990er Jahre ist der Zusammen-
Sprache, Emotion und Motivation beim Men- schluss von kognitiver Psychologie und Neuro-

Tabelle 1-1: Neurowissenschaften und die dazugehörigen Teildisziplinen.

Neurobiologie • beschäftigt sich mit den molekularen und zellbiologischen


Grundlagen der Neurowissenschaften
• Teildisziplinen sind Biochemie, Molekularbiologie, Genetik,
Epigenetik, Histologie, Anatomie und die Zellbiologie
• arbeitet oft mit Tiermodellen
Neurophysiologie • gilt als zentrale Disziplin der Neurowissenschaften und un-
tersucht die Aktivität der Nervenzellen
• gilt als zentral, da die Aktivität der Neuronen allgemein als
«Sprache der Nervenzellen» aufgefasst wird
• Teildisziplinen sind Elektrophysiologie, Neuropharmakologie,
Neuroendokrinologie und Toxikologie
• arbeitet oft mit Tiermodellen oder mit physiologischen Prä-
paraten.
• wird auch beim Menschen angewendet; es werden v. a. elek-
troenzephalografische und elektromyografische Methoden
zur Registrierung menschlicher Funktionen eingesetzt
kognitive Neurowissenschaft • befasst sich mit den neuronalen Mechanismen, die kogniti-
ven und psychischen Funktionen zugrunde liegen
• arbeitet vorwiegend humanbiologisch und interessiert sich
deshalb in erster Linie für das menschliche Gehirn und des-
sen Kontrolle von psychischen Funktionen
• Tiermodelle werden eingeschränkt herangezogen

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24 1.  Kognitive Neurowissenschaft – Was ist das?

klinisch-medizinische Disziplinen • beschäftigen sich mit der Pathogenese, Diagnose und Thera-
pie der Gehirnerkrankungen beim Menschen
• Teildisziplinen sind Neurologie, Neuropathologie, Neurochi-
rurgie, Neuroradiologie, biologische Psychiatrie und klinische
Neuropsychologie
Neuropsychologie • Teildisziplin der Psychologie und der Neurowissenschaften
• Ziel ist es, Verhalten und Erleben aufgrund physiologischer
Prozesse zu beschreiben und zu erklären
• arbeitet am Menschen und mit Tiermodellen
• Methoden sind Läsions- und Interventionsstudien (Arznei-
mittel, TMS etc.), Registrierung von Hirnaktivitäten während
des Durchführens von psychischen Tätigkeiten
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wissenschaften beschleunigt worden. Bereits neuronalen Mechanismen auseinandersetzt,


vor Einführung der fMRT hatte sich eine For- die kognitiven und psychischen Funktionen
schungsdisziplin innerhalb der Psychologie zugrunde liegen (Abb. 1-1). Sie arbeitet vor-
etabliert, die als kognitive Psychophysiolo- wiegend humanbiologisch und befasst sich
gie bezeichnet wird. Sie nutzt elektrophysio- daher hauptsächlich mit dem menschlichen
logische Methoden, um kognitive Vorgänge Gehirn und dessen Kontrolle von psychischen
zu untersuchen (z. B. Elektroenzephalografie Funktionen. In diesem Sinn beschäftigt sie
oder Methoden zur Messung peripherer phy- sich mit dem in der Philosophie seit Langem
siologischer Vorgänge). In dieser Disziplin diskutierten Leib-Seele-Problem.
wurde insbesondere die Technik der evozier-
ten Potenziale entwickelt, mit der Erkennt-
nisse bezüglich der Funktion des mensch-
1.2. Geschichte der ­
lichen Gehirns sowie psychischer Funktionen kognitiven Neuro­
gewonnen werden. wissenschaften
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass
sich die kognitive Neurowissenschaft mit den Die wohl älteste Nennung des Wortes „Ge-
hirn“ findet sich in den „Edwin-Smith-Papy-
Kognition Neurowissenschaften
rus-Rollen“ (Abb. 1-2), die wahrscheinlich um
1700 v. Chr. erstellt worden sind. Archäologen
Aufmerksamkeit Neurophysiologische
Gedächtnis Zusammenhänge
gehen davon aus, dass die dort beschriebenen
Wahrnehmung Inhalte bis in die Zeit 2500–3000 v. Chr. zu-
Neuroanatomie
Sprache rückreichen. In diesen Papyrus-Rollen sind 48
Motorik Neurochemie klinische Fälle beschrieben, darunter 27 Hirn-
Denken verletzungen (Nunn, 1996).
Biophysik
Emotion In der Antike bestand nur während einer
Motivation Evolution
kurzen Periode Interesse am menschlichen
Lernen
Neurobiologie Gehirn, was im Wesentlichen auf das Tabu,
Bewusstsein
menschliche Leichen zu sezieren, zurück-
Abbildung 1-1 : Schematische Darstellung des zuführen ist. Dieses Tabu brachen im 3. Jahr-
Zusammenhangs zwischen kognitiver Psycho- hundert v. Chr. in Alexandria die beiden For-
logie (Kognition) und den Neurowissenschaften. scher Herophilus und Erasistratos, die

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1.2.  Geschichte der ­kognitiven Neuro­wissenschaften 25

lassen, nehmen wir uns doch z. B. Dinge „zu


Herzen“ und nicht „zu Hirne“. Eine gewisse
Hinwendung zum Gehirn ist in dem wunder-
schönen Werk von Andreas Vesalius zu er-
kennen. In seiner Lehr- und Forschungszeit
als Professor für Chirurgie an der Universität
Padua schuf er sein anatomisches Lebenswerk
Abbildung 1-2: Hieroglyphisch geschriebenes
Wort mit der Bedeutung „Gehirn“. Nachgezeichnet De humani corporis fabrica – Über den Bau des
nach Nunn (1996). menschlichen Körpers, das er 1543 veröffent-
lichte. Darin vertrat er, entgegen der vorherr-
schenden Meinung, die Ansicht, allein die
anatomische und physiologische Studien an menschliche Leiche sei ein zuverlässiger Weg,
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den Leichen Hingerichteter durchführten Erkenntnisse über den Körperbau zu erlan-


(Diels & Kranz, 1952). Es wird vermutet, dass gen – damals eine ungeheure und für die Kir-
sie Vivisektionen auch an zum Tode Verurteil- che unerträgliche Sichtweise. Vesalius hat be-
ten vornahmen. Leider sind nur Teile ihrer Ar- eindruckende Zeichnungen des menschlichen
beiten erhalten geblieben, der größte Teil ihrer Gehirns angefertigt, die auch heutzutage
Schriften wurde beim großen Brand der Bi- nicht an Ausdruckskraft verloren haben.
bliothek von Alexandria 47 v. Chr. vernichtet. Diese Zeichnungen sind in einer Zeit ent-
Nach dem Tod dieser Forscher sind in der standen, in der die ventrikuläre Lokalisati-
Antike wahrscheinlich keine weiteren Sektio- onshypothese (nach Aristoteles) noch sehr
nen durchgeführt worden und das Interesse populär war. Im Rahmen dieser Theorie wird
am menschlichen Gehirn nahm ab, was ins- den Ventrikeln eine besondere funktionelle
besondere durch den berühmten Philoso- Bedeutung zugeschrieben, der zufolge das psy-
phen Aristoteles (384–322 v. Chr.) befördert chische „Pneuma“ in ihnen zirkulieren und
wurde (von Staden, 1989). Aristoteles sah im über das Ventrikelsystem quasi in den Körper
Gehirn nicht mehr als ein Kühlaggregat für gepumpt werden soll. Das Gehirn fungiert ge-
das vom Kreislauf erhitzte Blut; für ihn war das mäß dieser Hypothese lediglich als Stützkör-
Herz das zentrale Organ des Menschen. Diese per und bestimmte Ventrikelbereiche sind auf
Ansicht blieb lange Zeit sehr einflussreich und verschiedene psychische Funktionen speziali-
hat in unserer Alltagssprache Spuren hinter- siert. Illustrationen dieser Hypothese haben

Gregor Reisch Vesalius Markus Hundt


1504 1543 1501

Abbildung 1-3: Historische Hirn- und Schädelzeichnungen von Vesalius, Hundt und Reisch. Die Bilder
sind dem Buch von Walsh (1978) entnommen und leicht modifiziert worden.

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26 1.  Kognitive Neurowissenschaft – Was ist das?

die Mönche Gregor Reisch (1504) und Mag- ßen und diese anatomischen Eigenarten mit
nus Hundt (1501) erstellt (Abb. 1-3). So wird bestimmten psychischen Funktionen in Bezie-
z. B. dem ersten Ventrikel (der nicht gleich- hung zu setzen. Mittels dieser Methode wur-
zusetzen ist mit dem heute als 1. Ventrikel be- den detaillierte Karten zur Lokalisation psy-
zeichneten Hohlkörper) die Fähigkeit zu- chischer Funktionen erstellt (Abb. 1-4). Aus
geschrieben, Fantasie und Imagination zu heutiger Sicht hat sich dieser Ansatz als Irr-
kontrollieren. Der zweite Ventrikel ist dem- weg erwiesen. Anhand der Schädelverfor-
nach für das Denken und der dritte für das mung kann nicht zweifelsfrei auf die Größe
Gedächtnis zuständig. Somit war das Gehirn des darunterliegenden Hirngewebes geschlos-
als möglicher „Sitz“ wichtiger psychischer sen werden. Des Weiteren haben die Phreno-
Funktionen aus dem Blick der zeitgenössi- logen mit psychischen Funktionen und Cha-
schen Intellektuellen geraten. Ein Umstand, raktereigenschaften gearbeitet, die schwer bis
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der auch durch den Einfluss der christlichen gar nicht operationalisierbar sind; typische
Kirche gefördert wurde. Beispiele sind: Spiritualität, Idealismus oder
Eine (allerdings falsche) Reorientierung auf Hang zum Geld (Abb. 1-4).
das Gehirn als zentrales Organ für die Kon- Aus der Phrenologie ist die Kraniometrie
trolle psychischer Funktionen, zumindest in („Lehre von der Schädelvermessung“) hervor-
populärwissenschaftlichen Kreisen, erfolgte gegangen, die als Werkzeug der Rassenkunde
durch die Phrenologie. Die beiden Hauptver- pervertiert wurde. Sie wurde Anfang des
treter dieser Richtung, Franz Josef Gall und 20. Jahrhunderts, v. a. im Zusammenhang mit
sein Schüler Johann Spurzheim, versuchten rassistischen Theorien, populär. Kraniometri-
aus den Unebenheiten der Schädeloberfläche sche Vermessungen waren in der Anthropolo-
(Beulen; engl. = bumps) auf die Beschaffenheit gie und Ethnologie weit verbreitet. Heutzutage
des darunterliegenden Hirngewebes zu schlie- werden sie, außer bei der Beurteilung von tie-
rischen Schädelknochen, nur noch in der Ar-
chäologie eingesetzt, um Erkenntnisse über
die Evolution der menschlichen Spezies zu
Ver- Empa
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G n - Hoff- Glau- nk
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Spuren hinterlassen und äußert sich in dem
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Leb inn gen der Neurologen Paul Broca und Carl


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it Wernicke. Beide belegten erstmalig, dass be-
lich
Sin
n stimmte Hirnfunktionen (Sprachexekution,
Sprachwahrnehmung) an die Intaktheit be-
stimmter Hirngebiete gebunden sind. Sie be-
gründeten damit die Tradition der präzisen
neurologisch-neuropsychologischen Fallbe-
Abbildung 1-4: Beispiel für phrenologische Loka- schreibungen, die insbesondere zu Beginn
lisationen von bestimmten Charaktereigenschaf- des 20. Jahrhunderts von Neurologen wie
ten. Nachgezeichnet nach Bilz (1894). z. B. Karl Kleist (ein Schüler Wernickes) wei-

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1.2.  Geschichte der ­kognitiven Neuro­wissenschaften 27

terverfolgt wurden. Kleist wurde nach Aus- seinen Rattenexperimenten zeigen, dass die
bruch des Ersten Weltkriegs 1914 Militärarzt Größe der induzierten Hirnläsionen den
und konnte während seiner Tätigkeit wich- Schweregrad der Verhaltensbeeinträchtigung
tige Erfahrungen mit Hirnverletzten sam- bestimmt. Je größer die Hirnläsion, desto
meln. Im Zusammenhang mit der Analyse stärker ist das Verhalten beeinträchtigt. Er
von Schussverletzungen entwickelte er die bezeichnete diesen Zusammenhang, der ins-
nach ihm benannten Gehirnkarten, in denen besondere für den Erwerb neuer Verhaltens-
er im Sinne der Phrenologie bestimmten weisen hoch war, als das Gesetz der Massen-
Hirngebieten bestimmte psychische Funk- aktion. Lashley beschrieb des Weiteren die
tionen zuordnete (Abb. 1-5). individuellen Unterschiede der Versuchstiere
Diese eher lokalisationstheoretischen An- und die Bedeutung der prämorbiden Lern-
sätze wurden von dem Neuropsychologen geschichte für das Verständnis des Verhaltens
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Karl S. Lashley in seinem 1929 erschienenen nach der Hirnschädigung. Im Wesentlichen


Buch Brain Mechanisms and Intelligence stark betonte er mit seinen Arbeiten und Interpre-
kritisiert (Lashley, 1929). Lashley konnte in tationen, dass höhere Hirnfunktionen nicht

3a Schmerzempfindung
einschließlich
3b Temperaturempfindung perzeptive und
6 aα Bein 4 1 Berührungsempfindung
n

digitale Tast-
ge

6 aß 2 Kinästhetische Empfindung auffassung


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Sehe

(Wortverständnis)
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erkennen 18
Horchbewegungen 37 19
38 Akustische Aufmerksamkeit

20
Sinnverständnis für
Geräusche und Musik

Abbildung 1-5: Kortikale Lokalisation von Hirnfunktionen. Dargestellt ist die linke Hemisphäre. (Diese
Karte basiert auf den Arbeiten von Kleist und ist auf der Grundlage der Abbildung 8-16 in Duus 2001
nachgezeichnet worden.)

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28 1.  Kognitive Neurowissenschaft – Was ist das?

von lokalisierbaren Hirnstrukturen abhängen, ein dynamisches, selbstorganisierendes Sys-


sondern durch eine dynamische Organisation tem auffassen. Trotz der großen Fortschritte
des gesamten Gehirns (oder einiger Teile) zu blieb die Neuropsychologie lange eine rand-
erklären sind. ständige psychologische und neurologische
Der Frankfurter Neurologe Kurt Goldstein Disziplin.
hat eine ähnliche Interpretation der Hirnfunk- Dies änderte sich mit der Entwicklung der
tionen vertreten. Er war der herausragende bildgebenden Verfahren (Positronen-Emis-
Kritiker eines an Hirnkarten Kleist’scher Prä- sions-Tomografie, PET; strukturelle Magnet-
gung orientierten Verständnisses von Hirn- resonanztomografie, sMRT; funktionelle Mag-
funktionen. In den Symptomen von Hirnver- netresonanztomografie, fMRT), die neue Mög-
letzten sah er nicht nur die Funktionsausfälle, lichkeiten zur Untersuchung des mensch-
sondern auch den Versuch des Gesamtorga- lichen Gehirns eröffneten. Das Faszinierende
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nismus, bei läsionsbedingt reduzierter Ge- dieser Methoden besteht darin, dass indivi-
hirnleistung ein neues biologisches Gleichge- duelle Gehirne während bestimmter psy-
wicht zu finden. Ein weiterer wichtiger Beitrag chischer Tätigkeiten untersucht werden kön-
Goldsteins ist die Betonung des Netzwerk- nen und dies auf Hirnbildern festgehalten wer-
charakters des Gehirns. Hierbei wird das Ge- den kann. Weitere wichtige Neuentwicklun-
hirn als dynamisches Netzwerk aufgefasst, gen sind die Magnetenzephalografie (MEG),
wobei verschiedene Hirngebiete interagieren, moderne EEG-Technologien sowie die trans-
um bestimmte psychische Funktionen zu kon- kranielle Magnet- (TMS) und die transkra-
trollieren. Diese Sichtweise war durch die da- nielle Gleichstromstimulation (tDCS), mit de-
mals moderne Gestaltpsychologie motiviert nen von außen das Gehirn erregt oder ge-
(„Das Ganze ist mehr als die Summe der Ein- hemmt werden kann. Eine neue Methoden-
zelteile.“). variante der Neuropsychologie sind Verfahren,
Dieser holistische Ansatz wird durch eine die einen direkten Dialog zwischen Mensch
Arbeit des kanadischen Psychologen Donald und Maschine ermöglichen (sogenannte
O. Hebb mit dem Titel What Psychology is about Brain-Computer-Interface-Techniken, BCI).
unterstützt (Hebb, 1974). Bekannt geworden Hierzu wird in der Regel die elektrische Hirn-
ist Hebb durch seine Arbeiten zu Zellverbän- aktivität in Form des Elektroenzephalo-
den (cell assemblies) und deren durch Lernen gramms (EEG) genutzt und diese Signale wer-
bedingten Aufbau (Hebb-Synapse). Er hat da- den nach entsprechender Vorverarbeitung
rüber hinaus die Aufgabe der Psychologie wieder zurück zum Generator der Aktivität
definiert, die er in der Entwicklung eines ob- (dem Menschen) übermittelt, der mittels die-
jektiven Verständnisses psychischer Prozesse ser Signale entweder sein Gehirn regulieren
als eine integrative Leistung des Gehirns sieht. oder andere Maschinen oder Steuereinrich-
Hebb hielt fest, dass die Neuropsychologie tungen manipulieren soll.
nicht in der Lage sei, Menschen in schwierigen Mit dem Fortschreiten der kognitiven Neu-
psychischen Situationen zu helfen, und eher rowissenschaft hat sich auch ein zunehmen-
ungeeignet, um den Menschen zu verstehen. des Interesse an einem Kernproblem der
Für die Klärung existenzieller menschlicher Philosophie des Geistes entwickelt, dem Leib-
Fragen sind laut Hebb die Geisteswissenschaf- Seele-Problem. Aus diesem Grund finden sich
ten (Literatur und Kunst) wichtig. Hebbs, mittlerweile sehr häufig Beiträge von Neuro-
Lashleys und Goldsteins Denkansätze sind wissenschaftlern zu Themen, die das Be-
wichtige Beiträge zu modernen Konzepten in wusstsein und den freien Willen betreffen.
den Neurowissenschaften, die das Gehirn als

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1.3.  Beziehung zwischen Psychologie und Hirn­forschung 29

1.3. Beziehung zwischen Erklärungen direkt Bezug auf Hirnstrukturen


oder physiologische Prozesse genommen. Es
Psychologie und Hirn­
zeigte sich, dass Laien gerade die „schlechten“
forschung Erklärungen, die mit neurowissenschaftlichen
Phrasen versehen waren, für glaubwürdiger
Obwohl mit der kognitiven Neurowissenschaft hielten. Neurowissenschaftlich gebildete Stu-
Psychologie und Neurowissenschaften zumin- denten und ausgebildete Neurowissenschaft-
dest teilweise zu verschmelzen scheinen, ist ler ließen sich dadurch nicht beirren.
das Verhältnis zwischen beiden Disziplinen „Neuro“ ist ein Modewort (besser Präfix)
nicht ungetrübt (Jäncke & Petermann, 2010; geworden, das durch die Erfolge der moder-
Jäncke, 2010). So wird häufig die Frage ge- nen Hirnforschung in aller Munde ist. In
stellt, ob die Neurowissenschaft die Psycho- diesem Sog hat sich eine Reihe von „Binde-
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logie braucht oder umgekehrt. Einige deutsch- strichwissenschaften“ entwickelt, deren theo-
sprachige Neurowissenschaftler haben 2004 retische Fundierung und Ziele vielen Fach-
ein sogenanntes Manifest über die Zukunft der leuten verschlossen bleibt. Typische Bei-
Hirnforschung verfasst, in dem sie bemerkens- spiele sind Neuro-Marketing, Neuro-Päda-
werte Zukunftsszenarien aus dem Blickwinkel gogik, Neuro-Jura, Neuro-Theologie und
der Neurowissenschaften zeichnen (Meyer et Neuro-Philosophie, um nur einige zu nen-
al., 2004). In diesem Zusammenhang könnte nen. Eine besonders kreative Neuschöpfung
der Eindruck entstehen, dass die Psychologie ist Neuro-Didaktik.
zunehmend randständig wird. Dieser Eindruck Ein grundsätzliches Problem der kogniti-
wird durch die enorme Medienpräsenz der ko- ven Neurowissenschaft besteht darin, dass
gnitiven Neurowissenschaft verstärkt, die of- diese Wissenschaftsdisziplin nicht nur das
fenbar durch die faszinierenden Hirnbilder Gehirn verstehen und erklären will, sondern
und Aktivierungskarten motiviert ist. Die Neu- darüber zum Verständnis psychologischer
rowissenschaft, insbesondere die kognitive Phänomene auf der Basis neurowissenschaft-
Neurowissenschaft, ist die Modewissenschaft licher Befunde beitragen soll. Geht das über-
der letzten 15 Jahre. Zu bemerken ist jedoch, haupt? Die Expertenmeinungen zu dieser
dass mittlerweile vieles, was aus diesem For- Frage tendieren aktuell auf eine Antwort: So-
schungsbereich als „Ergebnisse“ berichtet fern neurowissenschaftliche Ergebnisse he-
wird, insbesondere vom Laienpublikum unre- rangezogen werden sollen, um psychologische
flektiert als „wahr“ angenommen wird. Phänomene zu erklären, müssen diese Ergeb-
Weisberg et al. (2008) haben drei Gruppen nisse in ein theoretisches Gebäude eingeord-
von Versuchspersonen Erklärungen für psy- net werden können. Das kann z. B. eine psy-
chologische Phänomene präsentiert (Laien, chologische Theorie oder eine Theorie der
Studenten, die in einem neurowissenschaftli- Gehirnfunktionen sein. Aus diesem Blickwin-
chen Seminar arbeiteten, und erfahrenen Neu- kel betrachtet sind die Ergebnisse aus neuro-
rowissenschaftlern). Die Erklärungen waren wissenschaftlichen Untersuchungen nur ein
entweder gut (logisch und in sich schlüssig) Teil der Datenmenge, die in die Theorien ein-
oder schlecht (nicht logisch und nicht nach- geordnet werden kann, andere Datenquellen
vollziehbar). Den Versuchspersonen wurden haben gleichwertige Bedeutung (z. B. Reakti-
einige dieser Erklärungen für die psychologi- onszeiten, Trefferraten, Daten aus Verhal-
schen Phänomene im Zusammenhang mit tensbeobachtungen, Introspektion oder an-
Phrasen wie „Bildgebungsstudien haben ge- dere physiologische Befunde). Das Gesamtbild
zeigt, dass …“ präsentiert oder es wurde in den der psychologischen Theorie setzt sich dem-

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30 1.  Kognitive Neurowissenschaft – Was ist das?

zufolge aus den vielen Mosaiksteinen zusam- dass wir dessen gewahr werden, konnten im
men, die durch unterschiedliche Datenquel- Zusammenhang mit dem unbewussten Ler-
len geliefert werden (Abb. 1-6). nen von Gesichtsbildern erhoben werden. Das
Vor diesem Hintergrund kommt der Pla- bedeutet auch, dass diese Informationen prin-
nung von kognitiv-neurowissenschaftlichen zipiell für weitere Verarbeitungsschritte zur
Experimenten eine immer größere Bedeutung Verfügung stehen. Wahrscheinlich werden
zu. Der Harvard-Psychologe Steven Kosslyn viele Denktätigkeiten durch unbewusst auf-
(1999) hat dies in einer Arbeit auf den Punkt genommene emotionale Informationen be-
gebracht, indem er formulierte: „If brain ima- einflusst. Mittlerweile ist auch belegt, dass
ging is the answer what is the question?“ beim Lernen von Bild- und Sprachmaterial
Neurowissenschaftliche Untersuchungen und unbewusste Lernprozesse ablaufen, die zur
die darin erhobenen Daten können neue For- Aktivierung von Hirnstrukturen führen, die an
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schungsfelder erschließen, die mit konventio- der Konsolidierung von Gedächtnisinforma-


nellen experimentalpsychologischen Metho- tionen beteiligt sind.
den nicht untersuchbar sind. Ein typisches Illusionen, Halluzinationen, Déjà-vu-Er-
Beispiel für neue Inhalte, die mit den bild- lebnisse, mentale Vorstellungen, Tagträume
gebenden Verfahren untersucht werden, ist und Sinnestäuschungen sind Beispiele
die unbewusste Wahrnehmung. Einer der menschlicher Wahrnehmung, die nicht selten
wichtigen Befunde zu diesem Thema wurde als Hirngespinste oder Einbildungen inter-
1998 im Journal of Neuroscience publiziert und pretiert wurden. Die moderne kognitive Neu-
beschreibt die Ergebnisse einer fMRT-Arbeit rowissenschaft konnte jedoch belegen, dass
(Whalen et al., 1998). Die Autoren konnten diese Phänomene mit dezidierten neurona-
nachweisen, dass unbemerkt präsentierte Bil- len Erregungen verbunden und als Produkte
der von furchtverzerrten Gesichtern zu star- der neuronalen Erregung bestimmter Hirn-
ken Durchblutungszunahmen im Mandelkern gebiete aufzufassen sind. In diesem Zusam-
(Amygdala) führten. Dieses Hirngebiet ist eine menhang konnte gezeigt werden, dass unser
wichtige Verarbeitungszentrale für emotionale Gehirn als ein vernetztes System anzusehen
Informationen, insbesondere für stark aktivie- ist, in dem verschiedene Funktionsmodule auf
rende und negative Emotionen wie Furcht. unterschiedlichen Ebenen miteinander kom-
Ähnliche Befunde, die belegen, dass wichtige munizieren. Unser Gehirn kann offenbar be-
emotionale Informationen in unsere emoti- stimmte Wahrnehmungsinhalte (und die da-
onsverarbeitenden Zentren gelangen, ohne mit verbundenen Hirnaktivierungen), die sich
uns als Illusionen, mentale Vorstellungen oder
Träume offenbaren, selbstständig erzeugen.
Neuere Arbeiten zeigten auch, dass unser Ge-
neurowissen- Verhaltens- physiologische hirn ständig und automatisch assoziiert. Wer-
schaftliche Befunde befunde Befunde den z. B. visuelle Reize wahrgenommen, die
normalerweise mit akustischen Informatio-
Theorie
nen gekoppelt sind, die jedoch fehlen (z. B.
sehen wir ein Video von einem Wasserfall, in
dem der Ton abgeschaltet ist), ist automatisch
Verhaltens-
Introspektion auch der Hörkortex aktiv. Die erstellten Asso-
beobachtungen
ziationen sind individuell und erfahrungs-
Abbildung 1-6: Zusammenwirken der unter- abhängig, sodass die  resultierenden Wahr-
schiedlichen Datenquellen. nehmungen subjektiv sind.

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1.3.  Beziehung zwischen Psychologie und Hirn­forschung 31

Bemerkenswerte Befunde hat die Neuro- Seit einigen Jahren arbeiten verschiedene
psychologie hinsichtlich der Plastizität des Ge- Forschungsgruppen an Methoden, die einen
hirns beigetragen. Noch vor ca. 20 Jahren war direkten Dialog zwischen Mensch und Ma-
es praktisch undenkbar, dass das erwachsene schine ermöglichen sollen. Dieser Dialog
menschliche Gehirn durch erfahrungsbedingte zwischen Gehirn und Computer wird mittels
Einflüsse strukturell bzw. anatomisch modifi- spezifischer Techniken realisiert (Brain-
ziert werden könnte. Mit den neuen bildgeben- Computer-Interface-Techniken, BCI), die
den Verfahren wurde jedoch gezeigt, dass ko- es ermöglichen, dass der Nutzer seine eigene
gnitive und motorische Lernerfahrungen nicht Hirnaktivität manipuliert oder mit seiner
nur zu Verhaltensänderungen, sondern auch zu Hirnaktivität externe Maschinen steuert. Das
markanten strukturellen (anatomischen) Ver- Funktionsprinzip beruht darauf, dass be-
änderungen des Gehirns führen. Professionelle stimmte Gedanken mit spezifischen Hirn-
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Musiker zeichnen sich z. B. durch vergrößerte aktivitätsmustern gekoppelt sind. Sofern der
sensorische und motorische Areale aus, wobei Rechner diese Aktivitätsmuster korrekt er-
das Ausmaß der strukturellen Veränderung mit kennt, kann er sie in spezifische Signale um-
der Dauer und Intensität des Musiktrainings wandeln. Bislang konnte dies insbesondere im
zusammenhängt. Das posteriore Hippocam- Zusammenhang mit Hirnaktivitäten während
pusareal, das in räumliches Lernen eingebun- der Bewegungsvorstellung realisiert werden.
den ist, ist bei Londoner Taxifahrern deutlich Wenn eine Versuchsperson z. B. daran denkt,
größer, wobei die Größe mit der Dauer des Ta- die rechte Hand zu einer Faust zu ballen (ohne
xifahrens korreliert (je länger das Training, es auch wirklich zu tun), ist diese Vorstellung
desto mehr graue Substanz im Hippocampus). mit einer spezifischen Hirnaktivität verbun-
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch den. Eine andere Bewegungsvorstellung (z. B.
ein neuerer Befund, wonach dreimonatiges Heben des Beins) führt ebenfalls zu einem be-
Jongliertraining zu einer Zunahme der Dichte stimmten Hirnaktivierungsmuster. Diese un-
der grauen Substanz im Bewegungswahrneh- terschiedlichen Hirnaktivierungsmuster wer-
mungsareal MT führt. den vom Computer erkannt und in Steuersig-
Neben diesen Erkenntnissen zu erfahrungs- nale umgewandelt, die für die Kontrolle von
bedingten Hirnveränderungen sind neue Ein- externen Maschinen oder künstlichen Gelen-
blicke in die Reifung des menschlichen Ge- ken genutzt werden können.
hirns gewonnen worden. So konnte gezeigt Diese Technologie eröffnet neue Möglich-
werden, dass sich insbesondere das Stirnhirn keiten der neurologischen Rehabilitation, wie
(Frontalkortex), in dem wichtige Kontrollfunk- in einer Publikation gezeigt werden konnte:
tionen (sogenannte exekutive Funktionen) lo- Die Wissenschaftler um den Neurophysiolo-
kalisiert sind, in den ersten zwei Lebensdeka- gen John Donoghue haben einem quer-
den massiv anatomisch verändert. Dies ist schnittsgelähmten Patienten 96 Minielektro-
umso bemerkenswerter, als auch bekannt ist, den in das Handmotorareal eingesetzt, mit
dass gerade pubertierende Jugendliche enorme denen sie die Aktivität der Nervenzellen in
Probleme haben, ihre exekutiven Funktionen diesem Hirngebiet kontinuierlich registrierten
zu beherrschen. Ihnen gelingt es vergleichs- (Hochberg et al., 2006). Der Patient lernte das
weise schlecht, sich zu disziplinieren, zu moti- Aktivitätsmuster dieses Hirngebiets durch
vieren, sich in andere hineinzuversetzen oder seine Gedanken zu kontrollieren und unter-
ihr Handeln zu planen, was möglicherweise schiedliche Signalmuster zu generieren. Ein
mit dem noch nicht voll ausgereiften Stirnhirn Computer erkannte diese Signale und wan-
zusammenhängt. delte sie in Steuersignale um. Mit dieser Tech-

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32 1.  Kognitive Neurowissenschaft – Was ist das?

nik lernte der Patient, anhand seiner eigenen schiedene Forschungsebenen, die hinsicht-
gedanklichen Tätigkeit einen Computer zu lich genutzter Methoden, Theorien und
bedienen, seine E-Mails abzurufen, einen Ro- Interpretationsstrategien höchst unterschied-
boterarm oder ein künstliches Gelenk zu be- lich sind, müssen miteinander verbunden
tätigen. Andere Versuche bestätigen, dass werden (Abb. 1-7). Einige dieser Forschungs-
nicht zwangsläufig Elektroden in das Gehirn ebenen sind uns noch verborgen, während
implantiert werden müssen, sondern die elek- andere bereits gut bekannt sind. Diese Ebe-
trische Hirnaktivität mittels Elektroenzepha- nen zu einem Bild zusammenzutragen, wird
logramm an der Schädeloberfläche kontinuier- die zukünftige Aufgabe der kognitiven Neuro-
lich gemessen werden kann und bestimmte wissenschaften sein.
Aktivierungsmuster vom Computer erkannt
werden können. Auch so konnten Patienten
1.4. Zusammenfassung
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trainiert werden, externe Geräte zu steuern.


Mittlerweile werden solche BCI-Techniken
auch erfolgreich eingesetzt, um den Trainie- • Die kognitive Neurowissenschaft ist eine
renden eine neue Möglichkeit zur Verände- neue Disziplin, die sich mit den neuronalen
rung ihrer Hirnaktivität zu bieten. Typische Mechanismen befasst, die kognitiven und
Beispiele hierfür sind die Verbesserung von psychischen Funktionen zugrunde liegen.
Aufmerksamkeits- und Gedächtnisleistungen, • Sie arbeitet vorwiegend humanbiologisch
die sich nach erfolgreichem BCI-Training be- und befasst sich deshalb in erster Linie mit
stimmter Hirngebiete einstellen. dem menschlichen Gehirn und dessen Kon-
Berücksichtigt werden muss jedoch, dass trolle von psychischen Funktionen.
das Forschungsfeld der kognitiven Neurowis- • Es werden jedoch auch eingeschränkt Tier-
senschaften eines der komplexesten ist. Ver- modelle herangezogen.
• Erste Zeugnisse für das Interesse am Ge-
hirn finden sich bei den Ägyptern, die be-
Neuropsychologische
reits ein Schriftzeichen für das Gehirn be-
Untersuchungsebenen nutzten, um Operationsanweisungen am
Gesellschaft menschlichen Schädel und Gehirn zu be-
Gemeinschaften
gi
e schreiben.
en lo

Beziehungen
än cho Verhalten Aristoteles definierte psychische Funktio-
m y
Do ops
lle eur
Kognitionen nen als Mentalismen, die sich naturwis-
e
n N Emotionen
o
iti en Erfahrung senschaftlichen Untersuchungen entziehen
ad h
Tr nisc sensorische Prozesse würden.
de
rk
li *neuronales System*
Verbindungswege
• Im Mittelalter kehrte die aristotelische
Zellkern Sichtweise in Form der ventrikulären
Netzwerke Lokalisationshypothese wieder. Hierbei
Neurone
Moleküle
werden die Ventrikel quasi als „Sitz“ der
Proteine mentalen Vorgänge interpretiert.
Gene • Die Phrenologie markiert den Beginn der
Abbildung 1-7: Forschungsebenen der kogniti-
Lokalisationsforschung. Bei diesem phre-
ven Neurowissenschaften. Eingetragen sind auch nologischen Ansatz wird davon ausgegan-
die Forschungsebenen, mit denen sich die tradi- gen, dass anhand bestimmter Schädelaus-
tionelle klinische Neuropsychologie auseinander­ buchtungen auf die Größe des darunterlie-
gesetzt hat. (Nachgearbeitet nach Bigler, 2003) genden Hirngewebes geschlossen werden

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1.6.  Weiterführende Literatur 33

könne. Er ist jedoch ein wissenschaftlicher sind. Beispiele sind unbewusste Wahrneh-
Irrtum. mungsprozesse sowie Illusionen und Hallu-
• In der Folge haben Neurologen wie Paul zinationen. Darüber hinaus eröffnen sich
Broca und Carl Wernicke anhand von Läsi- neue Forschungsbereiche (z. B. Hirnplas-
onsstudien wichtige Beiträge zur Lokalisa- tizität und Hirnreifung und deren Einflüsse
tion von Hirnfunktionen erbracht (Lokali- auf das Verhalten).
sationshypothesen).
• Karl Kleist hat nach dem Ersten Weltkrieg
„Gehirnkarten“ auf der Basis seiner Unter- 1.5. Fragen und Aufgaben
suchungen von Schussverletzungen erstellt.
• Der Neurologe und Neuropsychologe Kurt • Was wird unter kognitiver Neurowissen-
Goldstein betonte den Netzwerkcharak- schaft verstanden und wie lässt sie sich von
anderen Disziplinen abgrenzen?
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ter des Gehirns. Das Gehirn wird als dyna-


misches Netzwerk aufgefasst, wobei ver- • Differenzieren Sie Aristoteles’ Ansicht vom
schiedene Hirngebiete interagieren, um Gehirn von derjenigen der Phrenologen.
bestimmte psychische Funktionen zu kon- • Was war bei den Arbeiten von Donald O.
trollieren. Hebb neu und bemerkenswert?
• Wichtige Gegenbewegungen zu den Loka- • Warum sind psychologische Modelle bei
lisationstheorien führten zur Massenakti- Befunden aus der kognitiven Neurowissen-
onshypothese. Sie besagt, dass das Aus- schaft sehr wichtig?
maß von (induzierten) Hirnläsionen das • Warum ist bei der Interpretation von Befun-
Ausmaß der beeinträchtigten Verhaltens- den der kognitiven Neurowissenschaft Vor-
weisen bestimmt. Je größer die Hirnläsion, sicht geboten?
desto stärker ist das Verhalten beeinträch- • Welche neuen Gebiete und Entwicklungen
tigt. Ein wichtiger Vertreter ist der Neuro- erschließen sich aus der kognitiven Neuro-
psychologe Karl S. Lashley. wissenschaft?
• Die eher holistischen Ansätze von Goldstein
und Lashley wurden durch die Arbeiten des
kanadischen Psychologen Donald O. Hebb 1.6. Weiterführende Literatur
unterstützt. Er betonte die Bedeutung von
Zellverbänden (cell assemblies) und deren Breidbach, O. (1997). Die Materialisierung des
erfahrungsbedingte Modifikation. Ichs. Zur Geschichte der Hirnforschung im
• Psychologie und psychologische Theorien 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main:
werden durch die kognitive Neurowissen- Suhrkamp.
schaft nicht ersetzt, sondern eher wichtiger. Budde, T., Meuth, S. (2003). Fragen und Ant-
Benötigt werden geeignete (v. a. psycho- worten zu den Neurowissenschaften. Bern:
logische) Theorien, um die neurowissen- Huber.
Chalmers, D. „Mind papers“. Bibliografie mit
schaftlichen Befunde im Zusammenhang
über 18 000 Einträgen zum Gehirn. http://
mit kognitionspsychologischen Unter-
consc.net/mindpapers/
suchungen einzuordnen und zu erklären. Goss, C. M. (1966). On anatomy of nerves by
• Mit den Methoden der kognitiven Neuro- Galen of Pergamon. Am J Anat. 118(2): 327–
wissenschaft wird es möglich, psychologi- 35.
sche Prozesse zu untersuchen, die mit her- Hagner, M. (2000). Homo cerebralis. Der Wandel
kömmlichen Mitteln der Experimentalpsy- vom Seelenorgan zum Gehirn. Frankfurt am
chologie nicht oder nur schwer untersuchbar Main: Insel.

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34 1.  Kognitive Neurowissenschaft – Was ist das?

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torische Untersuchungen zur Hirnforschung. Wurzeln der Prinzipien neuropsychologischer
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schichte der Elitegehirnforschung. München: berg, New York: Springer-Verlag.
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Singer, W., Elger, C. E. et al. (2004). Das Mani- die Hirnforschung Recht und Moral heraus-
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Nunn, F. F. (1996) Ancient Egyptian Medicine.
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University of Oklahoma Press: Norman, 217.

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35

2. Das menschliche Gehirn:


Eine kurze Einführung
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2.1.  Orientierung im Gehirn 37

2.1. Orientierung im Gehirn posterior (hinten) gesprochen. Auch hier müs-


sen die beiden Körperachsen berücksichtigt
Zur Orientierung in Gehirnabbildungen wer- werden (Meynert- und Forel-Achse, s. o.).
den Schnittebenen und in Bezug zu diesen Als Horizontalebene oder auch Axial-
Schnittebenen bestimmte Begriffe verwendet. oder Transaxialebene wird in der Neuroanato-
Die Schnittebenen sind die Sagittal-, Hori- mie eine Ebene senkrecht zur Längsachse be-
zontal- und Frontalebene. Wichtige Orientie- zeichnet (Abb. 2-2), beim stehenden Menschen
rungsgrößen sind Achsen, die durch das Ge- also eine horizontale Ebene. Je nach Lage des
hirn gelegt werden können. Unterschieden jeweiligen Horizontalschnitts spricht man von
werden zwei Achsen, deren Lage sich im Ver- superior und inferior, die beiden Körperachsen
lauf der Evolution des Menschen verändert hat. müssen ebenfalls berücksichtigt werden. Für
Infolge des aufrechten Gangs kommt es beim die Forel-Achse existiert der Begriff basal, der
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Menschen zu einer Abknickung des Neural- „nach unten, zur Hirnbasis gelegen“ bedeutet.
rohrs, wodurch die Achse des Rückenmarks Insofern sind bei der Forel-Achse die Be-
annähernd senkrecht (Meynert-Achse) ver- griffe basal, inferior und ventral gleichzusetzen
läuft, die des Vorderhirns horizontal (Forel- (Abb. 2-2; Tab. 2-1).
Achse; Abb. 2-1). An diesen Achsen orientieren
sich wesentliche Lagebezeichnungen für die
Hirnstrukturen. Orientiert man sich an der
Forel-Achse, die horizontal durch das Gehirn Meynert-Achse
verläuft, dann wird oben als superior und unten
(also Richtung Hirnstamm) als inferior be-
zeichnet. Für diese Achse gilt aufgrund der Ab-
knickung der Achsen, dass inferior = ventral
und superior = dorsal ist. Für die Orientierung
nach vorne entlang der Forel-Achse gilt ante-
rior = oral und posterior = caudal. Für den Hirn-
stamm gilt die Meynert-Achse, somit ist im
Hirnstamm inferior = kaudal, superior = oral,
Forel-Achse
posterior = dorsal und anterior = ventral.
Die Sagittalebene erstreckt sich in der
Körperlängsachse vom Rücken zum Bauch
(Abb. 2-2, Abb. 2-3). Man schaut dabei seitlich
auf oder in den Körper. Sagittal bedeutet ent-
sprechend „von vorne nach hinten verlaufend“.
Sagittalebenen können von lateral nach medial
„bewegt“ werden. Der Sagittalschnitt, der ge-
nau in der Mitte liegt, ist ein Medianschnitt.
Als Frontalebene (auch Koronalebene)
wird die bei einer Vorderansicht des Menschen
sichtbare Ebene bezeichnet (Abb. 2-2). Die
Frontalebene teilt den Körper in vorn und hin-
ten. Bewegungen in dieser Vorn-hinten-Ebene Abbildung 2-1: Schematische Darstellung der
erfolgen also von vorne nach hinten. In diesem Meynert- und der Forel-Achse. (Nachgezeichnet
Zusammenhang wird von anterior (vorn) und nach Abbildung B auf S. 5 in Kahle et al., 1986)

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38 2.  Das menschliche Gehirn: Eine kurze Einführung

Schnittebenen

A) Sagittalschnitt Frontalschnitt Horizontalschnitt


lateral
medial
lateral superior

r
rio
ste
po
r anterior posterior
terio
an
later
al m
edial
later
al
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inferior

B)
Sagittalschnitt Frontalschnitt Horizontalschnitt obliquer Schnitt

Abbildung 2-2: Schematische Darstellung der anatomischen Schnittebenen. A) Schnittebenen bezogen


auf den Gesamtkörper. B) Schnittebenen bezogen auf das Gehirn.

median paramedian medial lateral

Abbildung 2-3: Verschiedene Positionen von Sagittalschnitten.

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2.1.  Orientierung im Gehirn 39

Tabelle 2-1: Zusammenfassung der Orientierungsebenen im Gehirn und die dazu­gehörigen ergänzen-
den Begriffe.

Ebene Adjektive und Präfixe Erläuterung


Sagittalebene
lateral zur Seite gelegen
medial zur Mitte gelegen
median in der Mittellinie liegend
para- neben
paramedian unmittelbar neben der Mittellinie liegend
Frontalebene
anterior vorne
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posterior hinten
prä- vor
post- hinter
oral mundwärts, schnabelwärts
rostral beide Lagerungen werden oft gleichsinnig benutzt
kaudal hinten, schwanzwärts
Horizontalebene
superior oben
inferior unten
dorsal oben
vor allem für die Forel-Achse!
ventral unten
vor allem für die Forel-Achse!
kaudal unten
vor allem für die Meynert-Achse!
basal nach unten, zur Hirnbasis gelegen
vor allem für die Forel-Achse!
supra- über, oberhalb von
infra- unter, unterhalb von
sub- unter
hypo- unter

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40 2.  Das menschliche Gehirn: Eine kurze Einführung

Die oblique Schnittebene bezeichnet eine sonders groß sind und sich in den Hemisphä-
leicht aus der Horizontalebene abgewinkelte ren befinden, der dritte Ventrikel zwischen
Schichtführung. den beiden Thalami und der vierte Ventrikel,
der am hinteren Teil des Hirnstamms liegt
(Abb. 2-5).
2.2. Grobe Einteilung des Die graue Substanz macht ca. 55 %, die
menschlichen Gehirns weiße Substanz ca. 27 % und die Zerebro-
spinalflüssigkeit 18 % der gesamten Hirn-
2.2.1. Graue Substanz, weiße ­ masse aus.
Substanz und das Ventrikel- Die weiße Substanz besteht aus Axonen,
system die sich zu größeren Fasersystemen, auch Fa-
serbündeln, zusammenschließen und ver-
In Gehirnpräparaten Verstorbener wie auch
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schiedene Hirngebiete miteinander verbin-


auf MRT-Bildern sind dunklere von helleren
den. Unterschieden werden Kabelsysteme,
Bereichen zu unterscheiden. Die Hirnberei-
die Hirngebiete innerhalb einer Hemisphäre
che, welche die dunkleren Gebiete aus-
verbinden (Assoziationsfasern, Abb. 2-6),
machen, werden als graue Substanz bezeich-
von Kabelsystemen, die Hirngebiete zwischen
net. Die graue Substanz umfasst im Wesentli-
den beiden Hemisphären verbinden (so-
chen die Zellkörper der Nervenzellen und die
genannte Kommissuren). Die größte Kom-
Dendriten, während die weiße Substanz aus
missur ist das Corpus callosum, das ca. 2–3 %
Axonen und Gliazellen besteht (Abb. 2-4). Des
aller kortikalen Nervenzellen beider Hemi-
Weiteren ist die Zerebrospinalflüssigkeit zu
sphären verbindet. Kleinere Kommissuren
erkennen, die sich vorwiegend in den Ven-
sind die Commissura anterior und die Habe-
trikeln (Kammern) befindet. Vier Ventrikel
nulae (Abb. 2-7).
werden unterschieden: zwei laterale, die be-

Graue und weiße Substanz weiße Substanz

graue Substanz

Corpus
callosum

Seitenventrikel

Sulcus
lateralis

Temporallappen

Abbildung 2-4: Graue und weiße Substanz. Links ist die Position des Frontalschnitts angegeben. Rechts
erkennt man den Frontalschnitt. Die graue Substanz ist im Frontalschnitt grau dargestellt. (Nach-
gezeichnet nach der Abbildung 2-8 aus Kolb & Whishaw, 2001)

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2.2.  Grobe Einteilung des menschlichen Gehirns 41

Seitenventrikel

3. Ventrikel
Aquäductus
cerebri
4. Ventrikel
Foramen
interventrikulare
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Abbildung 2-5: Das Ventrikelsystem ist in das Gehirn hinein platziert. Links und rechts neben dem Gehirn
ist das Ventrikelsystem von vorne (links) und von der Seite (rechts) erkennbar.

Cingulum Forceps Forceps


minor major

Striae
terminatus

Fasciculus
longitudinalis
inferior

Cingulum
Corpus callosum
Fibrae arcuatae Fasciculus
cerebri longitudinalis Fasciculus
superior longitudinalis
superior
Fasciculus
occipitalis
verticalis

Fasciculus Commissura
Fasciculus
Fasciculus frontotemporalis longitudinalis anterior
uncinatus
et Fasciculus arcuatus inferior

Abbildung 2-6: Assoziationsbahnen, Kommissuren und das Corpus callosum. (Nachgezeichnet nach der
Abbildung 8-15 aus Duus, 2001)

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42 2.  Das menschliche Gehirn: Eine kurze Einführung

rostral

Corpus callosum
linke rechte
Hemisphäre Hemisphäre
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dorsal

Abbildung 2-7: Das Corpus callosum. Links erkennt man schematisch die Fasern des Corpus callosum;
rechts sind die beiden Hemisphären und das sie verbindende Corpus callosum dargestellt.

2.2.2. Hierarchische Organisation • Truncus cerebri = Hirnstamm


des zentralen Nervensystems • Mesencephalon = Mittelhirn
• Rhombencephalon = Rautenhirn
Bezüglich der Einteilung des Nervensystems • Metencephalon
existieren unterschiedliche Vorschläge. Nach • Pons = Brücke
morphologischen und topografischen Krite- • Cerebellum = Kleinhirn
rien (also die Lage betreffend) werden das • Myelencephalon =  Nachhirn, Me-
zentrale (ZNS) und das periphere Nerven- dulla oblongata
system (PNS) unterschieden. Das ZNS um-
fasst das Gehirn und das Rückenmark. Das
PNS besteht aus Nervengewebe außerhalb des
ZNS, sodass auch die Hirn- und Rückenmarks- 2.2.3. Zerebraler Kortex
nerven, sobald sie aus den Rückenmarkseg-
menten oder dem Hirnstamm ausgetreten Der zerebrale Kortex (auch: Großhirnrinde)
sind, sowie Ganglien und Rezeptoren, die au- bildet die größte Außenfläche des Gehirns und
ßerhalb des ZNS liegen, dazu gezählt werden. besteht aus einer linken und einer rechten
Nach funktionellen Kriterien wird das Nerven- Hemisphäre, in der eine Schicht grauer Sub-
system in das animale (zerebrospinale) und stanz die weiße Substanz umgibt. Die Ober-
das vegetative Nervensystem unterteilt. fläche des Kortex ist beim Menschen stark ge-
Das Gehirn wird wie folgt eingeteilt: faltet, wodurch eine große Fläche und ein
• Encephalon = Gehirn großes Volumen entstehen. Durch diese Fal-

Prosencephalon = Vorderhirn tung haben sich Gyri (Singular: Gyrus) gebil-

Telencephalon = Endhirn det, die durch tiefe Furchen, die sogenannten

Diencephalon = Zwischenhirn Sulci (Singular: Sulcus), getrennt sind.

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2.2.  Grobe Einteilung des menschlichen Gehirns 43

Der Kortex ist ca. 3 mm dick und besteht • Gyri orbitalis
aus mehreren Schichten, die jedoch nur in ent- • Gyrus rectus.
sprechenden Präparaten unter dem Mikroskop
zu erkennen sind. In den unterschiedlichen Der Gyrus praecentralis liegt vor dem Sulcus
Kortexschichten finden sich verschiedene centralis und verläuft parallel zu ihm. Vor dem
Gruppierungen von Nervenzellen und Axo- Gyrus praecentralis verlaufen die drei großen
nen. Der größte Teil des Kortex, der auch als Gyri des Frontallappens: Gyrus frontalis supe-
Neokortex bezeichnet wird, besteht aus sechs rior, Gyrus frontalis medius, Gyrus frontalis
kortikalen Schichten. Weitere kortikale Regio- inferior. Der Gyrus frontalis inferior wird wei-
nen sind der Mesokortex (mit dem Gyrus cin- ter in (von anterior nach posterior) pars orbita-
guli, dem Gyrus parahippocampalis und der lis, pars triangularis und pars opercularis un-
Insel) und der Allokortex (zu dem der Hippo- terteilt. Der untere Teil des Gyrus frontalis
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campus, das Subiculum und der Gyrus denta- inferior, der wie ein „Deckel“ die dahinter lie-
tus gehören). Diese Hirnbereiche weisen an- gende Insel abdeckt, wird auch als „Opercu-
dere Schichtstrukturen auf als der Neokortex. lum“ (Deckelchen) bezeichnet. Dieses Oper-
Die laterale Oberfläche des Kortex beider culum zieht sich vom Frontalcortex bis zum
Hemisphären ist in vier Lobi (Singular: Lobus Parietallappen. Das vordere Operculum wird
= Lappen) unterteilt: Frontal-, Parietal-, Tem- auch als Operculum frontale bezeichnet. Das
poral- und der Okzipitallappen. Die Lobi sind hintere, in den Parietallappen ragende, wird
anhand anatomischer Landmarken zu unter- als Operculum frontoparietale bezeichnet.
scheiden. In der Lateralansicht des Temporallap-
In der Lateralansicht kann der Frontallap- pens finden sich folgende Gyri (von superior
pen vom Temporallappen anhand zweier Fur- nach inferior angeordnet):
chen unterschieden werden (Abb. 2-8). Vor • Gyrus temporalis superior
dem Sulcus centralis und oberhalb der Syl­ • Gyrus temporalis medius
vischen Fissur (auch Sulcus Lateralis genannt) • Gyrus temporalis inferior.
liegt der Frontallappen; unterhalb der Syl-
In der Lateralansicht des Parietallappens
vischen Fissur befindet sich der Temporal­
können folgende Gyri unterschieden werden:
lappen. Der Parietallappen liegt hinter dem
• Gyrus postcentralis
Sulcus centralis. Er ist in der Lateralansicht
• Lobulus parietalis superior
vom Okzipitallappen nicht eindeutig anhand
• Lobulus parietalis inferior
anatomischer Landmarken abzugrenzen. In
• Gyrus supramarginalis
der Medianansicht können diese beiden Lobi
jedoch anhand des Sulcus parietooccipitalis
• Gyrus angularis.

unterschieden werden. Hinter dem Sulcus centralis liegt parallel zum


An der lateralen Oberfläche des Gehirns Gyrus praecentralis der Gyrus postcentralis.
sind markante Gyri zu unterscheiden (Abb. 2-9). Der Parietallappen wird in zwei kleinere „Lap-
Im Frontallappen finden sich folgende: pen“ (Singular: Lobulus; Plural: Lobuli) ein-
• Gyrus praecentralis geteilt: Lobulus parietalis superior und Lobu-
• Gyrus frontalis superior lus parietalis. Der Lobulus parietalis inferior
• Gyrus frontalis medius besteht aus dem Gyrus supramarginalis und
• Gyrus frontalis inferior dem Gyrus angularis.

pars orbitalis In der Medianansicht (Abb. 2-10) des Ge-

pars triangularis hirns sind im Frontalkortex der Gyrus fronta-

pars opercularis lis superior und ventral der Gyrus rectus zu

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44 2.  Das menschliche Gehirn: Eine kurze Einführung

Sulcus centralis

Frontallappen
Parietallappen
Lateralansicht

Okzipitallappen Sulcus lateralis


Temporallappen

Sulcus centralis
Frontallappen
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Parietallappen
Medianansicht

Okzipitallappen
Temporallappen
Kleinhirn Hirnstamm

Sulcus centralis
Okzipitallappen
Dorsalansicht

Frontallappen
Parietallappen

Kleinhirn Hirnnerven

Hirnstamm
Basalansicht

Frontallappen
Temporallappen

Abbildung 2-8: Einteilung des Gehirns in Lobi. Oben ist die Lateralansicht dargestellt, darunter die Me-
dianansicht, dann die Dorsalansicht; ganz unten die Basalansicht. (Diese Abbildung ist der Abbildung 2-6
aus Kolb & Whishaw, 2001, nachempfunden. Die schematischen Hirnbilder sind neu gezeichnet worden.)

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2.2.  Grobe Einteilung des menschlichen Gehirns 45

Lateralansicht des Gehirns


Sulcus Sulcus centralis
frontalis medius Sulcus postcentralis
Sulcus
frontalis superior Sulcus
parietooccipitalis
Lo
b ulu

lis
sp

lis
tra
ari
or

tra
en
ri Lo eta
bu

en
pe lis

ec
lus su
su

tc
ra
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sp
l Gyr rie rio
ed tal

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ta us r

ru
n is i
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fro

Gy
i r ra- nfe
al

Gy
s rio ma rio
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Gyr r
Gy ro n alis
sf li si ang s
u
ru ta ula
Gy n ris
fro
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s
ru r
Gy perio
oralis su
s temp
Gyru
ius
med
mp oralis
Operculum Gyrus te
ior
infer
frontale
m poralis
s te
Gyru
Operculum
frontoparietale Incisura praeoccipitalis

Sulcus lateralis Sulcus temporalis inferior Sulcus lunatus

Operculum Sulcus temporalis superior


temporale

Abbildung 2-9: Lateralansicht der linken Gehirnhemisphäre. Eingetragen sind die wesentlichen Gyri und
Sulci, die in der Lateralansicht erkennbar sind. (Nachgezeichnet nach Abbildung 8-9 aus Duus, 2001)

erkennen. Etwas dorsal zum Gyrus rectus un- palis, weiter ventral der Gyrus occipitotempo-
terhalb des Rostrums des Corpus callosum ralis medialis und der Gyrus occipitotempo-
liegt die Area subcallosa, die u. a. für Geruchs- ralis lateralis zu erkennen. Am posterioren
funktionen wichtig ist. Dorsal findet sich der Ende des Gyrus parahippocampalis befindet
Gyrus paracentralis, der so bezeichnet wird, sich der Gyrus lingualis. Anterior am Gyrus
weil er um den Sulcus centralis herum liegt. parahippocampalis leicht dorsal findet sich
Ferner ist ein kleiner Teil des Gyrus praecen- der Uncus.
tralis zu erkennen. Am ventralen Boden liegt In der Mitte liegt auch der anteriore Teil des
der Gyrus rectus, der in der Basalansicht des Gyrus cinguli, der gelegentlich abgekürzt als
Gehirns besser zu erkennen ist. Im Parietal- Cingulum bezeichnet wird. Das Cingulum
lappen ist der Praekuneus zu erkennen. Nach umgibt das Corpus callosum bogenartig. Der
ventral wird dieser durch den Sulcus parie- vordere Teil des Corpus callosum wird als
tooccipitalis vom Cuneus getrennt, der wiede- Rostrum und der geknickte Teil als Genu be-
rum nach unten vom Sulcus calcarinus be- zeichnet. Hinter dem Genu liegt der Truncus
grenzt wird. Im Sulcus calcarinus liegt der (Stamm) des Corpus callosum. Das posteriore
primäre visuelle Kortex. In der Medianansicht Ende des Corpus callosum wird als Splenium
sind darüber hinaus der Gyrus parahippocam- bezeichnet.

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46 2.  Das menschliche Gehirn: Eine kurze Einführung

Gyrus praecentralis
Sulcus cinguli Sulcus centralis

Sulcus Sulcus
corporis callosi parietooccipitalis
s
d iali Lob
me u
par lus
lis
nta ace
fro ntra
us lis
Gyr

Gyrus cinguli Praecuneus

Corp
us ca
llosu
m
Genu tum
Sep cidum
p ll u e-
Ros
trum
e Spl i
m los
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niu s cal
ri
po
cor
Cuneus

Gyrus rectus us lingu


G yr al
Uncus is is
m pal
Area subcallosa G y ru s p oca
arahipp lis m edi al is
p o ra
i to te m
Gyrus paraterminalis G y ru s o c c i p is
teral
Gy
r o r a l is la
Sulcus rhinalis u s o c cipitotemp Sulcus
Sulcus hippocampi calcarinus
Sulcus occipitotemporalis und Gyrus dentatus
Isthmus
Sulcus collateralis
gyri cinguli

Abbildung 2-10: Medianansicht des Gehirns. Eingetragen sind die wesentlichen Gyri und Sulci, die in
der Medianansicht erkennbar sind. (Nachgezeichnet nach Abbildung 8-5 aus Duus, 2001)

Folgende Hirngebiete sind in der Media- • Uncus


nansicht zu erkennen: • Gyrus parahippocampalis
• Gyrus frontalis superior • Gyrus lingualis
• Lobulus paracentralis • Gyrus occipitotemporalis medialis
• Gyrus praecentralis • Gyrus occipitotemporalis lateralis.
• Gyrus cinguli – Cingulum
• Gyrus rectus
• Praecuneus – Parietallappen Die Gyri orbitales machen den gesamten unte-
• Cuneus – Okzipitallappen ren Teil des Frontalkortex aus, der auch Orbi-
• Gyrus parahippocampalis – Gyrus lingualis tofrontalkortex genannt wird. Neben den
• Gyrus occipitotemporalis medialis Hirnstrukturen, die auch in anderen Ansichten
• Gyrus occipitotemporalis lateralis. zu erkennen sind, ist zwischen dem Gyrus lin-
gualis und dem Gyrus occipitotemporalis me-
In der Basalansicht (Abb. 2-11) des Gehirns dialis der Gyrus fusiformis zu sehen. Tief in-
sind folgende Gyri zu erkennen: nerhalb der Sylvischen Fissur (auch Sulcus
• Gyri orbitales lateralis genannt) liegt ferner das Inselgebiet
• Gyrus rectus (Abb. 2-12).

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2.2.  Grobe Einteilung des menschlichen Gehirns 47

Sulcus collateralis poralis


i o r te m
si n fer
G yru
alis lateralis
Sulcus olfactorius c cipitotempor
rus o
Gy
or
G y ru s t o te m p a l i s m e d i a l i s
oc c ipi
i pp oc
arah am
Gyrus p pa iformis
l is Gyrus fus
Uncus
G y ru s l i n g u a l i s

Fissura
Gyrus rectus
longitudinalis
cerebri
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Gyri orbitales

Sulci orbitales

Sulcus calcarinius

Abbildung 2-11: Basalansicht des Gehirns. Eingetragen sind die wesentlichen Gyri und Sulci, die in der
Basalansicht erkennbar sind. (Nachgezeichnet nach Abbildung 8-8 aus Duus, 2001)

Gyrus temporalis transversi 2.2.4. Basalganglien


(Heschlsche Querwindungen)

Sulcus centralis insulae Die Basalganglien liegen im basalen Teil des


Gyrus breves insulae
Gehirns und sind von weißer Substanz umge-
ben. Während der Hirnentwicklung sind diese
Nervenzellgruppen praktisch am basalen Bo-
den des Gehirns liegen geblieben. Sie umge-
ben den Thalamus und sind evolutionär alte
Hirnstrukturen. Eingebunden sind sie in moto-
rische, aber auch kognitive Kontrollprozesse.
Störungen der Basalganglienfunktionen sind
typischerweise mit motorischen Beeinträchti-
gungen assoziiert, die sich entweder als hyper-
Gyrus longus Gyrus temporalis kinetische (Übermaß an Bewegungen) oder
insulae superior hypokinetische (Verminderung von Bewegun-
gen) Störungen äußern (Kap. 12). Die Basal-
Abbildung 2-12: Das Inselgebiet. (Nachgezeich- ganglien sind auch in das Lernen von Regeln
net nach Abbildung 8-7 aus Duus, 2001) und kognitiven Fertigkeiten involviert.

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48 2.  Das menschliche Gehirn: Eine kurze Einführung

Die wesentlichen Strukturen, die die Basal- 2.2.5. Limbisches System


ganglien ausmachen, sind (Abb. 2-13):
• Nucleus caudatus Das limbische System besteht aus verschiede-
• Putamen nen Hirngebieten, denen gemeinsam ist, dass
• Globus pallidus. sie evolutionär gesehen alt und überwiegend
in emotionale Kontrollprozesse eingebunden
Im weiteren Sinn wird auch die Amygdala sind. Da Emotionen für das Gedächtnis von
den Basalganglien zugeordnet. Der Nucleus besonderer Bedeutung sind, sind limbische
caudatus ist eine langgezogene Struktur, die Strukturen auch für die Kontrolle des Gedächt-
sich wie ein „Schweifkörper“ zangenartig von nisses wesentlich. Zusammengefasst kann es
vorne nach hinten entwickelt. Das Putamen als ein System aufgefasst werden, das den Or-
(Schälchen) ist eine nach lateral gewölbte ganismus in die Lage versetzt, seine Bedürf-
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Struktur, in die sich medial der Globus pallidus nisse (angezeigt durch Emotionen) mit der
einfügt. Zwischen dem Nucleus caudatus und gegenwärtigen, vergangenen und zukünftigen
dem Putamen befinden sich Nervenzellbrü- Umwelt in Einklang zu bringen. Zum limbi-
cken, die diesem Komplex ein streifenförmi- schen System, in dem einige Strukturen kreis-
ges Aussehen geben. förmig angeordnet sind, gehören folgende
Hirngebiete (Abb. 2-14):

Putamen
Schweifkörper

m
gu l u
C in

Fornix
Riechkolben
Tractus olfactorius
Kortex
Mamilliarkörper
Amygdala Amygdala
Hippocampus

Hippocampus

Abbildung 2-14: Das limbische System mit dem


Abbildung 2-13: Basalganglien, in ein Gehirn pro- Cingulum, dem Hippocampus, der Amygdala, dem
jiziert. (Nachgezeichnet nach Abbildung 2-20 aus Mamillarkörper, dem Tractus olfactorius und der
Kolb & Whishaw, 2001) Fornix.

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2.2.  Grobe Einteilung des menschlichen Gehirns 49

• Amygdala mitter zur Signalübertragung ist Dopamin)


• Hippocampus vom ventralen Tegmentum (im Mittelhirn) in
• Fornix den Kortex und in die limbischen Strukturen.
• Cingulum (Gyrus cinguli) Insbesondere der Nucleus accumbens wird als
• Corpora mamillare wichtiges Gebiet für die Vermittlung von Be-
• Septum lohnung aufgefasst. Gelegentlich wird diese
• Bulbus olfactorius. Struktur auch als Belohnungszentrum be-
zeichnet.
Zum mesolimbischen System (also in der
Mitte liegend) werden folgende Strukturen
gezählt: 2.2.6. Zwischenhirn
• Nucleus accumbens

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präfrontaler Assoziationskortex (hier be- Das Zwischenhirn setzt sich aus zwei Haupt-
sonders der Orbitofrontalkortex und der strukturen, dem Thalamus und dem Hypo-
ventromediale Präfrontalkortex). thalamus, zusammen (Abb. 2-15).
Der Thalamus besteht aus zwei miteinan-
Die mesolimbischen Bahnen bestehen aus der verbundenen eiförmigen Strukturen, die
dopaminergen Faserprojektionen (Neurotrans- beidseitig in der Mitte des Gehirns liegen. Er

Hypothalamus und
Hirnanhangdrüse

Hypothalamus Thalamus = Relaisstation

Nucleus dorsomedialis
(Verbindung zum
Frontalkortex)

Corpus geniculatum
laterale
Corpus geniculatum
mediale
Sehnerv
Auditorischer Nerv

Hirnanhangdrüse

Abbildung 2-15: Links ist der Hypothalamus, rechts der Thalamus dargestellt. Beim Hypothalamus
erkennt man auch die Hirnanhangdrüse. Beim Thalamus sind der Nucleus dorsomedialis, das Corpus
geniculatum laterale und das Corpus geniculatum mediale ebenfalls dargestellt. (Nachgezeichnet nach
Abbildung 2-19 aus Kolb & Whishaw, 2001)

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50 2.  Das menschliche Gehirn: Eine kurze Einführung

ist die wichtigste Umschaltstation für die sen- Hirngebiet können zu schwerwiegenden Ess-
sorischen Eingänge aus dem Körper und ver- und Trinkstörungen führen, aber auch Wachs-
bindet das Sensorium mit dem Kortex. Alle tumsstörungen und Beeinträchtigungen der
sensorischen Informationen (außer dem Ge- Sexualfunktionen hervorrufen.
ruch) werden im Thalamus umgeschaltet
(„Der Thalamus heißt Thalamus, weil alles
durch den Thalamus muss“). Vom Thalamus 2.2.7. Hirnstamm
laufen Projektionen zum Kortex und zu den
Basalganglien. Am hinteren unteren Ende des Der Hirnstamm besteht aus vielen kleineren
Thalamus befinden sich die Kniehöcker (Cor- Strukturen. Unterschieden wird zunächst das
pus geniculatum laterale und mediale). Das Mittelhirn (Mesencephalon) vom Rautenhirn
Corpus geniculatum laterale (CGL) ist die tha- (Rhombencephalon) und Nachhirn (Medulla
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lamische Umschaltstation des Sehnervs, wäh- oblongata oder Myelencephalon). Das Rauten-
rend das Corpus geniculatum mediale (CGM) hirn besteht aus der Brücke (Pons), dem Klein-
die Umschaltstation für den Hörnerv ist. hirn (Cerebellum) und dem Myelencephalon
Der Hypothalamus liegt unterhalb des (auch verlängertes Rückenmark genannt).
Thalamus und besteht aus Kerngebieten, die Pons und Cerebellum werden auch als Me-
für verschiedene Funktionen spezialisiert tencephalon zusammengefasst.
sind. Typische Funktionen, in deren Kontrolle Im Mittelhirn befindet sich posterior
der Hypothalamus eingebunden ist, sind die die Vierhügelplatte, auch Tectum genannt
Regulation der Körpertemperatur, des Hun- (Abb. 2-16), die aus vier kleinen Hügeln besteht,
gers und Durstes, des Sexualverhaltens sowie die Colliculi genannt werden. Das obere Pär-
endokriner Funktionen. Tumore in diesem chen wird als Colliculi superior, das untere als

Tectum
Colliculi superior
(visuell)
Colliculi inferior
(auditorisch)
Tegmentum

Kleinhirn

Abbildung 2-16: Darstellung des Mittelhirns mit der Vierhügelplatte (Tectum) und dem Tegmentum. An-
sicht von hinten, sodass das Kleinhirn gut zu erkennen ist. Über dem Mittelhirn befindet sich beidseitig
der Thalamus. (Nachgezeichnet nach Abbildung 2-18 aus Kolb & Whishaw, 2001)

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2.2.  Grobe Einteilung des menschlichen Gehirns 51

Colliculi inferior bezeichnet. Die Colliculi su- tion der Bewegungsdurchführung im Vorder-
perior sind wichtige Umschaltstationen für das grund. Charakteristisch bei Läsionen der
Sehsystem, während die Colliculi inferior Um- medianen Zone ist ein unsicherer, wankender
schaltstationen für das auditorische System Stand und Gang (Stand- und Gangapraxie)
darstellen. Colliculi superior und inferior sind wie beim Betrunkenen. Bei Läsionen interme-
Bestandteile evolutionär alter Informations- diärer oder paravermaler Kleinhirnbereiche
pfade, die alternative Informationswege zum sind mangelnde Kontrolle und Koordination
Kortex bzw. zu den primären visuellen und au- der Bewegungsdurchführung zu beobachten.
ditorischen Kortexgebieten darstellen, die für Diese Auffälligkeiten äußern sich durch Stö-
schnelle Anpassungsprozesse wichtig sind (z. B. rungen der Zielmotorik (Hypermetrie und
für Orientierungsreaktionen). Diese beiden Dysmetrie: über das Ziel hinaus- bzw. am Ziel
Kerngebiete sind auch in die Kontrolle von Auf- vorbeischießende Bewegungen), einen In-
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merksamkeitsfunktionen eingebunden. tentionstremor (d. h. ein Zittern, das umso


Im Mittelhirn befindet sich darüber hinaus stärker wird, je näher die Hand dem Ziel
die Substantia nigra, ein dopaminerges Ner- kommt), die Unfähigkeit, schnell nacheinan-
venzentrum, das eng mit den Basalganglien – der und abwechselnd antagonistische Bewe-
verbunden ist. Mit den Basalganglien und hier gungen durchzuführen (Dysdiadochokinese),
insbesondere mit dem ventralen Striatum und motorische Sprechprobleme (Dysarthrie).
(auch Nucleus accumbens genannt) – bildet die Bei Läsionen des Pontocerebellums treten
Substantia nigra ein wichtiges Netzwerk der Probleme in der Bewegungsplanung auf (Asy-
motorischen Kontrolle. nergie: nicht aufeinander abgestimmt und
Das Kleinhirn (Cerebellum = kleines Ge- Folge von Muskelaktivitäten).
hirn) ist unterhalb des Okzipitallappens dem Ein wesentliches Kennzeichen des Klein-
Hirnstamm hinten aufgelagert. Beim Men- hirns ist die Integration sensorischer Informa-
schen hat dieses Hirnteil das zweitgrößte Volu- tionen aus der Peripherie mit Informationen
men. Die Kleinhirnoberfläche ist stark gefaltet aus dem Kortex (Integration von Bottom-up-
und soll über eine größere Nervenzelldichte mit Top-down-Informationen). Das Kleinhirn
als der Kortex verfügen. Das Kleinhirn erfüllt kontrolliert nicht nur Bewegungen, sondern
wichtige Aufgaben bei der Steuerung der Mo- auch kognitive Funktionen; v. a. in die Kon-
torik: Es ist zuständig für Koordination, Fein- trolle des klassischen Konditionierens ist es
abstimmung, unbewusste Planung und das eingebunden. Man spricht auch vom „Satelli-
Erlernen von Bewegungsabläufen. Zudem tenrechner“ des Großhirns, der quasi parallel
wird ihm eine Rolle bei zahlreichen höheren zum Großhirn Berechnungen durchführt.
kognitiven Prozessen zugeschrieben. Bei bila- Die Brücke (Pons) ist ein Bindeglied zwi-
teralen Läsionen treten markante Sprech- und schen dem Klein- und dem Großhirn. Sie wird
Bewegungsstörungen auf. Eine Schädigung in einen vorderen Abschnitt, die Basis, und ei-
oder Funktionsstörung des Kleinhirns führt je nen hinteren Teil, die Brückenhaube, unter-
nach Lage und Ausdehnung des betroffenen schieden. An der Basis befinden sich zwei
Areals zu charakteristischen Symptomen, in „Säulen“, die Pyramidenbahnen (Tractus
der Mehrzahl Ataxien. Bei einer Läsion der pyramidalis). In der zwischen den beiden Pyra-
medianen (vermalen) Zone des Spinocerebel- midenbahnen liegenden Rinne (Sulcus basila-
lums resultiert eine Stand- und Gangataxie. ris) verläuft die Arteria basilaris. Hinter dem
Bei Läsionen der intermediären oder paraver- Pons liegt das Corpus trapezoideum (Trapez-
malen Zone des Spinocerebellums steht dage- körper), in dem die Hörbahn verläuft und an
gen die mangelnde Kontrolle und Koordina- dem der VI. und VIII. Hirnnerv an die Ober-

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52 2.  Das menschliche Gehirn: Eine kurze Einführung

fläche treten (Kap. 9). Der Bereich zwischen sich von der Medulla oblongata bis zum Mittel-
dem Kleinhirn und dem Unterrand des ventral hirn erstreckt: die Formatio reticularis (von
davorliegenden Pons wird als Kleinhirnbrü- lateinisch formatio = „Gestaltung“, „Bildung“
ckenwinkel bezeichnet. Dort treten nach und reticularis  = „netzartig“); Abb. 2-17. Sie
schräg ventral die beiden Hirnnerven Nervus setzt sich nach vorn in das mediale Vorderhirn-
facialis und Nervus vestibulocochlearis aus. bündel fort. Neben der diffusen Anordnung
Im Kleinhirnbrückenwinkel können Kleinhirn- der Neurone können abgrenzbare Kerngrup-
brückenwinkeltumore (Akustikusneurinome) pen unterschieden werden: die Raphékerne
entstehen. An der Seite der Brücke tritt beid- und der Locus coeruleus. Die aus der For-
seitig der V. Hirnnerv, der Trigeminus, aus. matio reticularis aufsteigenden Afferenzen
Überwiegend im Pons lokalisiert ist ein aus- haben sensorische, die absteigenden Efferen-
gedehntes, diffuses Neuronennetzwerk, das zen motorische Funktionen. Die wichtigste
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Zwischenhirn

Mittelhirn

Hirnstamm
Pons

Kleinhirn

Formatio reticularis

Medula oblangata

Abbildung 2-17: Der Hirnstamm und die Formatio reticularis. Ansicht von vorne auf den Hirnstamm. Die
Formatio reticularis befindet sich im Inneren des Hirnstamms. (Nachgezeichnet nach Abbildung 2-16
aus Kolb & Whishaw, 2001)

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2.2.  Grobe Einteilung des menschlichen Gehirns 53

Funktion dieses Netzwerks ist jedoch die un- den sind (z. B. Atmung, Schlucken, Herzfre-
spezifische Aktivitätskontrolle des Gehirns, quenzkontrolle und Schlaf-wach-Rhythmus).
die durch ein in die Formatio reticularis ein-
gebettetes System, das aufsteigende retiku-
läre aktivierende System (ARAS), ausgeübt 2.2.8. Hirnnerven
wird. Über dieses Netzwerk werden der Thala-
mus und der Kortex aktiviert und funktional Als Hirnnerven werden die Nerven bezeichnet,
die Aufmerksamkeit, Wachheit und das Be- die aus Hirnnervenkernen im Gehirn entsprin-
wusstsein moduliert. gen (Tab. 2-2). Die meisten Hirnnervenkerne
Die Medulla oblongata (auch verlängertes liegen im Hirnstamm. Andere Nerven ent-
Rückenmark genannt) liegt unter der Brücke springen aus dem Rückenmark. Eine Aus-
und geht in das Rückenmark über. Diese Hirn- nahme bildet der Nervus accessorius (s. u.): Er
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struktur beinhaltet Nervenzellen, die in die gilt als Hirnnerv, obwohl er z. T. dem Rücken-
Regulation von vitalen Funktionen eingebun- mark entspringt. Die ersten beiden Hirnnerven

3 4
1

6
12 3 2

11 4

7
8 5
5
6
7 8
9
10
5
10
12

8 11

Abbildung 2-18: Die Lage der Hirnnerven ist links im Bild bezogen auf die Basalansicht des Gehirns dar-
gestellt. Im rechten Bildteil ist nur ein Ausschnitt des Hirnstamms (von dorsal) abgebildet. Die einzelnen
Hirnnerven sind mit ihren zugehörigen Nummern versehen. (Nachgezeichnet nach Abbildung 2-14 aus
Kolb & Whishaw, 2001)

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54 2.  Das menschliche Gehirn: Eine kurze Einführung

(Riech- und Sehnerv) sind keine peripheren rische, somatosensible und vegetative Fasern.
Nerven, sondern Teile des Gehirns, sie werden Die Hirnnerven versorgen den Kopfbereich,
aufgrund der traditionellen Sicht dennoch wei- den Hals und über parasympathische Fasern
terhin als Hirnnerven bezeichnet. Ein Hirnnerv auch die Organe im Rumpfbereich.
kann alle Faserqualitäten führen: somatomoto-

Tabelle 2-2: Tabellarische Darstellung der Hirnnervenkerne.

Nr. Name Versorgungsgebiet


I Nervus olfactorius (Riechnerv) leitet Signale von der Nase zum Gehirn
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II Nervus opticus (Sehnerv) leitet die Signale der Netzhaut zum Gehirn
III Nervus oculomotorius steuert Augen- und Lidbewegung sowie die Regenbogen-
(Augenbewegungsnerv) haut (Iris)
IV Nervus trochlearis steuert den schrägen oberen Augenmuskel
(Augenrollnerv)
V Nervus trigeminus leitet sensible Informationen aus dem ganzen Gesichts-
(Drillingsnerv) bereich zum Gehirn und innerviert die Kaumuskulatur;
besteht aus:
1. Augennerv
2. Oberkiefernerv
3. Unterkiefernerv
VI Nervus abducens innerviert den lateralen Augenmuskel
(Augenabziehnerv)
VII Nervus facialis (Gesichtsnerv) • mimische Muskulatur
• Geschmackswahrnehmung in den vorderen zwei ­
Dritteln der Zunge
• Innervation aller Kopfdrüsen außer der Ohrspeichel-
drüse
VIII Nervus vestibulocochlearis (Hör- Weiterleitung der Informationen aus der Gehörschnecke
und Gleichgewichtsnerv) und dem Gleichgewichtsorgan
IX Nervus glossopharyngeus • Weiterleitung von Signalen aus dem ­hinteren Zungen-
(Zungen-Rachen-Nerv) abschnitt zum Gehirn
• Innervation der Muskeln des Rachens
(Kontrolle des Schluckaktes)
• innerviert auch die Ohrspeicheldrüse
X Nervus vagus • Hauptnerv des Parasympathikus
(„umherschweifender“ Nerv) • an der Regulation der Tätigkeit vieler innerer Organe
beteiligt
XI Nervus accessorius • versorgt motorisch die Nackenmuskulatur (Musculus
(„zusätzlicher“ Nerv) trapezius, Musculus sternocleidomastoideus)
• entspringt aus dem Rückenmark, wird aber zu den
Hirnnerven gezählt
XII Nervus hypoglossus kontrolliert die Zungenbewegung
(Unterzungennerv)

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2.4. Zusammenfassung 55

2.3. Hirnhäute 2.4. Zusammenfassung


Das Gehirn befindet sich im Kopfschädel • Zur Orientierung im Gehirn werden die
(Schädelkalotte) und ist von Hirnhäuten um- Sagittal-, Horizontal- und Frontalebene ge-
geben, die in der Neurologie und Neuroana- nutzt.
tomie als Meningen bezeichnet werden • Unterschieden werden die Meynert- und
(Abb. 2-19). Unterschieden werden drei Hirn- die Forel-Achse. Die Forel-Achse verläuft
häute, eine sogenannte harte und zwei wei- vom Frontalpol des Gehirns zum Okzipital-
che. Die äußere Hirnhautschicht, auch Dura pol. Die Meynert-Achse ist die Längsachse
mater genannt, schützt das Gehirn nach au- des Hirnstamms.
ßen gegen die Schädelkalotte. Unter ihr dem • Zur Orientierung im Gehirn werden La-
Gehirn zugewandt liegt die Arachnoidea ma- gebezeichnungen verwendet, die sich teil-
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ter encephali (Spinnhaut). Eng um den Kortex weise an den Schnittebenen und an den
schmiegt sich die Pia mater. Zwischen der Achsen orientieren. Das Vorderende der
Arachnoidea und der Pia mater befindet sich Forel- und der Meynert-Achse wird als oral
der Subarachnoidalraum, in dem zahlreiche oder rostral (mundwärts) und das Hinter-
Blutgefäße verlaufen. Ausgefüllt ist dieser ende als kaudal (schwanzwärts) bezeichnet.
Raum mit Rückenmarksflüssigkeit (Liquor Damit gelten für das Vorderhirn anterior
cerebrospinalis, Zerebrospinalflüssigkeit), er = oral, posterior = kaudal, inferior = ventral
wird auch als äußerer Liquorraum bezeichnet. und posterior = dorsal. Für den Hirnstamm
gilt die Meynert-Achse. Somit ist im Hirn-
stamm inferior =  kaudal, superior =  oral,
posterior = dorsal und anterior = ventral.
• Die graue Substanz umfasst im Wesentli-
chen die Zellkörper der Nervenzellen, wäh-

Schädel

Dura mater
Meningen

Arachnoidea

Pia mater

Subarachnoidal-
raum (gefüllt mit
CSF)

Abbildung 2-19: Dargestellt sind die drei Hirnhäute Dura mater, Arachnoidea und die Pia mater. Zwi-
schen Pia mater und Arachnoidea befindet sich der Subarachnoidalraum, der die Zerebrospinalflüssig-
keit (CSF) enthält. (Nachgezeichnet nach der Abbildung 2-5 aus Kolb & Whishaw, 2001)

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56 2.  Das menschliche Gehirn: Eine kurze Einführung

rend die weiße Substanz aus Axonen und • Das limbische System besteht aus der
Gliazellen besteht. Amygdala, dem Hippocampus, der Fornix,
• Zwei große Kabelsysteme werden unter- dem Cingulum (Gyrus cinguli), den Cor-
schieden: Die Assoziationsfasern verbinden pora mamillare, dem Septum und dem Bul-
Hirngebiete innerhalb einer Hemisphäre. bus olfactorius.
Die Kommissuren verbinden Hirngebiete • Zum mesolimbischen System werden
zwischen den beiden Hemisphären. Die Nucleus accumbens und präfrontaler Asso-
größte Kommissur ist das Corpus callosum, ziationskortex (hier besonders der Orbito-
das ca. 2–3 % aller kortikalen Nervenzellen frontalkortex und der ventromediale Prä-
beider Hemisphären miteinander verbin- frontalkortex) gezählt.
det. Als kleinere Kommissuren sind die • Das Zwischenhirn besteht aus dem Thala-
Commissura anterior und die Habenulae mus und dem Hypothalamus.

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bekannt. Der Hirnstamm besteht aus vielen kleine-


• Nach morphologischen und topografischen ren Strukturen. Unterschieden wird zu-
Kriterien werden das zentrale (ZNS) und nächst das Mittelhirn (Mesencephalon)
das periphere Nervensystem (PNS) unter- vom Rautenhirn (Rhombencephalon) und
schieden. Das ZNS umfasst das Gehirn und Nachhirn (Medulla oblongata oder My-
das Rückenmark. Das PNS besteht aus Ner- elencephalon). Das Rautenhirn besteht aus
vengewebe außerhalb des ZNS. Nach funk- der Brücke (Pons) und dem Kleinhirn (Cere-
tionellen Kriterien wird das Nervensystem bellum). Diese beiden Teile werden auch
in das animale (zerebrospinale) und das als Metencephalon zusammengefasst.
vegetative Nervensystem eingeteilt. • Überwiegend im Pons lokalisiert befindet
• Zum vegetativen Nervensystem zählen das sich die Formatio reticularis, die sich
sympathische und das parasympathische nach vorn in das mediale Vorderhirnbündel
Nervensystem. fortsetzt.
• Das gesamte Gehirn wird als Encephalon • 12 Hirnnerven werden unterschieden: I.
bezeichnet, das in das Prosencephalon und Nervus olfactorius (Riechnerv), II. Nervus
den Truncus cerebri unterschieden wird. opticus (Sehnerv), III. Nervus oculomo-
Das Prosencephalon besteht aus dem Te- torius (Augenbewegungsnerv), IV. Nervus
lencephalon und dem Diencephalon. Dem trochlearis (Augenrollnerv), V. Nervus trige-
Truncus cerebri werden das Mesencepha- minus (Drillingsnerv), VI. Nervus abdu-
lon und das Rhombencephalon zugerech- cens (Augenabziehnerv), VII. Nervus facia-
net. Das Rhombencephalon besteht aus lis (Gesichtsnerv), VIII. Nervus vestibulo-
dem Pons, dem Cerebellum und dem Mye- cochlearis (Hör- und Gleichgewichtsnerv),
lencephalon. IX. Nervus glossopharyngeus (Zungen-Ra-
• Die laterale Oberfläche des Kortex beider chen-Nerv), X. Nervus vagus („umher-
Hemisphären ist in Frontal-, Parietal-, Tem- schweifender“ Nerv), XI. Nervus accesso-
poral- und Okzipitallappen unterteilt. Die rius („zusätzlicher“ Nerv), XII. Nervus hy-
Lobi sind anhand anatomischer Landmar- poglossus (Unterzungennerv).
ken recht gut zu unterscheiden.
• Die Basalganglien setzen sich zusammen
aus: Nucleus caudatus, Putamen und Glo- 2.5. Fragen und Aufgaben
bus pallidus. Anatomisch gehört auch die
Amygdala dazu. • Mit welchen Schnittebenen orientieren wir
uns im Gehirn?

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2.6.  Weiterführende Literatur 57

• Beschreiben Sie die Forel- und die Meynert- • Welche Hirngebiete gehören zum limbi-
Achse und die Konsequenzen für die Ori- schen System?
entierung im Gehirn. • Beschreiben Sie das Zwischenhirn und er-
• Erläutern Sie, was graue und weiße Sub- läutern Sie, welche Gebiete dazugehören.
stanz ist. • Was gehört zum Hirnstamm?
• Was sind Kommissuren und Assoziations- • Warum ist die Formatio reticularis so inte-
fasern? ressant?
• Wie wird das Gehirn eingeteilt? • Wie viele Hirnnerven werden unterschie-
• Welche Lobi können unterschieden wer- den? Welche Funktionen haben die einzel-
den? Erklären Sie die wesentlichen Land- nen Hirnnerven?
marken zur Einteilung.
• Beschreiben Sie die wesentlichen Gyri und
2.6. Weiterführende Literatur
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Sulci, die in der Lateralansicht des Gehirns


zu erkennen sind.
• Beschreiben Sie die wesentlichen Gyri und Duus, P. (2001). Neurologisch-topische Diagnos-
Sulci, die in der Medianansicht des Gehirns tik. 7. Aufl. Stuttgart: Thieme.
zu erkennen sind. Sitzer, M., Steinmetz, H. (2011). Lehrbuch Neu-
• Beschreiben Sie die wesentlichen Gyri und rologie. München: Urban & Fischer.
Zilles, K., Rehkämper, G. (1998). Funktionelle
Sulci, die in der Basalansicht des Gehirns zu
Neuroanatomie. Lehrbuch und Atlas. 3. Aufl.
erkennen sind.
• Was sind die Basalganglien und welche
Heidelberg: Springer.

Hirngebiete werden ihnen zugeordnet?

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59

3. Nervenzellen, Module, Kabel


und Netzwerke
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3.2.  Enzephalisations­quotient 61

3.1. Einführung 3.2. Enzephalisations­


quotient
Der Mensch verfügt über viele bemerkens-
werte Fähigkeiten, die aus Sicht der Neuro- Der Paläontologe und Neuroanatom Jerison
wissenschaften durch die besondere Archi- hat in seinen Werken (1973, 2000) dargelegt,
tektur des Gehirns bedingt sind. Im Zuge der dass die Hirngröße (gemessen als Hirnvolu-
Evolution hat sich das Gehirn des Menschen men oder -gewicht) als Kennwert für die Größe
(genauer: des Hominiden) stark verändert. der Gehirnoberfläche und die Anzahl der Ner-
Vor ca. 4–5 Millionen Jahren ging aus ge- venzellen dienen kann. Er diskutiert auch, in-
meinsamen Vorfahren mit affenähnlichen wieweit die Gehirngröße als Indikator für die
Wesen der erste Hominide, der Australopi- Intelligenz gewertet werden kann, wobei er zu
thecus afarensis, hervor. Über verschiedene dem Schluss kommt, dass Gehirngröße und
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Zwischenformen von Australopithecen (Aus- Intelligenz zumindest im Vergleich zwischen


tralopithecus africanus und Australopithecus den Arten nicht zusammenhängen. Dies ver-
robustus) entwickelten sich die Hominiden deutlicht folgende Überlegung: Das Gehirn
mit dem Homo habilis (lateinisch: „ge- eines Pottwals wiegt ungefähr 8 000 Gramm
schickt“, „befähigt“, „begabt“) und dem Homo und ist demzufolge etwa 6-mal so schwer wie
erectus (lateinisch: „aufgerichtet“) weiter. das Gehirn eines Menschen. Niemand würde
Der Homo habilis bevölkerte vor ca. 2–1,5 daraus ableiten, dass der Pottwal über eine
Millionen Jahren die Erde. Der Zeitraum, in höhere „Intelligenz“ verfügt als der Mensch.
dem der Homo erectus lebte, wird auf 1,5 Offenbar muss bei der Beurteilung der Gehirn-
Millionen bis 300 000 Jahre vor heute da- größe die Körpergröße berücksichtigt werden:
tiert. Es folgte der Neandertaler, der vor ca. Das Gehirngewicht des Pottwals macht
300 000–40 000 Jahren lebte. Der moderne 0,021 % der Gesamtkörpermasse aus, beim
Mensch (Homo sapiens; lateinisch: der Menschen sind es ungefähr 2,1 %. Jedoch
„weise“, „kluge“ Mensch) erschien erst vor ca. scheint diese Art der Datendarstellung nicht
200 000 Jahren; offenbar lebte er eine Zeit zu eindeutigen Erklärungen zu führen. So
lang gemeinsam mit dem Neandertaler. An- würde etwa eine Spitzmaus auf einen Wert von
hand von Schädelfunden kann die jeweilige 3,2 % kommen, dennoch würde man sie nicht
Gehirngröße der Hominiden geschätzt wer- als besonders „intelligent“ bezeichnen. Um
den (Tab. 3-1). Diese Schätzungen zeigen, dass diese Probleme zu umgehen, schlug Jerison
sich das Gehirnvolumen im Verlauf der Evolu- den Enzephalisationsquotienten (abgekürzt:
tion stark vergrößert hat. EQ) vor. Der EQ drückt das Verhältnis der „er-

Tabelle 3-1: Geschätzte Volumina der Gehirne von Hominiden. Angegeben ist auch der Zeitraum, in dem
diese Hominiden gelebt haben.

Australopithecus africanus ca. vor 3–1,5 Millionen Jahren   500 cm3


Homo habilis ca. vor 2–1,5 Millionen Jahren   700 cm3
Homo erectus ca. vor 1,5 Millionen – 300 000 Jahren 1 000 cm3
Homo neanderthalensis ca. vor 400 000–40 000 Jahren 1 400 cm3
Homo sapiens ca. vor 200 000 Jahren – heute 1 300 cm3

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62 3.  Nervenzellen, Module, Kabel und Netzwerke

warteten Hirnmasse“1 im Verhältnis zur wirk- metrische Beziehungen zwischen verschiede-


lichen Gehirnmasse aus. Für die Berechnung nen anatomischen Massen. Die grundsätzliche
des EQ ist die allometrische Beziehung zwi- Formel für die mathematische Beschreibung
schen Gehirngewicht (G) und Körpergewicht des Zusammenhangs zwischen Gehirngewicht
(K) wichtig, die für viele Tierarten mittels des (G) und Körpergewicht (K) ist die folgende (k
Cephalisationsfaktors (C) beschrieben wer- ist eine Konstante):
den kann:
(2)  G = k * K2/3
(1)  C = G / K 2/3
(3)  log(G) = log(k) + 2/3 * log(K)
(4)  G = C * K2/3
Diesem Kennwert liegt die Beobachtung zu-
grunde, dass über viele Arten hinweg das Hirn- Formel 4 steht in direkter Beziehung zu den
gewicht mit zunehmendem Körpergewicht Formeln 2 und 3. Hier wird der Cephalisati-
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relativ kleiner wird.2 Das bedeutet, dass kleine onsfaktor für die Schätzung des Hirngewichts
Tiere mit einem geringen Körpergewicht rela- aufgrund des Körpergewichts genutzt. Der
tiv große Gehirne haben. Große Tiere mit ei- Cephalisationsfaktor (C) kann für jede Art
nem hohen Körpergewicht haben dagegen ein berechnet und auch für die Berechnung des
relativ kleines Gehirn mit einem niedrigen Ge- EQ verwendet werden. Der Cephalisationsfak-
hirngewicht. Diese mathematische Beziehung tor einer Art wird mit dem einer repräsentati-
ist anhand eines Diagramms sehr gut zu er- ven (meist „durchschnittlichen“) Art für die
kennen, in dem Gehirngewichte und Körper- Vergleichsstichprobe verglichen. Wenn bei-
gewichte verschiedener Spezies dargestellt spielsweise der Cephalisationsfaktor für eine
sind (Abb. 3-1). Das Gehirngewicht (in g) wird bestimmte Säugetierart berechnet werden
auf der Ordinate und das Körpergewicht (in g) soll, muss demzufolge der Cephalisationsfak-
auf der Abszisse dargestellt. Diese Punktwolke tor (C) des interessierenden Säugers mit dem
kann mathematisch mittels einer exponentiel- Cephalisationsfaktor (C’) des „durchschnitt-
len Funktion beschrieben werden, sodass das lichen“ Säugers verglichen werden:
Gehirngewicht (G) anhand des Körpergewichts
(5)  EQ = C/C’
(K) vorhergesagt werden kann. Die Arbeiten
von Jerison und anderen Wissenschaftlern Für Säuger wird in diesem Zusammenhang
haben ergeben, dass diese Funktion in der meist auf den Cephalisationsfaktor der Katze
Regel einen Exponenten von 2/3 (also 0.666) zurückgegriffen, die über ein durchschnitt-
aufweist. Dieser Exponent ist typisch für allo- liches Hirn- und Körpergewicht verfügt, wes-
halb sie einen EQ von 1 hat. Für Reptilien be-
trägt der Cephalisationsfaktor 0.007 und für
1  „Erwartet“ bedeutet in diesem Zusammenhang,
dass die Hirnmasse aufgrund einer statistischen
Dinosaurier wird er mit 0.005 angenommen.
Vorannahme berechnet wurde. Für die Schätzung Für Säugetiere wird der Cephalisationsfaktor
der „erwarteten“ Hirnmasse werden die bekannten auf 0.13 (manchmal auch auf 0.12) festgelegt.
Körpergrößen und Hirnmassen vieler Spezies ge- Für Vögel hat man sich auf einen C von 0.10
nutzt. geeinigt. Unter Verwendung dieser Cephalisa-
2  Mit zunehmendem Körpergewicht nimmt zwar tionsfaktoren können bei Kenntnis der Körper-
das Hirngewicht zu, die Zunahme erfolgt jedoch
gewichte unter Verwendung von Formel (4) die
nicht proportional, sondern unterproportional. Dies
Hirngewichte für verschiedene Arten recht gut
kann man ausdrücken, indem man das Verhältnis
von Gehirngewicht und Körpergewicht in Abhängig- geschätzt werden.
keit vom Körpergewicht skaliert. Mit zunehmendem In Abbildung 3-1 ist der Zusammenhang
Körpergewicht wird dieses Verhältnis kleiner. zwischen Körper- und Hirngewicht für 18 Ar-

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3.2.  Enzephalisations­quotient 63

10 000 Afrikanischer Elefant Pottwal werden. Deshalb kann für die Schätzung des
Schwarzdelfin
Mensch EQ auch das Verhältnis zwischen tatsäch-
1 000 Blauwal
Schimpanse
Pferd
Nilpferd lichem (G) und erwartetem Hirngewicht (G’)
100 Rhesusaffe Schwein verwendet werden:
Katze Hund
Hirngewicht (g)

10 Eichhörnchen
Igel/Stachelschwein (6)  EQ = G/G’
1 Spitz- Ratte
Maus Wie oben dargestellt, repräsentiert der EQ
maus
0.1
Fledermaus also das Verhältnis von tatsächlichem zu er-
0.0001 0.01 1 100 10 000 1 000 000
Körpergewicht (kg)
wartetem Hirnvolumen. Grafisch ist dies an-
hand der Position des jeweiligen empirisch
Abbildung 3-1: Zusammenhang zwischen Hirn- ermittelten Datenpunkts in Bezug zum durch
gewicht und Körpergewicht. Die Werte sind loga- die Körpergröße bestimmten Punkt auf der
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rithmiert, um eine lineare Beziehung zu erhalten. Regressionsgeraden erkennbar. Die Maus, das
Die Regressionsgerade ist nach Formel 3 berech-
Pferd und der Hund liegen genau auf der Ge-
net worden. Für die Maus sind zwei Werte angege-
raden, was bedeutet, dass sie jeweils ein Ge-
ben. (Nachgezeichnet nach Roth & Dicke, 2005)
hirngewicht aufweisen, das so groß wie er-
wartet ist. Beim Blauwal ist das tatsächlich
gemessene Gehirngewicht kleiner als aus dem
ten dargestellt. Hirngewicht und Körperge- Körpergewicht geschätzt.
wicht sind logarithmiert worden, sodass der In Tabelle 3-2 sind Gehirn- und Körper-
Zusammenhang jetzt nicht mehr exponentiell, gewichte, berechnete Cephalisationsfaktoren
sondern linear ist. Die Steigung des linearen und geschätzte EQ für verschiedene Tierarten
Zusammenhangs ist gleich dem Exponenten aufgeführt. Für alle Tierarten wurde der Ce-
0.666 (oder 2/3 in der exponentiellen Glei- phalisationsfaktor der Katze als Bezugspunkt
chung, die hier nicht dargestellt ist). verwendet. Zu erkennen ist, dass der Mensch
Grafisch kann der EQ auch als Abweichung über den größten Cephalisationsfaktor ver-
des gemessenen vom geschätzten Gehirnge- fügt. Setzt man den Cephalisationsfaktor des
wicht (aus der Formel 2 oder 3) aufgefasst Menschen mit dem der Katze in Beziehung,
werden. Anhand der Formel 3 kann aus dem erhält man den EQ für den Menschen (EQMensch
Körpergewicht das jeweilige Hirngewicht ab- = 0.91/0.13 = 7.03).
gleitet werden. Das geschätzte Hirngewicht Jerison diskutiert den EQ als Ausdruck der
läge dann auf der Regressionsgeraden kor- „Möglichkeit“ zu intelligentem Verhalten. Das
respondierend zum zugeordneten Körper- bedeutet, dass ein großer EQ die Vorausset-
gewicht. Das geschätzte Hirngewicht für den zung für intelligentes Verhalten darstellt, da
Menschen findet man, indem ein plausibles das Gehirn offenbar größer als grundsätzlich
Körpergewicht identifiziert wird (hier z. B. nötig ist. Das „zusätzliche“ Hirnvolumen er-
90 kg). Von dort zieht man eine Senkrechte möglicht, dass mehr Nervenzellen „unter-
nach oben zur Regressionsgeraden. Würde gebracht“ werden können. Durch die größere
man von dort eine horizontale Linie zur Or- Anzahl von Nervenzellen soll das Gehirn dann
dinate ziehen, käme man zum geschätzten mehr Berechnungen durchführen können, was
Hirngewicht von ca. 160 g. Das tatsächliche mit besseren kognitiven Leistungen einher-
Hirngewicht (ca. 1 200 g) des Menschen ist gehen soll.
jedoch ca. 7-mal größer als das geschätzte. In der Tabelle 3-2 ist zu erkennen, dass der
Insofern kann die Abweichung von dieser Mensch über den größten EQ verfügt. Aller-
Geraden als ein Maß für den EQ aufgefasst dings kann für den Delfin auch ein großer EQ

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64 3.  Nervenzellen, Module, Kabel und Netzwerke

Tabelle 3-2: Gehirngewichte (in g), Körpergewichte (in g), berechnete Cephalisations­faktoren und ge-
schätzte EQ für die aufgeführten Tierarten. Für alle Tierarten wurde der Cephalisa­tionsfaktor der Katze
als Bezugspunkt verwendet. Die Gehirngewichte wurden teilweise aus der Arbeit von Roth & Dicke
(2005) entnommen. Sofern in der Arbeit von Roth und Dicke Bereiche von Gehirngewichten angegeben
wurden, wurde ein geschätzter Mittelwert verwendet. Einige Arten sind zusätzlich aufgenommen wor-
den ­(Baboon, Blauwal, Pottwal). Die Körpergewichte wurden anhand verschiedener Quellen geschätzt
und sind deshalb als An­näherungen aufzufassen. Der Cephalisationsfaktor wurde mit der Formel 4
berechnet; der EQ anhand von Formel 5.

Art Gehirn- Körper- Cephalisations­faktor EQ


gewicht (g) gewicht (g)
Mensch 1400 60 000 0.91 7.03
Delfin 1700 160 000 0.58 4.44
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Schimpanse  400 50 000 0.29 2.27


Kapuzineraffe   60 3000 0.29 2.22
afrikanischer Elefant 4200 2 300 000 0.24 1.85
Rhesusaffe   88 7000 0.24 1.85
Fuchs   53 6500 0.15 1.17
Pferd  510 200 000 0.15 1.15
Gorilla  500 200 000 0.15 1.12
Baboon  140 30 000 0.15 1.12
Hund   64 10 600 0.13 1.02
Katze   30 3500 0.13 1.00
Kamel  762 529 000 0.12 0.90
Walross 1130 1 000 000 0.11 0.87
Killerwal 3650 6 000 000 0.11 0.85
Igel     3,3 180 0.10 0.80
Löwe    260 200 000 0.08 0.58
Opossum     7,6 1000 0.08 0.58
Eichhörnchen     7 900 0.08 0.58
Blauwal 3000 10 000 000 0.06 0.50
Hase    11 2500 0.06 0.46
Pottwal 8000 50 000 000 0.06 0.45
Ratte     2 700 0.03 0.20
Maus     0,3 90 0.01 0.11

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3.3.  Neurone und Gliazellen 65

von 4.44 berechnet werden. Der Elefant mit Primaten. Bei Nagern ist sie erheblich geringer
seinem großen Gehirn kommt auf einen EQ und liegt für den Nager-Kortex bei ca. 1000
von 1.85. Kapuzineraffen und Schimpansen Nervenzellen/mg und für das Nager-Kleinhirn
verfügen bereits über EQ, die größer als 2 sind, bei ca. 64 000 Nervenzellen/mg. Auch für an-
was bedeutet, dass ihre Gehirne deutlich grö- dere Tiergattungen können geringere Pa-
ßer als erwartet sind. ckungsdichten der Nervenzellen identifiziert
werden. Hohe Packungsdichten der Nerven-
zellen ermöglichen es, dass viele Nervenzellen
3.3. Neurone und Gliazellen auf relativ kleinem Raum Platz finden. Die
größere Packungsdichte der Nervenzellen
Die These, dass der EQ eine Grundlage für das beim Menschen und den Primaten ist wahr-
intelligente Verhalten des Menschen ist, wird scheinlich der evolutionär bedingte Vorteil,
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derzeit diskutiert und infrage gestellt. Aktuell den beide gegenüber anderen Tiergattungen
wird eher die absolute Anzahl der Neurone als erworben haben.
wesentliche Grundlage der Intelligenz auf- Wenn die Packungsdichte der Nervenzellen
gefasst: Je mehr Neurone, desto mehr Poten- im Gehirn bei Primaten und Menschen in etwa
zial für intelligentes Verhalten wird dem Orga- gleich groß ist, dann bedeutet das, dass das
nismus zugesprochen. menschliche Gehirn eine größere Variante ei-
Der Mensch verfügt nach neueren Schät- nes Primatengehirns ist. Damit würde sich
zungen über ca. 86 Milliarden Nervenzellen das Menschengehirn (außer in der absoluten
und in etwa über die gleiche Anzahl von Nicht- Größe) nicht grundsätzlich vom Primaten-
nervenzellen (z. B. Gliazellen; Herculano-Hou- gehirn unterscheiden. Der einzige, aber wahr-
zel, 2009; Roth & Dicke, 2005). Diese Schät- scheinlich wesentliche Unterschied zwischen
zungen weichen deutlich von jenen ab, die in dem Primaten- und Menschengehirn bestünde
vielen Lehrbüchern berichtet werden (z. B. dann darin, dass der Mensch insgesamt über
100–150 Milliarden Nervenzellen und 10-mal mehr Nervenzellen verfügt als jedes Primaten-
mehr Gliazellen). Allerdings verteilen sich die gehirn. Insofern ist die absolute Anzahl der
Nervenzellen auf Kortex und Cerebellum un- Neurone der wesentliche Faktor.
terschiedlich. Obwohl der Kortex ca. 82 % der Weiterhin wird angenommen, dass jedes
gesamten Hirnmasse ausmacht, finden sich Neuron ca. 29 000 Synapsen aufweist und der
dort lediglich 19 % aller Nervenzellen (also ca. Dendritenbaum eines Neurons mit 100 000
16 Milliarden3). Die meisten Nervenzellen  – bis 200 000 Nervenfasern in Verbindung tre-
ca. 81 %  – befinden sich im Kleinhirn (ins- ten kann. Vermutlich ist eine Nervenzelle im
gesamt ca. 69 Milliarden), das lediglich ca. Durchschnitt mit 10 000 anderen Nervenzel-
10 % des gesamten Hirnvolumens ausmacht. len verbunden. Insgesamt belegen diese Zah-
Die Dichte der Nervenzellen beträgt für den len, dass das menschliche Gehirn ein giganti-
menschlichen Kortex 30–80 000 Neurone/ sches Netzwerk ist (Tab. 3-3). Allein die Anzahl
mg. Im Kleinhirn ist die Nervenzelldichte er- der Neurone (86 Milliarden im Gehirn und 16
heblich größer und variiert von 400 000 bis Milliarden im Kortex) liegt in der Größenord-
600 000 Neurone/mg. nung einer mittelgroßen Galaxie. Die Milch-
Die Dichte der Nervenzellen im mensch- straße, die als sehr große Galaxie gilt, umfasst
lichen Gehirn ist in etwa gleich hoch wie bei ca. 300 Milliarden Sterne (Tab. 3-4).

3  Roth & Dicke (2005) kommen zu etwas geringe-


ren Werten (s. Tab. 3-3).

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66 3.  Nervenzellen, Module, Kabel und Netzwerke

Tabelle 3-3: Gehirnmasse und geschätzte Anzahl der Neurone in den Gehirnen u
­ nterschiedlicher Arten
(nach Roth & Dicke, 2005).

Art Gehirnmasse (g) Anzahl Neurone (Mio.)


Homo sapiens    1400 11 500(a)
16 000(b)
Killerwal    3650 10 500
afrikanischer Elefant    4200 11 000
Schimpanse 330–430 6200
Delphin    1350 5800
Gorilla 430–570 4300
Rhesusaffe      88 480
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Katze      25 300


Hund      64 160
Opossum       7,6 27
Ratte       2 15
Maus       0,3 4
(a)
nach Roth & Dicke (2005); (b) nach Herculano-Houzel (2009)

Tabelle 3-4: Kortexoberfläche (in cm2), Anzahl der Neurone pro Flächeneinheit (in Millionen Neurone/
cm2) und Anzahl der Neurone pro Gewichtseinheit (in Millionen Neurone/g). Die Oberflächen wurden
anhand der in Tabelle 3-3 dargestellten Hirngewichte mit der F ­ ormel zur Berechnung der Oberflächen
von Jerison (1991) berechnet (Formel 1, S. 39; S = 3.749 * E 0.913; S = Oberfläche, E = Hirngewicht). Diese
Daten sind der Tabelle von Roth und Dicke (2005) entlehnt. Da es sich hier um Schätzungen handelt,
korrespondieren diese Daten nicht mit den Schätzungen von Herculano-Houzel (2009).

Art Oberfläche (cm2) Millionen Millionen


Neurone/cm2 Neurone/g
Homo sapiens(a) 2795 4,1  8,2
Homo sapiens(b) 2795 5,7 11,4
Killerwal 6703 1,6  2,9
afrikanischer Elefant 7620 1,4  2,6
Schimpanse  890 7,0 15,5
Delfin 2703 2,1  4,3
Gorilla 1092 3,9  8,6
Rhesusaffe  223 2,1  5,5
Katze   71 4,2 12,0
Hund  167 1,0  2,5
Opossum   24 1,1  3,6
Ratte    7 2,1  7,5
Maus    1 3,2 13,3
Anzahl der Neurone (a) nach Roth & Dicke (2005); (b) nach Herculano-Houzel (2009)

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3.4. Brodmann-Areale 67

3.4. Brodmann-Areale als Module aufgefasst werden, die aufgrund


ihres besonderen anatomischen Aufbaus für
Der deutsche Neuroanatom und Psychiater bestimmte Aufgaben spezialisiert sind.
Korbinian Brodmann (1909) hat das Gehirn Diese zytoarchitektonische Einteilung wird
einer verstorbenen Frau post mortem hinsicht- heute noch in der Bildgebung verwendet, um
lich seines zytoarchitektonischen Aufbaus ana- die Aktivierungen einzelnen Hirngebieten zu-
lysiert. Für die einzelnen Hirngebiete hat er zuordnen (Zilles & Amunts, 2010). Im Folgen-
den Zellaufbau, die Anzahl und Art der Zellen den sind die wichtigsten Hirngebiete mit den
sowie die Besonderheiten der Nervenfasern jeweiligen Brodmann-Areal-Nummern dar-
untersucht und kategorisiert. Er identifizierte gestellt (Tab. 3-5).
52 zytoarchitektonische Felder, die heute als Das Problem dieser Einteilung besteht da-
Brodmann-Areale bezeichnet werden und mit rin, dass sie anhand nur eines Gehirns erstellt
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dem Akronym BA versehen und von 1 bis 52 wurde. Mittlerweile ist jedoch bekannt, dass
durchnummeriert sind (Abb. 3-2).4 Die zytoar- die Brodmann-Areale hinsichtlich Größe und
chitektonischen Besonderheiten sind an eini- Form nicht bei jedem Gehirn gleich sind.
gen Arealen eindrücklich darstellbar. Der pri- Aktuell wird versucht, dieser Variabilität mit-
märe Motorkortex z. B. ist durch eine große tels sogenannter Wahrscheinlichkeitskar-
Schicht von Purkinje-Zellen in den Schichten 3 ten gerecht zu werden (Abb. 3-3). Hierbei wer-
und 5 charakterisiert. Im visuellen Kortex im den die entsprechenden Areale auf individuel-
Okzipitallappen finden sich v. a. in der Schicht len Post-mortem-Gehirnen kartiert und im
4 viele Zellen, die auf die Weiterverarbeitung nächsten Schritt mit den entsprechenden
von afferenten Informationen spezialisiert Arealen stereotaktisch normalisiert. Das be-
sind. Die Schichten 3 und 5, die typischerweise deutet, dass die unterschiedlichen Gehirne
für die Efferenzen wichtig sind, sind hier eher hinsichtlich ihrer Außenmaße angeglichen
spärlich besetzt. Die Brodmann-Areale können werden; alle anderen inividuellen Unter-

3 2

5 4 1
4 7 5
6
8 6
9 1 8 7
40 23 31
39 9 24
26 19
10 18 33 29 30
41
45 44 22
19 10
32 18
42 17 27 17
19
47 35
37 12 18
11 21 25 34 37
36
38 11
28
20 38 20

Abbildung 3-2: Brodmann-Areale.

4  Einige Areale wurden weiter unterteilt, z. B. das


Areal 23 in die Areale 23a und 23b.

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68 3.  Nervenzellen, Module, Kabel und Netzwerke

Tabelle 3-5: Darstellung wichtiger Hirnstrukturen mit den zugehörigen Brodmann-Nummern.

sensomotorischer Kortex, Gyrus postcentralis 1, 2, 3


primärer Motorkortex, Gyrus praecentralis 4
Prämotorkortex 6
frontales Augenfeld 8
dorsolateraler Präfrontalkortex 9, 46
unterer Teil des Frontallappens, auf der linken Seite das Broca-Areal 44, 45
primärer visueller Kortex, Sulcus calcarinus 17
sekundärer visueller Kortex, Gyri occipitalis 18, 19
Lobulus parietalis superior 5,7
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Gyrus supramarginalis 39
Gyrus angularis 40
primärer Hörkortex, Heschlscher Gyrus 41
sekundärer Hörkortex, lateraler Teil des Heschlschen Gyrus, 22
Gyrus temporalis superior

schiede bleiben jedoch erhalten. Anschlie-


ßend werden die Gehirne bzw. die entspre-
chenden zytoarchitektonischen Areale gemit-
telt oder überlagert. Es kann dann identifiziert
werden, mit welcher Wahrscheinlichkeit an
Wahrscheinlich-
keitskarte
einer bestimmten Stelle des Gehirns ein ganz
bestimmtes zytoarchitektonisches Areal zu
finden ist. Diese Arbeiten sind insbesondere
von der Arbeitsgruppe um den Düsseldorfer
Neuroanatomen Karl Zilles durchgeführt wor-
den ­(Scheperjans et al., 2008).

Abbildung 3-3: Schematische Darstellung der Be- 3.5. Von der Phrenologie
rechnung von Wahrscheinlichkeitskarten. Dar- zu Netzwerken
gestellt sind fünf Horizontalschnitte durch den
Hörkortex. Jeder Schnitt stammt von einer ande- Zu Zeiten der Phrenologie und auch noch, als
ren Person. Für jede Person ist der Hörkortex auf
die Kleist-Gehirnkarten (s. Abb. 1-5) populär
dem Horizontalschnitt markiert. Die so markierten
waren, war die Neurologie bzw. Neuropsycho-
Hörkortexbereiche werden übereinandergelegt.
logie darauf eingestellt, spezifische Hirn-
Man kann dann für jeden Punkt im Hörkortex be-
rechnen, bei wie viel Personen an diesem Punkt
gebiete zu identifizieren, die für bestimmte
auch ein Hörkortex vorliegt. So kann man für jeden Funktionen spezialisiert sind (Lokalisation).
Punkt des Hörkortex die Wahrscheinlichkeit be- Die Gegenbewegungen haben sich auf das Zu-
stimmen, dass in einer Population an genau die- sammenwirken verschiedener Hirngebiete zur
sem Punkt ein Hörkortexbereich vorliegt. Funktionskontrolle spezialisiert.

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3.5.  Von der Phrenologie zu Netzwerken 69

Aktuell hat sich die Sichtweise nach einer Gamma-Band (30–80 Hz). Inzwischen liegen
fast schon phrenologischen Phase zu Beginn zahlreiche Befunde vor, die diese Überlegung
der Bildgebung in den 1990er Jahren zu einer bestätigen (Herrmann et al., 2010). Die
netzwerkorientierten Sicht der Hirnfunktionen Gamma-Band-Aktivität tritt nicht nur bei
verlagert. Diese Verlagerung wird bereits seit einfachen Wahrnehmungen (wie in unserem
den 1950er Jahren diskutiert. Meilensteine Beispiel) auf, sondern auch bei komplexen
sind in diesem Zusammenhang die Arbeiten Wahrnehmungen, Gedächtnisprozessen, beim
der Neuropsychologen Karl S. Lashley (1929) Denken und auch, wenn uns verschiedene
und Donald O. Hebb (1949). Beide haben da- Aspekte bewusst werden. Die mit diesen Pro-
rauf hingewiesen, dass die einzelnen Hirn- zessen assoziierte Gamma-Band-Aktivität tritt
gebiete miteinander interagieren müssen, um nicht nur lokal (also in ganz bestimmten Hirn-
die verschiedenen psychischen Funktionen zu gebieten), sondern verteilt über das ganze
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kontrollieren. In den 1970er Jahren erhielt der Hirn auf. Das Gehirn scheint bei diesen Pro-
„Netzwerkgedanke“ neue Unterstützung ins- zessen verteilt (also viele Hirngebiete ein-
besondere durch die Überlegungen zum Bin- schließend) in die Gamma-Band-Aktivität
ding, das als neurophysiologisches Grundprin- überzugehen. Das bedeutet aber auch, dass
zip für das Zusammenschalten verschiedener zumindest die oben aufgeführten psychischen
Hirngebiete zu einer funktionalen Einheit vor- Funktionen von der gemeinsamen (wahr-
geschlagen wurde (Engel et al., 2001). Unter scheinlich synchronisierten) Aktivität ver-
dem Begriff Binding wird je nach Sichtweise ein schiedener Hirngebiete abhängen.
psychologisches oder neurophysiologisches Aufgrund der sich verfestigenden Erkennt-
Phänomen verstanden (s. a. Kap. 7). nis, dass das Gehirn als Netzwerk agiert, wer-
Aus der Sicht der Psychologie bedeutet es, den aktuell verschiedene Forschungsansätze
dass zwei oder mehrere psychische Funktio- verfolgt, um die Netzwerkarchitektur des
nen zusammengeschaltet werden, um eine Gehirns zu charakterisieren. Ein Ansatz besteht
kohärente Wahrnehmung zu ermöglichen. darin, die elektrischen oder magnetischen Ak-
Dies passiert z. B. bei der Wahrnehmung eines tivitäten mittels Sensoren (Elektroden oder
roten Kreises, bei der die Farbe Rot mit dem Magnetsensoren) an der Schädeloberfläche
Objekt Kreis verbunden werden muss. Ein- abzuleiten und anschließend die Kohärenz (ein
drücklich erfolgt dieser Bindungsprozess bei ähnliches Maß wie die Korrelation) zwischen
der Farbsynästhesie. Ein Graphem-Farb-Syn- den mit diesen Sensoren gemessenen Hirn-
ästhet sieht bestimmte Buchstaben immer in aktivitäten zu bestimmen. Diese Form der
bestimmten Farben; er verbindet automatisch Netzwerkanalyse hat Einblicke in die funktio-
und nicht unterdrückbar Grapheme und Far- nelle Netzwerkarchitektur des Gehirns in Ruhe
ben miteinander. Physiologisch setzt dieses oder während des Durchführens bestimm-
„psychologische Binding“ das Zusammen- ter Aufgaben ermöglicht (Abb. 3-4; Kap. 16).
schalten der beteiligten Hirngebiete voraus. Neuere Varianten arbeiten nicht mehr mit den
Bei der Wahrnehmung eines farbigen Kreises Informationen, die an der Kortexoberfläche
muss das Farbwahrnehmungsareal (präziser: gemessen werden, sondern mit den geschätz-
die neuronalen Netze zur Analyse von Farben) ten intrazerebralen Quellen dieser Oberflä-
mit den Objektwahrnehmungszentren (also chenaktivität5 (Lehmann et al., 2006). An-
den entsprechenden neuronalen Netzwerken)
funktional zusammengeführt werden. Es wird 5  Bei dieser Methode werden die elektrischen Ak-
vermutet, dass diese Synchronisation in einem tivitäten im Inneren des Gehirns unter Nutzung von
bestimmten Frequenzbereich erfolgt, dem komplexen mathematischen Verfahren auf der Basis

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70 3.  Nervenzellen, Module, Kabel und Netzwerke

Kohärenz anhand des Kohärenz anhand der


Oberflächen-EEG intrazerebralen Quellen

1 2

Theta-Band 6
5

3 4
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Abbildung 3-5: Beispiel der sich verändernden


Kohärenzen im Alpha-Band während des Lernens
Delta-Band
einer motorischen Aufgabe (nach Blum et al.,
Abbildung 3-4: Kohärenzen6 anhand des gemes- 2007). Die markierten Hirngebiete verändern im
senen Oberflächen-EEG für verschiedene EEG- Laufe eines motorischen Trainings ihre Kohärenz.
Bänder. Dargestellt sind die 50 stärksten Kohä- Dargestellt sind der primäre Motorkortex (1: links,
renzen für das Theta- und Delta-Band. In der 2: rechts), der superiore Parietallappen (3: links,
ersten Spalte sind die kohärent miteinander os- 4: rechts) und der inferiore Parietallappen (5:
zillierenden Signale verschiedener Oberflächen- links, 6: rechts). Die Pfeile zeigen, welche dieser
elektroden dargestellt. Die Kohärenzen sind als Hirngebiete ihre Kohärenzen durch das Training
Linien zwischen den Elektrodenpositionen ge- verändern. Zu erkennen ist, dass sich insbeson-
kennzeichnet. In der zweiten Spalte sind die Kohä- dere die Kohärenz zwischen den inferioren Parie-
renzen für intrazerebrale Quellen zu erkennen. tallappenbereichen verändert. Veränderungen
Diese intrazerebralen Quellen liegen unterhalb der findet man auch für die Kohärenz zwischen dem
Oberflächenelektroden im Gehirngewebe. (Nach- linksseitigen Motorkortex und dem superioren
gezeichnet nach Lehmann et al., 2006) Parietallappen.

hand dieser Daten werden Konnektivitäts- und Eine Variante sind Zeitreihenanalysen,
Netzwerkanalysen berechnet. Mit diesen Ana- insbesondere die sogenannten Granger-Ana-
lysen kann auch überprüft werden, inwieweit lysen. Mittels dieser Analysen können gerich-
sich lernabhängige Veränderungen einstellen tete Hypothesen untersucht und es kann über-
(Abb. 3-5; Blum et al., 2007). prüft werden, ob ein Hirngebiet ein anderes
statistisch beeinflusst (Abb. 3-6). In einem Ex-
periment wurden Stromdichten im Prämotor-
kortex und im auditorischen Kortex anhand
der Verteilung der elektrischen Aktivität am Schädel
geschätzt (s. a. Kap. 5).
6  Unter Kohärenz versteht man grob ausgedrückt schiedenen Sensoren oder in verschiedenen Hirn-
die Ähnlichkeit von EEG-Oszillationen, die an ver- gebieten gemessen werden.

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3.5.  Von der Phrenologie zu Netzwerken 71

A) motorkortex auf den auditorischen Kortex


deutlich geringer, teilweise sogar nicht exis-
PMC
tent (Jäncke, 2012).
Mit dem Aufkommen der funktionellen
Magnetresonanztomografie werden zuneh-
AC mend die Zeitreihen der BOLD-Signalände-
rungen7 genutzt, die in Ruhe oder während
der jeweiligen psychologischen Aufgaben ge-
messen werden. Solche Zeitreihen werden für
einzelne Hirngebiete erfasst und miteinander
B)
korreliert. Aus diesen Zusammenhängen lässt
0.10 PMC sich erschließen, welche Hirngebiete mit-
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einander (zumindest statistisch) interagieren.


0.06
Das Problem dieser Form der Netzwerkana-
IPMC

lyse besteht darin, dass das BOLD-Signal sehr


0.02
langsam ist und daher die Zeitreihenanalyse
0.20
AC schnelle Prozesse (die Grundlage psychologi-
0.15 scher Prozesse sind) nicht entsprechend ab-
IAC

0.10 bilden kann. Ferner ist die Richtung der jewei-


0.05 ligen Beziehung zwischen den Hirngebieten
nicht aus diesen Daten ersehbar. Ein anderer
0 5 000 10 000 15 000 20 000 25 000 30 000 Ansatz nutzt Wahrscheinlichkeitsaussagen.
Dauer = 60 s So kann z. B. die Wahrscheinlichkeit berechnet
oder geschätzt werden, mit der ein bestimmtes
Abbildung 3-6: Granger-Zeitreihenanalyse der
Stromdichten im auditorischen Kortex (AC) und im Hirngebiet aktiviert ist, wenn eines oder meh-
Prämotorkortex (PMC). In (A) ist schematisch die rere andere aktiviert sind (z. B. unter Nutzung
Position der beiden interessierenden Hirngebiete des Bayes-Theorems).
dargestellt. Darunter (in B) befinden sich die Zeit- Auch anhand neuroanatomischer Daten
reihen von Stromdichtewerten aus dem linkssei- werden Netzwerkanalysen durchgeführt. Mit-
tigen Prämotorkortex (PMC) und dem linksseiti- tels Diffusion-Tensor-Imaging (DTI) wer-
gen auditorischen Kortex (AC). Der dicke Pfeil vom den die Kabelsysteme des Gehirns sichtbar
auditorischen Kortex (AC) zum Prämotorkortex gemacht, sodass sie vermessen werden kön-
(PMC) zeigt an, dass die Aktivität im auditorischen
nen (Abb. 3-7). Auf diese Weise kann z. B. über-
Kortex die Aktivität im Prämotorkortex sehr gut
prüft werden, ob sich bestimmte Kabelsys-
vorhersagt. Der dünne Pfeil vom Prämotorkortex
teme expertiseabhängig unterschiedlich ent-
zum auditorischen Kortex zeigt, dass der statisti-
sche Einfluss vom Prämotorkortex zum auditori-
wickelt haben (z. B. bei Musikern, die ja viele
schen Kortex geringer ist (Jäncke, 2012). Übungsstunden mit ihrem Instrument absol-
viert haben) oder ob sie bei bestimmten neu-
rologischen Erkrankungen überhaupt noch
der Oberflächenverteilung des EEG während vorhanden oder geschrumpft sind.
des Klavierspielens gemessen. Hierbei zeigte
sich, dass die Stromdichten des auditorischen
Kortex statistisch einen großen Einfluss auf 7  BOLD (Blood oxygen level dependent) ist das Sig-
die Stromdichten des Prämotorkortex aus- nal, das im Rahmen der funktionellen Magnetreso-
üben. Umgekehrt war der Einfluss des Prä- nanztomografie (fMRT) gemessen wird (Kap. 5).

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72 3.  Nervenzellen, Module, Kabel und Netzwerke

werke charakterisiert werden. So können z. B.


Netzwerkknoten (sogenannte Hubs) identifi-
ziert, ihr Verbindungsgrad zu den Nachbar-
knoten (anhand von sogenannten Pfadlängen)
charakterisiert und das Ausmaß ihrer „Ver-
bindung“ mit Nachbarknoten (anhand des
Degree-Maßes) quantifiziert werden. Diese
Kennwerte sind beispielsweise genutzt wor-
den, um anatomische Netzwerke bei speziel-
len Versuchspersonengruppen zu charakteri-
sieren oder zu überprüfen, wie sich diese
Netzwerke durch bestimmte Trainingsmaß-
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kortikospinaler
nahmen verändern. In Abbildung 3-8 ist ein
Trakt
funktionelles Netzwerk dargestellt, das an-
hand eines hochauflösenden EEG berechnet
wurde. Dieses Netzwerk hat sich während ei-
nes Arbeitsgedächtnistrainings hinsichtlich
der Eigenschaften der Hubs und der Verbin-
Abbildung 3-7: Beispiel für die Modellierung des
dungen zwischen den Hubs verändert. Auch
kortikospinalen Trakts anhand von DTI-Aufnah-
men. Zu erkennen ist der senkrecht im Inneren des interindividuelle Unterschiede in diesen Netz-
Gehirns verlaufende Kortikospinaltrakt, der den werken lassen sich herausarbeiten. Ein Bei-
Motorkortex mit dem Rückenmark verbindet. spiel hierfür sind unterschiedliche funktionelle
Netzwerke im Ruhezustand des Gehirns bei
Synästheten und Nichtsynästheten (Abb. 3-9;
Jancke & Langer, 2011). Auch für anatomische
Neuerdings werden anatomische und funk- Kennwerte sind interindividuelle Unter-
tionale Netzwerke mittels grafentheoretischer schiede aufgedeckt worden (Abb. 3-10).
Modelle analysiert und beschrieben. Eines
dieser Modelle ist das Small-world-Modell
(Watts & Strogatz, 1998), das einer Hypothese 3.6. Zusammenfassung
entlehnt ist, die der Sozialpsychologe Stanley
Milgram zur Beschreibung der sozialen Ver- • Angenommen wird, dass der besondere
netzung von Menschen vorgeschlagen hat Aufbau des menschlichen Gehirns die
(1967). Er nahm an, dass jeder Mensch auf Grundlage der menschlichen Intelligenz ist.
der Welt mit jedem anderen über eine Kette • Dabei wird der Enzephalisationsquotient
von wenigen Bekanntschaftsbeziehungen ver- (EQ) von vielen Theoretikern angeführt.
bunden ist. Diese Vernetzungsüberlegung Der EQ gibt an, wie stark die Gehirngröße
wurde auch auf andere, insbesondere biologi- einer Art von der erwarteten Gehirngröße
sche Netzwerke wie das Gehirn übertragen abweicht. Zwar gibt es verschiedene Zu-
(Bullmore & Sporns, 2009). Interessant an gänge, den EQ zu parametrisieren, aber
diesem Modell für die Neurowissenschaft ist, prinzipiell kann der EQ als Verhältnis von
dass auf dessen Basis bestimmte Kennwerte tatsächlicher zu erwarteter Gehirngröße
berechnet und genutzt werden können, mit aufgefasst werden.
denen die Eigenschaften der jeweiligen neuro- • Der Mensch verfügt über einen besonders
anatomischen und -physiologischen Netz- großen EQ von 7. Delfine verfügen über

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3.6. Zusammenfassung 73

Abbildung 3-8: Dargestellt ist ein funktionelles Netzwerk, das sich im Verlauf eines 14-tägigen Arbeits-
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gedächtnistrainings verändert. Die Kreise kennzeichnen Knoten (Hubs), wobei große Kreise Hubs dar-
stellen, die viele Verbindungen zu Nachbar-Hubs aufweisen. Dunkle Kreise sind Hubs, die nach dem Trai-
ning eine geringere Verbindung mit Nachbar-Hubs zeigen, helle dagegen repräsentieren Hubs mit
zunehmenden Verbindungen nach dem Training. Grundlage dieses Netzwerkes sind intrazerebrale Strom-
quellen, die anhand von hochauflösenden EEG-Ableitungen berechnet wurden. (Nach Langer et al., 2013)

theta alpha 1

alpha 2 beta

Abbildung 3-9: Dargestellt sind die wichtigsten Hubs, wo Synästheten eine stärkere Vernetzung mit
Nachbar-Hubs aufweisen. Die jeweiligen Netzwerke sind anhand des Ruhe-EEG für verschiedene EEG-
Frequenzbänder geschätzt worden (Jäncke & Langer, 2011).

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74 3.  Nervenzellen, Module, Kabel und Netzwerke

A) B)

Abbildung 3-10: Netzwerke, die anhand des anatomischen Kennwerts kortikale Dicke bestimmt wurden.
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Links oben (A) ist das Netzwerk für absolut hörende Musiker; in (B) ist ein Netzwerk für relativ hörende
Musiker dargestellt. (Nach Jäncke et al., 2012)

einen EQ von 5. Die meisten Affen weisen • Die Packungsdichte der Neurone im Kortex
einen EQ von ca. 2 auf. Bei der Katze ist der des Menschen beträgt ca. 30–80 000 Neu-
EQ gleich 1. rone/mg.
• Die Berechnung des EQ ist immer von der • Die Packungsdichte der Neurone im Klein-
Anzahl und der Zusammensetzung der in hirn des Menschen beträgt ca. 400–600 000
die Berechnung einbezogenen Arten ab- Neurone/mg.
hängig. • Ein Neuron des Menschengehirns verfügt
• In aktuellen Arbeiten wird nicht mehr der im Durchschnitt über 29 000 Synapsen.
EQ als Indikator für die besondere Form • Über die Dendriten können die Neurone
der menschlichen Intelligenz aufgefasst, mit bis zu 200 000 Nervenfasern in Ver-
sondern vielmehr die Anzahl der Neurone, bindung treten.
die im Gehirn lokalisiert sind. • Es wird vermutet, dass jedes Neuron im
• Der Mensch verfügt nach neuesten Schät- Menschengehirn durchschnittlich mit ca.
zungen über ca. 86 Milliarden Nervenzel- 10 000 anderen Neuronen verbunden ist.
len und in etwa genauso viele Gliazellen Damit ist das Gehirn ein ungemein stark
(ca. 85 Millionen). vernetztes System.
• Der größte Teil der Neurone befindet sich • Nager und andere Arten verfügen über
im Kleinhirn (ca. 82 % = 69 Milliarden). Im deutlich geringere Packungsdichten im
Kortex finden sich nur 18 % der Neurone Kortex und Kleinhirn.
(16 Milliarden). • Im Menschengehirn können auch dickere
• Obwohl die meisten Neurone im Kleinhirn Fasern festgestellt werden, was mit schnel-
lokalisiert sind, macht es nur ca. 10 % der leren Übertragungszeiten innerhalb des
Hirnmasse aus. Gehirns einhergeht.
• Das menschliche Gehirn weist eine beson- • Der Neuroanatom und Psychiater ­Korbinian
ders hohe Packungsdichte der Neurone Brodmann hat ein Postmortem-Gehirn­
auf, die in etwa so groß ist wie bei den Pri- zytoarchitektonisch untersucht und das
maten. Deshalb wird vermutet, dass das Gehirn in zytoarchitektonische Felder,
menschliche Gehirn eigentlich ein hoch- die sogenannten Brodmann-Areale, ein-
skaliertes Affengehirn ist. geteilt.

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3.8.  Weiterführende Literatur 75

• Die Brodmann-Areale können als einzelne 3.7. Fragen und Aufgaben


Funktionsmodule aufgefasst werden, denn
ihr spezifischer anatomischer Aufbau spe- • Wie hat sich das Hirnvolumen im Verlauf
zialisiert diese Hirnbereiche für bestimmte der Evolution des Menschen entwickelt?
Funktionen (Beispiel: visueller Kortex oder • Erläutern Sie den Enzephalisationsquo-
primärer Motorkortex). tienten.
• In jüngster Zeit werden die zytoarchitekto- • Was können Sie zu der Anzahl von Neuro-
nischen Areale in verschiedenen Hirnen nen, Gliazellen und den jeweiligen Verbin-
bestimmt, über mehrere Gehirne zusam- dungen im menschlichen Gehirn sagen?
mengefasst und daraus sogenannte Wahr- • Erläutern Sie, was Brodmann-Areale sind.
scheinlichkeitskarten von zytoarchitek- • Welche wichtigen Brodmann-Areale ken-
tonischen Feldern erstellt. Damit können nen Sie?

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die interindividuellen Unterschiede der Diskutieren Sie den Gegensatz zwischen


Größe und Form der zytoarchitektonischen Phrenologie und dem „Netzwerkansatz“
Areale, aber auch die Gebiete identifiziert zum Verständnis des Gehirns.
werden, die mit großer Wahrscheinlichkeit • Was versteht man unter Binding und wie
einem bestimmten zytoarchitektonischen soll es physiologisch realisiert werden?
Areal zuzuordnen sind. • Welche Forschungsansätze zur Unter-
• Neue Forschungsansätze thematisieren suchung der Netzwerkarchitektur des Ge-
den Netzwerkcharakter des Gehirns. hirns kennen Sie?
Dazu werden die statistischen Zusammen-
hänge zwischen den Aktivierungen unter-
schiedlicher Hirngebiete berechnet und als 3.8. Weiterführende Literatur
Grundlage für die Schätzung von Netzwer-
ken genutzt. Azevedo, F. A., Carvalho, L. R ., Grinberg, L. T.,
• In EEG- und MEG-Studien werden v. a. Farfel, J. M., Ferretti, R. E., Leite, R. E., Jacob
Filho, W., Lent, R., Herculano-Houzel, S.
Kohärenzen und Granger-Korrelationen
(2009). Equal numbers of neuronal and non-
berechnet.
neuronal cells make the human brain an iso-
• In jüngster Zeit werden neuroanatomische metrically scaled-up primate brain. J Comp
und neurophysiologische Netzwerke an- Neurol, 513, 532–541.
hand von Kennwerten bestimmt, die den Bullmore, E., Sporns, O. (2009). Complex brain
Small-world-Modellen entlehnt sind. Sol- networks: graph theoretical analysis of struc-
che Netzwerkanalysen sind erfolgreich tural and functional systems. Nat Rev Neu-
im Zusammenhang mit hochauflösenden rosci, 10(3), 186–198.
EEG- und fMRT-Untersuchungen, aber Herculano-Houzel, S. (2009). The human brain
auch mittels anatomischer Kennwerte (z. B. in numbers: a linearly scaled-up primate brain.
mit dem Kennwert kortikale Dicke) be- Frontiers in human neuroscience, 3, 31.
Jerison, H. J. (1991). Brain size and the evolution
stimmt worden.
• Anhand dieser Netzwerkkennwerte sind
of mind. New York: American Museum of Na-
tural History.
Trainingseffekte auf die Netzwerke und
Roth, G, Dicke, U. (2005). Evolution of the brain
expertiseabhängige interindividuelle Un- and intelligence. Trends Cogn Sci, 9, 250–
terschiede identifiziert worden (z. B. Unter- 257.
schiede zwischen Synästheten und Nicht- Zilles, K., Amunts, K. (2010). Centenary of Brod-
synästheten sowie zwischen Musikern und mann’s map-conception and fate. Nat Rev
Nichtmusikern). Neurosci, 11(2), 139–145.

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77

4. Reifung des Gehirns


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4.1.  Allgemeines zur ­Reifung und Entwicklung des ­Gehirns 79

4.1. Allgemeines zur ­ rungen des Gehirns verursachen. Beispiele


hierfür sind die alkoholbedingte mentale Re-
Reifung und Entwicklung
tardierung, aber auch Sauerstoffmangel oder
des ­Gehirns andere Vergiftungserscheinungen, die die Em-
bryonalentwicklung des Gehirns nachhaltig
Die Entwicklung des Nervensystems ist ein beeinflussen können.
kontinuierlicher Prozess, der pränatal beginnt Mit der Reifung und Entwicklung des Ge-
und sich bis ins hohe Erwachsenenalter voll- hirns hängen Veränderungen des Verhaltens
zieht (Abb. 4-1). In der frühen Reifung sind zusammen. Viele Verhaltensveränderungen
kritische Phasen auszumachen, die für die sind durch reifungsbedingte anatomische Ver-
weitere Entwicklung des Gehirns entschei- änderungen erklärbar. Ein typisches Beispiel
dend sind. Im Zusammenhang mit der Erfor- ist der späte Beginn koordinierter feinmotori-
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schung der anatomischen und neurophysiolo- scher Bewegungen, die ein Mindestausmaß an
gischen Grundlagen der Gehirnreifung wird Myelinisierung der Kabelsysteme erfordern.
immer wieder die Frage aufgeworfen, welche Auch die während und vor der Pubertät zu be-
der Reifungsprozesse durch Umwelt oder obachtenden Verhaltensweisen hängen mit
Genetik kontrolliert werden. Grob lässt sich der Reifung, insbesondere des Frontalkortex,
feststellen, dass in den frühen Entwicklungs- zusammen.
phasen genetische Einflüsse am stärksten Aus der Sicht der biologisch orientierten
sind. Mit zunehmendem Alter nimmt der ge- Psychologie und der modernen Plastizitäts-
netische Einfluss immer mehr ab und der Ein- forschung sind psychologische Einflüsse auf
fluss der Umwelt bzw. der Erfahrung wird das Gehirn (Lernen oder psychische Trau-
wichtiger (s. a. Kap. 17). Zu den Umwelterfah- mata) als ebenso stark einzustufen wie bio-
rungen werden auch biologische Einflüsse logische und genetische Faktoren. Insofern
gezählt, die nicht zwingend der Genetik zu- beeinflussen immer, selbst während der Em-
zuordnen sind, z. B. können Veränderungen bryonalentwicklung, Interaktionen zwischen
des biologischen Milieus während der em- Anlage und Umwelt die Gehirnreifung. Rei-
bryonalen Entwicklung massive Reifungsstö- fung ist eine faszinierende biologische „Leis-

Zeitverlauf von Hirnentwicklungsprozessen


Geburt
Zeugung NIMH-Studie
4 8 12 16 20 24 28 32 4 2 5 18 60+

Wochen Monate Jahre

Neurulation Neurogenese max. Wachstum

Synaptogenese Konkurrenz/Elimination

Migration aus der ventrikulären Zone

programmierter Zelltod

Myelinisierung

dendritische und axonale Verzweigung

Abbildung 4-1: Reifungsphasen des Gehirns.

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80 4.  Reifung des Gehirns

tung“, da letztlich aus einem kleinen Zellhau- • Synaptogenese (Bildung von Synapsen)
fen das wahrscheinlich komplexeste biologi- • programmierter Zelltod (Eliminierung zu
sche Organ entsteht. viel gebildeter Neuronen)
• Myelinisierung (Bildung der Myelinschich-
ten um die Axone).
4.2. Embryonalentwicklung

Während der Embryonalentwicklung werden 4.2.1. Von der Neurulation


wichtige Reifungsphasen unterschieden: zum Gehirn
• Neurulation (Bildung des Neuralrohrs)
• Neurogenese (Bildung der Neurone) Das befruchtete Ei entwickelt sich durch wie-
• Migration der Neuronenvorläufer in die derholte Zellteilung von der Morula zum Blas-
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Kortexschicht tozyten. In der 2.–3. Woche differenziert sich


• dendritische und axonale Arborisierung der Blastozyt zu einem größeren Zellkomplex
(Bildung der Dendriten und der Verzwei- aus, der Gastrula, die aus Endoderm, Meso-
gungen an den Axonen) derm und Ektoderm besteht. Das Gehirn und

1. Tag: Fertilisation 2. Tag: Zellteilung 15. Tag:

Embroyonal-
scheibe

21. Tag: 23. Tag:

sich entwickelndes Vorläufer von


Gehirn Auge und Ohr

Neuralrinne
Neuralrohr

Abbildung 4-2: Von der Morula zum Neuralrohr. Tag 1–23 der Embryonalentwicklung. Nach der Befruch-
tung (Tag 1; Zygote) beginnt sich die Zygote zu teilen. Am 15. Tag hat sich bereits die Embryonalplatte
gebildet. Am 21. Tag beginnt sich die Neuralrinne zu bilden, die sich am 23. Tag zum Neuralrohr schließt.
(Nachgezeichnet und modifiziert nach der Abbildung 7-5 aus Kolb & Whishaw, 2001)

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4.2. Embryonalentwicklung 81

das übrige Nervensystem entwickeln sich aus Ab ca. dem 35. Tag vergrößert sich v. a. das
dem Ektoderm, der äußeren Schicht. Etwa am vordere Bläschen. Vom 2. Monat an differen-
20. Tag der Embryogenese beginnt die Diffe- ziert sich das Gehirn zu fünf Bläschen aus
renzierung des Ektoderms, die sogenannte (Fünf-Bläschen-Stadium). In dieser Phase
Neurulation. In dieser Phase entwickelt das entstehen die Anlagen für das Zwischenhirn.
Ektoderm eine Neuralplatte, die sich schließ- Die Hirnstammanlagen differenzieren sich in
lich in der Mitte zur Neuralrinne faltet, die das verlängerte Rückenmark (Myelencepha-
sich im weiteren Entwicklungsverlauf zu ei- lon) und das Hinterhirn (Metencephalon).
nem geschlossenen Rohr, dem Neuralrohr, Diese Phase ist durch eine hohe Zellteilungs-
ausformt (Abb. 4-2 und Abb. 4-3). Aus diesem rate gekennzeichnet (Bildung von bis zu
Neuralrohr entwickeln sich das Gehirn und das 250 000 Zellen/Minute). Nach 100 Tagen ist
Rückenmark. Der vordere (rostrale) Teil des das Vorderhirn bereits sehr groß, weist aber
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Neuralrohrs bildet drei Bläschen (auch Vesikel noch keine Faltung auf. Etwa ab dem 5.–6.
genannt) aus, aus denen letztlich Kortex, Mit- Monat bildet sich die Sylvische Fissur, um die
telhirn und Hirnstamm entstehen (Drei-Bläs- herum (perisylvisch) für die Sprache und an-
chen-Stadium). In diesem Stadium (bereits dere psychische Funktionen wichtige neuro-
ab dem 28. Tag) sind die Anlagen für das Vor- nale Zellgruppierungen liegen. Nach dieser
der-, Mittel- und das Rautenhirn zu erkennen ersten Einfaltung des Kortex nimmt die Fal-
(Abb. 4-4). tung ebenso wie das Volumen des Gehirns zu.

18. Tag: 21. Tag: 22. Tag:


einfache Neuralrinne Neuralrinne schließt
Neuralplatte sich zu Neuralrohr

Neuralplatte Neuralrinne
Neuralrohr Ventrikel

23. Tag: 24. Tag:


vordere Neuralrohr
Neuralfalte
(formt Gehirn)

Entwicklung
Frontalhirn

Entwicklung
Herz

Neuralrohr

Abbildung 4-3: Detaillierte Darstellung der Entwicklung des Nervensystems vom 18. bis zum 24. Tag.
(Nachgezeichnet und modifiziert nach der Abbildung 7-6 aus Kolb & Whishaw, 2001)

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82 4.  Reifung des Gehirns

Hirnstrukturen nach ca. 28 Tagen Hir


nst Kurz vor der Geburt ist das fetale Gehirn in
am
Hinterhirn
m vielen Aspekten dem Erwachsenengehirn
Mittelhirn sehr ähnlich, aber immer noch nicht voll ent-
wickelt. Es wiegt nun ca. 400–450 Gramm
(Abb. 4-5).
Vorder-
hirn

Kopf
4.2.2. Neurogenese

In der Proliferationsphase zwischen der 5. und


18. Woche werden neue Nervenzellen gebil-
det. Die Zellen des Neuralrohrs sind noch
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Körper
undifferenziert und werden als neuronale
Stammzellen bezeichnet. Sie sind teilungs-
fähig und können sich zu Glia- oder Nerven-
zellen entwickeln. Aus diesen neuronalen
Stammzellen entstehen Vorläuferzellen, aus
denen im weiteren Verlauf die spezialisierten
Neuralrohr Neuro- und Glioblasten hervorgehen (Abb. 4-6).
(formt Rückgrat) Aus ihnen entwickeln sich im menschlichen
Abbildung 4-4: Drei-Bläschen-Stadium des Em-
Gehirn bis zu 100 Milliarden Nervenzellen
bryonalgehirns nach 28 Tagen. Man erkennt die (Kap. 2) und eine vielfache Anzahl Gliazellen.
Anlage für das Vorderhirn (Prosencephalon), Mit- Die meisten dieser Zellen werden in der 6.–
telhirn und den Hirnstamm. Der hintere Teil des 8. Woche gebildet, was bedeutet, dass beinahe
Neuralrohrs formt sich zum Rückenmark. alle Zellen, die im späteren Leben Denken und

50. Tag 100. Tag


25. Tag 35. Tag 40. Tag 5. Monat

6. Monat 7. Monat 9. Monat


8. Monat
Vorderhirn Mittelhirn
Hinterhirn Rückenmark

Abbildung 4-5: Entwicklung des menschlichen Gehirns bis zur Geburt. (Nachgezeichnet und modifiziert
nach der Abbildung 7-8 aus Kolb & Whishaw, 2001)

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4.2. Embryonalentwicklung 83

Stammzellen (selbst erneuerbar)

Progenitorzellen (Vorläuferzellen)

Neuro- und
Glioblasten
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Neurone Gliazellen

Interneuron Pyramidenzelle Oligodendroglia Astrozyt

spezialisierte Zellen (differenziert als Neurone oder Gliazellen)

Abbildung 4-6: Entwicklungsverlauf der Nerven- und Gliazellen. Die neuronalen Stammzellen sind
Zellen, die noch teilungsfähig sind und aus denen sich Nervenzellen oder Gliazellen entwickeln können.
Aus den Stammzellen entwickeln sich die Neuroblasten oder Gliablasten. Neurotrophe Faktoren ent-
scheiden, ob sich aus einer Vorläuferzelle Neuro- oder Gliablasten entwickeln. Bei Vorhandensein des
entsprechenden neurotrophen Faktors kann sich jeder Neuroblast zu spezifischen Nervenzellen ent-
wickeln. (Nachgezeichnet nach der Abbildung 7-10 aus Kolb & Whishaw, 2001)

Handeln bestimmen, bereits in den ersten acht toren8, greifen in die Differenzierung der neu-
Wochen entstehen. ronalen Stammzellen sowie der Neuro- und
Einige der Neuroblasten spalten sich ab und Glioblasten ein. Sie bestimmen, ob aus einer
bilden später das autonome Nervensystem.
Aus den Glioblasten entwickeln sich die Glia-
8  Typische neurotrophe Faktoren sind der Nerve
zellen. Wichtige Glioblasten sind die Oligo- growth factor (NGF), der Brain-derived neurotro-
dendroglia und die Astrozyten. Chemische phic factor (BDNF), Neurotrophin-3, -4 und -5
Substanzen, sogenannte neurotrophe Fak- (NT-3 bis -5).

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84 4.  Reifung des Gehirns

Stammzelle eine Nerven- oder Gliazelle, ob Entwicklung zu ihrem Zielort „wandern“ (Mi-
aus einem Neuroblasten ein Interneuron oder gration), wo sich die Nerven- und Gliazellen
eine Pyramidenzelle wird (Abb. 4-6). Sind die differenzieren und anpassen (Differenzierung)
Nervenzellen gebildet, verlieren sie ihre Tei- sowie Axone, Dendriten und Synapsen aus-
lungsfähigkeit. bilden (Synaptogenese).
Die Zellmigration setzt unmittelbar nach
dem Beginn der Neurogenese ein und dauert
4.2.3. Migration ca. 6 Wochen. Sie beginnt an der wie ein pri-
mitiver Kortex organisierten ventrikulären
Das menschliche Gehirn besteht aus bis zu Zone, die der um die Ventrikel liegende Teil
100 Milliarden Nervenzellen (nach neueren des Neuralrohrs ist. Von dort bewegen sich
Schätzungen 86 Milliarden; s. Kap. 3) und ei- die jungen Neurone in die äußeren Schich-
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ner vielfachen Anzahl Gliazellen. Um diese ten (marginale Zone), um sich in den Emp-
große Zellmenge zu produzieren, werden ca. fangsgebieten zu spezialisierten Neuronen
250 000 Nervenzellen pro Minute neu gebil- zu entwickeln. Dabei werden sie von Glia-
det. Diese Neurogenese ist nach 20–24 Wo- zellen unterstützt (Radialglia), an denen sich
chen abgeschlossen, danach werden nur noch diese Neurone quasi „nach oben schlängeln“
wenige Nervenzellen gebildet. Ab diesem Zeit- (Abb. 4-7). Die zurückgelegte Entfernung kann
punkt haben auch Frühgeborene eine Über- bis zu 1000-mal länger als der Durchmesser
lebenschance (etwa ab dem 5. Monat). Neu- des wandernden Neurons sein. Nervenzellen,
gebildete Nervenzellen müssen vom Ort ihrer die sich früh entwickeln, bleiben in den unte-

Gehirnoberfläche

Bewegungs-
primitiver Kortex

richtung
radiale Gliazelle

Neuron bei
Migration

Neuron bei
nicht radialer
Migration

radiale
Neuron bei Migration Gliazelle
Ventrikel
ventrikuläre Zone Zellkern der
radialen Gliazelle

ventrikuläre Zone

Abbildung 4-7: Migration der Neurone in den primitiven Kortex. (Nachgezeichnet und modifiziert nach
der Abbildung 7-12 aus Kolb & Whishaw, 2001)

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4.2. Embryonalentwicklung 85

ren (basalen) Schichten des Gehirns liegen. schichtspezifische Ausdifferenzierung verant-


Die sich später entwickelnden Neurone wan- wortlich und bestimmen somit die wichtigsten
dern in die äußeren Schichten und tragen zur Charakteristika der späteren Funktion.
Entwicklung des Kortex bei. Im weiteren Verlauf beginnen sich die
Neurone zu vernetzen (Abb. 4-8). Axone und
Dendriten werden ausgebildet. Das Axon ent-
4.2.4. Verknüpfung der Neurone steht meistens bereits in der Migrations-
und Dendritisierung phase und das Neuron zieht es ähnlich einem
„Schwanz“ hinter sich her. Dendriten wach-
Nachdem die Vorläuferzellen ihre Zielposi- sen erst, wenn das Neuron seinen Bestim-
tion erreicht haben, beginnen sie sich zu dif- mungsort gefunden hat. Die unterschiedli-
ferenzieren und ihre speziellen Funktionen zu chen Wachstumsgeschwindigkeiten von Axo-
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übernehmen. Diese Differenzierung ist mit nen und Dendriten sind wichtig, denn die
genetischen Prozessen verbunden, wobei be- schneller wachsenden Axone können an ihren
stimmte Gene ab- und andere angeschaltet Zielzellen Kontakte knüpfen, bevor die Neu-
werden. Sie äußert sich in den Transmittern, rone ihre komplette Dendritisierung erreicht
welche die jeweilige Zelle bildet, den Rezep- haben. Die Dendriten entwickeln sich aus
tortypen und in der Art, wie Aktionspotenziale dem Zellkörper und verzweigen sich zuneh-
generiert werden. Ist ein Neuron einmal zu mend. Diese Verzweigung wird immer kom-
seinem Bestimmungsort gewandert, folgen plexer und nimmt die Gestalt von „Bäumen“
oft andere Zellen, wodurch strukturelle und an. Man spricht deshalb auch von einer Arbo-
vermutlich auch funktionelle Einheiten gebil- risierung der Dendriten.
det werden. Die Mechanismen, die der dazu Unter mechanischer und chemischer Füh-
notwendigen Zellerkennung zugrunde liegen, rung beginnt dann die Vernetzung der Neu-
sind noch nicht vollständig bekannt. Ein sol- rone. Eine besondere Rolle spielen hierbei
cher Vorgang erfordert jedoch, dass die jewei- die sogenannten Wachstumskegel, d. h. die
ligen Zellen ihre gegenseitige Zugehörigkeit Spitze der sich entwickelnden Axone und
erkennen bzw. unterscheiden können. Spezi- Dendriten. Die Axonspitze ist mit Filopodien
elle Moleküle scheinen für solche Erkennungs- (Füßchen) zur Exploration der unmittelbaren
aufgaben spezialisiert zu sein. Eines dieser Umgebung ausgestattet (Abb. 4-9). Derzeit ist
Moleküle ist das „Neural-cell-adhesion-Mole- nicht geklärt, wie der Wachstumskegel seine
kül“ (NCA-Molekül), das etwa wie ein Magnet unmittelbare Umgebung erkennt und wodurch
wirkt, der Zellen aneinander bindet. Ein ande- er weiß, in welche Richtung er sein Wachstum
rer biochemischer Nervenwachstumsfaktor ist lenken soll.
der Nerve growth factor (NGF). Bislang sind einige chemische Substanzen
Während der Wanderung der Neurone bil- entdeckt worden, die diese Wachstumsorien-
det sich auch die typische Schichtung des tierung modulieren und unterstützen können;
Kortex aus. Zellen in den unteren Kortex- es handelt sich dabei v. a. um Neurotropine.
schichten werden zu anderen Neuronen aus- Unterschieden werden annäherungsinduzie-
gebildet als Zellen, die in den oberen Schich- rende und annäherungshemmende Substan-
ten angelangt sind. Man spricht in diesem zen oder Moleküle.9 Aus der Kombination
Zusammenhang auch vom Inside-out-Gra-
dienten. Chemische Erkennungsmechanis- 9 Insgesamt sind dies neurotrope Faktoren. Sie
men und zeitlich-räumliche Faktoren (z. B. dienen zur „Wegfindung“ und „locken“ Axone an die
Geburtstag und -ort einer Zelle) sind für diese richtigen Orte. Neurotrope Faktoren (z. B. Neurotro-

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86 4.  Reifung des Gehirns
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0 1 3 6 15 24
Alter in Monaten

Abbildung 4-8: Differenzierung der Dendriten im Verlauf der postnatalen Entwicklung. Mit zunehmen-
dem Alter nimmt die Dendritisierung immer mehr zu. Diese Beispiele sind aus Gewebeproben des Broca-
Areals gewonnen. (Nachgezeichnet nach Lenneberg, 1967)

0.1 Sexualhormone, die bei der Verknüpfung von


Gehirnstrukturen eine wesentliche Rolle spie-
Größe (mm)

len könnten. Das Hormon Testosteron z. B.


beeinflusst die Wachstumsrate von Axonen
0
und Dendriten insbesondere bei den „ge-
0 9 14 23 31 38
Zeit (min) schlechtsspezifischen“ Neuronen10 und kann
die Länge des Axons und die Größe des Den-
Abbildung 4-9: Sich entwickelnde Filopodien ei-
dritenbaums bestimmen. Des Weiteren sind
nes Neurons. (Nachgezeichnet nach der Abbil-
Sexualhormone beteiligt, wenn bestimmte
dung 7-15 aus Kolb & Whishaw, 2001)
synaptische Verbindungen eingegangen wer-
den, und können die Wachstumsrichtung der
auf sie empfindlich reagierenden Neurone
dieser Substanzen kann so etwas wie ein che- ändern. Testosteron kann ferner den Zelltod
mischer „Pfad“ entstehen, der die Wachs- bestimmter Neurone verhindern, indem es
tumsrichtung durch Hemmung oder Anzie- ihnen quasi Wettbewerbsvorteile um synapti-
hung determiniert. Diskutiert werden auch sche Kontakte verschafft.

pine) müssen von neurotrophen Faktoren unter-


schieden werden. Dies sind Faktoren, die das 10  Spezielle Neurone, die besonders stark auf Ge-
Wachstum der Neurone beeinflussen. schlechtshormone ansprechen.

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4.2. Embryonalentwicklung 87

4.2.5. Synaptogenese und ­ werden mehr Synapsen und Neurone gebildet,


programmierter Zelltod als gebraucht werden.
Dieses Zellsterben und die Abnahme der
Nachdem die Axone ihre Zielpositionen (Mus- Synapsen beginnt bereits in der embryonalen
keln, andere Neurone oder Drüsen) erreicht Phase (ca. am 20. Tag), erreicht jedoch post-
haben, bilden sie Synapsen aus. Dieser Prozess natal seinen Höhepunkt. Die Ursachen für
wird als Synaptogenese bezeichnet. Er be- diese Prozesse sind noch nicht vollständig be-
ginnt ca. am 20. Tag und dauert im Grunde bis kannt, ein wichtiger Faktor ist jedoch sehr
zum Lebensende. Die Anzahl der Synapsen im wahrscheinlich der „Gebrauch“ oder „Nicht-
menschlichen Kortex wird auf ca. 1014 ge- gebrauch“ der Synapsen. Bereits Donald O.
schätzt. Diese große Zahl kann nicht aus- Hebb hatte darauf hingewiesen, dass Synap-
schließlich genetisch determiniert werden, sie sen ihre Verbindungen verstärken, wenn sie
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entsteht vielmehr aus der Interaktion zwischen häufig genutzt werden (fire together wire to-
Anlage- und Umwelteinflüssen. Einfache sy- gether; s. a. Kap. 13). Werden Synapsen selten
naptische Kontakte existieren beim Menschen genutzt, verstärken sie ihre Verbindungen
bereits im 5. Schwangerschaftsmonat und ver- nicht und sterben schließlich. Dass auch Neu-
mehren sich bis zur Geburt erheblich. Nach rone absterben, könnte darin begründet sein,
der Geburt nimmt die Anzahl der Synapsen dass Neurone, die Synapsen bilden, auch von
drastisch und schnell bis zum 1. Lebensjahr ihren Kontakten zu anderen Neuronen abhän-
zu. Diese Phase der Überproduktion wird gig werden. Sterben die Verbindungen zu den
Blooming genannt. Darauf folgt die Phase der anderen Neuronen ab, ist es möglich, dass die
selektiven Elimination der überschüssigen Neurone, ihrer Verbindung beraubt, ebenfalls
Synapsen, ein Vorgang, der als Pruning be- absterben. Möglich ist auch, dass viele Neu-
zeichnet wird (Abb. 4-10). Diese Abnahme von rone um eine begrenzte Anzahl von neurotro-
synaptischen Verbindungen geht mit dem phen Faktoren konkurrieren: Die wenigen
Zelltod von Nervenzellen einher. Offenbar Neurone, denen es gelingt, neurotrophe Fak-
toren an sich zu binden, überleben. Der Zell-
tod von Neuronen aufgrund des Mangels an
pränatal 1. Lebensjahr Folgejahre neurotrophen Faktoren muss vom Zelltod un-
24
terschieden werden, der durch Krankheiten
20 oder Verletzungen ausgelöst wird. Möglich ist,
Anzahl der Synapsen (x 1011)

dass der Mangel an neurotrophen Faktoren be-


16 stimmte Gene abschaltet, sodass die Nerven-
zelle letztlich stirbt. Dieser Zelltod wird auch
12
Apoptose genannt.
8

4 4.2.6. Myelinisierung
0
2 4 6 81012 2 5 10 20 30 50 70 Parallel zur Differenzierung der Nervenzellen
Geburt Monate Jahre
beginnt die Differenzierung der Gliazellen.
Abbildung 4-10: Anzahl der Synapsen im visuel- Eine wichtige Gruppe sind die Oligodendro-
len Kortex des Menschen über einen weiten Al- gliazellen, die zur Myelinisierung der Nerven-
tersbereich. (Nachgezeichnet nach der Abbildung fasern beitragen. Sie bilden die Fettummante-
7-16 aus Kolb & Whishaw, 2001) lung der Nervenfasern, die dazu führt, dass die

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88 4.  Reifung des Gehirns

elektrische Signalleitung schneller wird (salta- geburtlich, bleibt aber ein Leben lang aktiv.
torische Erregungsleitung). Die Myelinisie- Die Synaptogenese verläuft in verschiedenen
rung beginnt ca. am 12. Tag und erstreckt sich Hirngebieten unterschiedlich schnell und be-
bis in das hohe Erwachsenenalter. ginnt zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Im
sensomotorischen Kortex beginnt sie sehr früh
und erreicht bis kurz vor der Geburt ihr Maxi-
4.2.7. Zusammenfassung der wich- mum. Das Pruning dauert im sensomotori-
tigsten Entwicklungsschritte schen Kortex bis etwa zum 4. Lebensjahr. Im
in der Embryonalphase Parietallappen erreicht die Synaptogenese ihr
Maximum ca. im 8.  Schwangerschaftsmonat
In Abbildung 4-11 sind die wichtigsten Ent- und das Pruning dauert bis zum 8. Lebensjahr
wicklungsabläufe zusammengefasst. In der an. Im Präfrontalkortex wird das Maximum
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Embryonalphase findet die Neurulation mit der Synaptogenese ca. im 4. Lebensjahr er-
der Entwicklung des Neuralrohrs statt. Daran reicht; das Pruning zieht sich bis zum 16. Le-
schließen sich die Proliferation und die Mi- bensjahr hin (Abb. 4-11; Casey et al., 2005).
gration der Neurone an. Die folgende Synap- Die Myelinisierung beginnt ebenfalls bereits in
togenese (mit Blooming und Pruning) und der Embryonalphase, erstreckt sich aber bis in
Dendritisierung beginnt teilweise schon vor- das späte Erwachsenenalter.

Entwicklung des menschlichen Gehirns


erfahrungsabhängige Synapsenbildung
und dentristische Verzweigung
Pr
pa äf
te rie ro
m t nt
As p ale al
so ora r u ko
zia le n rte
tio r d x
se nsk Synaptogenese
ns or
om te und Pruning
ot x
or
isc
Zellproliferation

he
und Migration

rK
or
Neurulation

te
x
Zeugung

Myelinisierung

0 –8 –6 –4 –2 2 4 6 8 10 12 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20
Geburt
Monate Jahre

Abbildung 4-11: Zeitlicher Ablauf der wesentlichen reifungsbedingten Veränderungen des mensch-
lichen Gehirns. In der embryonalen Phase erfolgen die Neurulation, die Zellproliferation und die Mi-
gration. Vor der Geburt beginnen auch die Synaptogenese und die Myelinisierung. Der Verlauf der Sy-
naptogenese ist für verschiedene Gebiete unterschiedlich. Dargestellt sind die Verläufe für den
sensomotorischen Kortex, für den parietalen Assoziations- und den Präfrontalkortex, der sehr spät den
Höhepunkt der Synaptogenese erreicht. Alle Hirngebiete weisen allerdings nach dem Höhepunkt der
Synaptogenese deutliche Reduktionen der Synapsendichte auf (Pruning; nachgezeichent nach Casey
et al., 2005).

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4.3.  Gehirnentwicklung in den ersten Lebensjahren bis zur Adoleszenz 89

4.3. Gehirnentwicklung in lyse der grauen und weißen Substanz. Zu Be-


ginn der kindlichen Hirnentwicklung müssen
den ersten Lebensjahren
sich zunächst Axone ausbilden und myeli-
bis zur Adoleszenz nisieren. Auf magnetresonanztomografischen
Bildern von Kindern im Alter von 1 bis ca. 9
Nach der Geburt wiegt das Gehirn ca. 400– Monaten sind kaum myelinisierte Faserbah-
450 g und nimmt in den folgenden Jahren nen zu sehen. Die großen Faserbahnen (Kom-
rasch an Gewicht zu. Im 2. Lebensjahr beträgt missuren und Assoziationsbahnen) sind erst
das Gehirngewicht bereits 80 % des Gewichts ab dem 7. Monat zu erkennen (Abb. 4-13). Die
eines Erwachsenengehirns. Im Alter von nach der Geburt noch nicht ausreichende
5 Jahren hat es 90 % des Gewichts eines Er- Myelinisierung ist z. B. dafür verantwortlich,
wachsenengehirns erreicht (Abb. 4-12). Die dass Kinder in diesem Alter nur schwerlich in
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hier referierten Daten entstammen älteren der Lage sind, koordinierte Bewegungen
Arbeiten, in denen ausschließlich Gehirne durchzuführen. Je besser die Myelinisierung,
Verstorbener analysiert wurden. Bei der Ana- desto besser sind auch die sensomotorischen
lyse von Post-mortem-Daten muss berück- Leistungen.
sichtigt werden, dass es sich meist um Gehirne In einer Studie wurden 13 gesunde Ver-
von erkrankten Personen handelt, sodass suchspersonen vom 5. bis zum 20. Lebensjahr
nicht auszuschließen ist, dass diese Gehirn- untersucht. Das Gehirn jeder Versuchsperson
größenschätzungen nicht den typischen und wurde alle zwei Jahre mittels Magnetresonanz-
gesunden Wachstumsverlauf des Gehirns tomografie vermessen (Gogtay et al., 2004).
wiedergeben. Nach stereotaktischer Normalisierung der Ge-
Moderne Untersuchungen nutzen die Mag- hirne haben die Autoren den Reifungsverlauf
netresonanztomografie (MRT) und messen
die Gehirngrößen von gesunden Kindern und
Jugendlichen im Längsschnitt oder kom- 1. Monat
biniert im Längs- und Querschnitt. Mittels der
MRT ist es auch möglich, detailliertere Ana-
lysen durchzuführen, z. B. die getrennte Ana-

7. Monat

1400
1200
Gehirngewicht (in g)

1000
800
>9. Monat
600
400 Männer
Frauen
200

0 1 3 5 10 20 30 40 50 60 70 80 90
Jahre

Abbildung 4-12: Entwicklung der Gehirngröße


von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter. Die Ge-
hirngrößen wurden anhand der Gehirne von Ver- Abbildung 4-13: Zunehmende Myelinisierung bei
storbenen geschätzt. Kindern im Alter von 1 bis ca. 9 Monaten.

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90 4.  Reifung des Gehirns

der Dichte der grauen und weißen Substanz und für fast die gesamte perisylvische Hirn-
analysiert und grafisch dargestellt (Abb. 4-14). region keine nennenswerte Reduktion des re-
In der Abbildung 4-14 ist zu erkennen, dass lativen Volumens der grauen Substanz aus-
mit zunehmendem Alter das Gehirn immer zumachen ist. Auch im 18. Lebensjahr (viertes
dunkler wird. Je dunkler die Grautönung, Gehirnbild in der Zeitreihe) sind diese Hirn-
desto geringer ist der Anteil der grauen Sub- gebiete noch nicht gänzlich ausgereift. Obwohl
stanz. Damit einhergehend nimmt das relative die Reifung des lateralen Frontalkortex bereits
Volumen der weißen Substanz zu. Die einzel- recht weit vorangeschritten ist, sind immer
nen Hirngebiete reifen jedoch unterschiedlich noch Teilgebiete zu erkennen, die nicht den
schnell. Der Motorkortex, Teile des Parietal- adulten Zustand erreicht haben. Selbst im
lappens, der primäre visuelle Kortex und der 20. Lebensjahr (fünftes Gehirnbild in der Zeit-
Frontalpol weisen schon recht früh einen Ver- reihe) sind Teilbereiche der perisylvischen
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lust des relativen Volumens der grauen Sub- Hirnregion noch nicht vollständig ausgereift.
stanz auf. Bei anderen Hirngebieten dagegen Die spät reifenden Hirngebiete (die perisylvi-
stellt sich der relative Verlust der grauen Sub- sche Hirnregion und der laterale Frontalkor-
stanz erst später ein, typischerweise im latera- tex) sind in die Kontrolle komplexer psy-
len Frontalkortex und in den perisylvischen chischer Funktionen eingebunden, die auch
Hirngebieten. Betrachtet man den in Abbil- sehr viel Übung erfordern.
dung 4-14 dargestellten zeitlichen Ablauf ge- Der weitere Verlauf der Hirnentwicklung
nauer, erkennt man auch, dass noch im 15. Le- konnte durch Längsschnitt- und kombinierte
bensjahr (drittes Gehirnbild in der Zeitreihe) Längs- und Querschnittuntersuchungen he-
für fast den gesamten lateralen Frontalkortex rausgearbeitet werden (NIH-Studie: Giedd et

Volumen der grauen Masse: > 0.5 0.4 0.3 0.2–0.1

5. Lebensjahr Lebensalter 20. Lebensjahr

Abbildung 4-14: Reifungsverlauf der grauen Substanz vom 5. bis zum 20. Lebensjahr. Je dunkler die
Hirngebiete markiert sind, desto geringer ist das relative Volumen der grauen Substanz. Alle Gehirne sind
stereotaktisch normalisiert (also künstlich in einen Standardraum transponiert worden). Das bedeutet,
dass mit größer werdendem Gehirn der Anteil der grauen Substanz abnimmt. Das Volumen der weißen
Substanz nimmt dagegen zu. Es ist zu beachten, dass die Hirngebiete nicht gleichsinnig reifen, sondern
einige früher und andere später. Auffällig ist, dass die perisylvische Hirnregion und Teile des lateralen
Frontalkortex sehr spät reifen. Das Volumen der grauen Substanz ist in arbiträren Werten angegeben.
(Nachgezeichnet nach Gogtay et al., 2004)

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4.3.  Gehirnentwicklung in den ersten Lebensjahren bis zur Adoleszenz 91

250 al., 1999). Das Wachstum der grauen Substanz


240
verläuft im Frontal-, Parietal- und Temporal-
230
220
kortex umgekehrt u-förmig. Besonders mar-
kant ist dieser Reifungsverlauf im Frontalkor-
Volumen in cm3

210
200 tex, wo das Volumen der grauen Substanz bei
190
Jungen bis zum Alter von 12,5 und bei Mäd-
180
170 chen bis zum Alter von 11,5 Jahren deutlich
160
Frontalkortex graue Masse zunimmt, um dann wieder abzunehmen. Die
150 Abnahme der grauen Substanz nach diesen
4 6 8 10 12 14 16 18 20 22
Alter in Jahren
„Wendepunkten“ ist wahrscheinlich auf eine
140 Reduktion der synaptischen Verbindungen
zurückzuführen, möglicherweise bauen sich
130
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nicht benötigte Verbindungen ab (in Umkeh-


120 rung der Hebb-Regel „fire together wire to-
Volumen in cm3

110 gether =  don’t fire together don’t wire to-


gether“). Ähnliche Reifungsverläufe finden
100
sich auch im Parietal- und Temporalkortex. Im
90 Parietalkortex graue Masse Parietalkortex setzt die Abnahme des Volu-
80 mens der grauen Substanz etwas früher als im
4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 Frontalkortex ein  – im Temporalkortex da-
Alter in Jahren
gegen etwas später. Das Volumen der weißen
220
Substanz dagegen nimmt bis zum 22. Lebens-
200
jahr kontinuierlich zu.
180 Traditionell wird in der Biologie Reifung als
Volumen in cm3

160
ein Vorgang aufgefasst, bei dem ein Organ
oder auch eine (angeborene) Verhaltensweise
140 sich praktisch ohne Übung vervollkommnet.
120 Temporalkortex graue Masse Diese Annahme ist in den modernen Neuro-
100
wissenschaften jedoch nicht mehr haltbar.
4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 Vielmehr muss davon ausgegangen werden,
Alter in Jahren dass Reifung im klassischen Sinn mit den
450
durch Erfahrung induzierten Veränderungen
(Hirnplastizität) interagiert. Dies ist anhand
400
der oben erläuterten Befunde gut erklärbar:
Volumen in cm3

Einer der Mechanismen, der für den Reifungs-


350 prozess der grauen Substanz im lateralen Fron-

300
weiße Masse

230 Abbildung 4-15: Reifungsverlauf des Volumens


4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 der grauen und weißen Substanz vom 4. bis zum
Alter in Jahren 22. Lebensjahr. Der Reifungsverlauf des Volu-
Männer mens der grauen Substanz ist hier getrennt für
Wendepunkt
Frauen den Frontal-, den Parietal- und den Temporalkor-
95-Prozent-Konfidenzintervall Männer tex dargestellt. (Nachgezeichnet nach Giedd et
95-Prozent-Konfidenzintervall Frauen al., 1999)

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92 4.  Reifung des Gehirns

talkortex und im perisylvischen Hirngebiet den, dass die Dendritisierung der Neurone von
verantwortlich ist, ist der „Gebrauch“ bzw. der Komplexität der Umwelterfahrung ab-
„Nichtgebrauch“ bestimmter Synapsen. Wahr- hängt. Werden Mäuse in „anregenden“ Käfi-
scheinlich baut das Gehirn mehr graue Sub- gen aufgezogen, in denen viele Betätigungs-
stanz auf, als letztlich benötigt wird. Die nicht möglichkeiten für die Tiere vorliegen, verfügen
benötigten synaptischen Verbindungen wer- ihre Neurone über eine reichhaltigere Dendri-
den nicht durch einen aktiven „Beschneidungs- tisierung als die von Mäusen, die in „kargen“
prozess“ durchtrennt, sondern es muss viel- Käfigen aufwachsen (Abb. 4-16).
mehr davon ausgegangen werden, dass sie sich Angesichts dieser Befunde liegt es nahe,
mit der Zeit abbauen. Andererseits ist bekannt, dass die reifungsbedingten anatomischen Ver-
dass mit zunehmender Beanspruchung eines änderungen im lateralen Frontalkortex und in
neuronalen Netzes die Anzahl und die Stärke den perisylvischen Hirnregionen (jene Hirn-
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der synaptischen Kontakte zunehmen. In Tier- regionen, die sehr spät reifen) nicht allein
versuchen konnte darüber hinaus gezeigt wer- durch einen genetisch determinierten Prozess
kontrolliert werden. Es ist vielmehr davon aus-
zugehen, dass auch erfahrungsbedingte und
andere Einflüsse die Reifung dieser Hirn-
gebiete unterstützen  – eben der „Gebrauch“
und „Nichtgebrauch“ von synaptischen Ver-
bindungen.

4.4. Gehirnentwicklung
in der Adoleszenz

In neueren Arbeiten werden die Gehirne von


neurologisch und psychiatrisch gesunden Per-
sonen magnetresonanztomografisch im Quer-
schnitt untersucht. In einer dieser Arbeiten
wurden die Gehirne von 547 Personen im Al-
Laborhaltung angereicherte Umgebung
ter von 19 bis 86 Jahren analysiert (Ziegler et
Abbildung 4-16: Schematische Darstellung von al., 2011). Die Autoren haben für jeden Voxel
zwei Neuronen, welche Tieren entstammen, die die altersabhängige Veränderung (genauer die
entweder in einer „kargen“ Laborumgebung oder Verringerung) des Volumens der grauen Sub-
in einer Umgebung mit vielen Erfahrungsmöglich- stanz berechnet. Für viele Hirngebiete kann
keiten aufgezogen worden sind. Die sogenannte eine mit dem Alter zunehmend lineare Ab-
„karge“ Laborhaltung entspricht der typischen nahme des Volumens der grauen Substanz
Laborhaltung von Mäusen in Forschungsinstitu-
festgestellt werden. Dieser „lineare Alters-
ten. Jene Labortiere, die in Käfigen gehalten wur-
effekt“ ist v. a. in kortikalen Hirnstrukturen
den, die ihnen viele Möglichkeiten zum „Spielen“
auffällig (Abb. 4-17)  – und hier insbesondere
oder Interagieren mit verschiedenen Objekten
boten (z. B. mit Spielzeug, Leitern, Kletterseilen
im Frontalkortex und im Parietallappen. Ins-
und vielem mehr), zeichneten sich durch vielfälti- besondere frontomediale und insuläre Regio-
ger verzweigte Dendriten ihrer Neurone aus. nen, der inferiore Frontalkortex und der infe-
(Nachgezeichnet nach der Abbildung 7-22 aus riore Parietallappen zeigen die stärksten
Kolb & Whishaw, 2001) „linearen Alterseffekte“. Schwächer oder nicht

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4.4.  Gehirnentwicklung in der Adoleszenz 93

5 t-Wert 20

Abbildung 4-17: Lineare Alterseffekte für das Volumen der grauen Substanz (lineare Abnahme des
Volumens der grauen Substanz). Die unterschiedlichen Graustufen indizieren unterschiedlich hohe
Korrelationen. Je dunkler die Graustufe, desto größer ist der negative lineare Alterseffekt (nach Ziegler
et al., 2011).
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vorhanden sind sie in weiten Teilen des Tem- gestellt sind. Zu erkennen ist, dass der Hippo-
poral- und Okzipitallappens. Zusätzlich zu campus-Amygdala-Komplex etwa bis zum
diesen Effekten haben die Autoren nicht- 50. Lebensjahr keine Volumenänderung auf-
lineare Volumenabnahmen identifiziert, die in weist und danach erhebliche Volumenabnah-
Abbildung 4-18 für einige Hirngebiete dar- men erfährt. Eine ähnliche nichtlineare Volu-
menabnahme zeigen das Kleinhirn und das
Striatum. Der gesamte Neokortex weist da-
gegen nur eine schwache nichtlineare Volu-
100
GMV in % (relativ zum 20. Lebensjahr)

menabnahme auf.
In Tabelle 4-1 sind die nichtlinearen Volu-
90
menabnahmen für verschiedene Hirngebiete
dargestellt. Das maximale Volumen der grauen
80 Hippocampus-Amygdala-
Komplex (1846 Voxel)
Substanz wird in den verschiedenen Hirn-
Cerebellum (4112 Voxel) gebieten zwischen dem 23. (parietales Oper-
70 Striatum (358 Voxel) culum) und dem 41. Lebensjahr (Hippocam-
Neokortex (32 427 Voxel)
Neokortex (Mittelwert) pus-Amygdala-Komplex) erreicht. Im Klein-
60 Dorsaler Strang – Area 7 hirn werden die maximalen Volumina kurz
Ventraler Strang – Gyrus fusiformis
nach dem 30. Lebensjahr erreicht. Interessant
20 30 40 50 60 70 80 ist v. a. der Altersbereich, in dem die maxi-
Alter
male Volumenänderung (genauer: die maxi-
Abbildung 4-18: Prozentuale Verringerung des male Volumenabnahme) erfolgt; dieser Be-
Volumens der grauen Substanz über das Alter für reich liegt für alle Hirngebiete zwischen dem
verschiedene Hirngebiete. Die Volumina sind 50. und 59. Lebensjahr.
auf das mittlere Volumen im Alter von 20 Jahren Die Autoren haben den Hippocampus-
(= 100 %) bezogen. Die Schattierung zwischen den
Amygdala-Komplex detaillierter untersucht,
Kurven für den dorsalen Strang mit BA 7 (aus-
da dieser Hirnbereich besonders wichtig für
schließlich linearer Verlauf) und dem ventralen
explizite Gedächtnisfunktionen ist. Hierzu
Strang mit dem Gyrus fusiformis soll die Spann-
weite der Entwicklungsverläufe der neokortikalen
haben sie den Hippocampus-Amygdala-Kom-
Regionen darstellen. Eingezeichnet ist auch der plex in wichtige Teilkomponenten aufgeteilt:
mittlere nichtlineare Verlauf aller neokortikalen Cornu ammonis (CA), entorhinaler Kortex
Hirnstrukturen. GMV: Volumen der grauen Sub- (EC), Gyrus dentatus (GD), Subiculum (SUB)
stanz. (Nachgezeichnet nach Ziegler et al., 2011) und Amygdala (AMG). Für alle Teilgebiete bis

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94 4.  Reifung des Gehirns

Tabelle 4-1: Hirngebiete mit nichtlinearer Abnahme des Volumens der grauen Substanz über das Alter.
Dargestellt ist die durch Nichtlinearität zusätzlich zum „linearen Alters­effekt“ erklärte Varianz (3. Spalte).
In den beiden letzten Spalten findet sich noch das ­Lebensalter, in dem das maximale ­Volumen der
grauen Substanz gemessen werden konnte, und das Lebensalter, in dem die maximale Volumenabnahme
der grauen Substanz auftritt (nach Ziegler et al., 2011).

Hirnregion Hemi- erklärte Varianz Alter, in dem Alter, in dem


sphäre durch nicht­ das maximale ­ die maximale ­
linearen Trend Volumen der Volumenänderung
grauen Substanz ­ der grauen Substanz
erreicht wird erreicht wird
Hippocampus/ links 14 41,3 59
Amygdala
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Hippocampus/ rechts 11 40,2 59


Amygdala
Striatum rechts  6 32,5 56
parietales rechts  5 26,6 55
Operculum
parietales links  4 23,1 50
Operculum
Orbitofrontal­kortex links  7 34,5 59
Nucleus caudatus links  4 30,5 55
Putamen links  5 30,2 52
Kleinhirn- rechts  7 30,8 54
Lobulus V/VI
Kleinhirn- rechts  7 33,2 57
Lobulus VII
Kleinhirn- links  6 31,8 55
Lobulus VI/VII
Kleinhirn- links  5 33,3 54
Lobulus VII
Kleinhirn- rechts  5 33,4 57
Lobulus VIII

auf das Subiculum wurden nichtlineare Volu- dächtniseinschränkungen wesentlich ursäch-


menabnahmen gefunden (Abb. 4-19). Im Ver- lich sein könnte.
gleich zum 20. Lebensjahr weisen 80-Jährige Auch bei diesen Arbeiten muss man beach-
einen Volumenverlust der grauen Substanz ten, dass die aktuelle kognitive und motorische
auf, der zwischen 9,7 und 22,5 % variiert. Be- Leistungsfähigkeit bei den untersuchten Per-
denkt man, welche Bedeutung diese Hirn- sonen nicht berücksichtigt wurde. Manchen
gebiete für das explizite Gedächtnis haben, Menschen mag es aufgrund intensiven kogniti-
liegt die Vermutung nahe, dass diese Volumen- ven und motorischen Trainings gelingen, noch
abnahme für die im Alter auftretenden Ge- bis ins hohe Alter einer Degeneration bestimm-

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4.5.  Entwicklung des Gehirns und neurophysiologische Aktivität 95

105 man an der Schädeloberfläche elektrische


Potentialschwankungen, die auf intrakorti-
GMV in % (relativ zum 20. Lebensjahr)

100 kale Erregungen des Gehirns zurückzuführen


sind. Diese Potentialschwankungen werden
95 sehr häufig frequenzbezogenen Analysen un-
terzogen. Damit kann man verschiedene Fre-
90 quenzbänder unterscheiden (siehe hierzu
auch Abbildung 5-13 auf Seite 125). Wich-
FD
85 EC tige Frequenzbänder sind: (1) das Delta-Band
AMG (0.5–4  Hz), (2) das Theta-Band (4–8 Hz), (3)
CA
80 das Alpha-Band (8–13 Hz) und (4) das Beta-
SUB
75
Band (13–30 Hz). Weitere Frequenzbänder
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20 30 40 50 60 70 80 werden wir in Kapitel 5 noch näher kennenler-


Alter
nen. Jedes dieser Frequenzbänder ist mit be-
Abbildung 4-19: Prozentuale Verringerung des stimmten psychologischen Prozessen und Be-
Volumens der grauen Substanz über das Alter für wusstseinszuständen assoziiert. Im Zuge der
den Hippocampus-Amygdala-Komplex. Die Volu- Reifung des Gehirns verändert sich das EEG
mina sind auf das mittlere Volumen im Alter von in charakteristischer Art und Weise. Um den
20 Jahren (= 100 %) bezogen. CA: Cornu ammonis Entwicklungsverlauf des EEGs zu analysieren,
des Hippocampus, GD: Gyrus dentatus des Hippo- berechnet man zum Beispiel die Power (also
campus, SUB: Subiculum, EC: entorhinaler Kortex, die Energie) in den verschiedenen Frequenz-
AMG: Amygdala, FD: Fascica dentata. (Nach-
bändern bei Menschen unterschiedlichen Al-
gezeichnet nach Ziegler et al., 2011)
ters. Dies macht man insbesondere im Ruhe-
zustand des Gehirns, wenn der Proband keine
spezifische Aufgabe zu absolvieren hat, son-
ter Hirngebiete vorzubeugen. Berücksichtigen dern seinen Gedanken freien Lauf lassen
muss man auch, dass es sich um eine Quer- kann. In diesen Ruhezuständen (Englisch: Res-
schnittstudie handelt und die älteren Gehirne ting state) wird enorm viel Energie umgesetzt
von Personen stammen, die über ein leicht ge- und die in diesen Zuständen gemessenen
ringeres Bildungsniveau verfügen. EEG-Charakteristika werden oft zur Beurtei-
lung von pathologischen Prozessen heran-
gezogen. Die Veränderung des Ruhe-EEGs hat
4.5. Entwicklung des Gehirns zum Beispiel eine russische Arbeitsgruppe um
und neurophysiologische Juri Kropotov (Tereshchenko et al., 2010) an-
Aktivität hand von 885 gesunden Personen im Alter von
7–89 Jahren untersucht. Sie haben die Power-
Mit der neuroanatomischen Entwicklung des werte für die vier wichtigsten Frequenzbän-
Gehirns ändert sich auch die neurophysiolo- der berechnet und diese Powerwerte nach ei-
gische Aktivität. Die neurophysiologische Ak- ner weiteren mathematischen Operation be-
tivität des menschlichen Gehirns kann man stimmten Elektrodenpositionen auf der Schä-
recht gut mittels der Elektroenzephalogra- deloberfläche zugewiesen. Letztendlich haben
phie (EEG) und/oder der Magnetenzephalo- sie damit berechnen können, wie sich die
graphie (MEG) nicht-invasiv untersuchen. Powerwerte zum Beispiel frontal oder parietal
Beide Verfahren werden im Kapitel 5 noch über die Lebensspanne entwickeln. In Abbil-
ausführlicher dargestellt. Mit dem EEG misst dung 4-20 sind diese Reifungsverläufe für pa-

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96

A)

B)

frontal
parietal

0,5
1,0
1,5
2,0
2,5
3,0
0,2
0,4
0,6
0,8
1,0
1
2
3
4
5
6
2
4
6
8

7–9 7–9 7–9 7–9


10 – 11 10 – 11 10 – 11 10 – 11
12 – 13 12 – 13 12 – 13 12 – 13
14 – 15 14 – 15 14 – 15 14 – 15
16 – 17 16 – 17 16 – 17 16 – 17
4.  Reifung des Gehirns

18 – 19 18 – 19 18 – 19 18 – 19
20 – 21 20 – 21 20 – 21 20 – 21
22 – 23 22 – 23 22 – 23 22 – 23

im Alpha- und Beta-Band zu.


24 – 25 24 – 25 24 – 25 24 – 25
26 – 30 26 – 30 26 – 30 26 – 30
31 – 35 31 – 35 31 – 35 31 – 35
Delta

Delta

Alpha
Alpha
36 – 40 36 – 40 36 – 40 36 – 40
41 – 45 41 – 45 41 – 45 41 – 45
46 – 50 46 – 50 46 – 50 46 – 50
51 – 55 51 – 55 51 – 55 51 – 55
56 – 60 56 – 60 56 – 60 56 – 60
61 – 65 61 – 65 61 – 65 61 – 65
66 – 70 66 – 70 66 – 70 66 – 70
71 – 80 71 – 80 71 – 80 71 – 80
81 – 89 81 – 89 81 – 89 81 – 89

0,5
1,0
1,5
2,0
2,5
3,0
2
4
6
8
10
12
14

0,5
1,0
1,5
2,0
0,5
1,0
1,5
2,0
7–9 7–9 7–9 7–9
10 – 11 10 – 11 10 – 11 10 – 11
12 – 13 12 – 13 12 – 13 12 – 13
14 – 15 14 – 15 14 – 15 14 – 15
16 – 17 16 – 17 16 – 17 16 – 17
18 – 19 18 – 19 18 – 19 18 – 19
20 – 21 20 – 21 20 – 21 20 – 21
22 – 23 22 – 23 22 – 23 22 – 23
24 – 25 24 – 25 24 – 25 24 – 25
26 – 30 26 – 30 26 – 30 26 – 30

Beta
31 – 35 31 – 35 31 – 35 31 – 35
Beta
Theta

Theta

36 – 40 36 – 40 36 – 40 36 – 40
41 – 45 41 – 45 41 – 45 41 – 45
46 – 50 46 – 50 46 – 50 46 – 50
51 – 55 51 – 55 51 – 55 51 – 55
56 – 60 56 – 60 56 – 60 56 – 60
61 – 65 61 – 65 61 – 65 61 – 65

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66 – 70 66 – 70 66 – 70 66 – 70
71 – 80 71 – 80 71 – 80 71 – 80
81 – 89 81 – 89 81 – 89 81 – 89

wurden anhand der Arbeit von Tereshenko und Kollegen (2010) berechnet. Man erkennt die mit dem
schätzt. Diese ICA ergab Schwerpunkte für die Powerwerte an bestimmten Elektrodenpositionen. Dar-
Die Powerwerte wurden nach der Berechnung mit einer ICA (independent component analysis) ge-

gestellt sind Powerwerte für (a) die parietale Elektrode Pz und (b) die frontale Elektrode Fz. Die Daten

Alter geringer werdende Power in allen Frequenzbändern. Lediglich im sehr hohen Alter nimmt die Power
Abbildung 4-20: Power in den Frequenzbändern Delta, Theta, Alpha und Beta über die Lebensspanne.

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4.6.  Hirnentwicklung und Verhalten 97

rietale und frontale Elektrodenpositionen dar- änderungen der corticalen Dicke (Shaw et al.,
gestellt. Man erkennt hier, dass die Power in 2006) oder der Hirndurchblutung (Chugani,
allen Frequenzbändern in früher Kindheit sehr 1998; Taki et al., 2011).
groß ist und mit zunehmendem Alter prinzi- Reifungsbedingte Veränderungen findet
piell abnimmt (siehe Abb. 4-20). man auch bei bestimmten Aspekten des
Die Ursachen für die abnehmende Energie Schlafes. Der Anteil des REM-Schlafes ist bei
über das Alter in allen Frequenzbändern sind jungen Kindern besonders hoch und nimmt
noch nicht gänzlich geklärt. Die meisten Wis- mit zunehmendem Alter ab. Der NREM-
senschaftler, die sich mit diesem Thema aus- Schlaf, also jene Schlafstadien, in denen keine
einandersetzen, gehen aber davon aus, dass typischen Kennzeichen des REM-Schlafes zu
diese Powerabnahme mit dem synaptischen finden sind, bleibt bis zirka zur dritten Le-
Pruning zusammenhängt, das sich während bensdekade mehr oder weniger konstant, um
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der frühen Kindheit und Jugend im Cortex dann rapide abzunehmen (Roffwarg, Muzio,
entfaltet. Diese Hypothese wird unter ande- & Dement, 1966). Die Folge dieser Entwick-
rem auch durch aktuelle Studien belegt, die lungen ist, dass wir mit zunehmendem Alter
einen statistischen Zusammenhang zwischen immer länger wach bleiben. Die Ursachen
der Volumenabnahme der corticalen grauen dieser Veränderungen sind bislang noch nicht
Substanz und der Power in den Frequenzbän- eindeutig geklärt. Möglicherweise hängt diese
dern feststellen konnten (Whitford et al., Entwicklung auch mit dem synaptischen Pru-
2007). Eine Volumenabnahme der grauen ning in der Kindheit und der Adoleszenz zu-
Substanz wird mit Volumenverringerungen sammen.
der Neurone, einer Verringerung des Neuro-
pils und vor allem mit einer Verringerung der
synaptischen Kontakte in Verbindung ge- 4.6. Hirnentwicklung
bracht. Diese alterskorrelierten Veränderun- und Verhalten
gen passen recht gut zu alterskorrelierten Ver-
Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die
Dauer der Schlafstadien Hirnentwicklung in jedem Alter nicht nur von
24 genetischen oder biologischen Einflüssen,
NREM-Schlaf sondern auch von der Erfahrung beeinflusst
18 wird. Wie eine französische Arbeitsgruppe vor
Stunden Schlaf

REM-Schlaf einigen Jahren belegen konnte, ist das kind-


12 liche Gehirn sehr früh für die Sprachverar-
beitung vorbereitet (Dehaene-Lambertzet
6 Wachstadium al., 2006). Die Wissenschaftler untersuchten
drei Monate alte Babys im Magnetresonanz-
0
1 10 30 60 90 tomografen, wobei sie ihnen Sprache vor-
Alter in Jahre wärts und rückwärts vorspielten. Es zeigten
sich bei der Präsentation sowohl von rück-
Abbildung 4-21: Dauer der Schlafstadien und der
wärts wie auch von vorwärts11 dargebotener
Wachheit für verschiedene Altersbereiche. Man
erkennt die Abnahme des REM-Schlafes über das
Alter. Gleichzeitig nimmt der Anteil des Wachsta- 11  „Vorwärts“ dargebotene Sprache entspricht dem
diums mit zunehmendem Alter zu. Die Skalierung normalen Sprachfluss. Bei „rückwärts“ dargebote-
des Alters ist logarithmisch (nachgezeichnet nach ner Sprache werden die Sprachsignale von „hinten“
Kolb & Whishaw, 2001, Figure 12-15). nach „vorne“ abgespielt. Dies erreicht man recht

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98 4.  Reifung des Gehirns

Tabelle 4-2: Kennwerte des nichtlinearen Volumenabbaus der grauen Substanz im Hippocampus-
Amygdala-Komplex (nach Ziegler et al., 2011).

Hirnregion erklärte Varianz Alter, in dem relativer Verlust des ­


durch nicht­linearen die ­maximale Volumen­ Volumens an grauer ­
Trend änderung der grauen Substanz vom 20.
Substanz erreicht wird zum 80. Lebensjahr (in %)
Hippocampus 7 62 17,12
Cornu ammonis
Hippocampus 5 62  9,75
Gyrus dentatus
Hippocampus 1 55 22,51
Subiculum
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entorhinaler Kortex 4 58 12,45


Amygdala 6 57 16,5

Sprache starke Durchblutungszunahmen aus- vorwärts gehörte


Sprache
schließlich im linksseitigen oberen Temporal-
lappen (Abb. 4-22). Die vorwärts dargebotene
Sprache aktivierte v. a. das Planum temporale,
also den oberen Teil des Temporallappens.
Darüber hinaus fanden sich Durchblutungs-
zunahmen im rechtsseitigen Frontalkortex
und im linksseitigen Okzipitotemporalkortex.
Rückwärts dargebotene Sprache dagegen akti-
vierte stärker ventrale Bereiche des Temporal-
lappens im Sulcus temporalis superior. Diese
Befunde belegen, dass Babys vorwärts darge-
botene Sprache, die ja natürlich klingt, anders
neuronal verarbeiten als rückwärts dargebo- rückwärts gehörte
Sprache
tene Sprache, die unnatürlich klingt. Es liegt
offenbar eine Art Prädisposition für die be- Abbildung 4-22: Schematische Darstellung der
sondere Verarbeitung von Sprache vor. Befunde von Dehaene-Lambertz et al. (2006). Die
Obwohl eine Prädisposition zur Sprach- Autoren haben 3 Monate alten Babys Sprache vor-
wahrnehmung im menschlichen Gehirn be- wärts oder rückwärts dargeboten. Die bei diesen
steht, müssen sich die neuronalen Netzwerke Präsentationen gemessenen Durchblutungszu-
auf die jeweils spezifische Sprache einstellen, nahmen sind hier dargestellt. Bietet man die Spra-
che vorwärts (also normal und wie gewohnt) dar,
die in dem kulturellen Umfeld gesprochen
zeigen sich signifikante Durchblutungszunahmen
wird, in dem das Kind aufwächst. Durch diese
im linksseitigen Planum temporale, im rechtssei-
Erfahrung erwirbt das Kind bereits ab dem
tigen Frontalkortex und im linksseitigen Occipito-
temporalkortex. Wird die Sprache rückwärts dar-
einfach mit digitalisierter Sprache. Die digitalisier- geboten, zeigen sich v. a. Durchblutungszunahmen
ten Sprachsignale können dann im Rechner einfach im Sulcus temporalis superior mit Übergriff auf
„umgedreht“ und so von digital zu analog gewandelt den Gyrus temporalis medius. (Nachgezeichnet
werden. nach Dehaene-Lambertz et al., 2006)

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4.6.  Hirnentwicklung und Verhalten 99

6. Monat die Fähigkeit, sprachspezifische As- und neurophysiologischen Grundlagen. So ist


pekte aus dem Sprachstrom herauszufiltern. z. B. die Myelinisierung noch nicht abgeschlos-
Zu diesem Zeitpunkt können z. B. schwedische sen, wodurch die Informationsübertragung
Babys typische schwedische Vokale erkennen. recht langsam erfolgt. Bei Kindern im Alter
Mit dem 8. Monat werden auch sprachspezi- von 7 Jahren sind die im hinteren Temporal-
fische Betonungsmuster erkannt. Ab dem 9. lappen lokalisierten Sprachareale (Wernicke-
Monat werden sprachspezifische Lautmuster Areal) über zwei Faserbahnen mit frontalen
diskriminiert und im 11. Monat erkennt das Hirngebieten (Broca-Areal) verbunden: dem
Baby typische Phoneme. In diesem Alter ist oberhalb der Sylvischen Fissur angeordneten
z. B. bei japanischen Kindern (bzw. bei in Japan Fasciculus arcuatus und einem ventralen Fa-
aufgewachsenen Kindern) bereits die Fähig- serweg, der über die Capsula extrema verläuft
keit verloren gegangen, ein /r/ von einem /l/ (Abb. 4-24; Brauer et al., 2011).
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zu unterscheiden. Neben der Sprachwahrneh- Diese anatomischen Gegebenheiten beein-


mung entwickelt sich auch die Fähigkeit zu flussen wahrscheinlich die Art, wie Kinder
sprechen. Bereits im 3.  Monat produzieren Sprache verarbeiten. Möglicherweise sind in
Kinder Vokale und im 10.–12. Monat begin- solchen neuroanatomischen Randbedingun-
nen sie mit der Wortproduktion. In den folgen- gen auch die Gründe für interindividuelle Un-
den zwei Jahren baut das Kind einen immer terschiede im Verhalten und in der Kognition
größer werdenden Wortschatz auf und ent- zu suchen.
wickelt zunehmend Kenntnisse über die Syn- Erste Hinweise hierzu hat die Arbeit von
tax der zu lernenden Sprache. Shaw und Kollegen (Shaw et al., 2006) er-
Diese sprachspezifischen Erfahrungen wir- bracht. Die Autoren haben bei einer Stichprobe
ken sich auf bestimmte Konfigurationen von von 307 Kindern, Jugendlichen und jungen Er-
neuronalen Netzwerken aus (Kap. 17), sie sind wachsenen (Altersspanne 3,8–29 Jahre) die
jedoch auch abhängig von den anatomischen kortikale Dicke magnetresonanztomografisch
Entwicklungsstadium

Phonemdiskrimination +
Prosodie Semantik Syntax
Betonungsmuster

Diskrimi- semant.
Phonem-
nation von Sensitivität für semant. Verb- Satz- Morpho-
diskrimi- Bedeu-
Betonungs- Satz-Prosodie Form auswahl struktur logie
nation tung
muster

2 4 5 6 8 9 12 14 18 24 30 32 36
ERP-Korrelation

Geburt Alter in Monaten

MMN CPS N400 ELAN P600

Abbildung 4-23: Schematische Darstellung der Entwicklungsstadien beim Erwerb der Sprachwahrneh-
mung. Unterhalb der Zeitachse sind typische EEG-Kennwerte dargestellt, mit denen sich die jeweils er-
worbenen Sprachwahrnehmungsfertigkeiten erkennen lassen: MMN: Mismatch negativity, CPS: Closure
positive shift, N400, ELAN: Early late anterior negativity, P600. Nachgezeichnet nach Friederici (2005)

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100 4.  Reifung des Gehirns

Kinder Erwachsene
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Abbildung 4-24: Schematische Darstellung der beiden Faserbahnen, die das Wernicke-Areal im hin-
teren Teil des Temporallappens mit dem frontalen Sprachareal (Broca-Areal) verbinden. Bei Kindern im
Alter von 7 Jahren sind diese beiden Faserwege noch vorhanden, während bei Erwachsenen nur noch
der dorsale Weg über den Fasciculus arcuatus besteht. (Nachgezeichnet nach Brauer et al., 2011)

gemessen und diesen anatomischen Kennwert senden oder jungen Erwachsenen waren, desto
mit der psychometrischen Intelligenz in Ver- größer war die kortikale Dicke, insbesondere
bindung gesetzt. Die kortikale Dicke beträgt je im lateralen Frontalkortex und im unteren
nach Messmethode 2–4 mm und ist von der Temporallappen.
Anzahl der Neurone und Interneurone sowie Von der frühen bis späten Kindheit scheint
von den kurzen Faserverbindungen zu kortika- sich intelligenzabhängig die kortikale Dicke
len Nachbargebieten abhängig. Die psycho- massiv zu verändern. Dies haben die Auto-
metrische Intelligenz wurde mit der Lang- ren näher untersucht, indem sie die Verände-
oder Kurzform des Wechsler-Intelligenztests rungen der kortikalen Dicke für exemplari-
gemessen. Es zeigte sich, dass in der frühen sche Hirnregionen in Abhängigkeit von der
Kindheit (3,8–8,4 Jahre) die psychometrische Intelligenz über den gesamten Altersbereich
Intelligenz negativ mit der kortikalen Dicke berechnet haben. Hierzu wurden die Ver-
korrelierte  – v. a. mit der kortikalen Dicke im suchspersonen in drei Gruppen eingeteilt: (1)
Frontalkortex und im unteren Teil des Tempo- überragende Intelligenz (IQ 121–149), (2)
rallappens (Abb. 4-25). Das bedeutet, je intel- hohe Intelligenz (IQ 109–120) und (3) durch-
ligenter die Kinder waren, desto dünner ist der schnittliche Intelligenz (IQ 83–108), und ge-
Kortex in diesen Hirngebieten. Bei den etwas trennt für diese Gruppen der Entwicklungs-
älteren Kindern (8,6–11,7 Jahre) kehrte sich verlauf der kortikalen Dicke berechnet. Dieser
die Korrelation zwischen kortikaler Dicke und Entwicklungsverlauf zeichnete sich bei den
Intelligenz um. Je intelligenter die Kinder wa- sehr intelligenten Personen dadurch aus, dass
ren, desto dicker war der Kortex. Die positive in der frühen Kindheit die kortikale Dicke be-
Korrelation zwischen IQ und kortikaler Dicke sonders gering war und bis zum Alter von
bleibt dann für die gleichen Hirngebiete bis 11 Jahren deutlich zunahm. Nach dem 11. Le-
zum frühen Erwachsenenalter erhalten. Je in- bensjahr nahm sie in dieser Gruppe kon-
telligenter also die älteren Kinder, Heranwach- tinuierlich bis zum 20. Lebensjahr ab. Test-

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4.6.  Hirnentwicklung und Verhalten 101
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frühe Kindheit späte Kindheit Adoleszenz Erwachsenenalter

negative Korrelation positive Korrelation


zwischen IQ und zwischen IQ und
kortikaler Dicke kortikaler Dicke

Abbildung 4-25: Korrelation zwischen psychometrischer Intelligenz und kortikaler Dicke, getrennt für
die vier unterschiedlichen Gruppen von Testpersonen. Bei sehr jungen Kindern im Alter von 3,8  bis
8,4 Jahren korrelierte die psychometrische Intelligenz negativ mit der kortikalen Dicke. Das bedeutet,
dass hohe Intelligenz mit geringer kortikaler Dicke korreliert. Diese negative Korrelation ist insbesondere
im Frontalkortex und im Temporallappen zu beobachten. In der späten Kindheit kehrt sich die Korrela-
tion zwischen psychometrischer Intelligenz und kortikaler Dicke um. Das bedeutet, dass hohe Intelligenz
mit einer hohen kortikalen Dicke korreliert. Dieser positive Zusammenhang bleibt bis zum frühen Er-
wachsenenalter (17–29 Jahre) erhalten. Die Hirngebiete, für welche die Korrelationen besonders stark
ausfallen, sind insbesondere der laterale Frontalkortex und der untere Temporallappen. (Nachgezeich-
net nach Shaw et al., 2006)

personen mit durchschnittlicher und hoher zeichnen. Bei außergewöhnlich intelligenten


Intelligenz wiesen bereits in früher Kindheit – Testpersonen stellen sich offenbar in der äu-
verglichen mit Personen mit überragender ßeren Kortexschicht früher und v. a. schneller
Intelligenz  – größere kortikale Dicken auf. erhebliche Veränderungen der kortikalen Ar-
Im Grunde zeichneten sich diese beiden In- chitektur ein. Welche Prozesse sich hier genau
telligenzgruppen durch eine mehr oder weni- abspielen und ob sie unabhängig von externen
ger kontinuierliche Verdünnung der Kortex- Erfahrungseinflüssen sind, müssen weitere
schicht aus. Untersuchungen zeigen.
Diese intelligenzabhängige Veränderung Dass die Hirnentwicklung kein passiver
der kortikalen Dicke kann auch als Verände- Prozess ist, sondern sich abhängig von spezi-
rungsrate (Millimeter pro Jahr) dargestellt fischen Umwelterfahrungen sehr individuell
werden (Abb. 4-27). Wird dieser Kennwert ge- entfalten kann, hat die Bostoner Arbeitsgruppe
nutzt, ist zu erkennen, dass sich die besonders um Gottfried Schlaug belegen können (Hyde et
intelligenten Testpersonen durch eine bemer- al., 2009). Sie haben Kinder im Alter von 6 bis
kenswert hohe Veränderungsrate der kortika- 6,5 Jahren im Rahmen einer Längsschnittstu-
len Dicke im Alter von 6 bis ca. 12 Jahren aus- die über einen Zeitraum von mehr als einem

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102 4.  Reifung des Gehirns

Jahr untersucht. Die Kinder wurden per Zufall


in zwei Gruppen eingeteilt: Eine Gruppe er- durchschnittlich Intelligente
hielt über den Zeitraum von 15 Monaten ein- sehr Intelligente
überragend Intelligente
mal pro Woche eine halbe Stunde Klavier-
unterricht. Die Kinder der anderen Gruppe 5.00

kortikale Dicke (mm)


absolvierten einmal pro Woche einen 40 Mi- 4.75
nuten dauernden Gruppenmusikunterricht,
4.50
bei dem sie sangen, Schlagzeug oder das Glo-
4.25
ckenspiel spielten. Hinsichtlich des sozioöko-
nomischen Status, der Intelligenz und der 4.00
7 9 11 13 15 17 19
Schulleistungen waren die Probanden nahezu Alter
identisch. Bei beiden Gruppen wurden zu Be-
Abbildung 4-26: Geschätzter Entwicklungsver-
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ginn der Studie und nach 15 Monaten magnet-


lauf der kortikalen Dicke für die drei Intelligenz-
resonanztomografische Bilder des Gehirns
gruppen (überragende Intelligenz, hohe Intel-
aufgezeichnet und die Prä-post-Unterschiede
ligenz und durchschnittliche Intelligenz). Man
der beiden Gruppen verglichen. Dabei haben erkennt, dass bei den Testpersonen mit über-
die Autoren festgestellt, dass bei den Kindern, ragender Intelligenz der Kortex im Alter von 7 Jah-
die individuellen Klavierunterricht erhalten ren bemerkenswert dünn ist und bis zum 11. Le-
hatten, nach 15 Monaten im primären Hörkor- bensjahr deutlich dicker wird. Danach verdünnt
tex (Heschl-Gyrus), im primären Motorkortex sich zunehmend die Kortexschicht bei dieser In-
und im hinteren Corpus callosum markante telligenzgruppe. Bei den beiden anderen Intelli-
Formveränderungen vorlagen. Diese Hirn- genzgruppen ist der Kortex bereits im Alter von
gebiete sind beim Musizieren und insbeson- 7 Jahren erheblich dicker und verdünnt sich fort-
während bis zum 20. Lebensjahr. (Nachgezeichnet
dere beim Klavierspielen stark aktiviert und
nach Shaw et al., 2006)
haben sich offenbar infolge des zusätzlichen

0.25 Veränderung der kortikalen Dicke

0.20 überragend Intelligente


sehr Intelligente
Zunahme

0.15
Veränderungsrate (mm yr–1)

durchschnittlich Intelligente

0.10

0.05

0
Abnahme

–0.05

–0.10

–0.15
6 10 Alter in Jahren 14 18

Abbildung 4-27: Veränderungsrate der kortikalen Dicke (Millimeter pro Jahr) über den Altersbereich von
6 bis 20 Jahren, getrennt für die drei unterschiedlichen Intelligenzgruppen. Man erkennt, dass die über-
ragend intelligenten Testpersonen über eine hohe Veränderungsrate der kortikalen Dicke im Alters-
bereich von 6 bis ca. 12 Jahren verfügen. (Nachgezeichnet nach Shaw et al., 2006)

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4.6.  Hirnentwicklung und Verhalten 103

Veränderung in % GMD Motorisches Sprachareal Kleinhirn

Veränderung in % GMD

Veränderung in % GMD

Veränderung in % GMD
2 2 2 2
0 0
0 0
–2 –2
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–4 –4
–2 –2
–6 –6
–20 0 20 –20 0 20 –20 0 20 –20 0 20
Veränderung Veränderung Veränderung Veränderung
in VIQ in PIQ in VIQ in PIQ

Abbildung 4-28: Darstellung der Befunde von Ramsden et al. (2011). Jugendliche, die eine Verbesserung
des Verbal-IQ (VIQ) innerhalb eines Zeitraums von dreieinhalb Jahren zeigten, zeigten auch eine Zu-
nahme der Dichte der grauen Substanz in einem Hirngebiet, das typischerweise in die Kontrolle moto-
rischer Sprachfunktionen eingebunden ist (Gyrus praecentralis). Kinder, die eine Verbesserung des
Handlungs-IQ (PIQ) über diesen Zeitraum zeigten, fielen durch eine Zunahme der Dichte der grauen
Substanz, v. a. im Kleinhirn, auf. GMD: Dichte der grauen Substanz. (Nachgezeichnet und modifiziert nach
Ramsden et al., 2011)

Klavierspielens anatomisch verändert. Ein resonanztomografische Bilder des Gehirns


eindrücklicher Beleg für den modulierenden angefertigt und überprüft, ob und wo sich die
Einfluss der individuellen Erfahrung auf die Dichte der grauen Substanz im Verlauf dieser
Entwicklung des menschlichen Gehirns. dreieinhalb Jahre verändert hat. Dabei konnte
Häufig besteht der Eindruck, dass sich die festgestellt werden, dass Jugendliche, die in
Intelligenz in der Kindheit und im Teenager- diesem Zeitraum ihre verbale Intelligenz ver-
alter kontinuierlich verbessert. Viele Untersu- besserten, auch eine Zunahme der Dichte der
chungen haben jedoch gezeigt, dass die Intel- grauen Substanz in motorischen Spracharea-
ligenzentwicklung bei Kindern erheblichen len (unterer Teil des Gyrus praecentralis) auf-
intraindividuellen Schwankungen unterliegen wiesen. Andererseits zeigten Jugendliche, die
kann. Eine Londoner Arbeitsgruppe, geleitet ihren Handlungs-IQ verbesserten, eine Zu-
von der Neuropsychologin Cathy Price, hat nahme der Dichte der grauen Substanz im
14- bis 18-jährige Jugendliche über einen Kleinhirn.
Zeitraum von ca. dreieinhalb Jahren unter- Bemerkenswert ist auch die Entwicklung
sucht und die Schwankungen der psychome- der exekutiven Funktionen (bzgl. der exekuti-
trischen Intelligenz mittels Standardintelli- ven Funktionen siehe auch Kapitel 11). Wich-
genztests erfasst (Abb. 4-28; Ramsden et al., tige Hirngebiete für die Kontrolle der exekuti-
2011). Darüber hinaus hat die Gruppe zu Be- ven Funktionen befinden sich im Frontalkortex.
ginn und am Ende der Untersuchung magnet- Die Funktionsfähigkeit dieser Hirngebiete ent-

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104 4.  Reifung des Gehirns

wickelt sich mit zunehmendem Alter, wobei den NoGo-Bedingungen bei Kindern im Alter
diese Funktionen in der Kindheit und frühen von 7–12 Jahren bedeutend länger ausfallen als
Adoleszenz noch nicht voll ausgereift sind. bei Jugendlichen im Alter von 15–19 Jahren.
Typische Aufgaben zum Untersuchen dieser Kinder im Alter von 7 Jahren benötigen un-
exekutiven Funktionen sind Go-/No-go-Auf- gefähr 700 ms, um in der No-go-Situation zu
gaben. Im Prinzip bestehen diese Aufgaben reagieren, während Jugendliche im Alter von
aus Reizen, auf welche die Versuchspersonen 16 Jahren in der gleichen Situation lediglich
reagieren müssen (sogenannte Go-Reize) und 400 ms benötigen. Erst im Alter von 17 und
solchen, auf die sie eine Reaktion unterlassen 18 Jahren werden Reaktionszeiten erreicht, die
sollen (sogenannte No-go-Reaktionen). Solche denen der Erwachsenen ähnlich sind.
Aufgaben können mitunter so gestaltet wer- Solche Aufgaben werden auch sehr häufig
den, dass in der No-go-Situation kognitive im Zusammenhang mit EEG-Untersuchun-
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Konflikte ausgelöst werden, so dass die Re­ gen durchgeführt. Dabei kann man bei inkor-
aktionszeiten in der No-go-Situation teilweise rekten Reaktionen ein evoziertes Potential
erheblich ansteigen. Wir werden solche Auf- registrieren, welches man als „Fehlerbezo-
gaben noch in Kapitel 11 näher kennenlernen. gene Negativität“ bezeichnet (im Englischen
Im Prinzip geht es bei diesen Aufgaben darum, Error-Related-Negativity: ERN). Diese ERN ist
vorbereite Reaktionen zu Gunsten anderer Re- ein negatives Potential, das zirka 80 ms nach
aktionen zu hemmen. Wendet man solche Auf- der Fehlreaktion und zirka 220 ms nach dem
gaben bei Personen unterschiedlichen Alters Stimulus auftritt. Die Amplitude dieses Po-
an, stellt man fest, dass die Reaktionszeiten in tentials (bezogen auf die vorangehende P3)

Veränderung der ERN-Amplitute über das Alter


30
korrekt
falsch

25 ERN
Mikro-Volt

20

–400 –300 –200 –100 0 100 200 300 400 600


Mikro-Volt

Tastendruck
15

10

Mittelwert linearer Trend


0
7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 > 20

Alter

Abbildung 4-29: Abhängigkeit der ERN-Amplituden vom Alter der Versuchspersonen. Man erkennt, dass
mit zunehmendem Alter die Amplituden immer grösser werden (Die Abbildung ist anhand der Daten von
Davies, Segalowitz & Gavin (2004) neu gestaltet worden).

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4.7.  Kritische Phasen 105

nimmt mit zunehmendem Alter zu (siehe Ab- repräsentiert kritische Phasen. Treten in die-
bildung 4-28). Weiterführende Untersuchun- sen Reifungsphasen Störungen auf, können
gen haben gezeigt, dass diese neurophysiologi- erhebliche Folgen für die weitere Entwicklung
sche Reaktion vor allem über das vordere des Gehirns resultieren. Wenn sich z. B. wäh-
Cingulum und den angrenzenden Frontalkor- rend der Neurulation das Neuralrohr nicht
texstrukturen generiert wird. Offenbar hängt vollständig schließt, können Fehlbildungen
die Stärke dieser Reaktion vom aktuellen Rei- des Rückens entstehen. Bei der Spina bifida
fungszustand des Frontalkortex ab. (Wirbelspalt, Spaltwirbel oder „offener Rü-
cken“) beispielsweise handelt es sich um eine
Neuralrohrfehlbildung, die unterschiedlich
4.7. Kritische Phasen ausgeprägt sein kann und deren Schweregrad
entsprechend variiert. Die Migration der Neu-
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Ethologen haben das Konzept der Prägung in rone an ihre Bestimmungsorte kann durch
die Biologie eingeführt. Sie verstanden darun- verschiedene Einflüsse gestört werden, so-
ter einen irreversiblen Lernvorgang, der in be- dass irreversible Folgen eintreten können. Ein
stimmten „kritischen“ Phasen stattfindet. Ein typisches Beispiel ist die Lissenzephalie.
typisches Beispiel ist die Prägung eines Grau- Diese Fehlbildung des Gehirns tritt in ver-
ganskükens auf das erste Objekt, das sich nach schiedenen Formen auf: als Agyrie (völliges
dem Schlüpfen aus dem Ei von ihm fortbewegt. Fehlen der Gyrierung), Mikrogyrie (Verkleine-
In der Regel ist das das Muttertier, das das Ei rung der Hirnwindungen), Makrogyrie (Ver-
ausbrütet, bis das Küken schlüpft. Konrad Lo- größerung der Hirnwindungen) und Pachygyrie
renz hat in seinen Experimenten die Mutter (reduzierte Gyrierung mit verdickten und ver-
durch verschiedene Objekte oder den Men- gröberten Hirnwindungen). Als Folge haben
schen ersetzt. Bewegte sich ein Ball nach dem diese Gehirne eine relativ glatte Oberfläche.
Schlüpfen des Kükens von ihm fort, folgte das Diese Entwicklungsstörungen sind nicht mehr
Küken diesem Ball ein Leben lang – es war also kompensierbar. Ein anderes Beispiel für eine
auf den Ball geprägt. Berühmt wurde Konrad Migrationsstörung ist die Heterotopie. Sie ist
Lorenz mit Versuchen, in denen er sich selbst dadurch gekennzeichnet, dass einige Neurone
als Prägungsobjekt anbot. Bewegte er sich bei der Migration nicht ihr Zielgebiet erreichen
nach dem Schlüpfen vom Nest fort, waren die und praktisch „auf halber Strecke stecken blei-
Küken entweder auf sein Gesicht oder (je nach ben“. Heterotopien im perisylvischen Hirn-
Versuchsanordnung) auf seine Gummistiefel bereich werden als mögliche Ursachen der Dys-
geprägt. Prägung erfolgt nur zu einem be- lexie diskutiert (Galaburda & Kemper, 1979).
stimmten Zeitpunkt und ist danach nicht mehr Das Gehirn ist insbesondere während der
möglich; sie ist auch nicht mehr umkehrbar. frühen Entwicklungsphasen sehr verletzlich
Offenbar kann das Gehirn der Graugansküken und v. a. durch toxische Substanzen und Infek-
zu einer bestimmten Entwicklungszeit sehr tionen gefährdet. Erkrankung der Mutter an
schnell und irreversibel auf bestimmte Objekte Syphilis und Röteln, Mangel an Jod in der
oder Lebewesen geprägt werden. Es existiert Ernährung und v. a. Alkoholismus der Mutter
eine kritische Phase für diese besondere Form während der Schwangerschaft sind Risikofak-
der Organisation des Nervensystems.  toren für die Hirnentwicklung des Fötus. Al-
Kritische Phasen können zu verschiedenen koholkonsum der Mutter kann beim Fötus und
Zeitpunkten auch bei der Entwicklung des dem geborenen Kind zum fetalen Alkohol-
menschlichen Gehirns ausgemacht werden. syndrom führen. Die Neugeborenen leiden je
Jede der oben besprochenen Reifungsphasen nach Schweregrad unter Hyperaktivität, ver-

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106 4.  Reifung des Gehirns

minderter Wachsamkeit, geistiger Retardie- (z. B. Sauerstoffkonzentration, Vorhanden-


rung, motorischen Problemen, abnormen Ge- sein von toxischen Substanzen). In späteren
sichtszügen und Herzschäden. Es wird auch Phasen beeinflussen Erfahrung und Lernen
über eine weniger ausgeprägte Dendritisie- die Hirnentwicklung zunehmend.
rung bei diesen Kindern berichtet. Das Fazit • Während der Embryonalentwicklung kön-
lautet: Je mehr die Mutter trinkt, desto schlech- nen folgende wichtige Reifungsphasen
ter ist dies für die Hirnentwicklung des Fötus. unterschieden werden: (1) Neurulation
Die in diesen frühen Phasen induzierten Hirn- (Bildung des Neuralrohrs), (2) Neurogenese
entwicklungsstörungen sind im Jugend- und (Bildung der Neurone), (3) Proliferation der
Erwachsenenalter nicht mehr kompensierbar. Neurone und Migration der Vorläuferzellen
Die durch Hirnläsionen (z. B. durch Schlag- in die Kortexschicht, (4) dendritische und
anfälle oder Hirntumore) ausgelösten Verhal- axonale Arborisierung (Bildung der Den-
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tens- und Kognitionsänderungen, die in früher driten und der Verzweigungen an den
Kindheit auftreten, sind recht gut kompensier- Axonen), (5) Synaptogenese (Bildung von
bar, da das kindliche Gehirn noch sehr plas- Synapsen), (6) programmierter Zelltod (Eli-
tisch ist. Leidet z. B. ein 5- bis 10-jähriges Kind minierung zu viel gebildeter Neuronen), (7)
an einer Aphasie, ist die Prognose sehr gut, Myelinisierung (Bildung der Myelinschich-
denn die nicht befallenen Hirngebiete über- ten um die Axone).
nehmen recht flexibel Sprachfunktionen. Auch • Am 20. Tag nach der Befruchtung beginnt
Läsionen in motorischen Arealen (z. B. im die Differenzierung des Ektoderms. Es ent-
Kleinhirn) können viel besser als bei Erwach- wickelt sich die Neuralrinne und später das
senen kompensiert werden. Neuralrohr. Aus dem vorderen Teil des
In späteren Entwicklungsphasen vermin- Neuralrohrs bilden sich am 28. Tag drei
dert sich die anfängliche enorme Plastizität Bläschen (Drei-Bläschen-Stadium) mit
des Gehirns. Das bedeutet nicht, dass im Alter den Anlagen für das Vorderhirn, das Mittel-
keine plastischen Prozesse mehr möglich sind, hirn und das Rautenhirn.
aber sie sind deutlich eingeschränkter. So • Während der Neurogenese werden in den
nimmt mit zunehmendem Alter des Gehirns ersten acht Wochen fast alle Neurone ge-
die Fähigkeit zum Axonenwachstum ab. Je bildet. Ausgangspunkt der Neurogenese
besser die neuronalen Netze mittels synapti- sind neuronale Stammzellen, aus denen
scher Kontakte geknüpft worden sind, desto sich Neuro- und Glioblasten entwickeln.
schwieriger wird es, diese Netzwerke zu ver- Aus den Glioblasten entwickeln sich Glia-
ändern. zellen und aus den Neuroblasten Nerven-
zellen. Ob eine neuronale Stammzelle sich
zu einem Neuron oder einer Gliazelle ent-
4.8. Zusammenfassung wickelt, wird durch neurotrophe Faktoren
bestimmt.
• Das Gehirn befindet sich ständig in einem • Die neu entstandenen Nervenzellen müs-
Umbauprozess, der sich bis in das Erwach- sen vom Ort ihrer Entwicklung zu ihrem
senenalter erstreckt. Insofern „entwickelt“ Zielort „wandern“. Dieser Vorgang wird als
sich das Gehirn ständig. Migration bezeichnet. Am jeweiligen Ziel-
• Die ersten Entwicklungsschritte vollziehen ort müssen sich die Nerven- und Gliazellen
sich noch fast vollständig unter genetischer differenzieren und dem Zielort anpassen
Kontrolle, wobei zusätzlich weitere biologi- (Differenzierung). Die Nervenzellen bilden
sche Faktoren wirksam werden können dann Axone, Dendriten und Synapsen aus

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4.8. Zusammenfassung 107

(Synaptogenese). Die Zellmigration setzt Hirngebiete mit Ausnahme des auditori-


unmittelbar nach dem Beginn der Neuroge- schen Kortex sehr früh reifen. Die Reifung
nese ein und dauert ca. 6 Wochen. äußert sich in einer relativen Abnahme der
• Nachdem die Neurone ihren Zielort er- grauen Substanz bei gleichzeitiger relativer
reicht haben, beginnen sie sich zu differen- Zunahme der weißen Substanz. Auffallend
zieren und ihre speziellen Funktionen zu ist, dass der laterale Frontalkortex und peri-
übernehmen. syvische Hirngebiete erst sehr spät im Alter
• Die Axone und Dendriten gehen Kontakte von ca. 18–20 Jahren reifen.
mit Nachbarneuronen ein. Dazu müssen sie • Kombinierte Längs- und Querschnittunter-
Synapsen bilden. Diese Synaptogenese be- suchungen haben gezeigt, dass der Wachs-
ginnt ca. am 20. Tag und dauert im Grunde tumsverlauf des Volumens der grauen
bis an das Lebensende. Substanz für den Frontal-, den Parietal- und

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Einfache synaptische Kontakte existieren den Temporalkortex umgekehrt u-förmig


beim Menschen bereits im 5. Schwanger- erfolgt. Besonders markant ist der Rei-
schaftsmonat und vermehren sich bis zur fungsverlauf für den Frontalkortex, wo das
Geburt erheblich. Nach der Geburt nimmt Volumen der grauen Substanz bei Jungen
die Anzahl der Synapsen dramatisch und bis zum Alter von 12,5 und bei Mädchen bis
schnell bis zum 1. Lebensjahr zu (Phase der zum Alter von 11,5 Jahren deutlich zu-
Überproduktion = Blooming). Danach folgt nimmt, um dann wieder abzunehmen. Die
(postnatal) die Phase der selektiven Elimi- Reduktion der grauen Substanz nach diesen
nation der überschüssigen Synapsen (= Pru- „Wendepunkten“ ist wahrscheinlich auf
ning). Diese Abnahme von synaptischen eine Reduktion der synaptischen Verbin-
Verbindungen geht mit dem Zelltod von dungen zurückzuführen. Möglicherweise
Nervenzellen einher. Ein wichtiger Faktor, bauen sich nicht benötigte Verbindungen
der das Pruning beeinflusst, ist sehr wahr- ab (in Umkehrung der Hebb-Regel „fire to-
scheinlich der „Gebrauch“ oder „Nicht- gether wire together =  don’t fire together
gebrauch“ der Synapsen. don’t wire together“). Ähnliche Reifungs-
• Die Oligodendrogliazellen tragen zur Mye- verläufe finden sich mit kleinen Unterschie-
linisierung der Nervenfasern bei. den auch für den Parietal- und Temporal-
• Nach der Geburt beträgt das Gehirngewicht kortex. Das Volumen der weißen Substanz
ca. 400–450 g und nimmt in den nächsten dagegen nimmt bis zum 22. Lebensjahr
Jahren rasch zu. Im 2. Lebensjahr beträgt kontinuierlich zu.
das Gehirngewicht des Kindes bereits 80 % • Die Reifungsprozesse in der frühen Kind-
des Gehirngewichts eines Erwachsenen. Im heit werden durch Erfahrung moduliert.
Alter von 5 Jahren ist es schon auf 90 % des Wichtig hierbei ist der „Gebrauch“ oder
Erwachsenengehirns angestiegen. „Nichtgebrauch“ bestimmter Synapsen (use
• Bei Kindern im Alter von 1 bis ca. 9 Mona- it or lose it).
ten sind wenige myelinisierte Faserbahnen • Im Erwachsenenalter nimmt das Volumen
auszumachen. Die großen Faserbahnen vieler Hirngebiete ab dem 23. bzw. dem
(Kommissuren und Assoziationsbahnen) 42. Lebensjahr ab. Die maximalen Volu-
sind erst ab dem 7. Monat zu erkennen. menabnahmen sind etwa ab dem 52. Le-
• Die Längsschnittstudie von Gogtay et al. bensjahr festzustellen.
hat gezeigt, dass die einzelnen Hirngebiete • Der Hippocampus-Amygdala-Komplex,
nicht gleichsinnig reifen, sondern dass v. a. der besonders für explizite Gedächtnis-
die primär motorischen und sensorischen funktionen wichtig ist, weist nichtlineare

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108 4.  Reifung des Gehirns

Volumenabnahmen im Zusammenhang 10.–12. Monat beginnen sie mit der Wort-


mit dem Alter auf. Im Vergleich zum 20. Le- produktion. In den folgenden zwei Jahren
bensjahr zeigen 80-Jährige einen Volumen- baut das Kind einen immer größer werden-
verlust der grauen Substanz, der zwischen den Wortschatz auf und entwickelt zuneh-
9,7 und 22,5 % variiert. Die EEG-Aktivität mend Kenntnisse über die Syntax der zu
verändert sich mit zunehmendem Alter. lernenden Sprache.
Die Power in den Frequenzbändern Delta, • In der frühen Kindheit (3,8–8,4 Jahre) kor-
Theta, Alpha und Beta nimmt mit zuneh- reliert die psychometrische Intelligenz ne-
mendem Alter ab. Bei den Senioren findet gativ mit der kortikalen Dicke  – v. a. im
man wieder Powerzunahmen. Frontalkortex und im unteren Teil des Tem-
• Über das Alter verändert sich die Dauer porallappens. Je intelligenter also die Kin-
einiger Schlafstadien. Insbesondere die der, desto dünner ist der Kortex in diesen
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Dauer des REM-Schlafes nimmt über das Hirngebieten. Bei etwas älteren Kindern
Alter ab. Damit verbunden ist auch eine al- und Jugendlichen (8,6–20 Jahre) kehrt sich
tersbedingte Zunahme des Wachstadiums. die Korrelation zwischen kortikaler Dicke
• Babys im Alter von 3 Monaten können of- und Intelligenz um. Je intelligenter die Kin-
fenbar bereits Sprachsignale verarbeiten. der, desto dicker der Kortex. Wird die Ver-
Spielt man ihnen Sprache vorwärts (also änderungsrate der kortikalen Dicke berech-
normal) vor, dann sind das Planum tempo- net (Millimeter pro Jahr), fallen die beson-
rale, der rechtsseitige Frontalkortex und ders intelligenten Testpersonen durch eine
der Okzipitotemporalkortex stärker durch- bemerkenswert hohe Veränderungsrate der
blutet. Bei rückwärts dargebotener Sprache kortikalen Dicke bis zum Alter von 6 bis ca.
ist der Sulcus temporalis superior stärker 12 Jahren auf.
durchblutet. • Wenn Kinder im Alter von ca. 8 Jahren 15
• Bei Kindern im Alter von 7 Jahren ist das Monate lang ca. eine Stunde pro Woche In-
Wernicke-Sprachareal über zwei Faserbah- strumentalunterricht erhalten, verformen
nen mit frontalen Hirngebieten (Broca- sich anatomisch jene Hirngebiete, die in die
Areal) verbunden: dem oberhalb der Sylvi- Kontrolle des Musizierens eingebunden
schen Fissur angeordneten Fasciculus sind: primärer Hörkortex, primärer Motor-
arcuatus und einem ventralen Faserweg, kortex und das Corpus callosum.
der über die Capsula extrema verläuft. Bei • Im Teenageralter verändert sich die psy-
Erwachsenen und Jugendlichen ist der ven- chometrische Intelligenz. Die Verände-
trale Weg nicht mehr so stark ausgeprägt. rung der verbalen Intelligenz korreliert mit
• Kinder erwerben bereits ab dem 6. Monat anatomischen Veränderungen im motori-
die Fähigkeit, sprachspezifische Aspekte schen Sprachareal, während die Verände-
aus dem Sprachstrom herauszufiltern. Mit rung der Handlungsintelligenz mit ana-
dem 8. Monat können auch sprachspezi- tomischen Veränderungen im Kleinhirn
fische Betonungsmuster erkannt werden. zusammenhängt.
Ab dem 9. Monat werden sprachspezifische • Insbesondere in den frühen Phasen der
Lautmuster diskriminiert und im 11. Monat Entwicklung ist das Gehirn sehr anfällig für
erkennt das Baby typische Phoneme für die nicht mehr kompensierbare Beeinträchti-
Sprache, die das Kind häufig hört. Neben gungen. Sind diese ersten Entwicklungs-
der Sprachwahrnehmung entwickelt sich phasen überwunden, zeichnet sich das
auch die Fähigkeit zu sprechen. Bereits im kindliche Gehirn durch ein hohes Maß an
3. Monat produzieren Babys Vokale und im Plastizität aus. Durch Hirnläsionen aus-

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4.10.  Weiterführende Literatur 109

gelöste Verhaltens- oder Kognitionsbeein- Sprache bei 3  Monate alten Babys? Was
trächtigungen können viel besser als bei kann man aus diesen Befunden ableiten?
Erwachsenen kompensiert werden. • Welche „Meilensteine“ der Sprachentwick-
• Die Reaktionszeiten bei Go-/No-go-Auf- lung in den ersten Lebensjahren kennen
gaben hängen vom Alter der Versuchsper- Sie?
sonen ab. Je jünger die Versuchspersonen, • Wie hängt die Entwicklung der psycho-
desto länger sind die Reaktionszeiten. metrischen Intelligenz mit der Entwicklung
• Die ERN-Amplituden werden mit zuneh- spezifischer Merkmale der Hirnanatomie
mendem Alter immer größer. zusammen?
• In welchem Zusammenhang steht die Ent-
wicklung der kortikalen Dicke mit der psy-
4.9. Fragen und Aufgaben chometrischen Intelligenz?

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Gibt es kritische Entwicklungsperioden des


• Welche Phasen der Embryonalentwicklung Gehirns?
können unterschieden werden? • Welche typischen alterskorrelierten Ver-
• Beschreiben Sie Neurulation, Migration, änderungen des EEGs kennen Sie?
Synaptogenese und Myelinisierung! • Wie verändern sich die ERN-Amplituden
• Was versteht man unter dem Drei-Bläs- mit dem Alter und welchen Grund hat dies?
chen-Stadium? • Was können Sie zur Hirnplastizität in den
• Welche wichtigen Entwicklungsstadien unterschiedlichen Entwicklungsphasen des
können in den ersten Lebensjahren unter- Gehirns sagen?
schieden werden?
• Wie entwickelt sich das Gehirngewicht bzw.
-volumen nach der Geburt bis zum Erwach- 4.10. Weiterführende Literatur
senenalter?
• Welche markanten Entwicklungsschritte Dosenbach, N. U., Nardos, B., Cohen, A. L., Fair,
der Hirnanatomie treten vom 5. bis zum D. A., Power, J. D., Church, J. A., Schlaggar,
20. Lebensjahr auf? B. L. (2010). Prediction of individual brain
• Wie unterscheiden sich Neurone, die von maturity using fMRI. Science, 329(5997),
1358–1361.
Tieren stammen, die in einer anregenden
Low, L. K., Cheng, H. J. (2006). Axon pruning: an
oder weniger anregenden Umgebung ge-
essential step underlying the developmental
halten werden?
plasticity of neuronal connections. Philos
• Welche linearen und nichtlinearen Alters- Trans R Soc Lond B Biol Sci, 361 (1473),
effekte im Hinblick auf die Hirnanatomie 1531–1544.
sind berichtet worden? Toga, A. W., Thompson, P. M., Sowell, E. R .
• Zu welchen Durchblutungsänderungen (2006). Mapping brain maturation. Trends
führt vorwärts oder rückwärts dargebotene Neurosci, 29(3), 148–159.

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111

5. Methoden der kognitiven


Neurowissenschaften
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5.2.  Klassische Methoden aus der kognitiven ­Psychologie 113

5.1. Einleitung gehören Versuchsanordnungen, mit denen Re-


aktionszeiten und Erkennensraten im Zusam-
Methoden sind für jede Wissenschaftsdis- menhang mit bestimmten kognitiven Aufga-
ziplin wichtig. Mit jeder Methodenentwick- ben gemessen werden. Auch die Registrierung
lung gehen Erkenntnisschübe für die jeweilige der Augenbewegungen kann Erkenntnisse für
Wissenschaftsdisziplin einher. Oft entwickeln die kognitive Psychologie liefern. So sind z. B.
die Methoden für eine bestimmte Periode viele Befunde und Theorien aus dem Bereich
eine Eigendynamik, insbesondere wenn sie der Leseforschung und der Verkehrspsycholo-
neu und attraktiv sind. Gerade in den kogniti- gie durch Augenbewegungsanalysen berei-
ven Neurowissenschaften haben in den letz- chert worden. Auch die Simulation realen Ver-
ten Jahren neue Methoden große Wirkung haltens durch Anwendungen aus der virtuellen
erreicht. Die Methoden (MRT, PET, EEG, Realität gewinnt zunehmend an Bedeutung,
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MEG, TMS, tDCS, NIRS), die in diesem Kapi- z. B. Fahrsimulatoren für die verkehrspsycho-
tel dargestellt werden, werden nicht nur in logische Forschung (Abb. 5-1). Mit Szenarien
den kognitiven Neurowissenschaften ein- aus der virtuellen Realität kann das menschli-
gesetzt, sondern insbesondere in der medizi- che Verhalten in Extremsituationen studiert,
nischen Forschung, aber auch im medizini- aber auch trainiert werden. Weiterhin zählen
schen Alltag. Verhaltensbeobachtungen zum Methodenin-
Bewusst wird im Folgenden auf die Dar- ventar der kognitiven Neurowissenschaften.
stellung der neurowissenschaftlichen Metho- Da diese Methoden ausführlich in anderen,
den verzichtet, die in Tierexperimenten ein- eher kognitionspsychologischen Lehrbüchern
gesetzt werden. beschrieben werden, werden sie in diesem
Lehrbuch nicht näher dargestellt.
Nicht außer Acht gelassen werden darf, dass
5.2. Klassische Methoden mit den eher klassischen Methoden der kogni-
aus der kognitiven ­ tiven Psychologie Theorien entwickelt wurden,
Psychologie die für die Gestaltung und Interpretation von
Experimenten der kognitiven Neurowissen-
In der kognitiven Psychologie und den kogni- schaften bedeutsam sind. Wichtig ist auch,
tiven Neurowissenschaften geht es v. a. da- dass viele Methoden aus der kognitiven Psy-
rum, die kognitiven Prozesse des Menschen chologie für die Anwendung mit den modernen
zu verstehen. Trotz der technischen Fort- neurowissenschaftlichen Methoden nutzbar
schritte, die im Zusammenhang mit der Er- gemacht werden. Ein weiterer, noch zu wenig
forschung des menschlichen Gehirns erreicht betriebener Forschungsbereich ist die Model-
wurden, muss immer wieder auf die Theorien lierung von Verhalten und Neuronensystemen.
und Methoden der kognitiven Psychologie In diesem Forschungsbereich werden mithilfe
zurückgegriffen werden. Insofern zählen auch von mathematischen Methoden Simulationen
die Methoden der kognitiven Psychologie zum durchgeführt, die auch für die kognitiven Neu-
Methodeninventar der kognitiven Neurowis- rowissenschaften wichtig sind; Beispiele sind
senschaften. Arbeiten zu künstlichen und realen neurona-
Im Wesentlichen werden in der kognitiven len Netzen und zur Modellierung mensch-
Psychologie Methoden zur Registrierung des lichen Verhaltens (Bischof, 1998; Dörner,
menschlichen Verhaltens eingesetzt. Hierzu 2003; ­Kalveram, 1998).

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114 5.  Methoden der kognitiven Neurowissenschaften

A) B)
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Augenbewegungskamera

C) D)
Ausgabeschicht

Zwischenschicht

Fahrsimulator Eingabeschicht

Abbildung 5-1: Typische Versuchsanordnungen in Verhaltensexperimenten. A) Computergesteuertes


Verhaltensexperiment; B) Brille zur Analyse von Augenbewegungen. Zusätzlich dargestellt sind einige
EEG-Elektroden; C) Fahrsimulator; D) systemtheoretische Modellierung.

5.3. Bildgebung Stoffwechselvorgänge) auf anatomische Struk-


turen beziehen. Mit bildgebenden Verfahren
Unter dem Begriff „bildgebende Verfahren“ können aber auch Rezeptorbesetzungen von
werden Methoden zusammengefasst, die es Medikamenten im Gehirn dargestellt werden.
erlauben, hirnanatomische Strukturen an- Typische bildgebende Verfahren sind
hand bestimmter Messwerte zu rekonstruie- • Magnetresonanztomografie (MRT oder
ren und möglichst präzise dreidimensional zu englisch: Magnetic Resonance Imaging,
visualisieren. Des Weiteren werden darunter MRI),
Methoden subsumiert, die den zeitlichen Ab- • Diffusion Tensor Imaging (DTI),
lauf eines physiologischen Prozesses (z. B. lo- • Sonografie (Messung von Schallreflexio-
kale Veränderung der Hirndurchblutung oder nen),

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5.3. Bildgebung 115

• Computertomografie (CT, Messung der nen. Des Weiteren ist festzustellen, dass durch
Röntgen-Absorption), die verbesserten Registrier- und Analyse-
• Szintigrafie (Aktivität eines Tracers), methoden das EEG immer interessanter für
• Positronen-Emissions-Tomografie (PET, die kognitiven Neurowissenschaften wird.
Messung der Tracerkonzentration), In den Verhaltenswissenschaften kommt
• Spektroskopie, der funktionellen und der strukturellen Mag-
• optische Bildgebung mittels Nahinfrarot- netresonanztomografie (fMRT und sMRT)
spektroskopie (NIRS). eine bedeutende Rolle zu, einerseits, weil sie
zur Entwicklung der Psychologie in den letzten
Ein wichtiges Prinzip der Bildgebung ist die Jahren einen wesentlichen Beitrag geleistet
Rekonstruktion der anatomischen Strukturen haben, andererseits, weil durch sie in der Zu-
anhand bestimmter Messwerte, sodass im- kunft ein bedeutsamer Erkenntnisgewinn zu
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mer ein mehr oder weniger komplexer Trans- erwarten ist. Die PET-Technologie hat den
formationsprozess zwischen den zwei- und bildgebenden Verfahren in den Verhaltens-
dreidimensionalen Bildern und den Messwer- wissenschaften zwar zum Durchbruch ver-
ten vorgenommen werden muss. Methoden, holfen, nimmt aber derzeit eher eine (aller-
die es erlauben, bestimmte physiologische dings zweifellos wichtige) Randstellung ein.
Vorgänge zu visualisieren, ohne dass ein di- Die neurowissenschaftliche Bildgebung kann
rekter bzw. präziser Bezug zu anatomischen grundsätzlich in zwei Teilbereiche unterschie-
Strukturen hergestellt wird, werden traditio- den werden: (1) die strukturelle und (2) die
nell nicht zu den bildgebenden Verfahren ge- funktionelle Bildgebung. Das Grundprinzip
rechnet. Typische Beispiele solcher Metho- dieser beiden Ansätze soll im Folgenden näher
den sind das Elektromyogramm (EMG), das erläutert werden.
Elektroenzephalogramm (EEG) und die Mag-
netenzephalografie (MEG). Diese Verfahren
erlauben zwar eine zeitlich hochaufgelöste Vi- 5.3.1. Magnetresonanztomografie –
sualisierung neurophysiologischer Vorgänge, das Grundprinzip
sie liefern jedoch keine genauen Informatio-
nen bezüglich der anatomischen Strukturen, Die meisten Magnetresonanztomografen kön-
die den neurophysiologischen Vorgängen zu- nen nicht nur zum Messen der Hirnanatomie,
grunde liegen. sondern auch zur Untersuchung anderer Or-
Insbesondere für die EEG- und MEG- gane eingesetzt werden. Neuerdings werden
Technologie werden derzeit mathematische auch sogenannte Kopftomografen angeboten,
Modelle entwickelt, die es erlauben, die ge- die nur für die Messung des Kopfes vorgesehen
messenen neurophysiologischen Vorgäng0e sind. Prinzipiell besteht ein Magnetresonanz-
auf die jeweiligen anatomischen Strukturen zu tomograf aus einer Röhre, die von einem Mag-
beziehen, die an der Generierung der physio- netfeld mit hoher Feldstärke (1–7 Tesla) umge-
logischen Aktivität beteiligt sind. Die hierzu ben ist. Der Proband wird auf einer Liege in
verwendeten Modelle sind teilweise komplex diese Röhre hineingeschoben, sodass er sich in
und bergen eine Reihe von Problemen. Die dem Magnetfeld befindet. Der Kopf ist in einer
mathematischen Weiterentwicklungen zur Spule fixiert, um Kopfbewegungen zu vermei-
(annähernden) Lösung dieser Probleme sind den bzw. zu minimieren (Abb. 5-2). Da die Mes-
derzeit so weit fortgeschritten, dass die EEG- sungen in einer magnetischen Umgebung er-
und die MEG-Technologie zunehmend zu den folgen, müssen die im MR-Scanner nutzbaren
bildgebenden Verfahren gezählt werden kön- Geräte wie Reaktionstasten, Kopfhörer, Brillen

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116 5.  Methoden der kognitiven Neurowissenschaften
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Abbildung 5-2: Schematische Darstellung eines Magnetresonanztomografen.

oder andere spezielle Versuchsgeräte antimag- (i) Das physikalische Grundprinzip


netisch sein. Mittlerweile sind auf pneumati- Grundlage der MRT, die in den meisten kogni-
scher Basis funktionierende Pedalsysteme und tionswissenschaftlichen Studien verwendet
Apparaturen erhältlich, mit denen kontinuier- wird, ist der „Kernspin“ des Wasserstoffatoms
liche Armbewegungen gemessen werden kön- (H). Der Kernspin ist eine Grundeigenschaft
nen. Ferner ist von einem MRT-kompatiblen von Elementarteilchen und prinzipiell nichts
Klavier berichtet worden. Wichtig ist auch, anderes als ein Drall bzw. eine Drehung (eng-
dass während der Messung am und im Kör- lisch: to spin = sich drehen). Um diesen Spin zu
per des Probanden keine metallischen Objekte verstehen, muss man sich die Grundstruktur
angebracht sind. Dies könnte einerseits zu des Wasserstoffatoms vorstellen. Wasserstoff-
Messfehlern, andererseits aber auch zu le- atome besitzen einen Kern, der nur aus einem
bensgefährlichen Verletzungen führen. Per- Teilchen, dem Proton, besteht. Um dieses
sonen mit Herzschrittmacher können daher Proton kreist das Elektron. Das Proton ist po-
nicht im MR-Scanner untersucht werden. sitiv, das Elektron negativ geladen und das
Durchschnittlich dauern MRT-Messungen im ganze Atom ist somit elektrisch neutral. Unter
Rahmen von psychologischen Experimenten dem Spin wird die Eigendrehung des Protons
ca. 30 Minuten bis 2 Stunden. Die Probanden verstanden  – das Proton dreht sich also um
befinden sich während des gesamten Versuchs seine eigene Achse wie ein Kreisel. Da das
in einer relativ engen Röhre und nicht wenige Proton eine rotierende Ladung besitzt, verhält
Versuchspersonen empfinden diese Situation es sich wie ein kleiner Stabmagnet (Abb. 5-3),
als unangenehm. was zur Folge hat, dass es von Magnetfeldern

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5.3. Bildgebung 117

Abbildung 5-4: Sind die Protonen in einem Mag-


Abbildung 5-3: Schematische Darstellung eines netfeld platziert, orientieren sie sich entweder
Protons, dass infolge seines Spins ein magneti- „parallel“ oder „antiparallel“.
sches Feld aufbaut. N und S stehen für Nord und
Süd und repräsentieren die jeweiligen Pole des
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Magnetfeldes. aus. Die entstehenden Kreiselbewegungen der


Spins erfolgen mit einer charakteristischen
und elektromagnetischen Wellen beeinflusst Frequenz, die als Larmorfrequenz12 bezeich-
wird. Gleichzeitig kann durch die Bewegung net wird. Diese Frequenz ist proportional zur
des Protons in einer Empfangsspule eine Span- Stärke des äußeren Magnetfelds (je größer die
nung induziert werden, die letztlich als MR- Magnetfeldstärke, desto höher die Larmorfre-
Signal dient. quenz). Mit der Zeit richten sich die Spins pa-
Fassen wir zusammen: Die Drehung des rallel zum äußeren Magnetfeld aus.
Protons (Spin) erzeugt ein schwaches Mag- Die in einem Magnetfeld präzessierenden
netfeld, sodass sich das drehende Proton Spins „beruhigen“ sich und streben einen sta-
wie ein kleiner Stabmagnet verhält. Dieser bilen Zustand an, in dem alle Spins mehr oder
kleine Stabmagnet kann durch ein äußeres weniger entlang der magnetischen Achse aus-
Magnetfeld beeinflusst werden. Die Bewe- gerichtet sind. Das heißt, mit zunehmender
gung des Protons erzeugt letztlich ein mess- Ausrichtung der Spins in dem Magnetfeld baut
bares Signal. sich eine Längsmagnetisierung (Mz) auf. Um
Anhand dieser physikalischen Grundeigen- eine große Längsmagnetisierung zu erhalten,
schaft lässt sich erklären, wie in der Magnet- muss ein starkes Magnetfeld anliegen. Han-
resonanztomografie gemessen wird. Werden delsübliche MR-Tomografen generieren sehr
Spins in ein starkes Magnetfeld gebracht, sind starke Magnetfelder, die wesentlich stärker
verschiedene für die MRT wichtige Phäno- (20 000- bis 100 000-mal) als die Erdanzie-
mene zu beobachten. Wie erwähnt, sind Spins hungskraft sind.
gewissermaßen Kreisel: Wirkt eine äußere Sind die Spins durch ein äußeres Magnet-
Kraft auf einen Kreisel ein, um die Lage der feld entlang der Magnetfeldlinie ausgerichtet
Rotationsachse zu verändern, macht der Krei- worden, befinden sie sich in einem relativ sta-
sel eine Ausweichbewegung, die als Präzessi- bilen Zustand (Abb. 5-4). Wird diesem stabilen
onsbewegung bezeichnet wird. Wirken stän- Zustand (der als Spin-Spin-System bezeichnet
dig Kräfte auf die Spitze des Kreisels ein, wird) mittels eines Hochfrequenzimpulses
entsteht eine Reibung, die dem Kreisel Ener- (elektromagnetische Welle hoher Frequenz)
gie entzieht und ihn bremst. Dadurch neigt
sich die Drehachse zunehmend, bis der Kreisel
12  Die Larmorfrequenz ist die Präzessionsfrequenz
quasi „umfällt“. eines Spins in einem Magnetfeld. Die Larmorfre-
Durch ein von außen angelegtes Magnetfeld quenz ist proportional zur Magnetfeldstärke (B0)
richten sich die Spins entlang des Magnetfeldes und ergibt sich aus der Larmorgleichung.

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118 5.  Methoden der kognitiven Neurowissenschaften

Energie zugeführt, wird dieses System gestört. dem Hochfrequenzimpuls bewegen sich die
Die „eingestrahlte“ elektromagnetische Welle Spins wieder in die Ausgangslage zur Längs-
wird durch einen sehr starken Radiosender er- magnetisierung zurück: Dieser Vorgang wird
zeugt und mit einer geeigneten Spule auf das Relaxation genannt.
Gehirn fokussiert. Die Rotation der Spins in der Horizontal-
Durch diese Energiezufuhr werden die ebene (Mxy) schwächt sich zunehmend ab und
Spins quasi „umgeklappt“ bzw. „gekippt“. Die- die Spins kehren wieder zum Ausgangszustand
ser Vorgang wird auch als Anregung des Spin- (Mz) zurück. Zwei Vorgänge sind an diesem
Spin-Systems bezeichnet. Durch die Wahl ge- „Rückbildungsprozess“ beteiligt: die Spin-Git-
eigneter Hochfrequenzimpulse (Dauer und ter-Wechselwirkung und die Spin-Spin-Wech-
Leistung sind wichtige Parameter) kann die selwirkung. Die Spin-Gitter-Wechselwirkung
„Kippart“ sehr präzise beeinflusst werden. Ei- wird auch als T1-Relaxation (Längsrelaxation)
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nige Hochfrequenzimpulse erreichen eine und die Spin-Spin-Wechselwirkung als T2-Re-


Auslenkung der Längsmagnetisierung um ge- laxation (Querrelaxation) bezeichnet.13
nau 90° (90°-Impulse); andere Impulse kön- Für die anatomischen Messungen sind die
nen eine Auslenkung von 60° oder 50° errei- Relaxationszeiten sehr wichtig. Jeder Gewe-
chen. Damit werden alle Spins und mit ihnen betyp verfügt über typische Relaxationszei-
die gesamte Magnetisierung „umgeklappt“, ten, was bedeutet, dass sich je nach Gewebe
sodass eine Quermagnetisierung (Mxy) ent- die Quer- und Längsmagnetisierungen un-
steht. Die Spins haben jedoch die Tendenz, terschiedlich schnell zurückbilden. Anhand
wieder in die Ausgangslage (Mz) zurückzukeh- der typischen Relaxationszeiten kann be-
ren (Abb. 5-5). Im Fachjargon wird dieser Vor- rechnet werden, welcher spezifische Gewe-
gang Erholung oder Relaxation genannt. betyp (graue oder weiße Substanz) „angeregt“
Fassen wir zusammen: Die Spins richten wurde. Der jeweils angeregte Gewebetyp wird
sich in einem starken äußeren Magnetfeld als Graustufe in den digitalen Bildern dar-
längs des Magnetfeldes aus: Längsmagnetisie- gestellt.
rung (Mz). Durch Applikation eines hochfre-
quenten Impulses können sich die Spins zum
Strukturelle Bildgebung
„Umklappen“ in die Horizontale bewegen:
Dies ist die Quermagnetisierung (Mxy). Nach Unter dem Begriff „strukturelle Bildgebung“
wird die Analyse von neuroanatomischen Da-
ten verstanden, die mittels Magnetresonanz-
tomografie erhoben wurden. Die strukturelle
z Bildgebung hat interessante Befunde v. a. im
Zusammenhang mit der Plastizitätsforschung
erbracht, z. B. konnten neuroanatomische Ver-
Mz änderungen infolge von Lernprozessen, von
Reifung oder im Zusammenhang mit neurolo-
x y Mxy
gischen und psychiatrischen Erkrankungen
Abbildung 5-5: Dargestellt sind die drei Dimensio-
nen (auch Ebenen genannt), die zur Beschreibung 13  Bislang wurden die Spins und die zugehörigen
des Magnetfeldes herangezogen werden. Mz ist die physikalischen Effekte für Wasserstoffatome be-
Longitudinalmagnetisierung und Mxy die Quermag- schrieben. Natürlich können ähnliche Effekte auch
netisierung. Nach der Anregung „kippt“ der Spin für andere Elemente mit ungerader Ladungszahl
aus der Längsrichtung in die Querrichtung. gefunden werden.

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5.3. Bildgebung 119

Tabelle 5-1: Relaxationszeiten (in ms) für bestimmte Hirnkompartimente bei 1 Tesla (T)
(aus Jäncke, 2005).

Gewebe T2 [ms] T1 [ms] bei 1.0 T


graue Hirnsubstanz  101  810
weiße Hirnsubstanz   92  680
Fett   84  250
Zerebrospinalflüssigkeit 1400 2500

dargestellt werden. Während in den Anfän- weißen Substanz zuzuordnen sind, werden
gen der strukturellen Bildgebung einzelne voneinander getrennt);

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anatomische Strukturen manuell segmentiert Modellierung von lokalen und globalen


wer­den mussten, werden gegenwärtig kom- Formaspekten des Gehirns (bei diesem Ver-
plexe mathematische Methoden angewendet, arbeitungsschritt werden die Gesamtform
um die anatomischen Analysen automatisch des Gehirns und die lokalen Hirnbereiche
durchzuführen. Diese Analysen (Computatio- modelliert);
nal Neuroanatomy) können auf unterschiedli- • Modellierung der Form und des Verlaufs
che Art erfolgen: von markanten Sulci;
• Stereotaktische Normalisierung des gemes- • Schätzung der Kortexdicke oder der Gyrifi-
senen Gehirns in einen „Standardraum“; zierung (Faltungsgrad).
dieser stereotaktische „Standardraum“
wird entweder nach den Vorgaben der Neu- Zur digitalen Weiterverarbeitung der regis-
rochirurgen Talairach und Tornoux (1988) trierten Gehirne werden diese in kleine Wür-
oder nach den Vorgaben des Montreal Neu- fel zerlegt, sogenannte Voxel14 (Abb. 5-6 und
rological Institute (MNI) durchgeführt; Abb. 5-7), die unterschiedlich groß sein kön-
• Segmentierung der grauen und weißen nen. In der strukturellen Bildgebung haben
Substanz (Hirnanteile, die der grauen und diese Voxel meist eine Kantenlänge von
1 mm, was bedeutet, dass sie ein Volumen von
1 mm3 aufweisen. Jeder Voxel codiert be-
stimmte anatomische Kennwerte (z. B. die
Dichte der grauen oder weißen Substanz oder
die Anisotropie von Kabelsystemen). Nach
erfolgreicher Transformation in den Stan-
dardraum kann jeder einzelne Voxel statis-
tisch analysiert werden (sog. Voxel-basierte-
Morphometrie, VBM).

14  Der Begriff Voxel setzt sich aus den Wörtern


„volumetric“ und „pixel“ zusammen. Hierbei han-
delt es sich um das dreidimensionale Äquivalent ei-
nes Pixels („Volumenpixel“). In diesen Voxeln sind
Farbwerte (oder Grauwerte) gespeichert, die im
Abbildung 5-6: Digitale Rekonstruktion des Ge- Rahmen der Bildgebung zur Rekonstruktion der
hirns und Schädels mittels kleiner Würfel (Voxel). anatomischen Bilder genutzt werden.

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Abbildung 5-7: Voxel auf Horizontalschnitten. Eingezeichnet sind auch noch Voxel mit besonderen
Eigenschaften.

Die VBM-Methode beinhaltet verschiedene der anatomische Datensatz mit einer räumli-
Schritte. Zunächst müssen die digitalen Ge- chen Auflösung von 1 mm3 gemessen wurde,
hirne in einen stereotaktischen Standardraum dann folgen daraus mehr als 1 Million (!) t-
transformiert werden. Anschließend erfolgt Tests, da mehr als 1 Million Voxel mit einem
die statistische Analyse getrennt für jeden ein- Volumen von 1 mm3 in diesem Volumendaten-
zelnen Voxel, wobei statistische Probleme auf- satz enthalten sind. Wird ein räumlicher Glät-
treten: Für jeden Voxel der grauen und weißen tungsfaktor von 8 mm3 verwendet, gehen in
Substanz ist ein Grauwert codiert. Will man die Berechnung eines geglätteten Voxels 381
zwei Personengruppen miteinander verglei- Voxel ein. Durch die „räumliche Glättung“ re-
chen, wird jeder Voxel der einen Gruppe mit duziert sich die Anzahl der unabhängigen
dem korrespondierenden Voxel der anderen „Voxel“ in Abhängigkeit des Glättungsfaktors.
Gruppe mittels eines t-Tests verglichen. Wenn Diese so neu berechneten unabhängigen Voxel

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5.3. Bildgebung 121

nennt man „Resel“ (1 Resel = 381,00 Voxel). Anisotropie Diffusivität


Um die Inflation des Alpha-Fehlers zu vermei-
den, muss eine Korrektur dieses Fehlers erfol-
gen, was über die Korrektur des Signifikanz-
niveaus anhand der Anzahl der Resel erreicht
wird. D. h., die statistischen Tests sind anhand
der Anzahl der Resel (voneinander unabhän-
gige Volumina) korrigiert. Mit größerem räum-
lichen Glättungsfaktor nimmt die Anzahl der
Resel ab und damit die Aussagekraft des statis-
Abbildung 5-8: Darstellung einer DTI- Aufnahme
tischen Tests zu.
(Diffusion Tensor Imaging). In der Abbildung links
VBM-Analysen werden anhand von Grau-
ist die Anisotropie dargestellt. Man erkennt in
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werten, Kennwerten der Iso- bzw. der Aniso- Weiß die kortikalen Assoziationsbahnen und
tropie, der kortikalen Dicke und von Deforma- Kommissuren. Rechts ist die Diffusivität dar-
tionskennwerten an der Kortexoberfläche be- gestellt. Dieser Kennwert repräsentiert das Aus-
rechnet. Hervorzuheben sind die anatomischen maß der Diffusion in einem Kompartiment. Man
Kennwerte „Anisotropie“ und „kortikale Di- erkennt, dass die Diffusivität in den Ventrikeln am
cke“, die in jüngster Zeit sehr erfolgreich zur größten ist (starke Weißfärbung).
Vermessung anatomischer Besonderheiten ein-
gesetzt worden sind (Imfeld et al., 2009). Die
kortikale Dicke und die kortikale Fläche sind neter MR-Sequenzen, die für die Diffusion
sehr wahrscheinlich Marker für unterschiedli- sensitiv sind, können diese Unterschiede ge-
che Phänomene. Während die kortikale Fläche nutzt werden, um Signalunterschiede in der
durch die Faltung des Kortex bereits in der feta- Bildgebung zu erzeugen. Quantifiziert wird v. a.
len Entwicklung (ab dem 5. Monat) beeinflusst, die „Anisotropie“15, d. h. der Grad der Ein-
wenn nicht gar festgelegt wird, kann sich die schränkung der Diffusion. Sie ist in den Kabel-
kortikale Dicke im Laufe eines Lebens teilweise systemen des Gehirns am größten und in den
erheblich verändern. Wichtige Einflussgrößen Ventrikeln am geringsten (Abb. 5-8). Mit neuen
für die kortikale Dicke sind neben der Reifung, mathematischen Methoden kann anhand der
Lernen und Erfahrung aber auch krankheits- Grauwertverteilung der gemessenen anatomi-
bedingte Einflüsse. schen Bilder die kortikale Dicke berechnet
Bei der diffusionsgewichteten MRT (Diffu- werden. Anhand dieses Parameters wurden
sion Tensor Imaging, DTI) werden Unter- bemerkenswerte Funktionszusammenhänge
schiede in der Diffusion der Wassermoleküle aufgedeckt (Shaw et al., 2006).
innerhalb des Zentralnervensystems gemes- Die strukturelle Bildgebung hat immense
sen. Die Diffusion repräsentiert die zufällige Fortschritte gemacht und bemerkenswerte
thermische Bewegung der Moleküle, die auch Befunde erbracht, die für die Psychologie und
als Brownsche Molekularbewegung bekannt die kognitiven Neurowissenschaften von gro-
ist. Die Diffusion innerhalb des Zentralnerven- ßer Bedeutung sind. Besonders erwähnens-
systems ist durch eine Vielzahl von Faktoren wert sind Ergebnisse, welche die anatomische
einschließlich der Architektur der Mikroumge-
bung determiniert. Sie ist z. B. innerhalb des
15  Isotrop bedeutet, dass die Diffusion mehr oder
Liquors weniger eingeschränkt als die Diffu- weniger gleichmäßig in alle Richtungen verläuft.
sion der Moleküle innerhalb des Intra- und In- Anisotrop bezeichnet dagegen eine Diffusion nur in
terzellularraums. Durch Verwendung geeig- eine oder einige Richtungen.

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Plastizität nach kurz- und langfristigem Lernen an die Umgebung abgegeben hat. Wenn in ei-
verschiedener Inhalte belegen. Des Weiteren nem lokalen Gewebeteil vermehrt leicht mag-
konnten bislang anatomische Reifungsver- netisches Deoxyhämoglobin vorhanden ist,
läufe, strukturelle Veränderungen bei psychia- stört dies das MR-Signal. Für die MRT bedeu-
trischen und psychischen Störungen sowie ana- tet dies konkret, dass die MR-Signalstärke ab-
tomische Besonderheiten bei herausragenden nimmt, wenn im Gewebe die Konzentration
Musikern herausgearbeitet werden (Jäncke, des Deoxyhämoglobins zunimmt, umgekehrt
2009; May, 2011). nimmt die Signalstärke zu, wenn die Konzen-
tration des Deoxyhämoglobins abnimmt.
Dieser Reaktionsablauf (blood oxygenation
Funktionelle Bildgebung
level dependent, BOLD) ist die Grundlage
Funktionelle Magnetresonanztomografie der meisten fMRT-Messungen in den kogniti-
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(fMRT) ven Neurowissenschaften (Abb. 5-9).


Bei der funktionellen Bildgebung werden phy- In der Literatur wird die BOLD-Reaktion
siologische Prozesse auf die Hirnanatomie häufig als „Aktivierung“ bezeichnet, obwohl
bezogen. Bei der funktionellen Magnetreso- das eigentlich nicht ganz korrekt ist, denn es
nanztomografie wird die in Abhängigkeit von handelt sich nur um ein indirektes Aktivie-
der neuronalen Erregung sich verändernde rungsmaß. Korrekterweise müsste von einer
lokale Gewebedurchblutung genutzt. Abhän- hämodynamischen Reaktion gesprochen wer-
gig von der fokalen neuronalen Aktivität
nimmt die Durchblutung des neural aktivier-
ten Gewebes zu, wobei ein lokaler Überschuss
an sauerstoffreichem Blut (oxygeniertes Blut)
Signalintensität

entsteht. Als Folge dieses Überschusses nimmt


die Konzentration des sauerstoffarmen Bluts
(deoxygeniertes Blut mit angereichertem
Deoxyhämoglobin) ab.16 Durch den Über-
schuss an sauerstoffreichem Blut wird die re- 4s 8s 12 s
lative Konzentration des Deoxyhämoglobins
Zeit
reduziert und damit die gemessene Signal- Hb, HbO, Poststimulus
Initial dip BOLD undershoot
intensität stärker. Wesentliche Grundlage der
Signalintensität ist die Konzentration des Deo- Abbildung 5-9: Schematische Darstellung der
xyhämoglobins. Deoxyhämoglobin ist leicht BOLD-Reaktion auf einen externen Reiz. Etwa
magnetisch, weil es bereits ein Sauerstoffatom 500 ms nach Reizpräsentation kann eine Ab-
nahme der Signalintensität gemessen werden,
was auf die Zunahme der Konzentration des pa-
16  Das ist ein nicht einfach zu verstehendes Phäno-
ramagnetischen Deoxyhämoglobin im aktivierten
men. Wenn in den Neuronen Energie verbraucht
Hirngebiet zurückzuführen ist. Danach beginnt
wird, dann wird auch Sauerstoff nötig. Diesen Sauer-
stoff gewinnt das System über die Abspaltung von der kompensatorische Einstrom von sauerstoff-
Sauerstoff vom Hämoglobin, es entsteht Deoxyhä- reichem Blut in das aktivierte Hirngewebe, was zu
moglobin. Das bedeutet, dass beim Energiever- einem Anstieg der Signalintensität führt, der bis
brauch absolut mehr Deoxyhämoglobin entsteht. zu 8 s andauert, um dann wieder abzunehmen.
Weil aber leicht zeitverzögert ein Überschuss an Danach ist eine Abnahme der Signalintensität ca.
oxygeniertem Blut in das Gewebe einfließt, nimmt 12 s nach dem Stimulusbeginn zu erkennen. Un-
die Konzentration des Deoxyhämoglobins (trotz Zu- gefähr 20 s nach Reizpräsentation hat sich der
nahme der absoluten Menge) ab. Blutfluss wieder normalisiert.

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5.3. Bildgebung 123

den, denn letztlich wird eine Durchblutungs- lyse wieder stark reduziert wird, denn in der
veränderung gemessen. Im Übrigen ist der Regel werden sogenannte räumliche Filter von
Zusammenhang zwischen dieser hämodyna- 4 bis 16 mm3 eingesetzt, um Artefakte zu ver-
mischen Reaktion und der zugrunde liegenden mindern, was die räumliche Auflösung erheb-
neuronalen Aktivität nicht perfekt. Neue Un- lich einschränkt.
tersuchungen zeigen, dass die hämodyna- In kognitionswissenschaftlichen Experi-
mischen Reaktionen bereits vor der durch äu- menten werden prinzipiell zwei unterschied-
ßere Reize evozierten neuronalen Aktivität liche fMRT-Paradigmen angewendet: das
beginnen können und dass die Korrelationen „Block-Design“ und das „Event-related-De-
zwischen diesen und den zugrunde liegenden sign“. Bei einem „Block-Design“ wird eine
neuronalen Aktivitäten nur im Bereich von Serie von fMRT-Bildern aufgenommen, bei
r = 0.5–0.7 liegen. Insofern ist bei der Inter- der die experimentelle Bedingung nicht reali-
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pretation von fMRT-Experimenten Vorsicht siert wird (Off-Bedingung oder Kontrollbedin-


geboten (Logothetis, 2008). Diese BOLD-Re- gung), gefolgt von einer Bildserie, bei der die
aktion ist relativ langsam und erreicht ca. 4–8 s experimentelle Bedingung realisiert wird (On-
nach Beginn der neuronalen Erregung ihr Re- Bedingung, Experimentalbedingung). Durch
aktionsmaximum; danach benötigt sie ca. geeignete statistische Subtraktion können die
8–15 s, um sich wieder abzuschwächen und beiden Bedingungen miteinander verrechnet
auf das Ausgangsniveau zurückzukehren. Das und jene Hirngebiete identifiziert werden, die
bedeutet, dass mit der BOLD-Reaktion nur in den jeweiligen Bedingungen stärkere hämo-
langsame „Hirnaktivierungen“ ausgelöst wer- dynamische Reaktionen zeigen. Bei „Event-
den können. related-Designs“ (Event-related Functional
Aus der kognitiven Psychologie ist bekannt, Magnetic Resonance Imaging, efMRI) werden
dass sich die psychologischen Prozesse im die experimentellen Reize gemäß dem gewähl-
Millisekundenbereich entfalten und daher ten Versuchsplan randomisiert dargeboten. Bei
mittels fMRT nicht aufgelöst werden können. entsprechend gewählten Interstimulusinterval-
Anhand ausgeklügelter mathematischer Mo- len ist es dann möglich, für jede Stimulusklasse
delle wird aktuell versucht, den Anstieg und hämodynamische Reaktionen zu berechnen.
das Plateau der BOLD-Reaktion genau zu Voraussetzung ist lediglich, dass ein entspre-
messen und die zeitliche Auflösung zu verbes- chend langes Interstimulusintervall (ISI) ge-
sern. Manche Autoren berichten von zeitlichen wählt wird, um die hämodynamischen Reaktio-
Auflösungen im Bereich von 100 ms bei Ver- nen zu berechnen. Prinzipiell ist diese Form der
wendung spezieller Messsequenzen und der Datengewinnung sehr ähnlich der Datengewin-
Messung kleiner Hirnbereiche. Bislang konn- nung beim evozierten Potenzial; auch bei dieser
ten diese Angaben allerdings nicht präzisiert Methode werden einzelne EEG-Ereignisse ge-
und verifiziert werden. Ein großer Vorteil der sammelt und dann gemittelt.
fMRT ist allerdings die hohe räumliche Auf- Eine besondere Herausforderung stellt die
lösung, die bei Verwendung geeigneter Mess- statistische Analyse der fMRT-Daten dar.
sequenzen bei 1–4 mm3 liegt. Mit neuen Grundsätzlich umfasst sie zwei Schritte: Im
7-Tesla-Geräten können, zumindest für die ersten Schritt wird für jede Versuchsperson
strukturelle Bildgebung, räumliche Auflösun- statistisch überprüft, ob sich in Abhängigkeit
gen unterhalb von 1 mm3 erreicht werden. vom experimentellen Paradigma signifikante
Trotz der prinzipiell hohen räumlichen Auf- Veränderungen der BOLD-Reaktion einge-
lösung darf nicht außer Acht gelassen werden, stellt haben. Das Grundprinzip der statisti-
dass diese Auflösung bei der statistischen Ana- schen Auswertung besteht darin, dass der

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124 5.  Methoden der kognitiven Neurowissenschaften

Zeitverlauf der MRT-Signalveränderung mo- statistischen Analyse von fMRT-Daten ab.


delliert wird. Unter „Modellieren“ versteht Hervorzuheben sind die verschiedenen Vari-
man, dass das experimentelle Paradigma als anten von Konnektivitätsanalysen (Stephan &
lineares Modell definiert wird. Daraus wird Friston, 2010).
eine Modellzeitreihe definiert, die mit dem
tatsächlichen Signalverlauf eines jeden Voxels Positronen-Emissions-Tomografie
korreliert wird. Für jeden Voxel wird mittels Mit der Positronen-Emissions-Tomografie
eines t-Werts (oder anderer Statistiken) co- (PET) werden lokale Konzentrationen von
diert, wie gut die BOLD-Reaktion in diesem radioaktiv markierten Substanzen in be-
Voxel dem Modell entspricht. Für Gruppen- stimmten Hirngebieten gemessen. Ist ein be-
analysen werden dann die Befunde zu Grup- stimmtes Hirngebiet neuronal erregt, nimmt
penstatistiken zusammengefasst. Grundsätz- die Durchblutung zu. Dies hat zur Folge, dass
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lich muss auch bei der Auswertung von fMRT- die radioaktiv markierten Substanzen in die-
Daten berücksichtigt werden, dass simultan sen Hirngebieten mit höherer Konzentration
sehr viele Voxel statistisch analysiert werden. vorliegen. Radioaktive Marker werden dem
Aus diesem Grund ist wie bei der VBM-Ana- Organismus von außen über die Blutbahn als
lyse eine Korrektur der Wahrscheinlichkeiten organische Moleküle zugeführt, die Atome
anhand der Anzahl der durchgeführten statis- beinhalten, die Isotope ihrer natürlichen Ur-
tischen Tests zwingend notwendig. Derzeit sprungsform sind. Solche Isotope senden
zeichnen sich Weiterentwicklungen in der (emittieren) positiv geladene Teilchen (Posi-
tronen), die mit negativ geladenen Teilchen
(Elektronen) interagieren und dabei Photo-
nen produzieren (Abb. 5-10). Diese Photonen
Detektor werden mit entsprechenden Sensoren ge-
messen, die um den Kopf des Probanden
herum angeordnet sind. Der Proband liegt
Photon
wie im Magnetresonanztomografen in einer

Positron Elektron

Annihilation
Photon

Detektor

Abbildung 5-10: Schematische Darstellung eines


strahlenden Photonenpaars. Man erkennt links
ein Positron und rechts ein Elektron. Beide bewe-
gen sich aufeinander zu, um sich nach Kollision
zu annihilieren. Es entsteht ein Photonenpaar, Abbildung 5-11: Schematische Darstellung von
das sich jeweils in die entgegengesetzte Richtung Detektoren, die um den Kopf des Probanden he-
entfernt und von entsprechenden Detektoren ge- rum angeordnet sind. Diese Detektoren messen
messen wird. die Photonenstrahlung.

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5.4. Elektrophysiologie 125

Röhre und ist von den Sensoren umgeben 5.4. Elektrophysiologie


(Abb. 5-11).
Die Positronen emittierenden Isotope Der deutsche Psychiater Hans Berger hat 1920
werden in speziellen Teilchenbeschleunigern eine Methode entwickelt (1929 publiziert),
(den Cyclotronen) hergestellt. Anschließend mit der Hirnströme17 gemessen werden kön-
werden diese Isotope mit anderen che- nen. Diese Methode ist heute unter dem Na-
mischen Substanzen kombiniert, um organi- men Elektroenzephalografie (EEG) bekannt
sche Moleküle zu schaffen, welche die natür- und immer noch die am häufigsten in den ko-
lich im Organismus vorkommenden (nicht gnitiven Neurowissenschaften genutzte Me-
radioaktiven) Substanzen ersetzen können. thode. Was Hans Berger als „Hirnströme“
Typische Substanzen sind radioaktiv mar- bezeichnet hat, sind die elektrischen Signale,
kiertes Wasser, 2-Fluoro-2-deoxy-8-glucose welche die Nervenzellen generieren. Im Rah-
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(FDG) und 6-Fluoro-L-DOPA. Radioaktiv men von Humanexperimenten werden diese


markierte Substanzen werden im Englischen Signale in der Regel an der Schädeloberfläche
„probes“ oder auch „tracer“ genannt. Durch abgeleitet. Selten werden intrazerebrale Ab-
das Zuführen dieser radioaktiven Substanzen leitungen durchgeführt, meist im Zusam-
sind Wiederholungsmessungen an den glei- menhang mit neurochirurgischen Eingriffen,
chen Versuchspersonen innerhalb kurzer wobei der Schädel geöffnet wird und die Elek-
Zeitabstände ethisch und medizinisch nicht troden entweder direkt auf der Kortexoberflä-
vertretbar. che (Elektrokortikogramm) angebracht oder in
Anhand der räumlichen Verteilung der das Gewebe eingeführt werden.
emittierten Photonen kann auf den anatomi- EEG-Registrierungen werden mit einer
schen Ursprungsort der Photonenstrahlung unterschiedlichen Anzahl von Elektroden (19
geschlossen werden. Die räumliche Präzision bis 256) durchgeführt. Die Elektrodenanord-
moderner PET-Scanner liegt bei ca. 2–8 mm3. nung auf der Kopfoberfläche orientiert sich an
Die Halbwertszeit der verwendeten Isotope dem internationalen 10-20-System (Jasper,
bestimmt im Wesentlichen die zeitliche Auf- 1958). Bei mehr als 32 Elektroden wird das
lösung. Damit ist die zeitliche Auflösung der System von Oostenveld und Praamstra (2001)
PET-Messung auf einen Zeitbereich von eini- herangezogen (Abb. 5-12). Hierbei wird die Po-
gen Minuten beschränkt. sition jeder Elektrode mit Buchstaben und
Seit dem Aufkommen der fMRT-Techno- Nummern gekennzeichnet. Großbuchstaben
logie werden klassische Kognitionsfragestel- indizieren die grobe anatomische Position be-
lungen zunehmend eher mit dieser neuen zogen auf die unter dem Schädel lokalisierten
nichtinvasiven Technik bearbeitet. Gehirnlappen (F: frontal, T: temporal, P: parie-
Der größte Vorteil der PET ist in der korti- tal, O: okzipital). Eine Ausnahme bildet die
kalen Lokalisierung von Neurotransmittern Position C, die sich ungefähr an der Position
und deren Rezeptoren zu sehen. So ist es z. B. des Sulcus centralis orientiert. Diese Buchsta-
möglich, nicht nur die räumliche Verteilung ben werden mit Nummern versehen, um ihre
der klassischen Neurotransmitter (und deren genaue Position zu kennzeichnen, wobei den
Rezeptoren) wie Dopamin und Serotonin zu über der linken Hemisphäre lokalisierten Elek-
kartieren, sondern auch die Verteilung der
Opiat- und Benzodiazepin-Rezeptoren. Solche
Analysen sind besonders bedeutsam für psy- 17 Berger spricht in seiner Originalpublikation
chiatrische, aber auch neurologische Fra- manchmal von „Strömen“ oder auch von „Kurven“
gestellungen. (Berger, 1929).

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126 5.  Methoden der kognitiven Neurowissenschaften

B)
A) Nasion
10 %
Vertex
Pg Pg
20 % 1 2
Fz Cz
20 % F p1 F p2 20 %
20 %
20 %
C3 F3 Fz F4
F3 Pz F7 F8
Fz 20 %
20 % P3
20 %
F7 A1 A2
10 % T3 C3 Cz C4 T4
T3
T5
O1
Nasion 10 %

10 % 20 %
T5
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P3 P4 T6
A1 Pz
präaurikulärer
Inion
Pg 1 Punkt O2
O1
20 %

C) NZ
10 %
Inion
Fpz
Fp1 Fp2
AF AF
7 AF AF AF 8
F 3 z 4
9 F10
F F
7 F F F F F F F6 8
5 3 1 z 2 4
FT 9 FT
FT FC5 FT 8 10
7 FC FC FC 2 FC 4 FC 6
3 1 FC z

A2 T9 T C5 C3 C1 Cz C2 C4 C8 T A2
7 8 T 10

CP CP CP CP CP
TP CP 3 1 z 2 4 CP TP
TP 7 5 6 8 TP
9 10
P3 P1 Pz P2 P4
P5 P6
P P
P9 7 8 P
PO 10
3 PO PO
PO z 4 PO
7 8
O1 O2
Oz

Iz

Abbildung 5-12: Im oberen Bildteil ist ein 10-20-Montage dargestellt. Im unteren Teil erkennt man eine
10-10-Montage für 64 Elektroden.

troden ungerade und den über der rechten Eine 10-20-Montage beinhaltet 19 EEG-
Hemisphäre lokalisierten Elektroden gerade Elektroden, die in der Regel durch 2 zusätzli-
Zahlen zugeordnet werden. Die auf der Zen- che EOG-Elektroden zur Aufzeichnung von
trallinie platzierten Elektroden erhalten das Augenbewegungen komplettiert werden. Er-
Suffix z (Fz, Cz, Pz). weiterte EEG-Systeme verwenden 128 oder

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5.4. Elektrophysiologie 127

256 Elektrodenpositionen. Zum Anbringen Beta 13–30 Hz


20
der Elektroden sind Elektrodenkappen ent-
0

µV
wickelt worden, die den Vorgang erheblich er-
–20
leichtern. Alpha 8–13 Hz
Die Analyse des EEG kann unterschiedlich 20

erfolgen. Grundsätzlich wird zwischen ampli- 0

µV
tuden- und frequenzbezogenen Analysen so- –20
wie der Analyse von ereigniskorrelierten 20
Theta 4–8 Hz

Potenzialen (EKP) unterschieden. Bei den


0

µV
selten durchgeführten amplitudenbezogenen
–20
Analysen werden durchschnittliche Amplitu- Delta 0.5–4 Hz
denwerte für EEG-Sequenzen berechnet. So 20
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könnte z. B. ein Stimulus dargeboten und für 0

µV
die folgenden zwei Sekunden das EEG regis- –20
0 1 2 3 4 5
triert werden. Über diese zwei Sekunden Zeit (s)
könnte dann die mittlere Amplitude berechnet
Abbildung 5-13: Typische Frequenzbänder des
werden. Für die gängigen Fragestellungen in-
EEG.
nerhalb der kognitiven Neurowissenschaften
hat sich diese Analyse allerdings nicht durch-
gesetzt. Gebräuchlicher sind frequenzbezo-
gene sowie EKP-Analysen. Verteilung auf der Schädeloberfläche und
dem zeitlichen Verlauf mit unterschiedli-
chen psychologischen Zuständen in Ver-
5.4.1. Frequenzbezogene Analysen bindung gebracht. (1) Die weit verteilte und
an vielen Elektroden zu messende Theta-
Hierzu werden für interessierende EEG-Ab- Band-Aktivität tritt vor allen Dingen dann
schnitte Spektralanalysen anhand der Fourier- auf, wenn die Müdigkeit zunimmt, was zum
Analyse berechnet. In der Regel wird die Ener- Beispiel bei Schlafentzug auftreten kann.
gie für bestimmte Frequenzbänder berechnet (2) Die vorwiegend frontal in der Mittellinie
(Abb. 5-13): zu messende Theta-Band-Aktivität (fron-
• Delta-Rhythmus (δ-Rhythmus): Der lang- tale Mittellinienaktivität: Fm-Theta) tritt
same Delta-Rhythmus (unter 4 Hz) tritt v. a. vor allem dann auf, wenn Aufgaben be-
in tiefen Schlafstadien auf, wobei der Anteil arbeitet werden, die Konzentration erfor-
des Delta-Rhythmus mit zunehmendem dern (Gevins, Smith, McEvoy & Yu, 1997).
Alter abnimmt. Die Amplituden sind von So kann man zum Beispiel starke Fm-Theta-
variabler Größe. Sind Delta-Wellen auch im Aktivitäten während des Bearbeitens von
wachen Zustand zu beobachten, indizieren Arbeitsgedächtnisaufgaben, beim Rechnen
sie häufig pathologische Prozesse. Es sind und Lernen, während der Verarbeitung von
allerdings auch Arbeiten publiziert worden, Fehlern und während der Meditation mes-
die diesen EEG-Rhythmus mit bestimmten sen. Oft wird die Fm-Theta-Aktivität auch
Kognitionen in Verbindung bringen. als objektiver Indikator der subjektiven Ar-
• Theta-Rhythmus (τ-Rhythmus): Theta- beitsbelastung herangezogen. (3) Verände-
Wellen sind langsam (4–8 Hz) und weisen rungen der Theta-Band-Aktivität treten
hohe Amplituden auf. Starke Theta-Band- auch im Zusammenhang mit Gedächtnis-
Aktivitäten werden je nach der räumlichen prozessen auf (Sauseng et al., 2006). (4) Vor

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128 5.  Methoden der kognitiven Neurowissenschaften

allem frontale Theta-Band-Aktivitäten sind rechnet. (4) Die Aktivität in vielen Hirn-
auch während positiver Emotionen gemes- gebieten (zum Beispiel gemessen anhand
sen worden (Sammler, Grigutsch, Fritz der BOLD-Reaktion) korreliert negativ mit
& Koelsch, 2007). Übermäßig starke Theta- der Power im Alpha-Band (Laufs et al.,
Aktivität in der Kindheit und Adoleszenz 2003; Sadaghiani et al., 2010). (5) Positiv
wird oft mit einer Reifungsverzögerung des korreliert die Alpha-Band-Aktivität (vor
Gehirns in Verbindung gebracht (Gasser, allem an posterioren Elektroden) mit der
Rousson & Schreiter Gasser, 2003). Aktivität des tonischen Alertness-Netz-
• Alpha-Rhythmus (α-Rhythmus): Der fast werkes (anteriores Cingulum, anteriore
gleichmäßige, nicht immer sinusoidale Insel, anteriorer Präfrontalcortex und Tha-
Rhythmus ist schon für das bloße Auge gut lamus) ­(Sadaghiani et al., 2010). (6) Gene-
zu erkennen. Er tritt insbesondere im rell wird der Alpha-Aktivität eine eher hem-
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Wachzustand und bei geschlossenen Augen mende Funktion zugeschrieben (Klimesch,


bei geringer kognitiver Belastung mit okzi- Sauseng &  Hanslmayr, 2007). Das be­
pitoparietaler Dominanz auf. Die typische deutet, dass Hirngebiete, welche vorrangig
Frequenz liegt zwischen 8 und 13 Hz und Alpha-Aktivität zeigen, aktiv Hemmung
die Amplituden betragen ca. 10–150 μV. ausüben.
Gelegentlich wird das Alpha-Band aus in- • Beta-Rhythmus (β-Rhythmus): Der Beta-
haltlichen Gründen in einen unteren (lower Rhythmus ist durch höhere Frequenzen
Alpha: 7–9,8 Hz) und einen oberen (upper gekennzeichnet (13–30 Hz). Die Amplitu-
Alpha: 10,8–11,8 Hz) Bereich unterteilt. den sind wesentlich kleiner als beim Alpha-
Bei zunehmender Konzentration und Auf- Rhythmus. Die Beta-Band-Aktivität tritt
merksamkeit wird der Alpha-Rhythmus vor allem bei erhöhter Alertness und wäh-
blockiert (Alpha-Blockade) und geht bei rend kognitiver Aktivität auf (Steriade,
den meisten Menschen in den höherfre- 1999). Während des Schlafs nimmt die
quenten Beta-Rhythmus über. Obwohl der Beta-Band-Aktivität ab, während gleichzei-
spontane Alpha-Rhythmus mit okzipitopa- tig die Delta-Band-Aktivität zunimmt. Ei-
rietaler Dominanz auftritt, ist die Alpha- nige Studien belegen auch eine Zunahme
Blockade lokal durchaus unterschiedlich der Beta-Band-Aktivität im Zusammen-
stark ausgeprägt. Die Alpha-Band-Aktivität hang mit zunehmender emotionaler Erre-
wird ebenfalls mit unterschiedlichen psy- gung (Aftanas, Varlamov, Pavlov, Makhnev
chologischen Prozessen in Verbindung ge- & Reva, 2001). Beta-Band-Aktivitäten über
bracht. (1) Die posterior gemessene Al- zentralen Elektroden (C3, Cz, C4) korre-
pha-Aktivität (vor allem über posterior- lieren mit der Aktivität des motorischen
occipitalen Elektroden) hängt sehr stark supplementärmotorischen Kortex (Ritter,
mit Aufmerksamkeitsfunktionen zusam- Moosmann & Villringer, 2009).
men. (2) Der sogenannte Rolandische Mu- • Gamma-Rhythmus (γ-Rhythmus): Fre-
Rhythmus, der speziell über zentralen Elek- quenzen über 30 Hz werden auch als
troden (C3, Cz, C4) gemessen wird und der Gamma-Wellen oder 40-Hz-Oszillationen
überwiegend durch Generatoren im soma- bezeichnet. Diese Wellen zeichnen sich
tosensorischen Kortex generiert wird, tritt durch extrem kleine Amplituden (1–10 μV)
vor allem bei Bewegungen und/oder Be- und eine hohe lokale Spezifität aus. Sie wer-
wegungsvorbereitungen auf. (3) Der so- den mit synchronen lokalen Oszillationen
genannte Tau-Alpha-Rhythmus wird der in Verbindung gebracht. In der kognitiven
Aktivität des auditorischen Kortex zuge- Neurowissenschaft spielen sie zunehmend

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5.4. Elektrophysiologie 129

eine wichtige Rolle, vor allem im Zusam- analysen berechnet, bei denen statistische Zu-
menhang mit der Erforschung des Bewusst- sammenhänge zwischen den EEG-Signalen
seins und der Wahrnehmung (Herrmann verschiedener Elektrodenpositionen ermittelt
& Kaiser, 2011). werden. Meist sind diese Zusammenhänge li-
nearer Natur, derzeit wird jedoch auch an
Im Rahmen dieses Lehrbuchs wird an ver- nichtlinearen Modellen gearbeitet. Eine hohe
schiedenen Stellen auf die einzelnen Fre- Korrelation zwischen zwei Elektroden bedeu-
quenzbänder und deren Bedeutung für spezi- tet, dass die EEG-Signale an beiden Elektro-
fische psychische Funktionen eingegangen. den hinsichtlich der Frequenz sehr ähnlich
Typischerweise werden bestimmte Frequenz- sind. Kohärenzanalysen sind insbesondere
bänder während des Durchführens bestimm- hilfreich, wenn die Analyse der funktionellen
ter Tätigkeiten und während Ruhe (als Kon- Koppelung zwischen den Hemisphären oder
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trollbedingung) berechnet. Hierbei wird die zwischen verschiedenen Hirngebieten einer


Energie (Power) des interessierenden EEG- Hemisphäre im Vordergrund steht (s.  auch
Frequenzbandes vor der Aufgabe (PowerRuhe) Kap. 2).
und während der Aufgabe (PowerAktivierung) be-
stimmt und die Werte subtrahiert, um die so-
genannte aufgabenbezogene Energie zu erhal- 5.4.2. Ereigniskorrelierte Potenziale
ten (Task-related power, TRPow):
Unter ereigniskorrelierten Potenzialen (EKP)
(1): TRPow = PowerAktivierung 
werden alle elektrokortikalen Potenziale ver-
– PowerRuhe
standen, die vor, während und nach einem
Zur statistischen Analyse empfiehlt es sich al- sensorischen, motorischen oder sonstigen psy-
lerdings, die Power-Werte vorher zu logarith- chischen Ereignis im EEG messbar sind. EKP
mieren, um die Fehlervarianzen zu stabilisie- sind in der Regel sehr viel kleiner als das Roh-
ren und eine Normalverteilung der Daten zu EEG (1–40 μV), sodass sie ohne weitere Ver-
erreichen: arbeitung im „Rauschen“ des EEG nicht zu
entdecken sind. Um diese kleinen Signale
(2): log TRPow = log (PowerAktivierung )
sichtbar zu machen, wird die „Mittelungstech-
– log (PowerRuhe )
nik“ angewandt.
Andere Autoren berechnen prozentuale Ver- Bei Wiederholung eines Reizes, einer Re-
änderungsmasse: aktion oder eines psychischen Zustands wird
davon ausgegangen, dass der zugrunde lie-
(3): ERD/ERS = (PowerRuhe 
gende neurophysiologische kortikale Prozess
– PowerAktivierung ) * 100/PowerRuhe
mehr oder weniger identisch ist bzw. unver-
ERD (Event-related desynchronisation) be- ändert bleibt. Die Hintergrund-EEG-Aktivität
deutet, dass während der Aufgabenbearbei- hingegen ist eher zufällig verteilt. Durch Mit-
tung die Energie des entsprechenden Fre- telung von EEG-Segmenten, die zeitbezogen
quenzbandes abnimmt. ERS (Event-related zu den auslösenden Ereignissen (d. h. ereignis-
synchronisation) indiziert, dass bei der korreliert) sind, lässt sich dann das zufällig ver-
Durchführung der Aufgabe die Energie im ent- teilte Hintergrund-EEG „herausmitteln“ und
sprechenden Frequenzband zunimmt. die ereigniskorrelierte neurophysiologische
Bedingt durch das zunehmende Interesse Aktivität aufsummieren. Mit zunehmender
an der Untersuchung der Netzwerkarchitektur Anzahl der gemittelten EEG-Segmente tritt
des menschlichen Gehirns werden Kohärenz- das EKP-Signal immer deutlicher hervor,

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130 5.  Methoden der kognitiven Neurowissenschaften

20 –3µV N1
0
µV

–20
20
0
µV

–20
20 N2
0
µV

–20
20 +3µV P1
0 P2
µV

–20
20
0
µV

–20
20
0
µV

–20 P3
20
0
µV

–20
20 0 100 200 300 400 500
0
µV

–20 Zeit nach Stimulus (ms)


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20
0
µV

–20 Abbildung 5-15: Typisches EKP.


20
0
µV

–20
5
Latenz bezogen auf den sie auslösenden Reiz.
0 EKP-Komponenten werden anhand ihrer Po-
larität und des Zeitpunktes ihres Auftretens
µV

–5 klassifiziert. Typische und für die kognitiven


–100 0 100 200 300 400 500 600 700 800 9001000
Zeit (ms) Neurowissenschaften sehr wichtige Kom-
ponenten sind P1, N1 und P3: P und N indizie-
Abbildung 5-14: Beispiel für die Mittelung des ren die Polarität (P = positiv, N = negativ), die
EEG zu einem EKP. Zahl den Auftretenszeitpunkt. Der Auftretens-
zeitpunkt kann entweder als Latenzmaß in
Millisekunden oder als ordinale Ordnungszahl
während das zufällig verteilte Hintergrund- angegeben werden. Das heißt, die 1 bei N1 als
EEG immer kleiner wird (d. h. gegen null ten- ordinale Ordnungszahl indiziert die erste Ne-
diert; Abb. 5-14). Die Deutlichkeit, mit der ein gativierung und die 3 bei P3 die dritte Positi-
EKP-Signal erkennbar wird, kann mit dem Sig- vierung. EKP-Komponenten werden häufig
nal/Rauschen-Verhältnis beschrieben wer- auch mit ihren typischen Latenzen beschrie-
den. Dieses Verhältnis verbessert sich zuneh- ben. So wird von der N100 gesprochen, da
mend mit der Anzahl der in die Mittelung diese Komponente ca. 100 ms nach dem aus-
eingegangenen EEG-Segmente (√n, n = An- lösenden Reiz auftritt. Gleichfalls spricht man
zahl der Mittelungen). Nach Mittelung des auch von der P300, also einer Positivierung ca.
EEG auf einen Reiz oder eine Reaktion zeigt 300 ms nach dem auslösenden Reiz. Im Übri-
sich meist eine komplexe Aufeinanderfolge gen bezeichnen N1 und N100 sowie P3 und
von Wellen, die unterschiedliche neurophysio- P300 jeweils die gleichen Komponenten.
logische und psychologische Vorgänge reprä- Grundsätzlich gilt, dass die Amplitude einer
sentieren. Abbildung 5-15 zeigt einen typischen EKP-Komponente mit der Anzahl aktiver Neu-
Potenzialverlauf eines EKP für einen wieder- rone (bzw. mit der Anzahl der Generatorneu-
holt aufgetretenen akustischen Reiz. rone) korreliert. Das Fehlen, die Reduktion
Das EKP ist durch Potenzialschwankungen oder das Überschießen einer bestimmten Am-
in negativer und positiver Richtung charakteri- plitude erlaubt daher Aussagen über den Funk-
siert. Jede Komponente hat eine bestimmte tionszustand des Nervensystems.

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5.4. Elektrophysiologie 131

Klassischerweise wird zwischen endo- CNV-Experimenten. Ein anderes Beispiel ist


genen und exogenen EKP-Komponenten die P3. Diese Potenziale nennt man deswegen
unterschieden. Exogene Komponenten sind endogen, da man davon ausgeht, dass sie von
jene, die bis ca. 100–200 ms nach Reizeinsatz Prozessen „innerhalb“ der Person determi-
auftreten, endogene Komponenten erschei- niert werden. Sie sind nicht von den physika-
nen nach 100–200 ms und können sich bis lischen Eigenschaften des Reizes abhängig.
ca. 500–1000 ms erstrecken. Exogene Kom- Bemerkenswert ist auch, dass diese Kom-
ponenten reflektieren die initiale neuronale ponenten meistens ihre größten Amplituden
Verarbeitung der physikalischen Eigenschaf- über zentralen oder parietalen Elektroden-
ten eines Reizes. Auch die besondere Beschaf- positionen aufweisen. Typische endogene
fenheit der neuronalen Netzwerke, die in die Komponenten sind die Processing Negativity
Reizverarbeitung eingebunden sind, beein- (PN), die schon erwähnte P3 (oder auch P300
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flusst die exogenen Komponenten. So konnte genannt) und die N400. Auf die einzelnen
z. B. gezeigt werden, dass bei Musikern die Komponenten wird im Rahmen dieses Lehr-
frühen Verarbeitungsstufen anders ablaufen, buches in den entsprechenden inhaltlichen
was sich in unterschiedlichen exogenen Kom- Kapiteln näher eingegangen.
ponenten niederschlägt (Ott et al., 2011). Eine gewisse Sonderstellung nimmt die
Typische exogene Komponenten sind die au- Mismatch Negativity (MMN) ein. Die MMN
ditorischen Hirnstammpotenziale, Kom- ist eine EKP-Komponente, die im Zusammen-
ponenten mit mittlerer (10–50 ms nach Reiz- hang mit Orientierungsreaktionen, dem Ge-
präsentation: N0, P0, Na, Pa, Nb) und mit dächtnisaufbau und dem sensorischen Ge-
langer Latenz (ca. 70–300 ms nach Reizprä- dächtnis auftritt. Sie wird durch eine Diskre-
sentation: P1, N1, P2). panz zwischen einer gerade aufgebauten
Endogene Komponenten dagegen werden Gedächtnisspur und einem neuen, unerwarte-
im Rahmen komplexer Prozesse evoziert und ten Reiz (auch beim Ausbleiben eines Reizes)
verlangen deshalb besondere Aufmerksamkeit ausgelöst (Abb. 5-17). Das Bemerkenswerte an
und Mitarbeit der Versuchsperson. Deshalb
benötigen sie zur Evozierung höhere kognitive
Prozesse wie Aufmerksamkeit, Gedächtnis N1

oder Mustererkennung. Typische endogene


Komponenten sind die schon beschriebenen MMN
langsamen Potenziale im Zusammenhang mit

Antwort auf
bekannte Töne
100 ms P1 Antwort auf
VII abweichende Töne
I II
VI
III Abbildung 5-17: Typische MMN. In einem typi-
IV V schen MMN-Experiment werden häufig Stan-
0 2 4 6 8 10 12 ms
dardreize (standards) und selten Vergleichsreize
(deviants) präsentiert. Für jeden dieser Reize wird
Abbildung 5-16: Beispiel für Hirnstammpoten- ein EKP berechnet. Diese beiden EKP werden von-
ziale. Jede einzelne „Welle“ kennzeichnet eine Um- einander abgezogen und die Differenzwelle weist
schaltung im Hirnstamm innerhalb der Hörbahn um 100–150 ms eine deutliche Negativierung auf.
(s. auch Kap. 9). Dies ist die MMN.

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132 5.  Methoden der kognitiven Neurowissenschaften

der MMN ist, dass sie offenbar automatisch dargebotenen Reiz verglichen wird. Interes-
auftritt und keine aufmerksame und kontrol- sant ist, dass individuelle Unterschiede hin-
lierte Zuwendung zu den Reizen von der Ver- sichtlich der Fähigkeit zur Ausbildung solcher
suchsperson erfordert. Deshalb wird ver- neuronalen Modelle bestehen.
mutet, dass die MMN einen präattentiven Des Weiteren können noch langsame Po-
Vergleichsprozess reflektiert, in dem ein neu- tenziale vor bestimmten Reizen oder Reaktio-
ronales Gedächtnismodell mit dem gerade nen unterschieden werden. Ein typisches Po-
tenzial dieser Gruppe ist die CNV (Contingent
Negative Variation; Abb. 5-18). Sie tritt typi-
A) scherweise in einer Warteperiode zwischen
CNV einem Warnreiz (S1) und einem imperativen
Stimulus (S2, auch Go-Reiz genannt) auf. Ty-
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pischerweise nimmt die Negativierung zwi-


schen dem S1 und S2 zu und erreicht ihr Maxi-
mum unmittelbar vor dem S2. Wenn der S2 ein
Reiz ist, welcher der Versuchsperson signali-
siert, so schnell wie möglich eine Reaktion zu
Hinweisreiz Go-Reiz tätigen, dann entspricht die Negativierung vor
25 dem S2 im Wesentlichen dem Bereitschafts-
µV potenzial, das kurz vor motorischen Reaktio-
nen v. a. über Cz18 abzuleiten ist. Wird das
1 Sek. Warteintervall zwischen S1 und S2 lang genug
gewählt, dann kann man die langsamen Po-
B)
tenzialverschiebungen in diesem Zeitintervall
mindestens in zwei Komponenten aufteilen:
eine frühe Negativierung, welche die neuro-
physiologische Reaktion auf den Warnreiz (S1)
widerspiegelt, und eine späte Negativierung,
BP
welche die motorische Vorbereitung reflek-
tiert. Das CNV-Paradigma wurde sehr häufig
im Zusammenhang mit motorischen Vorberei-
tungsprozessen untersucht.
EMG

5.4.3. Elektrophysiologische Grund-


Bewegungsbeginn
10 lage von EEG und ERP
µV

Die an der Schädeloberfläche zu messenden


1 Sek. Signale entstehen an den Dendriten und Sy-
napsen der kortikalen Neurone. Die Neurone
Abbildung 5-18: Beispiele für eine CNV (A) und ein
Bereitschaftspotenzial (B). Beim Bereitschafts-
(meist Pyramidenzellen) sind mit ihren Den-
potenzial ist auch das Elektromyogramm (EMG) driten senkrecht zur Kortexoberfläche an-
eingezeichnet, das den Beginn der Bewegung in- geordnet und die Dendriten orientieren sich
diziert. Bei der CNV ist auch der Beginn des Hin-
weis- (S1) und des Go-Reizes (S2) angegeben. 18  Cz ist die Vertex-Elektrodenposition (Abb. 5-12).

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5.5.  Dipolanalysen und ­elektrische Tomografie 133

nach oben. Diese Dendriten werden daher durch IPSP an oberflächlichen Schichten und
auch als apikale Dendriten bezeichnet (apex umgekehrt (Abb. 5-19).
=  Spitze, auf die Spitze bezogen). An diesen Durch die vertikale Lage der Pyramiden-
Dendriten enden Afferenzen vom Thalamus zellen im Neokortex und die dort herrschenden
und anderen kortikalen Bereichen. Werden elektrischen Widerstandsverhältnisse kommt
über diese Afferenzen die apikalen Dendriten es zu einer Phasenverschiebung zwischen Zell-
erregt, tritt Na+ in die Dendriten ein. Der ex- körper und den apikalen Dendriten. Man kann
trazelluläre Raum um diese Dendriten wird sich dieses System wie eine dynamische Batte-
dann negativ (negatives Feldpotenzial), es ent- rie vorstellen, die je nach aktueller Ladungs-
steht ein exzitatorisches postsynaptisches Po- verteilung an der Spitze positiv und am unteren
tenzial (EPSP). Über diese Afferenzen können Ende negativ geladen ist. Die Ladungsvertei-
die Dendriten auch gehemmt werden. In die- lung kann sich aber auch umorientieren, so-
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sem Fall treten aus dem Inneren der Dendri- dass die Spitze negativ geladen ist, während
ten Cl–-Ionen aus und K+-Ionen diffundieren der untere Teil positiv geladen ist. Von dieser
ins Zellinnere, sodass der Extrazellulärraum Potenzialverteilung leitet sich die Bezeichnung
positiv wird (positives Feldpotenzial) und ein Dipol ab. Die beschriebenen Ionenbewegun-
inhibitorisches postsynaptisches Potenzial gen generieren Feldpotenziale, die auch von
(IPSP) entsteht. Das EPSP und das IPSP brei- weiter entfernt liegenden Elektroden aufgefan-
ten sich elektrotonisch entlang der Dendriten gen werden können. Wichtig zum Verständnis
aus und führen zu Potenzialschwankungen ist, dass v. a. die extrazellulären Ströme we-
an der Kortexoberfläche. Positive Potenzial- sentlich zum EEG beitragen.
schwankungen entstehen durch positive Ak-
tivitäten (EPSP) in tieferen Schichten oder
5.5. Dipolanalysen und ­
elektrische Tomografie

Die intrazerebralen Quellen (Dipole) der an der


EPSP IPSP
Schädeloberfläche gemessenen elektrischen
Na+ Cl-
K+ K+ Signale können anhand geeigneter mathemati-
EPSP IPSP
scher Verfahren geschätzt werden. Eine Vo-
Na+ Cl- raussetzung hierfür ist, dass diese Signale mit
K+ K+ möglichst vielen Elektroden an der Schädel-
oberfläche registriert wurden. Empfohlen wer-
A B C D den hierbei mindestens 32 Elektroden, eine
höhere Anzahl ist jedoch besser. Für diese
Abbildung 5-19: Schematische Darstellung der Schätzung muss allerdings das „inverse Pro-
Neurone und Dendriten in der Kortexschicht. Die blem“ zumindest ansatzweise gelöst werden
Ladungen der für die EEG-Signale wichtigen Feld-
(Abb. 5-20): Anhand der Verteilung der elektri-
potenziale (elektrische Ladungen der Extrazellu-
schen und/oder magnetischen Aktivität über
larräume) sind durch ein + oder – gekennzeichnet.
dem Schädel kann mathematisch nicht ein-
Positive Feldpotenziale in der Nähe der Kortex­
oberfläche (B und C) erzeugen positive Potenzial-
deutig auf die zugrunde liegende neuronale
schwankungen im EEG. Positive Feldpotenziale in Aktivität geschlossen werden. Um dieses Pro-
der Nähe der Zellkörper führen zu negativen Feld- blem zumindest annähernd zu lösen, sind
potenzialen an der Kortexoberfläche und damit zu verschiedene mathematische Verfahren ent-
negativen Potenzialen im EEG (A und D). wickelt worden (z. B. Modellierung von äqui-

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134 5.  Methoden der kognitiven Neurowissenschaften

A) Vorwärts-Lösung zem ist es sogar gelungen, Quellen im Hippo-


Modell-Kopf Modell-Daten campus während des Durchführens von Ge-
dächtnisaufgaben anhand von EKP zu schätzen
(James et al., 2009).
Obwohl das EEG eine begrenzte räumliche
–5µV 5µV Auflösung mit sich bringt, ist es hinsichtlich
–4µV 4µV
–3µV 3µV der zeitlichen Auflösung unübertroffen. Sie
–2µV 2µV
–1µV 1µV liegt im Millisekundenbereich und ist geeig-
Gehirn 0µV
net, zeitlich kurz nacheinander auftretende
Schädel
Skalp physiologische Prozesse abzubilden. Ein wei-
terer Vorteil gegenüber fMRT und PET besteht
B) inverses Problem darin, dass mit dem EEG die neuronalen Kor-
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erwünschte Modelllösung aufgezeichnete Daten relate kurzfristig auftretender Ereignisse er-


fasst werden können. Im fMRT und PET sind
viele solcher Ereignisse notwendig, damit in-
terpretierbare hämodynamische Reaktionen
–5µV 5µV ausgelöst werden, wodurch es praktisch un-
–4µV 4µV
–3µV 3µV möglich ist, kurzfristige und transiente Ereig-
–2µV 2µV nisse im fMRT und PET zu quantifizieren.
–1µV 1µV
0µV

Abbildung 5-20: Darstellung des inversen Pro-


blems. In A) ist eine Kugel dargestellt, die grob die
5.6. Magnetenzephalografie
Leitungseigenschaften des Gehirns mit Schädel, (MEG)
Haut und Gehirngewebe dargestellt. Platziert man
in dieser Kugel einen Dipol, kann man anhand der Das Gehirn generiert schwache magnetische
Kenntnis der Leitungseigenschaften präzise die Felder, die mit hochempfindlichen Detekto-
elektrische Verteilung an der Kugeloberfläche ren, sogenannten Superconducting quan-
vorhersagen (Vorwärtsproblem). B) Anders ist es, tum interference devices (SQUID), gemes-
wenn man nur die Verteilung der elektrischen Sig-
sen werden können, die etwa 10–15 mm von
nale an der Kugeloberfläche kennt. Dann kann
der Kopfoberfläche entfernt angebracht sind.
man die Position des Dipols in der Kugel nicht ein-
Die Magnetfelder entstehen als Folge der elek-
deutig berechnen (inverses Problem).
trischen Ladungsverschiebungen im Kortex.
Das Verfahren, mit dem diese Magnetfelder
valenten Dipolen oder Schätzung mehrerer si- gemessen werden, ist die Magnetenzephalo-
multaner Dipole). Die Lokalisationsgenauig- grafie (MEG; Abb. 5-21). Die im MEG gemesse-
keit der intrazerebralen Quellen ist mit diesen nen Magnetfelder liegen unterhalb eines pT
relativ neuen mathematischen Methoden gut, (pico Tesla); ihre Stärke beläuft sich damit auf
sofern eine artefaktfreie Datenaufnahme mit weniger als den hundertmillionsten Teil der
möglichst vielen Elektroden erfolgt. Die räum- Stärke der durch das Erdfeld hervorgerufenen
liche Genauigkeit liegt je nach Anzahl der ge- Magnetfelder.
nutzten Elektroden und der Hirngebiete, für Die vom MEG gemessenen Magnetfelder
welche die Quellen geschätzt werden, zwi- werden ausschließlich durch die intrazellulä-
schen 20 und 10 mm3 und reicht damit an die ren Ströme generiert. Darüber hinaus können
fMRT-Technik heran (sofern der räumliche die Leitfähigkeitsunterschiede der verschie-
Glättungsfaktor berücksichtigt wird). Vor Kur- denen Gewebetypen des Kopfes vernachläs-

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5.6.  Magnetenzephalografie (MEG) 135
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Abbildung 5-21: Dargestellt ist eine prinzipielle Anordnung eines Magnetenzephalografen. Rechts ist
schematisch die Anordnung der Magnetometer (der Sensoren) über dem Schädel dargestellt.

sigt werden, denn die Magnetfelder breiten Sensor


sich unabhängig vom umgebenden Gewebe
und dem Schädel aus. Dieser Umstand ver-
bessert die Voraussetzungen für die Schät-
zung der Dipollokalisation. Ein weiterer wich-
tiger Unterschied zum EEG besteht darin,
dass beim MEG nur tangentiale Dipole, die
längs der Kortexoberfläche angeordnet sind
und deren Magnetfeldlinien vertikal aus dem
Schädel austreten, ein Feld produzieren, das Feldlinien

außerhalb des Kopfes messbar ist (Abb. 5-22).


+ Dipol –
Insofern können EEG und MEG als sich er-
gänzende Methoden zur Lokalisation hirn-
elektrischer Quellen aufgefasst werden. Eine
neue Arbeit zeigt allerdings, dass der MEG
gegenüber dem modernen hochauflösenden
EEG (mit mehr als 64 Elektroden) keinen nen-
nenswerten Vorteil mehr besitzt (Malmivuo,
Abbildung 5-22: Teil des Schädels und ein Sensor.
2011). Die magnetischen Feldlinien, die von
Darunter ist ein tangential angeordneter Dipol dar-
den tangential am Kortex anliegenden Di- gestellt. Die magnetischen Feldlinien sind eben-
polen generiert werden, breiten sich praktisch falls dargestellt. Ein senkrecht angeordneter Dipol
ohne Beeinflussung durch das Gewebe oder würde magnetische Feldlinien generieren, die
die Knochen bis an die Kopfoberfläche aus. mehr oder weniger parallel zur Schädeloberfläche
Dort können sie mit spezifischen Sensoren verlaufen. Diese Feldlinien wären nicht messbar.

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136 5.  Methoden der kognitiven Neurowissenschaften

(den Magnetometern) erfasst werden. Ein 5.7. Nahinfrarot­


Magnetometer ist eine Spule, die direkt über
spektroskopie
der Kopfoberfläche angebracht wird, etwa so
wie in Abbildung 5-22. Neben der fMRT-Technik können lokale Blut-
Die induzierten Ströme innerhalb des Mag- flussänderungen auch mit einer nichtinvasi-
netometers sind extrem klein, weshalb diese ven Technik gemessen werden, die mit Licht-
Signale enorm verstärkt werden müssen. strahlen im Bereich von 650 bis 950 nm
Konventionelle Verstärker sind dazu nicht in arbeitet, die auf das Gehirn projiziert werden.
der Lage, da ihr wärmebedingtes intrinsi- Da sich diese Lichtstrahlung im infraroten Be-
sches Rauschen zu groß ist, um diese niedri- reich befindet, wird sie auch als Nahinfrarot-
gen Ströme zu verstärken. Daher werden für spektroskopie bezeichnet. Das Licht hat die
diesen Zweck entwickelte Verstärker, die so- Eigenschaft, relativ ungehindert durch das
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genannten Superconducting quantum interfe- Gehirngewebe zu dringen. Auf seinem Weg


rence devices, verwendet. Derzeit werden durch das Gehirn werden bestimmte Licht-
MEG-Geräte verwendet, in denen bis zu komponenten absorbiert oder reflektiert.
300 Magnetometer im MEG-Aufnehmer un- Diese Lichtsignale werden durch Sensoren an
tergebracht sind. Diese große Anzahl von der Schädeloberfläche gemessen und mittels
Magnetometern ermöglicht die simultane und spektroskopischer Verfahren analysiert. An-
räumlich hochauflösende Aufzeichnung von hand dieser Analyse ist es dann möglich, auf
MEG-Signalen. die Konzentration von oxygeniertem und
Die extrem geringe Stärke des hirneigenen deoxygeniertem Blut zu schließen. Des Wei-
Magnetfeldes hat zur Folge, dass die Messung teren erlaubt dieses Verfahren die Messung
durch externe Magnetfelder, insbesondere in des zerebralen Blutflusses (CBV).
der Nähe befindliche Stromverbraucher (Lam- Zur Messung werden kleine Laserdioden
pen, Elektromotoren, Aufzüge, Straßenbah- am Schädel der Probanden angebracht. Die
nen etc.), die ihrerseits Magnetfelder erzeu- Anzahl und Anordnung dieser Lampen variiert
gen, massiv gestört werden kann. Weiterhin abhängig von der Fragestellung. Die Detekto-
können größere Eisenteile (in Klinken z. B. ren des reflektierten Lichts werden meistens
Patientenbetten mit Eisenrahmen, fahrende 1–2 cm von den Dioden entfernt angebracht
Autos) sowie ferromagnetische Materialien (Abb. 5-23). Die Hälfte der Dioden emittiert
am oder im Patienten zu einer Verzerrung des Licht im Wellenbereich von 690 nm, die an-
Magnetfeldes führen. Die genannten Arte- dere Hälfte Licht im Wellenbereich von
fakte übersteigen in der Regel erheblich die 830 nm. Die Anzahl der Detektoren entspricht
Feldstärke des MEG. Ohne geeignete Maß- der Anzahl der Dioden. Aus dem detektierten
nahmen zur Störunterdrückung ist daher eine Lichtsignal wird die lokale Konzentration von
erfolgreiche MEG-Registrierung unmöglich. Oxyhämoglobin, Deoxyhämoglobin und die
Aus diesem Grund werden MEG-Unter- Gesamtmenge von Hämoglobin geschätzt.
suchungen ausnahmslos in elektrisch und Insofern können ähnliche Kennwerte wie bei
magnetisch besonders abgeschirmten Mess- der fMRT und der PET erhoben werden. Inte-
kabinen durchgeführt. ressant ist, dass die Kennwerte nichtinvasiv
und kontinuierlich (im Millisekundenbereich)
erfasst werden. Der einzige unangenehme
Nebeneffekt ist die Temperaturzunahme an
den Laserdioden. Gelegentlich muss die Mes-
sung nach 20–30 Minuten wegen Überhitzung

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5.7.  Nahinfrarot­spektroskopie 137

A) B)
reflektiertes Licht

transmittiertes
Licht

Lichtquelle
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C) D)

Abbildung 5-23: Messanordnung für NIRS. Schematische Darstellung der Anordnung von Laserdioden
(Lichtquelle) und Detektoren an der Schädeloberfläche. In A) sind die beiden Prinzipien der NIS-Messung
dargestellt. Die eine Methode beruht auf der Messung des vom Gehirngewebe reflektierten Lichts, wäh-
rend die andere Methode auf der Messung des durch das Gehirngewebe durchgetretenen Lichts beruht
(transmittiertes Licht). In B) ist eine Anordnung der Lichtquellen und Detektoren in Form eines Rechtecks
dargestellt. Zu sehen sind 18 Kanäle, die 9 Lichtquellen und 9 Detektoren enthalten können. In C) und D)
sind andere Anordnungen zu sehen, die prinzipiell möglich sind.

abgebrochen werden, sie kann allerdings nach deln von Erwachsenen ist die Registrierung
kurzer Unterbrechung weitergeführt werden. v. a. wegen der dicken Kopfhaut und der Haare
NIRS können am besten bei Babys und Klein- meist problematisch.
kindern durchgeführt werden. An den Schä-

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138 5.  Methoden der kognitiven Neurowissenschaften

5.8. Biofeedback von ­ Die einfachste Anordnung für ein Neuro-


feedback nutzt einige wenige EEG-Elektro-
kortikaler Aktivität
den, die über markanten Hirngebieten plat-
ziert sind. Mit diesen Elektroden wird die
Zunehmend werden neurowissenschaftliche EEG-Aktivität gemessen und einem Computer
Methoden für Therapien und Rehabilitatio- zugeführt, der bestimmte EEG-Kennwerte be-
nen genutzt. Eine Variante dieser Methoden rechnet (z. B. die Energie im Alpha-Band), die
besteht darin, die Hirnaktivitäten von Pro- dann auf einem Computerbildschirm präsen-
banden zu messen und sie ihnen mit geringer tiert werden (Abb. 5-24). Die sich ständig ver-
Zeitverzögerung zurückzumelden. Anhand ändernde Alpha-Band-Energie z. B. kann als
dieses Feedbacks sollen die Probanden ler- Balken dargestellt werden. Bei geringer Al-
nen, ihre Hirnaktivität zu beeinflussen. Diese pha-Band-Energie ist der Balken klein und bei
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Verfahren werden als Neurofeedbackverfah- großer Energie hoch. Der Proband hat die
ren bezeichnet. In jüngster Zeit werden die so Aufgabe, die Alpha-Band-Energie in einem
gemessenen Hirnsignale auch genutzt, um bestimmten Bereich zu halten. Der zu errei-
externe Geräte zu steuern. Dieser Ansatz chende Energiebereich wird vom Therapeu-
wird in Abgrenzung zum Neurofeedback als ten aufgrund bestimmter theoretischer Über-
Brain-Computer-Interface-Technik (BCI) legungen vorher festgelegt. Der Proband
bezeichnet. muss also trainieren, seine Hirnaktivität der-

EEG-Verstärker

EEG-Brause

1 2 3 4 5 6

PC mit AD-Karte

Notebook
für Feedback

Patient

Abbildung 5-24: Darstellung einer einfachen Neurofeedbackanordnung.

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5.8.  Biofeedback von ­kortikaler Aktivität 139

art zu beeinflussen, dass er die angestrebte trainieren kann. In neueren Arbeiten wird mit
Alpha-Band-Energie erreicht. In der Praxis mehr Elektroden gearbeitet, um ein differen-
werden verschiedene EEG-Kennwerte in Ab- zierteres Aktivierungsbild des Gehirns zurück-
hängigkeit vom Trainingsziel verwendet. Trai- zumelden und trainieren zu lassen.
niert werden unter anderem Verhältnisse Bei den BCI-Techniken werden die gemes-
zwischen verschiedenen Frequenzbändern senen Hirnsignale genutzt, um externe Geräte
(Alpha/Theta), das Beta-Band oder bestimmte anzusteuern. So ist gezeigt worden, dass mit
EKP-Komponenten (z. B. die P300). EEG-Signalen Avatare in virtuellen Welten ge-
Diese Art des Neurofeedbacks ist mittler- steuert werden können. Therapeutisch inte-
weile sehr weit verbreitet und wird für ver- ressant sind Arbeiten, in denen neurologische
schiedene Therapien eingesetzt. Je nach ge- Patienten über solche BCI-Techniken ihre ge-
nutzter Elektrodenanordnung und trainierten lähmten Arme wieder ansteuern können der
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EEG-Kennwerten sind interessante psycho- lernen, externe Geräte zu bedienen.


logische Effekte berichtet worden. So konnte Für Furore in der wissenschaftlichen Welt
z. B. gezeigt werden, dass Aufmerksamkeits- sorgte eine Untersuchung, bei der einem quer-
Hyperaktivitäts-Störungen (AHS) günstig auf schnittsgelähmten Mann eine Elektrodenma-
Neurofeedbacktraining ansprechen (Arns et trix (5 mm2) mit 99 kleinen Elektroden in den
al., 2009). Auch für die bewusste Kontrolle Motorkortex eingesetzt wurde (Hochberg et
bzw. Verhinderung von epileptischen Anfäl- al., 2006; Abb. 5-25). Mit diesen Elektroden
len hat sich das Neurofeedback als hilfreich konnten die Wissenschaftler die neurophysio-
erwiesen. logischen Entladungen des Motorkortex mes-
Zu berücksichtigen ist, dass während des sen. Der Proband lernte nun, sich bestimmte
Trainings die Artefakte unterdrückt bzw. kon- Hand- und Armbewegungen vorzustellen, die
trolliert werden müssen (Muskel- und Augen- jeweils mit unterschiedlichen neuronalen Ent-
bewegungen, elektrische Einstreuungen von ladungsmustern im Motorkortex assoziiert
anderen elektrischen Spannungsquellen). sind. Diese Muster lernte ein Computerpro-
Ferner arbeiten die meisten kommerziell zu gramm zu erkennen und in Signale umzuset-
erwerbenden Neurofeedbackgeräte mit eini- zen, mit denen externe Geräte angesteuert
gen wenigen Elektroden, sodass der Proband werden konnten. Mit dieser Anordnung lernte
nur einen kleinen Teil seiner Hirnaktivität der Patient eine Handprothese und die Fern-

MRI-Scanner

Projektor für
Feedback-Screen MR-Signale

Elektrodenposition
Transformation
zu einem Rück-
meldungssignal
Abbildung 5-25: Versuchsanordnung aus dem Feedbacksignal
Versuch von Hochberg et al. (Nachgezeichnet
nach Hochberg et al., 2006) Abbildung 5-26: Anordnung für Echtzeit-fMRT.

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140 5.  Methoden der kognitiven Neurowissenschaften

bedienung eines Fernsehers zu benutzen,


Computerspiele zu spielen und einen Roboter-
arm zu manipulieren. Diese Technik eröffnet
neue therapeutische Spielräume. Es bleibt ab-
zuwarten, wie sich dieser Ansatz in Zukunft
entwickeln wird.
Derzeit wird untersucht, ob Biofeedback-
anordnungen auch mit der fMRT-Technik
realisiert werden können. Im Prinzip funktio-
niert diese Technik wie das oben beschriebene
Neurofeedback, nur dass beim fMRT die trä-
gen hämodynamischen Reaktionen zurück-
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gemeldet werden (Abb. 5-26). Vor dem Versuch


wird eine bestimmte Hirnregion gewählt, für
welche die hämodynamischen Werte dem
Probanden zurückgemeldet werden sollen. Abbildung 5-27: TMS-Versuchsanordnung.
Diese Werte werden kontinuierlich gemessen
und statistisch aufbereitet, bevor sie wie beim
Neurofeedback zurückgemeldet werden. Die- ses kurzzeitig aufgebaute magnetische Feld19
ses Vorgehen wird in der Literatur als Echtzeit- werden elektrische Ströme unterhalb der
fMRT (Real-time fMRI) bezeichnet. Allerdings Spule induziert. Die Induktion beeinflusst di-
beträgt die Verzögerung der Rückmeldung ca. rekt das Hirngewebe, das ca. 2 cm unterhalb
10–15 Sekunden, sodass es für den Probanden der Schädelposition liegt, an der der magneti-
schwierig wird, den Zusammenhang zwischen sche Impuls appliziert wird. Indirekt werden
der neuronalen Aktivität und seinen Einwir- jedoch über elektrische Ausbreitung und an-
kungen zu realisieren. Ob diese Technik zu dere Mechanismen auch weiter entfernte
anwendbaren Resultaten führen wird, muss Hirngebiete erreicht (Eisenegger et al., 2008).
sich noch erweisen. Im Wesentlichen werden drei TMS-Strategien
angewendet:
1. Bei der niederfrequenten wiederhol-
5.9. Beeinflussung ten TMS-Applikation (Slow Repetitive TMS,
des Gehirns srTMS) werden mit niedriger Wiederholungs-
rate (≤ 1 Hz) die TMS-Impulse über einen
Das Gehirn in seiner Aktivität und damit auch längeren Zeitraum (10–30 Minuten) appli-
das Verhalten von außen zu beeinflussen, ist ziert. Diese Darbietungsform führt in der Re-
eine interessante Überlegung. Hierzu bieten gel zu einer kurzzeitigen und vorübergehen-
sich zwei Methoden an: die transkranielle den neuronalen Hemmung des so beeinfluss-
Magnetstimulation (TMS) und die trans- ten Gewebes. Das ausgelöste Phänomen wird
kranielle Gleichstromstimulation (tDCS). auch als „virtuelle Läsion“ bezeichnet, um
Die TMS-Technik basiert auf dem Prinzip der zum Ausdruck zu bringen, dass vorübergehend
elektromagnetischen Induktion. Mittels einer ein bestimmter Hirnbereich in seiner Aktivität
geeigneten Spule (Abb. 5-27) wird über dem eingeschränkt ist. Ein Beispiel hierfür ist die
interessierenden Hirngebiet ein elektromag-
netischer Impuls appliziert, der das darunter- 19 Dieses Magnetfeld kann größer als 1 Tesla
liegende Hirngewebe beeinflusst. Durch die- werden.

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5.10. Läsionsstudien 141

kurzzeitige Hemmung des primären Motor- Das Hauptproblem dieser Techniken be-
kortex, sodass die von diesem Hirnbereich steht darin, dass sie nicht bei Personen an-
kontrollierten Fingerbewegungen etwas lang- wendbar sind, die zu epileptischen Anfällen
samer sind als im unbeeinflussten Zustand neigen. Mitunter können die TMS-Impulse
(Jäncke et al., 2004). auch schmerzhaft sein, v. a. dann, wenn sie
2.  Das Hirngewebe kann auch erregt bzw. über den lateralen Hirngebieten appliziert
aktiviert werden. Dazu werden die TMS-Im- werden, da gleichzeitig die Gesichtsmuskeln
pulse für eine kurze Periode (2–20 s) hochfre- stimuliert werden, was zu Muskelzuckungen
quent (2–40 Hz) auf die interessierende Hirn- führt. Ein weiterer ungünstiger Aspekt, v. a. im
region appliziert. Eindrücklich wurde der Zusammenhang mit experimentellen Unter-
aktivierende Einfluss von Klimesch und Kolle- suchungen, ist die Tatsache, dass die Proban-
gen (Klimesch et al., 2003) nachgewiesen. Die den die TMS-Applikation praktisch immer
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Wissenschaftler stimulierten den Parietallap- bemerken, was eine echte Kontrollstimulation


pen für 2 Sekunden mit TMS-Impulsen im Al- praktisch unmöglich macht.
pha-Frequenzbereich (ca. 10 Hz) und „zwan- Als Alternative bietet sich die transkra-
gen“ damit diesem Hirngebiet diese Frequenz nielle Gleichstromstimulation an (Transcra-
auf. Als Folge oszillierte dieses Hirngebiet im nial Direct Current Stimulation, tDCS). Die­
Alpha-Band und die von diesem Hirngebiet se Technik arbeitet mit zwei großflächigen
kontrollierte psychische Funktion (hier: men- Schwammelektroden (ca. 20 cm2), über die
tales Rotieren von Objekten) wurde von den schwache Gleichströme (ca. 1–2 mA) geleitet
Versuchspersonen besser bearbeitet. werden. Eine Elektrode wird über dem inte-
3. Werden kurzfristig Impulse auf Hirn- ressierenden Hirngebiet angebracht, während
gebiete appliziert, während diese in die Vor- die andere über einer Kontrollregion plat-
bereitung oder Kontrolle bestimmter Hirn- ziert wird (Abb. 5-28). Je nach Stromrichtung
funktionen eingebunden sind, können diese kann die interessierende Elektrode zu einer
Funktionen gestört werden. Solche Störungs- Anode oder einer Kathode werden. Ist die
experimente geben Aufschluss darüber, zu interessierende Elektrode die Anode, dann
welchem Zeitpunkt der Informationsverarbei- erregt man das darunterliegende Hirngewebe
tung bestimmte psychische Prozesse bearbei- (anodale Stimulation), während das unter
tet werden. der Kathode liegende Hirngewebe gehemmt
wird (kathodale Stimulation). Mit dieser
Technik ist eine Reihe von Befunden aus dem
Elektrode
Bereich der Grundlagenforschung, aber auch
für die therapeutische Anwendung berichtet
worden. Als Beispiel soll hier die Verbesse-
rung von motorischen Trainings bei Schlag-
anfallpatienten genannt werden (Bolognini et
al., 2011).

Stromquelle
5.10. Läsionsstudien

Die Untersuchung von hirngeschädigten Pa-


tienten war lange Zeit der wichtigste Ansatz
Abbildung 5-28: tDCS an einer Modellperson. zur Untersuchung der neuronalen Grundlagen

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142 5.  Methoden der kognitiven Neurowissenschaften

von menschlichen Kognitionen. Im Rahmen anwendbar. Wenn bei unterschiedlichen Auf-


dieses Versuchsansatzes werden die Hirnläsio- gaben unterschiedliche Aktivierungsmuster
nen zunächst so genau wie möglich identifi- auftreten, spricht man ebenfalls von einer
ziert und kartografiert und anschließend die doppelten Dissoziation. Allerdings ist dies nur
Verhaltensänderungen bei dem entsprechen- eine schwache doppelte Dissoziation, denn die
den Patienten oder bei Gruppen von Patienten Unabhängigkeit der beiden Prozesse (und der
mit ähnlichen Läsionen gemessen. Sofern Ver- sie kontrollierenden Hirngebiete) ist nicht
haltensveränderungen oder Veränderungen in zweifelsfrei mit der funktionellen Bildgebung
bestimmten kognitiven Bereichen auftreten, belegbar, da die gemessenen Aktivierungs-
können diese unter bestimmten Vorausset- muster nur korrelativ sind. Das bedeutet, aus
zungen mit der Läsion in Verbindung gebracht diesen Daten ist nicht zu erkennen, ob die Ak-
werden. tivierungen in den jeweiligen Hirngebieten für
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Häufig wird nach dem Prinzip der ein- die Durchführung der jeweiligen Aufgabe
fachen Dissoziation vorgegangen. Hierbei wirklich kausal wichtig sind.
wird die Läsion direkt mit dem Verhaltens-
ausfall oder der kognitiven Beeinträchtigung
in Verbindung gebracht. Wenn z. B. ein Patient 5.11. Weiterführende
eine Läsion im Gyrus fusiformis aufweist, ist er Methoden
in der Regel nicht mehr in der Lage, Gesichter
zu erkennen. Er leidet unter einer Prosopa- Die Methodenentwicklung in den kognitiven
gnosie. Es ist allerdings nicht zweifelsfrei si- Neurowissenschaften hat in den letzten Jahren
cher, dass der Gyrus fusiformis wirklich für die eine rasante Geschwindigkeit angenommen.
Gesichtswahrnehmung verantwortlich ist. Insbesondere die Weiterentwicklung mathe-
Daher müsste jetzt ein Patient oder eine Pa- matischer und statistischer Algorithmen zur
tientengruppe gefunden werden, die unter ei- Auswertung der doch recht großen Datenmen-
ner anderen Läsion und damit unter einem gen, die bei der Bildgebung und den neurophy-
anderen psychischen Ausfall leidet. Man siologischen Verfahren anfallen, hat enorme
spricht dann von einer doppelten Dissozia- Fortschritte gemacht. Dies ist auch durch die
tion. Liegt eine solche doppelte Dissoziation technischen Fortschritte der Computertech-
vor, lässt sich die Unabhängigkeit von zwei nologie bedingt. Während noch vor 25 Jahren
verschiedenen Dissoziationen nachweisen. äußerst teure Workstations notwendig waren,
Der eine Patient zeigt Beeinträchtigungen bei um die großen Datenmengen sinnvoll aus-
der Aufgabe A, aber nicht bei Aufgabe B. Der zuwerten, sind heute schon durchschnittlich
andere Patient oder die andere Gruppe zeigt ausgestattete Computer oder Laptops in der
Beeinträchtigungen bei der Aufgabe B, kann Lage, die komplexen Analysen durchzuführen.
aber Aufgabe A problemlos bewältigen. Wenn Besonders iterative Analysen, die zeit- und
eine solche Konstellation vorliegt, wird belegt, speicherintensiv sind, werden zunehmend ver-
dass die beiden Aufgaben von zwei voneinan- wendet. Eine mittlerweile sehr gebräuchliche
der unabhängig funktionierenden Prozessen Technik ist die Independent-Component-Ana-
verarbeitet werden und in unterschiedlichen lyse (ICA). Die ICA ist ein iteratives Verfahren,
Hirnarealen ablaufen. Ist die Lokalisation der das ähnlich wie die Hauptkomponentenana-
Läsionen bekannt, kann auf den Ort der Ver- lyse mehrdimensionale Datensätze in von-
arbeitung zurückgeschlossen werden. einander unabhängige Komponenten zerlegt.
Das Prinzip der doppelten Dissoziation ist Dies ist für die Auswertung von EEG- und
auf die Befunde der funktionellen Bildgebung MEG-Daten, aber auch für die Auswertung von

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5.11.  Weiterführende Methoden 143

fMRT-Daten außerordentlich nützlich, denn die doch recht großen Datenmengen bringen.
man kann nicht nur recht elegant Artefakte, Auch die verschiedenen Maschinenlernalgo-
sondern auch raumzeitliche Aktivierungsmus- rithmen, die für verschiedene Klassifizierungs-
ter erkennen. aufgaben entwickelt wurden, werden zuneh-
Die Abbildung 5-29 zeigt ein typisches Bei- mend in der modernen Bildgebung eingesetzt.
spiel einer ICA-Analyse eines EEG-Datensat- Für Aufsehen sorgte eine neue Arbeit, in der
zes. Hier wurden kontinuierlich aufgenom- es den Forschern gelang, auf der Basis korti-
mene EEGs während der Ruhe, des Hörens kaler Aktivierungsmuster zu erkennen, wel-
und des Spielens von Musik berechnet. Man che auditorischen Sprachreize diese speziel-
erkennt raumzeitliche Aktivierungsmuster für len Aktivierungsmuster hervorgerufen hatten.
die Powerwerte in den verschiedenen Fre- Dazu hatten sie Patienten, die für neurochi-
quenzbändern. Sie reflektieren unterschiedli- rurgische Operationen vorbereitet wurden,
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che Hirnaktivierungsmuster, die bei diesen Elektroden auf die Kortexoberfläche platziert
drei Bedingungen beteiligt sind. Solche Ana- und damit die neurophysiologischen Aktivie-
lysen sind gerade für komplexe Daten höchst rungsmuster gemessen, die beim Präsentieren
nützlich, denn mit ihnen kann man Ordnung in von Sätzen hervorgerufen wurden. In anderen

Abbildung 5-29: Ergebnisse einer ICA-Analyse von EEG-Daten. Die EEGs wurden in drei Bedingungen
registriert: Ruhe, Hören von Musik und Spielen des gehörten Musikstückes (Scale) auf dem Klavier. Dar-
gestellt sind fünf unterschiedliche ICs, die jeweils unterschiedliche Anteile der Gesamtvarianz reprä-
sentieren. Die unterschiedlichen Graustufen repräsentieren gegensätzliche Aktivierungen (hellgrau:
Aktivitätszunahme, dunkelgrau: Aktivitätsabnahme). Die Hirngebiete, welche in gleicher Graustufe dar-
gestellt sind, sind kohärent, also gleichsinnig aktiviert (nach Jäncke & Alahmadi, 2016b).

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144 5.  Methoden der kognitiven Neurowissenschaften

Worten: Sie konnten anhand der Hirnaktivie- sind EEG und MEG unerreicht gut (Abb. 5-30).
rungen erkennen, welche akustischen Sprach- Mit diesen Methoden ist eine zeitliche Auf-
reize das Gehirn gerade verarbeitet (Makin et lösung im Millisekundenbereich möglich,
al., 2020). Die Präzision dieses Brain-Readings was insbesondere für physiologische Prozesse
war mit circa 40 % Treffergenauigkeit bemer- entscheidend ist, die in die Kontrolle psy-
kenswert hoch und lässt vermuten, welche chischer Funktionen eingebunden sind. Die
Möglichkeiten sich mit diesen Methoden in funktionelle Magnetresonanztomografie hat
Zukunft anbieten. Ähnliche mathematische hinsichtlich der zeitlichen Auflösung gegen-
Methoden sind auch verwendet worden, um über EEG und MEG einen erheblichen Nach-
anhand von EEG-Aktivierungen und hirnana- teil, denn die BOLD-Reaktion entfaltet sich
tomischen Besonderheiten einzelne Personen im Sekundenbereich mit einem Reaktions-
(Valizadeh et al., 2018, 2019) oder das bio- maximum von ca. 4–8 s nach Reizpräsenta-
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logische Alter zu identifizieren (Valizadeh et tion. Der Vorteil der fMRT liegt in der räum-
al., 2017). Die Verwendung solcher Methoden lichen Auflösung, die 4–16 mm3 erreicht. Bei
lassen für die Zukunft interessante Ansätze für EEG und MEG ist die räumliche Auflösung
die Entwicklung von Biomarkern zur Diagnose etwas weniger gut, es wird eine Genauigkeit
psychischer Erkrankungen und für die präzi- von ca. 10–20 mm3 erreicht. Mit der PET-
sere Justierung von psychopharmakologischen Technik sind ähnliche räumliche Auflösun-
Interventionen vermuten. gen wie bei der funktionellen Magnetreso-
Interessante Neuentwicklungen deuten sich nanztomografie möglich. Hinsichtlich der
auch im Bereich der EEG-Technologie an. So zeitlichen Auflösung ist die PET allerdings
wird derzeit an der Entwicklung von Trocken- ungenau und liegt lediglich im Minuten-
elektroden gearbeitet, mit denen die Elek- bereich, was für psychologische Prozesse
troden schneller und wahrscheinlich auch eher unbefriedigend ist.
weniger belastend für die Probanden auf der PET und die elektrokortikalen Ableitungen
Kopfoberfläche angebracht werden können. Es setzen erhebliche Eingriffe in den Organismus
werden auch Methoden getestet, mit denen des Probanden voraus. Auch die TMS- und
man mit wenig Elektroden möglichst viel In- tDCS-Technik sind invasiv, sie sind bei sachge-
formationen über die neurophysiologische Ak- mäßer Anwendung und bei Einhaltung der
tivität des Gehirns gewinnen kann (https:// Sicherheitskriterien allerdings sichere Verfah-
www.neurovigil.com). Solche Techniken könn- ren ohne nennenswerte gesundheitliche Risi-
ten dann die mobile Nutzung des EEGs voran- ken. Die Methoden unterscheiden sich auch
treiben und damit auch für die Diagnostik und hinsichtlich ihres Investitions- und Betreu-
Therapie von neurologischen und psychiatri- ungsaufwands. MRT und PET sind die teuers-
schen Störungen nutzbar werden. ten und aufwendigsten Verfahren. Ein recht
günstiges Verfahren ist das EEG, mit dem un-
ter Ausnutzung der zur Verfügung stehenden
5.12. Übersicht über die ­ sehr guten Analysetechniken hervorragende
Methoden der kognitiven Resultate erzielt werden können.
Neurowissenschaften

Die dargestellten Methoden können im Hin-


blick auf ihre räumliche und zeitliche Auf-
lösung sowie ihre Invasivität unterteilt wer-
den. Hinsichtlich der zeitlichen Auflösung

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5.13. Zusammenfassung 145

3
Gehirn MEG & ERP fMRI

2
PET natürliche
Optical
Läsionen
Map imaging
1 TMS

induzierte Läsionen
Kolumne 0
Log Größe (mm)

Schicht –1 Multi unit recording

Neuron Lichtmikroskop
Single unit
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–2
Dendrit
Patch clamp
–3

Synapse
–4

–3 –2 –1 0 1 2 3 4 5 6 7
Millisekunde Sekunde Minute Stunde Tag
Log Zeit (s)

Abbildung 5-30: Räumliche (Ordinate) und zeitliche Auflösung (Abszisse) der einzelnen bildgebenden
Verfahren. Die klassischen bildgebenden Verfahren sind in dunkler Schattierung dargestellt. EEG, MEG
und ERP sind in heller Schattierung dargestellt, da diese Verfahren nicht eindeutig als bildgebende Ver-
fahren aufgefasst werden können. Neben den klassischen bildgebenden Verfahren sind zur Orientierung
auch noch die räumlich-zeitlichen Auflösungen von Läsionen und anderen neurophysiologischen Me-
thoden dargestellt (z. B. Patch-clamp, Einzelzellableitungen). TMS = transkranielle Magnetstimulation,
die als Ergänzung zu den bildgebenden Verfahren aufgefasst wird. (Nachgezeichnet und modifiziert
nach Abbildung 4-36 aus Gazzaniga et al., 2002)

5.13. Zusammenfassung • Methoden, die typischerweise in Kogniti-


onsexperimenten genutzt werden, sind
• Die kognitiven Neurowissenschaften ha- auch die Grundlage für neurowissen-
ben von Methodenentwicklungen enorm schaftliche Experimente, die sich mit Ko-
profitiert. Diese Methoden werden nicht gnitionen auseinandersetzen. Typische
nur in der Forschung im Bereich der kogni- Versuchsanordnungen sind Reaktionszeit-
tiven Neurowissenschaften genutzt, son- experimente, Augenbewegungsanalysen,
dern v. a. auch in der medizinischen For- Arbeiten mit Simulatoren und virtuellen
schung. Aktuell machen kognitionsrele- Realitäten, aber auch systemtheoretische
vante Themen ca. 20 % der publizierten Modellierungen.
Studien aus, die mit diesen Methoden ar- • Unter dem Begriff „Bildgebung“ werden
beiten. Methoden subsumiert, die letztlich die Re-

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146 5.  Methoden der kognitiven Neurowissenschaften

konstruktion anatomischer Strukturen (in • Für anatomische Messungen sind die Rela-
den Neurowissenschaften die Rekonstruk- xationszeiten entscheidend. Jeder Gewebe-
tion des Gehirns) erlauben. Dazu gezählt typ verfügt über typische Relaxationszei-
werden auch Methoden, die neurophysiolo- ten, anhand derer berechnet wird, welcher
gische Prozesse (z. B. Durchblutungsver- Gewebetyp (graue oder weiße Substanz)
änderungen oder neurophysiologische Ak- „angeregt“ wurde. Der jeweils angeregte
tivierungen) auf anatomische Strukturen Gewebetyp wird als Graustufe in den digi-
beziehen. talen Bildern dargestellt.
• Typische bildgebende Verfahren sind • Unter dem Begriff „strukturelle Bild-
Magnetresonanztomografie (MRT), Diffu- gebung“ wird die Analyse von neuroanato-
sion Tensor Imaging (DTI), Sonografie mischen Daten verstanden, die mittels Mag-
(Messung von Schallreflexionen), Com- netresonanztomografie erhoben wurden.

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putertomografie (CT, Messung der Rönt- Die Analyse struktureller Daten kann fol-
gen-Absorption), Szintigrafie (Aktivität ei- gendermaßen durchgeführt werden: (1)
nes Tracers), Positronen-Emissions-Tomo- stereotaktische Normalisierung des gemes-
grafie (PET, Messung der Tracerkonzen- senen Gehirns in einen „Standardraum“;
tration), Spektroskopie und die optische (2) Segmentierung der grauen und weißen
Bildgebung mittels Nahinfrarotspektrosko- Substanz; (3) Modellierung von lokalen und
pie (NIRS). EEG und MEG werden zuneh- globalen Formaspekten des Gehirns; (4)
mend im Sinne von bildgebenden Verfahren Modellierung der Form und des Verlaufs
genutzt. von markanten Sulci; (5) Schätzung der
• Die Magnetresonanztomografie ist das Kortexdicke oder der Gyrifizierung (Fal-
bildgebende Verfahren, das in den letzten tungsgrad). Grundlage dieser Analysen ist
Jahren die kognitiven Neurowissenschaften die „Zerlegung“ des Gehirns in viele kleine
am meisten beeinflusst hat. Ein Magnet- digitale Voxel.
resonanztomograf besteht im Prinzip aus • Bei der Diffusion-Tensor-Imaging-Tech-
einem starken Magneten (von 1–7 Tesla), in nik (DTI) werden Unterschiede in der Dif-
dem der Proband platziert wird. fusion der Wassermoleküle innerhalb des
• Für die Magnetresonanztomografie ist der Zentralnervensystems gemessen, v. a. die
Spin des Protons wesentlich. Die Drehung „Anisotropie“, d. h. der Grad der Einschrän-
des Protons (Spin) erzeugt ein schwaches kung der Diffusion. Isotrop bedeutet, dass
Magnetfeld, sodass sich das Proton wie ein die Diffusion mehr oder weniger gleich-
kleiner Stabmagnet verhält, der durch ein mäßig in alle Richtungen verläuft. Aniso-
äußeres Magnetfeld beeinflusst werden trop bezeichnet dagegen eine Diffusion nur
kann. Die Bewegung des Protons erzeugt in eine oder einige Richtungen.
letztlich ein messbares Signal. Die Spins • Grundlage der funktionalen Magnet-
richten sich in einem starken äußeren Mag- resonanztomografie ist der BOLD-Ef-
netfeld längs des Magnetfeldes aus (Längs- fekt. Im Wesentlichen wird er durch einen
magnetisierung). Durch Applikation eines vorübergehenden und lokalen Überschuss
hochfrequenten Impulses können die Spins an sauerstoffreichem Blut bedingt. Aus-
zum „Umklappen“ in die Horizontale be- gelöst wird dieser Überschuss an oxy-
wegt werden (Quermagnetisierung). Nach geniertem Blut durch die lokale neuronale
dem Hochfrequenzimpuls bewegen sich die Erregung. Vor diesem Überschuss an oxy-
Spins wieder in die Ausgangslage zur Längs- geniertem Blut entsteht zunächst mehr
magnetisierung zurück (Relaxation). deoxygeniertes Blut, da Sauerstoff zur

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5.13. Zusammenfassung 147

Deckung des Energiehaushaltes notwen- sensomotorische Rhythmus (10–15  Hz)


dig ist. über den Motorregionen.
• Die BOLD-Reaktion verläuft sehr langsam • Ereigniskorrelierte Potenziale (EKP)
und erreicht ihr Maximum ca. 4–8 s nach werden durch Mittelung vieler EEG-Seg-
der Reizpräsentation. Nach ca. 10–12 s mente in Bezug zu einem Triggerreiz be-
wird wieder ein Normalniveau erreicht. In rechnet. Sie können in endogene und exo-
der Literatur wird diese Reaktion häufig gene Komponenten unterteilt werden.
auch als „Aktivierung“ bezeichnet, obwohl Wichtige exogene Komponenten sind audi-
der Begriff „hämodynamische Reaktion“ torische Hirnstammpotenziale, Kompo-
angemessener wäre. Die räumliche Auf- nenten mit mittlerer (10–50 ms nach Reiz-
lösung liegt bei ca. 1–12 mm3. präsentation: N0, P0, Na, Pa, Nb) und mit
• Die statistische Analyse von fMRT-Daten langer Latenz (ca. 70–300 ms nach Reiz-
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muss sehr sorgfältig durchgeführt werden. präsentation: P1, N1, P2). Die Mismatch
In diesem Zusammenhang ist die Korrektur negativity (MMN) kann ebenfalls dazu ge-
für multiple statistische Tests sehr wichtig, rechnet werden. Zu den endogenen Kom-
da bei der statistischen Analyse dieser Da- ponenten werden die Processing-negativity
ten in der Regel sehr viele statistische Tests (PN), die P3 (oder auch P300 genannt) und
durchgeführt werden müssen. die N400 gezählt. Auch die langsamen
• Mit der PET-Methode werden lokale Kon- Gleichspannungsverschiebungen vor moto-
zentrationen von radioaktiv markierten rischen Reaktionen wie die Contingent ne-
Substanzen in bestimmten Hirngebieten gative Variation (CNV) und das Bereit-
gemessen. Ist ein bestimmtes Hirngebiet schaftspotenzial gehören zu den endogenen
neuronal erregt, nimmt lokal die Durch- Komponenten.
blutung zu. Dies hat zur Folge, dass die ra- • Die an der Schädeloberfläche gemessenen
dioaktiv markierten Substanzen in diesen Signale entstehen an den Dendriten und
Hirngebieten mit höherer Konzentration Synapsen der kortikalen Neurone. Nega-
vorliegen. Diese Technik ist für die kogniti- tive Feldpotenziale in der Nähe der Kort-
ven Neurowissenschaften heutzutage eher exoberfläche bedingen negative EEG-Po-
von randständiger Bedeutung. tenziale. Positive Feldpotenziale an der
• Das EEG ist die am häufigsten genutzte Kortexoberfläche resultieren dagegen in
Methode in den kognitiven Neurowissen- positiven EEG-Potenzialen. Die an der
schaften. Gemessen wird die elektrische Schädeloberfläche gemessenen EEG-Po-
Aktivität des Gehirns, vorrangig an der tenziale sind Summenpotenziale vieler
Schädeloberfläche. Seltener genutzte Vari- kortikaler Neurone.
anten messen die elektrische Aktivität mit- • Der Rückschluss von der Verteilung der
tels Elektroden, die direkt in das Hirnge- elektrischen Aktivität an der Schädelober-
webe eingeführt werden. fläche auf die intrazerebralen Quellen ist
• Zur Analyse können die Frequenzbänder ein prinzipiell unlösbares Problem (das in-
oder die ereigniskorrelierten Potenziale verse Problem). Aktuell werden Schätz-
ausgewertet werden. Typische Frequenz- methoden genutzt, mit denen unter der
bänder sind (1) der Delta-Rhythmus Annahme bestimmter Randbedingungen
(< 4 Hz), (2) der Theta-Rhythmus (4–7 Hz), gute Ergebnisse hinsichtlich der Schätzung
(3) der Alpha-Rhythmus (8–12 Hz), (4) der intrazerebraler Quellen erzielt werden. Die
Beta-Rhythmus (13–30  Hz), (5) der intrazerebralen Quellen werden als Dipole
Gamma-Rhythmus (> 30 Hz) und (6) der aufgefasst. Die räumliche Auflösung, die

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148 5.  Methoden der kognitiven Neurowissenschaften

mit diesen Methoden erzielt wird, hängt ab kation (2–20 s mit 2–40 Hz) zur funktiona-
von der Anzahl der genutzten Elektroden len Erregung und die kurze Präsentation
(je mehr, desto besser), vom Hirngebiet, für von Einzelimpulsen zur kurzen Störung
das die Schätzung vorgenommen wird, und neurophysiologischer Prozesse.
von der Qualität der EEG-Daten. Es werden • Bei der transkraniellen Gleichstromstimu-
räumliche Auflösungen von ca. 10–20 mm3 lation (Transcranial Direct Current Sti-
erreicht. mulation, tDCS) werden zwei großflächige
• Mit der Magnetenzephalografie (MEG) Schwammelektroden (ca. 20 cm2) verwen-
werden die vom Gehirn generierten schwa- det, über die schwache Gleichströme (ca.
chen Magnetfelder gemessen. Die im MEG 1–2 mA) geleitet werden. Hirngewebe un-
gemessenen Magnetfelder liegen unterhalb ter der Anode wird erregt (anodale Sti-
eines pT (pico Tesla), ihre Stärke beläuft mulation), während das unter der Kathode
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sich damit auf weniger als den hundertmil- liegende Hirngewebe gehemmt wird (ka-
lionsten Teil der Stärke der durch das Erd- thodale Stimulation).
feld hervorgerufenen Magnetfelder. Sie • Läsionsstudien sind die klassischen Me-
werden ausschließlich durch die intrazel- thoden, um die Bedeutung einzelner Hirn-
lulären Ströme generiert. gebiete für die Kontrolle und Generierung
• Die Nahinfrarotspektroskopie (NIRS) ar- von psychischen Funktionen nachzuwei-
beitet mit Lichtstrahlen im Bereich von 650 sen. Bei einer einfachen Dissoziation wird
bis 950 nm, die auf das Gehirn projiziert versucht, die Läsion eines Patienten mit
werden. Das vom Gehirngewebe reflek- dem Verhaltensausfall in Verbindung zu
tierte Licht wird gemessen. Anhand der bringen. Bei einer doppelten Dissoziation
spektroskopischen Analyse ist es dann werden Patienten gesucht, die bei einer be-
möglich, auf die Konzentration von oxy- stimmten Läsion A immer einen bestimm-
geniertem und deoxygeniertem Blut zu ten Verhaltensausfall A’ zeigen, ohne dass
schließen. Des Weiteren erlaubt dieses Ver- ein anderes Verhalten B’ beeinträchtigt
fahren auch die Messung des zerebralen wird. Diese Patienten werden von Patienten
Blutflusses (CBV). Die Messung ist aber ins- mit Läsionen in einem anderen Hirngebiet
besondere bei Erwachsenen noch proble- B unterschieden, die einen bestimmten
matisch; bei Babys dagegen wird sie erfolg- Verhaltensausfall B’ zeigen, ohne dass das
reich eingesetzt. Verhalten A’ beeinträchtigt wird.
• In jüngster Zeit werden Neurofeedback, • Die dargestellten Verfahren unterscheiden
Brain-Computer-Interface und Echtzeit- sich hinsichtlich der zeitlichen und räumli-
fMRT für therapeutische Anwendungen chen Auflösung und im Hinblick auf ihre
interessant. Invasivität. EEG und MEG können physio-
• Die Hirnaktivität kann von außen mittels logische Prozesse im Millisekundenbereich
der transkraniellen Magnetstimulation auflösen. Die räumliche Auflösung für die
(TMS) und der transkraniellen Gleichstrom- geschätzten intrazerebralen Quellen vari-
stimulation (tDCS) beeinflusst werden. iert zwischen 10 und 20 mm3. fMRT und
• Bei der TMS-Technik werden im Wesent- PET weisen eine sehr gute räumliche Auf-
lichen drei Varianten unterschieden: die lösung von 4–16 mm3 auf. Die zeitliche
niederfrequente wiederholte TMS-Applika- Auflösung ist bei diesen Verfahren aller-
tion (Slow Repetitive TMS, srTMS) zur dings mäßig, wobei die fMRT im Sekun-
funktionalen Hemmung des Hirngewebes, denbereich und PET im Minutenbereich
die hochfrequente kurzfristige TMS-Appli- auflöst.

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5.15.  Weiterführende Literatur 149

• Aktuell arbeiten verschiedene Forscher- • Erläutern Sie das Grundprinzip der Mag-
gruppen an neuen Methoden, um die neu- netenzephalografie.
rophysiologischen und neuroanatomischen • Erläutern Sie das Grundprinzip der Nah-
Analysen zu verbessern. Zu nennen sind infrarotspektroskopie.
hier neue Techniken wie die ICA, die Nut- • Was ist Neurofeedback?
zung von Maschinenlernalgorithmen oder • Beschreiben Sie das Prinzip der Brain-Com-
die Entwicklung von mobilen EEG-Regis- puter-Interface-Technik.
triertechniken. • Was versteht man unter Echtzeit-fMRT?
Kommentieren Sie diese Anwendung.
• Beschreiben Sie das Grundprinzip des TMS.
5.14. Fragen und Aufgaben • Welche Varianten des TMS kennen Sie?
• Beschreiben Sie das Grundprinzip des
• Nennen Sie die wichtigsten Methoden, die
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tDCS.
in den kognitiven Neurowissenschaften ge- • Was versteht man unter einer doppelten
nutzt werden. Dissoziation?
• Welche Bedeutung haben die klassischen • Was versteht man unter ICA (Independent-
Methoden der kognitiven Psychologie für Component-Analyse)?
die kognitiven Neurowissenschaften?
• Welche Methoden werden zu den bild-
gebenden Verfahren gerechnet?
• Erläutern Sie das Grundprinzip der Magnet- 5.15. Weiterführende Literatur
resonanztomografie.
• Wie werden anhand der MRT-Daten die Hüsing, B., Jäncke, L., Tag, B. (2006). Impact
Assessment of Neuroimaging: Final Report.
einzelnen Gewebekompartimente ge-
Zürich: Vdf Hochschulverlag.
schätzt (z. B. graue und weiße Substanz)?
• Was versteht man unter der voxelbasierten
Jäncke, L. (2005). Methoden der Bildgebung in
der Psychologie und den kognitiven Neuro-
Morphometrie? wissenschaften. Stuttgart: Kohlhammer.
• Erklären Sie die BOLD-Reaktion. Michel, C. M., Koenig, T., Brandeis, D., Gianotti,
• Erläutern Sie das Grundprinzip der Positro- L. R . R ., Wackermann, J. (2009). Electrical
nen-Emissions-Tomografie (PET). Neuroimaging. Cambridge: University Press.
• Erläutern Sie, wie EEG-Elektroden auf der Nitsche, M. A., Paulus, W. (2011). Transcranial
Schädeloberfläche angebracht werden. direct current stimulation – update 2011. Res-
• Welche EEG-Rhythmen (oder Frequenz- tor Neurol Neurosci, 29(6), 463–492.
bänder) kennen Sie? Ridding, M. C., Rothwell, J. C. (2007). Is there a
• Was sind ereigniskorrelierte Potenziale future for therapeutic use of transcranial mag-
netic stimulation? Nat Rev Neurosci, 8(7),
(EKP)?
• Beschreiben Sie ein typisches EKP.
559–567.
Rösler, F. (2011). Psychophysiologie der Kogni-
• Was sind Hirnstammpotenziale? tion: Eine Einführung in die kognitive Neuro-
• Worin unterscheiden sich endogene von wissenschaft. Heidelberg: Spektrum Aka-
exogenen EKP? demischer Verlag.
• Erläutern Sie die elektrophysiologischen Seifert, J. (2005). Ereigniskorrelierte EEG-Aktivi-
Grundlagen des EEG und der EKP. tät. Oberhaching: Dustri.
• Was sind Dipole und wie kann man sie
schätzen?

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151

6. Hemisphärenasymmetrie
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6.2.  Funktionelle Links-rechts-Asymmetrien 153

6.1. Allgemeines Abhängigkeit von der Händigkeit der Patien-


ten überprüft.
Unter dem Begriff Hemisphärenasymmetrie Befunde zur Sprachlateralisierung werden
(auch Lateralisierung genannt) werden ana- häufig mit dem sogenannten Wada-Test er-
tomische und funktionale Unterschiede zwi- hoben. Hierbei wird den Patienten ein sehr
schen der linken und rechten Hirnhemisphäre schnell und kurzzeitig wirkendes Barbiturat
zusammengefasst. Anatomische Links-rechts- (Natrium-Amobarbital) in die Arteria carotis
Unterschiede können im Volumen bestimmter interna injiziert. Infolge der Injektion treten
Hirnareale, in der Gyrifizierung sowie in der Halbseitenlähmungen (Hemiparesen) und je
Form und Länge bestimmter Sulci bestehen. nach Injektionsseite und Sprachlateralisie-
Neben diesen makroskopischen Unterschie- rung des Patienten aphasische Symptome auf.
den können auch Links-rechts-Asymmetrien Zeigen sich z. B. bei Hemmung der linken
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hinsichtlich der Anzahl und des Volumens von Hemisphäre aphasische Symptome, kann da-
Neuronen und Gliazellen sowie des Ausmaßes von ausgegangen werden, dass der Patient
der intrahemisphärischen Verkabelung fest- deutlich linkshemisphärisch sprachdominant
gestellt werden. Unter funktionaler Laterali- ist. An neurologisch gesunden, aber endogen
sierung wird verstanden, dass homotope Hirn- depressiven Patienten wurden während der
areale der linken und rechten Hemisphäre Elektrokrampftherapie Befunde erhoben, die
entweder gänzlich andere Funktionen aus- ebenfalls Rückschlüsse auf die Sprachlatera-
üben oder bestimmte Funktionen in beiden lisierung erlauben. Den Patienten wurden
Hemisphären unterschiedlich effizient ablau- unilateral Elektroschocks an der linken und
fen. Eng verbunden mit der anatomischen und rechten Kopfhälfte appliziert und nachfol-
funktionalen Lateralisierung ist der interhemi- gende Dysphasien (Sprachstörungen) regis-
sphärische Informationsaustausch über das triert. Zusammengefasst konnte in all diesen
Corpus callosum. Studien zur Sprachlateralisierung festgestellt
werden, dass fast alle Rechtshänder über eine
linkshemisphärische Sprachdominanz verfü-
6.2. Funktionelle Links- gen. Hinsichtlich der Sprachlateralisierung
rechts-Asymmetrien von Linkshändern sind die Befunde hetero-
gen. Die Schätzungen für linkshemisphäri-
6.2.1. Sprachlateralisierung sche Sprachdominanz bei Linkshändern
schwanken zwischen 23 und 78 %, während
Sprachlateralisierung bedeutet, dass perzep- eine bihemisphärische Sprachorganisation
tive und expressive Sprachfunktionen bevor- nur bei 9–66 % und eine rechtshemisphäri-
zugt oder effizienter von einer Hemisphäre sche Sprachorganisation bei 11–19 % der
verarbeitet werden. Die für die Verarbeitung Linkshänder festgestellt wird. Mit der nicht-
der Sprachfunktionen effizientere Hemi- invasiven transkraniellen Dopplersonogra-
sphäre wird allgemein auch als „sprachdomi- phie hat eine Forschungsgruppe aus Münster
nante“ Hemisphäre bezeichnet. Im Rahmen bei einer großen Gruppe von gesunden Per-
umfangreicher neurologischer Studien konnte sonen (n  = 326) den Zusammenhang zwi-
die linkshemisphärische Verarbeitungs- bzw. schen Händigkeit und Sprachdominanz ele-
Kontrolldominanz für Sprachmaterial diffe- gant untersuchen können (Knecht et al.,
renziert belegt werden. So wurde z. B. die 2000). Dabei kamen sie zu dem Ergebnis,
Prävalenz der Aphasie bei Vorliegen von dass nur sehr wenige Rechtshänder über reine
rechts- und linkshemisphärischer Läsion in rechtshemisphärische Sprachdominanz ver-

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154 6. Hemisphärenasymmetrie

Tabelle 6-1: Zusammenhang zwischen Händigkeit und kortikaler Sprachdominanz. (Die Daten sind aus
der Publikation von Knecht et al., 2000, entnommen.)

Sprachdominanz, getestet mit der nichtinvasiven ­


transkraniellen Dopplersonographie
Händigkeit rechte Hemisphäre linke Hemisphäre
Starke Rechtshänder   4 % 96 %
Moderate Rechtshänder   6 % 94 %
Schwache Rechtshänder 10 % 90 %
Beidhänder 11 % 89 %
Schwache Linkshänder 22 % 78 %
Moderate Linkshänder 27 % 73 %
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Starke Linkshänder 27 % 73 %

fügen (4–6 %). Bei den Linkshändern dagegen nur nach der vorwiegend genutzten Schreib-
sind es bereits 27 %, die rechtshemisphärisch hand gefragt, sondern auch die Stärke der
sprachdominant sind. Diese Befunde sind be- Rechtshändigkeitspräferenz angeben lassen.
sonders aussagekräftig, da hier ausschließlich Durchschnittlich ca. 10 % der Frauen und ca.
neurologisch gesunde Personen untersucht 11–12 % der Männer gaben an, mit der linken
worden sind, so dass krankheitsbedingte Ver- Hand zu schreiben. Auffallend ist auch, dass
änderungen der Asymmetrie ausgeschlossen in der älteren Arbeit die älteren Personen
werden können (Tab. 6-1). seltener angaben, mit der linken Hand zu
schreiben. In der neuen Arbeit dagegen
nimmt die Linkshändigkeitspräferenz weni-
6.2.2. Händigkeit ger stark mit zunehmendem Alter ab. Die al-
tersabhängige Reduktion der Linkshändig-
Die Händigkeit ist die am häufigsten unter- keitsprävalenz wird mit zwei Aspekten in
suchte und offensichtlichste funktionale Verbindung gebracht: (i) einem in der Vergan-
Asymmetrie. Die Mehrzahl aller Menschen genheit vorhandenen stärkeren sozialen
gebraucht vorwiegend die rechte Hand für all- Druck, die rechte Hand für alltägliche Tätig-
tägliche Verrichtungen. Lediglich ein kleiner keiten zu benutzen, obwohl eine Veranlagung
Prozentsatz benutzt mehrheitlich die linke zur Linkshändigkeit bestand, und (ii) einer ver-
Hand oder beide Hände gleich gut bzw. häufig. meintlich höheren Mortalitätsrate von Links-
Verlässliche Schätzungen der Händig- händern (Halpern & Loren, 1988; Loren &
keitsprävalenz liefern zwei große Studien. Halpern, 1991). Schulkinder wurden noch bis
Eine Arbeit bezieht sich auf eine Umfrage der zum vorigen Jahrzehnt v. a. in Europa und den
Zeitschrift National Geographic, bei der ca. 1,2 USA zur Rechtshändigkeit umerzogen, auch
Millionen US-Amerikaner nach der bevorzug- wenn eine Veranlagung zur Linkshändigkeit
ten Schreib- und Wurfhand befragt wurden bestand. Die leicht erhöhte Sterberate von
(Gilbert & Wysocki, 1992). Eine neuere Arbeit Linkshändern wird mit verschiedenen Ge-
hat im Rahmen einer von der BBC organisier- sundheitsrisiken (z. B. Immunerkrankungen,
ten Internetumfrage ca. 255 000 Personen be- Brustkrebs, Alkoholismus, mentale Retardie-
züglich der genutzten Hand untersucht (Peters rung, Hyperaktivität und Geburtskomplika-
et al., 2006; Tab. 6-2). Die Autoren haben nicht tionen) und einem erhöhten Unfallrisiko in

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6.2.  Funktionelle Links-rechts-Asymmetrien 155

Tabelle 6-2: Händigkeitsprävalenz (in %) für das Benutzen der linken Hand zum Schrei­ben, ­geschätzt
aus zwei Arbeiten. Die Prävalenz zum Benutzen der rechten Hand ist die Komplementärsumme. In der
Studie von Gilbert & Wysocki (1992) wurden 1,2 Millionen US-Amerikaner hinsichtlich ihrer bevorzugten
Schreib- und Wurfhand befragt. Angegeben ist auch die Prävalenz der Subgruppe von Personen, die mit
der rechten Hand schreiben, aber mit der linken Hand werfen. Der in den rechten Spalten angegebene
Datensatz (Peters et al., 2006) gibt die Linkshändigkeitsprävalenz für Männer und Frauen an.

links rechts links links


schrei­ben schrei­ben/ schrei­ben schrei­ben
links werfen
(Gilbert & (Gilbert & (Peters et al., (Peters et al.,
Wysocki, 1992) Wysocki, 1992) 2006) 2006)
Alter in Jahren M F M F M F
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10–20 13,5 10,8 1,8 1,5 11,5  9,5


21–30 13,2 10,8 1,8 1,3 11,4  9,1
31–40 13,3 10,2 1,8 1,3 12,2 10,7
41–50 12  9,8 1,9 1,5 12,2 10,3
51–60  9  7 2,2 2 11,8 10,6
61–70  6  5 3,8 2,9 10,9  9,2
71+  4  4 4 3,2 10,4  8,5
M: Männer, F: Frauen

Verbindung gebracht. Das höhere Unfallrisiko überprüfen, mit welcher Hand vorwiegend ge-
kann damit zusammenhängen, dass sich schrieben, geworfen, eine Zahnbürste gehal-
Linkshänder in der Regel in einer für Rechts- ten oder eine Schere benutzt wird. Häufig ver-
händer konzipierten Welt zurechtfinden müs- wendet wird das Edinburgh Handedness
sen, was gelegentlich zu Problemen führen Inventory (Tab. 6-3). Zur Auswertung wird die
kann, die mit einem erhöhten Unfallrisiko ver- Beantwortung jedes Items gleichwertig auf-
bunden sind. Diese Auffassung ist allerdings summiert und zu einem Gesamthändigkeits-
nicht unwidersprochen geblieben und stimu- index verrechnet. Zu kritisieren ist hieran, dass
liert derzeit Diskussionen (Harris, 1993). nicht jede unimanuale Tätigkeit gleichwertig
Des Weiteren haben beide Studien fest- zur „Gesamthändigkeit“ beiträgt. Gelegent-
gestellt, dass Männer etwas häufiger links- lich werden auch Tätigkeiten abgefragt, die
händig sind als Frauen. Dieser Befund wurde von den befragten Personen nie oder nur
bereits häufiger berichtet. Auffallend ist je- höchst selten durchgeführt werden (z. B. eine
doch, dass diese Geschlechtsunterschiede in Schere halten). Aus diesem Grund schlägt
anderen ethnischen Gruppen stärker oder Marian Annett vor, zur Händigkeitspräferenz-
auch schwächer ausfallen. Insofern ist es mög- messung die Items unterschiedlich zu gewich-
lich, dass kulturelle Faktoren modulierend ten (Annett, 1970). Die wichtigsten sind die
wirksam geworden sind. ersten 5 bzw. 6 Items. Darüber hinaus sind die
Die Händigkeitspräferenz wird in der Regel Versuchspersonen aufgefordert, die erfragten
anhand diverser Fragebogen getestet, die Tätigkeiten dem Versuchsleiter vorzuführen
Fragen bezüglich bestimmter Tätigkeiten nut- (Tab. 6-4), wodurch die kognitive Belastung re-
zen. Alle Fragebogen beinhalten Items, die duziert wird. Annett schlägt vor, die Personen

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156 6. Hemisphärenasymmetrie

Tabelle 6-3: Deutsche Version des Edinburgh Handedness Inventory (nach Oldfield, 1971).

links rechts keine Nutzen Sie


Präferenz jemals die
andere Hand?
  1. schrei­ben
  2. malen
  3. werfen
  4. eine Schere benutzen
  5. eine Zahnbürste benutzen
  6. ein Messer benutzen
  7. einen Löffel halten
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  8. einen Kamm durchs Haar führen


  9. ein Streichholz anzünden
10. eine Dose öffnen
(den Deckel halten)

Tabelle 6-4: Deutschsprachige Version des Händigkeitspräferenzfragebogens von Marian Annett. Im


Unterschied zum Edinburgh Handedness Inventory müssen die Versuchspersonen die jeweiligen Tätig-
keiten vormachen (nach Annett, 1970).

Bitte zeigen Sie, wie Sie … links rechts


  1. einen Brief schreiben
  2. einen Ball aufs Ziel werfen
  3. einen Tennisschläger halten
  4. ein Streichholz beim Anzünden halten
  5. einen Hammer halten
  6. eine Zahnbürste benutzen
  7. eine Schere benutzen
  8. einen Faden durchs Nadelöhr führen
  9. einen Besenstiel beim Fegen oben anfassen
10. Spielkarten austeilen
11. einen Schaufelstiel oben anfassen
12. den Deckel einer Dose abschrauben

in konsistent Rechts- und Linkshändige sowie rechtshändig eingestuft (analog „links“). Dies
Gemischthändige einzuteilen. Wenn z. B. alle hat sich in der neuropsychologischen For-
wichtigen ersten 6 Items (manchmal auch nur schung als sehr fruchtbar erwiesen.
die ersten 5) mit „rechts“ beantwortet werden, Ein grundsätzliches Problem dieser Hän-
wird die betreffende Person als konsistent digkeitsfragebogen besteht darin, dass die

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6.2.  Funktionelle Links-rechts-Asymmetrien 157

Probanden aufgefordert sind, sich vorzustel- ferenz oder „Füßigkeit“ bezeichnet. Leider
len, mit welcher Hand sie die Tätigkeiten aus- existieren zu diesem Phänomen vergleichs-
führen würden, was gewisse Fähigkeiten und weise wenige Studien (Peters, 1988). Den-
den Willen zur Visualisierung erfordert. Es noch lässt sich festhalten, dass Rechtshänder
darf auch nicht außer Acht gelassen werden, eine deutliche Präferenz für den rechten Fuß
dass v. a. bezahlte Probanden geneigt sein beim Treten (einen Ball forttreten) aufweisen,
könnten, die Fragebogen im Sinne einer ver- während für Linkshänder als Gruppe keine
muteten sozialen Erwünschtheit auszufüllen. deutliche Fußpräferenz festzustellen ist (Fuß-
Gerade diese unerwünschten Einflussgrö- präferenz für den rechten Fuß bei Rechtshän-
ßen führten zur Etablierung objektiverer Test- dern: 96–100 %, bei Linkshändern: 16–59 %).
verfahren, v. a. Geschicklichkeitstests (auch Neben der Fußpräferenz fällt eine Leistungs-
Leistungstests genannt), bei denen die Pro- dominanz der Augen hinsichtlich der Seh-
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banden aufgefordert werden, verschiedene schärfe und/oder der Dominanz z. B. beim
Tätigkeiten mit der rechten und linken Hand Anvisieren von entfernten Objekten und beim
durchzuführen. Zur Berechnung der Händig- Zeigen auf ein entferntes Objekt auf. Etwa
keit wird die Leistung der linken Hand von der 70 % aller Menschen bevorzugen das rechte
Leistung der rechten Hand abgezogen, wobei Auge, wobei auch bei dieser funktionalen
diese Differenz auch häufig an der Gesamtleis- Asymmetrie ein Zusammenhang mit der Hän-
tung normiert wird. Der so ermittelte Kenn- digkeit festgestellt werden kann (Bourassa et
wert wird als Lateralisierungskoeffizient be- al., 1996).
zeichnet. Diese Handleistungstests sind aus Eine Befragung, an der mehr als 170 000
verschiedenen Gründen sehr gut zur Messung Personen teilnahmen, ergab, dass das Verhält-
der Händigkeit geeignet: nis der Länge des Indexfingers (2. Finger) zum
• Sie sind objektiv und erlauben die Händig- Ringfinger (4. Finger) mit der Händigkeit zu-
keitsmessung auf einer kontinuierlichen sammenhängt (Manning & Peters, 2009). Das
Skala. Verhältnis von Index- zu Ringfinger ist für die
• Sie sind robuster gegenüber sozialen Ein- dominante und subdominante Hand unter-
flussfaktoren. schiedlich. Bei der dominanten Hand sind
• Sie erfordern keine besondere Vorstellungs- beide Finger annähernd gleich lang, was zu
fähigkeit von Tätigkeiten, die selten durch- einem Verhältnis zwischen Index- und Ring-
geführt werden. finger führt, das nahe 1 ist. Für die subdomi-
• Sie erlauben die Untersuchung von Per- nante Hand ist der Ringfinger in der Regel
sonengruppen, die den Händigkeitspräfe- deutlich länger als der Indexfinger, was zu ei-
renzfragen intellektuell nicht folgen kön- nem kleineren Verhältnis von Index- zu Ring-
nen (z. B. Kinder). finger als bei der dominanten Hand führt
• Trainingseinflüsse auf die Handleistung (Abb. 6-1). Bei Frauen sind diese Verhältnisse
können beurteilt werden (z. B. nach neuro- grundsätzlich größer, da beide Finger sich
logischen Schädigungen). hinsichtlich der Länge mehr ähneln als bei
Männern. Aufgrund des Geschlechtseinflus-
Neben der Händigkeit fällt bei den meisten ses wird angenommen, dass frühgeburtliche
Menschen auch eine Bevorzugung eines Fu- Schwankungen von Geschlechtshormonen
ßes auf (z. B., wenn man einen Ball schießt, (z. B. Testosteron) ursächlich sind.
einen Gegenstand mit den Zehen greift oder
mit dem Fuß etwas zertritt). Dieses Phäno-
men wird analog zur Händigkeit als Fußprä-

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158 6. Hemisphärenasymmetrie

Ring-
finger
Index-
(4D)
finger
(2D)

3
4
4 3 2
2

5 5
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1 1

Linkshänder Rechtshänder

Abbildung 6-1: Beispiel für die Längenverhältnisse zwischen Index- (2. Finger) und Ringfinger (4. Finger)
der rechten Hand getrennt für Rechts- und Linkshänder. Bei Rechtshändern sind beide Finger der rech-
ten (dominanten) Hand in etwa gleich lang. Dadurch resultiert ein Verhältnis nahe 1. Bei Linkshändern
ist die rechte Hand die subdominante Hand. Der Ringfinger ist im Mittel etwas länger als der Indexfinger,
sodass das Längenverhältnis zwischen beiden Fingern kleiner ist und weiter von 1 abweicht als bei den
Rechtshändern.

6.2.3. Experimentalpsychologische Testverfahren, mit denen selektiv eine der


Verfahren beiden Hemisphären gereizt werden kann
(Abb. 6-2). Hierbei werden den Versuchsper-
Funktionelle Hemisphärenasymmetrien wur- sonen kurzzeitig (ca. 100–200 ms) Buchsta-
den intensiv mithilfe von dichotischen Hör- ben, Wörter oder Objekte entweder im rechten
tests und gesichtsfeldabhängigen tachisto- oder im linken Gesichtsfeld dargeboten. Gele-
skopischen Präsentationen untersucht. Die gentlich werden auch beide Gesichtsfelder
gesichtsfeldabhängige tachistoskopische Dar- gleichzeitig stimuliert. Die kurzen Darbie-
bietung diverser Reize ist eines der am häu- tungszeiten sollen verhindern, dass die Ver-
figsten verwendeten neuropsychologischen suchspersonen durch selbst initiierte kurze

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6.2.  Funktionelle Links-rechts-Asymmetrien 159

linkes Auge B

B
T

äre
isph
Hem
linke
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B
T
rechtes Auge

B
e
är
T ph
is
m
He
te
ch
re

Abbildung 6-2: Schematische Darstellung der tachistoskopischen Gesichtsfeldstimulation. Die beiden


Buchstaben (B und T) werden in unterschiedliche Gesichtsfeldhälften projiziert: der Buchstabe /B/ in die
rechte und der Buchstabe /T/ in die linke Gesichtsfeldhälfte. Der Buchstabe /B/ wird im rechten Auge auf
der nasalen Seite und im linken Auge auf der temporalen Seite der Retina abgebildet. Diese Retinainfor-
mationen werden von dort in den linksseitigen visuellen Kortex geleitet. Der Buchstabe /T/ wird ent-
sprechend im rechten Auge auf der temporalen Seite und im linken Auge auf der nasalen Seite der Retina
abgebildet. Von dort werden diese Informationen in den rechtsseitigen visuellen Kortex geleitet.

Augenbewegungen das jeweils andere Ge- Kortex (Areal 17, 18 nach Brodmann) geleitet
sichtsfeld reizen. werden. Temporale Retinabereiche des rech-
Dass durch dieses Verfahren eine spezifi- ten Auges und nasale Retinabereiche des lin-
sche Reizung einer der beiden Hemisphären ken Auges projizieren in den rechten primä-
möglich ist, ist auf die Verschaltung der Seh- ren visuellen Kortex. Werden Wörter oder
nerven zurückzuführen. Das rechte Gesichts- Buchstaben im rechten Gesichtsfeld präsen-
feld ist mit der linken und das linke Gesichts- tiert, werden diese schneller und besser er-
feld mit der rechten Hemisphäre direkt kannt, als wenn sie im linken Gesichtsfeld
verbunden. Bezogen auf beide Augen bedeu- präsentiert werden. Präsentiert man nichtver-
tet dies, dass die Nerven aus dem nasalen bale Reize im linken Gesichtsfeld, werden
Retinabereich des rechten Auges und die diese schneller und präziser erkannt, als
Nerven aus dem temporalen Bereich des lin- wenn sie dem rechten Gesichtsfeld präsen-
ken Auges in den linken primären visuellen tiert werden.

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160 6. Hemisphärenasymmetrie

Diese Leistungsunterschiede werden im arbeitet wird, die zuerst diese Information


Wesentlichen durch zwei Modelle zu erklären übermittelt bekommt (Abb. 6-3). Das würde
versucht. Das erste ist das Modell des direkten bedeuten, dass Bearbeitungsdefizite auftre-
Zugriffs (direct access model), das zweite das ten, wenn die Information in die für die über-
Weiterleitungsmodell (relay model). Im Rah- mittelten Reize subdominante bzw. nicht spe-
men des ersten Modells wird angenommen, zialisierte Hemisphäre übertragen wird. Beim
dass die Information von der Hemisphäre ver- Weiterleitungsmodell wird davon ausgegan-

A)
rGF
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L R

B) C)
IGF IGF

L R

L R

Abbildung 6-3: Schematische Darstellung der Annahmen des Modells des direkten Zugriffs (direct ac-
cess model) und des Weiterleitungsmodells (callosal transfer model). Angenommen wird eine verbale
Stimulation des rechten (rGF) und linken Gesichtsfeldes (lGF). Bei tachistoskopischer Darbietung des
verbalen Reizes im rechten Gesichtsfeld (A) wird dieser Reiz der linken und damit sprachdominanten
Hemisphäre zugeleitet. Die Informationsverarbeitung vollzieht sich dann überwiegend in der linken
sprachdominanten Hemisphäre. (B) Bei tachistoskopischer Darbietung des verbalen Reizes im linken
Gesichtsfeld (lGF) soll gemäß des Weiterleitungsmodells die Information über das Corpus callosum zur
sprachdominanten Hemisphäre weitergeleitet werden. (C) Gemäß dem Modell des direkten Zugriffs
sollen die der subdominanten Hemisphäre zugeleiteten Informationen direkt in der subdominanten
Hemisphäre verarbeitet werden. Ein Übertritt der Informationen auf die sprachdominante Hemisphäre
kann dabei später erfolgen.

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6.2.  Funktionelle Links-rechts-Asymmetrien 161

gen, dass die Verarbeitung bestimmter Infor- vorteil (ROV) bezeichnet. Personen, die be-
mationen immer (oder vorrangig) durch die züglich der Sprachverarbeitung rechtshemi-
spezialisierte Hemisphäre erfolgt. Werden die sphärisch dominant sind, reproduzieren
Informationen mittels der gesichtsfeldabhän- verbales Material akkurater, wenn es dem
gigen Reizung in die nicht spezialisierte Hemi- linken Ohr dargeboten wird. Das heißt, es ist
sphäre übermittelt, werden diese Informatio- ein Rechtsohrvorteil (ROV) für die Verarbei-
nen gemäß dieser Modellvorstellung über tung von sprachlichem Material in der Regel
die Kommissuren in die spezialisierte Hemi- nur bei kortikal linksdominanten Personen
sphäre übertragen. Durch diesen interhemi- und ein Linksohrvorteil (LOV) bei kortikal
sphärischen Informationsaustausch soll ein rechtsdominanten Personen zu beobachten.
Informationsverlust oder auch die Abnahme Diese Ohrvorteilseffekte treten in der Regel
des Signal-Rausch-Verhältnisses erfolgen, das nur bei dichotischen, aber nicht bei monau-
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den Nachteil der dem subdominanten Ge- ralen Testsituationen auf. Daher wird ver-
sichtsfeld angeschlossenen neuronalen Struk- mutet, dass bei der dichotischen Stimulation
turen bedingen soll. bereits subkortikal Selektionsprozesse aus-
Dass dem interhemisphärischen Informa- gelöst werden, die letztlich die Ohrvorteils-
tionsaustausch eine wichtige Bedeutung bei effekte bedingen.
der gesichtsfeldabhängigen tachistoskopi- Die physiologischen Ursachen der Ohr-
schen Reizung zukommt, konnte Roger Sperry vorteilseffekte sind allerdings bis heute noch
(1974) an Patienten mit durchtrenntem Cor- nicht eindeutig geklärt; diskutiert werden
pus callosum nachweisen. Allerdings zeigen unterschiedliche physiologische Modelle­
Untersuchungen unter Verwendung der ta- (Hugdahl, 1995). Wahrscheinlich ist eine
chistoskopischen Darbietungstechnik bei Pa- Wechselwirkung zwischen Bottom-up- und
tienten mit einer Corpus-callosum-Agenesie, Top-down-Mechanismen für das Zustande-
dass diese Patienten „gleich verschieden“ Ur- kommen dieser Ohrvorteile verantwortlich.
teile treffen können, wenn sie aufgefordert Der Bottom-up-Mechanismus basiert auf
werden, die in die beiden Hemisphären über- spezialisierten neuronalen Netzwerken, die
mittelten Informationen miteinander zu ver- bestimmte Reize bevorzugt in einer Hemi-
gleichen. Solche Befunde gaben Anlass zu sphäre verarbeiten. Als Top-down-Mechanis-
der Vermutung, dass bei diesen Patienten mus könnten Aufmerksamkeitseffekte wirk-
auch extracallosale Informationswege (über sam werden, wobei untergeordnete Verarbei-
die vordere Kommissur) zum interhemisphäri- tungszentren durch übergeordnete vorbereitet
schen Informationsaustausch genutzt werden. werden. So ist z. B. vorstellbar, dass die auf
Der dichotische Hörtest ist ein sehr ge- dem linken Gyrus temporalis superior lokali-
bräuchliches Verfahren, mit dem funktionale sierten und für die Sprachverarbeitung spe-
auditorische Asymmetrien untersucht wer- zialisierten neuronalen Netzwerke bei der
den. Das Prinzip dieser Methode besteht da- Sprachverarbeitung stärker aktiviert sind.
rin, den Versuchspersonen auf beiden Ohren Diese stärkere Aktivierung könnte dann zur
gleichzeitig unterschiedliche akustische Reize Top-down-Aktivierung der kontralateralen
darzubieten (Abb. 6-4). Bezüglich der Sprach- Hörbahn führen, die dann für die Verarbeitung
verarbeitung linkshemisphärisch dominante von Sprachreizen vorbereitet (gebahnt) wäre.
Personen reproduzieren bei der dichotischen Obwohl dieses Modell plausibel erscheint und
Darbietung von Sprache diejenigen akus- mit älteren Verhaltensexperimenten überein-
tischen Reize präziser, die dem rechten Ohr stimmt, muss eine endgültige Bestätigung
zugeleitet werden. Dies wird als Rechtsohr- noch erbracht werden.

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162 6. Hemisphärenasymmetrie

Sprachareal
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ga ba

linkes Ohr rechtes Ohr

Abbildung 6-4: Schematische Darstellung des Prinzips der dichotischen Hörtestung und der neurona-
len Verschaltung der beim dichotischen Hören beteiligten Hirnstrukturen. Die dem rechten Ohr dar-
gebotenen Reize werden vorrangig im linksseitigen Sprachareal verarbeitet. Das führt zum Rechtsohr-
vorteil (ROV).

Die mit den dichotischen und tachisto- 5 % der Rechts- und maximal 15 % der Links-
skopischen Tests ermittelten Befunde zur händer. Diese Befunde bestätigen teilweise
Sprachlateralisierung können wie folgt zusam- die bereits dargestellten Befunde, die anhand
mengefasst werden (Tab. 6-5): 85–94 % der von Läsionsstudien und Wada-Tests gewon-
Rechtshänder und 70–80 % der Linkshänder nen wurden. Die Studien an gesunden Pro-
haben einen linkshemisphärischen Vorteil bei banden lassen jedoch vermuten, dass mehr
der Verarbeitung von verbalem Material. Ei- Linkshänder über eine „typische“ linkshemi-
nen signifikanten Linksohrvorteil und/oder sphärische Sprachdominanz verfügen, als äl-
einen signifikanten Vorteil der linken Ge- tere neurologische Studien nahelegen (siehe
sichtsfeldhälfte für Verbales zeigen lediglich dazu auch Tabelle 6-1).

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6.2.  Funktionelle Links-rechts-Asymmetrien 163

Tabelle 6-5: Metaanalytische Befunde der Lateralisierungseffekte für gesichtsfeldab­hängige tachisto-


skopische Reizungen und dichotische Hörtests (nach Voyer, 1996). Die E ­ ffektgröße gibt die an der ge-
schätzten Standardabweichung normierte Leistungsdifferenz zwischen dem linken und rechten Ge-
sichtsfeld (lGF, rGF) bzw. dem linken und rechten Ohr (lOhr, rOhr) wieder.

Reizklasse Testmodalität Asymmetrierichtung Effektgröße


verbale Aufgaben
benennen visuell rGF > lGF 1.04*
Buchstaben visuell rGF > lGF 0.65*
Zahlwörter visuell rGF > lGF 0.63*
lexikalische Entscheidungen visuell rGF > lGF 0.58*
Bild-Wort-Vergleich visuell rGF > lGF 0.50*
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verbale Stimuli auditorisch rOhr > lOhr 0.52*


nonverbale Aufgaben
Punkte aufzählen visuell lGF > rGF 0.65*
Gesichter erkennen visuell lGF > rGF 0.49*
Muster erkennen visuell lGF > rGF 0.36*
Linienorientierungen visuell lGF > rGF 0.34*
Objekte erkennen visuell lGF > rGF 0.29*
Punkte erkennen visuell lGF > rGF 0.26*
nonverbale Stimuli (Musik) auditorisch lOhr > rOhr 0.39*
* statistisch signifikante Links-rechts-Asymmetrie

6.2.4. Neurophysiologische ­ das Gleiche bedeuten. So kann z. B. eine starke


Asymmetrien Durchblutungszunahme im dominanten links-
seitigen Motorkortex während der Bewegung
Asymmetrische Hirnaktivierungsmuster kön- der rechten dominanten Hand auf andere neu-
nen mit den modernen bildgebenden Verfah- rophysiologische Mechanismen zurückzufüh-
ren (und mittels EEG) im Zusammenhang ren sein als die Durchblutungszunahme im
mit unterschiedlichen Aufgaben gemessen linksseitigen Motorkortex während der Bewe-
werden. Diese neurophysiologischen Asym- gung der subdominanten linken Hand. Mög-
metrien sind allerdings nicht einheitlich inter- lich ist sogar, dass beide Motorareale gleich
pretierbar, denn es ist nicht immer eindeutig, stark durchblutet sind und damit keine Durch-
ob die zugrunde liegenden Aktivitäten korti- blutungsasymmetrie vorliegt, obwohl beide
kale oder subkortikale Hemmungen oder Er- Hände deutlich unterschiedliche Leistungen
regungen repräsentieren. Es ist demzufolge erbringen.
auch nicht geklärt, ob die an der Schädelober- Eine Untersuchung, bei der Rechts- und
fläche gemessene neurophysiologische Aktivi- Linkshänder aufgefordert waren, einfache
tät oder die intrazerebralen Durchblutungs- Finger-, Hand- und Armbewegungen durch-
veränderungen in den homotopen Hirngebie- zuführen, während gleichzeitig mittels MEG
ten beider Hemisphären Ähnliches oder gar die Hirnaktivität über dem Motorkortex ge-

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164 6. Hemisphärenasymmetrie

messen wurde, zeigte beispielsweise eine Welche dieser beiden Hypothesen zur
deutliche Asymmetrie hinsichtlich der Größe Erklärung asymmetrischer (oder auch sym-
des aktivierten Motorkortex (Volkmann et al., metrischer) Aktivierungsmuster herangezo-
1998). Bei Rechtshändern ist das aktivierte gen wird, hängt vom theoretischen Hinter-
Volumen im linksseitigen Motorkortex bei grund und von der jeweiligen experimentellen
Bewegungen mit rechts (rechte Hand oder Anordnung ab. Trotzdem bleibt die Interpreta-
rechter Arm) deutlich größer als das aktivierte tion asymmetrischer Aktivierungsmuster, ge-
Volumen im rechtsseitigen Motorkortex bei messen mit fMRT, EEG und MEG, immer
linksseitigen Bewegungen. Bei Linkshändern problematisch. Am besten interpretierbar sind
ergab sich ein umgekehrtes Bild mit grund- asymmetrische Aktivierungsmuster, bei denen
sätzlich stärkerer Aktivierung im rechtsseiti- eine Hemisphäre im Vergleich zur anderen gar
gen im Vergleich zum linksseitigen Motor- nicht oder kaum aktiviert ist.
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kortex. Obwohl die Bewegungen mit der Ein typisches stark asymmetrisches Akti-
dominanten Hand oder dem dominanten Arm vierungsmuster, bei dem eine Hemisphäre
effizienter ausgeführt werden, sind die neuro- großflächig aktiviert ist, während die andere
physiologischen Aktivitäten im dominanten kaum Aktivierungen aufweist, lässt sich mit
Motorkortex stärker. Diese Aktivitätsdomi- den sogenannten Wortgenerierungsauf-
nanz wird einem differenzierteren dominan- gaben erzielen. Bei diesen Aufgaben müs-
ten Motorkortex zugeschrieben, der selbst bei sen die Versuchspersonen viele verschiedene
einfachen Bewegungen grundsätzlich mehr Wörter nacheinander mit dem gleichen An-
aufeinander abgestimmte Erregungen und fangsbuchstaben oder aus der gleichen se-
Hemmungen miteinander synchronisieren mantischen Kategorie produzieren. Während
muss. Das bedeutet, dass die stärkere neuro- dieser Wortgenerierungen können in der
physiologische Aktivität eine differenziertere sprachdominanten Hemisphäre verstärkte
neurophysiologische Kontrolle repräsentiert Durchblutungen gemessen werden. Die Hirn-
(Differenzierungshypothese). areale, die besonders stark aktiviert werden,
Andere Befunde unterstützen eine andere sind der linksseitige Frontalkortex (insbeson-
Interpretationslinie: dass die zunehmende dere der Gyrus frontalis inferior), der links-
neurophysiologische Aktivität einen größeren seitige Gyrus temporalis superior (Teil des
Kontrollaufwand repräsentiert, der insbeson- sogenannten Wernicke-Areals), der Gyrus
dere bei der Kontrolle der subdominanten temporalis medius und der linksseitige Tem-
Hand oder Glieder offensichtlich werden soll. poralpol (Abb. 6-5). Auch im Zusammenhang
Dies zeigt sich insbesondere dann, wenn kom- mit dem Lösen von Aufmerksamkeitsauf-
plexere Bewegungen durchgeführt werden, gaben sind insbesondere im rechtsseitigen
dann nimmt v. a. die Aktivität in den Motor- parietofrontalen Netzwerk starke Durchblu-
arealen zu, die v. a. die dominanten Glieder tungszunahmen zu messen (Jäncke et al.,
kontrollieren. Werden Bewegungen mit der 2003; Sturm et al., 2004).
subdominanten linken Hand gefordert, neh- Auch mittels EEG konnten asymmetrische
men die Aktivierungen im rechtsseitigen Mo- Hirnaktivierungsmuster objektiviert werden.
torkortex stark zu. Diese starke Aktivität in Besonders auffällig sind die asymmetrischen
subdominanten Motorarealen wird in diesem Aktivierungsmuster im Zusammenhang mit
Zusammenhang einem größeren Kontrollauf- Annäherungs- und Vermeidungsverhalten.
wand zugeschrieben, der bei der Bewegung Während der Annäherung nimmt die neuro-
der subdominanten Hand nötig ist (Kontrol- physiologische Aktivität des linksseitigen Fron-
laufwandshypothese). talkortex zu (Reduktion der Amplitude des Al-

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A)

R L
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B)

R L

Abbildung 6-5: Asymmetrische Durchblutungsveränderungen (A) beim Lösen von Wortgenerierungsauf-


gaben und (B) beim Bearbeiten von Aufmerksamkeitsaufgaben.

pha-Bandes). In Situationen, in denen der tungssteigerungen in inferior-posterior-


Organismus eher Vermeidung als Strategie temporalen Hirnarealen, wobei die
wählt, nehmen die Aktivitäten des linksseiti- linksseitigen Strukturen etwas stärker
gen Frontalkortex ab, während gleichzeitig aktiviert sind als die rechtsseitigen.
die Aktivitäten des rechtsseitigen Frontalkor- • Visuell dargebotene Sätze evozieren Ak-
tex zunehmen (s. Kap. 20). In weiteren Unter- tivierungsveränderungen vorwiegend
suchungen asymmetrischer Durchblutungs- im Broca- und Wernicke-Areal, wobei
änderungen und neurophysiologischer Aktivie- die räumliche Ausdehnung der Aktivie-
rungen konnten zusammenfassend folgende rung mit zunehmender Komplexität der
Befunde erhoben werden: Stimulation zunimmt. Neben diesen Ak-
• beim Bearbeiten von sprachlichem Mate- tivierungen finden sich – allerdings we-
rial: sentlich schwächer  – Aktivierungen in

Visuell dargebotene Buchstaben und den homotopen Arealen der rechten
Worte evozieren bilaterale Durchblu- Hemisphäre.

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166 6. Hemisphärenasymmetrie

• Auditorisch dargebotene Phonem-Iden- • Detaillierte Erinnerung (Rekollektion)


tifikationsaufgaben und semantische ist mit starker linksseitiger Aktivität im
Aufgaben evozieren bilateral Durch- Gyrus frontalis inferior verbunden.
blutungssteigerungen primär- und se- • Vertrautheit beim Abruf ist mit stärkerer
kundär-auditorischer Hirnareale mit Aktivität im rechtsseitigen Frontalkor-
gelegentlicher linkshemisphärischer Ak- tex verbunden.
tivierungsdominanz. • Beim erfolgreichen Encodieren von
• Auditorisch dargebotene semantische nichtverbalen episodischen Informatio-
Aufgaben evozieren linkslateralisierte nen sind der rechts- und linksseitige
Aktivierungen im dorso- und inferior- Gyrus frontalis inferior eingebunden.
lateralen Frontalkortex. • Der linksseitige Hippocampus ist stärker
• Phonetische Diskriminationsaufgaben in die Encodierung und den Abruf von
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evozieren eine gesteigerte Durchblutung verbalen Informationen eingebunden.


im Broca-Areal und im Bereich des Pla- • Der rechtsseitige Hippocampus dagegen
num temporale. ist stärker an der Encodierung und am
• Während prosodischer Diskriminations- Abruf nichtverbaler (v. a. räumlicher)
aufgaben können gesteigerte Durchblu- Informationen beteiligt.
tungen im rechten Gyrus frontalis infe- • beim Bearbeiten von räumlichen Auf-
rior festgestellt werden. gaben:
• beim Bearbeiten von Gedächtnisauf- • Beim räumlichen Orientieren ist ins-
gaben: besondere der rechte Parietallappen
• Während des Encodierens neuer Ge- dominant aktiv; gleichzeitig ist der
dächtnisinformationen findet sich in der rechtsseitige hintere Hippocampus
Regel eine linkshemisphärische Aktivie- beim Erinnern räumlicher Karten ein-
rungsdominanz im Frontalkortex und im gebunden.
Hippocampus. • Beim Bearbeiten „globaler“ Reizaspekte
• Während des Abrufs von gelernten Ge- zeigt sich eine Aktivierung des rechts-
dächtnisinformationen ist eine rechts- seitigen Gyrus lingualis, während die
hemisphärische Aktivierungsdominanz „lokale“ Reizanalyse mit Aktivierungen
im Frontalkortex und im Hippocampus des linksseitigen inferior-okzipitalen
festzustellen (HERA-Modell). Kortex einhergeht.
• Je besser der Abruferfolg, desto stärker • asymmetrische Aktivierungsmuster im Zu-
ist die Aktivität im linksseitigen Gyrus sammenhang mit Emotionen:
frontalis inferior. • Bei Annäherung können Aktivitätsstei-
• Während des Abrufzustands treten län- gerungen im linksseitigen Frontalkor-
ger andauernde Aktivierungen insbeson- tex, bei Vermeidung Aktivitätssteigerun-
dere des rechtsseitigen Frontalkortex gen im rechtsseitigen Frontalkortex fest-
auf. Je größer der Abrufaufwand, desto gestellt werden.
stärker ist die Durchblutungszunahme • asymmetrische Aktivierungsmuster im Zu-
im rechtsseitigen Frontalkortex. Diese sammenhang mit Wahrnehmungsfunk-
rechtsseitigen Durchblutungssteigerun- tionen: Bei der Wahrnehmung von Gesich-
gen reflektieren wahrscheinlich alle Kon- tern ist vorrangig der rechtsseitige Gyrus
troll- und Überwachungsprozesse, die fusiformis aktiv.
mit dem Abruf von episodischen Ge-
dächtnisinformationen assoziiert sind.

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6.2.  Funktionelle Links-rechts-Asymmetrien 167

6.2.5. Zusammenfassung der ­ Lateralisierungen gefunden wurden, die auf


funktionellen Asymmetrien eine Verarbeitungs- bzw. Kontrolldominanz
der linken Hemisphäre für diese Funktions-
In Tabelle 6-6 sind die verschiedenen Funk-
bereiche schließen lassen, sind die Befunde
tionen dargestellt, für die in Verhaltensexperi-
zur funktionalen Leistungsdominanz der rech-
menten und bildgebenden Studien deutliche
ten Hemisphäre insgesamt weniger eindeutig.
funktionelle Asymmetrien festgestellt werden
Am eindeutigsten scheint noch eine Leistungs-
konnten.
dominanz der rechten Hemisphäre bei der
Verarbeitung von raumbezogenen Informatio-
6.2.6. Befunde aus der Neurologie nen zu sein. Eine Analyse der Daten von 272
Patienten mit unilateralen Läsionen ergab,
Während für die Verarbeitung sprachbezoge- dass ca. 70 % der Rechtshänder mit rechts-
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ner Informationen und die Kontrolle uni- und hemisphärischer Läsion Störungen in der Ver-
bimanualer Bewegungen klare funktionale arbeitung von raumbezogenen Informatio-

Tabelle 6-6: Zusammenfassung der Reizklassen, für die lateralisierte Verarbeitungen festgestellt wur-
den. Aufgeführt sind auch Reizklassen, die im Text keine Erwähnung fanden.

linke Hemisphäre rechte Hemisphäre


visuell Buchstaben komplexe geometrische Muster
Wörter Tiefeninformationen, stereoskopisches Sehen
lokale Informationen globale Informationen
Gesichter
Farben
auditorisch Sprachlaute Musik
Umgebungsgeräusche

kurz aufeinanderfolgende länger aufeinanderfolgende


auditorische Reize; auditorische Reize;
stimmlose Stimmeinsatz­zeiten stimmhafte Stimmeinsatzzeiten
Vokale
somato­ taktiles Erkennen komplexer Muster
sensorisch (Braille)
motorisch Feinmotorik, Zielmotorik Haltung, Stand
Systeme Sprache (allgemein) Prosodie
Emotion (Annäherung) Emotion (Abwehr)
verbales Gedächtnis visuelles Gedächtnis
Arithmetik
Aufmerksamkeit (übergeordnet)
Verarbeitung sequenzieller Verarbeitung von Mustern
Informationen
Verarbeitung interner Verarbeitung externer ­Informationen
Informationen

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168 6. Hemisphärenasymmetrie

nen aufwiesen (Bryden et al., 1983). Störungen delt es sich um die Unfähigkeit, Gesichter zu
in der Verarbeitung von raumbezogenen In- erkennen bzw. zu unterscheiden. Unabhängig
formationen wurden in dieser Studie definiert von der Prosopagnosie können weitere Agno-
anhand des Auftretens von „räumlicher Agno- sien bei rechtshemisphärischen Läsionen auf-
sie“, „räumlicher Dysgrafie“, „Verlust des treten: Agnosie für Zeichnungen (Defizite
topografischen Gedächtnisses“ und „Kon- im Erkennen und Interpretieren von Zeich-
struktions- und Ankleideapraxie“. Nur 55 % nungen und geometrischen Objekten; Läsio-
der Linkshänder zeigten das gleiche Symp- nen in den Brodmann-Areale 18, 19, 20 und
tommuster bei rechtshemisphärischer Läsion. 21), Farbagnosie (Unfähigkeit, Farbe zu er-
Die meisten dieser rechtshemisphärischen kennen; Läsionen in den Brodmann-Areale 18
Läsionen betrafen posterior parietale Hirn- und 19), Anosognosie (Unfähigkeit, ein Be-
areale, was die Bedeutung dieser Hirnbereiche wusstsein für Krankheiten zu entwickeln; Lä-
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für nonverbale Funktionen hervorhebt. Ältere sionen in den Brodmann-Arealen 7 und 40)
Daten zeigten allerdings, dass offenbar nicht und visuell-räumliche Agnosie (Defizite im
alle nonverbalen raumbezogenen Informati- stereoskopischen Sehen und in der Entwick-
onsverarbeitungsprozesse in gleicher Weise lung topografischer Konzepte; Läsionen in den
durch rechtshemisphärische Läsionen gestört Brodmann-Arealen 18, 19 und 37). Läsionen
zu sein scheinen. So fiel es Patienten mit im rechten Temporallappen (Brodmannareale
rechtshemisphärischen Parietallappenläsio- 42 und 22) resultieren in unterschiedlichen
nen v. a. schwer, Würfel zu identifizieren (90 % Ausfällen bzw. Defiziten. Seltener werden Ge-
der Patienten) oder zweidimensionale Muster räusch-, Ton- und/oder Klangagnosien be-
aus Papier mit einer Schere anzufertigen (86 % obachtet, häufiger allerdings Ausfälle bzw.
der Patienten). Ankleideapraxien und Halb- Defizite im musikalischen Bereich (Amusie).
seitenvernachlässigungen der linken Körper- Die musikalischen Ausfälle umfassen unter
hälfte und des linken Gesichtsfeldes waren nur anderem die Unfähigkeit, Melodien zu erken-
bei ca. zwei Drittel dieser Patienten festzustel- nen und musikalische Rhythmen oder Tempi
len. Nur die Hälfte aller Patienten fiel durch auseinanderzuhalten. Diskutiert wird derzeit,
den Verlust der topografischen Diskriminati- ob sich bei professionellen Musikern ein ande-
onsfähigkeit auf (McFie, 1960). res Lateralisierungsmuster ergibt.
Neben den Defiziten in der Verarbeitung
raumbezogener Informationen fallen bei den
Patienten mit rechtsseitigen parietalen Läsio-
6.3. Corpus callosum und ­
nen auch Aufmerksamkeitsdefizite auf, die interhemisphärischer ­
meistens mit der Verarbeitung der raumbe- Informationsaustausch
zogenen Informationen zusammenhängen. So
zeigen z. B. einige Patienten einen sogenann- 6.3.1. Split brain
ten „Halbseitenneglekt“ (Hemineglekt), was
einer Unaufmerksamkeit gegenüber einer Das Corpus callosum (auch Balken genannt)
Hälfte ihrer räumlichen Umgebung entspricht. ist indirekt mit funktionellen Hemisphärena-
Hierbei werden Objekte auf der linken Seite symmetrien assoziiert, denn über dieses „Ka-
oder Ereignisse, die links von den Patienten belsystem“ verlaufen die Fasern, die beide
stattfinden, nicht wahrgenommen. Eine be- Hemisphären miteinander verbinden. Die
eindruckende Folge rechtsseitiger Läsionen Bedeutung des Corpus callosum beim Men-
im Temporallappen (Brodmann-Areale 20 und schen konnte erstmalig durch Untersuchun-
21) stellt die Prosopagnosie dar. Hierbei han- gen an Split-brain-Patienten verdeutlicht wer-

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6.3.  Corpus callosum und ­interhemisphärischer ­Informationsaustausch 169

den. Bei diesen Patienten wurde das Corpus Wichtige Eigenschaften des Corpus callo-
callosum neurochirurgisch vollständig durch- sum (CC) sind:
trennt, um die Ausbreitung epileptischer An- • das CC besteht aus ca. 200–350 × 106
fälle von einer auf die andere Hemisphäre zu Axonen
unterbinden. Es zeigte sich, dass dieser opera- • ca. 2–3 % aller kortikalen Neurone werden
tive Eingriff in der Tat zur Abmilderung der über das CC miteinander verbunden
epileptischen Symptomatik beitrug. Folgende • überwiegend werden homologe Hirnareale
neuropsychologische Untersuchungen unter miteinander verbunden
Einsatz experimentalpsychologischer Tech- • die Größe der Mittsaggitalfläche korreliert
niken (s. o.) legten nahe, dass die beiden Hemi- mit der Anzahl der (größeren) Axone, die
sphären dieser Patienten nahezu unabhängig das CC ausmachen (r = 0.88)
voneinander arbeitet, wobei jede Hemisphäre • ca. 40–60 % aller Axone des CC sind sehr
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typische Verarbeitungspräferenzen aufwies. dünn (< 0.1 μm)


Diese Erkenntnis ist im Wesentlichen den • die vorderen Teile des CC (Rostrum und
Arbeiten von Roger Sperry und seinen Kolle- Genu) beinhalten Axone, die Neurone im
gen zu verdanken, für die Sperry letztlich Frontalkortex miteinander verbinden
den Nobelpreis für Physiologie erhielt. Die • der mittlere Teil (Truncus) beinhaltet Neu-
Unabhängigkeit und Spezialisierung beider rone, die den auditorischen Kortex und Prä-
Hemisphären konnte er im Wesentlichen motorareale miteinander verbinden
durch die Anwendung dreier Methoden bewei- • die Motorareale werden über den Isthmus,
sen: die tachistoskopische Darbietung von vi- einen hinteren Teil des CC, miteinander
suellen Stimuli in jeweils getrennten Gesichts- verbunden
feldern, die taktile Stimulation einer Hand • das Splenium (der hinterste Teil des CC)
ohne visuelle Begleitinformation sowie die verbindet den Okzipitalkortex beider He-
dichotische Hörtestung (s. o.). Split-brain-Pa- misphären, insbesondere den visuellen
tienten sind häufig untersucht worden. Zu- Kortex.
sammengefasst konnte festgestellt werden,
dass die selektive Stimulation der linken He- Die genaue Funktion des Corpus callosum bei
misphäre (visuell, auditorisch oder taktil) dazu der Hemisphärenasymmetrie ist noch nicht
führte, dass die so präsentierten Stimuli verbal bekannt. Man weiß v. a. aufgrund der Arbeiten
benannt bzw. verarbeitet werden konnten. mit Split-brain-Patienten, dass das Corpus
Sofern allerdings die Stimuli selektiv der rech- callosum für den interhemisphärischen Infor-
ten Hemisphäre zugeführt wurden, war die mationsaustausch von herausragender Bedeu-
verbale Be- bzw. Verarbeitung defizitär bzw. tung ist. Aber welche Informationen über das
nicht möglich. Neben diesen klassischen Be- Corpus callosum vermittelt werden, ist bislang
funden konnten auch selektive Bevorzugun- nicht bekannt.
gen der rechten Hemisphäre für emotionale Unter Rückgriff auf anatomische Arbeiten
bzw. holistische Reize gefunden werden. an Post-mortem-Gehirnen und Gehirnen von
Affen können die Zusammensetzung des Cor-
pus callosum des Menschen und die ungefäh-
6.3.2. Corpus-callosum-Anatomie ren Transferzeiten anhand der Distanz zwi-
schen den Hemisphären und der Axondicke
Das Corpus callosum ist ein Faserbündel, das geschätzt werden (Tab. 6-7). Für die dünnen
Nervenfasern enthält, die beide Hemisphären und unmyelinisierten Axone ist eine interhe-
miteinander verbinden. misphärische Transferzeit von 50 bis 433 ms

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170 6. Hemisphärenasymmetrie

Tabelle 6-7: Größen der Axone des Corpus callosum und die geschätzten interhemis­phärischen Trans-
ferzeiten bei einer angenommenen Distanz zwischen den Hemisphären von 10 bis 13 cm. Der korrigierte
Axondurchmesser berücksichtigt, dass bei Post-mortem-Gehirnen durch F ­ lüssigkeitsverlust die Zell-
kompartimente und damit auch die Axone etwas kleiner werden (nach Aboitiz et al., 1992).

Axondurch­ korrigierter Axon- Geschwindigkeit interhemisphärische


messer durchmesser (µm) (mm/ms) Transferzeit bei einer Distanz
von 100 bis 130 mm (ms)
unmyelinisiert 0,1–1 0,3–3,2 50–433
0,4 µm 0,6 5,2 19,1–24,9
1 µm 1,5 13,1 7,6–9,9
3 µm 4,6 40 2,5–3,2
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5 µm 7,7 67 1,5–1,9

zu veranschlagen. Bei den dickeren Fasern, losum und dem Gehirnvolumen. Große Ge-
die v. a. im Splenium und im vorderen Truncus hirne sind durch relativ kleine Corpus-callo-
zu finden sind, können Transferzeiten von sum-Flächen (Corpus callosum in Relation
1,5 bis ca. 2 ms angenommen werden. Diese zum Gehirnvolumen) gekennzeichnet, wäh-
schnellen Transfers sind funktional auch not- rend kleine Gehirne erstaunlicherweise relativ
wendig, um die visuellen und motorischen große Corpus-callosum-Areale aufweisen.
Informationen zwischen beiden Hemisphären Daraus kann man schließen, dass große Ge-
auszutauschen. Allerdings muss berücksich- hirne verglichen mit kleinen über eine relativ
tigt werden, dass ca. 40–60 % aller Axone des reduzierte interhemisphärische Kommunika-
Corpus callosum dünn und unmyelinisiert tion verfügen. Diese Vermutung wird durch
sind, was bedeutet, dass sie für den schnellen Simulationsrechnungen gestützt, die belegen,
Informationsaustausch ungeeignet sind. Mög- dass mit zunehmender Hirngröße die interhe-
licherweise werden diese Axone zur Aktivie- misphärischen Distanzen zu groß werden, um
rungskontrolle oder zur gegenseitigen Hem- in angemessener Zeit überbrückt zu werden
mung genutzt, denn für diese Prozesse ist (Ringo et al., 1994). Um z. B. bei einem großen
eine hohe Übertragungsgeschwindigkeit nicht Gehirn die interhemisphärische Transmis-
zwingend notwendig. sionszeit in etwa der Größenordnung konstant
Diskutiert wird aktuell, ob ein größeres zu halten, wie sie für kleinere Gehirne zu ver-
Corpus callosum einen ausgeprägteren inter- anschlagen ist, müsste das Corpus callosum
hemisphärischen Informationsaustausch er- infolge starker Myelinisierung überproportio-
möglicht. Das würde bedeuten, dass Personen nal groß werden. Das würde bedeuten, dass bei
mit einem großen Corpus callosum über einen großen Gehirnen überproportional große Cor-
ausgeprägteren und möglicherweise effizien- pus-callosum-Areale feststellbar sein müssten.
teren Informationsaustausch verfügen. Sie Dies ist allerdings bislang nicht berichtet wor-
müssten demzufolge funktional weniger late- den; im Gegenteil, je größer die Gehirne wer-
ralisiert sein als Personen mit einem kleinen den, desto mehr nimmt die relative Größe des
Corpus callosum. Die bislang hierzu berichte- Corpus callosum ab (Jancke et al., 1997).
ten Befunde sind allerdings widersprüchlich. Hieraus kann abgeleitet werden, dass die
Es zeigt sich jedoch ein Zusammenhang funktionale Lateralisierung unter anderem
zwischen der relativen Größe des Corpus cal- (vielleicht sogar im Wesentlichen) eine Funk-

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6.4.  Anatomische ­Asymmetrien 171

tion der Hirngröße ist, wobei die funktionale Bei kleinen Gehirnen ist der Informationsaus-
Lateralisierung sich infolge der Notwendigkeit tausch ohne nennenswerten Zeitverlust auch
zur schnellen Kommunikation innerhalb funk- über das Corpus callosum noch möglich. Bei
tionsverwandter neuronaler Netzwerke ergibt. großen Gehirnen dagegen wird der Informati-
onsaustausch über das Corpus callosum zu
A) zeitraubend. Deshalb wird eher die Strategie
der intrahemisphärischen Kommunikation
gewählt. Das bedeutet, dass mehr innerhalb
einer Hemisphäre und weniger zwischen den
Hemisphären kommuniziert wird – je größer
also die Gehirne, desto mehr Lateralisierung.
In einer neueren Arbeit konnte der nega-
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tive Zusammenhang zwischen inter- und in-


Corpus callosum trahemisphärischer Verkabelung nachgewie-
sen werden (Hänggi et al., 2014). Die inter-
B)
und intrahemisphärischen Faserverbindungen
wurden mittels Diffusion-Tensor-Imaging-
Technik rekonstruiert und die Anzahl der re-
konstruierten Fasern geschätzt. Hierbei zeigte
sich, dass große Gehirne – im Vergleich zu klei-
nen Gehirnen – durch mehr interhemisphäri-
sche und weniger intrahemisphärische Fasern
auffallen. Bei kleinen Gehirnen war dieses
Verhältnis umgekehrt: Sie verfügen über mehr
C) interhemisphärische Verbindungen als große
1/5 Gehirne, aber weniger intrahemisphärische
2 Verbindungen (Abb. 6-7).
1 3
4

6.4. Anatomische ­
Asymmetrien
1/3 1/3 1/3

AC–PC
Lange Zeit war nicht klar, ob hirnanatomische
Links-rechts-Asymmetrien systematisch auf-
Abbildung 6-6: (A) Schematische Darstellung ei- treten und funktionell bedeutsam sind. Erst
nes Mittsagittalschnitts des Corpus callosum. (B) seit der Arbeit von Geschwind und Levitsky, in
Darstellung der Axone, die durch das Corpus cal- der bei 100 post mortem untersuchten Gehir-
losum kreuzen und sich dann in die Hemisphären
nen ein volumetrisches Linksüberwiegen des
verteilen. (C) Angegeben sind die üblichen Eintei-
Planum temporale festgestellt wurde, werden
lungen des Corpus callosum in ein vorderes Drit-
anatomische Asymmetrien v. a. in perisylvi-
tel (1: Rostrum und Genu), ein mittleres Drittel
(2: Truncus) und ein hinteres Drittel, das den
schen Hirnbereichen mit funktionellen Asym-
Isthmus (3) und das Splenium (4) beinhaltet. Die metrien in Verbindung gebracht. In weiteren
Einteilung wird anhand einer gedachten Linie Arbeiten zur In-vivo-Morphometrie konnten
vorgenommen, welche die anteriore (AC) und pos- auch Volumenasymmetrien hinsichtlich fron-
teriore (PC) Kommissur miteinander verbindet. taler, okzipitaler und parietaler Hirnbereiche,

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172 6. Hemisphärenasymmetrie

des hinteren Hippocampus, des Sulcus cen- Hemisphären asymmetrisch. Vor allem die
tralis und des Kleinhirns nachgewiesen wer- starke Volumenzunahme des parietalen und
den. Mittlerweile ist ein sehr dynamisches For- temporalen Operculums beeinflusst die Form
schungsgebiet entstanden, das Struktur-Funk- der Sylvischen Fissur. Hierbei weist das links-
tions-Zusammenhänge untersucht. seitige parietale Operculum eine stärkere Vo-
lumenzunahme auf als das rechtsseitige. Auf
der linksseitigen Hemisphäre ist die Sylvische
6.4.1. Sylvische Fissur Fissur durch einen langen horizontalen Teil
mit gleichzeitig kurzem vertikalen Teil ge-
Die Fissura lateralis, auch Sylvische Fissur ge- kennzeichnet. Auf der rechten Hemisphäre fällt
nannt, ist eine der auffälligsten Furchen des dagegen ein kurzer horizontaler Teil mit einem
Primatenhirns. Diese Fissur entsteht im We- relativ langen vertikalen Teil auf (Abb. 6-7).
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sentlichen aufgrund eines im Vergleich zum Diese Form der Sylvischen Fissur wird bei ca.
Wachstum innerer kortikaler Strukturen stär- zwei Drittel aller erwachsenen Gehirne ge-
keren Wachstums äußerer Kortexteile. Dieses funden. Die charakteristische Formasym-
Wachstum verläuft interindividuell sehr unter- metrie der Sylvischen Fissur tritt bei Föten ab
schiedlich und ist auch zwischen den beiden dem 5.–6. Monat auf. Es ist also zu vermuten,

Große Gehirne Kleine Gehirne


mehr intrahemisphärische – mehr interhemisphärische –
weniger interhemisphärische weniger intrahemisphärische
Verkabelung Verkabelung

L R

L R

Abbildung 6-7: Schematische Darstellung der inter- und intrahemisphärischen Verbindungen bei gro-
ßen und kleinen Gehirnen. Die Dicke der Pfeile repräsentiert die Anzahl der rekonstruierten Verbindun-
gen. Diese Abbildung ist den Befunden aus der Arbeit von Hänggi et al. (2014) nachempfunden. Links
erkennt man ein großes Gehirn mit einer „geringen“ interhemisphärischen Kommunikation (dargestellt
durch den dünnen Pfeil, der beide Hemisphären miteinander verbindet). Rechts erkennt man ein kleines
Gehirn mit einem dicken Pfeil, der beide Hemisphären miteinander verbindet. Der dicke Pfeil repräsen-
tiert eine „intensive“ interhemisphärische Kommunikation.

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6.4.  Anatomische ­Asymmetrien 173

dass diese Asymmetrie genetisch fixiert ist


und nicht auf ein asymmetrisches vorgeburt- A)
liches „Sterben“ von Neuronen oder sonstige
bis heute unbekannte Einflüsse während der
Ontogenese zurückzuführen ist. Einige Arbei- PAR
ten weisen darauf hin, dass bestimmte Form-
aspekte der Sylvischen Fissur mit Kennwerten
der funktionellen Asymmetrie zusammen- PDR
hängen. So soll z. B. die Gesamtlänge der Sylvi-
schen Fissur (rechts + links) mit dem Ausmaß
der Händigkeit bei Männern korrelieren.
Die Hirngebiete, welche die Sylvische Fis-
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sur umgeben, werden perisylvische Hirn-


B)
gebiete genannt. Sie sind in die Kontrolle von
höheren kognitiven Funktionen eingebunden,
PAR
z. B. Sprachwahrnehmung, Sprachproduktion,
Handlungsvorbereitung, Imitation von Ver-
halten, räumliche Orientierung, Aufmerksam-
keit, Willenskontrolle und Körperwahrneh-
PDR
mung. Viele dieser kognitiven Funktionen
werden bevorzugt von perisylvischen Hirn-
gebieten einer Hemisphäre kontrolliert. Aus
diesem Grund werden die morphologischen
Besonderheiten der Sylvischen Fissur ein-
gehend untersucht, um Kennwerte für die ana- C)
tomische Grundlage der funktionellen Hemi-
sphärenasymmetrie zu gewinnen.
PAR

6.4.2. Globale Links-rechts-­ PDR


Unterschiede

Zu den am frühesten bekannten hirnanatomi-


schen Asymmetrien zählen die asymmetrisch
geformten frontalen und okzipitalen Hirnpole Abbildung 6-8: Schematische Lateralansichten
auf beiden Hemisphären. Unterschieden wer- des Kortex. Der Verlauf der Sylvischen Fissur ist
den okzipitale und frontale „Weiten“ sowie hier besonders hervorgehoben. Der horizontale
Teil der Sylvischen Fissur ist durch einen Pfeil
okzipitale und frontale Petalia. Die okzipitale
gekennzeichnet. PAR (Ramus posterior ascen-
Weite ist als Distanz zwischen dem lateralen
dens): der aufsteigende Teil der Sylvischen Fissur;
Rand des okzipitalen Großhirns und dem Mit-
PDR (Ramus posterior descendens): der abstei-
telpunkt der Fissura centralis definiert. Ana- gende Teil der Sylvischen Fissur. (A) Typischer Ver-
log wird die frontale Weite als Distanz zwi- lauf der Sylvischen Fissur auf der linken Hemi-
schen dem lateralen Rand des frontalen sphäre. (B) Typischer Verlauf auf  der rechten
vorderen Hirnbereichs und dem Mittelpunkt Hemisphäre. (C) Seltener Verlauf, der auf der
der Fissura centralis definiert (Abb. 6-9). Eine rechten Hemisphäre auftritt.

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174 6. Hemisphärenasymmetrie

Reihe von Studien hat gezeigt, dass Rechts- frontale Petalia


händer über größere okzipitale Weiten auf der frontale frontale
linken Hemisphäre verfügen als Linkshänder. Weite Weite
Bei Linkshändern dagegen werden etwas häu-
figer symmetrische okzipitale Weiten fest-
gestellt als bei Rechtshändern. Die okzipitalen
Weiten der einen Hemisphäre korrelieren mit
den frontalen Weiten der anderen Hemi-
sphäre. Das bedeutet, dass Individuen, die
über eine größere okzipitale Weite auf der
linken Hemisphäre verfügen, auch eine grö-
ßere frontale Weite auf der rechten Hemi-
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sphäre aufweisen. Die größeren okzipitalen


Weiten auf der linken Hemisphäre werden
einer Volumenzunahme linksseitiger perisyl- okzipitale okzipitale
vischer und okzipitaler Hirnstrukturen zu- Weite Weite
geschrieben und in direkten Zusammenhang okzipitale Petalia
mit anderen perisylvischen Asymmetrien und
Abbildung 6-9: Okzipitale und frontale Weiten
der Sprachlateralisierung gebracht.
sowie okzipitale und frontale Petalia. Eine ge-
Neben diesen asymmetrischen frontalen bräuchliche Definition für die „Weitenmaße“ und
und okzipitalen Weiten existieren asymmetri- die Petalia ist, horizontale Linien auf einer ge-
sche Längenverschiebungen, die als okzipitale dachten Linie zu ziehen, die eine gedachte Linie
und frontale Petalia bzw. als okzipitale und auf der rostrokaudalen Achse (von anterior nach
frontale Längen bezeichnet werden. Sie posterior) bei 10–15 % (bzw. 85–90 %) schneidet.
werden ebenfalls der asymmetrischen Volu- Auf dieser Abbildung ist auch das Yakovlev-Dreh-
menzunahme zugeschrieben (Abb. 6-8 und moment dargestellt. Man erkennt, dass die rechte
Abb. 6-9). Diese asymmetrischen Verformun- Seite des Frontalkortex nach vorne gestreckt und
gen werden auch als Yakovlev-Torque oder Ya- leicht nach links verdreht ist. Des Weiteren ist der
Okzipitalkortex leicht nach hinten gedehnt und
kovlev-Drehmoment bezeichnet. Hierunter
nach rechts verdreht.
wird die Neigung bezeichnet, dass die rechte
vordere Seite des menschlichen Gehirns leicht
nach links verzogen bzw. verdreht ist. Dem- Schädelfunden genutzt wird. Die Analyse von
gegenüber ist die linke hintere Seite des 250 Schädeln hinsichtlich dieser Längen-
menschlichen Gehirns leicht nach rechts ver- merkmale ergab bei ca. 37 % aller Schädel
zogen bzw. verdreht (Abb. 6-9). Diese Verzer- deutliche Anzeichen von linksseitigen und bei
rung des menschlichen Gehirns wurde erst- nur ca. 19 % Anzeichen von rechtsseitigen
malig von dem Neuroanatomen Paul Ivan Ya- okzipitalen Schädelverformungen (Hadziseli-
kovlev (1894–1983) beschrieben. Dadurch movic & Cus, 1966).
entsteht der Eindruck, dass der rechtsseitige Asymmetrische frontale und okzipitale
Frontalkortex und der linksseitige Occipital- Hirnverlängerungen sind mittels CT beschrie-
kortex länger sind. ben worden, wobei grundsätzlich häufiger ein
Diese „Gehirnverlängerungen“ sollen sich im Vergleich zum rechten Hirn längerer linker
in Verformungen des Schädelknochens sowie okzipitaler Pol konstatiert wurde. Andererseits
in charakteristischen Schädelabdrücken nie- wird im Allgemeinen auch häufiger ein im Ver-
derschlagen, was bei der Analyse von fossilen gleich zum linken Hirn längerer rechter fron-

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6.4.  Anatomische ­Asymmetrien 175

taler Pol festgestellt. Linkshänder scheinen


bei diesen Maßen etwas mehr zur Sym-
metrie zu tendieren. Grundsätzlich sind die
Befunde dieser Studien so zu interpretieren,
dass eine asymmetrische, (v. a. bei Rechts-
händern) linksseitig dominierende Volumen-
zunahme im perisylvischen und okzipitalen
L
Hirnbereich vorzuliegen scheint.

6.4.3. Die Planum-temporale-


und Planum-parietale-­
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Asymmetrie20

Ein intensiv untersuchtes Hirngebiet, für das


Struktur-Funktions-Beziehungen beschrieben
wurden und das eine deutliche Links-rechts-
Asymmetrie aufweist, ist das Planum tempo-
rale (Abb. 6-9). Das Planum temporale ist die
Fläche auf dem Gyrus temporalis superior und
liegt somit im Zentrum der Wernicke-Region,
bei deren Ausfall auf der sprachdominanten H1 PT
Hemisphäre eine sensorische Aphasie auftritt. H1
H2
Weite Bereiche des Planum temporale beste- PT
hen aus einem stark granulären Kortex, dessen
zytoarchitektonischer Aufbau dem des Asso- SmG
ziationskortex ähnelt. Insofern ist das Planum
temporale zytoarchitektonisch anders auf-
gebaut als die primäre Hörrinde, was darauf Abbildung 6-10: Horizontalschnitt durch die Syl-
hinweist, dass das Planum temporale in andere vische Fissur mit den Heschlschen Windungen
(H1 und H2) und dem Planum temporale (PT). Das
Funktionsbereiche eingebettet ist. Diskutiert
Planum temporale ist auf der linken Seite größer
wird derzeit, ob es in komplexe auditorische
als auf der rechten. SmG: Gyrus supramarginalis.
Analysen eingebunden ist (computational hub;
Griffiths & Warren, 2002).
Die Links-rechts-Asymmetrie des Planum sonen) waren die Planum-temporale-Areale
temporale ist in den letzten 50 Jahren intensiv auf der linken Hemisphäre deutlich vergrößert
untersucht worden. Während anfangs Leichen- (Jancke et al., 2003). Die Planum-temporale-
gehirne studiert wurden, sind mittlerweile Asymmetrie korreliert mit der Händigkeit,
viele In-vivo-Untersuchungen mittels MRT wobei Rechtshänder eine deutlichere links-
durchgeführt worden. In der Studie mit der bis- gerichtete Asymmetrie aufweisen (Abb. 6-10).
lang größten Stichprobe (N = 250 gesunde Per- Diese Asymmetrie ist bereits bei Kindern im
Alter von acht Jahren vollständig ausgeprägt.
20 Eine detaillierte Darstellung dieser anatomi- Aufgrund des Zusammenhangs zwischen der
schen Asymmetrien findet man in Jäncke und­ Händigkeit und der Sprachlateralisierung so-
Steinmetz (2003). wie dem Umstand, dass das Planum temporale

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176 6. Hemisphärenasymmetrie

weitgehend in höhere auditorische Analysen Oberfläche des Gyrus supramarginalis aus-


eingebunden ist, wird vermutet, dass diese macht. Bei Frauen ist das Planum parietale
Planum-temporale-Asymmetrie die struktu- deutlich rechtslateralisiert, während bei Män-
relle Grundlage der Sprachlateralisierung dar- nern nur die Rechtshänder eine Rechtslatera-
stellt. Eine genetische Determinierung des lisierung aufweisen. Ob diese Asymmetrie mit
Ausmaßes der Planum-temporale-Asymmetrie Verhaltensmaßen und/oder Kognitionen zu-
ist allerdings unwahrscheinlich, da praktisch sammenhängt, ist bislang nicht näher unter-
keine Konkordanz hinsichtlich Richtung und sucht worden (Abb. 6-11).
Ausmaß dieser Asymmetrie bei eineiigen Zwil-
lingen festgestellt werden konnte (Jäncke &
Steinmetz, 2003). 6.4.4. Weitere anatomische ­
Das Planum parietale ist ein weiteres Asymmetrien
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perisylvisches Hirngebiet, für das deutliche


Links-rechts-Asymmetrien beschrieben wur- Eine interessante anatomische Asymmetrie
den (Jancke et al., 1994). Hierbei handelt es konnte im Motorkortex  – genauer im Hand-
sich um die Fläche auf dem aufsteigenden Teil motorareal  – festgestellt werden. Da es
der Sylvischen Fissur, die im Wesentlichen die schwierig ist, die Grenzen des Handmotor-
areals genau zu erfassen, kann die Größe die-
A) ses Gebiets nur geschätzt werden. Eine Mög-
lichkeit der Schätzung besteht darin, die Tiefe
PP des Sulcus centralis (SC-Tiefe) im Bereich des
Handmotorareals zu vermessen (Abb. 6-12).
PT
Bei Rechtshändern findet sich eine Links-
asymmetrie der SC-Tiefe, während bei Links-
händern eine reduzierte Linksasymmetrie
oder eine Rechtsasymmetrie vorliegt (Amunts
et al., 2000). Die dominante rechte Hand wird
B) 1.2
δPT δPP demzufolge bei Rechtshändern von einem
1.0
großen linksseitigen Handmotorkortex kon-
.8
trolliert, während die subdominante linke
.6
Hand von einem relativ kleinen rechtsseitigen
Asymmetrie

.4
Handmotorkortex kontrolliert wird. Mögli-
.2
cherweise ist das Handmotorareal bei Rechts-
0.0
händern auf der dominanten linken Hemi-
–.2
sphäre deshalb größer, weil mehr oder grö-
–.4 ßere, mit einem ausgedehnteren Neuropil
–.6 versehene oder verbundene Neurone dort lo-
Männer Frauen Männer Frauen
kalisiert sind. Insgesamt kann davon aus-
Rechtshänder Linkshänder gegangen werden, dass ein größeres Areal
auch ein größeres neuronales Netz mit mehr
Abbildung 6-11: (A) Schematische Darstellung
Speicher- und Kontrollmöglichkeiten reprä-
der Lage des Planum temporale (PT) und des Pla-
sentiert. Dies könnte auch der Grund dafür
num parietale (PP). (B) Anatomische Asymmetrien
(ausgedrückt als Asymmetriekoeffizient; R-L/ sein, dass Rechtshänder geschickter ihre do-
R+L) für Rechtshänder (dunkle Balken) und Links- minante rechte Hand nutzen können. Bei
händer (helle Balken). Linkshändern ergibt sich ein etwas unklareres

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6.4.  Anatomische ­Asymmetrien 177

A) B)

rechte Hemisphäre

linke Hemisphäre
40
Sulcus centralis
39

38

37

Tiefe des Sulcus centralis


36

35
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34

33

32

31
L R
30
posterior Musiker Nichtmusiker

Abbildung 6-12: (A) Darstellung der Sulcus-centralis-Tiefen im Handmotorareal. (B) Sulcus-centralis-


Tiefen im Handmotorareal für konsistent rechtshändige Musiker und Nichtmusiker auf der linken und
rechten Hemisphäre (nach Amunts et al., 1997).

Bild, weil sie hinsichtlich ihrer Hemisphäre- kontrolliert, besonders groß ist. Genau dieses
nasymmetrie nicht zwingend spiegelbildlich Muster anatomischer Auffälligkeiten konnte
zu den Rechtshändern organisiert sind. Wie bei Profimusikern festgestellt werden. Die SC-
oben bereits erwähnt, sind ca. 70 % der Links- Tiefen sind bei ihnen besonders groß und auf-
händer etwa so wie Rechtshänder laterali- grund der überproportionalen rechtsseitigen
siert. Nur 15 % der Linkshänder weisen eine SC-Tiefe deutlich symmetrischer (Amunts et
Rechtslateralisierung auf, während die ver- al., 1997; Abb. 6-12). Bemerkenswert ist auch,
bleibenden 15 % bilateral organisiert sind. dass die SC-Tiefen bei Musikern, die früh mit
Insgesamt ist demzufolge die im Mittel redu- dem musikalischen Training begonnen ha-
zierte Linksasymmetrie bei Linkshändern ben, besonders groß sind. Aufgrund dieser
durch die Heterogenität der Lateralisierung in Befunde ist zu vermuten, dass der frühe Be-
dieser Gruppe erklärbar. ginn des motorischen (musikalischen) Trai-
Profipianisten und -streicher, die jahrelang nings zu makroanatomisch feststellbaren
geübt haben, um ihre Fingerfertigkeit zu opti- Veränderungen im handmotorischen Areal
mieren, müssten  – vorausgesetzt, die Hand- geführt hat. Diese Befunde korrelieren auch
motorareale passen sich entsprechend an  – mit Resultaten, wonach Streicher über ein ver-
über größere Handmotorareale verfügen als größertes sensomotorisches Areal verfügen
Nichtmusiker. Da Pianisten und Streicher ins- (Elbert et al., 1995).
besondere die linke Hand trainieren, wäre Eine weitere anatomische Asymmetrie ist
auch zu erwarten, dass der rechtsseitige Mo- die Links-rechts-Volumenasymmetrie des
torkortex, der die subdominante linke Hand Kleinhirns, die bei Rechtshändern ausgepräg-

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178 6. Hemisphärenasymmetrie

ter ist. Für den Gyrus frontalis inferior und ins- ist allerdings noch ungeklärt, inwieweit die
besondere für den Pars triangularis und oper- anatomischen Asymmetrien für psychologi-
cularis ist eine Links-rechts-Volumenasym- sche Funktionen relevant sind.
metrie berichtet worden. Bei Rechtshändern Kürzlich wurde eine Studie publiziert, bei
soll diese Asymmetrie stärker als bei Links- der hirnanatomische Asymmetrien bei über
händern sein. Es wird vermutet, dass dies eine 17 000 Personen im Rahmen einer Multicen-
anatomische Grundlage der funktionellen ter-Studie untersucht wurden (Kong et al.,
Sprachlateralisierung ist, da diese Areale mit 2018). Zum Einsatz kam in dieser Studie die
dem Broca-Areal überlappen. Häufig werden Software Freesurfer, mit der die kortikale Dicke
auch Links-rechts-Volumenasymmetrien für und Fläche von vielen Hirngebieten anhand
den Hippocampus berichtet. Londoner Taxi- von MRT-Aufnahmen recht präzise gemessen
fahrer mit langjähriger Erfahrung in diesem werden kann. Diese Arbeit offenbarte, dass die
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Beruf weisen besonders große rechtsseitige kortikale Dicke und die kortikale Fläche je
posteriore Hippocampusareale auf. Insgesamt nach Hirngebiet unterschiedlich lateralisiert

Kortikale Dicke

L>R
Gyrus präzentralis
Gyrus frontalis (rostral)
Gyri orbitalis (lateral)
Gyrus postzentralis
Cingulum (isthmus)
Cingulum (posterior)
Gyrus frontalis superior
Insula
Gyrus frontal inferior (pars orbitalis)
Lobulus parietalis superior
Cingulum (rostral anterior)
Gyrus parahippokampalis
Gyrus frontalis medius
Frontalpol
Gyri orbitalis medialer Teil
Gyrus supramarginalis
Gyrius frontalis inferior (pars triangularis)
Sulcus calcarinus (pericalcarin) R>L
Gyrus frontal inferior (pars opercularis)
Gyrus fusiformis
Gyrus temporalis medius
Gyrus temporalis inferior
Gyrus temporalis superior
Heschischer Gyrus
Gyrus paracentralis
Precuneus
Lobulus parietalis inferior
Cuneus
Temporalpol
Gyrus lingualis
Gyrus entorhinalis
Sulcus temporalis superior
Gyri occipitalis (lateral)
–0.6 –0.45 –0.3 –0.15 0 0.15 0.3 0.45

Asymmetrie-Index

Abbildung 6-13: Kortikale Dicken für verschiedene Hirngebiete aus der Arbeit von Kong et al. (2018). Man
erkennt, dass einige Hirngebiete deutlich links- und andere rechtslateralisiert sind.

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6.4.  Anatomische ­Asymmetrien 179

sind. In Abbildung 6-13 sind die Asymmetrien kortikalen Dicke deutlich linkslateralisiert ist,
verschiedener Hirngebiete für die kortikale ist das Flächenmaß für diese Hirnstruktur
Dicke dargestellt. Man erkennt in dieser Ab- praktisch symmetrisch (mit einer leichten Ten-
bildung auch, dass einige Hirngebiete hin- denz zur Rechtsasymmetrie). Für den Gyrus
sichtlich dieses anatomischen Maßes deutlich temporalis superior findet sich eine deutliche
nach links und andere deutlich nach rechts la- Linksasymmetrie für die kortikale Dicke und
teralisiert sind. In Abbildung 6-14 sind die ana- eine Rechtsasymmetrie für die kortikale Flä-
tomischen Asymmetrien für die kortikale Flä- che. Diese Befunde legen nahe, dass die ge-
che dargestellt. Hier erkennt man ebenfalls, messenen anatomischen Asymmetriemaße
dass einige Hirngebiete nach links und andere stark von den jeweils genutzten anatomischen
nach rechts lateralisiert sind. Auffallend ist al- Kennwerten abhängen. Dies konnte auch im
lerdings, dass die Asymmetrien der kortikalen Zusammenhang mit detaillierteren Analysen
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Dicke und Fläche nicht miteinander korrelie- der stark lateralisierten auditorischen Hirn-
ren. Während der Gyrus präzentralis bei der gebiete (Heschlscher Gyrus, Planum tempo-

Kortikale Fläche

L>R
Gyrus frontalis inferior (pars opercularis)
Cingulum (rostral anterior)
Temporalpol
Gyrus entorhinalis
Gyrus temporalis superior
Sulcus temporalis superior
Gyrus frontalis medius
Gyrus temporalis inferior
Gyrus postzentralis
Cingulum (isthmus)
Gyrus frontalis superior
Gyrus supramarginalis
Gyurs fusiformis
Gyrus parahippokampalis
Gyri occipitalis (lateral)
Gyri orbitalis lateral
Gyri orbitalis medialer Teil
Lobulus parietalis superior
Gyris lingualis R>L
Gyrus präzentralis
Cingulum (posterior)
Insula
Cuneus
Gyrus frontalis medius
Precunues
Cingulum (caudal anterior)
Sulcus calcarinus (pericalcarin)
Gyrus frontalis inferior (pars triangularis)
Gyrus paracentralis
Gyrius temporalis medius
Lobulus parientalis inferior
Frontalpol
Gyrus frontal inferior (pars orbitalis)

–1.8 –1.35 –0.9 –0.45 0 0.45 0.9 1.35


Asymmetrie-Index

Abbildung 6-14: Kortikale Flächen für verschiedene Hirngebiete aus der Arbeit von Kong et al. (2018).
Man erkennt, dass einige Hirngebiete deutlich links- und andere rechtslateralisiert sind.

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180 6. Hemisphärenasymmetrie

rale und Planum polare) gezeigt werden nalen Aktivität, insofern ist eine depressive
(Meyer et al., 2014). Es wird vermutet, dass Verstimmung mit einer Aktivierung des rechts-
kortikale Dicke und Fläche unterschiedliche seitigen Frontalkortex verbunden. Aus ande-
Marker für Entwicklung und Plastizität des Ge- ren Untersuchungen ist bekannt, dass der
hirns repräsentieren. Während sich die korti- rechtsseitige Frontalkortex in die Kontrolle
kale Dicke im Laufe des Lebens durch Erfah- von Abwehr- und Vermeidungsreaktionen ein-
rung und Training ändern kann, wird die gebunden ist, während der linksseitige Fron-
kortikale Fläche vorrangig während der feta- talkortex an der Kontrolle von Annäherungs-
len Reifung durch die zunehmende kortikale verhalten und positiven Emotionen beteiligt
Faltung ab dem 5. Monat festgelegt. ist (Kap. 20).
In diesem Zusammenhang sind auch Be-
funde interessant, die nahelegen, dass Per-
6.5. Verhaltensauffällig­
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sonen mit konsistenter und starker Aktivie-


keiten und atypische rung des rechten Frontallappens über weniger
Asymmetrien Killerzellen im Immunsystem verfügen als
Personen mit konsistent starker Aktivierung
In vielen Arbeiten werden Verhaltensauf- des linken Frontallappens. Vorstellbar ist,
fälligkeiten oder psychische Erkrankungen dass unausbalancierte Aktivierungen des
mit atypischen funktionellen und anatomi- Frontallappens, bedingt durch Mikro- oder
schen Hemisphärenasymmetrien in Verbin- Makroläsionen im rechten Frontalhirnbereich,
dung gebracht. Ein Beispiel sind Sprach- und die Grundlage für affektive Störungen sind.
Sprechstörungen wie die verzögerte Sprach- Auf der Basis dieser Erkenntnisse ist ein the-
entwicklung, Legasthenie und Stottern, bei rapeutischer Ansatz zur Behandlung von De-
denen unklare bzw. atypische Hemisphärena- pressionen entwickelt worden, bei dem der
symmetrien vermutet werden. Eine atypische linke Frontalkortex erregt oder der rechte
Hemisphärenasymmetrie ist eine von der gehemmt wird. Durch diese Stimulationen
Norm abweichende Asymmetrie, was Rechts- soll die Aktivitätsbalance beider Frontallap-
asymmetrie, reduzierte Linksasymmetrie oder pen wiederhergestellt werden (Schonfeldt-­
Symmetrie bedeuten kann. Mittlerweile wer- Lecuona et al., 2010).
den auch psychiatrische Störungen wie Schizo-
phrenie, endogene Depression, Aufmerksam-
keits-Hyperaktivitäts-Störungen, Gilles-de-la- 6.6. Dynamik der ­
Tourette-Syndrom und Zwangsstörungen mit Asymmetrien
atypischen Hemisphärenasymmetrien in Ver-
bindung gebracht. Unklar ist jedoch, ob diese Am Beginn der Erforschung der Hemisphäre-
atypischen Hemisphärenasymmetrien die nasymmetrien wurde häufig die Dualität bzw.
Folge oder die Ursache der Störungen sind. die Eigenständigkeit beider Hemisphären be-
Ein etwas konsistenteres Bild konnte im tont. Die rechte Hemisphäre wurde z. B. als
Zusammenhang mit der Erforschung der neu- holistisch arbeitend aufgefasst, während die
ronalen Grundlagen der Depression erzielt linke Hemisphäre als Sitz des Bewusstseins
werden. Richard Davidson (2003) zeigte, dass oder des analytischen Denkens identifiziert
eine depressive Verstimmung mit einer Alpha- wurde. Diese Dualisierungen erwecken fälsch-
Blockade im EEG über dem rechten Frontal- licherweise den Eindruck, beide Hemisphären
kortex korreliert. Eine Alpha-Blockade ist würden wirklich unabhängig voneinander ar-
gleichzusetzen mit einer Zunahme der neuro- beiten. Das ist zwar unter bestimmten Um-

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6.6.  Dynamik der ­Asymmetrien 181

ständen möglich, aber nicht der Regelfall, verarbeiten hatten (Meyer et al., 2006). Wäh-
denn beide Hemisphären interagieren in der rend dieser Wahrnehmungsaufgaben wurde
Regel intensiv miteinander. die elektrische Hirnaktivität mittels EEG regis-
triert und anhand des Oberflächen-EEG die
intrazerebralen Quellen berechnet. 100 ms
6.6.1. Asymmetriewechsel bei ­ nach Reizpräsentation war eine deutliche
auditorischer Wahrnehmung Rechtslateralisierung im auditorischen Kortex
festzustellen, die nach 200 ms zu einer Links-
Interhemisphärische Interaktionen treten be- lateralisierung wechselte (Abb. 6-15). Offenbar
reits bei einfachen Wahrnehmungsprozessen werden diese akustischen Reize nicht nur von
auf. Dies haben z. B. Martin Meyer und Kolle- einer Hemisphäre verarbeitet, sondern in In-
gen im Rahmen eines auditorischen Experi- teraktion mit der anderen Hemisphäre. Dabei
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ments zeigen können, bei dem die Versuchs- kann die Asymmetrie der Aktivierung von der
personen Töne und komplexe Klänge zu einen zur anderen Seite wechseln.

100 ms R L

200 ms R L

Abbildung 6-15: Schematische Darstellung des Ergebnisses aus dem Experiment von Meyer et al.
(2006). 100 ms nach der Präsentation der Töne und Klänge ist die Aktivität im rechten auditorischen
Kortex deutlich stärker und räumlich ausgedehnter als im linken auditorischen Kortex. Nach 200 ms
ändert sich die Asymmetrie und der linke auditorische Kortex ist stärker aktiviert als der rechte.

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182 6. Hemisphärenasymmetrie

6.6.2. Interaktionen zwischen ­ Motorkortex scheint jedoch auch beim Trai-


beiden Hemisphären beim ning der subdominanten linken Hand effi-
motorischen Lernen zienter zu werden. Insofern profitieren vom
Training der subdominanten linken Hand
Beide Hemisphären scheinen auch direkt zu beide Hände und beide Motorareale (der
interagieren, was insbesondere für die moto- rechts- und linksseitige).
rische Kontrolle gezeigt worden ist. Wenn Beide Handmotorareale üben einen wech-
z. B. mit der subdominanten linken Hand eine selseitigen hemmenden Einfluss aus und
Geschicklichkeitsaufgabe trainiert wird, zei- modulieren damit die Aktivität der jeweils kon-
gen sich auch für die nichttrainierte domi- tralateralen Seite. Die gegenseitige Hemmung
nante rechte Hand Trainingseffekte (Abb. 6-16; beider Motorareale zeigt sich insbesondere in
Schulze et al., 2002). Die dominante rechte der Rehabilitation von unilateralen Schlag-
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Hand wird vom linksseitigen und die sub- anfällen mit Läsionen in den Motorarealen.
dominante linke Hand vom rechtsseitigen Diese Läsionen resultieren in einseitigen Läh-
Motorkortex kontrolliert. Wenn also die domi- mungen oder Beeinträchtigungen der Hände
nante rechte Hand trainiert wird, ist der links- oder Beine. Ist z. B. der dominante linksseitige
seitige Motorkortex aktiv und arbeitet mit Motorkortex im Bereich des Handareals durch
zunehmendem Training immer effizienter. den Schlaganfall beeinträchtigt, treten Läh-
Analog nimmt die Kontrolleffizienz des rechts- mungserscheinungen der dominanten rechten
seitigen Motorkortex beim Training der sub- Hand auf. Durch die Läsion des linksseitigen
dominanten linken Hand zu. Der linksseitige Motorkortex entfällt auch die Hemmung des

A) B)
205 mm 4

3
Ø 6 mm
Ø 1.5 mm
Lerneffekt

2
Ø 3 mm
Bew
egu
ngs
dist
anz 1

Startposition
Ø 12 mm
0
140 mm

Leistungsverbesserung der linken Hand nach Training mit der rechten Hand

Leistungsverbesserung der rechten Hand nach Training mit der linken Hand

Abbildung 6-16: (A) Pegboard-Brett, mit dem das Geschicklichkeitstraining durchgeführt wurde (nach-
gezeichnet nach Schulze et al., 2002). (B) Trainingseffekte der rechten und linken Hand nach dem Trai-
ning mit der jeweils anderen Hand.

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6.6.  Dynamik der ­Asymmetrien 183

homotopen rechtsseitigen Motorkortex, der tigen Motorkortex nicht mehr optimal entfalten
deshalb den bereits lädierten linksseitigen Mo- können. Aus diesem Grund wird heute die
torkortex stärker hemmt (Abb. 6-17). Wird wäh- transkranielle Magnetstimulation oder Gleich-
rend der Rehabilitation die betroffene rechte stromapplikation genutzt, um das nicht betrof-
Hand trainiert, werden mögliche Trainings- fene Motorareal zu hemmen oder die funk-
effekte behindert, weil sich die noch funktions- tionsfähigen Nervenzellen im und um den
fähigen Nervenzellen im und um den linkssei- betroffenen Motorkortex zu erregen. Diese

A) B)
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L R L R

C) D)

L R L R

erregen hemmen

Abbildung 6-17: (A) Schematische Darstellung der gegenseitigen Hemmung beider Motorareale im ge-
sunden Zustand. (B) Bei Läsion des linksseitigen Motorkortex kann dieser nicht mehr genug Hemmung
gegenüber dem rechten Motorkortex aufbauen. Der rechte Motorkortex ist nun ungehemmt und entfaltet
mehr Hemmkraft, um den linken Motorkortex zu hemmen. Die gesunden Nervenzellen des linken Motor-
kortex können dann nicht mehr optimal auf die Trainingsstimulationen reagieren, sofern mit der rechten
Hand trainiert wird. (C) Durch Erregung (z. B. mit TMS) des gesunden Gewebes um und in der Läsion auf
dem linken Motorkortex kann die starke Hemmung durch den rechten Motorkortex ausgeglichen werden.
(D) Gleiches erreicht man durch Hemmung des rechten Motorkortex.

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184 6. Hemisphärenasymmetrie

Maßnahmen führen zu einem effizienteren gungen mit der dominanten Hand. Während
Training der betroffenen Hand. ältere fMRT-Studien vermuten ließen, dass bei
Diese funktionale Interaktion beider Motor- der Bewegung der dominanten rechten Hand
areale zeigt sich auch bei unimanualen Bewe- nur der linksseitige Motorkortex aktiv ist, zei-
gen neuere Arbeiten, dass beide Motorareale
immer funktional gekoppelt sind. Konkret wer-
A)
den in diesen Arbeiten mittels EEG die elektri-
schen Oszillationen über oder in den Motor-
arealen beider Hemisphären gemessen und es
wird überprüft, ob sie kohärent (also gleichsin-
nig) in Phase schwingen. Je ähnlicher diese Os-
zillationen, desto höher bzw. kohärenter sind
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sie. Verschiedene Arbeiten haben gezeigt, dass


die Motorareale während der Bewegung ins-
besondere im Frequenzbereich des Beta-Ban-
L R
des (14–30 Hz) kohärent miteinander oszillie-
ren (Abb. 6-18). Bei unimanualen Bewegungen
mit der subdominanten linken Hand nimmt
B) die Kohärenz zwischen beiden Hemisphären
intrahemisphärische Kohärenz
Verhältnis links/rechts deutlich zu. Die interhemisphärische Kohä-
1.10
renz nimmt mit zunehmender Komplexität der
rechte Hand
linke Hand
motorischen Aufgabe ab. Wenn die Komplexi-
bimanual tät zunimmt, wird aus der inter- eine intrahemi-
1.05

Abbildung 6-18: (A) Schematische Darstellung


der intra- und interhemisphärischen Kohärenzen.
1.00
Die Kohärenzen wurden zwischen den Positionen
der Elektroden berechnet, die über den Hirnregio-
nen angebracht waren, die für die motorische
Kontrolle wichtig sind. (B) Gesamte intrahemi-
einfach komplex sphärische Kohärenz (linke + rechte Hemisphäre).
Man erkennt, dass die intrahemisphärische Ko-
C) interhemisphärische Kohärenz härenz bei einfachen motorischen Aufgaben mit
0.24 der rechten Hand besonders groß ist. Bei kom-
plexen Bewegungen ist die intrahemisphärische
rechte Hand
linke Hand Kohärenz bei unimanualen Bewegungen der lin-
bimanual ken und rechten Hand sowie bei bimanualen Be-
wegungen sehr hoch. (C) Interhemisphärische
0.21 Kohärenz bei einfachen und komplexen Aufgaben
und für unimanuale und bimanuale Bewegungen.
Man erkennt die hohen interhemisphärischen
Kohärenzen für die einfachen Aufgaben und die
niedrigeren für die schweren Aufgaben (nach Ser-
0.18 rien et al., 2006). Interessant ist auch die hohe
interhemisphärische Kohärenz bei einfachen
einfach komplex motorischen Aufgaben mit der linken Hand.

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6.6.  Dynamik der ­Asymmetrien 185

sphärische Kohärenz, insbesondere wenn uni- ren, ist während des Lernens und Optimierens
manuale Bewegungen mit der subdominanten der Aufgabe die Durchblutung in verschiede-
linken Hand oder bimanuale Bewegungen nen Hirngebieten der rechten Hemisphäre
durchgeführt werden (Serrien & Spapé, 2009). reduziert, während vorrangig auf der linken
Beim motorischen Lernen können auch Hemisphäre die Durchblutung zunimmt.
Veränderungen der Hemisphärenasym- Diese Verschiebung der Asymmetrie wird mit
metrie festgestellt werden. Lernen Versuchs- Veränderungen der genutzten kognitiven Stra-
personen eine bimanuale Aufgabe zu optimie- tegien in Verbindung gebracht. Während des

A) Durchblutungsabnahmen B) Durchblutungszunahmen
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2
3 1

2 2

L R L R

R M

Abbildung 6-19: (A) Durchblutungsabnahme beim Lernen einer bimanualen Bewegung vorrangig auf der
rechten Hemisphäre. Hirngebiete, die lernbedingte Durchblutungsabnahmen zeigen, sind: (1) Lobulus
parietalis superior rechts, (2) dorsolateraler Präfronalkortex rechts, (3) ventraler Prämotorkortex rechts.
Durchblutungsabnahmen finden sich auch im linksseitigen Kleinhirn (hier nicht gezeigt). (B) Durchblu-
tungszunahmen während des Lernens der gleichen bimanualen Aufgabe. Hirngebiete, die lernbedingte
Durchblutungszunahmen zeigen, sind: (1) dorsaler Prämotorkortex rechts, (2) bilateral der sensomoto-
rische Kortex mit M1 und S1, (3) cingulärer Motorkortex, (4) Basalganglien, (5) Kleinhirn (Nucleus den-
tatus) (nach Debaere et al., 2004). R: rechts, L: links, M: mesial.

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186 6. Hemisphärenasymmetrie

Lernens etabliert sich zunehmend eine in- damit verbundenen Magnetfelder) millise-
terne Bewegungskontrolle, die auf interne Re- kundengenau gemessen werden. Selbst im
präsentationen motorischer Kommandos zu- Ruhezustand, wenn keine offensichtlichen
rückgreift (Debaere et al., 2004). Interne kognitiven Aufgaben zu bewältigen sind, ist
Kontrollprozesse sollen vorrangig von der lin- ein ständig wechselndes Aktivierungsmuster
ken Hemisphäre gesteuert werden. Zu Beginn mit Aktivierungswellen, die zwischen den
des Lernens werden vermehrt Kontrollpro- Hirnhemisphären hin und her wechseln, zu
zesse genutzt, die auf externe Reize zurück- erkennen.
greifen. Mit zunehmendem Lernen werden
diese extern geleiteten Prozesse jedoch immer
unwichtiger, weshalb auch die Aktivierung in 6.7. Ursachen der ­
den Hirngebieten der rechten Hemisphäre ab- Asymmetrien
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nimmt, die für diese Kontrollen zuständig


sind (Abb. 6-19). Hinsichtlich der Ontogenese von funktionel-
Die Dynamik der interhemisphärischen len Asymmetrien ist bekannt, dass sie bereits
Informationsverarbeitung ergibt sich aus der im Säuglingsalter auftreten. Föten führen be-
Tatsache, dass selbst bei einfachen psycho- vorzugt den rechten und nicht den linken Dau-
logischen Aufgaben viele psychische Prozesse men zum Mund, um an ihm zu saugen. Offen-
miteinander interagieren. Angenommen, Sie bar ist die Händigkeit bereits beim Fötus
müssen eine motorische Aufgabe mit Ihrer festgelegt. Bei Säuglingen und Kindern exis-
dominanten rechten Hand bearbeiten. Dann tiert eine größere funktionelle Plastizität nach
sind der linksseitige Motorkortex, der davor- unilateralen Läsionen. So bilden sich bei Kin-
liegende Prämotorkortex und das rechtssei- dern, bei denen der Spracherwerb noch nicht
tige Kleinhirn besonders stark aktiv. Sofern abgeschlossen ist, läsionsbedingte Aphasien
Sie sich bei dieser Aufgabe konzentrieren schneller zurück (Lenneberg, 1972). Offenbar
müssen, werden die auf der rechten Hemi- verfügen junge Gehirne über eine überlegene
sphäre lokalisierten frontoparietalen Auf- Fähigkeit, sich nach Läsionen neu zu organi-
merksamkeitsnetzwerke sehr aktiv sein. Auch sieren. Die Ursachen für die funktionellen und
wenn die motorische Aufgabe räumliche Ori- anatomischen Asymmetrien sind bislang nicht
entierungsprozesse erfordert, wird das rechts- eindeutig geklärt. Derzeit werden verschie-
seitig lokalisierte frontoparietale Netzwerk dene Modelle diskutiert, die genetische, rei-
stark beteiligt sein. Wenn diese motorische fungsbiologische oder exogene Faktoren (wie
Aufgabe auch den Abruf von sprachlichen In- soziale Beeinflussung oder Geburtstraumata)
formationen notwendig macht, wird eine Be- favorisieren.
teiligung von linksseitig lokalisierten Netz- Im Rahmen der Modelle, die den geneti-
werken in den Sprachregionen erforderlich schen Einfluss auf die Hemisphärenasym-
sein. Insofern ist selbst bei einfachsten moto- metrie favorisieren, werden ein oder zwei
rischen Aufgaben die Synchronisation der Gene postuliert, die für die Entwicklung der
motorischen Hirngebiete mit anderen Hirn- Asymmetrien verantwortlich sein sollen. Die
gebieten auch auf der ipsilateralen Hemi- zur Unterstützung dieser Modelle erstellten
sphäre entscheidend. Modellrechnungen können zwar die Prävalenz
Die Dynamik der interhemisphärischen von Rechts- und Linkshändigkeit in der Nor-
Wechselwirkung kann mittels EEG und MEG malbevölkerung erklären, sind allerdings un-
sichtbar gemacht werden. Mit diesen Metho- geeignet, die Händigkeitsprävalenz bei ein-
den kann die elektrische Aktivität (und die eiigen Zwillingen zu erklären. Circa 20 % aller

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6.8.  Geschlechts­unterschiede bei ­Asymmetrien 187

eineiigen Zwillinge sind in Bezug zur Händig- che), sind nicht plausibel. Aufgrund dieser In-
keit diskordant (ein Zwilling rechts- und der konsistenzen in der Modellbildung werden
andere linkshändig). Solche Diskordanzen zunehmend Lern- und Sozialisationsein-
sind im Rahmen „strenger“ genetischer Mo- flüsse als bestimmende Faktoren vorgeschla-
delle nicht erklärbar, denn die Zwillinge soll- gen. Ein interessantes (aber nicht bewiesenes
ten aufgrund ihres gleichen Genmaterials Modell) ist von dem US-amerikanischen Neu-
auch die gleiche Hemisphärenasymmetrie rowissenschaftler Fred Previc (1991) vor-
und Händigkeitspräferenz aufweisen. Das et- geschlagen worden. Er vermutet, dass funk-
was moderatere genetische Modell von Marian tionelle Asymmetrien durch die Lage des
Annett (1970) kann dieses Problem durch die Fötus im Mutterleib determiniert oder zumin-
Annahme eines „Zufallsfaktors“ lösen, der bei dest entscheidend beeinflusst werden. Im
Fehlen eines „Händigkeitsgens“ Richtung und letzten Trimester der fetalen Entwicklung lie-
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Ausmaß der Asymmetrie zufällig bestimmen gen zwei Drittel aller menschlichen Föten mit
soll. Dieser Zufallsfaktor soll auch bei Vorlie- dem Kopf nach unten und dem rechten Ohr
gen eines die Händigkeit determimierenden nach außen im Mutterleib. Diese Lage soll
Gens wirksam werden, indem er sich dem ge- asymmetrische morphologische Entwicklun-
netischen Einfluss additiv überlagert. Insofern gen (z. B. das Wachstum bestimmter Gesichts-
ist die jeweilige Ausprägung der Händigkeit als bereiche), aber auch die Entwicklung des au-
Summe von genetischem und Zufallseinfluss ditiven Systems und des Vestibularapparats
aufzufassen. Trotz der teilweise einleuchten- entscheidend beeinflussen. Diese Theorie er-
den Resultate der Modellrechnungen darf wartet noch wissenschaftliche Bestätigung.
nicht außer Acht gelassen werden, dass bis
heute keine eindeutige empirische Evidenz für
genetische Ursachen von funktionellen Asym-
6.8. Geschlechts­
metrien vorliegt. So erbrachten Zwillingsstu- unterschiede bei ­
dien bis dato keinerlei Hinweise auf eine Kon- Asymmetrien
kordanz bei eineiigen Zwillingen hinsichtlich
funktioneller Asymmetrien. Häufig werden geschlechtsspezifische funk-
Nicht nur die mangelnde empirische Evi- tionelle Asymmetrien thematisiert. So wird
denz, sondern auch theoretische Überlegun- in älteren Arbeiten eine ca. 2–3,5 % größere
gen schwächen die Erklärungskraft der geneti- Linkshändigkeitsprävalenz bei Männern im
schen Modelle der Lateralisierungsgenese. Vergleich zu Frauen konstatiert. Auch für an-
Zum Beispiel ist unklar, welche Funktionen dere psychische Funktionen werden gelegent-
und/oder anatomischen Merkmale hinsicht- lich geschlechtsspezifische Asymmetrien be-
lich ihrer Asymmetrie genetisch beeinflusst richtet. Die Metaanalyse von Voyer (1996) legt
werden. Ist es die Händigkeit, die Sprachlate- nahe, dass Frauen in einigen Bereichen redu-
ralisierung oder sind es gar die raumbezoge- zierte funktionelle Asymmetrien aufwiesen
nen Verarbeitungsprozesse? Sind ein, zwei (Tab. 6-8), z. B. bei nonverbalen visuellen Auf-
oder mehrere Gene verantwortlich? Determi- gaben. Auditorisch dargebotene verbale und
nieren die einzelnen Gene Richtung und/oder nonverbale Stimuli evozierten schwache Late-
Ausmaß von Asymmetrien? Worin liegt der ralisierungsunterschiede zwischen den Ge-
evolutionäre Vorteil der Ausbildung von Asym- schlechtern. Hinsichtlich taktil dargebotener
metrien? Auch Annahmen, die eine Koppelung Reize ergaben sich zwar numerisch größere
zwischen verschiedenen Funktionen ver- Geschlechtsunterschiede, diese blieben je-
muten (z. B. zwischen Händigkeit und Spra- doch infolge der relativ geringen Anzahl von

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188 6. Hemisphärenasymmetrie

publizierten Studien zu dieser Modalität statis- Aktivierungen in frontalen Hirnbereichen,


tisch unauffällig. Obwohl im Durchschnitt während Männer durch linksdominante Akti-
statistisch signifikante reduzierte funktionelle vierungen bei der Beurteilung von Reimen
Asymmetrien bei Frauen vorliegen, sind die auffielen. Eine neuere Studie konnte diesen
absoluten Asymmetrien (ausgedrückt als Ef- geschlechtsspezifischen Unterschied an einer
fektgrößen) sehr gering (Tab. 6-8) und prak- größeren Stichprobe (n = 80) allerdings nicht
tisch unbedeutend. Das bedeutet, dass die mehr reproduzieren (Frost et al., 1999). Mitt-
Verteilungen der Asymmetriemaße sich stark lerweile haben auch Metaanalysen belegt,
überlagern und demnach für den Einzelfall dass in den bildgebenden Studien keine nen-
keine Aussagen zulassen. nenswerten funktionellen Asymmetrien hin-
Neben diesen (geringen) Geschlechtsunter- sichtlich der neurophysiologischen Aktivie-
schieden finden sich bei Frauen häufig auch rung festzustellen sind (Sommer et al., 2004).
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Varianzvergrößerungen hinsichtlich der ge- Bei Frauen muss vielmehr die zyklus-
messenen Lateralisierungsparameter. Dieser abhängige Veränderung der kognitiven Leis-
Umstand macht deutlich, dass Geschlechts- tung und Hirnaktivität berücksichtigt werden.
unterschiede nur mit relativ großen Stichpro- So ist bekannt, dass in der Zyklusphase, in der
ben konsistent nachzuweisen sind. Mögli- der Östrogenspiegel im Blut hoch ist (Follikel-
cherweise ist dies der Grund, weshalb häufig phase), die Hirnaktivität bei der Bearbeitung
widersprüchliche Befunde auf diesem For- von kognitiven Aufgaben stärker und räumlich
schungsgebiet berichtet werden. Als Beispiel ausgedehnter ist als in den Phasen, in denen
für dieses statistische Problem mögen neuere weniger Östrogen vorhanden ist (Dietrich et
kernspintomografische Studien dienen, in al., 2001). Des Weiteren haben Markus Haus-
denen Hirndurchblutungskorrelate bei der mann und Onur Güntürkün (2000) gezeigt,
Beurteilung von Reimen gemessen wurden. dass die funktionelle Lateralisierung in der
In einer Studie zeigten Frauen symmetrische progesteronreichen Phase nach dem Eisprung

Tabelle 6-8: Ergebnisse der Metaanalyse von Voyer (1996) hinsichtlich der Geschlechts­unterschiede von
funktionellen Asymmetrien. Dargestellt sind hier die Effektgrößen für die Geschlechtsunterschiede der
Asymmetriekennwerte. Effektgrößen größer null indizieren eine bei Frauen geringere funktionelle Asym-
metrie. Man erkennt die geringen Effekt­größen, die zeigen, dass die Geschlechtsunterschiede sehr klein
sind. Die mit einem Stern versehenen Effektgrößen kennzeichnen signifikante Geschlechtsunterschiede,
die allerdings mit der großen Zahl der Studien zu erklären sind, die dazu führt, dass selbst kleine E
­ ffekte
statistisch signifikant werden können.

Anzahl der Studien Effektgröße


visuelle Modalität
verbale Aufgaben 123 0.058
nonverbale Aufgaben 112 0.076*
auditorische Modalität
verbale Aufgaben  94 0.062
nonverbale Aufgaben  26 0.070*
taktile Modalität
verbale Aufgaben  17 0.129
nonverbale Aufgaben  24 0.155

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6.8.  Geschlechts­unterschiede bei ­Asymmetrien 189

(Gelbkörperphase) deutlich reduziert ist. Sie zu einer „Entkoppelung“ beider Hemisphären


konnten in einem eleganten Experiment auch führen, sodass sie mehr oder weniger un-
zeigen, dass der interhemisphärische Informa- abhängig voneinander arbeiten und die dar-
tionsaustausch in dieser Phase vermindert ist. gebotenen Reize im Sinne des Modells des
In ihrer Arbeit nutzten sie die tachistoskopi- direkten Zugriffs (direct access, s. o.) verarbei-
sche Darbietungstechnik und präsentierten ten (Abb. 6-20).
den Versuchspersonen verschiedene Reize in Aber auch das Östrogen scheint einen Ein-
der rechten und linken Gesichtsfeldhälfte. Sie fluss auf die Lateralisierung zu haben, wie Su-
wählten hierzu Reize, von denen bekannt ist, sanne Weis und Kollegen eindrucksvoll bestä-
dass sie Vorteile des linken oder rechten Ge- tigen konnten (Weis et al., 2008). In ihrem
sichtsfeldes evozieren. Diese Messungen er- Experiment nutzten die Wissenschaftler die
folgten vor dem Eisprung, während der Mens- tachistoskopische Darbietungstechnik und
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truation oder nach dem Eisprung in der präsentierten den Versuchspersonen Wörter in
Lutealphase, in der die Progesteronkonzen- der rechten und linken Gesichtsfeldhälfte. An-
tration sehr hoch ist. Typischerweise zeigt schließend forderten sie die Probanden auf,
sich bei diesen Aufgaben, dass während der zu entscheiden, ob das gerade dargebotene
Menstruation noch deutliche funktionelle Wort mit dem vorher dargebotenen Wort über-
Hemisphärenasymmetrien vorliegen, die aber einstimmte (lexikalische Entscheidungsauf-
während der Lutealphase verschwinden. Die gabe). Während dieser Präsentationen maßen
Autoren formulierten auf der Basis dieser Be- sie zusätzlich die hämodynamischen Reaktio-
funde die These, dass das in der Lutealphase nen mittels funktioneller Magnetresonanzto-
vermehrt vorhandene Progesteron die inter- mografie zu zwei verschiedenen Zeitpunkten
hemisphärische Interaktion hemmt. Dies soll des Menstruationszyklus: während der Mens-

Menstruation Lutealphase
wenig Progesteron viel Progesteron

intensive
interhemisphärische
interhemisphärische
Entkoppelung
Interaktion

L R L R

deutliche funktionelle keine oder reduzierte funktionelle


Hemisphärenasymmetrie! Hemisphärenasymmetrie!

Abbildung 6-20: Schematische Darstellung der Progesteronhypothese von Markus Hausmann und Onur
Güntürkün (2000). Während der Lutealphase, in der die Progesteronkonzentration hoch ist, ist die trans-
callosale Erregung reduziert. Dies soll zu einer Entkoppelung beider Hemisphären führen.

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190 6. Hemisphärenasymmetrie

truation und in der Follikelphase. Hierbei


zeigten sich zwar nur geringe Veränderungen
der funktionellen Asymmetrien hinsichtlich
der Verhaltensmasse, es traten allerdings mas-
sive Veränderungen der hämodynamischen
Reaktionen auf. Sowohl während der Mens-
truation wie auch während der Follikelphase L
waren starke Durchblutungszunahmen im
linksseitigen unteren Frontalkortex zu mes-
sen. Dieses Hirngebiet ist immer dann sehr
stark aktiviert, wenn lexikalische Aufgaben zu
bearbeiten sind. Einen für die Lateralisie-
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rungsforschung höchst interessanten Befund


ergab eine zusätzlich durchgeführte Konnekti-
vitätsanalyse, mit der die Wissenschaftler
überprüften, ob die hämodynamischen Reak-
tionen im linksseitigen unteren Frontalkortex
mit hämodynamischen Reaktionen auf der
rechten Hemisphäre korrelieren. Hierbei R
zeigte sich eine starke negative Korrelation mit
dem homotopen Hirngebiet der rechten Hemi-
sphäre nur in der Follikelphase (Abb. 6-21). Die
Autoren interpretieren diese negative Korrela-
tion als einen Hinweis darauf, dass der links-
seitige untere Frontalkortex das rechtsseitige
homotope Areal in der Follikelphase hemmt,
wenn viel Östrogen im Blut vorhanden ist. Ins-
gesamt belegen diese wichtigen Arbeiten,
L
dass bei Frauen die funktionelle Lateralisie-
rung während des Menstruationszyklus er-
heblich variiert. R

6.9. Zusammenfassung
Abbildung 6-21: Schematische Darstellung der
• Unter funktionellen Asymmetrien wer- Ergebnisse von Weis et al. (2008). Die Autoren ha-
ben eine lexikalische Entscheidungsaufgabe ge-
den Leistungsunterschiede zwischen den
nutzt und die damit verbundenen Hirnaktivierun-
Hirnhemisphären in der Wahrnehmung,
gen gemessen. In der Follikelphase, wenn die
der Kognition sowie der motorischen Kon-
Östrogenkonzentration im Blut hoch ist, scheint
trolle zusammengefasst. Diese Leistungs- der linksseitige inferiore Frontalkortex das homo-
unterschiede konnten durch Läsionsstu- tope Areal auf der rechten Hemisphäre zu hem-
dien sowie durch experimentalpsychologi- men. Der inferiore Frontalkortex ist typischerweise
sche und bildgebende Studien an gesunden in die Kontrolle von lexikalischen Entscheidungen
Probanden herausgearbeitet werden. eingebunden.

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6.9. Zusammenfassung 191

• Die funktionellen Asymmetrien werden • Weiter konnten deutliche Asymmetrien


traditionell mittels des „direct access“- hinsichtlich der Länge und Form des Sulcus
oder des „callosal relay“-Modells zu erklä- centralis nachgewiesen werden, wonach
ren versucht. die Tiefe des Sulcus centralis auf der linken
• Neuere Arbeiten, die funktionelle Asym- Hemisphäre bei Rechtshändern ausgepräg-
metrien im Zusammenhang mit bildgeben- ter ist als auf der rechten Hemisphäre.
den Verfahren untersuchen, legen nahe, • Weitere Asymmetrien werden konsistent
dass bei der Verarbeitung auch hochspezia- für den Hippocampus und das Kleinhirn
lisierter Funktionen beide Hemisphären (rechts > links) berichtet.
interagieren. • Die anatomischen Asymmetrien hängen
• Hinsichtlich der biologischen Ursachen von stark von den jeweils genutzten anatomi-
funktionellen Hemisphärenasymmetrien schen Massen ab. Kortikale Dicke und kor-
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besteht derzeit kein Konsens. Diskutiert tikale Fläche sind unterschiedlich, teilweise
werden in diesem Zusammenhang ver- sogar gegensätzlich lateralisiert. Wichtig ist
schiedene Einflussfaktoren. Das derzeit er- auch, dass unterschiedliche Hirngebiete in
folgreichste Modell zur Erklärung von funk- Abhängigkeit des genutzten anatomischen
tionellen Asymmetrien geht von einer Kennwertes sehr unterschiedlich ausfallen
Interaktion zwischen genetischen und Zu- können.
fallsfaktoren aus (Annett-Modell). Dieses • Bei einigen psychiatrischen Erkrankungen
Modell erklärt auch die bei Zwillingen sind darüber hinaus Abweichungen vom
häufige Konstellation von diskordanten normalen Asymmetriemuster festzustellen.
Händigkeitspräferenzen bzw. funktionellen • Im engen Zusammenhang mit diesen ana-
Hirnasymmetrien. Ungeklärt bleibt jedoch, tomischen Asymmetrien sind auch ana-
inwieweit aus diesen funktionellen Asym- tomische Kennwerte der interhemisphäri-
metrien Evolutionsvorteile entstanden sind. schen Verkabelung zu sehen. Hierbei
• Anatomische Asymmetrien sind schon scheint sich anzudeuten, dass die Median-
früh beschrieben worden und wurden ins- fläche des Corpus callosum in Abhängigkeit
besondere für das Volumen und die Form von der Gehirngröße variiert. Diese Fläche
perisylvischer Hirnbereiche, aber auch nimmt mit zunehmendem Hirnvolumen
für die globale Kopfformmasse berichtet. lediglich unterproportional zu, was da-
Neuere In-vivo-Morphometriemethoden durch zu erklären ist, dass die interhemi-
konnten diese älteren Befunde teilweise be- sphärische Kommunikation mit zunehmen-
stätigen und komplettieren. Hierbei zeigt dem Hirnvolumen immer weniger effizient
sich, dass insbesondere das Planum tempo- wird (insbesondere wegen der größeren
rale bei Rechtshändern ein größeres Volu- Zeitverzögerungen), sodass mehr auf intra-
men auf der linken Hemisphäre aufweist als hemisphärische Assoziationsbahnen zu-
auf der rechten Hemisphäre. rückgegriffen wird.
• Das volumetrische Linksüberwiegen des • Große Gehirne sind im Vergleich zu kleinen
Planum temporale korreliert auch mit der Gehirnen intrahemisphärisch stärker, aber
asymmetrischen Form der Sylvischen Fis- interhemisphärisch weniger stark ver-
sur mit einem längeren horizontalen Ab- kabelt. Kleine Gehirne sind im Vergleich zu
schnitt auf der linken Hemisphäre und ei- großen Gehirnen interhemisphärisch stär-
nem längeren vertikalen Teil auf der ker, aber intrahemisphärisch weniger stark
rechten Hemisphäre. verkabelt.

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192 6. Hemisphärenasymmetrie

• Beide Hemisphären interagieren intensiv. • Beschreiben Sie typische neurophysiologi-


In der Regel interagieren demzufolge beide sche Aktivierungsmuster.
Hemisphären selbst bei der Kontrolle von • Für welche Funktionen konnten bislang
stark lateralisierten Funktionen. Diese In- funktionelle Asymmetrien festgestellt wer-
teraktionen können anhand von interhe- den?
misphärischen Kohärenzen während der • Beschreiben Sie wesentliche morphologi-
Aufgabenbearbeitung gezeigt werden. sche Aspekte des Corpus callosum.
• Bei Männern und Frauen bestehen keine • Was sind Split-brain-Patienten?
prinzipiellen Unterschiede hinsichtlich • Welche wichtigen anatomischen Asym-
funktioneller und anatomischer Hemisphä- metrien kennen Sie?
renasymmetrien. Bei Frauen spielt die je- • Welche Verhaltensauffälligkeiten korrelie-
weilige Phase des Menstruationszyklus und ren mit atypischen funktionellen und ana-
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die damit verbundene Konzentration von tomischen Asymmetrien?


Östrogen und Progesteron offenbar eine • Beschreiben Sie Befunde, welche die Inter-
wichtige Rolle bei der Modulation funktio- aktion zwischen beiden Hemisphären be­
neller Asymmetrien. In der Lutealphase mit legen.
hohen Progesteronkonzentrationen wird • Welche Ursachen für Hemisphärenasym-
der interhemisphärische Informationsaus- metrien werden derzeit diskutiert?
tausch offenbar unterbunden und beide • Was können Sie zur aktuellen Diskussion
Hemisphären agieren unabhängig von- bezüglich der Geschlechtsunterschiede hin-
einander. In der Follikelphase mit hoher sichtlich funktioneller und anatomischer
Östrogenkonzentration werden offenbar Hemisphärenasymmetrien festhalten?
rechtsseitige Sprachareale durch die domi-
nanten linksseitigen homotopen Gebiete
gehemmt. 6.11. Weiterführende Literatur

Hugdahl, K. (1995). Dichotic listening: Probing


6.10. Fragen und Aufgaben temporal lobe functional integrity. In R. J.
Davidson, K. Hugdahl (Eds.). Brain Asym-
• Definieren Sie, was unter funktionellen und metry (pp. 123–156). Cambridge: MIT Press.
Hugdahl, K., Westerhausen, R. (2010). Two Hal-
anatomischen Hemisphärenasymmetrien
ves of the Brain. Cambridge: MIT Press.
verstanden wird.
• Beschreiben Sie die historischen Wurzeln
Jäncke, L., Steinmetz, H. (2003). Anatomical
brain asymmetries and their relevance for
der Erforschung funktioneller Asymmetrien. functional asymmetries. In: K. Hugdahl, R. J.
• Wie hoch ist die Händigkeitsprävalenz in Davidson (Eds.). The asymmetrical brain (pp.
modernen Untersuchungen? 187–229). Cambridge: MIT Press.

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193

7. Allgemeines zur Wahrnehmung


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7.2.  Was ist Wahrnehmung? 195

7.1. Bedeutung der ­ Mensch empfindet jedoch keine Atome oder


elektromagnetischen Schwingungen, sondern
Wahrnehmung
Töne, Gerüche oder Farben, die so in der rea-
Der Mensch ist ein Kulturwesen, das auf seine len Welt nicht existieren, sondern von unse-
Umwelt einwirkt und sie künstlich erstellen rem Wahrnehmungsapparat erschlossen bzw.
kann. Diese Umwelt generiert Signale, die er- interpretiert werden. Das bedeutet, dass wir
kannt werden müssen und auf die reagiert über unseren Wahrnehmungsapparat die ob-
werden muss. Dieses Erkennen leistet der jektive Welt subjektiv erschließen. Die Wis-
Wahrnehmungsapparat, der gerade beim senschaftsdisziplin, die sich damit auseinan-
Menschen besonders flexibel sein muss und dersetzt, wird als Psychophysik bezeichnet.
durch Lernen und Erfahrung verändert bzw. Diese Disziplin der Wahrnehmungspsycho-
optimiert werden kann. Aus diesem Grund logie beschäftigt sich mit den gesetzmäßigen
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spielt beim menschlichen Wahrnehmungs- Beziehungen zwischen der objektiven (physi-


prozess die Kognition eine besondere Rolle. schen) und der subjektiven (psychischen)
Der Mensch verfügt auch über die besondere Welt. Anders ausgedrückt, sie befasst sich mit
Fähigkeit, eigene Wahrnehmungen willentlich den Beziehungen zwischen physikalisch mess-
selbst zu erzeugen. Diese elementare und baren Reizen und unseren Empfindungen
wichtige psychische Funktion wird in diesem bzw. Wahrnehmungen. Obwohl wir die ob-
Kapitel detaillierter besprochen, wobei wir uns jektive Welt subjektiv interpretieren, bedeutet
auf die allgemeinen Aspekte der Wahrneh- dies keinesfalls, dass unsere Wahrnehmungen
mung konzentrieren werden. unabhängig von der objektiven Welt sind und
unsere Wahrnehmung ein reines Fantasie-
produkt ist. Jeder Art von Reizen entspricht
7.2. Was ist Wahrnehmung? eine bestimmte Art von Empfindungen und
umgekehrt (Tab. 7-1).
Die objektive Welt besteht aus Atomen, Mo-
lekülen, elektromagnetischen und mecha-
nischen Schwingungen und Gewichten. Der

Tabelle 7-1: Reize, Rezeptoren, Empfindungen und mögliche Wahrnehmungen.

Reiz Rezeptor Empfindung Beispiele für


mögliche Wahrnehmungen
elektromagnetische – – –
Wellen ≤ 10–5 cm
elektromagnetische Stäbchen und Zap- Farben, Helligkeit Gegenstände,
Wellen von fen in der Netzhaut Personen, Tiere
10–5 bis 10–4 des Auges
elektromagnetische Hautzellen Wärme, Kälte Feuer, Eis
Wellen von
10–4 bis 10–2
mechanische Rezeptorzellen Tonhöhe, Lautstärke, Stimmen, Musik
Schwingungen von im Innenohr Klänge,
20 bis 20 000 Hz (in der Schnecke) Geräusche

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196 7.  Allgemeines zur Wahrnehmung

Reiz Rezeptor Empfindung Beispiele für


mögliche Wahrnehmungen
Druck Hautzellen Berührung Metalle, Gewebe
Kopfbewegungen Rezeptorzellen im Gleichgewicht, Fallen, Drehung,
Innenohr (im Vesti- Bewegung Beschleunigung, Bremsen
bularapparat)
Chemikalien in Geschmackszellen süß, sauer, bitter, ­ Speisen, Getränke
wässriger Lösung auf der Zunge salzig
Chemikalien in gas­ Riechzellen in Gerüche Blumen, Speisen
förmigem Zustand der Nase
chemische und Zellen in den Druck, Spannung Hunger, Durst,
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mechanische Eingeweiden Aufregung


Zustandsänderungen
im Körperinneren
hohe Energiebeträge freie Nerven­ Schmerz Wunden,
jeder Art endigungen Erkrankungen

7.3. Ablauf der ­ Sinneszellen (auch Rezeptoren genannt) sind


Wahrnehmung Zellen des Körpers, die Energie (z. B. Licht,
Schall, Druck) in elektrische Entladungsmus-
Der Ablauf der Wahrnehmung kann modell- ter umwandeln. Diese Entladungsmuster am
haft als eine sequenzielle Abfolge von unter- Sensor können Veränderungen der Aktions-
schiedlichen Prozessen aufgefasst werden, in potenzialfrequenz und Generatorpotenziale
der verschiedene Verarbeitungselemente auf- sein, sie werden auch Sensorpotenziale ge-
einanderfolgen (Abb. 7-1). Die sequenzielle nannt. Dieser Prozess der Umwandlung eines
Abfolge bedeutet jedoch nicht, dass die einzel- physikalischen Reizes in Sensorpotenziale
nen Elemente immer zwangsläufig aufeinan- wird als Transduktion bezeichnet. Sensor-
derfolgen müssen; ebenso kann sie in beide potenziale müssen in einem nächsten Schritt
Richtungen verlaufen. umcodiert und an die nachgeschalteten se-
Der Ablauf der Wahrnehmung besteht aus kundären Sensoren und Zellen weitergeleitet
verschiedenen Elementen: werden. Diese zweite Umcodierung vom Sen-
1.  Reize. Dinge in der Umwelt generieren be- sorpotenzial zu weiterleitbaren Aktionspoten-
stimmte Signale (physikalische Reize), die auf zialen nennt man Transformation. Weiterhin
den Wahrnehmungsapparat einwirken. Diese ist die Unterscheidung zwischen adäquaten
Reize können physikalisch beschrieben wer- und nichtadäquaten Reizen wichtig. Ad-
den, z. B. als elektromagnetische Wellen, äquate Reize sind Reize, auf die ein bestimm-
Druck, chemische Substanzen. Signale, die auf tes Sinnesorgan optimal reagiert. In anderen
Eigenschaften des Objekts beruhen, werden Worten sind dies Reize, die eine minimale
„distale Reize“ genannt. Energie benötigen, um einen Sensor zu erre-
2.  Transduktion und Transformation. gen. Für das Auge sind das elektromagnetische
Trifft ein distaler Reiz auf spezifische Sinnes- Schwingungen mit Wellenlängen zwischen
zellen (Sensoren), entsteht durch die Inter- 400 und 700 nm und für das Ohr Schalldruck-
aktion ein proximaler Reiz. Diese spezifischen wellen mit einer Frequenz zwischen 20 und

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7.3.  Ablauf der ­Wahrnehmung 197

Ablauf der Wahrnehmung zesse). Zum Beispiel sind die Rezeptoren des
Hörsystems nur für einen kleinen Ausschnitt
Reiz der Schwingungen empfindlich. Auch die Re-
tinazellen des Auges lassen sich nur durch
einen kleinen Teil von elektromagnetischen
Schwingungen erregen. Das bedeutet, dass be-
Transduktion
reits auf den ersten Verarbeitungsstufen die zu
bearbeitenden physikalischen Reize gefiltert
werden (Filterung). Durch die Verschaltung
Vorverarbeitung der Rezeptoren miteinander beeinflussen sich
die Rezeptoren gegenseitig (z. B. durch die la-
terale Hemmung), was zur Kontrastschärfung
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genutzt werden kann. Durch Konvergenz

sensomotorischer Kreislauf
bewusste
Wahrnehmung vieler Rezeptoren und einiger weniger Ner-
venzellen (z. B. bei den Stäbchen der Retina)
können schwache Signale verstärkt werden
(Integration). Aus diesem Grund sind die
Wiedererkennung Stäbchen der Retina gerade für die visuelle
und Verständnis
Wahrnehmung unter schlechten Lichtver-
hältnissen (z. B. bei Nacht) besser geeignet als
die Zapfen.
Handeln
4.  Bewusste Wahrnehmung. Der nächste
Schritt der Wahrnehmung ist die Bewusstwer-
Abbildung 7-1: Ablauf der Wahrnehmung vom dung der verarbeiteten Reize. Dies geschieht
Reiz zur Handlung. Die Rückmeldung von der mithilfe von Erfahrung und Interpretatio-
Handlung zum Reiz schließt den sensomotori- nen (Kognition) unter Zuhilfenahme von Ge-
schen Kreislauf. Die Handlungen werden vom Or- dächtnisinformationen. Das Resultat ist ein
ganismus genutzt, um neue Wahrnehmungen Perzept, also die Bewusstwerdung der Reize.
herzustellen. Wahrnehmung unterscheidet sich in dieser
Hinsicht erheblich von der sensorischen Ver-
arbeitung und der Sinnesphysiologie, die sich
16 000 Hz. Sinnesorgane reagieren nicht nur ausschließlich mit den neurophysiologischen
auf adäquate Reize; alle Sinnesorgane können Verarbeitungen auf der Ebene der Rezeptoren
z. B. auch durch elektrischen Strom, Druck- und der sensorischen kortikalen Gebiete be-
änderungen oder Veränderungen des che- fasst. Interpretation und Kognition sind nicht
mischen Milieus erregt werden. Diese unspe- Gegenstand der Sinnesphysiologie. Die Wahr-
zifischen Reize werden als nichtadäquate nehmungspsychologie beschäftigt sich mit der
Reize bezeichnet. Frage, wie aus Schallwellen Geräusche, Töne,
3.  Vorverarbeitung. Viele Sinnesorgane be- Klänge oder Musikstücke werden.
stehen aus zahlreichen Rezeptoren und ande- 5.  Wiedererkennung und Verständnis.
ren Zellen (z. B. Interneuronen). In diesen Durch das Erinnern, Assoziieren, Beurteilen
sensorischen Systemen finden Vorverarbei- und Interpretieren verstehen wir das Wahr-
tungen der empfangenen Signale statt (Filte- genommene und leiten daraus die Entschei-
rung, Hemmung, Konvergenz, Integration, dungen für Reaktionen darauf ab. Dieser Pro-
Summation und zahlreiche Top-down-Pro- zess muss nicht zwangsläufig zu einem klar

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198 7.  Allgemeines zur Wahrnehmung

abgrenzbaren Gedanken oder mentalen Bild baren Reizen und den damit verbundenen psy-
führen, es können auch diffuse Bilder, Gedan- chischen Prozessen. Eine der Hauptinteressen
ken oder sogar Stimmungen entstehen. Gerade in den Anfängen der Psychophysik war die Be-
die Erklärung dieses Wahrnehmungsschritts ist stimmung von Wahrnehmungsschwellen. In
immer noch Gegenstand vieler heftiger wis- anderen Worten: Man war daran interessiert,
senschaftlicher Diskussionen. Manche Pro- die Minimalmenge physikalischer Energie zu
tagonisten gehen davon aus, dass die Neuro- bestimmen, die notwendig ist, um einen Reiz
wissenschaften nicht erklären könnten, wie zu bemerken. Die Energiemenge, die notwen-
durch einen physikalisch eindeutig beschreib- dig ist, um einen Reiz überhaupt „wahrnehm-
baren Reiz ein Verstehensprozess ausgelöst bar“ zu machen, wird als absolute Schwelle
wird und wie dieser Verstehensprozess kortikal bezeichnet. Der Minimalunterschied an physi-
repräsentiert ist. Aus Sicht der Neurowissen- kalischer Energie zwischen zwei Reizen (der
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schaften wird dieser Kritik entgegengehalten, gleichen Modalität), der notwendig ist, um
dass auch dieser Verstehensprozess neuronal diese beiden Reize zu unterscheiden, wird als
repräsentiert sein muss, denn unser gesamtes Unterschiedsschwelle oder als gerade merk-
psychisches Geschehen wird von Neuronen licher Unterschied (Just Noticeable Diffe-
und Neuronengruppen determiniert (Jäncke, rence, JND) bezeichnet.
2015). Insofern ist der Verstehensprozess aus Ein Problem bei der Bestimmung dieser
Sicht der Neurowissenschaften als Produkt ei- Schwellen besteht darin, dass es keine abso-
nes bestimmten neurophysiologischen Prozes- lute Energie- oder Änderungsmenge gibt, die
ses aufzufassen. Allerdings muss eingeräumt in allen Fällen bemerkt wird. Die Reaktions-
werden, dass dieser komplexe neurophysiolo- bereitschaft auf einen gegebenen Reiz zu ei-
gische Prozess vom Reiz zum Verstehen derzeit nem gegebenen Zeitpunkt hängt von dem je-
noch nicht gänzlich verstanden wird. weiligen Zustand der beteiligten Rezeptoren
6.  Handeln. Aufgrund unserer Wahrneh- und Nervenzellen ab, die abhängig von vorhe-
mung werden in der Regel Handlungen aus- rigen und aktuellen Aktivierungen unter-
gelöst. Handlungen werden wiederum durch- schiedlich bereit sind, auf neue Reize zu rea-
geführt, um Wahrnehmungen zu verändern. gieren. Insofern trifft der physikalische Reiz
Insofern kann von einem Handlungs-Wahr- aus der Umwelt auf Nervenzellen, deren An-
nehmungs-Zyklus gesprochen werden. Letzt- zahl und deren Ausmaß an Feuerbereitschaft
endliches Ergebnis der Wahrnehmung ist so- festlegen, ob und wie stark ein bestimmter
mit die Reaktion auf die Umwelt. Demzufolge Reiz eine neurophysiologische Reaktion her-
kann Wahrnehmung nicht isoliert von Hand- vorruft. Insofern kann keine eindeutige Reiz-
lungen betrachtet werden, denn der Mensch intensität als Schwelle angegeben werden,
ist ein sensomotorisches Wesen, das ständig sondern nur für jede Reizintensität eine Wahr-
aufgrund bestimmter Wahrnehmungen auf scheinlichkeit, mit der diese Reizintensität
die Umwelt einwirkt. bemerkt wirkt. Die Beziehung zwischen der
Reizintensität und der Wahrscheinlichkeit, ei-
nen Reiz wahrzunehmen, wird als psycho-
7.4. Psychophysik metrische Funktion bezeichnet. Da an-
genommen wird, dass bei einer Vielzahl der
Die Psychophysik entstand aus dem Bestre- Neurone die Feuerraten normalverteilt sind,
ben, das Leib-Seele-Problem zu lösen. Heute wird in der klassischen Psychophysik die ku-
beschäftigt sich die Psychophysik mit dem Zu- mulierte Normalverteilung als psychometri-
sammenhang zwischen physikalisch definier- sche Funktion verwendet.

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7.4. Psychophysik 199

Empirisch wird die psychometrische Funk- finiert als der mittlere Abstand zwischen den
tion ermittelt, indem den Versuchspersonen beiden Punkten auf dem Reizkontinuum, bei
die Reize mit Reizintensitäten um die Schwelle denen der Vergleichsreiz mit einer Wahr-
herum präsentiert werden, also im Schwellen- scheinlichkeit von 0.75 und 0.25 als größer
bereich getestet wird. Bei der Grenzmethode als der Standardreiz bewertet wurde. Der
steigert der Versuchsleiter die Reizintensität Punkt, an dem Standard- und Vergleichsreiz
langsam von deutlich nicht wahrnehmbar, bis als gleich groß wahrgenommen werden, ist der
die Versuchsperson den Reiz bemerkt (auf- Punkt subjektiver Gleichheit und der liegt
steigendes Verfahren). Dann beginnt der Ver- bei der Wahrscheinlichkeit von 0.50, den Ver-
suchsleiter mit deutlich überschwelligen Rei- gleichsreiz als größer als den Standardreiz
zen und reduziert die Reizintensität langsam wahrzunehmen.
und schrittweise, bis die Versuchsperson an- Ernst Heinrich Weber hat einen systemati-
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gibt, den Reiz nicht mehr zu erkennen (abstei- schen Zusammenhang zwischen Reizstärke
gendes Verfahren). Bei der Konstanzmethode und Unterschiedsschwelle festgestellt. Er fand
werden viele Reize randomisiert um den ver- heraus, dass die Unterschiedsschwelle (dS) in
muteten Schwellenbereich dargeboten. Bei
der Herstellungsmethode ändert die Ver-
suchsperson die Reizstärke selbst und stellt sie
1.00
so ein, dass sie den Reiz gerade nicht mehr
Vergleichsreiz

Standardreiz

oder gerade noch wahrnehmen kann. Die ge-


0.75
>

naueste, aber auch aufwendigste Methode ist


die Konstanzmethode, mit der recht gut Er- 0.50
wartungseffekte kontrolliert werden können.
Wahrscheinlichkeit

Für jede Reizintensität wird dann die Häufig- 0.25


keit registriert, mit der Reize erkannt wurden.
Die so errechneten Datenpunkte können gra- 0
129 135 141 147 153 159 165 171
fisch zu einer Ogive zusammengefasst werden. RI1 PSG RI2
Anhand dieser Ogive wird die Schwelle be- Reizintensität des Vergleichsreizes

rechnet (Abb. 7-2). Per Konvention hat man


Abbildung 7-2: Psychometrische Funktion mit
sich darauf geeinigt, den Median der Vertei- den empirisch ermittelten Wahrscheinlichkeiten,
lung, also die Reizintensität, die in 50 % aller einen Vergleichsreiz als größer als den Standard-
Fälle wahrgenommen wird, als Schwelle zu reiz zu bewerten (blaue Punkte). Die daraus be-
definieren. rechnete theoretische psychometrische Funktion
Für die Unterschiedsschwelle lassen sich hat die Form einer Ogive. Sie wird zur Bestimmung
prinzipiell die gleichen Verfahren anwenden. derUnterschiedsschwelle herangezogen. Der Mit-
Allerdings werden bei der Unterschieds- telwert der Reizintensität für die Wahrscheinlich-
schwellenbestimmung ein Standard- und ein keiten 0.25 (RI1) und 0.75 (RI2) ist als Unter-
schiedsschwelle definiert. Die Reizintensität, bei
Vergleichsreiz dargeboten und die Versuchs-
der in 50 % der Fälle der Vergleichsreiz als größer
person muss entscheiden, ob der Vergleichs-
bewertet wird, ist der Punkt subjektiver Gleichheit
reiz größer als der Standardreiz ist. Aus der
(PSG). In dieser Abbildung entsteht der Eindruck,
empirischen psychometrischen Funktion kann dass die Unterschiedsschwelle (US = RI1 + RI2/2)
dann wieder die theoretische psychometrische immer mit dem Punkt der subjektiven Gleichheit
Funktion bestimmt und zur Bestimmung der zusammenfällt. Dies ist aber nicht der Fall, son-
Schwelle herangezogen werden. In dieser dern die US weicht je nach Modalität teilweise
Funktion wird die Unterschiedsschwelle de- sogar erheblich vom PSG ab.

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200 7.  Allgemeines zur Wahrnehmung

einem annähernd konstanten Verhältnis zur E = log(S)


Stärke des jeweiligen Standardreizes (S) steht. (E: Empfindung, log: Logarithmus,
Daraus hat er das nach ihm benannte Weber- S: Reizstärke).
Gesetz abgeleitet:
Gemäß dieser Formel ist die Empfindung
dS / S = k
gleich dem Logarithmus der Reizstärke. Dies
(dS: Unterschiedsschwelle,
besagt im Grunde nichts anderes, als dass eine
S: Reizstärke,
Verdopplung der Reizstärke nicht zu einer Ver-
k: Weber-Konstante).
dopplung der Empfindung führt. Grob ge-
Die Weber-Konstante ist für verschiedene schätzt führt eine Verdopplung der Reizstärke
Sinnesmodalitäten unterschiedlich (Tab. 7-2) zu einer 1,3-fachen Empfindungszunahme.
und sagt etwas über die Empfindlichkeit des Sollte eine Verdopplung der Empfindung er-
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jeweiligen Sinnessystems aus. Je kleiner k, reicht werden, wäre etwa das Zehnfache der
desto empfindlicher ist die jeweilige Sinnes- Reizstärke im Vergleich zum Ausgangsreiz
modalität. notwendig.
Gustav Theodor Fechner hat versucht, auf Während die Weber-Fechner-Formel die
der Basis des Weber-Gesetzes eine allgemeine Beziehung zwischen Empfindung und Reiz-
Beziehung zwischen Reizstärke und subjekti- stärke für einen mittleren Reizbereich und im
ver Empfindung abzuleiten, und hat dabei die adaptierten Zustand recht gut beschreiben
psychophysische Funktion entwickelt. Aus- kann, ist insbesondere in den Extremberei-
gangspunkt seiner Überlegungen war, dass die chen der Reize und im nichtadaptierten Zu-
Unterschiedsschwelle bzw. die Weber-Kon- stand diese Formel nicht mehr so gut dafür
stante subjektiv als gleich große Empfindungs- geeignet, diese Zusammenhänge zu be-
einheiten aufzufassen sind. In der Weber-For- schreiben. Unter anderem deshalb schlug der
mel hat er die Unterschiedsschwelle (dS) mit Physiologe Stevens die Potenzfunktion (die
der Unterschiedsempfindungseinheit (dE) auch als Stevens-Potenzfunktion bezeich-
gleichgesetzt. Durch mathematische Umfor- net wird) vor, mit der der Zusammenhang
mung entsteht die folgende Formel, die als zwischen der Empfindungsstärke (E) und der
Fechnersches Gesetz oder Maßformel be- Reizstärke (S) ebenfalls recht gut beschrieben
kannt ist: werden kann (Tab. 7-3):

E = k * Sn
(E: Empfindungsstärke,
S: Reizintensität,
Tabelle 7-2: Weber-Konstante für verschiedene
n: Exponent, der für die jeweilige Modalität
Sinnesmodalitäten
typisch ist,
Modalität Weber-Konstante k: absolute Schwelle für die jeweilige ­
Tonhöhe 0.003 Reizkategorie)
Helligkeit 0.016 Der Exponent n kann als Maß für die Sinnes-
Gewicht (gehoben) 0.019 empfindlichkeit interpretiert werden. Expo-
Lautstärke 0.088 nenten zwischen 0 und < 1 bedeuten abneh-
Druck auf Haut 0.140 mende Steigung und damit abnehmende
Empfindlichkeit mit zunehmender Reizstärke.
Geschmacksintensität 0.250
Ein Exponent > 1 indiziert zunehmende Emp-
Geruchsintensität 0.350
findlichkeit mit zunehmender Reizintensität.

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7.4. Psychophysik 201

Tabelle 7-3: Exponenten der Stevens-Potenzfunktion für verschiedene Reize. (Die Exponenten sind aus
der Tabelle auf S. 43 des Lehrbuches von Martin & Foley, 1997, entnommen.)

physikalischer Reiz Exponent n Art der Messung


Helligkeit  .33 kleiner Lichtpunkt im Dunkeln
Lautstärke  .67 Schallwelle eines Tons
Geschmack  .80 Zuckerlösung
wahrgenommene Länge 1.0 Linie auf einem Computerbildschirm
Gewicht 1.45 Heben von Gewichten
Wärme 1.6 Metallband am Arm
elektrischer Schock 3.5 elektrischer Schlag an den Fingern
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Einer der größten Exponenten (n = 3.5) wurde F = k * Sn


für den Schmerz festgestellt, was bedeutet, (F: Aktionspotenzialfrequenz,
dass die Schmerzempfindlichkeit mit zuneh- S: Reizintensität,
mender Intensität des Schmerzreizes immer n: Exponent, der für die jeweilige Modalität
größer wird (Beispiele für Exponenten finden typisch ist, k: Konstante).
sich in Abb. 7-3).
Die Stevens-Potenzfunktion zur Beschrei- In Abbildung 7-4 ist der Zusammenhang zwi-
bung des Zusammenhangs zwischen Empfin- schen Aktionspotenzialfrequenz und der
dung und Reizstärke ist der neuronalen Po- Länge eines Krebsmuskels dargestellt. Zu er-
tenzfunktion (auch Übertragungsfunktion) kennen ist, dass mit zunehmender Muskel-
sehr ähnlich. Mit der neuronalen Potenzfunk- länge auch linear die Aktionspotenzialfre-
tion wird der Zusammenhang zwischen der quenz zunimmt. Gleiches gilt für die tonischen
Aktionspotenzialfrequenz (F) und der Reiz- Sensorpotenziale, auch für diesen neurophy-
stärke (S) beschrieben: siologischen Kennwert ist eine Zunahme mit

80 e 30
hläge

ng Aktionspotenzialfrequenz
mV

Empfindung (arbiträre Einheiten)

70 e Sensorpotenzial
en
che Sc

n = 3.5
m 15
60 m n = 1.0
no
Impulse/Sekunde

ge 20
elektris

50 r
ah eit
w Helligk
40 n = .33 10

30 10
20 5

10
0 0
0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 1.0 1.1 1.2 1.3 1.4
Reizstärke (arbiträre Einheiten) Muskellänge

Abbildung 7-3: Potenzfunktion für elektrische Abbildung 7-4: Zusammenhang zwischen Akti-
Schläge, wahrgenommene Länge und Helligkeit. onspotenzialfrequenz (Impulse/Sekunde) sowie
Eingetragen sind auch die jeweiligen Exponenten der Stärke des Sensorpotenzials (in mV) und der
(n) der Potenzfunktionen. Länge eines Muskels beim Krebs (Abszisse).

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202 7.  Allgemeines zur Wahrnehmung

zunehmender Muskellänge feststellbar. In identische Exponenten aufweisen. Gezeigt


Abbildung 7-5 ist ein nichtlinearer Zusam- werden konnte dies sehr eindrücklich am Bei-
menhang zwischen Reizstärke und Aktions- spiel des Geschmackssinns (Abb. 7-6).
potenzialfrequenz bzw. Sensorpotenzialstärke Während die Aktions- und Sensorpoten-
dargestellt. Zu erkennen ist, dass die Aktions- ziale an den Rezeptoren und den nachfolgen-
potenzialfrequenz einen deutlichen exponen- den Ganglienzellen noch recht gut mit neu-
tiellen Verlauf zeigt. Auch für das Sensor- ronalen Potenzfunktionen beschrieben wer-
potenzial kann ein (wenn auch schwacher) den können, ist der Zusammenhang zwischen
exponentieller Zusammenhang mit der Reiz- neuronalen Aktivitäten, die an der Schädel-
stärke festgestellt werden. oberfläche mittels EEG oder für bestimmte
Interessant ist, dass für einige Sinnesmoda- Voxel mittels fMRT gemessen werden können,
litäten die Stevens-Potenzfunktion und die und elementaren physikalischen Reizpara-
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neuronale Potenzfunktion mehr oder weniger metern nicht einfach herzustellen. Der Grund
dafür ist, dass mit diesen Methoden nur eine
beschränkte räumliche Auflösung möglich ist,
Aktionspotenzialfrequenz
Sensorpotenzial
sodass die Aktivität vieler Neurone gemessen
50 wird. Des Weiteren muss berücksichtigt wer-
den, dass auf kortikaler Ebene unterschiedli-
Impulse/Sekunde

40 mV
Schwelle

che Reizintensitäten nicht nur über die Akti-


30 30
onspotenzialfrequenz und/oder durch Gene-
20
20 ratorpotenziale generiert werden, sondern
10 10 auch durch Rekrutierung zusätzlicher Neu-
0 0 rone. Aus Tieruntersuchungen ist z. B. be-
1 2 3 4 5 kannt, dass die Neurone im Hörkortex die In-
S0 Reizstärke S
tensität von akustischen Reizen nur bis ca. 50
Abbildung 7-5: Zusammenhang zwischen Akti- und 60 dB durch zunehmende Aktionspoten-
onspotenzialfrequenz (Impulse/Sekunde) sowie zialfrequenz codieren. Schallintensitäten, die
der Stärke des Sensorpotenzials (in mV) und der darüber hinausgehen, werden durch Rekrutie-
Reizstärke (Abszisse). rung benachbarter Neurone verarbeitet. Ähn-
liche Rekrutierungsmechanismen sind im vi-
suellen Kortex bei der Codierung der Hellig-
keit feststellbar.
subjektive Empfindungsintensität

30
Frequenz der Aktionspotenziale

Intensiv untersucht wurde v. a. der Zusam-


Zitronensäure
menhang zwischen der am Vertex gemessenen
10
N1-Amplitude und der Intensität der sie evo-
Zucker zierenden akustischen Reize. Die Erforschung
3
dieses Zusammenhangs hat sehr viel Interesse
n = 0.85 n = 1.1
geweckt, weil sich zeigte, dass er bei bestimm-
1
1 10 100 1 000 ten psychiatrischen Patientengruppen deutlich
Reizstärke: von der Norm abweicht. Grundsätzlich zeigen
Konzentration der Testlösung (mmol)
diese Arbeiten, dass mit zunehmender Inten-
Abbildung 7-6: Zusammenhang zwischen Reiz- sität des evozierenden akustischen Reizes die
stärke und Aktionspotenzialfrequenz sowie sub- N1-Amplitude oder auch die N1-P2-Ampli-
jektiver Empfindlichkeit für Geschmacksreize tude größer wird (Hagenmuller et al., 2008;
(nach Birbaumer & Schmidt, 2005). Abb. 7-7). Auch die mittels fMRT gemessenen

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7.5.  Bottom-up- und Top-down-Verarbeitung 203

A) B)
2.5
µV schizophrene Patienten
gesunde Kontrollgruppe

N1-P2-Amplitude (µV) der linksseitigen


–5

tangentialen Dipole
0

100 2
90
5
80
70 Cz
60
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0 100 200 ms
Zeit

1.5
60 70 80 90 100
Stimulusintensität (dB)

Abbildung 7-7: N1-Amplituden nach akustischer Stimulation mit unterschiedlicher Schallintensität. (A)
Vertexpotenzial nach akustischer Stimulation mit unterschiedlicher Schallintensität (60, 70, 80, 90 und
100 dB) (nach Hagenmuller et al., 2008). (B) N1-P2-Amplituden, gemessen am Vertex nach Stimulation
mit akustischen Reizen unterschiedlicher Intensität (60–100 dB). Die dunkelblaue Linie repräsentiert
die N1-P2-Amplituden für gesunde Kontrollpersonen, während die hellblaueLinie die Amplituden für
schizophrene Patienten darstellt (nach Juckel et al., 2008).

hämodynamischen Reaktionen im auditori- tex von den untergeordneten zu den überge-


schen Kortex korrelieren mit der Intensität der ordneten Modulen. Gelegentlich wird er auch
auditorischen Reize (Jäncke et al., 1998; als reizgetriebener Informationsweg bezeich-
Brechmann et al., 2002); Abb. 7-8. net, um zum Ausdruck zu bringen, dass dieser
Informationsweg im Wesentlichen durch die
Charakteristika der Reize bestimmt wird und
7.5. Bottom-up- und Top- nicht durch übergeordnete kognitive Funk-
down-Verarbeitung tionen (z. B. Aufmerksamkeit, Erwartung). Die
Reize „erzwingen“ quasi eine Verarbeitung
Der Informationsfluss während der Wahrneh- auf den verschiedenen Stufen des ZNS. Das
mung verläuft in verschiedenen Richtungen. Grundprinzip dieser Verarbeitungsrichtung
Bei der sequenziellen Informationsverarbei- besteht darin, dass nacheinander unterschied-
tung werden allgemein zwei Informations- liche Hierarchieebenen in die Verarbeitung
wege unterschieden (Abb. 7-9): eingebunden werden. Zunächst werden relativ
• Bottom-up-Weg einfache Analysen durchgeführt, denen auf
• Top-down-Weg den nächsthöheren Ebenen immer komple-
xere Verarbeitungsschritte folgen. Auf jeder
Der Bottom-up-Weg ist der Informationsfluss Ebene werden eigene Verarbeitungsergeb-
vom Rezeptor zu den kortikalen Hirngebieten nisse generiert, die dann als Eingangsinforma-
(von unten nach oben) und innerhalb des Kor- tionen für die Verarbeitung auf der nächst-

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204 7.  Allgemeines zur Wahrnehmung

A) B)
120 BA 41/42
400

100
*
*

aktiviertes Volumen (Voxel)


80
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Anzahl Voxel

60 200

40

20
0
0 LH RH
verbal nonverbal
LH75 RH75 48 dB
LH85 RH85 72 dB
LH95 RH95 96 dB

Abbildung 7-8: Stärker durchblutetes Volumen im auditorischen Kortex nach Stimulation mit akus-
tischen Reizen unterschiedlicher Intensität. A) Ergebnisse nach Jäncke et al. (1998) mit Schallintensi-
täten von 75 bis 95 dB. B) Ergebnisse nach Brechmann et al. (2002) mit Schallintensitäten von 48 bis 98
dB. LH: linke Hemisphäre, RH: rechte Hemisphäre.

«übergeordnete»
Areale
bottom-up

top-down

«untergeordnete»
Areale

Abbildung 7-9: Schematische Darstellung der Bottom-up- und Top-down-Verarbeitung bei der Wahr-
nehmung

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7.6.  Beziehung zwischen Top-down- und Bottom-up-Verarbeitung 205

höheren Ebene dienen. Wichtig ist allerdings, werden. Auf diesen Informationsweg wird im
dass auf jeder Verarbeitungsebene parallele Zusammenhang mit der Aufmerksamkeit und
Verarbeitungsschritte hinzukommen. den exekutiven Funktionen noch einmal ein-
Anhand der auditorischen Wahrnehmung gegangen. Auch bei der Top-down-Verarbei-
kann der Bottom-up-Weg sehr gut beschrie- tung werden auf jeder Verarbeitungsebene
ben werden: Die Schallwellen treffen auf das parallele Verarbeitungen wirksam, um den
Ohr und führen zu einer elektrischen Erre- Informationsfluss innerhalb des Gehirns zu
gung im Hörnerv (Nucleus cochlearis). Die optimieren und möglichst viele Informations-
elektrischen Erregungen werden über die quellen in die Informationsverarbeitung ein-
Hörbahn in den Hirnstamm, zum Thalamus zubinden.
(Corpus geniculatum mediale) und von dort
zum primären Hörkortex geleitet. Nach den
7.6. Beziehung zwischen
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Verarbeitungen im primären Hörkortex folgen


weitere Verarbeitungsschritte im sekundären Top-down- und Bottom-
Hörkortex und in den Assoziationsgebieten. up-Verarbeitung
Auf jeder höheren Verarbeitungsstufe werden
andere, meist komplexere Verarbeitungen Der Top-down- und der Bottom-up-Weg tau-
vorgenommen. Auf den untersten Verarbei- schen auf verschiedenen Ebenen Informatio-
tungsebenen erfolgen elementare auditori- nen aus. Dieser ständige Informationsaus-
sche Verarbeitungen (z. B. wird die Lautstärke tausch ist wahrscheinlich für die Orientierung
codiert), gefolgt von Spektral- und Zeitana- in der Umwelt und damit in der Realität von
lysen. Danach werden erste auditorische Teil- herausragender Bedeutung. Durch diesen Ver-
elemente erkannt, z. B. Phoneme oder Töne. gleich kann der Organismus entscheiden, ob
Die nächste Stufe führt zur Erkennung von die erzeugten Wahrnehmungen durch Vor-
Klängen und des Timbres. Auf weiteren Stu- stellung (also Top-down) oder durch externe
fen folgen Wort- und Melodiewahrnehmung, Reize (also Bottom-up) entstanden sind. Fol-
während letztlich kompliziertere auditorische gender Mechanismus, der beide Informations-
Strukturen erkannt werden. wege miteinander verbindet, ist vorstellbar.
Der Top-down-Weg ist der umgekehrte Wahrscheinlich werden bei der Top-down-
Weg von den übergeordneten zu den unter- Verarbeitung auf jeder Ebene die erwarteten
geordneten Modulen. Dieser Verarbeitungs- Afferenzen geschätzt, die bei physikalischer
weg wird auch konzept- oder aufmerksam- Präsenz des vorgestellten Reizes eintreten
keitsgetriebener Verarbeitungsweg genannt. würden (Abb. 7-10). Wenn ich mir also vor-
Beispielsweise kann man sich vorstellen, eine stelle, eine bestimmte Melodie zu hören, wer-
Melodie zu hören, ohne dass die Melodie auch den bereits Afferenzen geschätzt, die eintreten
physikalisch präsent ist. Diese Vorstellung ak- würden, wenn diese Melodie jetzt wirklich im
tiviert die Hirngebiete, die mit der übergeord- Radio gespielt würde. Diese „erwarteten Affe-
neten Verarbeitung von Musikstücken betraut renzen“ werden dann auf jeder Ebene mit den
sind. Von diesen Hirngebieten werden die un- tatsächlich anliegenden Afferenzen vergli-
tergeordneten Hirngebiete nacheinander ak- chen. Stimmen sie nicht überein (Inkongruenz
tiviert. Das hat zur Folge, dass bei Erwartung von „erwarteten“ und tatsächlichen Afferen-
einer ganz bestimmten Melodie bereits die zen), „weiß“ der Organismus, dass die Affe-
untergeordneten Hirngebiete „vorgebahnt“ renzen einem Top-down-Prozess entstammen
sind, sodass die spezifischen Eigenarten der und nicht das Resultat eines Bottom-up-Pro-
Melodie vorrangig und effizient verarbeitet zesses sind. Man könnte auch sagen, der Orga-

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206 7.  Allgemeines zur Wahrnehmung

Bottom-up richtungsänderung vorher gesehene Objekte


quasi mit in die neue visuelle Wahrnehmung
Modul 1 Modul2 Modul 3
Afferenz W1’ W2’ einbauen. Ein solcher Patient würde z. B. eine

Wahrnehmung

Wahrnehmung
Person anschauen und nach einem Blickwech-

komplexe
einfache
Features
Basis

sel auf ein anderes Objekt das Bild dieser Per-


VW1’ VW2’
son „virtuell mitnehmen“, sodass die vorher
gesehene Person in das aktuell gesehene Ob-
jekt integriert wird. Eine mögliche Erklärung
Top-down dieser visuellen Halluzination ist, dass sich die
W1’ / W2’ = Wahrnehmungsergebnis des Betroffenen nicht mehr auf ihren Bottom-up-
jeweiligen Moduls
VW1’ / VW2’ = vorhergesagte Afferenz des Weg „verlassen“ können, weil ihr visuelles
jeweiligen Moduls Wahrnehmungssystem gelernt hat, dass diese
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Informationen unzuverlässig sind. Deshalb


Abbildung 7-10: Interaktion von Bottom-up- und
Top-down-Weg bei der Wahrnehmung. W1’: Wahr- wird den Informationen aus der Top-down-
nehmungsergebnis des Moduls 1; W2’: Wahrneh- Verarbeitung mehr Gewicht beigemessen und
mungsergebnis des Moduls 2; VW1’: vorherge- die Patienten nehmen die auf dem Top-down-
sagte Afferenz des Moduls 1; VW2’: vorhergesagte Weg generierten Informationen als „wahr“ an.
Afferenz des Moduls 2. W1’/W2’ und VW1’/VW2’
werden miteinander verglichen.
7.7. Bindungsproblem und
nismus weiß dann, dass die „erwarteten Affe- dynamische Kopplung
renzen“ einer Vorstellung oder Einbildung
entspringen. Insofern ist das Zusammenspiel Bindung (engl. binding) beschreibt ein bislang
von Bottom-up- und Top-down-Prozessen ungelöstes Problem der Wahrnehmungspsy-
wahrscheinlich für die Orientierung in der rea- chologie. Wie in den folgenden Kapiteln dar-
len Welt außerordentlich wichtig (s. u.). gestellt werden wird, werden unterschiedliche
Dieser Mechanismus kann eine Reihe Wahrnehmungsaspekte (z. B. Wahrnehmung
von krankheitsbedingten Wahrnehmungstäu- von Objekten, Farben, Gesichtern und räumli-
schungen erklären. Ein anschauliches Beispiel chen Beziehungen) von verschiedenen Modu-
ist das Charles-Bonnet-Syndrom, bei dem die len (anatomische und funktionale Module)
Betroffenen unter Sehstörungen leiden, die verarbeitet. Wie kommt es nun, dass wir über
durch Defizite der Retina oder der Sehnerven eine kohärente Wahrnehmung verfügen, ob-
bedingt sind. Die Sehrinde ist nicht beein- wohl an einem Wahrnehmungsprozess viele
trächtigt. Neben den Sehstörungen leiden die unterschiedliche Module beteiligt sind? Diese
Patienten auch unter lebhaften visuellen Hal- Module müssen ja irgendwie zusammen-
luzinationen. Prinzipiell werden drei Typen geschaltet werden. Bei farbigen Gesichtern
von visuellen Halluzinationen unterscheiden: z. B. müssen die Module für die Gesichtswahr-
(1) Eine Gruppe von Patienten „sieht“ gro- nehmung und die Module für die Farbwahr-
teske, zu Fratzen verzerrte Gesichter in ver- nehmung „zusammengebunden“ werden.
schiedenen Abwandlungen; (2) eine zweite Derzeit ist dieser Prozess des „Zusammen-
Gruppe „sieht“ Landschaften oder Objekte, bindens“ (Binding) noch nicht ganz verstan-
die nicht vorhanden sind; (3) eine dritte den. Allerdings deutet vieles darauf hin, dass
Gruppe hat räumliche Wahrnehmungsstörun- Binding über einen neurophysiologischen Syn-
gen. Konkret fallen die Patienten der dritten chronisationsmechanismus erfolgt, mit dem
Gruppe dadurch auf, dass sie bei einer Blick- die beteiligten Zellgruppen (cell assemblies)

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7.7.  Bindungsproblem und dynamische Kopplung 207

zusammengeschaltet und synchronisiert wer- werden. Sie ist etwas geringer, wenn sich zwei
den. Eines der ersten überzeugenden Experi- kleine Streifen simultan über die rezeptiven
mente, das diese These stützt, haben Andreas Felder bewegen, und gleich null, wenn sich die
Engel und Wolf Singer publiziert (Engel et al., kleinen Streifen gegensinnig über die beiden
2001). In einem typischen Experiment mit ei- rezeptiven Felder bewegen.
nem Affen wurde gleichzeitig die Aktivität von Die durch die hohen Korrelationen aus-
zwei Neuronen (Abstand 7 mm) mittels kleiner gedrückten Synchronizitäten zwischen bei-
Elektroden gemessen. Die Nervenzellen, in den Neuronen repräsentieren offenbar ein
denen die Elektroden platziert waren, befan- „Zusammenschalten“ beider Neurone. Wahr-
den sich in der Area striata des primären Seh- scheinlich werden damit beide Neurone zu ei-
zentrums des Affen. Beide Neurone verfügen ner Einheit zusammengefügt und unterstützen
über charakteristische rezeptive Felder, wobei oder generieren eine Wahrnehmung, in die-
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jedes Neuron besonders stark reagiert, wenn sem Fall die Wahrnehmung eines langen Strei-
sich ein Streifenmuster über das jeweilige re- fens und nicht von zwei einzelnen.
zeptive Feld bewegt. Die Forscher haben drei In Humanexperimenten kann man natür-
Versuchsbedingungen realisiert: (1) In der lich keine Elektroden in Nervenzellen einfüh-
ersten Bedingung nutzten sie einen langen ren. Um das Bindungsproblem beim Men-
Streifen, der so groß war, dass er beide rezep- schen zu studieren, werden häufig EEG- und/
tive Felder abdeckte, und bewegten diesen oder MEG-Untersuchungen durchgeführt.
über beide rezeptive Felder. (2) In der zweiten Hierbei wird versucht, anhand der Oszillati-
Bedingung nutzten sie zwei kleine Streifen, die onsmuster des EEG oder MEG zu überprüfen,
sich synchron über beide rezeptive Felder be- ob sich bestimmte Gehirngebiete während der
wegten. Im Unterschied zur ersten Bedingung Wahrnehmung von Objekten synchronisieren,
wurden zwei unterschiedliche Streifen ge- also in einen gleichen Rhythmus fallen. Das
nutzt. Insofern hat der Affe wahrscheinlich Grundprinzip dieser Experimente besteht da-
auch zwei Streifen und nicht wie bei Bedin- rin, dass den Versuchspersonen etwas schwie-
gung 1 einen Streifen gesehen. (3) In Bedin- rigere Wahrnehmungsaufgaben gestellt wer-
gung 3 bewegten sich die beiden kleineren den, die sie nicht auf Anhieb lösen können.
Streifen in entgegengesetzter Richtung über Typische Reize sind sogenannte Kippfiguren
die beiden rezeptiven Felder. Jedes Neuron oder Figuren, die nicht sofort erkennbar sind,
zeigte ein oszillatorisches Entladungsmuster
(abwechselnd starke und schwache Nerven-
zellaktivität) über die Zeit. Die Forscher haben
die Oszillationen für jedes Neuron registriert,
Korrelationen zwischen diesen Oszillationen
berechnet und Folgendes herausgefunden:
Werden beide rezeptive Felder mit einem
langen Streifen, der sich über beide rezeptive
Abbildung 7-11: Dargestellt sind zwei Hirn-
Felder bewegt, simultan stimuliert, dann sind
gebiete, die beim Wahrnehmen eines farbigen
die Entladungsmuster beider Nervenzellen
Buchstabens besonders aktiviert sind. Ein Areal
sehr ähnlich. Die Ähnlichkeit dieser Oszillatio- ist spezialisiert für Farbwahrnehmung, das an-
nen wurde mittels Kreuzkorrelogrammen be- dere für Graphemwahrnehmung. Bei der Wahr-
rechnet. Die Korrelation zwischen den Oszilla- nehmung eines farbigen Graphems synchronisie-
tionen ist besonders groß, wenn beide rezepti- ren sich beide Hirngebiete (wahrscheinlich in der
ven Felder durch den langen Streifen stimuliert Gamma-Band-Frequenz).

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208 7.  Allgemeines zur Wahrnehmung

weil wichtige Teile fehlen oder weil sie nur un- bestimmten Reizes oder einer Reizklasse auf-
zureichend abgebildet sind. In dem Moment, treten können. In gewisser Weise sind dies
in dem die Versuchspersonen die „verborgene“ ähnliche Doppelwahrnehmungen wie bei den
Figur erkennen, ist ein typischer Wechsel der Synästhesien, der große Unterschied liegt al-
Hirnaktivität feststellbar, meist eine Zunahme lerdings darin, dass die assoziativen Wahrneh-
im hochfrequenten EEG-Bereich (Gamma- mungen ausschließlich durch Erfahrung er-
Band, 30–200 Hz). Aus diesem Grund wird worben sind, dass sie bewusst werden und dass
dem Gamma-Band eine besondere Bedeu- sie bis zu einem bestimmten Grad unterdrück-
tung beim Zusammenschalten von Nerven- bar und verlernbar sind. Außerdem kann in
zellgruppen beigemessen (Herrmann et al., experimentellen Studien gezeigt werden, dass
2010; Uhlhaas et al., 2010). die durch Auslöser hervorgerufenen assoziati-
ven Wahrnehmungen langsamer ausgelöst
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werden. Typische Beispiele für solche assozia-


7.8. Synästhesie tiven Wahrnehmungen sind die bei Musikern
häufig berichteten Farbwahrnehmungen als
Eine besondere Art der Wahrnehmung ist die Folge der Wahrnehmung von Tönen oder der
Synästhesie, bei der es sich um eine Art „Dop- bei Urlaubern ausgelöste Meeresgeruch beim
pelwahrnehmung“ oder „Mitempfindung“ Sehen der Farbe Blau. Solche Assoziationen
handelt. Charakterisiert wird diese Art der sind erlernt und weniger speziell und präzise
Wahrnehmung durch einen induzierenden als Synästhesien.
Reiz (inducing stimulus), der eine nachfol- Viele Synästheten berichten, dass ihnen
gende Wahrnehmung (concurrent percep- ihre Synästhesie nicht bewusst war. Erst durch
tion) auslöst. Bei einem Graphem-Farb-Synäst- die Untersuchung im Labor wurden sie darauf
heten löst ein bestimmter Buchstabe (z. B. /a/) aufmerksam gemacht, dass ihre Wahrneh-
eine bestimmte Farbwahrnehmung (z. B. blau) mung speziell ist. Bislang sind viele unter-
aus. Im Allgemeinen ist diese Wahrnehmungs- schiedliche Arten von Synästhesien beschrie-
abfolge unidirektional, d. h., der induzierende ben worden:
Stimulus löst immer eine bestimmte Wahrneh- • farbige Grapheme
mung aus, ohne dass die ausgelöste Wahrneh- • farbige Zeiteinheiten
mung die Wahrnehmung des induzierenden • farbige Musik
Reizes auslösen kann. Im Fall eines Graphem- • farbige Töne und Geräusche
Farb-Synästheten, der beim Sehen des Buch- • farbige Musiknoten
stabens /a/ die Farbe Blau sieht, wird die Wahr- • farbige Phoneme
nehmung des Buchstabens /a/ nicht durch die • farbige Geschmäcker
Wahrnehmung der Farbe Blau ausgelöst. Es • farbige Düfte
sind jedoch auch Synästheten beschrieben wor- • farbiger Schmerz
den, bei denen die Synästhesie bidirektional ist. • farbige Persönlichkeiten
Ein weiteres wichtiges Merkmal der Synäs- • farbige Berührung
thesie ist, dass sie automatisch und nicht unter- • farbige Temperatureindrücke
drückbar ist. Bei Synästhesien und normalen • farbige Orgasmen
Wahrnehmungen muss immer zwischen den • Geruch à Tonwahrnehmung
automatischen Synästhesien und den assozia- • Geruch à Geschmack
tiven Wahrnehmungen unterschieden werden. • Geruch à Temperatur
Assoziative Wahrnehmungen sind zusätzliche • Geruch à Berührung
Wahrnehmungen, die bei Wahrnehmung eines • Ton à Geruch

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7.8. Synästhesie 209

• Ton à Geschmack
• Ton à Temperatur
Bindungsareal

• Ton à Berührung
• Geschmack à Ton
• Geschmack à Temperatur
• Geschmack à Berührung
• Temperatur à Ton
• Berührung à Geruch
• Berührung à Ton
• Berührung à Geschmack
• Berührung à Temperatur Farbareal

• Persönlichkeit à Geschmack
Graphemareal

• Tonintervall à Geschmack
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Abbildung 7-12: Hyperbindungs-Mitaktivierungs-­


Modell (hyperbinding-crossactivation model).
Die Häufigkeit von Synästhesien ist schwer zu
schätzen, insofern sind die in der Literatur be-
richteten Zahlen zurückhaltend zu bewerten. Im Rahmen des Enthemmungs-Rück-
Berichtet werden Häufigkeiten von 4 bis 23 %. meldungs-Modells wird angenommen, dass
Problematisch ist allerdings, dass einige die- übergeordnete Integrationsareale untergeord-
ser Schätzungen auf Befragungen und nicht nete Hirn- gebiete enthemmen. So könnte
auf experimentellen Überprüfungen beruhen. man sich vorstellen, dass im Falle der Gra-
Die Ursachen der Synästhesien sind bislang phem-Farb-Synästhesie die Integrationsareale
ebenfalls nicht geklärt. Favorisiert wird ak- im Sulcus temporalis superior die Graphem-
tuell eine genetische Ursache, die durch Er- und Farbareale im unteren Occipitotemporal-
fahrungseinflüsse moduliert wird. Neuro- bereich enthemmen (Abb. 7-13). Für das Hy-
physiologisch und neuroanatomisch werden perbindungs-Mitaktivierungs-Modell spricht
derzeit zwei Erklärungsmodelle diskutiert:
(1) das Hyperbindungs-Mitaktivierungs-Mo-
dell (hyperbinding-crossactivation model)
und (2) das Enthemmungs-Rückmeldungs-
Modell (disinhibition-feedback model).
Im Rahmen des Hyperbindungs-Mitakti-
vierungs-Modells wird angenommen, dass
die Hirngebiete, die am Zustandekommen der
STS
synästhetischen Wahrnehmung beteiligt sind,
über eine atypisch enge, neuroanatomisch be-
dingte funktionelle Koppelung verfügen. Bei
Graphem-Farb-Synästheten wäre dies eine
enge Koppelung zwischen dem Farb- und dem
Graphemareal im Gyrus fusiformis (Abb. 7-12).
Gleichzeitig soll diese Koppelung noch von Abbildung 7-13: Schematische Darstellung des
einem Modul im Parietallappen (vorrangig im Enthemmungs-Rückmeldungs-Modells. Das über-
intraparietalen Sulcus) besonders stark „zu- geordnete Integrationsgebiet im STS enthemmt
sammengeschaltet“ werden, sodass so etwas die Aktivität im Graphem- und Farbareal im Gyrus
wie eine Hyperbindung eintritt. fusiformis. STS: Sulcus temporalis superior.

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210 7.  Allgemeines zur Wahrnehmung

eine Reihe von Befunden. Im Rahmen einer 7.9. Zusammenfassung


neuen Arbeit konnte allerdings gezeigt wer-
den, dass das Gehirn von Synästheten auch • Die menschliche Wahrnehmung ist eine
eine grundsätzlich andere Netzwerkarchitek- wichtige psychische Funktion, die für die
tur als das Gehirn von Kontrollpersonen auf- Orientierung des Menschen von heraus-
weist (Hänggi et al., 2011). Es scheint eine ragender Bedeutung ist. Über die Wahr-
stärkere, das ganze Gehirn betreffende Kon- nehmung gelingt es dem Menschen, sich an
nektivität aufzuweisen als das Gehirn von seine Umwelt anzupassen.
Nichtsynästheten (Abb. 7-14). • Es existieren je nach Wissenschaftsdiszip-
lin unterschiedliche Definitionen der Wahr-
nehmung. In der Psychologie und den ko-
gnitiven Neurowissenschaften wird sie als
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ein durch Kognitionen moduliertes Produkt


aufgefasst. In der Philosophie wird die
Wahrnehmung von der Kognition getrennt.
A) • Der Ablauf der Wahrnehmung umfasst
li IPS folgende Aspekte und Prozesse: (1) physika-
re IPS lische Reize, die auf den Menschen einwir-
ken. Signale, die auf Eigenschaften des Ob-
jekts beruhen, werden „distale Reize“ ge-
nannt. (2) Transduktion und Transforma-
tion, bei der ein distaler Reiz in einen
proximalen Reiz umgewandelt wird. Die
li FuG
re FuG Transduktion findet in der Regel an Rezep-
toren statt, die durch die physikalischen
Reize zu Reaktionen veranlasst werden. Am
Rezeptor entstehen dann Aktions- und to-
B) nische Sensorpotenziale, die mit der Reiz-
intensität korrelieren. Durch einen weite-
li IPS
re IPS ren Umcodierungsprozess (Transformation)
werden diese neuronalen Signale am Sensor
in weiterleitbare elektrische Signale umge-
wandelt. (3) Vorverarbeitung im Sinnes-
organ. Im Sinnesorgan, das aus vielen Re-
zeptoren und anderen Hilfszellen aufgebaut
li FuG
re FuG
ist, findet eine Vorverarbeitung der emp-
fangenen Signale statt (Filterung, Hem-
mung, Konvergenz, Integration, Summation
und zahlreiche Top-down-Prozesse). (4)
Bewusste Wahrnehmung. In diesem Ver-
Abbildung 7-14: Netzwerkarchitektur des  Ge-
hirns von (A) Synästheten und (B) Nichtsynästhe-
arbeitungsschritt werden aus proximalen
ten. Man erkennt diestärkere Konnektivität bei Reizen und den damit verbundenen Emp-
dem Synästhetengehirn (nach Hänggi et al., 2011). findungen bewusste Wahrnehmungsinhalte
IPS: intraparietaler Sulcus,FuG: Gyrus fusiformis, (Perzepte). Dies geschieht mithilfe von Er-
re: rechts, li: links. fahrung und Interpretationen (Kognition).

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7.9. Zusammenfassung 211

(5) Wiedererkennung und Verständnis. zwischen Empfindungsstärke (E) und Reiz-


Durch das Erinnern, Assoziieren, Beurteilen stärke (S) ebenfalls recht gut beschrieben
und Interpretieren verstehen wir das Wahr- werden kann (E = k * Sn). Der Exponent n
genommene und leiten daraus die Ent- kann als Maß für die Sinnesempfindlichkeit
scheidungen für die Reaktionen darauf ab. interpretiert werden.
(6) Handeln. Aufgrund unserer Wahrneh- • Diese Stevens-Potenzfunktion zur Be-
mung werden in der Regel Handlungen schreibung des Zusammenhangs zwischen
ausgelöst. Handlungen werden wiederum Empfindung und Reizstärke ist der neuro-
durchgeführt, um Wahrnehmungen zu ver- nalen Potenzfunktion sehr ähnlich. Mit der
ändern. Wir sprechen von einem Hand- neuronalen Potenzfunktion wird der Zu-
lungs-Wahrnehmungs-Zyklus. sammenhang zwischen der Aktionspoten-
• Die Psychophysik ist eine alte Wissen- zialfrequenz (F) und der Reizstärke (S) be-
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schaftsdisziplin, die ursprünglich antrat, schrieben (F = k * Sn).


um das Leib-Seele-Problem zu lösen. • Die am Vertex abgeleitete N1-Amplitude
• Die Beziehung zwischen der Reizintensität korreliert mit der Intensität der sie evozie-
und der Wahrscheinlichkeit, einen Reiz renden akustischen Reize. Auch die mit-
wahrzunehmen, wird mit einer psycho- tels fMRT gemessenen hämodynamischen
metrischen Funktion beschrieben, die mit Reaktionen im auditorischen Kortex korre-
verschiedenen Methoden bestimmt werden lieren mit der Intensität der auditorischen
kann (Grenz- und Konstanzmethode). Un- Reize.
terschieden wird eine empirische von einer • Zwei Informationswege der Wahrnehmung
theoretischen psychometrischen Funktion. werden unterschieden: der Bottom-up- und
Die theoretische psychometrische Funktion der Top-down-Weg. Der Bottom-up-Weg
wird aus den empirischen Daten bestimmt wird auch als reizgetriebener Weg bezeich-
und hat die Form einer Ogive. Mit der psy- net. Dieser Weg geht von den Rezeptoren
chometrischen Funktion lassen sich die ab- zu den übergeordneten Verarbeitungs-
solute Schwelle und die Unterschieds- modulen. Der Top-down-Weg wird auch
schwelle bestimmen. als konzept- oder aufmerksamkeitsgetrie-
• Das Weber-Gesetz beschreibt den Zusam- bener Weg bezeichnet. Hierbei nehmen
menhang zwischen Reizstärke (S) und Un- übergeordnete Module Einfluss auf unter-
terschiedsschwelle (dS) (dS / S =  k). Die geordnete. Beide Informationsverarbei-
Weber-Konstante k ist für verschiedene tungswege stehen miteinander in Verbin-
Sinnesmodalitäten unterschiedlich und dung und beeinflussen sich gegenseitig.
sagt etwas über die Empfindlichkeit des je- Wahrnehmungstäuschungen und Halluzi-
weiligen Sinnessystems aus. Je kleiner k, nationen können anhand der Interaktion
desto empfindlicher ist die jeweilige Sin- beider Wege erklärt werden.
nesmodalität. • Das Bindungsproblem beschreibt die bis-
• Das Fechner-Gesetz beschreibt den Zu- lang ungelöste Frage, wie verschiedene
sammenhang zwischen der subjektiven Funktionsmodule, die in verschiedenen
Empfindung (E) und der Reizstärke (S) (E Hirnarealen lokalisiert sind, so „zusam-
= log(S)). Wichtig hierbei ist, dass es sich um mengeschaltet“ werden, dass sie zu einer
eine logarithmische Beziehung handelt. kohärenten Wahrnehmung beitragen. Vor-
• Der Physiologe Stevens schlug die Potenz- geschlagen werden derzeit Modelle, die von
funktion (die sogenannte Stevens-Potenz- einem „Zusammenschalten“ mittels syn-
funktion) vor, mit der der Zusammenhang chroner neuronaler Oszillationen aus-

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212 7.  Allgemeines zur Wahrnehmung

gehen. Die Gamma-Band-Aktivität des • Beschreiben Sie die psychometrische Funk-


EEG wird allgemein als Indikator für neuro- tion: Wie wird sie erstellt und wie bestimmt
nale Synchronisation im Zusammenhang man damit die Schwellen?
mit der Wahrnehmung vorgeschlagen. • Welche Zusammenhänge haben Weber,
• Synästhesie ist eine besondere Art der Fechner und Stevens beschrieben?
Wahrnehmung, bei der ein induzierender • Was versteht man unter Bottom-up- und
Reiz eine nachfolgende Wahrnehmung Top-down-Informationsverarbeitung im
auslöst. Am häufigsten ist die Graphem- Zusammenhang mit der Wahrnehmung?
Farb-Synästhesie. Graphem-Farb-Syn- • Wie können anhand des Zusammenwir-
ästheten sehen bestimmte Buchstaben im- kens von Bottom-up- und Top-down-Infor-
mer in einer bestimmten Farbe. Die mationsverarbeitung Halluzinationen und
Ursachen der Synästhesie sind bislang un- Wahrnehmungstäuschungen erklärt wer-
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bekannt. Favorisiert werden genetische Ur- den?


sachen. Neurophysiologisch und neuro- • Beschreiben Sie das Bindungsproblem und
anatomisch werden derzeit zwei Modelle erste Ergebnisse, die zur Lösung dieses
zur Erklärung der Synästhesie diskutiert: Problems beitragen könnten.
(1) das Hyperbindungs-Mitaktivierungs- • Was versteht man unter einer Synästhesie?
Modell (hyperbinding-crossactivation mo- • Welche Modelle zur Erklärung der Syn-
del) und (2) das Enthemmungs-Rückmel- ästhesie kennen Sie?
dungs-Modell (disinhibition-feedback
model).
7.11. Weiterführende Literatur

7.10. Fragen und Aufgaben Goldstein, E. B. (2007). Wahrnehmungspsycho-


logie: Der Grundkurs. 7. Aufl. Heidelberg:
• Beschreiben Sie die Besonderheiten der Spektrum Akademischer Verlag.
menschlichen Wahrnehmung. Matlin, M. W., Foley, H. J. (1997). Sensation and
• Definieren Sie Wahrnehmung und diskutie- Perception. Zug: Allyn & Bacon.
Wohlschläger, A., Prinz, W. (2006). Wahrneh-
ren Sie die unterschiedlichen Definitionen
mung. In: H. Spada (Hrsg.). Lehrbuch All-
der Psychologie, der Philosophie und der gemeine Psychologie. Bern, Göttingen: Hans
Biologie. Huber.
• Beschreiben Sie den Ablauf der Wahrneh-
mung.

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213

8. Visuelle Wahrnehmung
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Visueller Kortex

Videokamera

kortikales
Implantat

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8.1.  Vom Auge zum Gehirn 215

8.1. Vom Auge zum Gehirn zu einem kohärenten, sinnvollen Bild. Den
Rezeptoren der Retina ist ein Geflecht von
8.1.1. Retina Zellen vorgelagert (Abb. 8-1). Die Rezeptoren
sind über Horizontalzellen miteinander hori-
Die Retina des menschlichen Auges besteht zontal verbunden. Die Amakrinzellen verbin-
aus ca. 130 Millionen Rezeptoren. Etwa 6 Mil- den die Rezeptoren mit den Ganglienzellen
lionen dieser Rezeptoren sind Zapfen, die für der Retina, deren Afferenzen den Nervus op-
die Farbwahrnehmung spezialisiert sind; den ticus bilden.
Rest machen die Stäbchen aus. Die Zapfen Bereits auf der Retina werden Farbinforma-
sind fast ausschließlich im Bereich der Fovea tionen codiert. Drei Zapfentypen werden
centralis lokalisiert, die perfekt den hinteren unterschieden, von denen jeder für einen un-
Abschluss der optischen Achse beim Gerade- terschiedlichen Wellenlängenbereich maxi-
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ausblick repräsentiert. Die Stäbchen befinden mal empfindlich ist. Ein Zapfentyp reagiert
sich in der Peripherie der Retina. Elektromag- maximal auf Licht im Wellenlängenbereich
netische Schwingungen in einem eng um- von 430 nm (blau), einer im Wellenlängen-
schriebenen Frequenzbereich (400–750 nm) bereich von 530 nm (grün) und der dritte im
können die Rezeptoren erregen und lösen den Wellenlängenbereich von 560 nm (rot). Die
Transduktionsprozess aus. Die dabei entste- Empfindlichkeit eines Zapfentyps ist jedoch
henden elektrischen Erregungen werden über immer relativ. Das bedeutet, dass ein Zapfen-
Nervenfasern zum Gehirn geleitet. Diese Ner- typ, der z. B. auf Licht im Wellenlängenbereich
venfasern sind anatomisch so organisiert, dass von 530 nm (also auf die Farbe Grün) reagiert,
sie an einer bestimmten Stelle der Retina ge- nicht ausschließlich, sondern lediglich auf
bündelt als Nervus opticus austreten. Da sich diesen spezifischen Wellenlängenbereich be-
an dieser Stelle nur die Nervenfasern und sonders gut anspricht (Abb. 8-2). Bei Licht im
keine Rezeptoren befinden, wird sie als blin- Wellenlängenbereich von 500 nm reagiert er
der Fleck bezeichnet. Dennoch „sehen“ wir in auch, jedoch erheblich schwächer. Im Rahmen
unserem Gesichtsfeld keinen Fleck, sondern der Gegenfarbentheorie (opponent process
unser Gehirn vervollständigt diese „Lücke“ theory) werden antagonistische neuronale
entsprechend den betrachteten Informationen Prozesse in den Ganglienzellen angenommen,

Amakrinzellen Bipolare Zellen Stäbchen

Retina

t
Lich Licht

Nervus opticus Ganglienzellen Horizontalzellen Zapfen

Abbildung 8-1: Aufbau der Retina mit den unterschiedlichen Zellschichten. (Nachgezeichnet und modi-
fiziert nach Abbildung 8-9 aus Kolb & Wishhaw, 2001)

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216 8.  Visuelle Wahrnehmung

Relative Absorption
430 530 560

400 500 600 700 Wellenlänge (nm)

Violett Blau Grün Gelb Rot Spektralfarben


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Blau- Grün- Rot-


Rezeptor Rezeptor Rezeptor

Dunkel-
adaptation

Schwarz Weiß Rot Grün Gelb Blau

Weiterleitung zum Corpus geniculatum laterale

Abbildung 8-2: Relative Absorption unterschiedlicher Wellenlängenbereiche des Lichts für die drei Zap-
fentypen mit den jeweiligen Empfindlichkeiten von 430 nm (blau), 530 nm (grün), 560 nm (rot). Die Farbe
Gelb ergibt sich aus der gleichmäßigen Stimulation der Grün- und Rot-Zapfen. In den Ganglienzellen
werden die drei Zapfentypen durch laterale Hemmung so verschaltet, dass Gegenfarben entstehen. Auch
der Kontrast zwischen hell und dunkel sowie Schwarz und Weiß wird über einen lateralen Hemmungs-
mechanismus verstärkt.

bei denen durch laterale Hemmung benach- 8.1.2. Sehbahn


barter Ganglienzellen der afferente Einfluss
benachbarter Rezeptoren vermindert wird. So Über den Nervus opticus werden die in der
kommt es letztlich zu den Gegenfarben Rot vs. Retina vorverarbeiteten Informationen zum
Grün und Blau vs. Gelb. Das ist auch der Grund Corpus geniculatum laterale (CGL) im seit-
dafür, dass wir uns keine rotgrünen oder blau- lichen Kniehöcker des Thalamus weitergelei-
gelben Farben vorstellen können. Je nachdem, tet (Abb. 8-3). Dort erfolgt eine weitere Vorver-
welche der Gegenfarben aktiv ist, wird diese arbeitung sowie die Umschaltung auf ein
Information an den Corpus geniculatum late- weiteres Neuron und die Weiterleitung der
rale weitergeleitet. Informationen über die Radiatio optica (Seh-
strahlung) zur primären Sehrinde (V1). Vor der
Umschaltung im CGL erfolgt auf Höhe des

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8.1.  Vom Auge zum Gehirn 217

Diese Umorganisation der Sehbahn wird


Sehstrahlung Primärer bei der tachistoskopischen Gesichtsfeldsti-
Corpus geniculatum visueller mulation genutzt (Kap. 6.2.3.). Hierbei wer-
laterale Kortex (V1)
den kurzzeitig (100–200 ms) im rechten oder
Tractus opticus linken Gesichtsfeld visuelle Reize präsentiert.
Chiasma Bei Präsentation im rechten Gesichtsfeld wird
opticum
Sehnerv der dargebotene Reiz in die linke Hemisphäre
projiziert, während eine Präsentation des
Reizes im linken Gesichtsfeld zur Stimulation
Ge
s ic
Auge der rechten Hemisphäre führt. Mit dieser
ht s
feld Versuchsanordnung sind viele Experimente
zur funktionellen Hemisphärenspezialisierung
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durchgeführt worden.
Neben diesem klassischen Weg vom Auge
Abbildung 8-3: Schematische Darstellung der zum visuellen Kortex sind bislang neun wei-
Verbindungen vom Auge zum Gehirn.
tere Informationswege beschrieben worden.
Allerdings verfügt nur der geniculostriäre Weg
mit der oben beschriebenen Umschaltstation
Chiasma opticum eine Umorganisation (keine im CGL über direkten Zugang zur Sehrinde,
Umschaltung!) des Nervus opticus, die dazu für die anderen Wege konnten bislang nur in-
führt, dass die Informationen der nasalen direkte Zugänge zur primären Sehrinde be-
Teile der Retina des linken Auges und die tem- schrieben werden. Einer dieser Wege ist der
poralen Anteile der Retina des rechten Auges tectopulvinäre Weg von den Colliculi superior
in die rechtsseitige Sehrinde projizieren. Um- zum Pulvinar und von dort zur sekundären
gekehrt projizieren die nasalen Retinaanteile Sehrinde (Abb. 8-4). Andere Umschaltstatio-
des rechten Auges und die temporalen Retina- nen befinden sich im unteren Teil des Pulvi-
bereiche des linken Auges in die linksseitige nars, im Nucleus suprachiasmaticus, im ven-
Sehrinde. Bei dieser Umorganisation ordnet tralen Teil des CGL (der dorsale Teil des CGL
sich der Gesamtstrang des Nervus opticus, der ist Teil des geniculostriären Wegs, s. o.), im
aus vielen einzelnen Fasern besteht, quasi neu Tectum, im Nucleus des optischen Trakts und
und die einzelnen Fasern gliedern sich an den im Nucleus accessorius. Die meisten Um-
anderen Tractus an. schaltstationen sind entwicklungsgeschicht-

Gehirn

geniculostriäres System
Sehnerv Corpus weitere
striärer
geniculatum visuelle
Kortex
laterale kortikale
Areale
visuelle
Information tectopulvinäres System
Auge Colliculi
Pulvinar
superior

Abbildung 8-4: Geniculostriärer und tectopulvinärer Weg. (Nachgezeichnet nach Abbildung 8-12 aus
Kolb & Whishaw, 2001)

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218 8.  Visuelle Wahrnehmung

lich ältere Neurone und nicht direkt oder gar des Off-Feldes nimmt sie ab (Abb. 8-6). Die An-
nicht in die visuelle Wahrnehmung eingebun- ordnung der On-off-Felder ist je nach Kom-
den. Diese Informationswege sind jedoch in plexitätsgrad und Verarbeitungsstufe unter-
andere wichtige Funktionsabläufe involviert, schiedlich. Die einfachsten rezeptiven Felder
z. B. ist der Nucleus suprachiasmaticus im Hy- bestehen aus konzentrisch angeordneten On-
pothalamus in die Kontrolle des Tag-Nacht- off-Feldern, wobei das On-Feld innen liegen
Rhythmus eingebunden. Die Colliculi superior kann, während das Off-Feld sich kreisförmig
und das Pulvinar sind an der Kontrolle der Auf- um das On-Feld anlagert. Auch umgekehrte
merksamkeit und der Orientierungsreaktio- Anordnungen sind möglich.
nen beteiligt (Kap. 10). In V1 können drei Neuronentypen unter-
schieden werden: Einfachzellen, Komplex-
zellen und endinhibierte oder Hyperkom-
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8.1.3. Rezeptive Felder plexzellen. Die Einfachzellen (simple cells)


reagieren am stärksten auf balkenförmige
Für das Verständnis des visuellen Systems ist Lichtreize bestimmter Orientierung (Linien,
die Kenntnis der rezeptiven Felder wichtig. Ein Spalten, Kanten; Abb. 8-7). Das bedeutet, dass
rezeptives Feld ist der Bereich des Gesichts- die On-off-Felder rechteckig sind. Diese Ein-
feldes, der die Aktivität eines nachgeschalte- fachzellen mit ihren klar abgegrenzten rezep-
ten Neurons beeinflusst. Auch Neurone im tiven Feldern konvergieren auf die Komplex-
CGL, im primären, sekundären und tertiären zellen. Die rezeptiven Felder von Komplex-
visuellen Kortex verfügen über rezeptive Fel- zellen sind nicht so deutlich in erregende
der. Je weiter die Neurone im visuellen System und hemmende Bereiche einteilbar. Sie ant-
nachgeschaltet sind, desto komplexer werden worten wie die Einfachzellen selektiv auf die
die rezeptiven Felder (s. z. B. Abb. 8-8). Das re- Orientierung streifenförmiger Reize. Hierbei
zeptive Feld einer kortikalen Zelle ergibt sich ist die genaue Position des reaktionsaus-
durch die Konvergenz der rezeptiven Felder lösenden Reizes innerhalb des rezeptiven
der Ganglienzellen (Abb. 8-5). Feldes allerdings mehr oder weniger unerheb-
Bei den frühen Verarbeitungsstufen sind lich (Abb. 8-8). Sie zeigen allerdings eine Be-
die rezeptiven Felder meist rund, auf den hö- vorzugung einer bestimmten Bewegungsrich-
heren Ebenen der Verarbeitung (z. B. im primä- tung. Die optimalen Reize für endinhibierte
ren visuellen Kortex, aber v. a. im sekundären oder hyperkomplexe Zellen sind Streifen,
und tertiären visuellen Kortex21) sind sie recht- Ecken oder Winkel einer bestimmten Länge,
eckig oder können andere Formen annehmen. die sich in einer bestimmten Richtung über ihr
Die rezeptiven Felder der retinalen Ganglien- rezeptives Feld bewegen.
zellen, des CGL und des visuellen Kortex be-
stehen aus On-off-Feldern. Dies sind Berei-
che, bei deren Beleuchtung die nachgeschaltete 8.2. Visueller Kortex
Nervenzelle aktiv oder inaktiv ist. Wird der
Lichtstrahl auf das On-Feld gerichtet, nimmt 8.2.1. Visuelle Areale
die Aktivität des Neurons zu; bei Beleuchtung
Der visuelle Kortex ist im Primatengehirn
sehr gut durch Einzelzellableitungen unter-
21  Die Unterscheidung in primäre, sekundäre und
tertiäre visuelle Areale folgt in etwa der Einteilung in sucht worden. Beim Menschen wurden ins-
V1 (primär), V2–V5 (sekundär) und Areale im Tem- besondere zytoarchitektonische Arbeiten am
porallappen (tertiär). Post-mortem-Gehirn durchgeführt (z. B. von­

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8.2.  Visueller Kortex 219

A) B) C)
rezeptives Feld rezeptives Feld rezeptives Feld
einer retinalen Ganglienzelle einer Zelle im CGL in VI

Abbildung 8-5: Hierarchische Organisation von rezeptiven Feldern. (A) Rezeptive Felder von Ganglien-
zellen in der Retina. (B) Kombination von rezeptiven Feldern aus den retinalen Ganglienzellen im Corpus
geniculatum laterale (CGL). (C) Kombination von rezeptiven Feldern aus den Zellen im Corpus genicula-
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tum laterale zu kortikalen rezeptiven Feldern (V1).

ON-Zentrum Zelle

A)
Lichtstimulus
in einem Teil des
visuellen Feldes

LIcht fällt auf das


On-Zentrum
ON

0 1 Erregung 2 3
OFF
B) Zeit in Sekunden

rezeptives Feld
der Ganglienzelle

LIcht fällt auf die


ON Off-Umgebung

OFF 0 1 Hemmung 2 3
Zeit in Sekunden

Abbildung 8-6: Rezeptives Feld einer retinalen Ganglienzelle mit On-Zentrum und Off-Peripherie. (A)
Trifft ein Lichtreiz auf das On-Zentrum, nimmt die Aktivität in der nachgeschalteten Ganglienzelle zu. (B)
Wird die Off-Peripherie beleuchtet, nimmt die Aktivität im nachgeschalteten Ganglion ab.

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220 8.  Visuelle Wahrnehmung

rezeptives Feld
der Einfachzelle

OFF
Aktivität des Neurons in Ruhe

kein Reiz
ON

OFF
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OFF
starke Reaktion des Neurons
Licht

ON

OFF

OFF
keine Reaktion

ON
O

OFF

t
ch
Li

Abbildung 8-7: Rezeptives Feld einer Einfachzelle im primären visuellen Kortex. Bei Beleuchtung des
rechteckigen On-Zentrums ist die Aktivität des Neurons im visuellen Kortex maximal. Werden On- und
Off-Bereiche simultan beleuchtet, dann ist die Aktivität des Neurons im visuellen Kortex minimal.

Brodmann). In letzter Zeit werden auch an- liegen. BA 17 ist der primäre visuelle Kortex,
hand von dezidierten Bildgebungsstudien die der im Sulcus calcarinus liegt. Der primäre
visuellen Areale im menschlichen Gehirn be- visuelle Kortex fällt durch eine besonders
schrieben (Wilms et al., 2010). Alle Unter- große vierte Schicht auf, in der die Afferen-
suchungen haben zahlreiche visuelle Areale zen aus dem CGL des Thalamus enden. Auf
erbracht; bis zu 200 sind bislang für das Prima- Hirnschnitten ist mit bloßem Auge ein
tengehirn beschrieben worden. schmaler weißer Streifen – der Gennari- oder
Auf der Basis der zytoarchitektonischen Vicq-d’Azyr-Streifen  – zu erkennen. Er be-
Analyse des Neuroanatomen Brodmann wird steht aus stark myelinisierten Axonen und die
der visuelle Kortex im Wesentlichen in drei Bezeichnung Area striata (auch: striärer Kor-
große Bereiche eingeteilt: die Brodmann- tex) für dieses Hirngebiet ist auf seine ana-
Areale 17, 18 und 19, die im Okzipitalkortex tomische Besonderheit zurückzuführen. Alle

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8.2.  Visueller Kortex 221

rezeptives Feld deren Nomenklatur wird der primäre visuelle


einer komplexen Zelle
Kortex auch als V1 bezeichnet. Um V1 herum
sind die Areale V2 und V3 lokalisiert. V3 wird
kein Reiz Baseline-Reaktion weiter in V3A und V3B eingeteilt. Oberhalb
des Neurons
von V3 findet sich V7 und im Parietallappen
wird der IPS im weitesten Sinne zum visuellen
Lichtbalken in 45° Kortex gezählt. Im unteren Teil des Tempo-
starke Reaktion
rallappens befindet sich das Areal V4, das für
Licht des Neurons
die Farbwahrnehmung spezialisiert ist. V5
(auch MT genannt) befindet sich im hinteren
Lichtbalken in 45° Teil des Sulcus temporalis superior und ist für
starke Reaktion
des Neurons die Bewegungswahrnehmung spezialisiert.
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Vor V3 ist der laterale Okzipitalkortex (LOC)


zu identifizieren, der v. a. in die Objektwahr-
Lichtbalken in 60°
schwache Reaktion
nehmung eingebunden ist. Im Temporallap-
des Neurons pen befinden sich drei weitere Gebiete, die an
der Objektwahrnehmung beteiligt sind: poste-
riorer Temporalkortex (PIT), zentraler Tempo-
Lichtbalken in 15°
keine Reaktion ralkortex (CIT), anteriorer Temporalkortex
des Neurons
(AIT; Abb. 8-9). Funktionell wird die Sehrinde
in die primäre (V1) und sekundäre Sehrinde
(V2–V5) eingeteilt.
Abbildung 8-8: Rezeptives Feld einer Komplex-
zelle. Sie reagiert insbesondere auf Balken, die
sich in einem bestimmten Winkel durch das re-
zeptive Feld bewegen. Die Bewegungsrichtung des
Balkens ist durch einen Pfeil gekennzeichnet. Die
Aktivität des Neurons ist dann maximal, wenn sich
der Balken in einem bestimmten Winkel (hier 45°) IPS
über das rezeptive Feld bewegt. Bei einem ande-
V7
ren Winkel (hier 60°) ist die neuronale Aktivität V3
V3
deutlich geringer. V2
V5 A/B
S V1
ST LOC
PIT
CIT V4
anderen Areale des visuellen Kortex werden
AIT
als extrastriärer Kortex bezeichnet. Um das
Brodmann-Areal 17 lagern sich die beiden
übrigen Brodmann-Areale des visuellen Kor-
tex konzentrisch an. Areal 18 liegt um Areal 17
Abbildung 8-9: An der visuellen Verarbeitung be-
und Areal 19 um Areal 18.
teiligte kortikale Hirngebiete. AIT: anteriorer infe-
Anhand von Einzelzellableitungen bei riorer Temporalkortex, CIT: zentraler anteriorer
nichtmenschlichen Primaten und durch inferiorer Temporalkortex, PIT: posteriorer inferio-
fMRT-Untersuchungen zur Beschreibung der rer Temporalkortex, IPS: intraparietaler Sulcus,
Retinotopie ergibt sich eine detailliertere Ein- LOC: lateraler Okzipitalkortex, STS: Sulcus tempo-
teilung des visuellen Kortex. Gemäß einer an- ralis superior. V1–V7 visuelle Areale.

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222 8.  Visuelle Wahrnehmung

Dorsaler und ventraler Informationsweg len Strang (zum Temporallappen gehend;


Abb. 8-10). Der in den Temporallappen zie-
Nach der Vorverarbeitung in den Arealen V1–
hende Verarbeitungsstrom ist in die Objekt-
V3 teilen sich die Wege der visuellen Infor-
erkennung (daher auch als Was-Strang be-
mationsverarbeitung in einen dorsalen (zum
zeichnet) eingebunden. Der in den Parietal-
Parietallappen gehenden) und einen ventra-
lappen ziehende Verarbeitungsstrom führt
visuelle Informationen der Bewegungswahr-
nehmung, der räumlichen Orientierung und
der motorischen Steuerung zu (daher auch als
Wo-Strang bezeichnet).
dorsaler Strang
Durch diese parallele Verarbeitung wird
eine sehr hohe Verarbeitungsgeschwindigkeit
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erreicht. Innerhalb von 150 bis 200 ms ist ein


VI
ventraler Strang großer Teil der Objekterkennung im Tempo-
rallappen abgeschlossen (Thorpe et al., 1996).
Da es ca. 40–70 ms dauert, bis der visuelle
Reiz die primäre Sehrinde erreicht hat, bleiben
lediglich 80–160 ms für die kortikale Verarbei-
tung. Das entspricht in etwa 5–10 kortikalen
Abbildung 8-10: Dorsaler und ventraler Informa- Verarbeitungsschritten. Die räumliche Orien-
tionsweg. tierung und die Nutzung dieser Informatio-

V3A IPS LPS

V1 V2 V3 V5 STS

LOC PIT CIT AIT

V4

Abbildung 8-11: Teilgebiete, die den ventralen und dorsalen Informationsweg ausmachen. Die wichtigen
Verbindungen sind durch Linien gekennzeichnet. AIT: anteriorer inferiorer Temporalkortex, CIT: zentraler
anteriorer inferiorer Temporalkortex, PIT: posteriorer inferiorer Temporalkortex, IPS: intraparietaler Sul-
cus, LPS: Lobulus parietalis superior, LOC: lateraler Okzipitalkortex, STS: Sulcus temporalis superior.
V1 – V5 visuelle Areale.

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8.2.  Visueller Kortex 223

140–190 ms teralen Auge Afferenzen aus den Ganglien-


200–250 ms
MC
zellen der Retina erhalten (Abb. 8-13). Vom
PMC gleichseitigen Auge treffen Fasern in den
IPS Schichten 2, 3 und 5 des CGL ein, vom kon-
30–50 ms tralateralen Auge in den Schichten 1, 4 und 6.
Unterschieden wird weiter, ob die Afferenzen
CGL 40–70 ms
zu parvo- oder magnozellulären Nervenzellen
V1
0m
s (der Retina) gerechnet werden. Die parvozel-
–20 hr-
150 w a lulären Zellen22 (P-Zellen) projizieren in die
b j ekt ung
O
neh
m Schichten 3–6 des CGL, die magnozellulären
Zellen23 (M-Zellen) in die verbleibenden
Schichten 1 und 2. Die P-Zellen in der Retina
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haben relativ kleine rezeptive Felder, reagie-


Abbildung 8-12: Sequenzielle Verarbeitung in- ren auf Lichtreize mit längerer Latenz und
nerhalb des visuellen Verarbeitungswegs. CGL: zeigen ein vorwiegend tonisches Aktivie-
Corpus geniculatum laterale, PMC: Prämotorkor- rungsmuster. Sie sind für eine hohe räumliche
tex, MC: Motorkortex, IPS: intraparietaler Sulcus. Auflösung stationärer Reize spezialisiert. Die
M-Zellen sind durch große rezeptive Felder
gekennzeichnet, zeigen schnelle Antwortzei-
nen für die motorische Kontrolle ist nach ca. ten und reagieren vorwiegend phasisch. Sie
200 ms im dorsalen Strang abgeschlossen sind daher für die Codierung von schnellen
(Abb. 8-12). Beide Verarbeitungsströme wer- Reaktionswechseln prädestiniert und in die
den im Frontalkortex wieder zusammen- Bewegungswahrnehmung eingebunden. Das
geführt, um die generierten Informationen im CGL projiziert direkt in den primären visuel-
Arbeitsgedächtnis zu nutzen. len Kortex.
Im ventralen Strang werden die rezeptiven Im jeweiligen CGL wird eine kontralaterale
Felder immer größer und in der Regel unspe- Abbildung der Gesichtsfeldhälften ermöglicht.
zifischer. Dennoch sind im Temporallappen Gleichzeitig existiert im CGL eine retinotope
hochspezialisierte Zellen und Zellgruppen Anordnung, in der korrespondierende Netz-
vorhanden, die für bestimmte Reizkonstella- hauthälften des rechten und linken Auges in
tionen spezialisiert sind. Zum Beispiel sind unmittelbarer Nachbarschaft lokalisiert sind.
Zellgruppen identifiziert worden, die nur Ein Ort A im rechten Gesichtsfeld ist in der
auf das Vorhandensein von Händen, Tieren temporalen Retinahälfte des linken Auges (A1)
oder Gesichtern reagieren, unabhängig da- und in der nasalen Retinahälfte des rechten
von, wo diese Objekte sich im Sehfeld befin- Auges (A2) repräsentiert. Beide Punkte sind
den (s. a. Abb. 8-16). zwar in unterschiedlichen Schichten des CGL,
aber in unmittelbarer Nachbarschaft angeord-
net. Die Zellen des CGL projizieren geordnet
8.2.2. Verschaltungsprinzip in den primären visuellen Kortex. Dort ent-
im visuellen Kortex stehen sogenannte okuläre Dominanzsäu-
len, die aus alternierenden Projektionen von
Der primäre visuelle Kortex erhält die meisten benachbarten Retinaabschnitten des rechten
Afferenzen vom Corpus geniculatum late-
rale (CGL). Das CGL besteht aus sechs Schich- 22  In den Ganglienzellen der Retina.
ten, die entweder vom ipsi- oder vom kontrala- 23  In den Ganglienzellen der Retina.

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224 8.  Visuelle Wahrnehmung

kontralaterales Auge kontralaterales Auge

ipsilaterales Auge

Corpus 4 6 3 5 4 6 parvozellulär
geniculatum
laterale
1 2 1 magnozellulär
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II

III
Visueller Kortex

IVCα

IVCβ

VI

L R L

Abbildung 8-13: Sechs Schichten des primären visuellen Kortex inklusive der Kolumnen für das linke
und das rechte Auge. Schicht IVCα erhält Afferenzen von den magnozellulären Neuronen der Schichten
1 und 2 des CGL. Schicht IVCβ des visuellen Kortex erhält Afferenzen aus den parvozellulären Schichten
3–6 des CGL.

und linken Auges stammen. Eine Säule im vi- 1,5–2 mm) und weist eine für den Kortex typi-
suellen Kortex besteht aus Afferenzen aller sche Aufteilung in sechs Schichten auf (I–VI).
drei Schichten und erhält somit Eingänge aus Die primäre Sehrinde verfügt über eine beson-
P- und M-Zellen. Jeweils eine aus Afferenzen ders dicke Schicht IV (innere Körnerschicht), in
des linken und rechten Auges bestehende An- der viele afferente Fasern der Neurone des
sammlung von Zellen im visuellen Kortex wird CGL enden. Schicht IV wird weiter unterteilt in
als Hyperkolumne bezeichnet (Abb. 8-15). die Unterschichten A, B, C, wobei Schicht C
Die Sehrinde ist verglichen mit anderen noch einmal in die Schichten α und β unterteilt
kortikalen Arealen recht dünn (beim Menschen wird. Schicht IVCα empfängt die Axone der

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8.2.  Visueller Kortex 225

II & III

IV

VI
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R
L
R
L

Abbildung 8-14: Säulenorganisation in V1. Die Neurone einer Säule zeigen eine bestimmte Präferenz für
die Orientierung eines Lichtbalkens, der auf die Retina trifft. Es gibt Säulenfür das linke und das rechte
Auge. Säulen mit gleicher Präferenz für das rechte und das linke Auge werden als Hyperkolumne bezeich-
net. (Nachgezeichnet und modifiziert nach der Abbildung 8-34 aus Kolb & Whishaw, 2001)

magnozellulären Neurone aus den Schichten Jenseits von V1, in den extrastriären Hirn-
1 und 2 des CGL. Schicht IVCβ erhält Afferen- gebieten, verändern sich die Säulen und wei-
zen aus den parvozellulären Neuronen der sen Präferenzen für komplexere Reizkonstel-
Schichten 3–6 des CGL. lationen auf. In Abbildung 8-16 sind Kolumnen
Der visuelle Kortex ist in Säulen (Kolum- des Temporallappens dargestellt, die für Ge-
nen) organisiert. Jede Säule umfasst die sechs sichter und Objekte spezialisiert sind.
kortikalen Schichten und bildet eine funktio-
nelle Einheit. Neurone innerhalb einer Säule in
V1 zeigen die gleiche Präferenz für die Orien- 8.2.3. Retinotopie
tierung von Lichtbalken, die auf die Retina
treffen. Es existieren Säulen für das rechte und Bis zum visuellen Kortex bleibt die Topologie
das linke Auge (Abb. 8-14). der Retina erhalten. Das bedeutet, dass die
Farbinformationen werden bereits in V1 benachbarten Gebiete der Retina (bzw. ihre
verarbeitet. Die entsprechenden Neurone sind Erregungsmuster) auf benachbarten Neuro-
ebenfalls säulenartig angeordnet und in die nen des CGL und des visuellen Kortex ab-
Säulen eingebettet. Diese farbsensiblen Neu- gebildet werden. Dies wird als Retinotopie
ronensäulen werden als Blobs bezeichnet. Die bezeichnet. Es bedeutet ferner, dass jedes
Neurone werden von den farbsensiblen Zellen Neuron im CGL die Aktivität eines bestimm-
der Ganglienzellen der Retina über das CGL ten Retinaortes verarbeitet und jeder Retina-
versorgt. In Abbildung 8-15 ist ein komplettes bereich von bestimmten Neuronen im visuel-
Verarbeitungsmodul in V1 mit Säulen, okulä- len Kortex verarbeitet wird.
ren Dominanzsäulen, Hyperkolumnen und Die Retinotopie im visuellen Kortex kann
Blobs dargestellt mittels fMRT untersucht werden (Abb. 8-17).

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226 8.  Visuelle Wahrnehmung

Blobs

Hyperkolumnen
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Orie R
ntie
run L n
gsko ule
lum sä
nen R z
in an
L D om
re
ulä
ok

Abbildung 8-15: Darstellung eines Verarbeitungsmoduls in V1. Man erkennt die Säulen, die okulären
Dominanzsäulen, die Hyperkolumnen und die Blobs für die Farbverarbeitung. (Nachgezeichnet und
modifiziert nach der Abbildung 8-38 aus Kolb & Whishaw, 2001)

Hierzu werden Lichtreize in den verschiede-


nen Quadranten des Gesichtsfeldes präsen-
tiert und die Durchblutungsveränderungen im
visuellen Kortex gemessen. Abhängig davon,
welcher Quadrantenbereich stimuliert wurde,
nimmt in bestimmten Bereichen des visuellen
Kortex die Durchblutung zu. Wird der obere
rechte Quadrantenbereich stimuliert, kommt
es zu Durchblutungszunahmen im linksseiti-
I gen visuellen Kortex unterhalb des Sulcus cal-
carinus. Stimulationen im unteren rechten Ge-
II & III
sichtsfeld führen zu einer Durchblutungs-
IV
zunahme oberhalb des linksseitigen Sulcus
V
VI

Abbildung 8-16: Kolumnen im Temporallappen.


(Nachgezeichnet und modifiziert nach der Abbil-
dung 8-35 aus Kolb & Whishaw, 2001)

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8.2.  Visueller Kortex 227

A) B)
linkes visuelles Feld
rechter visueller Kortex
Projektion zum rechten
visuellen Kortex
Peripherie

Fovea
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Sulcus
calcarinus

Abbildung 8-17: Retinotopie im visuellen Kortex. (A) Gesichtsfeld des Probanden mit Fixationskreuz in
der Mitte. (B) Visueller Kortex um den Sulcus calcarinus. Der Proband fixiert das Kreuz in der Mitte des
Bildes. Informationen, die unmittelbar links oberhalb des Fixationskreuzes präsentiert werden, werden
rechts unterhalb des Sulcus calcarinus abgebildet. Weiter in der Peripherie liegende Informationen des
linken oberen Gesichtsfeldquadranten werden weiter hinten im rechtsseitigen unteren Sulcus calcari-
nus abgebildet.

calcarinus. Es liegt also eine doppelte Kreu- dann liegt eine Läsion oder Durchblutungs-
zung (von oben nach unten und von rechts störung links unterhalb des Sulcus calcarinus
nach links) vor. Die Retinotopie bleibt im ven- vor. Sieht der Patient im unteren rechten Ge-
tralen Informationsstrang noch recht lange sichtsfeldquadranten nichts mehr, dann liegt
erhalten, während sie im dorsalen Strang im eine Läsion oder Durchblutungsproblematik
Parietallappen in ein körperbezogenes Refe- links oberhalb des Sulcus calcarinus vor. Bei
renzsystem umcodiert wird, damit visuelle einer Hemianopsie ist eine Seite eines Ge-
Informationen auch für die motorische Kon- sichtsfeldes (links oder rechts) vollständig
trolle genutzt werden können. ausgefallen (Abb. 8-18). Bei einer rechtsseiti-
Die Retinotopie äußert sich auch bei Sko- gen Hemianopsie ist der linksseitige visuelle
tomen und den Anopsien, d. h. Gesichtsfeld- Kortex ober- und unterhalb des Sulcus calca-
ausfällen, die durch Läsionen oder Durch- rinus betroffen. Skotome sind kleinere und
blutungsprobleme im visuellen Kortex ver- umschriebene Ausfälle. Die mit ihnen assozi-
ursacht werden. Unterschieden werden ierten Läsionen sind kleiner als bei den Qua-
Quadranten- und Hemianopsien. Bei einer dranten- und den Hemianopsien, die Zuord-
Quadrantenanopsie liegt ein Ausfall eines nung zwischen dem Ort des Gesichtsfeldaus-
Gesichtsfeldquadranten (rechts oben oder falls und dem Ort der Läsion bleibt jedoch
unten) vor. Sieht der Patient im oberen rech- immer gleich und folgt dem Prinzip der dop-
ten Gesichtsfeldquadranten nichts mehr, pelten Kreuzung.

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228 8.  Visuelle Wahrnehmung

A) Hemianopsie
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Verletzung

B) Quadrantenanopsie

Verletzung

C) Skotom

Verletzung

Abbildung 8-18: Gesichtsfeldausfälle als Folgen von Läsionen im visuellen Kortex. (A) Hemianopsie im
linksseitigen Gesichtsfeld. Zugrunde liegt eine Läsion im rechtsseitigen visuellen Kortex ober- und un-
terhalb des Sulcus calcarinus. (B) Quadrantenanopsie im oberen rechten Gesichtsfeldquadranten. Ur-
sache ist eine umschriebene Läsion im linksseitigen visuellen Kortex unterhalb des Sulcus calcarinus.
(C) Skotom im rechtsseitigen oberen Gesichtsfeldquadranten. Ursache ist eine Läsion im linksseitigen
visuellen Kortex unterhalb des Sulcus calcarinus.

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8.4.  Einfache und grundlegende Wahrnehmungsleistungen 229

8.3. Blindsight – Blindsicht tectopulvinären Weg von den Colliculi supe-


riores und vom Pulvinar zum sekundären vi-
Blindsicht ist ein Phänomen, das gelegentlich suellen Kortex (V2). Möglich ist auch, dass in
bei Patienten zu beobachten ist, die aufgrund dem lädierten V1-Areal noch einige Neurone
von Läsionen in den Sehzentren (V1 und V2) funktionsfähig sind, die es ermöglichen, vi-
entweder vollständig oder in bestimmten Ge- suelle Informationen zumindest rudimentär
sichtsfeldbereichen blind sind. Diese Per- zu verarbeiten. Diskutiert werden auch nicht-
sonen reagieren zwar auf visuelle Reize, die in physiologische Ursachen für die Blindsicht.
den „blinden“ Gesichtsfeldbereichen dargebo- So könnte es z. B. möglich sein, dass bei He-
ten werden, sie können sie jedoch nicht be- mianoptikern Lichtreize durch die experimen-
wusst und qualitativ erkennen (Cowey, 2010). telle Anordnung so reflektiert werden, dass sie
Unterschieden werden zwei Arten von das gesunde Gesichtsfeld erreichen und zu ei-
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Blindsicht. Beim Typ 1 erkennen die Betroffe- ner Stimulation führen. Auch Reflexionen auf
nen keinen visuellen Reiz bewusst, sie können dem Gesicht (z. B. der Nase) könnten das ge-
jedoch in bestimmten Testsituationen über- sunde Gesichtsfeld stimulieren. Insofern ist
zufällig oft bestimmte Aspekte der dargebote- größte Sorgfalt bei der Gestaltung der experi-
nen visuellen Reize „erraten“ und auf sie rea- mentellen Anordnungen zur Untersuchung
gieren. Manche dieser Personen können die der Blindsicht geboten.
Position und die Bewegungsrichtung des dar- Ein wichtiger Untersuchungsansatz besteht
gebotenen visuellen Reizes erkennen oder in der Arbeit mit Modellen (zum Beispiel, in-
auch die Bewegungsbahnen sich bewegender dem man mit Primaten oder geeigneten Pa-
visueller Reize nutzen, um zukünftige Positio- tienten arbeitet). Stoerig und Cowey (2007)
nen dieses Reizes vorherzusagen. Diese Leis- z. B. gehen aufgrund von Studien davon aus,
tungen nimmt der Untersucher nur wahr, dass auch Primaten Blindsicht entwickeln kön-
wenn er experimentelle Versuche gestaltet, bei nen. Im Rahmen eines anderen Versuchs-
denen die Versuchspersonen zum Raten „ge- ansatzes werden Patienten mit Hemianopsie
zwungen“ werden. untersucht, um zu überprüfen, wie sie visuelle
Beim Typ 2 sind noch Ansätze bewusster Informationen verarbeiten, die dem blinden
Wahrnehmung vorhanden. Diese Patienten Gesichtsfeld dargeboten werden. Insgesamt
geben an, dass sie visuelle Bewegungsreize im mehren sich die Befunde, dass es eine unbe-
blinden Gesichtsfeld erkennen. Sie können wusste Verarbeitung jenseits des geniculos-
jedoch nicht angeben, welches Objekt sich in triären Informationswegs gibt.
ihrem blinden Gesichtsfeldbereich bewegt.
Manchmal scheinen sie ihre Augenbewegun-
gen beim Verfolgen der bewegten Reize zu
8.4. Einfache und grund-
bemerken. legende Wahrnehmungs-
Bezüglich der Frage, wie ein kortikal Blin- leistungen
der unbewusst visuelle Reize erkennen kann,
werden aktuell mehrere Möglichkeiten dis- 8.4.1. Tiefenwahrnehmung
kutiert (Stoerig & Cowey, 2007). Eine besteht
darin, dass bei diesen Patienten indirekte Bei der Tiefenwahrnehmung werden binoku-
Wege zum visuellen Kortex genutzt werden. lare und monokulare Mechanismen unter-
So ist es z. B. möglich, dass visuelle Informatio- schieden. Wir wenden uns zunächst den bino-
nen unter Umgehung von V1 in die extrastriä- kularen Mechanismen zu. Beim Fixieren
ren Areale gelangen, beispielweise über den wird das Objekt auf „korrespondierenden“

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230 8.  Visuelle Wahrnehmung

Netzhautstellen beider Augen, d. h. Retinaor- punkten beider Augen abgebildet (Abb. 8-20).
ten, die an identischen Stellen der jeweiligen Als korrespondierend gelten Netzhautstellen,
Retina lokalisiert sind, abgebildet. Die Objekte die aufeinanderlägen, wenn man die beiden
werden dann als an der gleichen Stelle des Netzhäute so übereinanderlegen würde, dass
Raums liegend wahrgenommen. Wenn das Ob- ihre vertikalen und horizontalen Achsen über-
jekt fixiert wird, wird es auf den Foveae beider einstimmten. Man kann sich das ungefähr so
Augen abgebildet, was auch als bifoveale Kon- vorstellen, dass durch das Aufeinanderlegen
vergenz bezeichnet wird. Für jedes Auge lässt eine gemeinsame Repräsentation der beiden
sich eine (virtuelle) optische Achse von der Fo- Netzhauthälften entstehen würde. Diese Re-
vea zum fixierten Objekt ziehen. Die optischen präsentation wird gelegentlich auch als Zyklo-
Achsen beider Augen verlaufen nahezu parallel penauge bezeichnet. Für unser Beispiel bedeu-
bei Objekten, die in der Ferne lokalisiert sind. tet das, dass die rechtsseitige vertikale Kante
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Je näher das fixierte Objekt ist, desto mehr kon- im linken Auge an einer anderen Stelle abge-
vergieren die optischen Achsen und beide Seh- bildet wird als im rechten. Auch die vorderen
achsen bilden miteinander einen bestimmten
Winkel, der als Konvergenzwinkel bezeichnet
wird. Dieser Konvergenzwinkel dient der Seh-
rinde als Kennwert für die Entfernungs-
berechnung. Die Lichtstrahlen, die von einem
nahen Gegenstand auf die Retina treffen, bil-
den einen größeren Winkel als die Lichtstrah-
len, die von einem entfernteren Gegenstand
stammen. Dadurch entstehen unterschiedliche
Projektionen auf der Netzhaut: Die Abbildun-
gen naher Gegenstände liegen auf der Netz-
haut weiter außen als die Abbildungen ent-
fernter Gegenstände (Abb. 8-19).
Wird ein dreidimensionales Objekt, z. B. ein
Würfel (oder ein Haus), betrachtet und dessen
leicht gedrehte vordere Kante fixiert, wird
diese auf korrespondierenden Netzhaut-
6,5 cm

A
B

A B

B linkes Auge rechtes Auge


A
Abbildung 8-20: Visuelles Fixieren eines Würfels.
Abbildung 8-19: Abbildung zweier unterschied- Die Versuchsperson fixiert die vordere Kante eines
lich entfernter Objekte (A und B). Das entferntere Würfels. Diese Kante wird auf korrespondieren-
Objekt B ist mit einem kleineren Konvergenzwin- den Netzhautpunkten abgebildet. Im unteren Teil
kel assoziiert als das nähere Objekt A. Das nähere des Bildes ist zu erkennen, dass beide Würfel ins-
Objekt A wird weiter in der Peripherie der Netz- gesamt „unterschiedlich“ im rechten und linken
haut abgebildet als das weiter entfernte Objekt B. Auge abgebildet werden.

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8.4.  Einfache und grundlegende Wahrnehmungsleistungen 231

und hinteren horizontalen Kanten werden auf Neben diesem binokularen Mechanismus
unterschiedlichen und nicht korrespondieren- existieren auch monokulare Mechanismen,
den Netzhautbereichen abgebildet. Diese Ab- die zur Entfernungs- und Tiefenwahrnehmung
weichung von der „Korrespondenz“ wird als beitragen. Wie die Bezeichnung bereits be-
Querdisparation bezeichnet. Anders aus- sagt, wird hierbei nur ein Auge benötigt.
gedrückt bedeutet dies, dass beide Augen den Wichtige monokulare Tiefenreize sind:
gleichen Würfel unterschiedlich abbilden. 1. Perspektive (Parallelen laufen in einem
Der Fixationspunkt wird immer auf korres- Fluchtpunkt zusammen)
pondierenden Netzhautbereichen abgebildet. 2. relative Größe (weiter hinten stehende Ob-
Es lässt sich zeigen, dass auf korrespondieren- jekte wirken kleiner)
den Netzhautbereichen nur solche Punkte ab- 3. relative Klarheit (weiter hinten stehende
gebildet werden, die auf einem gedachten Objekte erscheinen weniger klar und ver-
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Kreis liegen, der durch den Fixationspunkt und schwommener)


die Drehpunkte beider Augen verläuft. Diese 4. Interposition (hinten stehende Objekte
Kreislinie wird als Horopter bezeichnet. Alle werden durch vorn stehende verdeckt)
Reize, die außerhalb des Horopters liegen, er- 5. Nahakkommodation des Auges (zur Abbil-
zeugen Querdisparation. Man spricht von ei- dung von nahen Objekten auf der Netzhaut
ner ungekreuzten Querdisparation, wenn das muss die Linse stärker gekrümmt werden)
Objekt außerhalb des Horopters liegt. Eine ge- 6. Verschiebung
kreuzte Querdisparation liegt vor, wenn das 7. Textur (die Musterung im Hintergrund er-
Objekt vor dem Horopter liegt. Bei einer ge- scheint etwas feiner).
kreuzten Querdisparation werden die Objekte
lateral auf der Retina abgebildet, während bei Die binokularen Tiefeninformationen werden
einer ungekreuzten Querdisparation die Ob- in V1, V2, V3, V5 und V7 verarbeitet. Beson-
jekte nasal abgebildet werden. Objektpunkte, ders stark ist das Areal V3A in die Verarbeitung
die nicht auf korrespondierenden Netzhaut- von stereoskopischen Tiefeninformationen
bereichen abgebildet werden, sieht man dop- eingebunden (Backus et al., 2001). Aber nicht
pelt. Diese Querdisparation trägt allerdings nur die striären und extrastriären Areale sind
auch zum räumlichen Sehen bei. an der Verarbeitung von visuellen Tiefeninfor-
mationen beteiligt, sondern auch Hirngebiete
im mesialen Temporallappen, und hier ins-
U besondere der perirhinale Kortex, der Hippo-
campus und Teile des parahippocampalen Gy-
ungekreuzte
Querdisparation rus (Backus et al., 2001; van Strien et al., 2008;
Horo
pte
r Abb. 8-22). Der mesiale Temporallappen ist für
G explizite Gedächtnisprozesse essenziell. Inso-
gekreuzte fern ist es möglich, dass die Tiefeninformatio-
Querdisparation
nen automatisch das Wissen über Entfernun-
gen und räumliche Tiefe aktivieren.
In einer neuen Arbeit haben Cotterau und
Kollegen (2011) hochauflösendes EEG ge-
G G nutzt, um die Hirnaktivität während des Prä-
U U
sentierens von stereoskopischen Reizen zu
Abbildung 8-21: Beispiel für eine gekreuzte und analysieren. Anhand des EEG haben sie die
eine ungekreuzte Querdisparation. intrazerebralen Quellen in den Arealen V1,

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232 8.  Visuelle Wahrnehmung

Veränderungen der äußeren Scheibe ab. Dies


bedeutet, dass die extrastriären Hirngebiete
IPS bei der Disparitätsberechnung auch Kontext-
V7
informationen mit einbeziehen (­Cottereau et
V3 V3 al., 2011).
V5
A/B
V2 Obwohl diese Studie gezeigt hat, dass bino-
LOC kulare Tiefenreize Hirngebiete im dorsalen
rtex V1
r Ko und ventralen Strang aktivieren, muss fest-
in ale ara- is V4
irh s p al
per Gyru camp pus gehalten werden, dass die stärksten Aktivie-
po m
hip ppoca
Hi rungen im dorsalen Strang hervorgerufen
werden. Es zeigt sich darüber hinaus häufig
eine Aktivierungsdominanz in der rechten
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Hemisphäre. Monokulare Tiefenreize werden


Abbildung 8-22: Hirngebiete, die in die Tiefen- vorrangig bilateral im Temporallappen ver-
wahrnehmung eingebunden sind. Im gestrichel- arbeitet (in der Regel in den Objektwahrneh-
ten Kasten sind die mesialen Hirngebiete ein- mungsgebieten des IT). Auch hier sind die Ak-
getragen.
tivitäten in der rechten Hemisphäre immer
höher und dehnen sich bis in den Gyrus fusi-
V4, V3A, V5 und im lateralen Okzipitalkortex formis aus (Fischmeister & Bauer, 2006). Die
(LOC) geschätzt. Als stereoskopische Reize in diesen Hirngebieten evozierten Aktivierun-
wurden eine innere und eine äußere Scheibe gen werden bis in den Frontalkortex durch-
genutzt, wobei die innere Scheibe alle 2 s Dis- geschaltet, wahrscheinlich, um dort Arbeits-
parität erzeugte. Die äußere Scheibe konnte so gedächtnis- und Aufmerksamkeitsfunktionen
manipuliert werden, dass sie korreliert mit der abzurufen. Die frontalen Aktivierungen sind
inneren Scheibe Disparität erzeugte oder sich bei binokularen Tiefenreizen stärker als bei
ohne Bezug zur inneren Scheibe veränderte. Es monokularen.
zeigte sich in allen analysierten Hirngebieten
eine Aktivitätsveränderung, deren Stärke von
dem Ausmaß der Disparität abing. Je größer 8.4.2. Farbwahrnehmung
die Disparität, desto stärker war die Hirnakti-
vität in diesen Hirngebieten. Ab einer be- Die kortikale Verarbeitung von Farbinforma-
stimmten Disparität nahm allerdings die Ak- tion ist bislang nicht eindeutig geklärt. Nach
tivität wieder ab, sodass die Disparitätskurven24 der traditionellen Vorstellung wird von einer
in diesen Hirngebieten einen umgekehrt u- parallelen kortikalen Verarbeitung ausgegan-
förmigen Verlauf zeigen. Als weiterer interes- gen, gemäß der die Farbinformation getrennt
santer Befund zeigte sich, dass die Aktivität in von anderen visuellen Reizattributen wie Form
V1 unabhängig von den Veränderungen der oder Bewegung verarbeitet wird. Anatomisch
äußeren Scheibe war. In den anderen Hirn- und physiologisch soll die Farbinformation in
gebieten hing die Aktivität allerdings von den V1 auf den sogenannten Blobs erfolgen, wäh-
rend Form- und Bewegungsinformationen
außerhalb dieser Blobs in den sogenannten
24  Eine Disparitätskurve ist die grafische Darstel-
Interblobs bzw. in tieferen Schichten von V1
lung des Zusammenhangs zwischen den verschiede-
nen Disparitäten und den Hirnaktivierungen in den durchgeführt werden soll. In den Blobs (s. o.)
Gebieten, die in die Verarbeitung der Disparitäten überwiegen Neurone mit konzentrisch organi-
eingebunden sind. sierten rezeptiven Feldern, die nicht selektiv

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8.4.  Einfache und grundlegende Wahrnehmungsleistungen 233

A) B)

Vorderansicht
Umgebung (12°)

V3a
V5
LOC V1

V4

Zentrum (5°)
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C)
V1 V5 V4 LOC V3a

20 20 20 20 20

15 15 15 15 15

10 10 10 10 10

5 5 5 5 5
1 64 1 64 1 64 1 64 1 64

Abbildung 8-23: (A) Versuchsanordnung des Experiments von Cottereau et al. (2011). Eine innere und
äußere Scheibe konnten getrennt oder korreliert miteinander Disparität erzeugen. (B) Hirngebiete, in
denen die neurophysiologische Aktivität anhand des Oberflächen-EEG geschätzt wurde. (C) Disparitäts-
kurven für die einzelnen Hirngebiete, die in die Analyse der Disparität eingebunden sind. Man erkennt,
dass die Hirngebiete für bestimmte Disparitäten besonders sensibel sind.

auf die Orientierung oder Bewegungsrichtung Primaten, unterstützen diese traditionelle


visueller Reize reagieren, sondern deutliche Sichtweise nicht mehr. Diese Untersuchungen
Farbpräferenzen aufweisen (Livingstone & konnten zeigen, dass Neurone in V2 nicht nur
Hubel, 1984). Des Weiteren sind in V1 Neu- auf eines der Reizattribute wie Farbe, Form
rone identifiziert worden, die auch auf be- und Bewegung ansprechen, sondern dass die
stimmte „Mischfarben“ (z. B. Orange) anspre- visuellen Reizeigenschaften kombiniert ver-
chen. Ähnliche Farbpräferenzen sind auch für arbeitet werden und daher keine strikte Auf-
Neurone in den sekundären visuellen Arealen teilung in parallele Verarbeitungsbahnen vor-
V2 und V3 berichtet worden. Zusammenfas- liegt (Gegenfurtner et al., 1996). Auch psycho-
send geht diese traditionelle Theorie davon physiologische Humanexperimente konnten
aus, dass die Verarbeitung von Farbe, Form belegen, dass Form und Bewegung auch bei
und Bewegung in den Arealen V1 und V2 in Reizen wahrgenommen werden, die aus-
unterschiedlichen Neuronen erfolgt. Diese schließlich durch Farbe definiert sind (Gegen-
Verarbeitungen sollen parallel stattfinden. furtner & Kiper, 2003).
Neuere Befunde, gewonnen anhand von Die Neurone aus V1 und V2 projizieren in
Einzelzellableitungen im visuellen Kortex von den dorsalen und den ventralen Strang. Im

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234 8.  Visuelle Wahrnehmung

ventralen befindet sich das Areal V4, das in


den meisten Lehrbüchern als das kortikale
Farbzentrum bezeichnet wird, da hier die
Mehrzahl der Neurone selektiv auf Reize ver-
schiedener Wellenlänge und Farbe antwortet
(Zeki, 1980). Die meisten Neurone in V4 rea-
gieren jedoch auch auf Attribute wie Form
(z. B. Breite, Länge, Orientierung und Größe; V4
Desimone & Schein, 1987), Bewegungsrich- V4α
tung und Geschwindigkeit eines Reizes und ihr
Antwortverhalten wird durch Aufmerksam-
keitsprozesse beeinflusst (Moran & Desimone,
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1985). Insofern kann davon ausgegangen


werden, dass in V4 vielfältige Verarbeitungs- Abbildung 8-24: Darstellung des V4-Farbkom-
prozesse durchgeführt werden. plexes.
Trotz der Vielzahl der Verarbeitungen, die in
V4 durchgeführt werden, scheint die Farbver- Farben also unabhängig von den Beleuch-
arbeitung die zentrale Aufgabe dieses Gebiets tungsverhältnissen, was im Wesentlichen im
zu sein. Das Areal V4 liegt im und um den Gyrus Farbareal V4 erfolgt, das unabhängig von den
fusiformis. Neuere Bildgebungsstudien haben Beleuchtungsverhältnissen aktiv ist. Neurone
gezeigt, dass es sich nicht um ein „homogenes“ in V1 reagieren nur auf bestimmte Wellenlän-
Areal handelt, das immer gleichsinnig bei der gen in ihren rezeptiven Feldern, wobei sie ihre
Verarbeitung von Farbinformationen reagiert. Aktivität auch verändern, wenn sich die Licht-
Es konnten verschiedene Subareale unterschie- verhältnisse ändern. Demzufolge kann in V1
den werden, die kleine Aktivitätsunterschiede keine Farbkonstanz hergestellt werden.
bei der Farbverarbeitung zeigen. Insofern wird Bereits unilaterale Läsionen in V4 führen zu
derzeit von einem V4-Komplex (oder Farb- Farbwahrnehmungsstörungen, die als Achro-
wahrnehmungskomplex) gesprochen, um die matopsien bezeichnet werden. Hierbei führt
Differenziertheit dieser Region zu betonen. eine Läsion im rechtsseitigen V4 zu einem
Der hintere Teil von V4 ist noch retinotop orga- Farbwahrnehmungsausfall im linksseitigen
nisiert, der vordere (auch als V4α bezeichnet) Gesichtsfeld. Bei bilateralen V4-Läsionen liegt
jedoch nicht (Abb. 8-24). V4α reagiert aller- ein kompletter Farbwahrnehmungsausfall vor.
dings stärker auf Aufmerksamkeitseinflüsse, Obwohl V4 für die Farbwahrnehmung essen-
z. B., wenn Farbinformationen Aufmerksam- ziell ist, sind auch andere Hirngebiete an der
keit geschenkt wird (Bartels & Zeki, 2000). In Farbwahrnehmung beteiligt, insbesondere
Bildgebungsstudien werden homogene Farb- Areale, die Gedächtnisinformationen spei-
felder oder Mondrian-Figuren als Testreize ver- chern oder am Abruf dieser beteiligt sind (z. B.
wendet und entsprechende Durchblutungs- Hippocampus).
zunahmen in V4 registriert.
Der Grund für dieses spezialisierte kortikale
Zentrum ist die Notwendigkeit der Farbkon- 8.4.3. Bewegungswahrnehmung
stanz. Eine rote Tomate bleibt für uns rot, ob
wir sie im Dunkeln oder Hellen sehen. Gleiches Werden bewegte visuelle Reize präsentiert
gilt für den roten Ferrari, auch wenn wir ihn (z. B. Punkte, die sich von einer in die andere
tagsüber oder nachts sehen. Wir kategorisieren Richtung bewegen), nimmt insbesondere in

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8.4.  Einfache und grundlegende Wahrnehmungsleistungen 235

einem Areal im Grenzbereich zwischen unte- Körperbewegungen von anderen Personen


rem Parietal-, hinterem Temporal- und vorde- werden offenbar nicht in diesem Hirngebiet
rem Okzipitallappen die Durchblutung und verarbeitet. Das legen z. B. Studien nahe, bei
neuronale Aktivität zu: im Areal MT, auch V5 denen Reize genutzt wurden, die eher „biolo-
genannt (Abb. 8-25). Diese beim Menschen gisch relevante“ Bewegungen darstellen. Sol-
mittels bildgebender Verfahren festzustellen- che Reize erhält man, indem man z. B. gehende
den Aktivitäten korrespondieren mit älteren Personen von der Seite filmt und an bestimm-
elektrophysiologischen Befunden, die an Pri- ten Stellen des Körpers LED-Leuchten an-
maten gewonnen wurden. In diesen Arbeiten bringt. Wenn nur die LED-Leuchten des ge-
konnte anhand von Einzelzellableitungen in henden Menschen dargeboten werden, dann
Areal MT/V5 gezeigt werden, dass die dort erkennt der Betrachter auch anhand dieser
lokalisierten Neurone spezifisch auf Bewe- wenigen Informationen, ob sie von einem
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gungsreize reagieren. Bilaterale Läsionen in Mann, einer Frau oder einem Kind stammen.
diesem Gebiet führen beim Menschen zu einer Es hat sich gezeigt, dass diese Informationen
Bewegungswahrnehmungsstörung, die als auch von Patienten erkannt werden, die unter
Akinetopsie bezeichnet wird. Patienten mit einer Akinetopsie (aufgrund einer Läsion in
Akinetopsie sind nicht nur unfähig, bewegte V5) leiden.
Objekte wahrzunehmen, sie können sich auch Bildgebende Studien haben ergeben, dass
nicht vorstellen, bewegte Objekte zu sehen. „biologisch relevante“ Bewegungsreize in ei-
Eine Arbeitsgruppe um den Neuropsycho- nem weit verteilten neuronalen Netzwerk
logen Zihl hat als erste eine Patientin beschrie- analysiert werden. Eine zentrale Bedeutung in
ben, die unter einer Akinetopsie aufgrund von diesem Netzwerk haben Gebiete in und um
bilateralen Läsionen in V5 litt (Zihl et al., den Sulcus temporalis superior (STS;
1983). Ihr Wahrnehmungseindruck bei Kon- Abb. 8-26). Dieses Hirngebiet gehört zu den
frontation mit sich bewegenden Reizen war, polymodalen Hirngebieten, die „Zufluss“ aus
dass sie Serien von Standbildern statt kon- vielen Sinnesmodalitäten erhalten, was darauf
tinuierlicher Bewegungsabläufe sah. hinweist, dass dieses Gebiet in die Integration
Das Areal MT/V5 scheint allerdings nur für verschiedener Datenquellen eingebunden ist.
die Verarbeitung von sich bewegenden Ob- Insbesondere der hintere Teil des STS ist in-
jekten spezialisiert zu sein. Visuell analysierte

n
nge
wegu e n
be im e
per tom ung
V5 Kör Pan eweg
ndb
Ha

Abbildung 8-26: Darstellung des Sulcus tempo-


Abbildung 8-25: Areal MT/V5. ralis superior (STS).

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236 8.  Visuelle Wahrnehmung

tensiv in die Analyse biologischer Bewegun- heute ist es trotz großer wissenschaftlicher An-
gen eingebunden. Allerdings erhält der ge- strengungen nicht gelungen, eine künstliche
samte STS Informationen aus dem dorsalen „Objekterkennung“ auf dem gleichen Leis-
und ventralen Informationsweg und aus dem tungsniveau wie beim Menschen nach-
Kleinhirn (Vaina et al., 2001). Offenbar erfor- zubauen. Unser Gehirn hat diesbezüglich im-
dert die Analyse von „biologischen“ Bewe- mer noch einen enormen Leistungsvorsprung.
gungsreizen viele Informationsquellen, was
ein Hinweis auf die Bedeutung von Erfah-
rungseinflüssen sein könnte. 8.5.2. Theoretische Konzepte
Viele der „biologisch relevanten“ Bewegun- zur Erklärung der Objekt-
gen, die im Bereich des STS verarbeitet wer- wahrnehmung
den, sind für die soziale Kommunikation ent-
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scheidend. Typische Beispiele sind Mund- Um 1930 hat der Gestaltpsychologe Werthei-
bewegungen, Gesichtsbewegungen (Mimik), mer grundlegende Wahrnehmungsprinzipien
Körperbewegungen (Pantomime), Augen- beschrieben, nach denen wir bestimmte Reiz-
bewegungen und verschiedene Handbewegun- anordnungen gruppieren und wahrnehmen.
gen. Auch beim Lippenlesen ist der STS akti- Im Folgenden sind die wichtigsten Gestaltge-
viert. Die durch solche Bewegungsreize aus- setze aufgeführt (Abb. 8-27):
gelösten Aktivierungen treten jedoch nie im • Das Gesetz der Nähe besagt, dass Elemente
STS isoliert auf, sondern sind immer mit Akti- mit geringen Abständen zueinander als zu-
vierungen in anderen Hirngebieten verbunden. sammengehörig wahrgenommen werden.
Mittlerweile hat sich gezeigt, dass Bewe- • Mit dem Gesetz der Ähnlichkeit wird aus-
gungsinformationen, die über andere Sinnes- gedrückt, dass einander ähnliche Elemente
modalitäten vermittelt werden, nicht zwin- eher als zusammengehörig erlebt werden
gend auf die „Mitwirkung“ des Areals MT/V5 als einander unähnliche.
angewiesen sind. MT/V5 ist demzufolge ein • Das Gesetz der Kontinuität gibt an, dass
Hirngebiet, das insbesondere für die Analyse die Reize, die eine Fortsetzung vorangegan-
von visuell wahrgenommenen Bewegungen gener Reize zu sein scheinen, als zusam-
spezialisiert ist. mengehörig angesehen werden.
• Das Gesetz der gemeinsamen Bewegung
besagt, dass zwei oder mehr sich gleichzei-
8.5. Objektwahrnehmung tig in eine Richtung bewegende Elemente
als eine Einheit oder Gestalt wahrgenom-
8.5.1. Das Problem der Objekt­ men werden.
wahrnehmung • Mit dem Gesetz der fortgesetzt durch-
gehenden Linie wird zum Ausdruck ge-
Betrachten wir die Umwelt, dann erkennen wir bracht, dass Linien immer so gesehen wer-
Gegenstände, Personen und Tiere. Diese „Ob- den, als folgten sie dem einfachsten Weg.
jekte“ erkennen wir auch, wenn wir sie aus Kreuzen sich z. B. zwei Linien, gehen wir
anderen Perspektiven betrachten, nur einen nicht davon aus, dass die Linien an dieser
Teil von ihnen sehen oder die Beleuchtungs- Stelle einen Knick machen oder unterbro-
bedingungen (z. B. in der Dämmerung und in chen sind.
der Nacht) schlecht sind. Diese bemerkens- • Das Gesetz der Prägnanz beschreibt, dass
werte Fähigkeit, die uns ganz normal er- Gestalten wahrgenommen werden, die sich
scheint, ist ein Wunderwerk der Natur. Bis von ihrer Umgebung durch ein bestimmtes

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8.5. Objektwahrnehmung 237

Gesetz der Ähnlichkeit Gesetz der Nähe Gesetz der guten Gestalt Gesetz der Kontinuität

Abbildung 8-27: Beispiele für Gestaltgesetze.


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Merkmal abheben (Prägnanztendenz). dergrund steht dabei die Frage, wie die Ein-
Hierbei kann eine Tendenz  zur Bildung gangsdaten letztlich zu den Ausgangsdaten
möglichst einfacher Gestalten festgestellt transformiert werden.
werden (= „gute Gestalt“). • Die dritte Ebene wird von Marr als tech-
nische Ebene (implementation level) be-
Der britische Psychologe David Marr (1982) zeichnet. Hier stellt sich die Frage, wie der
hat ein Modell der visuellen Wahrnehmung Algorithmus zur Transformation der Ein-
vorgeschlagen, das noch immer intensiv dis- gangs- zu den Ausgangsdaten physikalisch
kutiert wird. Angewendet wird das Modell ins- bzw. physiologisch realisiert wird.
besondere bei der Konstruktion neuronaler
Netzwerke im Rahmen der künstlichen Nach- In diesem Zusammenhang schlägt Marr einen
bildung menschlicher visueller Wahrneh- vier Stufen umfassenden Prozess vor, der
mung. Für Marr ist die visuelle Wahrneh- zur visuellen Wahrnehmung führt:
mung ein Informationsverarbeitungsprozess, • Zunächst wird ein retinales Bild erstellt, das
bei dem nicht mit Bildern operiert wird, die ja eine Projektion der Außenwelt auf der Re-
bereits auf der zweidimensionalen Netzhaut tina ist.
in elektrische Aktivitätsmuster umgewandelt • Auf der nächsten Ebene folgt ein erster Ent-
werden. Diese elektrischen Aktivitätsmuster wurf (sketch, Skizze), indem Kanten, zu-
repräsentieren die Außenwelt und werden in sammenhängende Flächen und Oberflä-
den visuellen Zentren und im Assoziations- chentexturen nach Art einer Strichzeich-
kortex zu einem Perzept kombiniert. Wir neh- nung erkannt werden. Für diese Skizze
men also das wahr, was unser Gehirn aus den werden Helligkeitsänderungen auf der Re-
elektrischen Entladungen des visuellen Sys- tina analysiert und zur Berechnung heran-
tems interpretiert. Für Marr müssen Fragen gezogen.
auf drei Ebenen geklärt werden, um diesen • Danach wird der 2½25-D-Entwurf erstellt,
Wahrnehmungsprozess zu verstehen: in dem die retinalen Informationen zusam-
• Welchen Zweck hat das Sehen? Was soll es mengefasst werden. Des Weiteren werden
leisten? Diese Ebene bezeichnet Marr als die räumliche Orientierung und die grobe
die Rechenebene (computational level). Tiefe von Oberflächen bestimmt, sodass
• Auf der nächsten Ebene, die Marr als al-
gorithmische Ebene (algorithmic level)
bezeichnet, geht es um die Frage, wie die 25  Mit dieser Zahl soll zum Ausdruck gebracht wer-
Rechenebene erreicht werden soll. Im Vor- den, dass das 3D-Modell noch nicht vollständig ist.

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238 8.  Visuelle Wahrnehmung

ein erstes grobes Bild von der dreidimensio- In diesen Hirngebieten werden wahrschein-
nalen Welt entsteht. lich Berechnungen durchgeführt, die zur Kon-
• Abschließend wird das 3-D-Modell berech- stanz der Objektwahrnehmung beitragen.
net. Aufgrund der Querdisparation (berech- Diese Wahrnehmungskonstanz ist ein bemer-
net aus den beiden retinalen Bildern) erhält kenswert effizienter Mechanismus, dessen
man genaue Informationen über die Tiefe, neurophysiologische Grundlagen bislang nicht
sodass die Wahrnehmung trotz aller Augen- eindeutig geklärt sind. Durch diesen Konstanz-
und Körperbewegungen stabil bleibt. mechanismus gelingt es uns, Objekte zu er-
kennen und wahrzunehmen, auch wenn sich
die Beleuchtungsverhältnisse oder die Blick-
8.5.3. Kortikale Repräsentation positionen verändern. Ein Auto bleibt ein Auto,
der Objektwahrnehmung auch wenn es im Dunkeln wahrgenommen
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oder von vorne oder hinten betrachtet wird.


Im Temporallappen können Hirngebiete un- Im Zusammenhang mit der Objektwahr-
terschieden werden, die in die Verarbeitung nehmung müssen vier Fragen thematisiert
spezifischer Objektkategorien eingebunden werden:
sind. Elektrophysiologische Untersuchungen 1. Wie ist ein Objekt im ventralen Strang neu-
an Affen haben gezeigt, dass einige Zellen des rophysiologisch repräsentiert? Ist ein spezi-
inferotemporalen Kortex nur auf spezifische fisches Objekt durch die Aktivität einiger
Objekte, Hände oder Gesichter ansprechen. weniger Neurone repräsentiert oder codie-
Unter den gesichtsspezifischen Zellen reagie- ren große Neuronengruppen die Objekte
ren einige besonders gut auf frontale oder durch spezifische Aktivitätsmuster inner-
Profilansichten von Gesichtern an (Bruce et halb dieser Neuronenpopulationen (Ein-
al., 1981). Andere Neurone reagieren bevor- zelneuron- vs. Populationscodierung)?
zugt auf Gesichtsausdrücke, einzelne Ge- 2. Wie stellen die Neurone im ventralen Strang
sichtselemente (Nase oder Augen) oder Ele- die Wahrnehmungskonstanz her? In ande-
mente wie zwei Punkte und einen Strich ren Worten, wie gelingt es den Neuronen im
(Kobatake & Tanaka, 1994). In bildgebenden inferioren Temporallappen, die Objekte un-
Untersuchungen beim Menschen hat sich abhängig von unterschiedlichen Beleuch-
insbesondere der laterale Okzipitalkortex tungs- und Umgebungsbedingungen oder
(LOC) als wichtiges Hirngebiet erwiesen, das unabhängig von unterschiedlichen Blick-
in die Objektwahrnehmung eingebunden ist. winkeln immer noch als ein und dasselbe
So konnte z. B. gezeigt werden, dass der LOC Objekt zu erkennen (Konstanzproblem)?
an der Verarbeitung der Objektgröße und von 3. Hängt die Objekterkennung davon ab, ob
zweidimensionalen Mustern sowie an der einzelne Teile des Objekts erkannt und
Analyse von bekannten Objekten beteiligt ist dann im nächsten Schritt zum Gesamt-
(Grill-Spector & Malach, 2004). In den daran objekt zusammengesetzt werden? Oder
anschließenden Gebieten des inferioren Tem- werden Objekte ganzheitlich (holistisch)
porallappens (IT) werden grob drei Teilgebiete erfasst (Merkmalsbezogene vs. holisti-
unterschieden: posterior-inferiorer Tempo- sche Verarbeitung)?
rallappen (PIT), zentral-inferiorer Temporal- 4. Existieren kategoriespezifische Verarbei-
lappen (CIT) und anterior-inferiorer Tempo- tungszentren im ventralen Informations-
rallappen (AIT). In diesen drei Subarealen strom, die für die Verarbeitung spezifischer
nimmt nach anterior die Komplexität der Ob- Objektkategorien spezialisiert sind (Kate-
jektwahrnehmung zu (Kreiman et al., 2000). goriespezifität)?

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8.5. Objektwahrnehmung 239

Einzelneuron- vs. Populationscodierung Solche Arbeiten lassen zunächst vermuten,


dass einige wenige Neurone für die Codierung
Die Frage, welchen neurophysiologischen von Objekten ausreichen. Aber was würde
Code der ventrale Strang nutzt, um Objekte zu passieren, wenn diese spezifischen Neurone
codieren, haben bereits Reddy und Kanwisher ausfielen? Würde das bedeuten, dass die
(2006) aufgeworfen. Eine These lautet, dass durch diese Neurone codierten Objekte nicht
einige wenige Neurone nur auf spezifische mehr wahrgenommen würden? Im Grunde
Objekte reagieren. Angenommen, alle Neu- wäre die Strategie, mit wenigen Neuronen Ob-
rone im IT und LOC würden einzeln durch- jekte neuronal zu codieren, ungünstig, denn
nummeriert und jedes Neuron bekäme eine das Gehirn wäre anfällig für Wahrnehmungs-
bestimmte Nummer zugewiesen. Dann ist störungen. Außerdem ist nur schwer vorstell-
vorstellbar, dass das Neuron 900 nur auf Bir- bar, dass bei den vielen Objekten, die der
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nen anspricht, während das Neuron 450 nur Mensch in der Lage ist wahrzunehmen, für
auf Orangen reagiert. Dieser extreme Fall, jedes Objekt spezifische Neurone existieren.
dass nur jeweils ein Neuron auf ein spezi- Bei der Interpretation dieser Arbeiten muss
fisches Objekt reagiert, wird oft mit der Meta- zunächst berücksichtigt werden, dass nur eine
pher der „Großmutterzelle“ beschrieben. Ge- begrenzte Anzahl von Neuronen in den jewei-
mäß dieser Metapher soll im ventralen Strang ligen Studien simultan untersucht werden
ein Neuron lokalisiert sein, das darauf spezia- konnte, sodass die Forscher nur einen be-
lisiert ist, das Bild der Großmutter zu erken- schränkten Einblick in die neurophysiologi-
nen. Vorstellbar ist auch eine abgeschwächte schen Aktivitätsmuster erhielten. Des Weite-
Version dieses Modells: Eine Gruppe von Neu- ren muss bedacht werden, dass in diesen Un-
ronen reagiert spezifisch oder vorrangig auf tersuchungen nur relativ wenige Objekte
ganz bestimmte Reizkategorien. In diesem präsentiert werden konnten, sodass es durch-
Sinn würden die Neurone 900–1000 nur auf aus möglich ist, dass die spezifische Auswahl
Birnen und die Neurone 450–500 nur auf der Bilder zu Zufallsbefunden geführt hat.
Orangen ansprechen. Eine neuere Arbeit hat allerdings gezeigt, dass
Eine Reihe von Einzelzellableitungen an die Aktivität einiger Neurone im inferioren
Affen sowie Arbeiten mit intrakortikalen Ab- Temporallappen für das Erkennen bestimm-
leitungen bei Patienten lassen vermuten, dass ter Objekte essenziell ist (Afraz et al., 2006).
tatsächlich Zellen existieren, die spezifisch auf Die Autoren haben gezeigt, dass die externe
bestimmte Reizkategorien reagieren. So sind Stimulation bestimmter Neurone, die für die
z. B. bei Experimenten mit Affen Neurone im Codierung von Gesichtern zuständig sind, bei
IT identifiziert worden, die spezifisch auf der Präsentation von ambigen Bildern dazu
Hände, Gesichter und Objekte reagieren führt, dass die Probanden diese mehrdeutigen
(Gross et al., 1969, 1972). Eine spektakuläre Bilder eher als Gesichter wahrnehmen.
neuere Arbeit hat mit intrakortikalen Elektro- Eine Alternative zur Einzelneuronkodie-
den bei epileptischen Patienten gearbeitet rung ist die Populationscodierung. Das Prin-
(Quiroga, 2012). In dieser Arbeit konnten die zip besteht darin, dass das spezifische Aktivi-
Forscher unter anderem Zellen identifizieren, tätsmuster einer großen Gruppe von Neuronen
die nur auf Bilder reagierten, auf denen die die einzelnen Objekte codiert. Angenommen,
Schauspielerin Jennifer Aniston zu sehen war, der IT und LOC bestünden aus 1 Million Neu-
und zwar unabhängig davon, wie groß das Bild rone, dann würde das spezifische Aktivitäts-
war und von welchem Blickwinkel aus auf das muster in diesen Neuronen jedes spezifische
Gesicht geschaut wurde. Objekt der Außenwelt codieren. Dies eröffnet

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240 8.  Visuelle Wahrnehmung

die Möglichkeit, sehr viele unterschiedliche die Verarbeitung der Wahrnehmungskonstanz


Aktivierungsmuster zu generieren und dem- eingebunden sein. In bildgebenden Unter-
zufolge auch sehr viele Objekte zu codieren. suchungen wurde bei solchen Präsentationen
Das wesentliche Problem dieser Codierungs- insbesondere der LOC als Hirngebiet identifi-
art liegt darin, dass nur schwer vorstellbar ist, ziert, das visuell präsentierte Objekte un-
wie dieses große Netzwerk an andere Netz- abhängig von Größe, Beleuchtungsbedingung
werke angekoppelt sein soll. und Blickwinkel zu verarbeiten scheint (Grill-
Die vorliegenden Befunde legen nahe, dass Spector & Malach, 2004). Einige Arbeiten ha-
eine Kombination aus beiden Codierungsstra- ben gezeigt, dass die Reaktionen im LOC na-
tegien besteht. Vor allem die Arbeiten mit bild- hezu identisch sind, wenn Fotos oder Strich-
gebenden Verfahren haben gezeigt, dass ins- zeichnungen von Objekten präsentiert werden
besondere im IT Neuronengruppen existieren, (Kourtzi & Kanwisher, 2000).
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die für bestimmte Objekte sensibel sind. Mög- Eine andere vielfach untersuchte Frage
licherweise werden innerhalb dieser speziali- lautet, wie es dem Wahrnehmungssystem ge-
sierten Module die Neurone im Sinne einer lingt, Objekte unabhängig vom Blickwinkel
Populationscodierung organisiert. Diese Mo- wahrzunehmen. Im Prinzip werden zwei Er-
dule könnten mit anderen Modulen über Bün- klärungen vorgeschlagen: die blickwinkelinva-
del von intrakortikalen Verbindungen kom- riante und die blickwinkelabhängige Reprä-
munizieren. sentation. Bei der blickwinkelinvarianten
Repräsentation erfolgt die neuronale Ver-
arbeitung unabhängig vom aktuellen Blick-
Wahrnehmungskonstanz
winkel. Diese Überlegung basiert auf dem
Die Wahrnehmungskonstanz ist eine bemer- Modell David Marrs (1982), der annahm, dass
kenswerte Fähigkeit des Wahrnehmungssys- das visuelle System aus dem dreidimensiona-
tems: Objekte werden unabhängig davon er- len Bild zunächst eine grundlegende Skizze
kannt, unter welchen Beleuchtungsbedingun- (primal sketch) generiert, die im Wesentlichen
gen und Blickwinkeln sie gesehen werden. die Graustufen und Kontraste herausarbeitet,
Auch die Position auf der Retina, auf der das und anhand dieser Informationen sowie unter
Objekt zunächst abgebildet wird, ist letztlich Nutzung der Gestaltgesetze eine einfache Ob-
unerheblich für die Objektwahrnehmung. Wie jekterkennung ermöglicht. Im weiteren Ver-
diese Wahrnehmungsleistung neurophysiolo- lauf soll dann eine vollständige dreidimensio-
gisch erfolgt, ist noch nicht eindeutig geklärt. nale Repräsentation (3-D representation) des
Ein häufig in diesem Zusammenhang genutz- Objekts erschlossen werden, die unabhängig
ter Untersuchungsansatz ist die Adaptations- vom Blickwinkel sein soll. Das kann man sich
technik. Dieser Technik liegt die Erkenntnis so vorstellen, dass durch diesen Transformati-
zugrunde, dass bei wiederholter Darbietung onsprozess die Objekte unabhängig von Be-
desselben Objekts die an der Objektverarbei- leuchtungsbedingungen, Größe und Blick-
tung beteiligten Neurone ihre Aktivität ver- winkel in eine bestimmte 3-D-Repräsentation
ringern. Dies ist die Adaptation. Werden die überführt werden, was offenbar in Neuronen-
gleichen Objekte wiederholt in unterschiedli- gruppen im LOC erfolgt.
chen Größen, Beleuchtungsbedingungen und Es existieren jedoch auch Befunde, die mit
aus unterschiedlichen Perspektiven präsen- dieser Vorstellung nicht kompatibel sind und
tiert, adaptieren einige der in die Wahrneh- eine blickwinkelabhängige Repräsenta-
mung dieser Objekte eingebundenen Neu- tion unterstützen. Eine Reihe von Verhaltens-
rone. Die adaptierenden Neurone könnten in untersuchungen hat gezeigt, dass Objekte am

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8.5. Objektwahrnehmung 241

schnellsten und besten erkannt werden, wenn üblichen Perspektiven präsentiert wurden. Bei
sie in der üblichen Position präsentiert wer- diesen Patienten ist offenbar die räumliche
den. Die Reaktionszeiten und Trefferraten Analyse und die damit verbundene Entschlüs-
können durch Übung und häufige Präsenta- selung der räumlichen Zuordnung von Raum-
tion verbessert werden. Bildgebende Studien achsen gestört (Agnosie für ungewöhnliche
haben gezeigt, dass einige Gebiete im IT Perspektiven). Werden Objekte in üblichen
bei Adaptationsversuchen eher im Sinne der Perspektiven präsentiert, dann können diese
blickwinkelinvarianten oder -abhängigen Re- Patienten die Objektwahrnehmungsanalysen
präsentation reagieren. Viele Gebiete des des ventralen Strangs nutzen und erkennen die
ventralen Strangs im IT reagieren im Sinne Objekte problemlos.
der blickwinkelabhängigen Modelle. Am
schwächsten war die Blickwinkelabhängigkeit
Konfigurale vs. merkmalsbezogene
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im linksseitigen Gyrus fusiformis, während


Wahrnehmung
sie im rechtsseitigen Gyrus fusiformis und im
LOC ausgeprägt war. Möglicherweise werden Eine weitere noch nicht endgültig gelöste
im ventralen Strang beide Strategien genutzt. Frage lautet, ob die Einzelkomponenten bzw.
Denkbar ist auch, dass abhängig von Objekt ihre Merkmale (merkmalsbezogen) oder die
und Situation zwischen beiden Strategien ge- Gesamtheit aller Komponenten und ihre An-
wählt werden kann. ordnung (konfigural) analysiert werden. Ob-
Neben den oben dargestellten Ansätzen wohl Objekte letztlich als Gesamtheit wahr-
wird diskutiert, ob die Wahrnehmungskon- genommen werden, kann man sie sich als eine
stanz durch strukturelle oder holistisch-räum- Ansammlung von Einzelmerkmalen vorstel-
liche Verarbeitungsstrategien ermöglicht wird. len. Ein Haus besteht aus einer Tür, Fenstern,
Bei einer strukturellen Analyse wird die einem Schornstein und Wänden. Auch ele-
Struktur (also die Form oder der grundsätzli- mentare Teile lassen sich identifizieren und
che Aufbau) eines Objekts erkannt. Dabei kön- beim Betrachten des Hauses können unter-
nen auch verbale Strategien genutzt werden. schiedliche große Vertikalen und Horizonta-
Diese Art der Analyse wird eher im ventralen len erkannt werden. Die Frage ist, ob bei der
Strang angewendet. Bei der holistisch-räum- Wahrnehmung des Hauses diese Einzelmerk-
lichen Analyse werden zunächst räumliche male zunächst verarbeitet und dann das Ge-
Merkmale wie z. B. vertikale, horizontale oder samtbild daraus konstruiert wird oder ob eher
diagonale Achsen extrahiert. Anhand dieser die Anordnung der Einzelmerkmale analysiert
Merkmale soll dann die Objektwahrneh- und daraus das Gesamtbild erschlossen wird.
mung eingeleitet werden. Diese Art der Ana- Es hat sich gezeigt, dass beide Strategien ge-
lyse wird eher über den dorsalen Strang ver- nutzt werden. Anhand von Läsionsstudien und
mittelt. Verschiedene Untersuchungen mit Arbeiten mit bildgebenden Verfahren konnte
Patienten, die unter visuellen Wahrnehmungs- festgestellt werden, dass die linke Hemisphäre
störungen (Agnosien) leiden, und bildgebende (und hier insbesondere der LOC und der IT) in
Untersuchungen konnten bestätigen, dass die Verarbeitung von lokalen Informationen
beide Analysen angewendet werden. So wur- eingebunden ist, während die rechte Hemi-
den z. B. Patienten mit Läsionen im rechtssei- sphäre eher mit der Verarbeitung von globalen
tigen Parietallappen beschrieben, die Objekte Informationen beschäftigt ist. Insofern ist fest-
nicht erkennen konnten, die in ungewöhnli- zuhalten, dass der linke ventrale Strang eher in
chen Perspektiven präsentiert wurden. Sie die Verarbeitung von lokalen und der rechte
konnten jedoch Objekte erkennen, wenn sie in ventrale Strang eher in die Verarbeitung von

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242 8.  Visuelle Wahrnehmung

H H O O S S Patienten mit Läsionen in der rechten Hemi-


H H O O S S
sphäre weisen einen reduzierten Inversions-
H H O O S S
H H H H HH O O O OOO SS S SS S effekt für Gesichter auf. Auch viele Studien mit
H H O O S S gesunden Probanden deuten darauf hin, dass
H H O O S S
H H O O S S
die rechte Hemisphäre (und hier der ventrale
Strang) für die Gesichtsverarbeitung dominant
H H H H HH O O O O OO SSS SSS ist, allerdings nur dann, wenn die Gesichts-
H H O O S S
H H O O S S
informationen aufrecht präsentiert werden.
H H O O S S Bei invertierter Präsentation der Gesichter
H H O O S S verschwindet die rechtshemisphärische Domi-
H H O O S S
nanz (Leehey et al., 1978).
HHHHHH O O O O OO S S S S SS
Inversionseffekte sind nicht nur für Gesich-
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HHHH OOOO SSSS ter, sondern auch für andere Reize festgestellt
H H O O S S
H O S worden. Der Inversionseffekt hängt davon ab,
H O S ob die Testpersonen Erfahrungen mit den
HHHH OOOO SSSS
H O S Testreizen haben. Je mehr Erfahrung sie mit
H O S
HH OO SS den Reizen haben, desto stärker sind die In-
HHHH OOOO SSSS
versionseffekte, wie für Hundebilder und
Abbildung 8-28: Beispiel für Reize, mit denen die Fingerabdrücke gezeigt werden konnte (Bu-
Verarbeitung von lokalen und globalen Informa- sey & Vanderkolk, 2005). Kinder scheinen zu
tionen untersucht werden kann. Der große Buch- Beginn ihrer Entwicklung eher konfigurale
stabe, der aus vielen kleinen zusammengesetzt Strategien zu nutzen. Je ausgeprägter ihre Er-
ist, repräsentiert die globale Information, die vie-
fahrungen in der Erkennung von Gesichtern
len kleinen Buchstaben die lokale Information. Die
sind, desto schwächer werden die Aktivierun-
lokale Information wird eher im linksseitigen
gen im rechtsseitigen Gyrus fusiformis bei
ventralen Strang verarbeitet und die globale im
rechtsseitigen ventralen Strang.
der Präsentation von invertierten Gesichtern­
(Passarotti et al., 2007).
Fassen wir zusammen: Wir nutzen so-
globalen visuellen Informationen eingebun- wohl konfigurale wie auch merkmalsbezo-
den ist. gene Strategien bei der Objektwahrnehmung.
Die konfigurale Verarbeitung wird ins- Konfigurale Strategien werden v. a. bei Reizen
besondere für Objekte genutzt, mit denen wir angewendet, mit denen bereits Erfahrungen
besonders vertraut sind. Dies lässt sich ein- gemacht wurden. Konfigurale Informationen
drücklich mit dem Inversionseffekt darstel- werden vorrangig im rechten ventralen Strang,
len. Wird ein Bild invertiert präsentiert, ist die merkmalsbezogene Informationen im links-
konfigurale Anordnung der Einzelelemente seitigen ventralen Strang verarbeitet.
verändert, während die lokale Information
unbeeinträchtigt ist. Werden z. B. Gesichtsbil-
Kategoriespezifische Wahrnehmung
der invertiert dargeboten, sind die Gesichter
schlechter zu erkennen. Häuser oder Autos Derzeit wird intensiv diskutiert, ob die Objekt-
werden invertiert immer noch gut erkannt. wahrnehmung kategoriespezifisch organi-
Gesichter werden demzufolge eher konfigural siert ist. Damit ist gemeint, dass bestimmte
und Häuser und Autos eher lokal merkmals- Objektkategorien von spezialisierten Modulen
bezogen verarbeitet. Auch hier ist ein funktio- analysiert werden. In der strengen Definition
neller Hemisphärenunterschied festzustellen. soll ein bestimmtes Wahrnehmungsmodul

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8.5. Objektwahrnehmung 243

ausschließlich eine bestimmte Reizkategorie die Unterscheidung von ähnlichen Objekten,


verarbeiten. In der abgeschwächten Variante sondern eher um das Erkennen und Unter-
dieses Modells soll dieses spezialisierte Wahr- scheiden verschiedener Objekte. Einige Fall-
nehmungsmodul Reize einer bestimmten Ka- berichte lassen vermuten, dass Prosopagno-
tegorie bevorzugt, jedoch nicht ausschließlich sien nicht nur Ausfälle der Gesichtserkennung
verarbeiten. Als Alternative hierzu werden repräsentieren. Zum Beispiel wird von einem
Netzwerkmodelle diskutiert, in denen die ein- Patienten (einem Bauern) berichtet, der ne-
zelnen Module in ein Netzwerk eingebunden ben seiner Prosopagnosie für menschliche
sind (z. B. Populationscodierung), wobei das Gesichter auch nicht mehr in der Lage war,
spezifische Aktivierungsmuster dieses Netz- die Kühe seiner Herde auseinanderzuhalten
werks die jeweiligen Objekte repräsentiert. (Bornstein et al., 1969). Ein anderer Patient
Bildgebungsstudien, aber auch Arbeiten mit (ein Ornithologe) konnte Vögel nicht mehr
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Patienten mit spezifischen Hirnstörungen ha- bestimmen (Bornstein, 1963). Es existieren


ben Hirngebiete identifiziert, in denen mögli- jedoch auch Beschreibungen von Patienten,
cherweise kategoriespezifische Verarbeitun- die trotz Prosopagnosie Objekte einer Kate-
gen erfolgen: die parahippocampale Region gorie (z. B. Autos) unterscheiden konnten
(parahippocampal place area, PPA), die extra- (Sergent & ­Signoret, 1992).
striäre Körperregion (extrastriate body area, Des Weiteren wird postuliert, dass neben
EBA) und das Gesichtsareal im Gyrus fusifor- dem FFA das okzipitale Gesichtsareal (OFA),
mis (fusiform face area, FFA). das posterior zum FFA im Okzipitalkortex lo-
kalisiert ist, in die Verarbeitung von Gesichts-
Gesichtswahrnehmung bildern eingebunden ist (Pitcher et al., 2011;
Über die Frage, ob Gesichtswahrnehmung et- Abb. 7-24). Die bislang hierzu publizierten
was Besonderes ist, wird schon lange dis-
kutiert. Fest steht, dass bei Läsion eines be- lateraler okzipitaler
stimmten Bereichs des Gyrus fusiformis (v. a. Kortex Gyrus fusiformis
der rechten Hemisphäre) die Betroffenen Ge- (fusiform face area, FFA)

sichter nicht mehr erkennen. Dieses neuro-


psychologische Syndrom wird als Prosopa-
gnosie bezeichnet.
Wenn der rechtsseitige Gyrus fusiformis
(auch fusiformes Gesichtsareal genannt) aus-
schließlich und derart prominent für die Ge-
sichtswahrnehmung spezialisiert ist, dann ist
Gyrus parahippocampalis
das ein Beleg für eine kategoriespezifische (parahippocampal place area, PPA)
Wahrnehmung. Es werden jedoch auch Al-
ternativüberlegungen diskutiert. Eine Dis- Abbildung 8-29: Basale Ansicht des Gehirns mit
Blick auf die linksseitige Hemisphäre. Der Gyrus
kussionslinie thematisiert, ob die Prosopa-
fusiformis und der benachbarte Gyrus parahippo-
gnosie nicht eher eine Störung der Binnen-
campalis sind gesondert dargestellt. Auf dem
kategorie-Wahrnehmung ist. Denn wenn von
Gyrus fusiformis ist ein Teilbereich für die Ge-
einer Gesichtswahrnehmungsstörung gespro- sichtswahrnehmung spezialisiert (fusiformes Ge-
chen wird, dann wird darunter in der Regel sichtsareal, fusiform face area, FFA). Auf dem Gy-
eine Störung in der Unterscheidung zwischen rus parahippocampalis ist ein Teilbereich für das
zwei oder mehr Gesichtern verstanden. Bei der Erkennen von Szenen und Objekten spezialisiert
Objektwahrnehmung geht es ja weniger um (parahippocampal place area, PPA).

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244 8.  Visuelle Wahrnehmung

Studien lassen vermuten, dass dieses Hirn- Potenzial – die sogenannte N170-Komponente –
gebiet insbesondere an der Detailanalyse von mit einer Dominanz über rechtsseitigen parie-
Gesichtern, z. B. beim Erkennen der Nase, der tookzipitalen Elektroden (Bentin et al., 2006).
Ohren und des Mundes, beteiligt ist. Es wird Bei Patienten mit einer kongenitalen Prosopa-
auch vermutet, dass das OFA auf der ersten gnosie sind die N170-Komponenten nach Prä-
hierarchischen Stufe – noch vor dem FFA – in sentation von Gesichtern und Objekten iden-
die Gesichtsverarbeitung eingreift. Demnach tisch, während sie bei gesunden Probanden
sollen zunächst Gesichtsteile im OFA erkannt nach der Präsentation von Gesichtsbildern
werden, bevor sie zu einem Gesamtbild zu- deutlich vergrößert sind (Abb. 8-30; Kress &
sammengefasst werden. Daum, 2003).
Untersuchungen an gesunden Probanden Neurochirurgischen Patienten wurden Elek-
mittels bildgebender und elektrophysiologi- troden in den links- und rechtsseitigen Gyrus
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scher Verfahren haben weitere Einblicke in die fusiformis eingeführt, um die Aktivität dieser
kortikale Organisation der Gesichtswahrneh- Hirngebiete nach der Präsentation unter-
mung erbracht. Eingehend wurden evozierte schiedlicher Reize zu messen (Allison et al.,
Potenziale nach Präsentation von Gesichtsbil- 1994). Präsentiert wurden Bilder von Gesich-
dern gemessen. Typischerweise zeigt sich ca. tern und Autos in normaler Orientierung oder
160–200 ms (in der Regel nach 170 ms) nach invertiert. Circa 200 ms nach der Präsenta-
der Präsentation von Gesichtern ein typisches tion konnten große negative ereignisbezogene

A) B) C)
junge Kontrollpersonen Patient SO
(µV) (µV)
–10 –10
14
300 12
Differenz N170-Amplitude (µV)

(ms) (ms)
10
Gesichter bzw. Häuser

8
6
10 10 4
2
ältere Kontrollpersonen Patient GH 0
(µV) (µV) –2
–10 –10 –4
T5
–6 T6
–8
(ms) (ms) BS HN SL SH FB BK AS HA GH SO
Kontrollpersonen Patienten

Gesichter
10 10
Objekte

Abbildung 8-30: N170-Potenziale (gemessen an der temporalen Elektrode T6 über der rechten Hemi-
sphäre) bei gesunden Kontrollpersonen und zwei Patienten (SO und GH) mit einer kongenitalen Proso-
pagnosie. (A) Die N170-Komponenten nach Präsentation von Gesichtern sind bei gesunden Probanden
deutlich größer (durchgezogene Linie) als nach der Präsentation von Objekten (gestrichelte Linie). (B) Bei
den beiden Patienten unterscheiden sich die N170-Komponenten für Gesichter und Objekte nicht. (C) Der
Unterschied der N170-Amplituden für Gesichter und Objekte ist bei allen gesunden Probanden deutlich
und auf der rechten Hemisphäre größer (dunkle Balken). Bei den beiden Patienten ist die N170-Kom-
ponente untypisch für Objekte größer als für Gesichter (Patient GH) oder es ist kein Unterschied fest-
stellbar (Patient SO; nachgezeichnet nach Kress & Daum, 2003).

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8.5. Objektwahrnehmung 245

intrakortikale Potenziale gemessen werden von Gesichtern und Autos konfigural verarbei-
(N200-Komponente). Die N200 nach Präsenta- tet, wobei die Verarbeitung von Gesichtern
tion von Gesichtsbildern war für den rechts- eher rechtshemisphärisch erfolgt.
seitigen Gyrus fusiformis deutlich vergrößert, Die Lokalisation der N170-Komponente er-
während Bilder von Gesichtern und Autos im gibt konsistent Quellen im Gyrus fusiformis
linksseitigen gyrus fusiformis N200-Komponen- oder im LOC. Bildgebende Arbeiten unter Ver-
ten evozierten, die in etwa gleich groß waren. wendung der PET- und fMRT-Technik zeigen,
Die invertierten Präsentationen evozierten auf dass insbesondere der rechtsseitige Gyrus fu-
beiden Hemisphären schwache oder keine siformis in die Gesichtswahrnehmung ein-
N200-Komponenten. Offenbar werden Bilder gebunden ist. Die Aktivierungen im linksseiti-

Gyrus fusiformis
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2
1
Amplitude (μV)

N200

Gyrus temporalis inferior

Gesichter
+ Autos
Gesichter (invertiert)
N200 50 μV Autos (invertiert)

0 400 800
Zeit in Millisekunden

Abbildung 8-31: N200-Reaktionen im (1) linksseitigen und (2) rechtsseitigen Gyrus fusiformis
nach Präsentation von Gesichtsbildern und Autobildern. Diese Bilder wurden in der normalen Orien-
tierung oder invertiert präsentiert. Man erkennt nur nach der Präsentation der Bilder in der normalen
Orientierung deutliche N200-Komponenten. Für die invertiert präsentierten Bilder sind kaum messbare
N200-Komponenten festzustellen. Im rechtsseitigen Gyrus fusiformis (2) ist die N200-Komponente bei
Bildern von Gesichtern deutlich größer als nach Präsentation von Autobildern (nachgezeichnet nach
Allison et al., 1994).

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246 8.  Visuelle Wahrnehmung

gen Gyrus fusiformis sind hingegen deutlich typischerweise beteiligt sind, müssen wir den
schwächer. In großen Gruppenstudien, bei Einfluss der Expertise kontrollieren.
denen die Aktivitäten über viele Versuchsper- Das ist in einer Reihe von Untersuchungen
sonen gemittelt werden, sind auch auf der lin- durchgeführt worden. Autoexperten (Auto-
ken Hemisphäre Aktivierungen im Gyrus fusi- verkäufer) und Vogelexperten (Ornithologen)
formis zu erkennen. Grundsätzlich ist jedoch wurden Bilder von Autos, Vögeln und Gesich-
der rechtsseitige Gyrus fusiformis stärker in tern präsentiert, während mittels fMRT die
die Gesichtswahrnehmung eingebunden. Durchblutung im Gyrus fusiformis gemessen
Auch Untersuchungen mit gesunden Pro- wurde. Die Autoexperten zeigten bei der Prä-
banden gehen der Frage nach, ob die N170- sentation von Autobildern starke Durchblu-
Komponente, die intrakortikale N200-Kom- tungen im Gyrus fusiformis, während die Vo-
ponente und die Aktivierungen des Gyrus gelexperten bei der Präsentation von Vogelbil-
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fusiformis typisch für Gesichtswahrnehmun- dern ebenfalls starke Durchblutungszunahmen


gen sind oder ob der Gyrus fusiformis eher für im Gyrus fusiformis aufwiesen. Andererseits
die Binnenkategorie-Wahrnehmung speziali- konnten bei Vogelexperten keine Durchblu-
siert ist. Diese Wahrnehmung basiert auf der tungssteigerungen im Gyrus fusiformis fest-
Analyse von kleinen Unterschieden der prä- gestellt werden, wenn sie Autobilder dar-
sentierten Bilder, die im Grunde sehr ähnlich geboten bekamen. Ebenso reagierte der Gyrus
sind. Stellen Sie sich vor, Sie würden aufgefor- fusiformis nicht, wenn die Autoexperten Vo-
dert, ein Gesicht mit einem Blumenstrauß zu gelbilder sahen. Die Reaktionen auf Gesichts-
vergleichen. Das wird Ihnen einfacher gelin- bilder waren bei beiden Gruppen ähnlich stark
gen als ein Vergleich von zwei Gesichtern und unterschieden sich nicht von den Durch-
zweier junger Models. Die beiden Modelge- blutungszunahmen, die bei Nichtexperten be-
sichter werden sehr ähnlich sein und es wird obachtet wurden (Gauthier et al., 2000). Al-
ihnen deutlich schwerer fallen, beide Gesich- lerdings war bei den Experten ein größeres
ter auseinanderzuhalten. Insofern ist der Ver- Gebiet im IT aktiviert, das weit über den Gyrus
gleich innerhalb einer Kategorie grundsätzlich fusiformis hinausgeht. Der Gyrus fusiformis
anders und vielfach schwerer als ein Vergleich ist im Übrigen ein recht großer Gyrus, der sich
zwischen Kategorien. Es ist daher gut vorstell- vom Okzipitalkortex in den Temporallappen
bar, dass beide Vergleiche unterschiedliche entfaltet. Auf diesem Gyrus ist eine Reihe von
neuronale Netzwerke beanspruchen. Es mag unterschiedlichen Verarbeitungsmodulen lo-
auch sein, dass wir häufiger in unterschiedli- kalisiert, die nicht direkt in die Gesichtsver-
che Gesichter geschaut haben. Wir schauen arbeitung eingebunden sind, z. B. die Farb-
tagtäglich in Gesichter anderer Menschen, areale V4 und V4α.
weil wir Gesichter bzw. Gesichtsausdrücke Der Gyrus fusiformis ist nicht das einzige
nutzen, um nonverbal unsere Verhaltensinten- Hirngebiet, das in die visuelle Gesichtsver-
tionen zu demonstrieren. Aber wie häufig arbeitung eingebunden ist. Es lässt sich viel-
schauen Sie sich eine Blume oder eine Kanne mehr ein Netzwerk mit verschiedenen Mo-
an? Wahrscheinlich deutlich weniger häufig. dulen ausmachen, in dem jedes Modul seinen
Insofern kann man davon ausgehen, dass wir spezifischen Beitrag zur Gesichtsanalyse leis-
eine Art von Expertenwissen im Hinblick auf tet (Haxby et al., 2000; Abb. 8-32). Unterschie-
die Gesichtswahrnehmung entwickelt haben. den wird ein Kernsystem (core system) von ei-
Wenn wir also die psychologischen und neuro- nem erweiterten System (extended system).
physiologischen Prozesse herausarbeiten wol- Das Kernsystem umfasst den inferioren Okzi-
len, die bei der Wahrnehmung von Gesichtern pitalkortex, den Gyrus fusiformis (FFA), die

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8.5. Objektwahrnehmung 247

Erweitertes System – Interaktion mit


anderen Verarbeitungsmodulen

Sulcus intraparietalis
räumlich gerichtete Aufmerksamkeit
Kernsystem – visuelle Analysen

auditorischer Kortex
Sulcus temporalis superior prelexikalische Sprachwahrnehmung
Bewegungen im Gesicht
Gyrioccipitalis Augenblinzeln, Lippenbewegung
inferior Amygdala, Insel, limbisches
frühe Wahrnehmung System
lateraler Gyrus fusiformis Emotionen
der Mimik unveränderliche Aspekte
des Gesichts, Einzigartigkeit
anteriorer Temporalpol
okzipitales Gesichtsareal persönliche Identität, Name,
biografische Informationen
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Einzelmerkmale des Gesichts

Limbisches System

Abbildung 8-32: Unterschiedliche Hirngebiete, die an der visuellen Analyse von Gesichtern beteiligt sind
(nach Haxby et al., 2000).

okzipitale Gesichtsregion (occipital face area, Generierung von Mimik auftreten. Das kann
OFA) und den Sulcus temporalis superior z. B. das Hochziehen der Lippen zu einem Lä-
(STS). Zum erweiterten System werden der in- cheln, das Schließen der Augen, das Rümpfen
traparietale Sulcus (IPS), der auditorische Kor- der Nase, aber auch das Formen von Sprach-
tex, das limbische System und der anteriore lauten sein. Auch die Analyse der Augenbewe-
Temporallappen mit Temporalpol gezählt. gungen kann zu dieser Merkmalsgruppe ge-
Der inferiore Okzipitallappen ist mit den zählt werden. Diese Analysen finden im Sulcus
frühen Verarbeitungsschritten betraut und ana- temporalis superior statt. Im erweiterten Sys-
lysiert elementare Merkmale, die für die Ge- tem werden die im Kernsystem analysierten
sichtswahrnehmung von Bedeutung sind (z. B. Gesichtsinformationen mit den Emotionen
Kreise, Striche, Balken und die Orientierung (über das limbische System), mit räumlichen
von Balken). Im nächsten Schritt erfolgt (wahr- Analysen (IPS), mit den Sprachzentren (audito-
scheinlich parallel) die Analyse der invarianten rischer Kortex) und mit Personeninformatio-
und der sich ändernden Gesichtsmerkmale. nen (Temporalpol) in Verbindung gebracht.
Die invarianten Merkmale werden im Gyrus
fusiformis analysiert. Es handelt sich um die Objektwahrnehmung
Merkmale, die ein Gesicht grundsätzlich aus- Nicht nur Bilder von Gesichtern werden in
machen (z. B., dass senkrecht unter zwei Augen spezialisierten Hirngebieten verarbeitet, son-
eine Nase angeordnet ist). Sich ändernde Merk- dern auch Bilder von Landschafts- und Stadt-
male sind jene, die im Zusammenhang mit der szenen, von menschlichen Körpern, Tieren,

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248 8.  Visuelle Wahrnehmung

von Häusern oder Werkzeugen. Ein Beispiel Landschafts- und Stadtszenen werden eher
wurde von der Arbeitsgruppe um James Haxby im Gyrus parahippocampalis verarbeitet,
publiziert (Chao et al., 1999). Sie zeigten, dass einem Hirngebiet, das auch als Parahippo-
der laterale Bereich des Gyrus fusiformis campal place area (PPA) bezeichnet wird
Bilder von Gesichtern und Tieren verarbeitet, (Abb. 8-29). Im PPA werden insbesondere die
während der mesiale Teil eher in die Analyse räumlichen Zusammenhänge einer Szene ana-
von Bildern von Häusern eingebunden ist. lysiert. Hierbei wird die Szene wie ein einheit-
Hervorzuheben ist, dass der laterale Gyrus liches Objekt behandelt, die Einzelinformatio-
Fusiformis Bilder von Tieren mit und ohne nen (z. B. die einzelnen Objekte, die in der
Gesichter verarbeitet, was darauf hinweist, Szene dargestellt sind) stehen bei der Analyse
dass dieser Hirnbereich nicht nur in die Ver- nicht im Vordergrund (Epstein, 2008). Diese
arbeitung von Gesichtsbildern eingebunden lokalen Einzelmerkmale werden im mesialen
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ist (Abb. 8-33). Teil des Gyrus Fusiformis (s. o.), im Hippocam-


pus oder im LOC verarbeitet.
Neben dem PPA ist in die Wahrnehmung
von Szenen auch der retrospleniale Kortex
eingebunden. Da es sich um ein schwer zu de-
2 finierendes Gebiet handelt und die unter-
schiedlichen Studien nicht immer einheitliche
anatomische Definitionen verwendeten, wird
2 2
1 1 auch vom retrosplenialen Komplex gespro-
chen (retrosplenial complex, RSC)26. Der RSC
1
ist beim Betrachten von Szenen, bei der Vor-
stellung von Szenen und bei der Vorstellung
1 lateraler Gyrus fusiformis: Gesichter, der Navigation durch bekannte Umgebungen
Tiere, Tiere ohne Gesichter
aktiv (Abb. 8-34). Die Aktivität im RSC hängt
2 mesialer Gyrus fusiformis: Häuser sehr stark von der Vertrautheit mit der ana-
lysierten Szene ab: Beim Betrachten von be-
Abbildung 8-33: Hirngebiete, die in die Verarbei-
tung von Bildern von Gesichtern und Tieren (1)
kannten Szenen nimmt die Aktivität im RSC
sowie Häusern (2) eingebunden sind. Das Bild auf um ca. 50 % zu. Der RSC ist auch beim Behal-
der linken Seite zeigt einen Coronarschnitt. Die ten und Abrufen von räumlichen Informatio-
jeweiligen Hirngebiete, die besonders auf Gesich- nen aktiv und anatomisch mit dem Parietallap-
ter/Tiere und Häuser reagieren, sind durch kleine pen, und hier insbesondere mit dem intraparie-
Kreise gekennzeichnet. Das mit einer 1 gekenn- talen Sulcus, verbunden. Insofern ist der RSC
zeichnete Hirngebiet ist der laterale Gyrus fusi- ein wichtiger Bestandteil des dorsalen Infor-
formis, der stärker an der Verarbeitung von Ge- mationsstrangs und trägt nicht nur zur Orien-
sichts- und Tierbildern beteiligt ist. Das mit 2 tierung im Raum bei, sondern ist auch an der
gekennzeichnete Hirngebiet ist der mesiale Gyrus
Planung und Kontrolle von zielgerichteten Be-
fusiformis, der stärker an der Verarbeitung von
wegungen beteiligt.
Häuserbildern beteiligt ist. Auf der rechten Seite
Eine Reihe von Verhaltensuntersuchungen
sind Sagittalschnitte dargestellt, auf denen der
mesiale (oberes Bild) und derlaterale Teil des hat ergeben, dass auch Bilder von mensch-
Gyrus fusiformis (unteres Bild) zu erkennen sind
(nach Chao et al., 1999). Zusätzlich ist bei der 26  Insbesondere der Teil des RSC, der nahe an dem
Wahrnehmung dieser Reize auch der hintere Teil Punkt liegt, wo der Sulcus calcarinus mit dem Sulcus
des Sulcus temporalis superior aktiv. parietooccipitalis zusammenläuft.

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8.5. Objektwahrnehmung 249

1.5 PPA

veränderung (in %)
1

MRI-Signal-
0.5

-0.5

1.5 RSC

veränderung (in %)
1
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MRI-Signal-
0.5

-0.5

Landschaft Stadt Objekte verrieselte Körper Gesichter


Objekte

Abbildung 8-34: Aktivierung im PPA und RSC beim Betrachten verschiedener visueller Reize. Man er-
kennt, dass im PPA und RSC die Aktivierungen insbesondere beim Betrachten von Szenen (Landschafts-
und Stadtszenen) stark ausgeprägt sind. Andere Objekte wie Gesichter, Körper und Werkzeuge stimulie-
ren diese Hirngebiete nicht (nachgezeichnet nach Epstein, 2008).

lichen Körpern oder Körperteilen speziell ver- ren Kortex stärker auf Bilder von mensch-
arbeitet werden (Abb. 8-35). Werden inver- lichen Körpern reagieren als auf Bilder von
tierte Bilder von Körpern präsentiert, nimmt Gesichtern, Tieren und Werkzeugen (Pourtois
die Erkennensleistung ähnlich wie bei der et al., 2007). Die Neurone, die besonders auf
Präsentation von invertierten Gesichtsbildern Körperbilder ansprachen, ordneten die Auto-
ab. Offenbar werden Körperbilder auch kon- ren einem Hirngebiet zu, das in bildgebenden
figural analysiert. Untersuchungen als extrastriäres Körper-
Eine neurophysiologische Studie an einem areal (extrastriate body area, EBA) identifi-
Patienten, dem präoperativ Elektroden in den ziert wurde. Neben dem EBA konnte noch ein
Okzipitallappen eingeführt wurden, bestätigt weiteres Hirngebiet identifiziert werden, das
die Vermutung, dass Körperbilder spezifisch ebenfalls auf Körperbilder ansprach: das fu-
verarbeitet werden. Die Genfer Arbeitsgruppe siforme Körperareal (fusiform body area,
um Patrick Vuilleumier hat zeigen können, FBA). Das EBA ist im posterioren lateralen
dass Neuronengruppen im lateralen extrastriä- Okzipitalkortex lokalisiert, während das FBA

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250 8.  Visuelle Wahrnehmung

1 FFA

4 2 OFA 4
3
2 2
1 1 3
3 FBA

4 EBA

Hirngebiete, bei deren Läsion Körperbilder oder


Bilder von Körperteilen schlechter erkannt werden.

Abbildung 8-35: Hirngebiete, die in kategoriespezifische Verarbeitungen eingebunden sind. 1: fusifor-


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mes Gesichtsareal (FFA), 2: okzipitales Gesichtsareal (OFA), 3: fusiformes Körperareal (FBA), 4: extra-
striäres Körperareal (EBA), 5: Hirngebiete, bei deren Läsion massive Beeinträchtigungen der Wahrneh-
mung von Körperbildern oder von Körperteilbildern festgestellt wurden (nach Moro et al., 2008).

im Gyrus fusiformis vorrangig auf der rechten kortex überprüft wurde, ob sie Körperbewe-
Hemisphäre zu finden ist. Das FBA überlappt gungen richtig erkennen und zuordnen können
teilweise mit dem FFA, kann allerdings an- (Moro et al., 2008). Bei diesen Patienten konn-
hand des Aktivierungsmusters der aktivierten ten erhebliche Defizite in der Analyse von
Voxel vom FFA unterschieden werden (Peelen Körperbewegungen identifiziert werden, das
et al., 2009). Erkennen von Körperformen war dagegen un-
Zur perzeptuellen Analyse von Körperbewe- gestört. Bei Läsionen in extrastriären Hirn-
gungen ist v. a. der ventrale Prämotorkortex gebieten mit Einschluss des EBA und FBA
notwendig. Dies zeigte eine Arbeit, in der bei konnten dagegen Körperformen nicht mehr
Patienten mit Läsionen im ventralen Prämotor- adäquat wahrgenommen werden (Abb. 8-36).

1
1 2 2
2

1 Handlung vs. Form

2 Form vs. Handlung


LH RH

Abbildung 8-36: Hirngebiete, die für die Wahrnehmung von Körperformen und Körperhandlungen be-
sonders wichtig sind. Diese Befunde wurden anhand von Läsionsdaten gewonnen. Personen mit Läsio-
nen im ventralen Prämotorkortex hatten Schwierigkeiten, Körperbewegungen korrekt zu identifizieren.
Personen mit Läsionen in den extrastriären Hirngebieten (unter Einschluss des EBA und FBA) konnten
Körperformen nicht mehr korrekt wahrnehmen (nach Moro et al., 2008).

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8.5. Objektwahrnehmung 251

8.5.4. Raumwahrnehmung Parietallappen und von dort in den Prämotor-


kortex weitergeleitet (Abb. 8-12 und 8-37).
Wenn wir die Umwelt betrachten, sehen wir Eine wichtige Umschaltstation ist der intra-
Möbel, Autos, Werkzeuge, Menschen, Tiere parietale Sulcus (IPS). Hier erfolgen die
und Landschaftsszenen. Diese Objekte und Transformationen in einen Referenzrahmen,
Szenen sind an bestimmten Positionen im der für die Handlungskontrolle von großer
Raum angeordnet. Einige Objekte sind weit Bedeutung ist. Der IPS ist ein langer Sulcus, in
entfernt, während sich andere in unmittel- dem viele unterschiedliche Neuronengruppen
barer Nähe befinden. Objekte können auch liegen, die für bestimmte Funktionen spezia-
durch andere teilweise oder ganz verdeckt lisiert sind. Im vorderen Teil des IPS befinden
sein. Wir wissen recht genau, welches Objekt sich Neurone, die für die Kontrolle von Hand-
vorne und welches hinten angeordnet ist. und Armbewegungen spezialisiert sind (ante-
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Wenn wir mit diesen Objekten hantieren wol- riorer IPS, AIP). In diesem Hirngebiet wird
len, müssen wir uns auch vorstellen können, z. B. die Handstellung und -öffnung bei Greif-
wie sie von einem Ort zum anderen bewegt bewegungen kontrolliert. Der in der Mitte des
werden können. Manchmal betrachten wir IPS liegende Teil wird auch als lateraler IPS
Objekte, die anders angeordnet sind, als wir es (LIP) bezeichnet. Dieser Teilbereich ist be-
gewohnt sind. Wenn wir z. B. mit einer Berg- sonders stark in die Kontrolle von Augen-
bahn einen Berg hinauffahren, sind in unse- bewegungen eingebunden, z. B. die Analyse
rem Blickwinkel die seitlich befindlichen Ob- der Blickrichtung des Gesichts eines Kom-
jekte um einen bestimmten Grad verdreht munikationspartners. Der hintere Teil des
angeordnet. Trotzdem erkennen wir sie, denn IPS, auch kaudaler IPS genannt (CIP), ist in die
wir können diese Objekte mental so drehen, visuelle Tiefenwahrnehmung eingebunden.
dass wir sie sehen, wie wir es gewohnt sind. Der IPS ist auch bei verschiedenen kognitiven
Auch wenn wir uns auf Landkarten oder in be- Tätigkeiten wesentlich beteiligt, z. B. bei der
stimmten Umgebungen orientieren müssen,
greifen wir immer auf eine bestimmte Wahr-
AIP LIP LPs
nehmungsleistung zurück, die als Raumwahr-
nehmung bezeichnet wird. Anhand der oben
aufgeführten Beispiele wird jedoch deutlich,
IPS
dass bei vielen Raumwahrnehmungsleistun-
gen auch kognitive Leistungen gefordert sind, CIP
die weit über einfache Wahrnehmungsleis-
tungen hinausgehen. Im Folgenden werden
LPi
deshalb nur die elementaren Raumwahrneh-
mungsleistungen besprochen. Die kognitiven
Aspekte der Raumwahrnehmung werden im
Zusammenhang mit den jeweiligen Kognitio-
nen behandelt.

Dorsaler Strang Abbildung 8-37: Lage der wichtigen Hirngebiete


des dorsalen Strangs im Parietallappen. IPS: in-
Für die Raumwahrnehmung ist der dorsale traparietaler Sulcus, AIP: anteriorer IPS, LIP: late-
Strang wesentlich. Über ihn werden die Infor- raler IPS, CIP: kaudaler IPS, LPs: Lobulus parietalis
mationen aus dem visuellen System in den superior, LPi: Lobulus parietalis inferior.

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252 8.  Visuelle Wahrnehmung

numerischen Größenschätzung, beim Rech- werden auch als körperbezogener Refererenz-


nen und allgemein beim Umgang mit Zahlen, rahmen bezeichnet. Wird ein Objekt fixiert,
aber auch beim mentalen Rotieren von zwei- das unmittelbar vor einem platziert ist, indem
und dreidimensionalen Objekten. der Kopf um 10° nach rechts geneigt wird,
Der IPS trennt den oberen (Lobulus parie- ohne die Fixationsrichtung nach vorne zu ver-
talis superior, LPs) vom unteren Teil (Lobulus ändern, ändert sich der kopfbezogene Referenz-
parietalis inferior, LPi) des Parietallappens. rahmen. Nun könnte die Ausrichtung des Kop-
Funktional ist der LPs ein multisensorisches fes nach vorne und die Kopfneigung nach
Hirngebiet, das an vielfältigen Aspekten der rechts beibehalten, aber der Blick nicht mehr
Raumwahrnehmung und der räumlichen Auf- geradeaus nach vorne, sondern seitlich nach
merksamkeit beteiligt ist. Der LPi kann in rechts gerichtet werden. Damit würde auch
folgende Teilgebiete unterschieden werden: der augenbezogene Referenzrahmen verändert.
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den Gyrus supramarginalis (der den hinteren Diese verschiedenen Referenzrahmen müssen
Teil der Sylvischen Fissur umgibt) und den bei der Raumwahrnehmung miteinander ver-
Gyrus angularis (der weiter ventral liegt und rechnet werden, damit ein konstantes Raum-
den Sulcus temporalis umklammert). Die dort wahrnehmungsergebnis erzielt wird. Einzel-
lokalisierten Neuronengruppen sind in vielfäl- zellableitungen im intraparietalen Sulcus (IPS)
tige Funktionen eingebunden, z. B. Sprach- bei Affen haben ergeben, dass viele Zellen im
funktionen (auf der linken Hemisphäre), Kör- IPS auf körper-, kopf- oder augenbezogene
perwissen (vorrangig rechts), mathematische räumliche Informationen reagieren. Es wird
Fertigkeiten und die Integration verschiede- vermutet, dass im IPS diese verschiedenen
ner sensorischer Modalitäten. Zum dorsalen Informationen integriert werden.
Strang werden auch die Hirngebiete im Über- Eine andere Art der räumlichen Orientie-
gangsbereich zum Temporallappen gezählt, rung und Codierung stellt das allozentrische
die u. a. in die visuelle Analyse sich bewegen- Koordinatensystem dar. Hierbei werden die
der Objekte eingebunden sind. Objekte des Raums in Bezug zueinander, also
ein Objekt als neben einem anderen Objekt an-
geordnet wahrgenommen. Die Position des
Räumliche Referenzrahmen
eigenen Körpers ist unerheblich.
Bei der Raumorientierung werden zwei Koor- Bei der allozentrischen Wahrnehmung sind
dinatensysteme unterschieden: das egozen- der LPs, Teile des ventralen Informations-
trische und das allozentrische Koordinaten- strangs (V1, V2, V3, V5, LOC, PIT, CIT und
system. Diese Koordinatensysteme werden AIT; Abb. 8-11) und das mesiotemporale Ge-
auch als Referenzrahmen aufgefasst, nach dächtnissystem mit dem Hippocampus und
denen bestimmte Objekte im Raum angeord- dem Gyrus parahippocampalis beteiligt. Das
net werden. Gedächtnissystem liefert wahrscheinlich In-
Im egozentrischen Koordinatensystem formationen über die bekannten Positionen
erfolgt die Raumwahrnehmung in Bezug zum und Formen der wahrgenommenen Objekte.
eigenen Körper. Der Körperbezug kann aller- In verschiedenen Experimenten wurden
dings unterschiedlich sein, je nachdem, ob die Versuchspersonen veranlasst, entweder allo-
räumlichen Bezüge zum Gesamtkörper, zum zentrische oder egozentrische Wahrnehmungs-
Kopf oder zu den Augen erfolgen. Typische strategien zu verwenden. Wurde eine allozen-
Beispiele für räumliche Bezüge zum eigenen trische Strategie angewendet, dann nutzten
Körper sind links, rechts, über, unter oder hin- die Versuchspersonen den ventralen Informa-
ter dem Körper. Diese räumlichen Bezüge tionsstrang sowie den Hippocampus und den

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8.5. Objektwahrnehmung 253

Gyrus parahippocampalis (Jordan et al., feld „geschoben“ wird. Wird dieser Test mit
2004). Sobald allerdings eine egozentrische Patienten durchgeführt, die Läsionen im
Strategie verwendet wurde, war der dorsale rechtsseitigen Parietallappen aufweisen, mar-
Strang von größerer Bedeutung; dann „grif- kieren die Probanden ihre subjektive Mitte
fen“ der IPS, andere Bereiche des Parietallap- rechts von der tatsächlichen Mitte. Da der
pens (z. B. der Lobulus parietalis superior) und rechtsseitige Parietallappen ausgefallen ist,
der Prämotorkortex in die Raumwahrneh- entfällt die „Verschiebung“ der Aufmerksam-
mung ein (Gramann et al., 2006). keit nach links.
Viele ältere Arbeiten, die Wahrnehmungs-
asymmetrien untersucht haben, kamen auch
Lokalisation von Punkten im Raum
zu dem Ergebnis, dass die rechte Hemisphäre
Zahlreiche Studien mit Patienten, die v. a. un- (und der rechtsseitige Parietallappen) intensiv
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ter rechtsseitigen Parietallappenläsionen lei- in die Verarbeitung von visuell-räumlichen


den, haben gezeigt, dass dieses Hirngebiet Informationen eingebunden ist. In vielen Un-
vorrangig an der Lokalisation von Objekten tersuchungen mit der tachistoskopischen Dar-
im Raum beteiligt ist. Diese Lokalisations- bietungstechnik hat sich eine Dominanz des
fähigkeit kann z. B. getestet werden, indem linken Gesichtsfeldes bei der Verarbeitung von
den Probanden nacheinander zwei Punkte auf räumlichen Mustern ergeben (Voyer, 1996;
einem Computerbildschirm präsentiert wer- s. a. Kap. 6). Diese Dominanz des linken Ge-
den und sie entscheiden sollen, ob der zweite sichtsfeldes wird mit einer Verarbeitungs-
Punkt an derselben Stelle präsentiert wurde dominanz der rechten Hemisphäre erklärt.
wie der erste. Ungeachtet dessen, welche Vari- Neuere bildgebende Arbeiten haben er-
ante dieser Aufgabe verwendet wird, zeigt sich geben, dass während des Lösens der Linien-
durchgängig, dass Patienten mit Läsionen des halbierungsaufgabe der rechtsseitige IPS und
rechtsseitigen Parietallappens Probleme ha- der rechtsseitige extrastriäre Kortex stärker
ben, die Aufgabe korrekt zu lösen (Warrington durchblutet sind (Cicek et al., 2009). Die Stö-
& James, 1988). rung der neuronalen Aktivität im rechtsseiti-
Auch bei hirngesunden Personen kann die gen LPi führt zu Beeinträchtigungen bei der
Dominanz der rechten Hemisphäre beim Lö- Lösung von visuell-räumlichen Aufgaben­
sen von räumlichen Aufgaben nachgewiesen (Oliveri & Vallar, 2009).
werden, z. B. mit der Linienhalbierungsauf-
gabe (line bisection). Bei dieser Aufgabe wer-
Relationen von Punkten im Raum
den den Versuchspersonen lange Linien prä-
sentiert, die sie genau in der Mitte halbieren Der Kognitionspsychologe Stephan Kosslyn hat
sollen. Gesunde Personen zeigen eine leichte festgestellt, dass die visuell-räumliche Wahr-
Verschiebung ihrer subjektiven Mitte um ca. nehmung anhand von zwei Strategien erfolgen
2 % nach links von der tatsächlichen Mitte kann: der kategorial-räumlichen oder der me-
(Patston et al., 2007). Diese leichte Linksver- trisch-räumlichen Relation (Kosslyn, 2006).
schiebung der subjektiven Mitte wird mit der Kategorial-räumliche Relationen ergeben
Verarbeitungsdominanz der rechten Hemi- sich, wenn Objekte in Relation zu anderen Ob-
sphäre für visuell-räumliche Funktionen er- jekten wahrgenommen und angeordnet wer-
klärt. Konkret wird angenommen, dass bei den. Nehmen wir mal an, Sie säßen an einem
visuell-räumlichen Aufgaben die rechte He- Tisch und Ihr Tischpartner würde Sie fragen,
misphäre stärker aktiv ist und dadurch die wo der Salzstreuer steht. Dann könnten Sie z. B.
Aufmerksamkeit leicht in das linke Gesichts- antworten, dass der Salzstreuer hinter der Sup-

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254 8.  Visuelle Wahrnehmung

penschüssel und neben dem Pfefferstreuer zu von Läsionen in V1. Läsionen im Farbkomplex
finden ist. Sie könnten Ihrem Tischpartner V4 führen zur Achromatopsie, also einer korti-
auch mitteilen, dass der Salzstreuer sich unge- kalen Blindheit, während bilaterale Läsionen
fähr einen halben Meter vor ihm befindet. Dies in V5 eine Akinematopsie, d. h. die Unfähig-
wäre ein Beispiel für eine metrisch-räumliche keit, bewegte Objekte wahrzunehmen, aus-
Relation. Hierbei wird die Distanz zwischen lösen. Wie oben ausgeführt, helfen diese Aus-
zwei Objekten (dem Tischpartner und dem fälle, die Bedeutung einzelner Hirngebiete
Salzstreuer) angegeben. besser zu verstehen.
Eine Überlegung ist, dass metrische und Diese bereits beschriebenen Störungen re-
kategoriale Informationen unabhängig von- präsentieren jedoch nur einen kleinen Teil der
einander sind und dass sie in unterschiedli- bekannten Wahrnehmungsstörungen. Kortikal
chen Hemisphären verarbeitet werden. Kate- bedingte Wahrnehmungsstörungen werden als
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goriale Informationen werden von der linken Agnosien bezeichnet. Je nach Schweregrad und
und metrische Informationen von der rechten Art der Agnosie werden verschiedene Varian-
Hemisphäre verarbeitet (Laeng & Peters, ten unterschieden. Bei der visuellen Agnosie
1995). Bei epileptischen Patienten wurde se- werden die apperzeptive und die assoziative
lektiv die rechte oder linke Hemisphäre mittels Form unterschieden. Bei der apperzeptiven
Sodium Amobarbital gehemmt und fest- Agnosie werden lokale Details und globale
gestellt, dass bei Hemmung der rechten Hemi- Umrisse der Objekte nicht erkannt und die cha-
sphäre die visuell-metrischen Relationen nicht rakteristischen Merkmale nicht extrahiert. Das
mehr effizient erkannt werden. Bei Hemmung führt dazu, dass reale Objekte besser erkannt
der linken Hemisphäre wurden die kategoria- werden als Zeichnungen und prototypische
len Relationen nicht mehr adäquat erkannt Darstellungen besser als Ansichten aus un-
(Slotnick et al., 2001). gewöhnlichen Perspektiven. Das Abzeichnen
Andere Arbeiten haben gezeigt, dass auch von unerkannten Bildern gelingt den Patienten
der Frontalkortex beteiligt ist, v. a. dann, wenn zwar recht gut, erfolgt aber Stück für Stück
die kategorialen und metrischen Urteile aus (peacemeal) und ohne Verständnis. Bekannte
dem Gedächtnis heraus erfolgen müssen. Objekte können sie allerdings gut aus dem Ge-
Wenn kategoriale Urteile beim Gedächtnis- dächtnis zeichnen. Die assoziative Agnosie ist
abruf durchzuführen waren, war v. a. der links- eine Störung der semantischen Zuordnung.
seitige Präfrontalkortex aktiviert. Beim Abruf Die Patienten können Objekte nicht mehr mit
von metrischen Informationen war dagegen ihrem semantischen Wissen in Verbindung
der rechtsseitige Präfrontalkortex aktiv (Slot- bringen. Sie können Objekte auch nicht mehr
nick & Moo, 2006). aus dem Gedächtnis zeichnen, während es ih-
nen gelingt, Objekte nachzuzeichnen. Beim
Nachzeichnen wirken sie etwas ungeschickt,
8.6. Störungen der visuellen da sie jedes Merkmal des nachzuzeichnenden
Wahrnehmung Objekts kopieren müssen und es nicht aus dem
Gedächtnis vervollständigen können. In Ab-
Verschiedene visuelle Wahrnehmungsstörun- bildung 8-38 ist der Ablauf der visuellen Objekt-
gen sind bereits beschrieben worden: Bei der erkennung vereinfacht dargestellt. In diesem
Hemianopsie und dem Skotom handelt es sich Modell sind auch die Phasen der visuellen Ob-
um Ausfälle in einem Gesichtsfeld (entweder jekterkennung dargestellt, die typischerweise
ein kompletter Ausfall oder nur der Ausfall ei- bei der apperzeptiven und bei der assoziativen
nes kleinen Teils des Gesichtsfeldes) aufgrund Agnosie gestört sind.

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8.6.  Störungen der visuellen Wahrnehmung 255

Objekt

Bewegungs- Farb- Form- Tiefen-


merkmale merkmale merkmale merkmale

apperzeptive Agnosie
Merkmalsgruppierung
Gestaltgesetze
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Zusammenführen von verschiedenen Merkmalen


Erkennen multipler Muster

Normalisierung
der Orientierung

assoziative Agnosie
Strukturelle Beschreibung

Semantisches System

Benennung

Abbildung 8-38: Einfaches Modell der visuellen Objekterkennung (nach Riddoch & Humphreys, 2001).

Dieses Modell weist Ähnlichkeiten mit Orientierungen transformiert. Danach erfolgt


dem bereits erwähnten Modell von Marr auf. die „strukturelle Beschreibung“ der Objekte,
Auf der ersten Stufe der Informationsver- was einer dreidimensionalen orientierungs-
arbeitung werden einfache Merkmale wie Li- unabhängigen Darstellung der Objekte ent-
nien, Linienorientierung etc. erkannt und auf spricht. Diese Informationen werden dann
der nächsten Stufe zu Mustern zusammen- dem semantischen System zum bewussten
gesetzt. Dabei können verschiedene Gruppen Erkennen und Benennen zugeführt. Störun-
von Mustern erkannt und unterschieden wer- gen der ersten Stufen der Verarbeitung führen
den. In diesem Verarbeitungsschritt findet zur apperzeptiven Agnosie, während Beein-
auch eine „Normalisierung der Objektorien- trächtigungen der späteren Informationsver-
tierung“ statt, d. h., die Orientierung der be- arbeitungsschritte in die assoziative Agnosie
trachteten Objekte wird zu prototypischen münden (Abb. 8-39).

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256 8.  Visuelle Wahrnehmung

A) Läsion bei apperzeptiver Agnosie


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B) Läsion bei assoziativer Agnosie

Abbildung 8-39: Typische Läsionsorte, die zu apperzeptiven und assoziativen Agnosien führen. Bei ap-
perzeptiven Agnosien (A) sind v. a. striäre und angrenzende Hirngebiete lädiert. Bei der assoziativen
Agnosie (B) sind visuelle Assoziationsgebiete lädiert.

Neben den Agnosien sind weitere visuell- chen werden. Beide neuropsychologischen
räumliche Wahrnehmungsstörungen bekannt, Störungen sind typische Beispiele für Syn-
die hier nicht alle dargestellt werden können.27 drome, bei denen visuelle Wahrnehmungs-
An dieser Stelle sollen mit dem Bálint-Holmes- störungen vorliegen und ggf. dominieren, aber
Syndrom und dem visuellen Neglekt zwei pro- auch andere psychische Funktionsbereiche
minente Wahrnehmungsstörungen bespro- (z. B. Aufmerksamkeit und motorische Steue-
rung) beeinträchtigt sind.
27  Weiterführend: Kerkhoff, 2000; Niedeggen &
Jörgens, 2005.

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8.6.  Störungen der visuellen Wahrnehmung 257

Patienten mit dem Bálint-Holmes-Syn- die notwendige Position ein, um eine Hand-
drom28 leiden unter vier Kardinalsymptomen: lung erfolgreich zu vollenden. Ein typisches
1. Simultanagnosie Beispiel sind die Probleme dieser Patienten,
2. Blickbewegungsstörung einen Brief in einen Briefkasten einzuwerfen.
3. Störung der räumlichen Orientierung Sie müssen die Position des Briefs eher durch
4. optische Ataxie. Versuch und Irrtum herausfinden.
Bálint-Holmes-Patienten leiden unter bila-
Die Simultanagnosie ist eine Wahrneh- teralen Läsionen in parietookzipitalen Hirn-
mungsbeeinträchtigung, bei der die Patienten gebieten, also unter einer Beeinträchtigung
Probleme haben, mehrere Objekte gleichzei- des dorsalen Informationsstrangs. Die Seh-
tig zu erkennen; sie können sich demzufolge rinde (primärer und sekundärer visueller Kor-
nur auf ein Objekt konzentrieren. Meistens tex) ist nicht betroffen. Allerdings sind immer
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konzentrieren sie sich auf die lokalen Aspekte Teile des Lobulus parietalis inferior (Gyrus
von komplexen Bildern und vernachlässigen supramarginalis und Gyrus angularis) invol-
die globalen Informationen. Dies lässt sich viert. Anhand dieses Syndroms ist gut zu er-
gut anhand von Navon-Figuren herausarbei- kennen, wie Wahrnehmungsfunktionen mit
ten (Abb. 8-28). Bei den anderen Symptomen anderen psychischen Funktionen (z. B. Auf-
sind zwar visuelle Wahrnehmungsaspekte merksamkeit und Motorik) interagieren.
enthalten, aber es treten andere Störungsbe- Beim visuellen Neglekt handelt es sich
reiche in den Vordergrund, z. B. Blickbewe- um eine Vernachlässigung einer Raum- bzw.
gungsstörungen. Die Patienten können Ob- Körperhälfte. Einige Patienten vernachlässi-
jekte nicht mehr präzise fixieren oder sich gen Objekthälften, was daran zu erkennen ist,
bewegenden Objekten nicht mehr korrekt mit dass sie beim Nachzeichnen nur eine Hälfte
ihrem Blick folgen. des Objekts wiedergeben. Sofern die Patienten
Die von diesen Patienten demonstrierten eine Raum- oder Körperhälfte vernachlässi-
Raumorientierungsstörungen gehen weit gen, ist die egozentrische Wahrnehmung ge-
über rein visuelle Wahrnehmungsstörungen stört, bei Vernachlässigung von Objekthälften
hinaus, da hier auch kognitive Anteile (z. B. das ist die allozentrische Wahrnehmung betroffen.
Wissen über räumliche Anordnungen und die Bei Neglektpatienten ohne Sehfeldverlust
Fähigkeit, mit Rauminformationen kognitiv ist das visuelle System einschließlich der op-
umzugehen) gestört sind. Die optische Ataxie tischen Bahnen und der Sehrinde nicht ge-
ist durch die Unfähigkeit gekennzeichnet, schädigt. Geschädigt ist hingegen der Parie-
Greifbewegungen anhand visueller Informa- tallappen. Die meisten Patienten leiden unter
tionen auszuführen. Die Patienten greifen ne- einer rechtsseitigen Parietallappenläsion mit
ben die Objekte oder die Hand nimmt nicht einem linksseitigen Neglekt. Das linksseitige
Gesichtsfeld wird von der rechten Hemi-
28  Das Bálint-Holmes-Syndrom wurde nach dem sphäre kontrolliert, sodass eine Schädigung
Erstbeschreiber Rezsö Bálint (1874–1929), einem des rechtsseitigen Parietallappens zu Wahr-
ungarischen Neurologen, und dem britischen Neu- nehmungsbeeinflussungen des linksseitigen
rologen Holmes benannt. Bálint beschrieb 1909 ei- Gesichtsfelds führt. Eine Erklärung für den
nen Patienten, den er bis zu dessen Tod intensiv
Neglekt ist, dass die auf der rechten Hemi-
untersuchte und bei dem er Symptome identifizie-
sphäre lokalisierten Netzwerke stärker in die
ren konnte. Der britische Neurologe Holmes be-
schrieb 10 Jahre später mehrere neurologische Pa- Kontrolle der Aufmerksamkeit eingebunden
tienten, die nach Schussverletzungen ähnliche sind. Allerdings ist neben der Aufmerksamkeit
Symptome aufwiesen. auch die Objekt- und/oder Raumrepräsenta-

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258 8.  Visuelle Wahrnehmung

tion gestört. Dies ist eindrücklich in einem Ex- al., 2002). Mit der PET-Technik sind solch
periment von Bisiach und Luzzatti (1978) dar- schnelle Prozesse nicht auflösbar. Insofern
gestellt worden: Neglektpatienten wurden muss davon ausgegangen werden, dass die Ak-
gebeten, den Domplatz von Mailand aus ihrer tivierung im primären visuellen Kortex, die
Erinnerung aus einer bestimmten Perspektive Kosslyn mit PET festgestellt hat, das Resultat
zu beschreiben. Die Beschreibungen des Ge- einer Rückprojektion aus den sekundären
sichtsfelds kontralateral zur Hirnläsion waren Hirngebieten ist.
ungenauer als die des Gesichtsfelds ipsilateral Neuere Arbeiten haben bestätigt, dass beim
zur Hirnläsion. Offenbar ist auch die mentale Vorstellen und beim Wahrnehmen physika-
Repräsentation der Außenwelt bei diesen Pa- lisch präsenter Objekte die gleichen Hirn-
tienten gestört. gebiete aktiv sind. Es waren allerdings mar-
kante Unterschiede feststellbar. Zunächst
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wurde eine doppelte Dissoziation zwischen


8.7. Visuelle Vorstellungen Vorstellen und Wahrnehmen bei Hirnläsions-
patienten festgestellt. Einige Patienten zeigten
Wenn wir die Augen schließen, können wir uns Beeinträchtigungen der mentalen Vorstellung
Bilder oder Landschaften detailliert vorstel- und wiesen keine nennenswerte Beeinträchti-
len. Solche Vorstellungsbilder sind für unsere gung bei der Wahrnehmung von physikalisch
Verhaltenskontrolle sehr wichtig, denn mit präsentierten Objekten auf. Andere Patienten
diesen „Bildern“ gelingt es uns, uns im Raum zeigten dagegen erhebliche Beeinträchtigun-
zu orientieren und unser Verhalten vorzuberei- gen der Wahrnehmung von physikalisch prä-
ten. Aber welche Hirngebiete sind beim „men- senten Objekten, während ihnen die mentale
talen Vorstellen“ aktiv? Sind es die gleichen Vorstellung von Objekten vergleichsweise gut
Hirngebiete wie beim Sehen von tatsächlich gelang. Aktuelle bildgebende Studien konnten
vorhandenen Objekten und Landschaften? darüber hinaus belegen, dass die Stärke (und
Seit dem Beginn der Nutzung bildgebender die räumliche Ausdehnung) der Aktivie-
Verfahren in den kognitiven Neurowissen- rung im ventralen Strang für Vorstellung und
schaften ist dies eine der Kernfragen gewesen. Wahrnehmung charakteristische Unterschiede
In den ersten Untersuchungen zeigten sich aufweist. Bei der Wahrnehmung von physika-
beim mentalen Vorstellen prinzipiell die glei- lisch präsenten Objekten sind die Aktivierun-
chen Durchblutungszunahmen wie beim gen in den posterioren Bereichen des ventralen
Wahrnehmen von Objekten, die physikalisch Strangs stärker als in den anterioren. Bei der
präsent sind. Der kognitive Neurowissen- Vorstellung ist ein umgekehrter Gradient mit
schaftler Stephen Kosslyn hatte bereits 1995 schwächeren Aktivierungen in den posterioren
berichtet, dass der primäre visuelle Kortex bei als in den anterioren Bereichen feststellbar. Bei
der visuellen Vorstellung stärker durchblutet der Vorstellung sind offenbar die übergeord-
ist (Kosslyn et al., 1995). Eine Einschränkung neten Module im Sinne einer Top-down-Akti-
besteht jedoch darin, dass in dieser Studie vierung aktiv, während bei der Wahrnehmung
mittels PET langsame Blutflussänderungen von physikalisch präsenten Objekten die Ver-
während des Vorstellens gemessen wurden. arbeitungsmodule der frühen Verarbeitungs-
Mittlerweile ist bekannt, dass extrastriäre vi- stufen stärker aktiviert sind als die späten Ver-
suelle Hirngebiete zum primären visuellen arbeitungsmodule (Lee et al., 2012).
Kortex zurückprojizieren. Diese Rückprojek- Die visuellen Vorstellungen können sich
tion erfolgt ca. 200 ms nach der Erstaktivie- uns aufdrängen, ohne dass wir in der Lage
rung im primären visuellen Kortex (Noesselt et sind, sie zu unterdrücken, z. B. in Situationen,

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8.8. Zusammenfassung 259

in denen wir emotional von diesen Eindrücken 8.8. Zusammenfassung


„überwältigt“ werden oder unter bestimmten
psychischen Störungen leiden. Aber auch be- • Die Retina besteht aus verschiedenen Zell-
stimmte Reizkonstellationen können zu Wahr- schichten, die wichtigste ist die Netzhaut
nehmungen führen, die denen bei visuellen mit den Stäbchen und Zapfen. Weitere Re-
Vorstellungen sehr ähnlich sind. tinaschichten bestehen aus den Horizon-
Angenommen, Sie schauen auf eine rote tal-, den Amakrin- und den Ganglienzellen.
Tafel, während die Durchblutung im Farbareal Drei verschiedene Zapfentypen können
V4 gemessen wird. Dann wird eine starke unterschieden werden, die für unterschied-
Durchblutung im Areal V4 festzustellen sein, liche Wellenlängenbereiche des Lichts be-
denn Sie nehmen ja die rote Tafel wahr, was sonders sensibel sind.
darauf zurückzuführen ist, dass die spezi- • Die Verbindung vom Auge zum Gehirn
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fischen Zapfen auf der Retina durch Lichtwel- wird als Sehbahn bezeichnet. Wichtige Be-
len im Bereich von 560 nm stimuliert werden. standteile der Sehbahn sind der Nervus
Nun wird die rote Tafel ausgeschaltet und Sie opticus, das Corpus geniculatum laterale
schauen auf eine weiße Tafel. Was sehen Sie (CGL), die Radiatio optica, das Chiasma
dann? Sie werden unmittelbar nach dem Um- opticum und die primäre Sehrinde (V1) als
schalten auf die weiße Tafel eine grüne Tafel erste kortikale Umschaltstation. Neben der
wahrnehmen, denn grün ist die Gegenfarbe Sehbahn ist der tectopulvinäre Weg von den
von rot. Die Grünganglienzellen, die während Colliculi superior zum Pulvinar und von
des Betrachtens der roten Tafel gehemmt wur- dort zur sekundären (nicht primären!) Seh-
den, feuern nun entsprechend heftiger, des- rinde wichtig. Es existieren weitere Wege
halb nehmen sie eine grüne Tafel wahr. In die- vom Auge zum visuellen Kortex.
ser Situation ist auch das Farbareal V4 aktiv. • Ein rezeptives Feld ist der Bereich des Ge-
Die Grünwahrnehmung verblasst mit der Zeit sichtsfelds, der die Aktivität eines nach-
und damit auch die Aktivität im Areal V4. Das geschalteten Neurons beeinflusst. Rezep-
bedeutet, dass die Wahrnehmung der Farbe tive Felder können für fast alle Neurone der
Grün davon abhängt, dass das Areal V4 aktiv Sehbahn nachgewiesen werden. Je höher in
ist. Ist es nicht aktiv, wird keine Farbe wahr- der Verarbeitungsebene das jeweilige Neu-
genommen. Welche Farbe wahrgenommen ron angeordnet ist, desto komplexer und
wird, hängt von der Erregungskonstellation in größer sind die rezeptiven Felder. Unter-
den Ganglienzellen und dem Stimulations- schieden werden Einfach-, Komplex- und
muster auf der Retina ab. Für dieses Kapitel ist endinhibierte oder Hyperkomplexzellen.
aber wichtig nachzuvollziehen, dass eine Farb- • Der visuelle Kortex (auch Sehrinde ge-
wahrnehmung entstehen kann, obwohl die nannt) besteht aus verschiedenen Subarea-
Retinazellen nicht entsprechend stimuliert len. Eine klassische Einteilung unterschei-
wurden, das Areal V4 jedoch aktiv war. Würde det die Sehrinde in die Gebiete V1, V2, V3,
man in V4 eine Elektrode einführen und das V4 und V5. Der primäre visuelle Kortex
Areal stimulieren, dann würden Farbeindrücke (V1) wird auch als striärer Kortex bezeich-
allein durch die Aktivität des Areals V4 hervor- net. Alle anderen Sehrindenanteile (V2–
gerufen, obwohl sie in der Realität so gar nicht V5) werden als extrastriärer Kortex be-
vorliegen. Für den hier besprochenen Farbein- zeichnet. Nach Brodmann wird der primäre
druck sind bestimmte Verschaltungsmecha- visuelle Kortex als BA 17 und die extra-
nismen in den Ganglienzellen verantwortlich, striären Areale werden als BA 18 und 19
die das nachgeschaltete Areal V4 beeinflussen. kategorisiert.

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260 8.  Visuelle Wahrnehmung

• Vom primären visuellen Kortex werden die folgt. Neuere Untersuchungen konnten je-
übrigen kortikalen Bereiche über zwei In- doch zeigen, dass Neurone in V2 Form und
formationswege, den ventralen und dorsa- Bewegung auch bei Reizen wahrnehmen
len Strang, versorgt. Der ventrale Strang ist können, die ausschließlich durch Farbe de-
vorwiegend in die Objektwahrnehmung finiert sind. Die nachgeschalteten Neurone
(Was-Strang) eingebunden, während der des Areals V4 reagieren in ihrer Mehrzahl
dorsale Strang in die räumliche Orientie- selektiv auf Farbreize. Sie sind jedoch auch
rung und Handlungskontrolle (Wo-Strang) in die Form- und Bewegungswahrnehmung
involviert ist. eingebunden. Läsionen in V4 führen zu ei-
• Der visuelle Kortex ist säulenförmig organi- ner kortikalen Farbwahrnehmungsstörung
siert. Unterschieden werden okuläre Domi- (Achromatopsie).
nanzsäulen und Hyperkolumnen. • Werden bewegte visuelle Reize präsentiert,

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Bis zum visuellen Kortex bleibt die Topolo- nimmt die Durchblutung und die neuro-
gie der Retina erhalten, was als Retinoto- nale Aktivität im Areal MT (auch V5 ge-
pie bezeichnet wird. Das bedeutet, dass die nannt) zu. Bilaterale Läsionen in V5 füh-
benachbarten Gebiete der Retina (bzw. ihre ren zu einer Bewegungswahrnehmungs-
Erregungsmuster) auf benachbarten Neu- störung (Akinetopsie).
ronen des CGL und des visuellen Kortex • Wichtige theoretische Konzepte der Ob-
abgebildet werden. jektwahrnehmung sind von der Gestalt-
• Blindsicht ist ein Phänomen, das gele- psychologie entwickelt worden. Der briti-
gentlich bei Patienten beobachtet wird, die sche Psychologe David Marr fasst die
aufgrund von Läsionen in den Sehzentren Wahrnehmung als einen vier Stufen um-
(V1 und V2) vollständig oder in bestimm- fassenden Prozess auf: (1) Abbildung der
ten Gesichtsfeldbereichen blind sind. Außenwelt auf der Retina; (2) Entwicklung
Diese Personen reagieren zwar auf visuelle des ersten Entwurfs (sketch, Skizze), indem
Reize, die in den „blinden“ Gesichtsfeld- eine Art „Strichzeichnung“ erstellt wird; (3)
bereichen dargeboten werden, sie können 2½-D-Entwurf, in dem die retinalen Infor-
sie allerdings nicht bewusst und qualita- mationen zusammengefasst werden; (4)
tiv erkennen. Berechnung des 3-D-Modells.
• Es werden binokulare und monokulare Me- • Im Temporallappen können Hirngebiete
chanismen der Tiefenwahrnehmung unter- unterschieden werden, die in die Verarbei-
schieden. Die binokularen Tiefeninfor- tung spezifischer Objektkategorien ein-
mationen werden in V1, V2, V3, V3A, V5 gebunden sind. In bildgebenden Unter-
und V7 verarbeitet. Auch Hirngebiete im suchungen beim Menschen hat sich ins-
mesialen Temporallappen, und hier insbe- besondere der laterale Okzipitalkortex
sondere der perirhinale Kortex, der Hippo- (LOC) als wichtiges Hirngebiet für die Ob-
campus und Teile des parahippocampalen jektwahrnehmung erwiesen. In den daran
Gyru sind an der Tiefenwahrnehmung be- anschließenden Gebieten des inferioren
teiligt. Monokulare Tiefeninformationen Temporallappens (IT) werden grob drei
werden durch die Objektwahrnehmungs- Teilgebiete unterschieden: posterior-infe-
zentren im ventralen Strang bearbeitet. riorer Temporallappen (PIT); central-infe-
• Traditionelle Theorien gehen davon aus, riorer Temporallappen (CIT); anterior-infe-
dass die Verarbeitung von Farbe, Form und riorer Temporallappen (AIT). In diesen drei
Bewegung in den Arealen V1 und V2 paral- Subarealen nimmt nach anterior die Kom-
lel und in unterschiedlichen Neuronen er- plexität der Objektwahrnehmung zu.

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8.8. Zusammenfassung 261

• Vier wichtige Fragen müssen im Zusam- sondern auch auf Bilder, für die Experten-
menhang mit der Objektwahrnehmung be- wissen angeeignet wurde.
antwortet werden: (1) Einzelneuron- vs. • Im Zusammenhang mit der Gesichtswahr-
Populationscodierung? (2) Wie wird das nehmung wird ein Kernsystem (core sys-
Konstanzproblem gelöst? (3) Erfolgt die tem) von einem erweiterten System (exten-
Objektwahrnehmung merkmalsbezogen ded system) unterschieden. Das Kernsystem
oder holistisch? (4) Existieren kategoriespe- umfasst den inferioren Okzipitalkortex,
zifische Verarbeitungszentren im ventralen den Gyrus fusiformis, die okzipitale Ge-
Informationsstrom? sichtsregion und den Sulcus temporalis su-
• Derzeit wird diskutiert, ob die Objektwahr- perior (STS). Zum erweiterten System wer-
nehmung kategoriespezifisch organisiert den der intraparietale Sulcus (IPS), der
ist. Damit ist gemeint, dass bestimmte Ob- auditorische Kortex, das limbische System
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jektkategorien von spezialisierten Hirn- und der anteriore Temporallappen mit


gebieten analysiert werden. Mögliche Kan- Temporalpol gezählt.
didaten für kategoriespezifisch verarbei- • Landschafts- und Stadtszenen werden v. a.
tende Hirngebiete sind die parahippocam- im Gyrus parahippocampalis verarbeitet.
pale Region (parahippocmpal place area, Neben diesem Hirngebiet ist in die Wahr-
PPA), die extrastriäre Körperregion (extra- nehmung von Szenen auch der retrosple-
striate body area, EBA), das Gesichtsareal niale Kortex eingebunden.
im Gyrus fusiformis (fusiform face area, • Für die Raumwahrnehmung ist der dor-
FFA), das okzipitale Gesichtsareal (occipital sale Strang wesentlich. Über ihn werden die
face area, OFA) und das fusiforme Körper- Informationen aus dem visuellen System in
areal (fusiform body area, FBA). Die Ge- den Parietallappen und von dort in den Prä-
sichtsverarbeitung findet vorwiegend auf motorkortex weitergeleitet. Eine wichtige
der rechten Hemisphäre statt. Umschaltstation ist hier der intraparietale
• Die N170-Komponente ist ein evoziertes Po- Sulcus.
tenzial, das mit der Verarbeitung von Ge- • Bei der Raumorientierung werden das
sichtsinformationen zusammenhängt. In- egozentrische und das allozentrische Koor-
trakortikale Ableitungen im rechts- und dinatensystem unterschieden. Das egozen-
linksseitigen Gyrus fusiformis ergaben ca. trische Koordinatensystem ist durch den
200 ms nach der Präsentation von Ge- Bezug der Raumwahrnehmung zum eige-
sichtsbildern große negative ereignisbezo- nen Körper definiert (Objekt 1 steht neben
gene intrakortikale Potenziale (N200). Die mir). Das allozentrische Koordinatensys-
N200-Komponente nach Präsentation von tem ergibt sich durch den räumlichen Be-
Gesichtsbildern war für den rechtsseitigen zug der Objekte zueinander (Objekt 1 steht
Gyrus fusiformis deutlich vergrößert, wäh- neben Objekt 2).
rend Bilder von Gesichtern und Autos im • Wird das allozentrische Koordinatensys-
linksseitigen Gyrus fusiformis N200-Kom- tem genutzt, sind der LPs, Teile des ven-
ponenten evozierten, die in etwa gleich tralen Informationsstrangs (V1, V2, V3, V5,
groß waren. Interessant war auch, dass die LOC, PIT, CIT und AIT) und das mesio-
invertierten Präsentationen auf beiden He- temporale Gedächtnissystem mit dem
misphären ganz schwache oder keine N200- Hippocampus und dem Gyrus parahippo-
Komponenten evozierten. campalis beteiligt. Das Gedächtnissystem
• Der Gyrus fusiformis (insbesondere das liefert wahrscheinlich Informationen über
FFA) reagiert nicht nur auf Gesichtsbilder, die bekannten Positionen und Formen der

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262 8.  Visuelle Wahrnehmung

wahrgenommenen Objekte. Wird das ego- Okzipitalkortex stärker aktiv als die überge-
zentrische Koordinatensystem genutzt, ist ordneten Gebiete im Temporallappen (pos-
der dorsale Strang mit dem IPS, dem supe- terior-anteriorer Gradient).
rioren Parietallappen und dem Prämotor-
kortex in die Raumwahrnehmung ein-
gebunden. 8.9. Fragen und Aufgaben
• Kategorial-räumliche Relationen ergeben
sich, wenn Objekte in Relation zu anderen • Beschreiben Sie den Aufbau der Retina.
Objekten wahrgenommen und angeordnet • Beschreiben Sie die Sehbahn.
werden. Diese Relationen werden in links- • Was sind rezeptive Felder?
seitigen Parietallappenbereichen verarbei- • Beschreiben Sie den Aufbau des visuellen
tet. Metrisch-räumliche Relationen sind Kortex.
• Welche visuellen Areale kennen Sie?
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z. B. Distanzen zwischen zwei Objekten.


Diese Informationen werden im rechtssei- • Beschreiben Sie die Kolumnenstruktur des
tigen Parietallappen verarbeitet. visuellen Kortex.
• Bei Läsionen im striären oder extrastriären • Was versteht man unter der Retinotopie?
visuellen Kortex treten Wahrnehmungs- • Was ist Blindsight und wie kommt dies zu-
störungen  – sogenannte Agnosien  – auf. stande?
Unterschieden wird eine apperzeptive von • Welche psychologischen Mechanismen der
einer assoziativen Agnosie. Bei der apper- Tiefenwahrnehmung gibt es?
zeptiven Agnosie werden lokale Details • Welche Hirngebiete sind an der Tiefen-
und globale Umrisse der Objekte nicht wahrnehmung beteiligt?
erkannt und die charakteristischen Merk- • Welche Hirngebiete sind an der Bewe-
male nicht extrahiert. Die assoziative gungswahrnehmung beteiligt?
Agnosie ist eine Störung der semantischen • Welche theoretischen Probleme der Ob-
Zuordnung. jektwahrnehmung gibt es?
• Patienten mit dem Bálint-Holmes-Syn- • Welche Hirngebiete im Temporallappen
drom leiden unter vier Kardinalsymp- sind in die Verarbeitung spezifischer Ob-
tomen: (1) Simultanagnosie, (2) Blickbewe- jektkategorien eingebunden?
gungsstörung, (3) Störung der räumlichen • Welche vier wichtigen Fragen müssen im
Orientierung und (4) der optische Ataxie. Zusammenhang mit der Objektwahrneh-
• Beim visuellen Neglekt handelt es sich um mung beantwortet werden?
eine Vernachlässigung einer Raum- bzw. • Erklären Sie die N170-Komponente und ihre
Körperhälfte. Die meisten Patienten leiden Bedeutung für die Gesichtswahrnehmung.
unter einer rechtsseitigen Parietallappenlä- • Wie beeinflusst Expertenwissen die Aktivi-
sion mit einem linksseitigen Neglekt. tät im Gyrus fusiformis (insbesondere im
• Bei der visuellen Vorstellung sind prinzi- FFA)?
piell die gleichen Hirngebiete aktiv wie bei • Beschreiben Sie das Kernsystem (core sys-
der Wahrnehmung physikalisch präsenter tem) und das erweiterte System (extended
Objekte. Die übergeordneten Hirngebiete system) der Gesichtswahrnehmung.
(z. B. im Temporallappen) sind jedoch stär- • Welches Hirngebiet ist an der Wahrneh-
ker aktiv als die Hirngebiete im Okzipital- mung von Landschafts- und Stadtszenen
kortex (anterior-posteriorer Gradient). Bei beteiligt?
der Wahrnehmung von physikalisch prä- • Welche Hirngebiete sind für die Raum-
senten Objekten sind die Hirngebiete im wahrnehmung wesentlich?

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8.10.  Weiterführende Literatur 263

• Welche zwei Koordinatensysteme unter- Wahrnehmung von physikalisch präsenten


scheidet man bei der Raumwahrnehmung? Objekten feststellen?
• Beschreiben Sie das allozentrische und das
egozentrische Koordinatensystem.
• Beschreiben Sie kategorial-räumliche und 8.10. Weiterführende Literatur
metrisch-räumliche Relationen
• Was sind apperzeptive und assoziative
Goldstein, E. B. (2007). Wahrnehmungspsycho-
logie: Der Grundkurs. 7. Aufl. Heidelberg:
Agnosien?
Spektrum Akademischer Verlag.
• Beschreiben Sie das Bálint-Holmes-Syn- Kerkhoff, G. (2000). Störungen der visuellen
drom. Raumwahrnehmung bei Patienten mit Hirn-
• Was ist ein visueller Neglekt? schädigung. Hanau: Haag + Herchen.
• Welche Besonderheiten kann man bei der Niedeggen, M., Jörgens, S. (2005). Visuelle Wahr-
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visuellen Vorstellung im Vergleich zur nehmungsstörungen. Göttingen: Hogrefe.

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265

9. Auditorische Wahrnehmung
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9.2.  Akustische Signale 267

9.1. Einleitung neuroanatomischen Grundlagen der auditori-


schen Wahrnehmung besprochen.
Wir leben in einer Zeit, in der wir ständig
akustischen Signalen ausgesetzt sind, die wir
selbst generiert haben. Es wurde noch nie so 9.2. Akustische Signale
viel Musik gehört wie heutzutage, wir hören
Musik im Radio während des Autofahrens, im Was wir hören, sind Schallwellen, d. h. Druck-
Flugzeug, auf Flughäfen oder Tankstellen, in schwankungen in elastischen Medien. In der
Supermärkten und nicht zuletzt über unseren Regel ist das elastische Medium, das für das
iPod, den wir ständig mit uns herumtragen. Hören relevant ist, die Luft. Das bedeutet je-
Wer in einer Großstadt lebt, kann sich auch doch nicht, dass man in anderen Medien nicht
den vielen anderen aufdrängenden Reizen hören kann, denn Hören ist auch im Wasser
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wie Verkehrs- oder Baulärm oder Gemurmel möglich. Die Druckschwankungen in der Luft
der Menschenmassen, die sich auf den Bür- sind Verdichtungen und Verdünnungen inner-
gersteigen durch die Straßen zwängen, nicht halb einer bestimmten Zeiteinheit, die auf das
entziehen. Daneben erscheinen die natürli- Ohr treffen. Sie werden auch als Schall be-
chen akustischen Reize wie Vogelgesang, das zeichnet. Luftdruckschwankungen können
Wehen des Windes in den Bäumen und das durch schwingende Körper (Lautsprecher-
Plätschern des Regens eher als Nebengeräu- membran, Gitarren- oder Geigenboden) und
sche, die wir kaum noch wahrnehmen. Je Brechungen von Luftströmen an Kanten er-
nach Aufmerksamkeitslage können wir je- zeugt werden. Diese Druckschwankungen
doch die eine oder andere Schallquelle wahr- breiten sich wellenförmig aus. Es entstehen
nehmen oder unterdrücken. Wir können die Zonen, in denen die Moleküle dichter gepackt,
Schallquellen orten, ihnen Bedeutung bei- und solche, in denen sie weniger dicht an-
messen und auf sie motorisch oder intellek- geordnet sind. Diese unterschiedlichen Dich-
tuell reagieren. ten werden an die benachbarten Orte weiter-
Etwas Besonderes ist die Sprachwahrneh- gegeben. Die Ausbreitung der Schallwellen ist
mung. Wir können Gesprächen folgen, hören von der Dichte und Temperatur des Mediums
die Nachrichten im Radio und sind in der Lage, abhängig, in dem die Ausbreitung erfolgt. In
einer Vorlesung zu folgen, und können daraus der Luft beträgt die Ausbreitungsgeschwindig-
sogar einen Lerngewinn erzielen. Dies alles er- keit bei 0 °C 331 m/s. Bei 20 °C nimmt sie
fordert einen psychischen Prozess, der als au- leicht zu und liegt bei 343 m/s. Im Wasser be-
ditorische Wahrnehmung bezeichnet wird. trägt sie 1400 m/s und in Stahl 6100 m/s.
Hierbei wird ein akustischer Reiz, der letzt- Schallwellen sind physikalisch durch Fre-
lich eine physikalisch definierbare Schall- quenz, Amplitude und Komplexität der sich
druckschwankung ist, vom Hörsystem in elek- überlagernden Schallwellen definiert (physi-
trische Erregungen umgewandelt. Damit wird kalische Dimension; Abb. 9-1). Diese drei
der akustische zu einem vom auditorischen Aspekte sind mit bestimmten psychischen Er-
System verarbeiteten Reiz. Die damit verbun- lebnissen bzw. Wahrnehmungen gekoppelt
denen elektrischen Erregungen werden im (psychische bzw. perzeptuelle Dimension).
Hörsystem an bestimmte Stellen geleitet, wo Die unterschiedlichen Frequenzen des Schalls
spezifische Analysen durchgeführt werden, (Schwingungen pro Zeiteinheit) werden als
die letztlich dazu beitragen, dass eine auditori- Tonhöhen erlebt: schnelle Frequenzen als
sche Wahrnehmung erzeugt wird. In diesem hohe Töne und langsame Frequenzen als tiefe
Kapitel werden die neurophysiologischen und Töne. Schallwellen mit hohen Amplituden

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268 9.  Auditorische Wahrnehmung

physikalische physikalischer perzeptuelle rer Sinuswellen die Klänge anderer Instru-


Dimension Reiz Dimension
mente herstellen.
Amplitude Lautstärke Schallreize, die in ihrer Druckschwankung
laut leise keine Periodizität erkennen lassen, werden als
Frequenz Tonhöhe
Rauschen bezeichnet. Rauschen kann durch
niedrig hoch Angabe der Durchschnittsfrequenz oder durch
die Bandbreite (höchste und niedrigste Fre-
Komplexität Klangfarbe
rein reich quenz) charakterisiert werden (Bandrauschen
in einem bestimmten Frequenzbereich). Von
Abbildung 9-1: Darstellung der physikalischen weißem Rauschen spricht man, wenn die Fre-
und perzeptuellen Dimension von Schallwellen. quenzen in einem vorgegebenen Frequenz-
bereich die gleiche Intensität aufweisen.
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werden als laut und Schallwellen mit niedrigen Wenn alltagssprachlich von Geräusch ge-
Amplituden als leise wahrgenommen. sprochen wird, sind Schallereignisse gemeint,
Wenn ein Schallreiz nur durch eine einzige die als regelloses Gemisch von Teilschwingun-
Frequenz definiert ist, wird er als (reiner) Ton gen auftreten.
bezeichnet. Die meisten Schallreize, die wir Die Töne der Tonleiter der westlichen Mu-
hören, sind durch Frequenzmischungen de- sik sind durch bestimmte Frequenzverhält-
finiert. Sie bestehen aus Grund- und Ober- nisse bestimmt: die kleine Sekunde durch ein
tönen und werden als Klänge bezeichnet. Frequenzverhältnis von 15 : 16, große Se-
Klänge haben meistens eine oder mehrere do- kunde 8 : 9, kleine Terz 5 : 6, große Terz 4 : 5,
minierende Frequenzen, die für die Wahr- Quarte 3 : 4, Quinte 2 : 3 und Oktave 1 : 2.
nehmung der Tonhöhe wesentlich sind. Diese Diese sogenannte reine Stimmung wird je-
Frequenzmischungen können zu vielfältigen doch unbrauchbar, wenn ein Tonleitersystem
Klängen führen, abhängig davon, welche Fre- aufgebaut werden soll. Deshalb wurde die
quenzen vermischt werden und welche Be- temperierte Stimmung eingeführt, bei der
deutung einzelne Frequenzbereiche haben.
Auch dynamische Aspekte der einzelnen Fre-
quenzbereiche können den Charakter der
Frequenzmischung beeinflussen, z. B., wann
sich ein Frequenzbereich im Vergleich zu den
anderen entfaltet.
Die Art der Mischung macht die Klang-
farbe aus, die auch als Timbre bezeichnet wird.
Typische Beispiele sind unterschiedliche Mu-
sikinstrumente, die charakteristische Klang-
farben aufweisen, auch wenn mit ihnen die Wellenform eines
gleichen Noten gespielt werden. Mathematisch Klangs einer
Klarinette
sind Frequenzgemische mit unterschiedlichen
addierte Sinuswellen
Klangfarben leicht herstellbar. In Abbildung 9-2 erzeugen den Klang
einer Klarinette
ist dies schematisch am Beispiel eines Klarinet-
tenklangs dargestellt. Durch Summation ver- Abbildung 9-2: Beispiel für die Summation unter-
schiedener Sinuswellen entsteht ein Klang, der schiedlicher Sinuswellen mit unterschiedlichen
typischerweise durch eine Klarinette erzeugt Frequenzen zu einem Frequenzgemisch, das in
wird. Ähnlich ließen sich durch Nutzung ande- diesem Fall den Klang einer Klarinette darstellt.

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9.3.  Lautstärke und Isophone 269

sich jeder Halbton von dem vorangehenden p(0) = 2 × 10–11 dyn/cm2 = 0.0002 μbar
Halbton um den Faktor 1.06 unterscheidet
oder anders formuliert:
2 12 2 p(0) = 2 × 10–5 N/m2 = 20 μPascal.
1
1 .
Anhand dieses Bezugspunktes wird dann als
Maß für eine bestimmte Reizstärke p(x) fol-
Die Unterschiedsschwelle für Tonhöhen be-
gende Formel angewandt:
trägt bei 1000 Hz etwa 3 Hz, was einer Weber-
Konstante von k = 0.003 entspricht. Allerdings L(p(x)) = 20 × log p(x)/p(0) db.
kann die Unterschiedsschwelle durch Üben
Es ergibt sich ein Wertebereich zwischen 0
herabgesetzt werden. Eine besondere Form
und etwa 140 zwischen Hör- und Schmerz-
des Tonhörens ist das absolute Gehör. Per-
schwelle. Statt über den Schalldruck p(x) kann
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sonen, die über diese Fähigkeit verfügen, kön-


der Schallpegel auch über die Schallintensität
nen Töne (und Klänge) ohne Bezug zu einem
bestimmt werden. Es ergibt sich dann folgende
Referenzton eindeutig benennen, spielen oder
Formel:
singen. Diese besondere Fähigkeit ist absolut
gesehen selten, tritt bei Profimusikern aller- L = 10 log I(x)/I(0)dB.
dings etwas häufiger als in der Normalpopula-
Als Bezugsintensität wird I(0) =  10–12 W/m2
tion auf. Absolutes Gehör bedeutet nicht, dass
genommen.
alle Töne perfekt erkannt werden. Die absolute
Die Beziehung zwischen Lautstärke und
Benennung der Töne und Klänge schwankt
Schalldruck ist eine Potenzfunktion, wobei die
zwischen 60 und 100 %. Die Fähigkeit des ab-
empfundene Lautstärke frequenzabhängig ist.
soluten Gehörs ist an anatomische und neuro-
Aus diesem Grund werden Kurven gleicher
physiologische Besonderheiten des auditori-
Lautheit (Isophone) berechnet, um die Sensi-
schen Systems gebunden (Jäncke et al., 2012;
bilität des Hörsystems zu charakterisieren.
Oechslin et al., 2009).
Diese Dezibel-Skala trägt nicht dem Umstand
Rechnung, dass das menschliche Ohr bei un-
terschiedlichen Frequenzen unterschiedlich
9.3. Lautstärke und Isophone
für Intensitäten empfindlich ist. Die subjektive
Lautheit wird in Phon oder Sone gemessen.
Die Stärke eines Schallereignisses wird physi-
Der Lautstärkepegel eines Schallreizes be-
kalisch durch den Schallpegel beschrieben.
trägt xPhon, wenn er als gleich laut wie ein
Wie oben bereits dargestellt, empfinden wir
1000-Hz-Ton von xdB empfunden wird. Die
Schwankungen des Schalldruckpegels subjek-
Lautheit kann auch in der Sone-Skala aus-
tiv als Schwankungen der Lautstärke. Der
gedrückt werden. Da im Bereich zwischen 40
Schalldruck wird in μbar gemessen. 1 μbar
und 120 Phon ein Ton als doppelt so laut emp-
entspricht 10–1 N/m2 =  10–1 Pascal (also ein
funden wird, wenn er etwa 10 dB lauter ist als
Zehntel Newton pro Quadratmeter). Da unser
ein anderer, definiert man:
Hörsystem einen weiten Schalldruckpegel-
bereich wahrnehmen und diskriminieren Sone = 2(Phon-40)10
kann, wird ein logarithmisch transformiertes
Maß, gemessen in dB (Dezibel), genutzt. Dazu Eine Verdopplung auf der Sone-Skala ent-
wird als fester Bezugspunkt eine Reizstärke spricht also einer Verdopplung der subjekti-
p(0) im Bereich der absoluten Schwelle für ven Wahrnehmung. In Abbildung 9-3 sind
Lautstärke verwendet. Kurven gleicher Lautheit (Isophone) darge-

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270 9.  Auditorische Wahrnehmung

dB
140 phon
130
130

120

110 100
100
100

90

80 80
80

Lautstärkepegel
Schalldruckpegel

70
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60
60 60

50
40
40
40
20
30
20
20 4
Hörschwelle
10
4
0
phon

20 31.5 83 125 280 600 1000 2000 4000 8000 10 000 Hz

Abbildung 9-3: Kurven gleicher Lautheit (Isophone). Links ist der Schalldruck in Dezibel und rechts die
subjektive Lautheit in Phon angegeben.

stellt. Die untere gestrichelte Linie gibt die Die Ohrmuschel wirkt als Schalltrichter, durch
absolute Schwelle bei verschiedenen Fre- den der Schall gebündelt in das Ohr geleitet
quenzen an. Ein 1000-Hz-Ton mit 60 dB wird wird. Der Gehörgang ist durch das Trommel-
als genauso laut empfunden wie ein 60-Hz- fell, eine etwa 1/10 mm runde Bindegewebs-
Ton mit 40 dB. membran, verschlossen. Hinter dem Trom-
melfell beginnt das Mittelohr, das über die
Eustachische Röhre mit dem Rachenraum ver-
bunden ist. Von dort erfolgt ein Druckaus-
9.4. Auditorisches System
gleich gegenüber dem Außenraum bei jeder
Schluckbewegung. Das Mittelohr ist ein luft-
9.4.1. Ohr
gefüllter Hohlraum, der auch als Paukenhöhle
bezeichnet wird. In der Paukenhöhle befinden
Aufbau des Ohrs
sich die drei Gehörknöchelchen Hammer, Am-
Das menschliche Ohr wird in ein äußeres, boss und Steigbügel. Dieses System wirkt als
mittleres und inneres Ohr unterschieden Verstärker der Druckenergie, die durch die
(Abb. 9-4). Das äußere Ohr besteht aus der Schallwellen auf das Trommelfell übertragen
Ohrmuschel und dem äußeren Gehörgang. wird. Der Druck, der auf die relativ große Flä-

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9.4.  Auditorisches System 271

Steigbügel (Stapes)
Ossicula
Amboss (Incus) (Knöchelchen des
Hammer (Malleus) Mittelohres)

Knochen ovales
Fenster

Hörnerv

Cochlea
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Innenohr

Membrana tympani rundes


(Trommelfell) Fenster
Eustachische Röhre
Ohrmuschel Gehörgang (mit der Kehle verbunden)

Abbildung 9-4: Schematische Darstellung des menschlichen Ohres.

che des Trommelfells von etwa 55 mm2 trifft, stärkung der Druckenergie und versetzt die
wird über das Hammer-Amboss-Steigbügel- flüssigkeitsgefüllten Räume des Innenohrs in
System auf eine Fläche von nur 3 mm2 über- Schwingung (Abb. 9-5).
tragen und damit zusammengepresst. Damit Zum Innenohr zählt neben dem eigentli-
wird die Druckenergie am Trommelfell zu ei- chen Hörorgan (Cochlea) das Gleichgewichts-
nem hammerartigen Schlag am Steigbügel. organ. Das Hörorgan liegt in einem schnecken-
Insgesamt führt dies zu einer 20-fachen Ver- förmigen, zweieinhalbmal gewundenen Gang.
Es ist ca. 10 mm breit und 5 mm hoch; aus-
einanderstreckt ist es ca. 35 mm lang. In die-
komprimiert sem Organ liegen mehrere parallel angeord-
nete Hautschläuche: die Scala vestibuli, die
Scala media und die Scala tympani. Die Scale
vestibuli und die Scala tympani stehen am äu-
Klangwellen
ßeren Ende (dem Helicotrema) miteinander in
Verbindung. Sie sind im Gegensatz zur Scala
media mit Perilymphe29 gefüllt. Die Scala me-
verdünnt (negativer Druck) Trommelfell

Abbildung 9-5: Schematische Darstellung der


Übertragung der Schallwellen von der Außenwelt 29  Perilymphe ist eine Flüssigkeit, deren Ionen-
auf die Ohrmuschel, den Gehörgang und das In- zusammensetzung der Extrazellulärflüssigkeit ähn-
nenohr. lich ist.

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272 9.  Auditorische Wahrnehmung

Steigbügel (Stapes)
Amboss (Incus)

ovales
Hammer (Malleus)
Fenster
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Schallwellen

Basilarmembran

Trommelfell rundes
Fenster

Abbildung 9-6: Darstellung der Cochlea, wobei die Cochlea (obere Reihe) auseinandergezogen wurde,
um die Länge zu demonstrieren. In der Cochlea befindet sich die Basilarmembran. Das ovale und das
runde Fenster sind ebenfalls zu erkennen.

dia ist mit Endolymphe30 gefüllt. Zwischen nen sich lediglich 3500 auf der Basilarmem-
der Scala media und der Scala tympani befin- bran befinden, werden einzeln von afferenten
det sich die Basilarmembran, die das eigentli- Fasern innerviert. Circa 90 % aller Fasern, die
che Sinnesorgan, das Corti-Organ, trägt. Das zum Nucleus cochlearis im Hirnstamm ziehen,
Corti-Organ enthält die Rezeptoren, die auch sind mit den inneren Haarzellen verbunden.
als Haarzellen bezeichnet werden, weil sie Die restlichen 10 % der Fasern werden von
haarförmige Fortsätze an ihrer Spitze tragen, den 12 000 äußeren Haarzellen versorgt. Drei
die sogenannten Stereozilien. Diese Zilien sind Reihen äußerer Haarzellen steht eine Reihe
untereinander durch dünne Fäden verbunden, innerer Haarzellen gegenüber.
die als Tip-Links bezeichnet werden. Die Haarzellen ragen in die Scala media
Unterschieden werden innere und äußere und dort in die Endolymphe hinein. Seitlich
Haarzellen. Die inneren Haarzellen, von de- ragt ferner die Tektorialmembran in die Scala
media. Die Zilien der äußeren Haarzellen sind
mit der Tektorialmembran verwachsen, wäh-
30  Endolymphe ist eine Flüssigkeit, die Kalium-
Ionen und wenige Natrium-Ionen enthält. Sie ent- rend die Zilien der inneren Haarzellen in die
spricht im Wesentlichen der Zusammensetzung der Endolymphe hineinragen und die Tektorial-
Flüssigkeit im Inneren der Körperzellen. membran nicht berühren.

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9.4.  Auditorisches System 273

A) C)

Zilien einer
Tektorialmembran Haarzelle
(Vibrationen bewirken ein Biegen
der Zilien von Haarzellen) innere
Haarzelle
äußere
Haarzellen

B)
Scala
media
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Scala
vestibuli
Basilarmembran Axone des Hörnervs
Corti-Organ

Hörnerv
Scala
tympani Ganglion spirale

Knochen

Cochlea umgebende Membran

Querschnitt durch die Cochlea

Abbildung 9-7: (A) Hörorgan (Cochlea) und Vestibularapparat. (B) Querschnitt durch die Cochlea. Zu
erkennen sind die drei Schläuche: Scala vestibuli, Scala media und Scala tympani. (C) Schnitt durch die
Basilarmembran mit den Haarzellen und der darüber angeordneten Tektorialmembran.

Neurophysiologische Codierung
Abhängig von der Schallfrequenz entsteht
des Schalls im Innenohr
eine charakteristische Wanderwelle entlang
Der Steigbügel des Innenohrs befindet sich am der Basilarmembran (Abb. 9-8). Man kann sie
ovalen Fenster der Scala vestibuli. Die durch sich wie eine Welle vorstellen, wie sie ent-
die Schallwellen verursachte Bewegung des steht, wenn am Ende eines Seils eine Schwenk-
Steigbügels wird auf das ovale Fenster und da- bewegung erfolgt. Aufgrund der mecha-
mit auf die Scala vestibuli übertragen. Da die nischen Eigenschaften der Basilarmembran
Scala vestibuli über das Helicotrema mit der bilden sich für jede Schallfrequenz charakte-
Scala tympani verbunden ist, werden die Be- ristische Schwingungsmaxima und -minima
wegungen auch auf diese übertragen. Der entlang der Basilarmembran aus. Bei Beschal-
Druckausgleich erfolgt über das runde Fens- lung mit hohen Frequenzen liegen die Schwin-
ter. Die vom ovalen Fenster ausgelösten gungsmaxima in der Steigbügelregion und
Druckwellen bringen auch die Scala media bei Beschallung mit tiefen Frequenzen in der
und v. a. die Basilarmembran in Schwingung. Nähe des Helicotremas (Abb. 9-9). Das be-

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274 9.  Auditorische Wahrnehmung

deutet, dass jede Schallfrequenz mit charak-


teristischen Schwingungsmaxima auf der Ba-
relative Amplitude

silarmembran korreliert (Ortsprinzip der


Wanderwelle).
Für jede Schallfrequenz entsteht gemäß
dem Ortsprinzip ein Schwingungsmaximum
an einer bestimmten Stelle der Basilarmem-
0 10 20 30
bran. An dieser Stelle werden die Haarzellen
Steigbügel Helico-
trema besonders stark stimuliert und erzeugen neu-
Distanz zum Steigbügel (mm) rophysiologische Signale, die weitergeleitet
Abbildung 9-8: Schematische Darstellung der werden.
Hüllkurve der Wanderwelle. Das Maximum der Der adäquate Reiz für die Haarzellen ist
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Wanderwelle liegt ca. 22 mm entfernt vom Steig- eine minimale Auslenkung oder Verbiegung
bügel. der Zilien. Werden die Stereozilien in Rich-
tung der Erregung gebogen, werden die Tip-
Links gespannt (Abb. 9-10). Als Folge davon
Basis Apex strömen K+ und Ca2+ in den Rezeptor und be-
wirken eine Depolarisation. Eine Auslenkung
25Hz in die andere Richtung bewirkt eine Erhöhung
des Membranpotenzials der Haarzelle und da-
mit eine Hyperpolarisation. Die elektrischen
50 Hz Erregungen können am Nucleus cochlearis
gemessen werden, der die Erregungen der
Haarzellen sammelt und zentral weiterleitet.
100 Hz Bei Verbiegung der Haarzellen in die Erre-
gungsrichtung nimmt die Aktionspotenzial-
frequenz im Nucleus cochlearis zu und bei
relative Amplitude

200 Hz Verbiegung der Haarzellen in die andere Rich-


tung ab (Abb. 9-10).
Wie die äußeren und inneren Haarzellen
400 Hz miteinander interagieren, ist bislang nicht
eindeutig geklärt. Die äußeren Haarzellen
scheinen die inneren in ihrer „Empfindlich-
800 Hz keit“ zu beeinflussen. Dies geschieht wahr-
scheinlich über eine Längenveränderung der
äußeren Haarzellen, die durch efferente In-
1600 Hz nervation der äußeren Haarzellen erreicht
wird. Durch eine Kontraktion der äußeren
0 10 20 30
Haarzellen wird die Empfindlichkeit der in-
Entfernung vom Steigbügel (mm) neren Haarzellen verändert. So kann offen-
Abbildung 9-9: Darstellung der Hüllkurve von
bar top-down die Empfindlichkeit bereits auf
Wanderwellen auf der Basilarmembran bei unter- der untersten Ebene der Informationsver-
schiedlichen Frequenzen von 25 bis 1600 Hz. arbeitung justiert werden.
(Nachgezeichnet und modifiziert nach Goldstein, Jede Haarzelle ist für eine spezifische
2007) Schallwellenfrequenz empfindlich. Diese

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9.4.  Auditorisches System 275

A) Tip-Link
Zilien

Druck Druck
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wenig mittel hoch


Aktionspotenziale des Axons des Nucleus cochlearis

B)
geringe Mengen von große Mengen von
K+ und Ca2+ strömen K+ und Ca2+ strömen
in den Ionenkanal in den Ionenkanal

Tip-Link

C)
Öffnungswahrschein- Öffnungswahrschein- Öffnungswahrschein-
lichkeit = 0 Prozent lichkeit = 10 Prozent lichkeit = 100 Prozent

Abbildung 9-10: (A) Stereozilien an einer Haarzelle. Die einzelnen Stereozilien sind über Fäden (so-
genannte Tip-Links) miteinander verbunden. Führt die Schallwelle zu einer Auslenkung in Richtung der
größeren Stereozilien (Erregungsrichtung) depolarisiert die Haarzelle und erzeugt eine Zunahme der
Aktionspotenzialfrequenz über das Ruheniveau hinaus. (B) Vergrößerte Darstellung von zwei Stereo-
zilien, die durch Tip-Links verbunden sind. Verbiegung der beiden Stereozilien in die Erregungsrichtung
führt zu einer Öffnung der Ionenkanäle und damit zu einer Erregung. Die Ionenkanäle können auch voll-
ständig geschlossen werden, wenn die Stereozilien in die andere Richtung verbogen werden. (C) Dar-
stellung der Öffnungswahrscheinlichkeit der Ionenkanäle in Abhängigkeit von der Verbiegungsrichtung
der Stereozilien.

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276 9.  Auditorische Wahrnehmung

Empfindlichkeit kann mit den sogenannten Begrenzung ist die Refraktärzeit der Haarzelle.
Tuningkurven dargestellt werden. Zur Mes- Die Codierung höherer Frequenzen erfolgt
sung der Tuningkurven werden Elektroden nach dem Salvenprinzip. Benachbarte Haar-
in die Haarzellen (von Testtieren) eingeführt zellen, die prinzipiell auf den gleichen Ton
und das Tier mit Sinustönen unterschiedlicher oder Klang reagieren, arbeiten zusammen,
Frequenz beschallt. Jede Haarzelle und jeder indem sie mit der gleichen Phasenlage ant-
Hörnerv reagiert spezifisch auf eine bestimmte worten. Das hat zur Folge, dass mit jeder
Frequenz der Schallwelle (Abb. 9-11). Haarzelle, die sich an der Codierung beteiligt,
Enthält ein akustisches Signal mehrere Fre- die hörbare Frequenz um 800 Hz erhöht wird.
quenzanteile, werden entsprechend viele Hör- In Abbildung 9-12 sind fünf Nervenfasern dar-
nervenfasern an den jeweiligen Orten der Ba- gestellt, die auf den Schallreiz mit einer hohen
silarmembran und in ihrer Nachbarschaft Frequenz zwar in Phase, aber zu unterschied-
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erregt. Dadurch wird der Schall in seine Fre- lichen Zeitpunkten reagieren. Die erste Ner-
quenzkomponenten zerlegt, wobei sich die venfaser reagiert auf den Schallreiz und „pau-
Intensität der einzelnen Frequenzkomponen- siert“ dann eine bestimmte Zeit, bis sie sich
ten in der Entladungsrate der Hörnervenfa- wieder erholt hat (Refraktärzeit). Die zweite
sern widerspiegelt. Nervenfaser reagiert in der Erholungsphase
Jede Haarzelle kann nur eine bestimmte der ersten und „pausiert“ danach. Die ande-
Frequenz von Aktionspotenzialen erreichen, ren Nervenfasern „verhalten“ sich ähnlich,
die in etwa bei 800 Entladungen pro Sekunde sodass letztlich die Gesamtaktivität die hohe
liegt (also etwa 800 Hz). Der Grund für diese Frequenz abbildet.

9.4.2. Zentrale Verarbeitung


80 akustischer Reize
Hörbahn
60
Die Informationsübertragung von der Coch-
dB SPL

40 lea zum Hörkortex erfolgt im auditiven System


über ein Netzwerk. Die Haarzellen des Corti-
20 Organs übertragen ihre Informationen auf Bi-
polarzellen, deren Axone den Nervus cochlea-
0 ris bilden. Dieser Nerv lagert sich bereits im
0.1 1.0 10.0
Frequenz (Hz) Innenohr dem Nervus vestibularis an und bil-
det mit ihm den Nervus vestibulocochlearis
Abbildung 9-11: Tuningkurve von drei Hörnerven (auch Nervus statoacusticus genannt). Die
(jeder Hörnerv innerviert eine Haarzelle) eines Axone des Nervus cochlearis münden in den
Testtiers. Man erkennt, dass die drei Hörnerven-
Nucleus cochlearis im Hirnstamm. Dieses
fasern für bestimmte Frequenzen spezialisiert
Kerngebiet besteht aus dem dorsalen und ven-
sind und auf diese Frequenzen mit maximaler
tralen Nucleus cochlearis. Vom dorsalen Teil
Aktivität reagieren. Jede Tuningkurve ist relativ
schmal, was bedeutet, dass die Hörnerven und
des Nucleus cochlearis entspringt eine Bahn,
die von ihnen versorgten Haarzellen sehr spezi- deren Fasern auf die andere Seite kreuzen und
fisch auf charakteristische Frequenzen anspre- dort im lateralen Schleifenkern enden (Nu-
chen. (Nachgezeichnet nach der Abbildung 10-2 cleus lemniscus lateralis). Vom ventralen Teil
aus Matlin & Foley, 1997) des Nucleus cochlearis erreicht eine Bahn den

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9.4.  Auditorisches System 277

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12

Schallsignal

Nervenfaser 1

Nervenfaser 2

Nervenfaser 3
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Nervenfaser 4

Nervenfaser 5

Gesamtantwort

Abbildung 9-12: Schematische Darstellung der Zusammenarbeit von fünf Nervenfasern nach dem
Salvenprinzip. Die Gesamtantwort repräsentiert das Schallsignal. Die einzelnen Nervenfasern reagieren
zwar in Phase, allerdings zu unterschiedlichen Zeitpunkten.

Olivenkomplex der gleichen und der gegen- Hörbahn besteht aus mindestens 5–6 Neuro-
überliegenden Seite. Bereits auf dieser Um- nen. Durch die bilaterale Verschaltung im Oli-
schaltebene können die Informationen beider venkomplex und in den Colliculi inferior
Ohren zusammengeführt werden. Vom Oli- (Commissura colliculi inferiores) kann die An-
venkomplex gelangen die Informationen auf zahl der Neurone auch größer werden. Wichtig
beiden Seiten zu den lateralen Schleifenker- ist, dass schon früh Informationen eines Ohrs
nen. Diese aufsteigenden Bahnen werden auf beide Seiten verteilt werden. Die kontrala-
Lemnisci lateralis genannt (Singular: Lemnis- teralen Verschaltungen sind jedoch häufiger
cus lateralis). und effizienter, was u. a. anhand monauraler
Von dort führt die Hörbahn zu den Colliculi Stimulationen und den damit zusammenhän-
inferior im Mittelhirn, wo eine weitere Um- genden Aktivierungen im Hörkortex zu erken-
schaltung erfolgt und die Informationen zum nen ist. Werden akustische Reize nur dem
medialen Kniehöcker (Corpus geniculatum rechten Ohr präsentiert, ist die Aktivität im
mediale) des Thalamus übertragen werden. linksseitigen Hörkortex trotz Informations-
Über den medialen Kniehöcker werden die übertragung auf beide Hemisphären stärker als
auditorischen Informationen zum primären im rechtsseitigen. Umgekehrte Aktivierungs-
Hörkortex (Heschl-Querwindung) auf dem verhältnisse entstehen, wenn nur das linke Ohr
Gyrus temporalis superior weitergeleitet. Diese beschallt wird (Jäncke & Shah, 2002).

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278 9.  Auditorische Wahrnehmung

rechte Hemisphäre linke Hemisphäre


Fissura
longitudinalis
Kortex
Primärer Primärer
auditiver auditiver
Kortex Kortex

Sulcus

Vorderhirn
lateralis
Thalamus primärer
Nucleus Nucleus auditorischer
geniculatus geniculatus Kortex
medialis medialis

Corpus geniculatum
Mittelhirn
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mediale (Thalamus)
Colliculus Colliculus
inferior inferior
Colliculus inferior
Mittelhirn

(Tectum)

Rauten-
hirn
Nucleus Nucleus Lemniscus
lemniscus lemniscus lateralis
lateralis lateralis
Oliven- Oliven-
komplex komplex
Nuclei
cochleares
Rautenhirn

Nucleus Nucleus
corporis tra- corporis tra-
pezoidei pezoidei

Nucleus Nucleus
cochlearis cochlearis
ventralis ventralis

Nucleus Nucleus superiorer


cochlearis cochlearis Nervus
Olivenkern
dorsalis dorsalis cochlearis Cochlea

Abbildung 9-13: Schematische Darstellung der Hörbahn. Dargestellt sind die Kerngebiete des Rhom-
bencephalons, Mesencephalons, Thalamus und der primäre Hörkortex. Dargestellt ist die Verschaltung
aus der „Sicht“ des linken Ohrs.

Hörkortex
freiliegt (Abb. 9-14). So sind quer verlaufende
Der Hörkortex besteht aus verschiedenen Teil- Gyri zu erkennen, die auch als Querwindun-
gebieten mit unterschiedlichem zytoarchitek- gen bezeichnet werden; dies sind die Heschl-
tonischen Aufbau. Der primäre Hörkortex liegt Querwindungen. Bei ca. zwei Drittel aller
auf dem Gyrus temporalis superior. Er kann Gehirne können auf der rechten Hemisphäre
gut darstellt werden, wenn die Sylvische Fissur zwei und auf der linken nur eine Querwindung
mit einer Zange hochgeklappt wird, sodass die festgestellt werden. Auf den Heschl-Quer-
plane Fläche des Gyrus temporalis superior windungen (auch als Heschl-Gyrus bezeich-

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9.4.  Auditorisches System 279

A) B) anterior

Heschl- Heschl-
Querwindung Querwindung

Zange, mit der man die


Sylvische Fissur hochklappt

Heschl-
Querwindung links rechts
Sylvische
Fissur

Planum Planum
temporale temporale
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posterior

sekundärer Hörkortex

sekundärer
Hörkortex

Wernicke-Areal

Abbildung 9-14: (A) Blick auf den lateralen Teil des Gehirns und Andeutung eines Horizontalschnitts
durch die perisylvische Hirnregion. Dargestellt ist auch eine Zange, mit der die Sylvische Fissur abge-
hoben werden kann, sodass man den primären und sekundären Hörkortex freilegen und von außen be-
trachten kann. (B) Horizontalschnitt durch die Sylvische Fissur mit Hervorhebung der Heschl-Quer-
windungen und des Planum temporale. Zu erkennen sind rechts zwei Heschl-Querwindungen. Das
Planum temporale liegt hinter den Heschl-Querwindungen und ist in der Regel links größer als rechts.

net) liegt der primäre Hörkortex. Er besteht des Planum temporale sind mit einem stark
aus drei Subarealen,31 die einen ähnlichen granulären Kortex ausgestattet, dessen zy-
zytoarchitektonischen Aufbau zeigen, der sich toarchitektonischer Aufbau dem des Assozia-
allerdings vom benachbarten sekundären tionskortex ähnelt. Dieser Kortextyp unter-
Hörkortex deutlich unterscheidet: kleine gra- scheidet sich deutlich vom Kortex der primä-
nuläre Zellen, kleine Pyramidenzellen in ren Hörrinde und deutet an, dass Bereiche des
Schicht IIIc, eine große Schicht IV und eine Planum temporale in die sekundäre und ter-
kleine Schicht V. tiäre Verarbeitung auditorischer Informatio-
Hinter dem primären Hörkortex liegt auf nen involviert sind. Auffallend ist v. a., dass
dem Gyrus temporalis superior das Planum das Planum temporale stark asymmetrisch ist.
temporale. Es wird gelegentlich auch als Bei den meisten Menschen ist es links deut-
„Dach“ des Wernicke-Areals bezeichnet­ lich größer als auf der rechten Seite. Bei
(Jäncke & Steinmetz, 2003). Weite Bereiche Rechtshändern ist diese Links-rechts-Asym-
metrie stärker ausgeprägt als bei Linkshän-
31  Areal Te1.2, Te1.0 und Te1.1. dern (s. Kap. 6; Abb. 9-14).

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280 9.  Auditorische Wahrnehmung

A) Rhesusaffe Sulcus centralis Neben diesen beiden wichtigen Teilgebie-


ten des Hörkortex sind weitere Hirngebiete in
die auditorischen Analysen eingebunden: das
Planum polare, das vor dem Heschl-Gyrus auf
dem Gyrus temporalis superior liegt, sowie
der gesamte Gyrus temporalis superior (GTs),
A1 die neuronalen Netze im Sulcus temporalis
ula R superior (STS) und Bereiche des dorsalen Gy-
Ins
RT
rus temporalis medius (GTm), ferner ein ana-
GTs tomisch schwer abgrenzbares Gebiet am pos-
terioren Ende der perisylvischen Hirnregion,
STS
das Parietallappenbereiche mit einschließt
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B) Mensch
und als Teil des Wernicke-Areals bezeichnet
wird (Abb. 9-15).
Auf der Basis von Affenuntersuchungen
wird davon ausgegangen, dass sich die unter-
WA schiedlichen Hirngebiete, die für die auditori-
PT
HG TS sche Wahrnehmung verantwortlich sind, wie
PP S
„Gürtel“ aneinanderlagern. Um den primären
GTm
s Hörkortex sind demnach die sekundären und
GT
tertiären Hirngebiete gürtelförmig angeordnet.
Bei Makaken spricht man von einem „Kernhör-
kortex“, dem primären Hörkortex (A1). Vor A1
liegen mindestens zwei rostrale Teile von A1
(R  und RT). Um A1 herum ist der sekundäre
Abbildung 9-15: Schematische Darstellung der
auditorische Kortex wie ein „Gürtel“ (belt) an-
Hörkortexbereiche beim (A) Makaken und (B)
geordnet. Um diesen „Gürtel“ findet sich ein
Menschen. (A) Man erkennt den primären Hörkor-
größerer „Gürtel“, der im Englischen als para-
tex (A1) und die rostral angelagerten Bereiche des
primären Hörkortex (R und RT). Um den primären
belt bezeichnet wird (Abb. 9-15).
Hörkortex ist ein erster „Gürtel“ (belt) von sekun- Eine weitere anatomische Besonderheit
därem auditorischen Kortex angeordnet (in dun- besteht darin, dass der linksseitige Hörkortex
kelgrau gekennzeichnet). Um diesen lagert sich über mehr Volumen weißer Substanz verfügt.
ein weiterer „Gürtel“ an, der parabelt. Diese se- Die Myelinisierung des Planum temporale ist
kundären auditorischen Areale liegen alle auf dem auf der linken Hemisphäre stärker als auf der
Gyrus temporalis superior (GTs). (B) Man erkennt rechten. Aufgrund dessen wird vermutet, dass
den Heschl-Gyrus (HG) auf dem der primäre Hör- der linksseitige Hörkortex schnellere Ana-
kortex liegt. Hinter dem Heschl-Gyrus ist das lysen als der rechtsseitige durchführen kann
Planum temporale und davor das Planum polare.
(Abb. 9-16; Zatorre et al., 2002).
Die Neurone im Sulcus temporalis superior (STS),
im Gyrus temporalis superior und medius sind
auch in auditorische Analysen eingebunden. Ein- Funktionelle Neuroanatomie
gezeichnet ist auch noch ein Teil des Wernicke- des Hörkortex
Areals (WA), das sich bis in den Parietallappen
erstreckt. Alle Hirngebiete um die Sylvische Fissur Der auditorische Kortex ist anatomisch anders
werden auch als perisylvische Hirngebiete be- aufgebaut als der visuelle Kortex: Bereits auf
zeichnet und sind mit einer Box gekennzeichnet. unterster Verarbeitungsebene werden die In-

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9.4.  Auditorisches System 281

A) Heschl- B) posteriorer
Querwindung Temporallappen
3000 10 000

2500 8000
mm3

2000
6000
1500

mm3
4000
1000 weiße Substanz

500 graue Substanz 2000

0 0
links rechts links rechts
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Abbildung 9-16: Schematische Darstellung der Volumenunterschiede für die graue und weiße Sub-
stanz im Heschl-Gyrus und im posterioren Temporallappen. (Nachgezeichnet und modifiziert nach­
Zatorre et al., 2002).

formationen beider Ohren zusammengeführt. lich den auditorischen Kanal abschwächen


Insofern ist auf kortikaler Ebene die Informa- oder „verschließen“, sodass die akustischen
tion des jeweiligen Ohrs praktisch verloren Informationen im primären auditorischen
gegangen. Auch sind im auditorischen Kortex Kortex nicht oder zumindest stark abge-
im Gegensatz zum visuellen Kortex weniger schwächt verarbeitet werden. Auf der anderen
anatomisch-funktionelle Spezialisierungen zu Seite ist es möglich, den auditorischen Kortex
erkennen, was nicht bedeuten muss, dass sie durch Aufmerksamkeit zu „schärfen“ und ihn
nicht vorliegen. Des Weiteren unterscheidet durch Übung zu besonderen Leistungen zu be-
sich der auditorische Kortex des Menschen in fähigen (z. B. bei Profimusikern, s. Kap. 17). Im
vielen Aspekten von dem des Affen und ande- Folgenden werden einige funktionell-ana-
rer Tiere, weshalb bei direkten funktionell- tomische Aspekte der auditorischen Wahr-
anatomischen Vergleichen hinsichtlich audi- nehmung dargestellt.
torischer Funktionen zwischen Mensch und Anhand von Einzelzellableitungen bei Affen
Tier Vorsicht geboten ist. Ein Beispiel hierfür konnte wiederholt eine Tonotopie des audito-
sind die komplexen Sprachinformationen, die rischen Kortex herausgearbeitet werden. Diese
der Mensch lernen und auseinanderhalten Tonotopie legt nahe, dass die Anordnung der
kann. Wahrscheinlich ist der wesentliche Un- Frequenzsensibilitäten auf der Basilarmem-
terschied zwischen Mensch und Tier bezüglich bran auch im primären auditorischen Kortex
des auditorischen Kortex in der Plastizität abgebildet ist. In anderen Worten bedeutet
dieser Hirnregion beim Menschen zu sehen. dies, dass bestimmte Neuronengruppen im
Dafür spricht auch die sehr späte anatomische auditorischen Kortex für die Verarbeitung von
Reifung (s. Kap. 4). spezifischen Frequenzen spezialisiert sind. Die
Die auditorische Informationsverarbeitung Untersuchungen am Affenkortex ergaben, dass
ist in komplexe kognitive Prozesse eingebun- tiefe Frequenzen von Neuronen im anterolate-
den. So haben gerade beim Menschen Top- ralen Teil und hohe Frequenzen im posterome-
down-Einflüsse aus übergeordneten kortika- dialen Teil des auditorischen Kortex verarbei-
len Zentren erhebliche Auswirkungen auf das tet werden (Abb. 9-17).
auditorische System. Wie in Kapitel 10 dar- Diese „ordentliche“ Anordnung von fre-
gestellt werden wird, kann der Mensch willent- quenzspezialisierten Neuronen wird in man-

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282 9.  Auditorische Wahrnehmung

Zange

Hz

16000
Hz

Hz
Hz

8000
4000
2000
Hz
1000
0
50
Hz
primärer
auditorischer
Kortex (A1)
entspricht dem entspricht der
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Apex der Cochlea Basis der Cochlea

Abbildung 9-17: Typische Tonotopie im Hörkortex des Affen. Tiefe Töne werden vorrangig anterolateral
und hohe Töne posteromedial verarbeitet. Links ist ein typisches menschliches Gehirn dargestellt, da oft
die Tonotopie des Affengehirns für das Menschengehirn aus didaktischen Gründen übernommen wird.

chen Lehrbüchern auch auf den menschlichen (1,1–2 kHz) spezialisiert ist. Weiter medial
Hörkortex übertragen. Untersuchungen am finden sich Neurone, die besonders auf nied-
Menschen mittels moderner bildgebender rige Frequenzen (0,5–0,3 kHz) reagieren, wäh-
Verfahren konnten diese Art der Tonotopie rend sich medial wieder Neuronengruppen an-
allerdings nicht belegen. Eine der ersten Un- schließen, die besonders auf hohe Frequenzen
tersuchungen, die zu einem anderen Ergebnis (bis 3 kHz) ansprechen. Ein weiteres Band, das
kam, ist die von Mühlnickel und Kollegen sich lateral an das erste mediale angliedert, ist
(1998). Sie hatten die Tonotopie mittels Mag- nach vorne ausgedehnt, wo die Neurone für die
netenzephalografie untersucht und eine von hohen Frequenzen sehr weit anterolateral zu
lateral nach medial angeordnete Tonotopie finden sind. Weiter mesial liegende Neurone
festgestellt, wobei die tiefen Töne von latera- zeigen ein umgekehrtes Muster mit anterioren
len und die hohen von medial angeordneten Neuronengruppen, die besonders stark auf
Neuronen verarbeitet werden (Abb. 9-18). Eine Töne mit hohen Frequenzen ansprechen, und
anterior-posteriore Anordnung, wie in den posterioren Neuronengruppen, die auf Töne
meisten Untersuchungen an Affen, konnten niedriger Frequenz reagieren. Zusammen-
die Autoren nicht feststellen. gefasst ist festzuhalten, dass die Tonotopie im
Eine andere Arbeitsgruppe nutzte die auditorischen Kortex des Menschen komplexer
funktionelle Magnetresonanztomografie und als bei Primaten ist.
konnte ein komplexes Muster der Tonotopie im Die auditorische Wahrnehmung ist ein
auditorischen Kortex des Menschen feststellen hierarchischer Prozess, auf dessen unters-
(Formisano et al., 2003). Gemäß ihrer Ergeb- ter Ebene elementare auditorische Analysen
nisse existieren mehrere Streifen von Neuro- durchgeführt werden (Abb. 9-19). Die Ergeb-
nengruppen, auf denen sich von anterolateral nisse werden den nächsthöheren Verarbei-
bis posteromedial die Frequenzsensibilitäten tungsmodulen zugeführt (Bottom-up-Weg,
ändern (Abb. 9-18). So konnte ein medial gele- Kap. 7). Im primären Hörkortex werden die
gener Streifen identifiziert werden, bei dem ersten Frequenzanalysen vorgenommen, die
der anterolaterale Teil für hohe Frequenzen Intensitäten der akustischen Reize codiert

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9.4.  Auditorisches System 283

A) B)

medial ch
L R ho posterior
ch
ho rig
rig ed
ed ni
ni rig
ed
T4 ni
1000 Hz ch rig
2000 Hz ho ed
ni ch
4000 Hz ho
8000 Hz

23 mm ch
ho
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lateral

anterior

Abbildung 9-18: (A) Tonotopie im primären auditorischen Kortex des Menschen. Diese Tonotopie wurde
mittels Magnetenzephalografie erschlossen. (B) Tonotopie, die anhand von Arbeiten mit der funktionel-
len Magnetresonanztomografie beim Menschen berechnet wurde.

A) B)

elementare Analysen primärer


Tonhöhen auditorischer Kortex
Intensitäten und
zeitliche Zusammenhänge Planum polare

Kombination der
elementaren Planum temporale
Analyseergebnisse und
Szenenanalyse Planum polare
auditorische Objekte
(Silben, Töne)

Zusammenführen mit Gyrus temporalis


auditorischem superior
Gyrus temporalis
Gedächtnis und
medius
Wörter, Sätze, Sulcus temporalis
Melodien, Rhythmen superior

Abbildung 9-19: Schematische Darstellung der hierarchischen Organisation des auditorischen Systems.
(A) Hierarchische Organisation der Verarbeitung im auditorischen System. (B) Zuordnung der Hirngebiete
zu den Verarbeitungsebenen.

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284 9.  Auditorische Wahrnehmung

und erste zeitliche Analysen durchgeführt. nalen Netzwerken des Sulcus temporalis su-
Auf der nächsthöheren Ebene werden die Er- perior. Der Gyrus temporalis medius wird
gebnisse dieser elementaren Analysen zu- v. a. bei Sprachanalysen aktiviert, wenn die
sammengeführt. Als wesentliche Hirnstruktur auditorisch dargebotenen Wörter und Sätze
für diesen Bearbeitungsschritt wird das Pla- hinsichtlich grammatikalischer Aspekte ana-
num temporale diskutiert, das gelegentlich lysiert werden.
auch als Computational Hub bezeichnet wird Generell scheinen auf den untersten Ver-
(Griffiths & Warren, 2002), um zum Ausdruck arbeitungsebenen keine ausgeprägten funk-
zu bringen, dass in diesem Hirngebiet kom- tionellen Hemisphärenasymmetrien in den
plexe Berechnungen stattfinden, die weit über auditorischen Modulen vorzuliegen. Erst auf
die im primären auditorischen Kortex hinaus- den höheren Verarbeitungsstufen, auf denen
gehen. Arbeiten mit bildgebenden Verfahren komplexere Analysen durchgeführt werden,
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haben jedoch auch gezeigt, dass das Planum finden sich funktionelle Hemisphärenasym-
polare, das vor dem Heschl-Gyrus liegt, in metrien. So zeigt sich im Planum temporale
ähnlicher Weise in komplexe Analysen ein- eine Linksasymmetrie der Durchblutung,
gebunden ist. Das Erkennen von sinntragen- wenn die Versuchspersonen Konsonant-Vo-
den auditorischen Elementen erfolgt jedoch kal-Silben (und insbesondere kurze Stimm-
erst in späteren Verarbeitungsschritten im einsatzzeiten) analysieren. Für die Analyse
Gyrus temporalis superior und in den neuro- von Vokalen offenbaren sich symmetrische
Durchblutungsmuster. Wie oben erwähnt, ist
der linksseitige Hörkortex besser myelinisiert,
wodurch die Informationen dort wahrschein-
lich schneller innerhalb der Netzwerke trans-
feriert werden können.
R L
Dieser schnellere Informationsaustausch
könnte auch der Grund dafür sein, dass der
linksseitige Hörkortex für Zeitanalysen kurzer
zeitlich vs. spektral spektral vs. zeitlich Ereignisse (< 100 ms) besser geeignet ist als
der rechtsseitige. Da viele Sprachreize durch
Durchblutungs-

10 % kurze Elemente charakterisiert sind (z. B.


differenz

Stimmeinsatzzeiten von stimmlosen Kon-


5% sonanten), ist es denkbar, dass diese besser
im linksseitigen Hörkortex verarbeitet wer-
0%
links rechts links rechts den. Dafür spricht die linksseitig dominie-
rende Durchblutung im Planum temporale
Abbildung 9-20: Verarbeitung von spektraler vs. bei der Analyse von Konsonant-Vokal-Silben.
temporaler Information im auditorischen Kortex. Bei der Analyse von Musik sind im Vergleich
Spektrale Informationen werden verstärkt im
zur Sprache mehr Frequenzanalysen erfor-
rechtsseitigen Hörkortex und temporale Informa-
derlich oder es stehen Analysen von Melo-
tionen im linksseitigen Hörkortex verarbeitet
dien und Rhythmen im Vordergrund, für die
(nachgezeichnet nach Zatorre et al., 2002). Die
hier dargestellten Durchblutungsveränderungen
nicht zwingend schnelle auditorische Ana-
finden sich eher im  Planum polare. Dargestellt lysen erforderlich sind. Diese Analysen wer-
sind die Durchblutungsdifferenzen zwischen den den verstärkt rechtsseitig durchgeführt. Inso-
Bedingungen, in denen zeitliche oder spektrale fern wird argumentiert, dass der linksseitige
Informationen verarbeitet wurden. Hörkortex eher in zeitliche und der rechts-

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9.4.  Auditorisches System 285

seitige in spektrale Analysen eingebunden ist che“ Aktivierung im primären und sekundären
­(Zatorre et al., 2002). Hörkortex bei komplexen Klängen deutlich
Die Intensität akustischer Reize wird in erkennbar (Menon, 2002; Abb. 9-21). Ähnliche
den Haarzellen durch die Aktionspotenzial- Aktivitätszunahmen im Hörkortex finden sich
frequenz codiert. Je lauter der Reiz, desto hö- letztlich bei allen komplexen Klängen, Geräu-
her ist die Aktionspotenzialfrequenz im jewei- schen oder sonstigen akustischen Reizen. Je
ligen Nervus cochlearis. Diese Intensitätsco- mehr Teilanalysen durchzuführen sind, desto
dierung gelingt allerdings nur bis zu einer stärker bzw. desto räumlich ausgedehnter ist
Schallintensität von ca. 55–60 dB, darüber die Aktivierung.
hinaus kann die Schallintensität nicht mehr Dass der Mensch zwei Ohren hat, ermög-
über die Zunahme der Aktionspotenzialfre- licht ihm das Richtungshören, denn die Schall-
quenz codiert werden. Da aber die meisten wellen von Quellen, die nicht genau mittig vor
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auditorischen Reize in unserer Umwelt eine oder hinter uns liegen, kommen an dem näher
größere Intensität als 60 dB aufweisen, stellt zur Quelle liegenden Ohr um einen Sekunden-
sich die Frage, wie das auditorische System bruchteil früher an, was als interaurale Zeit-
höhere Schallintensitäten codiert. Jenseits differenz bezeichnet wird. Nicht nur die Lauf-
dieser Schallintensitäten werden benachbarte zeiten der Schallwellen zu den beiden Ohren
Neurone im Hörkortex rekrutiert. Dies führt unterscheiden sich, sondern auch die Intensi-
dazu, dass das aktivierte Volumen im primären täten, mit denen die Schallwellen die Ohren
und sekundären Hörkortex zunimmt, je lauter erreichen. Diese interaurale Pegeldifferenz
die akustischen Reize werden (s. Abb. 7-8). entsteht dadurch, dass der Kopf einen „Schat-
Je komplexer ein akustischer Reiz wird, ten“ wirft, der die Intensität der Schallwellen
desto mehr Neuronengruppen sind an der Ver- vermindert, die auf das weiter von der Schall-
arbeitung beteiligt. Dies zeigt sich in bild- quelle entfernte Ohr treffen. Diese Abschwä-
gebenden Arbeiten in einer Ausbreitung der chung betrifft v. a. hochfrequente Töne, da
Aktivierung im auditorischen Kortex. Subtra- diese im Verhältnis zur Kopfgröße kurze Wel-
hiert man die Hirnaktivität, die sich nach Prä- lenlängen haben und daher vom Kopf leichter
sentation einfacher akustischer Reize (z. B. reflektiert werden. Tieffrequente Töne haben
Töne) zeigt, von den Aktivierungen nach Prä- dagegen lange Wellenlängen, sodass sie vom
sentation von Klängen (die über ein reiches Kopf nicht beeinträchtigt werden. Bei Affen
Obertonrepertoire verfügen), ist die „zusätzli- konnten im Olivenkomplex Neurone identifi-
ziert werden, die spezifisch auf interaurale
Zeitdifferenzen ansprechen.
Beim Menschen werden zwar wie beim
Affen bereits auf Hirnstammebene interaurale
Differenzen berechnet, wichtig sind jedoch
L R auch die kortikalen Mechanismen der Raum-
wahrnehmung. Raumwahrnehmung beim
Menschen basiert sehr stark auf Erfahrung
und deshalb auf im Gedächtnis gespeicherten
Abbildung 9-21: Die durch Klänge im Vergleich zu
einfachen Tönen evozierte Durchblutungszu-
Informationen. Um sich im Raum zurecht-
nahme im primären und sekundären Hörkortex. zufinden, werden auch Informationen aus
Der kleine Kreis indiziert die Hirnaktivierung bei anderen Modalitäten genutzt. Man muss sich
einfachen Tönen und der große Kreis die Hirnakti- nur vorstellen, wie unterschiedlich die Um-
vierung bei komplexen Klängen. welten sind, die sich der Mensch selbst ge-

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286 9.  Auditorische Wahrnehmung

staltet hat. Stellen Sie sich vor, Sie würden in


Manhattan oder in einem kleinen Häuschen
auf dem Land leben. In Manhattan sind an-
dere Geräuschquellen vorhanden als auf dem R L
Land. Hinzu kommt, dass die Schallreflexio-
nen in Manhattan wegen der vielen Hoch-
häuser sich von denen auf dem Land unter- Raumwahrnehmung > Objektwahrnehmung
scheiden. Insofern muss die Lokalisation der
Objektwahrnehmung > Raumwahrnehmung
Geräusche beim Menschen viel stärker auf
Erfahrung beruhen als beim Affen.32 Tatsäch- Abbildung 9-22: Schematische Darstellung der
lich haben mehrere Arbeiten gezeigt, dass Hirngebiete, die bei auditiver Raumwahrnehmung
beim Menschen kortikale Neurone bzw. Neu- stärker als bei auditiver Objektwahrnehmung ak-
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ronengruppen (nicht nur Hirnstammneurone) tiviert sind.


an der Raumorientierung beteiligt sind. Wenn
akustische Reize zur Raumorientierung ge-
nutzt werden, sind v. a. posteriore perisylvi-
sche Hirngebiete aktiv. Müssen jedoch unter-
schiedliche Geräusche erkannt und ihnen eine
Bedeutung zugeordnet werden (z. B., um typi-
sche Marktplatz-, Verkehrs-, Geschäfts- oder
Bahnhofsgeräusche voneinander zu unter-
L
scheiden), sind v. a. Hirngebiete im mittleren
und unteren Temporallappen aktiv. Auf der
linken Hemisphäre ist auch der inferiore
Frontalkortex aktiv, wahrscheinlich, weil Ar-
beitsgedächtnisfunktionen genutzt werden
(Maeder et al., 2001). Neuere Arbeiten haben
gezeigt, dass insbesondere die rechtsseitigen Abbildung 9-23: Schematische Darstellung des
posterioren perisylvischen Hirngebiete für die Hirngebiets (Sulcus temporalis superior links), das
auditorische Raumwahrnehmung speziali- insbesondere bei der Verarbeitung der Sprachver-
siert sind (Spierer et al., 2009). ständlichkeit beteiligt ist.
Werden Sprachsignale dargeboten, deren
Verständlichkeit durch entsprechende akus-
tische Manipulationen variiert wird, ist oft ein Wir können uns auch sehr gut vorstellen, et-
anteriores Gebiet im Sulcus temporalis supe- was zu hören, ohne dass die akustischen Reize
rior der linken Hemisphäre besonders stark physikalisch präsent sind, z. B. ein Musik-
aktiviert. Einige Forscher vermuten, dass die- stück, das uns nicht mehr aus dem „Kopf “ zu
ses Hirngebiet insbesondere für das Erkennen gehen scheint. In diesem Fall ist in der Regel
menschlicher Sprache von Bedeutung ist (Scott der sekundäre Hörkortex aktiv, der die audi-
et al., 2000). torischen Gedächtnisbilder abruft und sie
unserem Bewusstsein zuführt. Dies ist ein
Beispiel einer Top-down-Verarbeitung, bei
32  Das soll nicht bedeuten, dass Affen nicht prinzi-
piell in der Lage wären, ähnliche Raumorientierun- der übergeordnete Verarbeitungsmodule des
gen zu lernen. In ihrer natürlichen Umwelt sind sol- auditorischen Systems die Wahrnehmungs-
che erfahrungsbedingten Einflüsse nur geringer. inhalte generieren.

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9.4.  Auditorisches System 287

Diese Hirngebiete können auch aktiv sein, charakteristisches Geräusch. Auch wenn der
ohne dass die akustischen Reize präsent sind. Hammer zu Boden fällt und wir die Flugbahn
Bei professionellen Pianisten kann dieses des Hammers visuell verfolgen, erwarten wir
Phänomen eindrücklich beobachtet werden, im Moment des Aufschlags ein typisches Ge-
wenn sie auf einem elektrischen Piano spielen räusch. Dies sind typische Episoden, die mit
und kurzfristig der Lautsprecher abgestellt charakteristischen auditorischen Perzepten
wird. Wird dann die Hirnaktivität mittels gekoppelt sind. In einem Experiment, in dem
funktioneller Magnetresonanztomografie ge- diese visuell-auditorischen Kopplungen korti-
messen, zeigt sich, dass der Hörkortex (in der kal kartiert wurden, wurden den Probanden in
Regel der sekundäre) beim Spielen aktiv ist, einer Versuchsbedingung Videoclips dargebo-
ohne dass der Pianist sein eigenes Spiel hören ten, in denen der Ton abgeschaltet war. In den
kann. Offenbar stimulieren die motorischen Kontrollbedingungen wurden diese Videoclips
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Programme zum Ansteuern der Fingerbewe- mit Ton dargeboten. Es zeigte sich, dass in
gungen gleichzeitig auch das auditorische Sys- der Anordnung ohne Ton auch der sekundäre
tem, um die auditorischen Perzepte abzurufen, Hörkortex aktiv war, so, als würden die Ver-
die mit den spezifischen Fingerbewegungen suchspersonen das „fehlende“ Geräusch auto-
gekoppelt sind (Baumann et al., 2007). Diese matisch in die visuelle Szene „hineinassoziie-
besondere Kopplung zwischen dem motori- ren“ (Bunzeck et al., 2005).
schen und dem auditorischen System ist durch Derartige visuoauditorische Assoziatio-
häufiges Pianospielen aufgebaut worden. nen können durch Lernen aufgebaut werden.
Auch ohne exzeptionelle Expertise finden Ein entsprechendes Experiment wird in Kapi-
sich Kopplungen zwischen dem auditorischen tel 17 (Plastizität) besprochen. Werden für ei-
und anderen sensorischen Systemen. Viele vi- nige Minuten gleichzeitig visuelle und audito-
suelle Episoden sind in unserem Gedächtnis rische Reize präsentiert, ist es möglich, allein
mit typischen auditorischen Perzepten gekop- durch die Präsentation der visuellen Reize
pelt. Sieht man z. B. einen Hammer, der auf den sekundären Hörkortex zu aktivieren (s. a.
einen Nagel geschlagen wird, erwartet man im Abb. 17-9). Obwohl visuoauditorische Assozia-
Moment des Auftreffens auf den Nagel ein tionen durch Lernen etabliert werden und ob-
wohl sie eine normale Variante des Lernens
und der Hirnplastizität sind, können die mit
diesen Experimenten erzielten Befunde dazu
beitragen, pathologische visuoauditorische
L R Kopplungen besser zu verstehen.
Ein interessantes pathologisches Problem
sind Musikhalluzinationen bei Personen,
die infolge von Erkrankungen des peripheren
Abbildung 9-24: Schematische Darstellung der Hörsystems ertaubt sind. Im Zustand vollstän-
Aktivierungen, die in der Studie von Bunzek et al.
diger Taubheit entwickeln einige dieser Per-
(2006) gefunden wurden. Die markierten Hirn-
sonen Musikhalluzinationen. Das bedeutet,
gebiete waren bei Präsentation von Videoclips
dass sie, ohne dies unterdrücken zu können,
aktiv, bei denen der Ton abgeschaltet war. Diese
Filmsequenzen waren allerdings mit typischen
Musikstücke oder Fragmente von Musikstü-
auditorischen Wahrnehmungen gekoppelt. Offen- cken „hören“. Diese Musikstücke sind physi-
bar evozieren die visuellen Stimuli auditorische kalisch nicht präsent, sondern entstehen über
Perzepte, die über den sekundären auditorischen einen Top-down-Prozess im Hörkortex. Dies
Kortex abgerufen werden. konnte Timothy Griffiths (2000) in einem be-

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288 9.  Auditorische Wahrnehmung

rühmten Experiment eindrücklich belegen. akustischen Reizen ist. Diese Reize müssen
Er untersuchte die Hirndurchblutung mittels nacheinander analysiert werden, um einen Be-
Positronen-Emissions-Tomografie bei diesen griff oder ein Perzept auszulösen. Bei Sprach-
Patienten und korrelierte die Durchblutungs- signalen setzt sich eine Serie von Phonemen zu
kennwerte mit der subjektiven Stärke der Mu- Silben und letztlich zu Wörtern zusammen.
sikhalluzinationen. Dabei stellte er fest, dass Auch auf der nächsthöheren Ebene müssen
die Durchblutungsstärke im sekundären audi- die Wörter zu Satzfragmenten, Sätzen oder
torischen Kortex mit der Stärke der Musikhal- ganzen Sinneinheiten zusammengefügt wer-
luzinationen korrelierte. Offenbar induziert den. Bei Musikreizen ist dies genauso: Meh-
der sekundäre auditorische Kortex die Wahr- rere nacheinander dargebotene Töne (Klänge)
nehmung der Musik. machen eine Melodie aus. Die visuelle Wahr-
nehmung ist mehr durch parallele Verarbei-
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tung gekennzeichnet. Erst wenn Bilderserien


Neurophysiologie des auditorischen
oder Filme wahrgenommen werden, wird eine
Systems
Serien-parallel-Wandlung notwendig.
Die im vorangegangenen Abschnitt dargestell- Der besondere serielle Charakter der audi-
ten Befunde zeigen im Wesentlichen, welche torischen Reize erfordert auch eine schnelle
Hirngebiete an der auditorischen Wahrneh- Analyse mit vielen prädiktiven Anteilen (feed-
mung beteiligt sind. Das menschliche Gehirn forward). Das ist ungefähr so vorstellbar, dass
agiert jedoch als ein dynamisches System, das gerade verarbeitete auditorische Signale ei-
innerhalb weniger Millisekunden Informatio- nen Mechanismus auslösen, der die zu erwar-
nen verarbeitet und Vorhersagen für kom- tenden nächsten auditorischen Reize vorher-
mende Ereignisse herausarbeitet. Für die Ana- sagt. Nur so kann das auditorische System
lyse schneller Prozesse im Zusammenhang mit den Strom der schnell aufeinanderfolgenden
der auditorischen Wahrnehmung muss dem- akustischen Reize analysieren und zu einer
zufolge auf Registriermethoden zurückgegrif- Wahrnehmung gelangen. Dieser Vorhersa-
fen werden, die im Millisekundenbereich neu- gemechanismus ist zwingend notwendig,
rophysiologische Hirnaktivierungen erfassen. um den akustischen Signalstrom in sinnvolle
Typische Methoden, die dazu beim Menschen Elemente zu unterteilen. Vor allem bei den
eingesetzt werden, sind die Magnetenzepha- Sprachsignalen sind die Grenzen zwischen
lografie und die Elektroenzephalografie. Sel- Phonemen und Silben oft fließend. Bei Musik-
ten werden auch intrazerebrale Ableitungen stücken ist dies ähnlich, denn oft „fließen“ die
am offengelegten Gehirn durchgeführt. Häu- Töne ineinander, sodass die Grenzen zwi-
figer wird versucht, anhand der Skalpvertei- schen den Tonübergängen nicht immer ein-
lung der elektrischen Hirnaktivität (oder an deutig erkennbar sind.
der Magnetfeldverteilung an der Schädelober- Insgesamt machen diese Beispiele deutlich,
fläche) die intrazerebralen Quellen der Aktivi- dass gerade bei der auditorischen Wahrneh-
täten zu schätzen. Wie in Kapitel 5 bespro- mung schnelle Analyseprozesse, die durch
chen, sind diese noninvasiven Schätzungen Vorhersagemechanismen ergänzt werden,
intrazerebraler Aktivierungsquellen mittler- notwendig sind. Insofern sind zur Analyse der
weile recht genau. neurophysiologischen Grundlagen der audito-
Die auditorische Wahrnehmung erfordert rischen Wahrnehmung auch Methoden sinn-
eine Serien-parallel-Wandlung der auditori- voll, die eine Registrierung neurophysiologi-
schen Signale, da das zu analysierende akus- scher Ereignisse auf Millisekundenbasis er-
tische Signal eine sequenzielle Abfolge von möglichen.

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9.4.  Auditorisches System 289

Frühe auditorische Verarbeitung Die folgende N1-Komponente tritt mit Ma-


Mittels Elektro- und Magnetenzephalografie ximalamplitude ca. 100 ms nach Reizeinsatz
können die auditorisch evozierten Potenziale auf. Für diese Komponente sind viele intra-
gemessen werden, die am besten am Vertex zerebrale Generatoren gefunden worden, v. a.
des Schädels (Elektrodenposition Cz) ableit- im primären und sekundären Hörkortex (Pla-
bar sind (s. a. Kap. 5). Typischerweise ist die- num temporale und posteriorer Gyrus tempo-
ses auditorisch evozierte Potenzial durch die ralis superior; Meyer et al., 2006). Die folgende
Potenzialabfolge P1, N1, P2 gekennzeichnet, P2-Komponente hat ihr Maximum ca. 180 ms
weshalb diese Potenzialfolge gelegentlich auch nach Reizeinsatz. Die intrazerebralen Genera-
als P1-N1-P2-Komplex bezeichnet wird. toren sind weit verteilt und können im Hör-
Die P1-Komponente ist eine positive De- kortex, aber auch außerhalb liegen, z. B. in den
flexion des evozierten Potenzials, das ca. 50 ms Mittellinienstrukturen des Frontalkortex und
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nach Reizeinsatz am Vertex zu messen ist. Die Parietallappens (Meyer et al., 2006). Da sich
neuronalen Generatoren sind v. a. im primären akustische Reize über die Zeit entfalten, ist
Hörkortex geortet worden. Zu diesen Hirn- der Reiz präsent, während sich das evozierte
gebieten gehören der Hippocampus, das Pla- Potenzial entfaltet.
num temporale, laterale Temporalkortexan- Am Ende des akustischen Reizes ist ein ab-
teile und wahrscheinlich auch Hirnstammkerne geschwächter P1-N1-P2-Komplex zu be-
(Martin et al., 2008). An diesen verteilten Ge- obachten. Der erste P1-N1-P2-Komplex tritt
neratoren ist zu erkennen, dass bereits auf ei- nach Reizeinsatz auf und wird als On-Reak-
ner frühen Stufe der auditorischen Informati- tion bezeichnet, während der zweite P1-N1-
onsverarbeitung der primäre Hörkortex mit P2-Komplex nach Reizende auftritt und als
anderen Hirngebieten interagiert. Off-Reaktion bezeichnet wird (Abb. 9-25).

On-Reaktion tonischer Reaktionsteil Off-Reaktion


5
4
P2
3
P2
2
P1
1
P1
0
Amplitude (µV)

–1
–2
N1 N1
–3
–4
–5
0 200 400 600 800 1000 1200 1400 1600 1800 2000 2200
Zeit in ms

Tonbeginn Tonende

Abbildung 9-25: Typischer P1-N1-P2-Komplex nach Tondarbietung. Nach Toneinsatz istdie On-Reaktion
und nach Tonende die Off-Reaktion erkennbar.

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290 9.  Auditorische Wahrnehmung

Solche On-Off-Reaktionen treten praktisch bei Mittelteil und die Off-Reaktion. Auch beim
allen akustischen Reizen auf, die länger als Wechsel innerhalb eines Lauts (z. B. bei dem
400 ms dauern. Diphthong /ue/ in „Gruezi“) kann man beim
Bei kurzen Reizen sind die Off-Reaktionen Wechsel von den Formanten, die typisch sind
nicht mehr erkennbar, da sie in der On-Re- für das /u/, zu den Formanten, die typisch sind
aktion verborgen sind. Der physiologische für das /e/, eine On-Reaktion feststellen, vo-
Prozess des Verarbeitens des Reizendes findet rausgesetzt, der Diphthong wird mindestens
jedoch statt, auch wenn er nicht mehr eindeu- 400 ms lang ausgesprochen (Martin et al.,
tig erkennbar ist. Werden lange Reize (die z. B. 2008). Diese zweite On-Reaktion wird auch
2 s lang sind) verwendet, dann lässt sich der Acoustic Change Complex (ACC) genannt
tonische Mittelteil der neurophysiologischen (Abb. 9-26). Sie wird in der Phonetik und der
Reaktion sehr gut separieren (Abb. 9-25). Bei Klinischen Linguistik häufig genutzt, um zu
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kurzen Reizen sind diese Teile ebenfalls vor- überprüfen, ob die Testpersonen in der Lage
handen, nur meistens in die Komponenten- sind, Formantwechsel zu verarbeiten.
abfolge der On-Reaktion eingebettet. Anhand Dieser P1-N1-P2-Komplex kann auch ge-
dieses Beispiels ist zu erkennen, dass die audi- messen werden, wenn die akustischen Reize
torische Analyse ein sequenzieller Prozess ist, nicht physikalisch präsent sind, sondern von
bei dem Reizbeginn und -ende sowie der to- den Versuchspersonen nach einem Hinweis-
nische Mittelteil des Reizes separat verarbei- reiz vorgestellt werden (Martin et al., 2008).
tet werden. Die auditorische Analyse ist, wie oben dar-
Diese und ähnliche Aufeinanderfolgen von gestellt, ein schneller sequenzieller Prozess.
neurophysiologischen Reaktionen sind bei der Um zu verdeutlichen, wie schnell die beteilig-
sequenziellen Tondarbietung und bei der Prä- ten neurophysiologischen Prozesse sich wäh-
sentation von Sprachlauten zu erkennen. Bei rend des Verarbeitens von auditorischen Rei-
der sequenziellen Darbietung von Tönen (z. B. zen verändern, können die während der
bei der Präsentation eines Musikstücks) löst Reizverarbeitung gemessenen Hirnaktivitäten
jeder Ton drei neurophysiologische Reaktio- statistisch gruppiert werden. Gemessen wird
nen aus: die On-Reaktion, einen tonischen die Hirnaktivität während der Reizdarbietung,
z. B. mit einem hochauflösenden EEG (z. B.
128 Elektroden). Anschließend werden die
4 Elektrode Cz evozierten Potenziale auf diese Reize und die
P2
3 Verteilung derselben ermittelt, um für jede
P2
2
P1 Millisekunde eine Verteilung der elektrischen
1
P1 Aktivität an der Schädeloberfläche zu erhal-
0
ten. Nun kann über die Zeit berechnet werden,
Amplitude (µV)

–1
–2 wie lange die Verteilung der elektrischen Ak-
N1
–3 N1 tivität konstant bleibt bzw. wann sie wechselt.
–4 Die stabilen Zustände elektrischer Aktivität
Formantwechsel
–5
0 200 400 600 800 1 000 1 200 1 400 werden Microstates genannt. Diese Microsta-
Zeit in ms tes können als Aktivierungszustände des Ge-
Abbildung 9-26: Acoustic Change Complex (ACC) hirns interpretiert werden, in denen das Ge-
bei der Wahrnehmung eines Diphthongs. Die hirn (und in diesem Fall insbesondere das
zweite On-Reaktion indiziert den Formantwechsel auditorische System) konstant aktiv ist. Typi-
von /u/ nach /e/ des Diphthongs /ue/ (nach Martin scherweise sind sie 40–150 ms lang. Vermutet
et al., 2008). wird, dass während eines Microstates ein psy-

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9.4.  Auditorisches System 291

chologischer Prozess abläuft. Wird die Abfolge Ereignissen lässt sich auch anhand charakte-
von Microstates während der Präsentation von ristischer Hirnreaktionen ablesen (Bendixen
Tönen und Geräuschen berechnet, ist erkenn- et al., 2012). Schon nach wenigen Präsentatio-
bar, dass während der ersten 400 ms nach nen von akustischen Reizen hat das auditori-
Reizpräsentation sich 6–7 Microstates ab- sche System eine Gedächtnisspur für diese
wechseln, dabei können sich einige mehrfach Reize gebildet und erwartet entsprechend die
wiederholen (Abb. 9-27). In den ersten 200 ms nächsten Reize.
ereignen sich 4–5 Microstate-Wechsel. Das Entsprechen diese Reize der Erwartung,
bedeutet, dass schon auf einer frühen audito- generiert das auditorische System eine Re-
rischen Verarbeitungsstufe 4–5 verschiedene aktion in Form eines evozierten Potenzials, das
psychologische Prozesse ablaufen, die sich als Repetition Positivity bezeichnet wird. Es
rasch abwechseln (Ott et al., 2011). ist ein positives Potenzial, das über frontozen-
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Das auditorische System ist nicht nur ein tralen Elektroden auftritt und dessen Ampli-
schneller sequenzieller Analysator, sondern tude mit der Sicherheit der Erwartung zu-
auch ein System mit hervorragenden Vorher- nimmt. Dieses Potenzial ist nach nur wenigen
sagefähigkeiten. Schon wenige Töne einer Wiederholungen des gleichen Tons noch recht
Melodie reichen aus, um den Fortgang der klein und wird mit zunehmender Anzahl der
Tonfolge zu antizipieren. Auch bei der Sprach- Wiederholungen größer. Je häufiger ein Reiz
wahrnehmung sind die prädiktiven Fähigkei- wiederholt wird, desto sicherer ist das System,
ten wichtig für das Sprachverständnis. Die Fä- dass demnächst wieder der gleiche Reiz auf-
higkeit zur Vorhersage von auditorischen tritt. Die Repetition Positivity tritt in einem
Zeitbereich von 80 bis 250 ms auf.
Wenn der präsentierte Ton nicht der Erwar-
tung entspricht, generiert das System eine
N1
P2 Geräusch 1
P1 Mismatch-Reaktion, die als Mismatch-Nega-
tivity bekannt ist (s. a. Kap. 5). Diese Mis-
3 4 3 6 8 9 11 match-Negativity hat ihr Maximum über zen-
N1 tralen Elektrodenpositionen und tritt in einem
P2 Geräusch 2
P1 Intervall von 100 bis 200 ms auf. Sie wird
umso größer, je deutlicher der Unterschied
3 4 3 6 8 7 9 zwischen dem häufig (standard) und dem sel-
ten (deviant) auftretenden Reiz ist. Die N1-
(ms) 100 200 300 400
Amplitude ist verringert, wenn das auditori-
Abbildung 9-27: Abfolge von Microstates bei der sche System den sie auslösenden Reiz gut
Wahrnehmung von Geräuschen (nach Ott et al., vorhersagen kann. Auch wenn der akustische
2011). Jedes einzelne Segment indiziert einen Reiz durch einen Tastendruck selbst ausgelöst
neurophysiologischen Aktivierungszustand des wird, ist die N1-Amplitude etwas verringert,
Gehirns während der Verarbeitung von akusti-
offenbar, weil das auditorische System den
schen Reizen. In den mit Pfeilen gekennzeichne-
Ton anhand der motorischen Aktion vorhersa-
ten Segmenten sind die typischen Komponen-
gen kann.
ten des auditorisch evozierten Potenzials ver-
borgen. Die Microstates sind an Übergängen der Die frühen neurophysiologischen Reaktio-
Global Field Power (GFP) dargestellt. Die GFP ist nen des auditorischen Systems codieren auch
die für jede Millisekunde berechnete Variabilität die Intensität des auditorischen Reizes. Dies
der an allen Elektroden gemessenen evozierten ist gut an der Amplitude der N1-Komponente
Potenziale. zu erkennen, die mit zunehmender Intensität

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292 9.  Auditorische Wahrnehmung

des auditorischen Reizes größer wird. Letzt- Auslösung (Regelverletzung) wird vermutet,
lich konnte gezeigt werden, dass auch die dass ähnliche Prozesse bei der Verarbeitung
evozierte Gamma-Band-Reaktion (evoked von Musik- und Sprachsyntax beteiligt sind
gamma-band response)33 in Abhängigkeit (Sammler et al., 2009).
von der Schallintensität variiert. Je intensiver Der linke und rechte Hörkortex oszillieren
ein Reiz, desto größer ist die Amplitude der bereits im Ruhezustand in unterschiedlichen
Gamma-Band-Reaktion (Schadow et al., Frequenzen. Der linksseitige auditorische
2007). Im Übrigen korreliert die intensitäts- Kortex oszilliert vorrangig im Gamma-Fre-
abhängige Amplitude der Gamma-Band-Re- quenzbereich (28–40 Hz), während der rechts-
aktion mit der BOLD-Reaktion des auditori- seitige im Theta-Frequenzbereich oszilliert
schen Kortex. (4–8 Hz). Diese Oszillationen korrelieren auch
Eine weitere Komponente des auditorisch mit den Fluktuationen der Hämodynamik im
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evozierten Potenzials, die ungefähr 200 ms Ruhezustand. Die Entdecker dieser Oszillatio-
nach Reizeinsatz auftritt, ist die Early right nen vermuten (Giraud & Poeppel, 2012), dass
anterior negativity (ERAN). Diese Negati- mittels der jeweiligen Oszillationen zeitliche
vierung des auditorisch evozierten Potenzials Rahmen erstellt werden, die bestimmte audi-
(mit leichter rechtshemisphärischer Domi- torische Analysen determinieren. Die schnel-
nanz) tritt auf, wenn die dargebotenen akus- len Gamma-Oszillationen im linksseitigen
tischen Reize eine Regel brechen. Solche Re- Hörkortex sollen schnelle auditorische Ana-
gelbrüche können sehr gut mit Akkord-Se- lysen ermöglichen, wie sie z. B. für Phonem-
quenzen aus sechs Akkorden getestet werden. analysen notwendig sind. Die langsameren
Präsentiert man die Akkorde Dominante,  – Oszillationen des rechtsseitigen Hörkortex
Tonika, – Subdominante, – Subdominante und sollen einen günstigen Rahmen für lang-
Dominante, dann erwartet der Hörer nach samere Analysen bieten, sodass z. B. die Ana-
diesen fünf Akkorden implizit eine Tonika. lyse und Segmentierung von Silben im rechts-
Folgt ein unerwarteter (irregulärer) Akkord, seitigen Hörkortex optimaler verläuft.
wird die ERAN ausgelöst. Ihre Generatoren
befinden sich bilateral im Gyrus temporalis su- evozierte Gamma-Band-Reaktion
perior und im linksseitigen Gyrus frontalis in- 0.4
ferior (Sammler et al., 2009).
Eine ähnliche EEG-Reaktion tritt bei Ver-
µV

letzungen sprachlich-syntaktischer Regeln auf. 0.2


Diese Reaktion ist auf der linken Hemisphäre
etwas stärker und wird deshalb auch als Early
left anterior negativity (ELAN) bezeichnet.
Auch die intrazerebralen Quellen der ELAN
liegen im Gyrus temporalis superior und im
linksseitigen Gyrus frontalis inferior. Auf- –0.2 0.2 0.4
Sekunde
grund der überlappenden neuronalen Genera-
toren und der Ähnlichkeit hinsichtlich der 60 dB 45 dB 30 dB

Abbildung 9-28: Gamma-Band-Reaktionen auf


33  Die Gamma-Band-Reaktion auf einen auditori- akustische Reize mit unterschiedlicher Intensität
schen Reiz wird durch Filterung des evozierten Po- (30 dB, 45 dB und 60 dB). Das Maximum der
tenzials im Frequenzbereich von 25 bis 60 Hz ge- Gamma-Band-Reaktion liegt ca. bei 60–70 ms
wonnen. Ihr Maximum liegt im Bereich von 50 ms. (nach Schadow et al., 2007).

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9.4.  Auditorisches System 293

Theta-Band Gamma-Band
20 20
15 15
10 10
5 5
0 0
5 5
0 0
–15 –15
–20 –20
Zeit in ms Zeit in ms

R L
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Abbildung 9-29: Darstellung der präferierten Oszillationen für den links- und rechtsseitigen Hörkortex.
Im linksseitigen Hörkortex wird die schnelle Gamma-Band-Oszillation (25–60 Hz) präferiert, während
im rechtsseitigen Hörkortex die langsamere Theta-Band-Oszillation (4–7 Hz) dominiert (nach Giraud &
Poeppel, 2012).

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass in Komponenten der Hirnstammpoten-


den ersten 200 ms akustische Reize einen ziale innerhalb der ersten 10 ms der au-
sequenziellen Verarbeitungsprozess durch- ditorischen Informationsverarbeitung.
laufen, der im Hirnstamm beginnt und in den Diese Hirnstammpotenziale können
sekundären auditorischen Arealen endet. mittels Hirnstamm-Audiometrie gemes-
Hierbei muss jedoch berücksichtigt werden, sen werden. Wichtig hierbei ist, dass
dass bereits während der Verarbeitung im pri- sehr kurze akustische Klicks sehr häufig
mären Hörkortex parallel andere Hirngebiete (bis zu 2000-mal) präsentiert werden.
in die Verarbeitung eingebunden sind (Hip- Folgende typische Komponenten des
pocampus und lateraler Temporallappen). Wie Hirnstammpotenzials können unter-
im visuellen System werden diese Verarbei- schieden werden:
tungswege durch Top-down-Einflüsse aus •
Welle I/II nach ca. 2 ms: Nervus coch-
übergeordneten Strukturen beeinflusst (z. B. learis
Aufmerksamkeit). Der sequenzielle Weg der •
Welle III nach ca. 3 ms: cochleäres
auditorischen Informationsverarbeitung kann Kerngebiet
wie folgt zusammengefasst werden: •
Welle IV nach ca. 4 ms: obere Oliven
• Cochlea •
Welle V nach ca. 6 ms: Brücke

Transduktion in den Haarzellen •
Welle VI/VII ca. 8–10 ms: Lokalisa-
• Hirnstamm tion unsicher; wahrscheinlich Colli-

Im Hirnstamm werden die auditori- culi inferior
schen Informationen weiter- und teil- • Hörkortex
weise vorverarbeitet zum Hörkortex ge- • primärer Hörkortex (Heschl- Querwin-
leitet. Hierbei erfolgen Umschaltungen dungen)
auf unterschiedliche Kerngebiete. Diese •
P1-Amplitude des evozierten Poten-
Umschaltungen generieren typische zials ca. 50–60 ms nach Reizeinsatz

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294 9.  Auditorische Wahrnehmung

• evozierte Gamma-Band-Reaktion ca. tät gemessen werden. Viele dieser später auf-
50–60 ms nach Reizeinsatz tretenden Hirnaktivierungen wie auch die Os-
• N1-Amplitude des evozierten Poten- zillationen sind nicht zwingend typisch für die
zials ca. 100 ms nach Reizeinsatz auditorische Informationsverarbeitung, son-
• sekundärer Hörkortex dern sie treten in ähnlicher Form auch bei an-
• N1-Amplitude des evozierten Poten- deren Reizen aus anderen Modalitäten auf.
zials ca. 100 ms nach Reizeinsatz Ein typisches Beispiel für eine verteilte Ver-
• teilweise auch P2-Komponente des arbeitung unter Einschluss mehrerer Hirn-
evozierten Potenzials ca. 180  ms gebiete ist die ELAN/ERAN (s. o.), denn diese
nach Reizeinsatz EEG-Komponenten indizieren eine synchrone
• ELAN und ERAN ca. 200 ms nach Verarbeitung im Gyrus temporalis superior
Reizeinsatz und im Gyrus frontalis inferior. Vermutlich
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werden hier auditorische Informationen aus


Späte auditorische Verarbeitungsprozesse dem auditorischen Gedächtnis im Gyrus tem-
Wie oben erwähnt, interagieren Top-down- poralis superior abgerufen und im auditori-
Einflüsse mit dem Bottom-up-Verarbeitungs- schen Arbeitsspeicher im Gyrus frontalis infe-
weg der auditorischen Informationsverarbei- rior bearbeitet.
tung. Diese Einflüsse sind an den oben dar- Nach der frühen auditorischen Analyse
gestellten Komponenten der evozierten Po- werden die auditorischen Informationen wei-
tenziale erkennbar, die alle (mit Ausnahme der teren psychischen Prozessen zugeführt, deren
Hirnstammpotenziale) durch Top-down-Ein- Verarbeitungsmodule verteilt im Gehirn lie-
flüsse moduliert werden können. Selbst wenn gen. Beispielhaft ist die Komplexität der audi-
die (normalerweise) evozierenden Reize nicht torischen Informationsverarbeitung im Zu-
vorhanden sind, können diese Komponenten sammenhang mit der Musikwahrnehmung
des auditorisch evozierten Potenzials gemes- schematisch in Abbildung 9-30 dargestellt. Zu
sen werden, allerdings in der Regel mit ge- erkennen ist auch die Überlappung zwischen
ringerer Amplitude. Die Top-down-Einflüsse Musik- und Sprachwahrnehmung und der Zu-
werden v. a. auf den späteren Stufen der Infor- sammenhang zwischen der Wahrnehmung
mationsverarbeitung offensichtlich, wenn an- und der Motorik (Singen, Tapping und Spre-
dere Hirngebiete und andere psychische Funk- chen). Insofern ist einsichtig, dass mit zuneh-
tionen mit den auditorischen Informationen mender Komplexität der auditorischen Wahr-
interagieren. nehmung mehr Hirngebiete synchronisiert
Etwa ab 200–300 ms nach Reizeinsatz be- werden müssen.
ginnt die komplexe Objektwahrnehmung Es ist daher nicht verwunderlich, dass z. B.
und das auditorische Arbeits- und das Lang- beim Hören von Musik weite Teile des Ge-
zeitgedächtnis werden genutzt. Des Weiteren hirns, synchron miteinander oszillieren. Dies
werden die auditorischen Informationen mit wurde insbesondere für das Gamma-Band
anderen Modalitäten in Verbindung gebracht, gezeigt (Andrade & Bhattacharya, 2003;­
d. h. visuelle, taktile und/oder gustatorische Bhattacharya & Petsche, 2001). Aber auch in
Informationen werden mit den auditorischen anderen Frequenzbereichen wurden Zunah-
assoziiert. Dies führt zu einer verteilten Akti- men der Kohärenzen zwischen verschiedenen
vierung, die verschiedene Hirngebiete um- Hirngebieten während des Musikhörens nach-
fasst. Diese verteilte Hirnaktivität kann mit- gewiesen (Peterson & Thaut, 2007).
tels evozierter Potenziale, aber insbesondere Zusammengefasst ist die auditorische
durch elektrische Oszillationen der Hirnaktivi- Wahrnehmung ein hierarchischer Prozess, der

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9.5. Zusammenfassung 295

Akustische Analyse

Tonhöhenorganisation Organisation der


zeitlichen Struktur

Ton- Intervall- Kontur- Rhythmus- Metrum- Akustik-


analyse analyse analyse analyse analyse Phonologie
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Phonologisches
Emotionen Musiklexikon
Lexikon

motorische motorische
Assoziatives
Programme – Programme –
Gedächtnis
Stimme Hände

Singen Tapping Sprechen

Abbildung 9-30: Schematische Darstellung der Komplexität der Musikwahrnehmung (aus Jäncke, 2008).

schematisch in Abbildung 9-31 dargestellt ist. Anbindung der auditorischen Informationen


Die Transduktion der Schallwellen erfolgt in an andere Sinnesmodalitäten. Letztlich ent-
der Cochlea, von der aus die elektrischen Sig- steht im Assoziationskortex ein Modell des
nale über die Hörbahn zum Hörkortex geleitet auditorischen Objekts.
werden. Auf dem Weg über die Hörbahn er-
folgen erste Analysen. In der Regel sind dies
spektrotemporale Berechnungen, das Zusam- 9.5. Zusammenfassung
menführen der Informationen beider Ohren
und elementare räumliche Analysen. Im Hör- • Was wir hören, sind Schallwellen, d. h.
kortex erfolgt eine erste Abstraktion der auf Druckschwankungen in elastischen Me-
den unteren Ebenen berechneten Informatio- dien. Diese Druckschwankungen sind z. B.
nen. Es werden Vorhersagen getroffen, Inva- Verdichtungen und Verdünnungen der Luft
rianzen erkannt und das auditorische senso- innerhalb einer bestimmten Zeiteinheit,
rische Gedächtnis wird aufgebaut und/oder die auf das Ohr treffen.
die hereinkommenden Informationen wer- • Schallwellen sind physikalisch durch die
den mit dem sensorischen Gedächtnis ver- Frequenz, die Amplitude und die Kom-
glichen. Auf der nächsten Ebene folgt die plexität der sich überlagernden Schallwel-

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296 9.  Auditorische Wahrnehmung

Assoziationskortex
Objekt-Kategorisierung

Multimodaler
Kortex
crossmodale Analysen

Abstraktion
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sensorisches Gedächtnis
Hörkortex
Erkennen von Invarianzen
HIerarchische Analysen
Vorhersagen

Musteranalyse
spektrotemporale Analysen
Hörbahn
binaurale Fusion
Raumwahrnehmung

Encodierung
Transduktion
Cochlea

Abbildung 9-31: Schematische Darstellung des hierarchischen Ablaufs der auditorischen Wahrneh-
mung (nach Griffiths & Warren, 2004).

len definiert (physikalische Dimension). einigung zu einem Klang erleben wir als
Jeder dieser physikalischen Aspekte ist mit Klangfarbe (Timbre).
bestimmten psychischen Erlebnissen bzw. • Isophone sind Kurven gleicher Lautheit
Wahrnehmungen gekoppelt (psychische und berücksichtigen die frequenzabhän-
bzw. perzeptuelle Dimension). Die unter- gige subjektive Empfindlichkeit für Laut-
schiedlichen Frequenzen des Schalls heit. Gemessen wird die Lautheit mit der
(Schwingungen pro Zeiteinheit) werden als Sone- und/oder der Phon-Skala.
Tonhöhen erlebt: schnelle Frequenzen als • Das menschliche Ohr wird in ein äußeres,
hohe Töne und langsame Frequenzen als mittleres und inneres Ohr unterschieden.
tiefe Töne. Schallwellen mit hohen Ampli- • Auf der Basilarmembran befindet sich das
tuden werden als laut und Schallwellen mit eigentliche Sinnesorgan, das Corti-Organ,
niedrigen Amplituden als leise wahrge- das die Rezeptoren (Haarzellen) trägt. Sie
nommen. Die Anzahl und Art der sich haben an ihrer Spitze haarförmige Fort-
überlagernden Schallwellen und ihre Ver- sätze, die Stereozilien genannt werden.

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9.5. Zusammenfassung 297

Diese Zilien sind untereinander durch Der hintere Teil der perisylvischen Hirn-
dünne Fäden verbunden, die als Tip-Links region wird auch als Wernicke-Areal be-
bezeichnet werden. Unterschieden wird zeichnet.
zwischen inneren und äußeren Haarzellen. • Der primäre und der sekundäre Hörkortex
• Die Druckschwankungen werden in das sind anatomisch asymmetrisch aufgebaut,
Innenohr weitergeleitet und übertragen mit mehr weißer Substanz links als rechts.
sich auf die Basilarmembran. Auf der Ba- Das Planum temporale weist eine Links-
silarmembran wird eine Wanderwelle mit rechts-Volumenasymmetrie auf.
einem frequenzabhängigen Schwingungs- • Der Hörkortex des Menschen weist eine
maximum erzeugt. Tiefe Frequenzen füh- andere Tonotopie als das Affengehirn auf.
ren zu einem Schwingungsmaximum nahe Grundsätzlich ist die Tonotopie im mensch-
am Steigbügel, während hohe Frequenzen lichen Gehirn komplexer als im Affen-
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ein Schwingungsmaximum nahe am Apex gehirn.


(Helicotrema) erzeugen (Ortsprinzip). • Die auditorische Wahrnehmung ist ein hie-
• Die Haarzellen am Ort der Maximalschwin- rarchischer Prozess, bei dem auf unterster
gung werden besonders stark erregt und Ebene elementare auditorische Analysen
erzeugen elektrische Erregungen, die über durchgeführt werden, deren Ergebnisse
den Nervus cochlearis weitergeleitet wer- den nächsthöheren Verarbeitungsmodulen
den. Der adäquate Reiz für die Haarzellen zugeführt werden. Grob kann zwischen ei-
ist eine minimale Auslenkung oder Verbie- nem Bottom-up- und einem Top-down-
gung der Zilien infolge der Bewegung der Weg der Informationsverarbeitung im audi-
Basilar- und der Tektorialmembran. torischen System unterschieden werden.
• Mittels des Salvenprinzips können auch Beide Informationswege interagieren auf
höhere Frequenzen codiert werden. allen Ebenen miteinander.
• Die Hörbahn umfasst die Kerngebiete und • Mittels bildgebender Verfahren können
Faserstränge, über die die auditorischen verschiedene Teilgebiete des auditorischen
Informationen von der Cochlea nach zen- Systems ausgemacht werden, die für be-
tral in den Hörkortex transferiert werden. stimmte Analysen spezialisiert sind.
Zur Hörbahn gehören der Nervus cochlea- • Die Analyse zeitlich kurzer Ereignisse wird
ris, der Nucleus cochlearis, der Olivenkom- vorrangig im linksseitigen Hörkortex, und
plex, der Trapezkörperkomplex, der Nu- hier insbesondere im Planum temporale,
cleus lemnisci lateralis, der Lemniscus durchgeführt. Bei Analysen von räumlichen
lateralis, die Colliculi inferior, das Corpus Zusammenhängen werden nicht nur Hirn-
geniculatum mediale, die Radiato acustica stammstrukturen, sondern auch kortikale
(Hörstrahlung) und der primäre Hörkortex Strukturen genutzt. Insbesondere dorsale
(Heschl-Querwindungen). Teile des auditorischen Systems sind in
• Zum Hörkortex zählen der primäre Hör- solche räumlichen Analysen eingebunden.
kortex mit den Heschl-Querwindungen, Die Sprachverständlichkeit wird mit Hirn-
das dahinterliegende Planum temporale, gebieten im linksseitigen anterioren Sulcus
das vor dem Heschl-Gyrus liegende Planum temporalis superior in Verbindung ge-
polare, weite Teile des Gyrus temporalis su- bracht. Auch wenn die akustischen Reize
perior, viele Neurone im Sulcus temporalis physikalisch nicht präsent sind, können
superior und Teile des hinteren perisylvi- durch Imagination oder Assoziation mit
schen Hirngebiets mit Anteilen des Gyrus Reizen anderer Modalitäten Aktivierungen
angularis und des Gyrus supramarginalis. im Hörkortex evoziert werden.

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298 9.  Auditorische Wahrnehmung

• Der zeitliche Ablauf der auditorischen 9.6. Fragen und Aufgaben


Informationsverarbeitung kann mittels
EEG und MEG präzise analysiert werden. • Beschreiben Sie die Eigenschaften von
Anhand dieser Verfahren kann der Weg akustischen Signalen.
der neurophysiologischen Verarbeitung • Welche physikalischen Aspekte von akus-
von den Hirnstammzentren (in den ersten tischen Reizen sind mit welchen psy-
10 ms nach Reizeinsatz) bis zum primären chischen Erlebensdimensionen assoziiert?
und sekundären Hörkortex nachverfolgt • Definieren Sie Isophone.
werden. Am Vertex kann ein typisches audi- • Wie wird die Dezibel-Skala bestimmt?
torisch evoziertes Potenzial mit dem P1- • Wie ist das menschliche Ohr aufgebaut?
N1-P2-Komplex abgeleitet werden. Die • Wie werden die Schallwellen in elektrische
Generatoren der auditorisch evozierten Po- Signale umgewandelt?

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tenziale liegen im primären und sekundä- Was versteht man unter dem Orts- und Sal-
ren auditorischen Kortex. Jedoch konnten venprinzip?
auch Generatoren außerhalb des Hörkortex • Beschreiben Sie die Hörbahn.
gefunden werden, was darauf hinweist, • Welche Hirngebiete werden zum Hörkor-
dass bereits auf den frühen Verarbeitungs- tex gezählt?
stufen Interaktionen mit anderen Hirn- • Welche anatomischen Besonderheiten
gebieten außerhalb des Hörkortex erfolgen. kann man für den Hörkortex bzw. die ver-
• Das auditorische System ist mit Mechanis- schiedenen Hörkortexareale feststellen?
men zur Vorhersage zukünftiger auditori- • Welche funktionellen Besonderheiten kön-
scher Ereignisse ausgestattet. Diese Vor- nen Sie für den Hörkortex festhalten? Wo
hersagefähigkeit ist anhand spezifischer und wie werden Intensität, Verständlich-
Parameter der evozierten auditorischen keit, Komplexität, Timbre und Raumwahr-
Potenziale zu erkennen. nehmung im Hörkortex verarbeitet?
• Die Latenzen des P1-N1-P2-Komplexes • Beschreiben Sie den sequenziellen Ablauf
entwickeln sich innerhalb der ersten der auditorischen Informationsverarbei-
200 ms nach Reizeinsatz. Nach diesen tung anhand der typischen Komponenten
200 ms werden zunehmend mehr nicht- der Hirnstammpotenziale und der kortika-
auditorische psychische Funktionen und len auditorischen Potenziale.
Hirngebiete außerhalb des Hörkortex mit • Was ist die evozierte Gamma-Band-Re-
in die Analyse einbezogen. Die Hirnaktivi- aktion?
tät dieser eher „späten“ Verarbeitungspro- • Welche Prozesse finden nach den ersten
zesse kann anhand der kohärenten kortika- 200 ms nach dem Einsatz auditorischer
len Aktivität in verteilten Hirngebieten Reize statt?
festgestellt werden.
• Insgesamt ist die auditorische Wahrneh-
mung als ein hierarchischer und sequenziel-
ler Prozess aufzufassen, der nach der Ver-
9.7. Weiterführende Literatur
arbeitung im Hörkortex zu einer Einbindung
multimodaler Hirngebiete führt. Letztlich Griffiths, T. D., Warren, J. D. (2004). What is an
werden die multimodalen Informationen auditory object? Nat Rev Neurosci, 5 (11),
im Assoziationskortex mit Begriffen und 887–892.
Konzepten assoziiert, was schließlich zu ei- Griffiths, T. D., Warren, J. D., Scott, S. K., Nelken,
ner Objektwahrnehmung führt. I., King, A. J. (2004). Cortical processing of

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9.7.  Weiterführende Literatur 299

complex sound: a way forward? Trends Neu- King, A. J., Nelken, I. (2009). Unraveling the prin-
rosci, 27(4), 181–185. ciples of auditory cortikal processing: can we
Harris, K. D., Bartho, P., Chadderton, P., Curto, learn from the visual system? Nat Neurosci,
C., de la Rocha, J., Hollender, L., Sakata, S. 12(6), 698–701.
(2011). How do neurons work together? Les- Sharpee, T. O., Atencio, C. A., Schreiner, C. E.
sons from auditory cortex. Hear Res, 271(1– (2011). Hierarchical representations in the
2), 37–53. auditory cortex. Curr Opin Neurobiol, 21 (5),
761–767.
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301

10. Aufmerksamkeit
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10.1.  Das Wesen der ­Aufmerksamkeit 303

10.1. Das Wesen der ­ liegt, und ohne welches kein anderes verbessert
werden kan.“
Aufmerksamkeit
„Jeder weiß, was Aufmerksamkeit ist“ („Every- Schon Meiers hat erkannt, dass die Aufmerk-
one knows what attention is“), begann der samkeit eine wichtige Kernfunktion fast aller
theoretische Psychologe William James (1890) Kognitionen ist. Auch aus heutiger Sicht ste-
seine Ausführungen über die menschliche hen alle psychischen Funktionen mit Auf-
Aufmerksamkeit. Tatsächlich verfügen wir merksamkeitsprozessen in Verbindung (s. a.
noch nicht über ein kohärentes Verständnis Kap. 11). Im Folgenden wird mangels einer
der Aufmerksamkeit. Keines der vielen Mo- allgemein akzeptierten Aufmerksamkeits-
delle kann das psychische Konstrukt Aufmerk- theorie der derzeitige Kenntnisstand bezüg-
samkeit vollständig erklären. Mittlerweile lich der Aufmerksamkeit aus dem Blickwinkel
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setzt sich die Erkenntnis durch, dass der „Auf- der Neuropsychologie bzw. der Neurowissen-
merksamkeit“ kein einheitlicher Mechanis- schaften zusammenfassend dargestellt. Hier-
mus und damit auch keine einzelne definierte bei wird auf viele Detailmodelle und spezielle
anatomische Struktur zugrunde liegt. Ferner Vorstellungen (insbesondere aus der kogniti-
wird diskutiert, ob ein wissenschaftliches Kon- ven Psychologie) aus Platzgründen verzichtet.
strukt der Aufmerksamkeit überhaupt not- William James (1890) legte eine deskriptive
wendig sei oder ob „Aufmerksamkeit“ viel- Beschreibung der Aufmerksamkeit vor, die
mehr als deskriptiver Begriff diene. Insofern auch für dieses Kapitel als Einstieg dienen soll:
ist es nicht erstaunlich, dass in manchen Lehr-
büchern der kognitiven Psychologie und der „Attention is the taking possession of the mind, in
Neuropsychologie der Begriff und das Kon- clear and vivid form, of one out of what seem se-
strukt „Aufmerksamkeit“ nicht ausführlich veral simultaneously possible objects or trains of
behandelt werden. Die klinische Neuropsy- thought … It implies withdrawal from some things
chologie und die modernen kognitiven Neuro- in order to deal effectively with others.“
wissenschaften haben jedoch gezeigt, dass die
Aufmerksamkeit ein wesentliches Element Aus heutiger Sicht kann diese Definition wie
aller kognitiven Funktionen ist. folgt paraphrasiert werden: Durch die Auf-
Diese Erkenntnis wurde bereits 1755 von merksamkeit gelingt es uns, aktiv einen kleinen
dem Philosophen Georg Friedrich Meiers in Teil der Informationsmengen zu verarbeiten,
seinem Werk Anfangsgründe aller schönen Wis- die auf unser Sensorium einprasseln, die unse-
senschaften publiziert (Meiers, 1755). Im Kapi- rem Gedächtnis zur Verfügung stehen und die
tel über die Aufmerksamkeit schreibt er: Gegenstand vieler Denkprozesse sind. Diese
Definition beinhaltet drei wesentliche Aspekte:
„Wir werden aus dem folgenden gewahr werden, (1) Es wird davon ausgegangen, dass be-
daß alle übrige untere Erkenntnisvermögen, aus- grenzte Kapazitäten (für die Aufmerksamkeit
ser der Abstraktion, nichts anders sind, als be- und das Denken im Allgemeinen) vorliegen,
sondere Arten der Aufmerksamkeit; alle Regeln (2)  dass infolge der begrenzten Kapazitäten
demnach, die man bey der Ausbesserung der Auf- eine Auswahl der zu bearbeitenden Infor-
merksamkeit beobachten muß, die muß man auch mationen vorgenommen werden muss und
ausüben, wenn man alle übrige Erkenntnisver- letztlich
mögen verbessern will. Wir wollen also der Natur (3)  dass sich die Aufmerksamkeit nicht nur
folgen, und dasjenige Vermögen zuerst unter- auf die Wahrnehmung beschränkt, sondern
suchen, welches bey allen übrigen zum Grunde praktisch alle Denktätigkeiten betrifft.

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304 10. Aufmerksamkeit

10.2. Bewusstsein – ­ • Vigilanz: Ein Aspekt der Daueraufmerk-


samkeit, der durch die Aufrechterhaltung
Aufmerksamkeit
der Aufmerksamkeit über einen längeren
Im Zusammenhang mit der Aufmerksamkeit Zeitraum gekennzeichnet ist. Operationali-
wird häufig das Bewusstsein thematisiert. siert wird Vigilanz als das Beachten von
Manche Forscher vertreten die Auffassung, selten vorkommenden Reizen über einen
dass Aufmerksamkeit und Bewusstsein ähn- längeren Zeitraum.
liche, wenn nicht gar identische Prozesse • Tenazität: Anspruchsvollste Aufmerksam-
seien. Dies ist nicht der Fall, denn es können keitsform mit höchster Anspannung und
bewusste und unbewusste Aufmerksamkeits- Verarbeitungsintensität, bei der alle As-
prozesse unterschieden werden. Jedoch gibt pekte der Aufmerksamkeit (selektive Auf-
es Überschneidungen zwischen Bewusstsein merksamkeit, geteilte Aufmerksamkeit
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und Aufmerksamkeit. Diese Überschneidun- etc.) genutzt werden können.


gen werden insbesondere in der medizi-
nischen Definition des Bewusstseinsbegriffs In Fällen von Traumata, z. B. im Zusammen-
deutlich, in der Bewusstsein als Zusammen- hang mit Autounfällen, wird der Bewusst-
spiel zwischen dem Grad der Aufmerksam- seinsgrad anhand der Glasgow Coma Scale
keit, der Orientierung, dem Denken, der Er- (GCS), einer einfachen Skala zur Abschätzung
innerung und dem Handeln bezeichnet wird. einer Bewusstseinsstörung, von den behan-
Auch die sogenannten „Schutzreflexe“, also delnden Ärzten eingeschätzt (s. Tab. 10-1). Sie
das Husten und die Reaktion auf Schmerz,
werden zum Bewusstsein gezählt. In der Neu-
ropsychologie und Neurologie werden hierar- Tabelle 10-1: Glasgow Coma Scale.
chisch aufgebaute Bewusstseinszustände un-
Augen öffnen Punkte
terschieden:
• Koma: Kognitive Kontrolle und Bewusst- spontan 4
sein fehlen völlig, der Betroffene ist nicht auf Aufforderung 3
weckbar. auf Schmerzreiz 2
• REM-Schlaf: Eine Schlafphase, in der viel keine Reaktion auf Schmerzreiz 1
geträumt wird, wobei die Träume relativ
beste verbale Kommunikation
gut erinnert werden.
• Somnolenz: Hierbei handelt es sich um ein konversationsfähig, orientiert 5

Hypnosestadium. Die in diesem Stadium konversationsfähig, desorientiert 4


„erlebten“ Ereignisse werden nur teilweise inadäquate Äußerung (Wortsalat) 3
erinnert. unverständliche Laute 2
• Relaxation: In dieser Phase besteht keine
keine Reaktion auf Ansprache 1
gezielte Aufmerksamkeitslenkung. Am bes-
beste motorische Antwort
ten lässt sich diese Phase als „ungezieltes
Dösen“ bezeichnen. auf Aufforderung 6
• Scanning: In dieser Phase wird bereits die auf Schmerzreiz, gezielt 5
Aufmerksamkeit genutzt und auf verschie- auf Schmerzreiz, abnorme Abwehr 4
dene Aspekte der Außenwelt gelenkt, ohne auf Schmerzreiz, Beugeabwehr 3
dass ein konkretes Ziel vorliegt. Gewisser-
auf Schmerzreiz, Strecksynergismen 2
maßen werden Um- und Innenwelt über-
keine Reaktion auf Schmerzreiz 1
flogen.

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10.2.  Bewusstsein – ­Aufmerksamkeit 305

beinhaltet drei Rubriken, für die jeweils Arten der neuronalen Verarbeitung im Zu-
Punkte vergeben werden: sammenhang mit dem Bewusstsein unter-
• Augenöffnung scheiden:
• beste sprachliche Antwort auf Ansprache 1) Bei einer einfachen (flachen) Feedfor-
• beste motorische (Bewegungs-)Reaktion. ward-Verarbeitung wird nur eine be-
grenzte Anzahl von Neuronen bzw. Neuro-
Die maximale Punktzahl ist 15 (bei vollem nengruppen aktiviert. Diese Aktivierungen
Bewusstsein), die minimale 3 (Tod oder tiefes sind räumlich begrenzt und können daher
Koma). Bei 8 oder weniger Punkten ist von ei- das Verhalten weder direkt noch indirekt
ner sehr schweren Funktionsstörung des Ge- beeinflussen oder erzeugen. Sie führen auch
hirns auszugehen und es besteht die Gefahr nicht zu kognitiven Prozessen, die es dem
von lebensbedrohlichen Atmungsstörungen. Menschen ermöglichen, über die Empfin-
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Die GCS wird z. B. bei der Einschätzung der dungen, Wahrnehmungen und Gedanken
Schwere eines Schädel-Hirn-Traumas, aber Auskunft zu geben. Man könnte sich dieses
auch allgemein in der Neurologie verwendet. neurophysiologische Aktivierungsmuster
Die GCS orientiert sich an einer recht ein- wie eine Art Einbahnstraße vorstellen, auf
fachen, aber medizinisch hilfreichen Defini- der sich die neuronale Aktivierung in eine
tion des Bewusstseins. Hierbei wird Bewusst- Richtung ausbreitet und dann mit der Zeit
sein als ein Wachzustand definiert, in dem wir verschwindet. Diese Verarbeitung wird
Erfahrungen machen, über die wir aus freien demzufolge nicht von bewusstwerdenden
Stücken oder auf Wunsch berichten können. Phänomenen begleitet.
Die neuronalen Grundlagen dieses Zustandes 2) Bei einer komplexeren (tiefen) Feedfor-
zu entdecken und besser zu verstehen, ist eine ward-Verarbeitung breitet sich die Akti-
der wichtigen Aufgaben der Neurowissen- vierung über weiter verteilte Hirngebiete
schaften. Bis heute ist es allerdings noch nicht und neuronale Module aus und kann auch
gelungen, ein grundsätzliches und von allen motorische Regionen und den präfrontalen
akzeptiertes Grundverständnis der neurona- Kortex erreichen. Diese neuronale Aktivie-
len Grundlagen des Bewusstseins zu ent- rung verfügt somit über das Potenzial, di-
wickeln. Es existieren allerdings einige inte- rekt eine motorische Reaktion zu erzeugen
ressante Ansätze, die an dieser Stelle kurz (oder zu hemmen) oder das Verhalten auf
thematisiert werden sollen. Wichtige Aspekte andere Weise zu beeinflussen (z. B. Pri-
der neuronalen Grundlagen des Bewusstseins ming). Potenzielle motorische Programme
sind die Prozessierungstiefe (was wiederum werden durch sie aktiviert und nicht not-
mit der Aufmerksamkeit zusammenhängt) wendigerweise ausgeführt. Da diese Akti-
und ob die neuronale Verarbeitung in einem vierungsausbreitung nur in eine Richtung
Vorwärtsmodus (Feedforward) oder auch re- (also feedforward) verläuft, bleiben die
kurrent (also wiederholt und rückwirkend) neuronalen Aktivierungen unbewusst. Stel-
erfolgt. Die Feedforward-Verarbeitung kann len Sie es sich als einen kortikalen Reflex
tief oder flach sein, und ebenso kann die wie- vor, wie wenn Sie eine Weinflasche grei-
derkehrende Verarbeitung flach und auf eine fen, die versehentlich vom Tisch fällt, oder
kleine Gruppe von neuronalen Modulen be- wenn ein Tennisprofi einen Aufschlag er-
schränkt sein oder weit verbreitet sein und widern muss, der mit 140 mph geschlagen
einen großen Teil des Gehirns, einschließlich wurde. Dies sind komplexe Aktionen, die
der „exekutiven“ Bereiche im Frontalkortex, komplexe (und wahrscheinlich kortikale)
einbeziehen. Prinzipiell kann man ggfs. vier Berechnungen erfordern. Zum Zeitpunkt

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306 10. Aufmerksamkeit

der Einleitung dieser Handlungen gibt es tive Operationen zugänglich und stehen un-
jedoch noch keine bewusste Erfahrung. ter aufmerksamer und bewusster Kontrolle.
3) Bewusste Verarbeitungen und Empfindun- Über diese Erfahrungen und Wahrnehmun-
gen entstehen erst dann, wenn die neuro- gen kann man sich dann sprachlich und mo-
nalen Aktivitäten größere neuronale Netze torisch mitteilen. Treten solche weit verteil-
aktivieren und die Aktivierungen auch re- ten Aktivierungen im Zusammenhang mit
kurrent (also wiederkehrend) erfolgen. Die externen Stimulationen auf, kann nur eine
Aktivierungen verlaufen also nicht in eine begrenzte Anzahl von Stimuli verarbeitet
Richtung, sondern kehren quasi zurück und werden (Flaschenhals der Aufmerksamkeit).
kreisen zwischen den verschiedenen neuro-
nalen Modulen. Ein Beispiel wäre, wenn der
primäre visuelle Kortex aktiviert wird und 10.3. Kontrollierte und auto-
matische Prozesse
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die Aktivierung sich vom primären visuellen


Kortex in die sekundären Areale ausbreitet,
um dann wieder rekurrent den primären vi- Die meisten kognitiven Prozesse können in
suellen Kortex aktiviert. Dies wäre eine ein- zwei Kategorien eingeteilt werden: automati-
fache rekurrente Aktivierung. Diese ein- sche und kontrollierte Prozesse. Automati-
fachen rekurrenten Aktivierungen können sche Prozesse laufen ohne bewusste Kon-
sich dann in den sekundären visuellen oder trolle ab. Sie erfordern kaum Willenskraft und
auditorischen Wahrnehmungsarealen ver- werden meistens durch parallel verlaufende
teilen. Sie führen dann zu bewussten Er- Kontrollprozesse gesteuert. Kontrollierte
fahrungen und Wahrnehmungen, und viele Prozesse sind uns bewusst. Sie erfordern viel
Einzelelemente werden dann zu einer Szene Aufmerksamkeit, werden durch bewusste Ver-
und zu einem Objekt zusammengefügt. haltensintentionen gestartet und durch be-
Diese Form der rekurrenten Aktivierung wusste Kontrollprozesse begleitet. In der Re-
oder Interaktion verschiedener neuronaler gel werden kontrollierte Prozesse sequenziell
Module erreicht allerdings nicht motori- abgearbeitet und verlaufen im Vergleich zu
sche, präfrontale oder sprachliche Hirn- automatisierten Prozessen langsamer.
bereiche. Demzufolge kann diese Art der Der Vorteil von automatisierten Prozessen
bewussten Erfahrung das Verhalten nicht liegt darin, dass sie ohne viel Kontrollaufwand
beeinflussen, und man kann auch darüber und Aufmerksamkeitsanforderung durch-
nicht darüber berichten. Infolgedessen han- geführt werden können. Diese Art von Kon-
delt es sich um eine fragile Form des Be- trollprozessen ist geeignet, um häufig wieder-
wusstseins, die je nach Wahrnehmungs- kehrende Tätigkeiten effektiv zu bearbeiten.
aspekt schnell überschrieben werden kann. Dagegen sind sie in der Regel nicht flexibel
4) Tiefgreifende rekurrente neuronale Ver- genug, um schnell auf sich ändernde Anfor-
arbeitungen werden uns dagegen vollends derungen zu reagieren. Ein typisches Beispiel
bewusst. Diese Form der neuronalen Ver- für einen automatisierten Prozess ist das Auto-
arbeitung tritt auf, wenn eine Aktivierung fahren eines geübten Fahrers. Von einem geüb-
weit verteilte wiederkehrende Interaktio- ten Autofahrer werden alle Kontrolltätigkeiten
nen in neuronalen Netzen hervorruft, die automatisch und mit wenig Aufmerksamkeit
auch den präfrontalen Kortex und motori- durchgeführt. Diese Automatisierung führt
sche Strukturen einbeziehen. Die in diesen dazu, dass andere Tätigkeiten (Sprechen, Ra-
weit verteilten Netzen verarbeiteten Infor- diohören etc.) quasi nebenbei durchgeführt
mationen sind dann vollständig für kogni- werden können. Bei automatisierten Prozessen

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10.3.  Kontrollierte und automatische Prozesse 307

wird auch keine Aufmerksamkeit auf die Tätig- kontrollierte Prozesse notwendig. Allerdings
keit verwendet, was ebenfalls sehr gut beim kann durch Üben auch eine schwierige Auf-
Autofahren zu erkennen ist. Gelegentlich fah- gabe subjektiv leicht und damit automatisiert
ren wir bekannte Strecken ab, ohne Einzelhei- werden. Ein Beispiel hierfür ist das Lesen, dass
ten oder gar bestimmte Gegebenheiten dieser zu Beginn des Lesenlernens ungeheuer schwer
Strecken zu erinnern. Das Beispiel des Auto- ist und kontrolliert mit viel Aufmerksamkeit
fahrens zeigt sehr eindrücklich, dass vormals durchgeführt wird. Mit größerer Übung wird
kontrollierte Prozesse durch intensives und selbst das schwierige Lesen zu einem auto-
langjähriges Üben zu automatisierten Prozes- matisierten Prozess, der uns sehr einfach er-
sen werden können. scheint. Kinder, die wenig lesen, werden dem-
Wie kontrollierte Prozesse zu automati- nach das Lesen immer als schwierig und
sierten Prozessen werden, ist nicht genau be- ressourcenraubend empfinden, weil sie durch
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kannt. Derzeit wird davon ausgegangen, dass zu wenig Üben keine Automatisierung erfah-
die Verarbeitung auf den einzelnen Stufen ren haben. Obwohl die automatisierte Tätig-
effizienter wird, z. B. durch das Zusammen- keit keiner bewussten Kontrolle bedarf, kann
fassen von Kontrollschritten. Bezogen auf das sie durch bewusste Prozesse gestartet und ge-
Autofahren könnte das bedeuten, dass das stoppt werden.
Einlegen eines Gangs durch einen einzigen Automatisierung wird häufig angestrebt,
Befehl eingeleitet wird. Dieser Befehl würde um Gefahren zu vermeiden. Zum Beispiel
dann das entsprechende Programm starten, müssen Piloten vor jedem Flug eine immer
das ohne entsprechende Rückmeldungen und wiederkehrende Prozedur durchführen, um
weitere Kontrollen abläuft. Anschließend die Sicherheit und Flugfähigkeit des Flugzeugs
würden die Armbewegungen zum Auswählen zu kontrollieren. Dies kann hilfreich sein, da
der Schalterposition, die Fußbewegungen durch die Automatisierung Tätigkeiten abge-
zum Niederdrücken der Kupplung und zur rufen werden können, die selbst in erregenden
Kontrolle der Geschwindigkeit quasi auto- Situationen erfolgreich ablaufen können. An-
matisch und koordiniert allein durch einen dererseits können Fehler auftreten, wenn au-
einzigen Befehl ausgelöst werden. Bei einer tomatisierte Prozesse für die aktuelle Situation
weniger automatisierten Kontrolle müsste je- nicht angemessen sind.
der einzelne Teilschritt durch einen Befehl ini- Solche Fehler treten leider immer wieder
tiiert und ggf. kontrolliert werden. bei Flugunfällen auf, wie in einem Fall, als Pilot
Es ist schon lange bekannt, dass durch in- und Copilot ihre Checkliste abarbeiteten und
tensives Üben kontrollierte Prozesse in auto- nicht feststellten, dass das Antigefriersystem
matisierte überführt werden können. Der ausgeschaltet war. Diese Einstellung war für
Trainingseffekt folgt allerdings einer negativ die allermeisten Flugbedingungen korrekt, nur
beschleunigten Kurve. Das bedeutet, dass er nicht zu diesem Zeitpunkt, denn es drohte ein
anfangs sehr groß ist und die Trainings- Unwetter mit Vereisungsproblemen. Weil die
gewinne mit zunehmender Trainingsdauer beiden Piloten völlig automatisiert die Check-
immer geringer werden. Ab einem bestimm- liste abarbeiteten,  haben sie ihre bewussten
ten Zeitpunkt ist kein nennenswerter Trai- Kontrollmechanismen nicht genutzt, um das
ningseffekt mehr feststellbar. Antigefriersystem diesmal ausnahmsweise an-
Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass zuschalten, denn den Wetterbericht kannten
einfache Tätigkeiten schneller durch auto- sie ja. Hieran ist sehr eindrücklich zu erkennen,
matisierte Prozesse kontrolliert werden. Je dass in solchen Situationen ein ständiger
schwieriger eine Aufgabe ist, desto eher sind Wechsel zwischen bewussten und unbewuss-

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308 10. Aufmerksamkeit

ten bzw. kontrollierten und automatisierten „Filter“-Metapher gearbeitet. Diese Theorien


Prozessen notwendig ist. Man erkennt auch, unterschieden sich lediglich hinsichtlich der
dass bestimmte Berufe die Fähigkeit voraus- Frage, ob es einen oder mehrere Filter gibt
setzen, elegant zwischen diesen Kontrollpro- und an welcher Stelle der Informationsver-
zessen hin und her zu schalten. arbeitung dieser bzw. diese Filter platziert
sind (frühe vs. späte Selektion oder Filter vs.
Abschwächen). Überwiegend wurden diese
10.4. Aufmerksamkeits­ Theorien auf der Basis von auditorischen Ex-
metaphern und Auf- perimenten unter Verwendung des dichoti-
merksamkeitsinstanzen schen Hörtests entwickelt.

In der Aufmerksamkeitsforschung wird häufig


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von Metaphern bzw. von Metaphern der Auf- 10.4.2. Die „Spotlight“-Metapher
merksamkeit gesprochen. Eine Metapher ist in
der Psychologie eine konzeptuelle Zuord- Die „Spotlight“-Metapher wurde im Gegen-
nung von Eigenschaften, Strukturen und Be- satz zur „Filter“-Metapher überwiegend durch
ziehungen bezüglich eines bestimmten As- Experimente am visuellen System entwickelt.
pekts. Eine Metapher definiert oder konstru- Im Rahmen dieser Vorstellung wird die Auf-
iert ein bestimmtes theoretisches Konzept der merksamkeit als Scheinwerfer (Spotlight) auf-
Aufmerksamkeit. Gemäß diesem Konzept gefasst, von dem ein bestimmter Bereich in
wird festgelegt, welche Aspekte der Aufmerk- der Außenwelt angestrahlt wird, der somit im
samkeit wichtig sind. Aufmerksamkeitsmeta- Fokus der Aufmerksamkeit steht. Diese Meta-
phern sind meist wie Bilder definiert und be- pher thematisiert allerdings nicht die Anzahl
stimmen maßgeblich die Forschungsparadig- möglicher Scheinwerfer, wie sie kontrolliert
men, mit denen Aufmerksamkeitsphänomene werden, wie groß und wie homogen sie sind.
untersucht werden. Derzeit werden folgende
Aufmerksamkeitsmetaphern verwendet:
• „Filter“-Metapher 10.4.3. Die „Spotlight-in-the-brain“-
• „Spotlight“-Metapher Metapher
• „Spotlight-in-the-brain“-Metapher
• „Attention-as-vision“-Metapher. Diese Metapher ist eine Uminterpretation der
ursprünglichen „Spotlight“-Metapher. Mit ihr
wird hervorgehoben, dass Aufmerksamkeits-
10.4.1. Die „Filter“-Metapher prozesse an die Aktivität bestimmter Hirn-
gebiete gebunden sind. Während bei der ur-
Die „Filter“-Metapher wurde insbesondere sprünglichen „Spotlight“-Metapher sich der
im Zusammenhang mit der selektiven Auf- Scheinwerfer (und damit der Fokus der Auf-
merksamkeit gewählt. Hierbei geht es im We- merksamkeit) auf Objekte im visuellen oder
sentlichen um das Herausfiltern bzw. Ab- auditorischen Feld oder auf Gedanken rich-
schwächen von bestimmten Informationen, ten soll, wird im Rahmen der „Spotlight-in-
um andere Informationen bevorzugt zu ver- the-brain“-Metapher von einem „neuronalen
arbeiten. Im Rahmen der „Filter“-Metapher Scheinwerfer“ ausgegangen, der auf bestimmte
wird die Aufmerksamkeit eher als Struktur Hirngebiete „strahlt“ und damit die Aktivität in
und nicht als Prozess betrachtet. Alle frühen diesen Gebieten verstärkt, während die Aktivi-
Theorien der Aufmerksamkeit haben mit der tät in den nicht „bestrahlten“ Gebieten geringer

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10.4.  Aufmerksamkeits­metaphern und Aufmerksamkeitsinstanzen 309

wird. Unklar ist allerdings, wer bzw. welche Informationsverarbeitung hat. Allerdings
Funktion diesen neuronalen Scheinwerfer be- bleibt ungeklärt, welche Instanz diese Kon-
dient und entscheidet, welche Hirnregion „be- trolle durchführt.
strahlt“ wird. Diese Metapher ist mit aktuellen
Befunden kompatibel, die mit bildgebenden
Verfahren gewonnen wurden, die zeigten, dass 10.4.6. Bottom-up-Ansätze
die jeweiligen Hirngebiete ihre neuronale Akti-
vität steigern, wenn sie Informationen mit er- Im Rahmen dieser Modelle wird davon aus-
höhter Aufmerksamkeit verarbeiten. gegangen, dass kein ursächlicher Aufmerk-
samkeitsmechanismus vorliegt, der von „oben
herab“ die Informationsverarbeitung modu-
10.4.4. Die „Attention-as-vision“- liert. Aufmerksamkeit wird vielmehr als Be-
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Metapher gleiterscheinung (Epiphänomen) von sensori-


schen, perzeptuellen und kognitiven Opera-
Im Rahmen dieser Metapher wird Aufmerk- tionen aufgefasst. Typische Beispiele sind
samkeit als emergente Eigenschaft des jewei- Wettbewerbsphänomene, wenn simultan dar-
ligen Wahrnehmungssystems aufgefasst. Das gebotene Reize quasi um neuronale Verarbei-
bedeutet, dass die Aufmerksamkeit spontan tungsressourcen konkurrieren. Dabei zeigt
durch bestimmte Aspekte der Wahrnehmung sich, dass oft schon elementare Reizeigen-
und zwangsläufig ohne Rückgriff auf einen schaften entscheiden, welche Reize bevorzugt
übergeordneten Kontrolleur entsteht und ge- und damit mit höherer Aufmerksamkeit ver-
lenkt wird. Am Beispiel der visuellen Wahr- arbeitet werden. So kann sich z. B. der lautere
nehmung ist diese Überlegung gut erklärbar. Ton gegenüber einem leiseren im Hinblick auf
Dem Aufmerksamkeitsfokus ist die Fovea (Ort die Wahrnehmung durchsetzen, weil er mehr
des schärfsten Sehens auf der Netzhaut) zu- neuronale Aktivität „absorbiert“, sodass nicht
geordnet. Das bedeutet, dass automatisch Auf- mehr genügend neuronale Aktivität für den
merksamkeit für das auf der Fovea abgebildete leiseren Reiz übrig bleibt. Insofern wird Auf-
Objekt entsteht, wenn es fokussiert wird. merksamkeit durch das Ergebnis eines Wett-
Allen Aufmerksamkeitsmodellen ist ge- kampfs bereits auf unterster Verarbeitungs-
mein, dass bislang unklar ist, welche Instanz ebene gesteuert.
die Aufmerksamkeit kontrolliert. Im Grunde
wird von zwei unterschiedlichen Modellansät-
zen ausgegangen, die neuerdings zu einem 10.4.7. Hybrid-Ansätze
Hybrid-Ansatz zusammengefasst werden:
• Top-down-Ansätze Moderne theoretische Überlegungen gehen
• Bottom-up-Ansätze von einer Wechselwirkung zwischen Top-
• Hybrid-Ansätze zwischen Top-down- und down- und Bottom-up-Ansätzen aus. Diese
Bottom-up-Ansätzen. Modelle, die in der Literatur als „Biased-com-
petition“-Modelle bezeichnet werden, wer-
den in einem gesonderten Abschnitt dieses
10.4.5. Top-down-Ansätze Kapitels besprochen, da sie einerseits auf der
Basis von neurowissenschaftlichen Unter-
Diese Ansätze gehen davon aus, dass die Auf- suchungen entwickelt worden sind und ande-
merksamkeit als übergeordnete Instanz eine rerseits auch über eine hohe Erklärungskraft
ursächliche Wirkung auf die Modulation der verfügen.

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310 10. Aufmerksamkeit

10.5. Neuropsychologie 10.5.1. Taxonomie der Aufmerksam-


der Aufmerksamkeit keit nach Zoomeren-Sturm

In der Neuropsychologie und den kognitiven In der Neuropsychologie hat sich eine Taxono-
Neurowissenschaften haben sich mehrdimen- mie von Aufmerksamkeitsfunktionen durch-
sionale Konzepte der Aufmerksamkeit durch- gesetzt, mittels derer die Aufmerksamkeit in
gesetzt. Diese Konzepte berücksichtigen mo- zwei größere Funktionsbereiche, Intensität
derne Ergebnisse aus der kognitiven Psycho- und Selektivität, eingeteilt wird. Diese Funk-
logie, der klinischen Neuropsychologie und tionsbereiche werden gelegentlich auch als
greifen auch Überlegungen älterer Theorien Dimensionen der Aufmerksamkeit aufge-
auf. Im Folgenden werden die weithin ge- fasst. Der Aufmerksamkeitsdimension Inten-
bräuchliche Taxonomie der Aufmerksamkeit sität werden die Unterfunktionen Alertness,
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nach Zoomeren-Sturm und das „Biased-com- Vigilanz und Daueraufmerksamkeit zuge-


petition“-Modell dargestellt (Kastner & Unger- ordnet. Unter der Aufmerksamkeitsdimension
leider, 2001; Sturm, 2009). Selektivität werden die selektive Aufmerk-

Tabelle 10-2: Taxonomie der Aufmerksamkeit (nach Sturm, 2009).

Dimension Bereich Paradigmen funktionelle


Netzwerke
Intensität Aufmerksamkeits­ einfache visuelle und Hirnstamm, Formatio ­
aktivierung auditorische Reaktions­ reticularis
(Alertness) zeitaufgaben; noradrenerge Kerngebiete
• intrinsisch mit und ohne Warnreiz DLPFC, IPL
• tonisch
• phasisch
Daueraufmerk­ langandauernde Signal­ rechte Hemisphäre
samkeit entdeckungsaufgaben; intralaminare und
Signale häufig retikuläre Thalamuskerne
anteriorer Teil des Cingulums
Vigilanz langandauernde Signal­ rechte Hemisphäre
entdeckungsaufgaben; intralaminare und
Signale selten retikuläre Thalamuskerne
anteriorer Teil des Cingulums
räumliche Auf- räumliche Verschie- z. B. Posner-Paradigma, IPL
merksamkeit bung des Aufmerk- Wechsel der räumlichen Colliculi superiores
(Orientierung) samkeitsfokus Aufmerksamkeit Pulvinar
Selektivität selektive oder Wahlreaktionsaufgaben; frontothalamische ­
fokussierte Reagieren auf Signale Verbindungen
Aufmerksamkeit vor dem Hintergrund anteriores Cingulum
von Störreizen inferiorer Frontalkortex
geteilte Dual-task-Aufgaben; präfrontaler Kortex (bilateral)
Aufmerksamkeit Multi-task-Aufgaben vorderes Cingulum

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10.5.  Neuropsychologie der Aufmerksamkeit 311

samkeit und die geteilte Aufmerksamkeit niveaus zu einem bestimmten Messzeitpunkt.


zusammengefasst. Aufgrund dieser Einteilung Ein typisches Beispiel ist das Phänomen der
ist jeder Teilbereich der Aufmerksamkeit mit- reaktiven Anspannungssteigerung (Düker,
tels eines Tests oder einer Gruppe von Tests 1963). Wenn jemand z. B. ein oder zwei Glas
operationalisiert (s. a. Tab. 10-2). Wein getrunken hat und dann Reaktionszeit-
aufgaben lösen soll, kann er die leichte Ermü-
(1)  Intensität der Aufmerksamkeit dung merken und „reaktiv“ und bewusst alle
Der Intensitätsaspekt der Aufmerksamkeit verfügbaren Aufmerksamkeitsreserven reakti-
umfasst die Alertness (deutsch: Aufmerk- vieren, um bessere Leistungen zu erbringen.
samkeitsaktivierung), die Daueraufmerk- Abzugrenzen ist die Alertness von weiteren
samkeit und die Vigilanz. Häufig wird eine Intensitätsaspekten der Aufmerksamkeit, die
Unterteilung in tonische und phasische Alert- unter die Begriffe Vigilanz und Daueraufmerk-
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ness vorgenommen. Während die tonische samkeit fallen. Hierunter werden „längerfris-
Aufmerksamkeitsaktivierung (tonische Alert- tige Aufmerksamkeitszuwendungen“ zusam-
ness) durch den physiologischen Zustand des mengefasst. Vigilanzleistungen werden de-
Organismus bestimmt wird, wird mit der pha- finiert als Aufmerksamkeitsleistungen, die in
sischen Alertness die plötzliche Zunahme der der Entdeckung relevanter Stimuli über lange
Aktivierung unmittelbar nach einem Warnreiz Zeitperioden (oft über Stunden) bestehen,
ausgedrückt. wobei die entscheidenden Reize typischer-
Die intrinsische Alertness beschreibt die weise nur sehr selten und in unregelmäßigen
interne und kognitive Kontrolle des Erregungs- Intervallen zwischen zahlreichen irrelevanten

Intensitätsdimension der Aufmerksamkeit

• tonische Alertness: tonische Aufmerksam- rung, bei der nach bemerktem Erregungs-
keitsaktivierung, die durch den physiologi- abfall reaktiv, teilweise willentlich, die An-
schen Zustand des Organismus unter ande- spannung gesteigert wird.
rem in Abhängigkeit von der Tageszeit be-
• Vigilanz: Aufmerksamkeitsleistung, die im
stimmt ist. Die tonische Alertness umfasst
Zusammenhang mit der Entdeckung relevan-
auch die Aufmerksamkeitsaktivierung vom
ter Stimuli über lange Zeitperioden (oft über
Koma bis zur Wachheit. In der Medizin wird
Stunden) notwendig ist. Typischerweise er-
häufig (fälschlicherweise) der Begriff „Be-
scheinen die entscheidenden Reize nur sehr
wusstsein“ verwendet. Bewusstsein erfordert
selten und in unregelmäßigen Intervallen
allerdings mehr als reine tonische Alertness.
zwischen zahlreichen irrelevanten Stimuli.
• phasische Alertness: plötzliche Zunahme der Zum Beispiel monotone Fließbandarbeit kann
Aktivierung und Aufmerksamkeit unmittelbar Vigilanz erfordern.
nach einem Warnreiz. Genauer ist zwischen
• Daueraufmerksamkeit: Aufmerksamkeits-
externer oder, um mit der nächsten Alertness­
leistung, die im Zusammenhang mit der Ent-
kategorie konsistent zu bleiben, von extrinsi-
deckung relevanter Stimuli über lange Zeit-
scher Alertness zu sprechen.
perioden (oft über Stunden) notwendig ist.
• intrinsische Alertness: beschreibt die interne Typischerweise erscheinen die entscheiden-
und kognitive Kontrolle des Erregungsniveaus den Reize sehr häufig und in regelmäßigen
zu einem bestimmten Messzeitpunkt. Ein Intervallen zwischen zahlreichen irrelevanten
Beispiel ist die reaktive Anspannungssteige- Stimuli.

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312 10. Aufmerksamkeit

Stimuli auftreten. Klassische Vigilanzaufga- triert man sich auf zwei mehr oder weniger
ben im Alltag sind beispielsweise die Fehler- schwere Aufgaben gleichzeitig, dann muss die
kontrolle am Fließband oder das Autofahren Aufmerksamkeit entweder alternierend zwi-
auf einer wenig befahrenen Autobahn. Wenn schen den beiden Kontrollprozessen hin- und
dagegen die Aufmerksamkeit über längere herschalten oder auf die beiden Aufgaben ver-
Zeit hinweg auf eine oder mehrere Informati- teilt werden. Muss hin- und hergeschaltet wer-
onsquellen gerichtet werden muss, wobei die den, kommt hinzu, dass man sich von der Reiz-
relevanten Stimuli in hoher zeitlicher Dichte quelle, auf die die Aufmerksamkeit aktuell ge-
aufeinanderfolgen, spricht man von Dauerauf- lenkt wird, quasi „losreißen“ muss, um sich der
merksamkeit. neuen zuzuwenden.
Mehrfachtätigkeiten erfordern in der Regel
(2)  Selektivität der Aufmerksamkeit ein hohes Maß an Kontrollaufwand.
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Während die Alertness im Wesentlichen die


Grundaufmerksamkeit beschreibt, beinhaltet
die Selektivitätsdimension der Aufmerksam- 10.5.2. „Biased-competition“-Modell
keit jenen Teil, der sich mit der Zuwendung zu der Aufmerksamkeit
ganz bestimmten Reizen beschäftigt. Der Or-
ganismus kann seine Aufmerksamkeit so steu- Das „Biased-competition“-Modell der Auf-
ern, dass er nur bestimmte Reize beachtet und merksamkeit wurde von den Neurowissen-
bearbeitet, während er sich für andere nicht schaftlern Desimone und Duncan zunächst
interessiert. auf der Basis von Einzelzellableitungen an Af-
Die Fähigkeit, sich selektiv bestimmten fen (v. a. im visuellen Kortex) entwickelt (Desi-
Reizen zuzuwenden, wird sehr häufig mit dem mone & Duncan, 1995). Später wurde es auf
Modell der „begrenzten kognitiven Ressour- den Menschen übertragen, da eine Reihe von
cen“ aus der kognitiven Psychologie in Ver- fMRT-Befunden dieses Modell stützt (Beck &
bindung gebracht. Durch die Fähigkeit der Kastner, 2005).
Selektion kann sich der Organismus mit seinen Das Modell basiert auf folgendem Befund:
begrenzten Ressourcen auf eine Reizquelle Nehmen wir mal an, wir überprüfen die Akti-
oder eine Aufgabe einstellen. Das kann schwer vität eines Neurons im visuellen Kortex und
werden, wenn die Konkurrenzreize sehr at- präsentieren dem rezeptiven Feld dieses Neu-
traktiv und eindringlich sind, dann müssen mit rons zwei Stimuli (Reiz A und B), zunächst se-
„aller Kraft“ die störenden Reize ausgeschal- parat und dann gemeinsam. Sie stellen fest,
tet bzw. unterdrückt werden. dass bei Präsentation von Reiz A das Neuron
Auch für den Funktionsbereich der Mehr- mit einer bestimmten Feuerrate antwortet
fachtätigkeiten (dual task oder multi task) wird und bei Präsentation von Reiz B halb so stark
das Konzept der „begrenzten kognitiven Res- reagiert. Was passiert, wenn beide Reize ge-
sourcen“ bemüht. Die Kontrolle jeder Hand- meinsam präsentiert werden? Kann am Neu-
lung erfordert ein gewisses Maß an Aufmerk- ron die Summenaktivität registriert werden
samkeit und kognitivem Kontrollaufwand. (A + B) oder reagiert das Neuron so, als ob nur
Wird nur eine Aufgabe bearbeitet, kann die ge- Stimulus 1 präsentiert würde (wie bei A)? Die
samte Aufmerksamkeit dieser einen Aufgabe bislang vorliegenden Tier- und Humanunter-
gewidmet werden. Je mehr Aufgaben gleichzei- suchungen sprechen dafür, dass bei Präsenta-
tig durchgeführt werden, desto schwieriger tion beider Reize im rezeptiven Feld das Neu-
wird es, die Aufmerksamkeit auf die verschie- ron mit der Durchschnittsaktivität reagiert.
denen Kontrollprozesse zu verteilen. Konzen- Das bedeutet, dass die durch Reiz A hervor-

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10.5.  Neuropsychologie der Aufmerksamkeit 313

gerufene Aktivität durch die gleichzeitige bzw. unterdrückt. Es findet also ein gewisses
Präsentation des Reizes B vermindert wird. Maß an Wettbewerb bereits auf der Ebene des
Man könnte auch sagen, dass Reiz B die Re- rezeptiven Feldes und der angeschlossenen
aktion des Neurons auf Reiz A vermindert Neurone statt (Abb. 10-1).

Selektivitätsdimension der Aufmerksamkeit

• visuell-selektive oder fokussierte Aufmerk- werden kann. Ein wesentlicher Teilaspekt


samkeit: Hierbei geht es um die Selektivität dieses Aufmerksamkeitsbereichs ist der
der Reizverarbeitung. Bestimmte Reize wer- Wechsel von einem Aufmerksamkeitsfokus
den verarbeitet, während andere nicht be- zum nächsten. Im Alltag wird diese Form der
achtet und nicht analysiert werden. Dies kann Aufmerksamkeit beim Autofahren genutzt.
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sehr effizient mit Wahlreaktionsaufgaben Wir schauen geradeaus und richten „verdeckt“
untersucht werden. Hierbei muss auf einen unsere Aufmerksamkeit nach rechts auf den
Reiz reagiert werden, während bei anderen Bürgersteig, um eventuelle Passanten zu ent-
Reizen nicht reagiert werden soll. Dies kann decken. Kurz danach richten wir die Aufmerk-
experimentell erschwert werden, indem Stör- samkeit auf die andere Seite, um vorbeifah-
reize präsentiert werden, die den Reizen, auf rende Fahrzeuge ggf. besser zu erkennen.
die reagiert werden soll, sehr ähnlich sind.
• auditorisch-räumliche selektive Aufmerk-
• visuell-räumliche selektive Aufmerksam- samkeit: Dieser Aufmerksamkeitsbereich
keit: Bei dieser Variante der selektiven Auf- beschreibt die Aufmerksamkeitsverlagerung
merksamkeit wird die Aufmerksamkeit auf von einem Ohr auf das andere. Wenn z. B. das
eine bestimmte räumliche Position gelenkt. Handy an ein Ohr gehalten wird, kann die
Dieser Aufmerksamkeitsbereich wird in der Aufmerksamkeit auf dieses Ohr verlagert
Regel mittels des Posner-Paradigmas34 reali- werden. Das andere Ohr nimmt weniger gut
siert, mit dem die Aufmerksamkeit auch ver- akustische Reize wahr. Getestet wird dieser
deckt (covert), d. h. ohne Augenbewegung auf Aufmerksamkeitsbereich mit dem dichoti-
eine bestimmte räumliche Position, fixiert schen Hörtest35, bei dem beiden Ohren simul-

34  Das Posner-Paradigma ist eine Versuchsanordnung,


die von dem Psychologen Michael Posner entwickelt dass die Reaktionen auf den Zielreiz schneller sind,
wurde (Posner et al., 1982). Im Prinzip werden bei wenn der Zielreiz am erwarteten Ort erscheint. Er-
dieser Aufgabe Hinweisreize präsentiert, die andeuten, scheint er am unerwarteten Ort, sind die Reaktionen
dass mit hoher Wahrscheinlichkeit auf einer Seite des sehr langsam. Posner vermutet, dass die Aufmerksam-
Computerbildschirms ein Reiz folgen wird, auf den die keit in dieser Bedingung vom erwarteten Ort „gelöst“
Versuchsperson so schnell wie möglich zu reagieren (disengagement) werden, sich zum neuen Ort verlagern
hat. Dieser Hinweisreiz zeigt den Ort des später kom- (shift) und sich am neuen Ort wieder verankern muss
menden Zielreizes mit hoher Wahrscheinlichkeit an (engagement).
(z. B. 80 %). Die Versuchsperson wird die Aufmerksam- 35  Beim dichotischen Hörtest werden über einen
keit „verdeckt“ (ohne die Augen in die Richtung zu Stereokopfhörer beiden Ohren simultan unter-
bewegen) auf den erwarteten Ort lenken. Die Folge ist, schiedliche Reize zugeführt.

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314 10. Aufmerksamkeit

tan unterschiedliche Reize präsentiert wer- onsquellen. Dies ist typischerweise der Fall
den. Die Aufgabe der Testperson besteht bei Mehrfach- bzw. Doppeltätigkeitsaufgaben.
darin, nur Informationen eines Ohrs zu er- Aufgaben zur kognitiven Flexibilität können zur
kennen und auf die Reize des anderen Ohrs Untersuchung der geteilten Aufmerksamkeit
nicht zu achten, was auch als fokussierte eingesetzt werden. Im Unterschied zur selekti-
auditorische Aufmerksamkeit (focussed at- ven Aufmerksamkeit wird bei der geteilten Auf-
tention right, focussed attention left) be- merksamkeit der Aufmerksamkeitsfokus von
zeichnet wird. Auch hier kann die Fähigkeit einer Aufgabe auf die andere verlagert oder auf
zum Wechsel von einem Ohr zum anderen verschiedene Aufgaben verteilt. Eine beson-
geprüft werden. dere Variante der geteilten Aufmerksamkeit ist
die Verteilung der Aufmerksamkeit auf beide
• geteilte Aufmerksamkeit: Dieser Aufmerk- Ohren beim dichotischen Hörtest und nicht nur
samkeitsbereich beschreibt die Verteilung auf ein Ohr wie beim dichotischen Hörtest mit
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der Aufmerksamkeit auf mehrere Informati- Fokussierung auf ein Ohr.

Im Rahmen des „Biased-competition“- Diese Interaktion zwischen Bottom-up- und


Modells wird davon ausgegangen, dass dieser Top-down-Einflüssen ist v. a. im Zusammen-
Wettbewerb durch Aufmerksamkeit beein- hang mit der „Spotlight-in-the-brain“-Meta-
flusst werden kann, wobei ein Bottom-up- pher von Bedeutung. Wenn Sie sich räumlich
und ein Top-down-Weg unterschieden wird. orientieren wollen, dann richten Sie Ihre Auf-
Ein Beispiel für einen Bottom-up-Einfluss ist, merksamkeit auf eine räumliche Position und
wenn bereits auf der Ebene der sensorischen vermindern damit den unterdrückenden Ein-
Verarbeitung bestimmte Reizattribute dazu fluss anderer Attribute in Ihrem rezeptiven
führen, dass ein Reiz oder ein bestimmter Feld. Auf diese Weise können selbst laute oder
Reizaspekt bevorzugt verarbeitet wird. Typi- sehr helle Reize quasi zugunsten übergeord-
sche Attribute sind Reizintensität, Helligkeit neter Ziele unterdrückt werden. Selbst auto-
oder Lautstärke. Unterscheiden sich die ge- matisch evozierte emotionale Prozesse können
meinsam präsentierten Reize hinsichtlich durch übergeordnete Handlungsziele unter-
solcher elementaren Aspekte, dann ist es sehr drückt werden (Schupp et al., 2007).
wahrscheinlich, dass der intensivere Reiz be- Mittlerweile hat sich das „Biased-compe-
vorzugt verarbeitet wird, also quasi auto- tition“-Modell als sehr hilfreich für das Ver-
matisch mehr Aufmerksamkeit auf sich zieht. ständnis des Ineinandergreifens von Bot-
Allerdings kann auch noch ein Top-down-Ein- tom-up- und Top-down-Prozessen bei der
fluss wirksam werden. Dies können über- Aufmerksamkeitskontrolle erwiesen. Es exis-
geordnete Ziele, Präferenzen oder Emotio- tieren auch sehr elegante mathematische Mo-
nen sein, die diesen Wettbewerbsprozess um delle zur formalen Beschreibung dieser Inter-
neuronale Aktivität und Aufmerksamkeit aktionen (Deco & Zihl, 2004). Diese Modelle
quasi von oben beeinflussen. Wenn Sie z. B. werden auch genutzt, um komplizierte Inter-
den Wunsch haben, eine Suppe zu essen, aktionen zu erklären. Ein typisches Beispiel
dann wird das Bild eines Löffels eher Ihre ist der Stroop-Effekt. Dieser Effekt beschreibt
Aufmerksamkeit auf sich ziehen als das Bild ein Phänomen, das bei Personen mit hoher
einer Gabel. Lesekompetenz auftritt, wenn sie die Farbe,

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10.5.  Neuropsychologie der Aufmerksamkeit 315

Reiz A Reiz B Reiz A + B

20

Aktivität im neuronalen Netz


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15

10

0
Reiz A Reiz B Reiz A + B

Abbildung 10-1: Schematische Darstellung des „Biased-competition“-Modells. Die Hirnaktivität in ei-


nem Hirngebiet hängt davon ab, ob die Aufmerksamkeit auf einen Reiz konzentriert werden kann oder
ob sie auf mehrere Reize (hier zwei) verteilt werden muss. Müssen zwei Reize simultan verarbeitet wer-
den, dann pendelt sich die Hirnaktivität auf ein Niveau ein, das zwischen den Hirnaktivitäten liegt, die
bei alleiniger Präsentation der beiden Reize auftreten. In diesem Fall würde die Hirnaktivität auf Reiz A
bei simultaner Präsentation von Reiz A und B deutlich abnehmen.

mit der Farbwörter geschrieben sind, benen- 10.5.3. Neuroanatomie der


nen sollen. Wenn das Wort „grün“ in rot ge- Aufmerksamkeit
schrieben ist und die Versuchsperson die
Farbe benennen und nicht das Wort lesen Aufmerksamkeit wird durch ein weit verteiltes
soll, dann wird sie ein wenig verwirrt sein, Netzwerk kontrolliert, das aus sechs unter-
weil sie automatisch das Wort liest. Offenbar schiedlichen Hirnstrukturen besteht:
tritt hier Konkurrenz zwischen verschiedenen 1. aktivierendes retikuläres aufsteigendes
Wahrnehmungsmodulen auf und bei Lese- System (ARAS), das vorwiegend im Hirn-
kompetenten dominiert das Lese- über das stamm lokalisiert ist
Farbmodul. Die mathematischen Modelle be- 2. Colliculi superiores im Mittelhirn
schreiben, wie innerhalb eines jeden Mo- 3. Thalamus
duls „Wettbewerbseffekte“ und übergeord- 4. große Bereiche des Parietallappens
nete Einflüsse wirksam werden (O’Reilly & 5. anteriores Cingulum
Munakata, 2000). 6. lateraler Teil des Frontalkortex.

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316 10. Aufmerksamkeit

Prinzipiell sind diese Hirnstrukturen bei allen Kortex können zu schwerwiegenden Beein-


Aufmerksamkeitsformen aktiv, wobei jedes trächtigungen der Aufmerksamkeit führen.
dieser Hirngebiete für die einzelnen Auf- Schäden in diesem Hirnbereich können z. B.
merksamkeitsformen unterschiedliche Be- zum Koma führen. Patienten, die sich im
deutung hat. Koma befinden, reagieren nicht mehr auf ex-
terne Reize, in schweren Fällen zeigen sie keine
Defensivreaktionen auf noxische und/oder
Aufsteigendes retikuläres
schmerzhafte Reize. In der Regel müssen bila-
aktivierendes System (ARAS)
terale Schädigungen oder diffuse Beeinträchti-
Auf der untersten Ebene ist dieses Hirngebiet gungen des ARAS vorliegen, um ein Koma zu
angesiedelt, das im Englischen auch als reticu- verursachen. Ursachen für diese Störungen
lar activating system (RAS) bezeichnet wird. können verschiedene neurologische Erkran-
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Dieses System besteht aus eng miteinander kungen sein (Meningitis, Hirnstammtumore,
verbundenen Nervenzellen, die in der Medulla epileptische Anfälle, Hämorrhagien oder Schä-
oblongata (verlängertes Rückenmark) und im del-Hirn-Trauma). Andere mögliche Ursachen
Hirnstamm lokalisiert sind. Dieses Netzwerk sind metabolische Störungen (z. B. Kohlenmo-
projiziert über den Thalamus in den Kortex noxidvergiftungen), Vitaminmangel (z. B. Thia-
und moduliert die Aktivität des gesamten Ge- min) oder Vergiftungen (z. B. Alkohol). Bei eini-
hirns (Abb. 10-2). Das ARAS ist verantwortlich gen Komapatienten können sich die Funktio-
für die Herstellung und Aufrechterhaltung des nen des ARAS wieder verbessern und sie
allgemeinen Aktivitäts- bzw. Alertnessniveaus können in einen chronischen vegetativen Zu-
und wesentlich in die Regulation des Schlaf- stand (chronic vegetative state) übergehen. In
Wach-Rhythmus und die Kontrolle des all- diesem Fall sind einige ARAS-Funktionen noch
gemeinen Wachheitszustands eingebunden. intakt, sodass wichtige Körperfunktionen pro-
Schäden in diesem Hirnbereich oder eine Un- blemlos ablaufen. Patienten im chronisch vege-
terbrechung der Aktivitätsmodulation zum tativen Zustand zeigen einen Schlaf-Wach-
Rhythmus, erhaltene Atemfunktionen und ein
funktionierendes autonomes Nervensystem.
aufsteigendes retikuläres Sie zeigen jedoch keine Wahrnehmung für
aktivierendes System (ARAS)
Reize aus der externen Welt und nehmen des-
Kortex
halb nicht wahr, was um sie herum passiert. Sie
verfügen auch über keine Wahrnehmung ihrer
inneren Bedürfnisse, können Bewegungen
nicht bewusst beginnen oder mit der Umwelt
kommunizieren. Bei optimaler medizinischer
Versorgung können diese Patienten mehrere
Jahre lang in diesem Zustand verharren und
Kleinhirn

überleben.
Retikulärformation Einige Patienten gehen vom Koma in den
Hirnstamm
Medulla oblongata sogenannten Stupor über. Solche Übergänge
aufsteigende absteigende treten in der Regel in der Rückbildungsphase
sensorische Bahnen motorische Bahnen
von metabolisch bedingten Komazuständen
Abbildung 10-2: Das aufsteigende retikuläre Ak- auf. Auf ihrem Weg der Besserung reagieren
tivierungssystem (ARAS) mit den angeschlos- diese Patienten auf lautes Zurufen ihres Na-
senen Hirngebieten. mens oder wenn sie geschüttelt werden. Aller-

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10.5.  Neuropsychologie der Aufmerksamkeit 317

dings gelingt es den Patienten nicht, zu spre- wird. Auf der nächsten Ebene der Aufmerk-
chen oder willentlich Bewegungen zu initiieren, samkeitssteuerung muss die Aufmerksamkeit
ferner fallen sie schnell wieder in einen Zu- auf ein bestimmtes Objekt oder eine be-
stand minderer Bewusstheit zurück. Grund- stimmte räumliche Position gelenkt werden.
sätzlich gilt die Regel, dass je länger die Patien- Um die Aufmerksamkeit flexibel zwischen
ten im Koma verharren, desto schlechter ist die Orten und Objekten hin und her zu schwen-
Prognose für eine spätere Heilung und voll- ken, benötigen wir die Colliculi superiores,
ständige Wiederherstellung der vollen Funk- Kerngebiete im dorsalen Teil des Mittelhirns.
tionsfähigkeit. Während früher davon aus- Gemeinsam mit den Colliculi inferiores, die
gegangen wurde, dass Komapatienten keine Teil des auditorischen Systems sind, bilden sie
Wahrnehmung haben, belegen neue bild- die Vierhügelplatte.
gebende Studien, dass sie über unbewusste Die Colliculi sind in die Kontrolle der Au-
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Wahrnehmungen verfügen. So konnte z. B. ge- genbewegungen eingebunden. In Abhängig-


zeigt werden, dass bei einer Komapatientin der keit vom sich verändernden Aufmerksam-
Gyrus fusiformis (das Gesichtswahrnehmungs- keitsfokus richten wir unseren Blick auf die
areal) aktiv war, wenn ihr Gesichter bekannter Objekte, die wir aufmerksam beachten müs-
Personen präsentiert wurden. Andere Studien sen oder wollen. In diesem Sinn werden die
unter Nutzung des EEG belegen ähnliche wichtigen Informationen auf der Fovea cen-
präattentive Verarbeitungen im Gehirn von tralis der Retina abgebildet. Dazu müssen sich
Komapatienten (Tshibanda et al., 2010). die Augen auf das entsprechende Objekt fo-
Neben der Kontrolle des Wachheitsgrades kussieren. Dies realisieren wir durch Sakka-
ist das ARAS auch wesentlich in das Warnen, den, also kurze Augenbewegungen. Zwei un-
Wecken und Erregen des Gehirns eingebun- terschiedlich schnelle Sakkaden werden unter-
den. Diese Funktionen können mittels Con- scheiden: Die Express-Sakkaden sind sehr
tingent negative variation (CNV) gemessen schnelle Augenbewegungen, die innerhalb von
werden. Zwischen dem Warnsignal und dem 120 ms ablaufen. Sie werden automatisch und
reaktionsauslösenden Reiz baut sich über reflexiv durch wichtige und teilweise biolo-
dem Vertex eine negative Gleichspannungs- gisch vorprogrammierte Reize ausgelöst. Die
verschiebung auf. Die CNV ist auf eine all- langsamen Sakkaden, die ca. 200–300 ms
gemeine Vorerregung wahrscheinlich fron- dauern, sind meist bewusst initiierte Augen-
taler Hirngebiete zurückzuführen. Diese Vor- bewegungen zum wichtigen Objekt.
erregung wird durch den Warnreiz initiiert Durch die unmittelbare Nähe der Colliculi
und steigert damit die Reaktionsbereitschaft superiores zu motorischen Kernen des Hirn-
auf den später folgenden reaktionsauslösen- stamms und Mittelhirns ergeben sich kurze
den Reiz. Die Reaktionszeiten auf Reize, die Informationswege und damit eine enge und
durch solche Warnreize angekündigt wer- schnell funktionierende Beziehung zwischen
den, sind bekanntlich schneller als die bei Aufmerksamkeit, visueller Informationsver-
Reizen, denen kein Warnreiz vorausging (pha- arbeitung und Augenbewegung. Bildgebende
sische Alertness). Studien belegen des Weiteren, dass die Colli-
culi superiores auch grundsätzlich in die Auf-
merksamkeit eingebunden sind. So konnte
Colliculi superiores
z. B. gezeigt werden, dass eine enge Beziehung
Aufmerksamkeit erfordert, wie oben dar- zwischen der neuronalen Aktivität des primä-
gestellt, einen bestimmten Wachheitsgrad, der ren Sehzentrums und den Colliculi superiores
im Wesentlichen durch das ARAS initiiert besteht. Wahrscheinlich sind diese beiden

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318 10. Aufmerksamkeit

Hirngebiete miteinander verbunden, wobei zusammen. Die Aktivität dieser Kerngebiete


die Colliculi superiores das Aktivierungs- korreliert mit dem Ausmaß der Alertness und
niveau des primären visuellen Kortex über deshalb auch mit der Leistung bei Alertness-
eine Rückkopplungsschleife beeinflussen (No- aufgaben. Auch bei Daueraufmerksamkeits-
esselt et al., 2002). und Vigilanzaufgaben sind diese Kerngebiete
Die Bedeutung der Colliculi superiores für besonders aktiv, wenn das Aufmerksamkeits-
die Aufmerksamkeitskontrolle zeigt sich ein- niveau erhöht ist. Bei abnehmender Aufmerk-
drücklich bei einigen neurologischen Erkran- samkeit dagegen sinkt auch die Aktivität im
kungen. Zu nennen ist hier die progressive Thalamus.
supranukleäre Blickparese (progressive su- Eine etwas spezifischere Funktion hat das
pranuclear palsy, PSP). Diese Erkrankung ist Pulvinar, das in die Kontrolle der selektiven
durch Degeneration der Basalganglien und der Aufmerksamkeit eingebunden ist. Diesem
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Colliculi superiores gekennzeichnet. Die Pa- Hirngebiet wird insbesondere eine Filterfunk-
tienten, die unter dieser Erkrankung leiden, tion zugeschrieben. Patienten, die unter Läsio-
verhalten sich wie Blinde. Ihnen gelingt es nen im Pulvinar leiden, haben Probleme bei
nicht, Blickkontakt mit einem Gesprächspart- der Bindung der Aufmerksamkeit an eine be-
ner aufrechtzuerhalten, und sie können sich stimmte Position. Gleichzeitig gelingt es ihnen
nicht demjenigen zuwenden, der ihnen ent- auch weniger gut, Informationen an anderen
gegenkommt. Selbst beim Essen gleitet ihr Positionen zu filtern. In Untersuchungen an
Blick von ihrem Teller fort. Das wesentliche Primaten konnte die Funktion des Pulvinars
Problem dieser Patienten besteht darin, dass sehr gut herausgearbeitet werden. Injiziert
sie ihren Blick nicht von einem Ort zum nächs- man eine chemische Substanz (Muscimol; ein
ten lenken können. GABA-Agonist, der die Aktivität hemmt) in das
Bislang wurden nur die Colliculi superiores Pulvinar, so erkennen die Affen an dem Ort, an
als wichtige Kontrollstation für die gerichtete dem sie eine visuelle Information erwarten,
Aufmerksamkeit thematisiert. Die Colliculi die präsentierten Objekte wesentlich schlech-
inferiores sind ebenfalls in die Aufmerksam- ter als im unbehandelten Zustand. Das bedeu-
keitskontrolle eingebunden, allerdings mehr
im Zusammenhang mit der Aufmerksam-
keitsausrichtung bei auditorischen Reizen. intralaminare Kerne
mediodorsale Kerne
Sehr wahrscheinlich wird die räumliche Aus- anteriore Kerne

richtung der Aufmerksamkeit beim dichoti-


schen Hörtest über die Colliculi inferiores intralaminare
kontrolliert. Kerne

Thalamus retikuläre
Kerne
Pulvinar
Von den vielen Kerngebieten des Thalamus
sind in die Aufmerksamkeitskontrolle ins-
centromediane Kerne
besondere die intralaminaren Kerne, das me- Corpus Corpus
diodorsale Kerngebiet, die retikulären Kerne geniculatum geniculatum
laterale mediale
und das Pulvinar eingebunden (Abb. 10-3). Bis
auf das Pulvinar sind diese Kerngebiete an der Abbildung 10-3: Der Thalamus mit den Kern-
Kontrolle des Schlaf-Wach-Rhythmus beteiligt gebieten, die für die Aufmerksamkeitskontrolle
und arbeiten demzufolge eng mit dem ARAS wesentlich sind.

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10.5.  Neuropsychologie der Aufmerksamkeit 319

tet, dass sie die Aufmerksamkeit nicht an den Parietallappen


spezifischen Ort binden können, an dem sie
Im Parietallappen befinden sich neuronale
den sie interessierenden Reiz erwarten. Die
Schaltkreise, die in die Kontrolle komplexerer
Aufmerksamkeit kann dort nicht „festgebun-
Aufmerksamkeitsleistungen eingebunden sind.
den“ oder „festgehalten“ werden. Auch der
Dabei kontrollieren die folgenden Teilbereiche
Wechsel von einem Aufmerksamkeitsfokus
des Parietallappens offenbar unterschiedliche
(shift) zu einem anderen ist bei Hemmung des
Teilaspekte der Aufmerksamkeit: Sulcus intra-
Pulvinars beeinträchtigt.
parietalis (englisch: intraparietal sulcus, IPS),
In Bildgebungsstudien mit Menschen fin-
Lobulus parietalis superior (LPs, englisch: su-
den sich Durchblutungszunahmen im Pulvinar
perior parietal lobule, SPL), Lobulus parietalis
insbesondere bei der Bearbeitung von Diskri-
inferior (LPi, englisch: inferior parietal lobule,
minationsaufgaben, wenn bestimmte Reize im
IPL), parietotemporales Übergangsgebiet.
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Kontext anderer Reize erkannt werden sollen.


Diese frühe Filterung und Konzentration auf
einen bestimmten Reiz erfolgt innerhalb von
30 bis 85 ms nach Reizpräsentation. Dass be- Sulcus intraparietalis:
reits so früh relevante von irrelevanten Reizen • alle Aufgaben, die visuelle Aufmerksamkeit
unterschieden werden können, kann man mit erfordern
evozierten Potenzialen messen. • Aufmerksamkeit für räumliche Positionen
Ein in diesem Zusammenhang häufig ge- (räumliche Aufmerksamkeit)
nutztes Paradigma ist das sogenannte P50- • Aufmerksamkeit für visuelle und auditori-
Paradigma, bei dem in schneller Abfolge zwei sche Objekte
auditorische Reize aufeinanderfolgen. Bei • aufmerksames Zusammenführen verschie-
Gesunden löst jeder der beiden Reize eine po- dener visueller und auditorischer Attribute
sitive Komponente im ereigniskorrelierten (Binding)
Potenzial (EKP) aus, die jeweils etwa 50 ms
nach dem Reiz erscheint und daher als P50- Lobulus parietalis superior:
Amplitude bezeichnet wird. Allerdings ist die • Wechsel der Aufmerksamkeit von einem zu
P50-Amplitude auf den zweiten Reiz im Ver- einem anderen Ort (shift of attention) auch
gleich zu der auf den ersten signifikant ver- ohne Augenbewegungen (verdeckte Auf-
ringert, was als P50-Suppression bezeichnet merksamkeitsverschiebung)
wird. Bei Schizophrenen zeigt sich für den • Reaktionswahl aufgrund von Rauminfor-
zweiten auditorischen Reiz keine solche P50- mationen
Suppression (Holstein et al., 2010). Es spricht
vieles dafür, dass die Amplitudenverringerung Lobulus parietalis inferior:
der zweiten P50-Amplitude aufgrund einer • Aufmerksamkeit kontralateral zum jewei-
thalamischen Hemmung erfolgt. In anderen ligen IPL; v. a. im Zusammenhang mit dem
Worten, der Thalamus „erkennt“, dass der Hemineglekt
zweite Reiz dem Gehirn bereits bekannt ist • aufmerksame Beachtung von zeitlichen
und somit für die weitere Verarbeitung nicht Aspekten ist eher mit linksseitigen Aktivie-
mehr so wichtig ist. Bei einigen Erkrankungen rungen im IPL verbunden
(z. B. Schizophrenie) sind solche Amplituden-
abschwächungen nicht festzustellen, was ver- parietotemporales Übergangsgebiet:
muten lässt, dass hier die Filterfunktion des • willentliche Zuweisung von Aufmerksam-
Thalamus nicht optimal arbeitet. keitsressourcen zu kognitiven Aufgaben

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320 10. Aufmerksamkeit

• Bei Läsion dieses Gebietes kann die P300- Wort zu benennen. Insofern muss die Ver-
Komponente nicht mehr evoziert werden. suchsperson das Lesen des Wortes „blau“ un-
Je mehr Aufmerksamkeit eine Person einer terdrücken und die Farbe „rot“ benennen. Der
Aufgabe oder einem Reiz willentlich zu- Impuls, das Wort zu lesen und nicht die Farbe
wendet, desto größer ist die Amplitude der zu benennen, ist darin begründet, dass in un-
P300-Komponente. serer Kultur Lesen derart überlernt ist, dass
wir automatisch und spontan lesen „müssen“.
Insgesamt kann festgehalten werden, dass der
Aktivität im vorderen Cingulum ist nicht
Parietallappen mit seinen verschiedenen Un-
nur zu finden, wenn Konflikte gelöst werden
terstrukturen eine wichtige Schaltzentrale für
müssen, sondern auch dann, wenn schwierige
die Aufmerksamkeitskontrolle darstellt.
Aufgaben zu lösen sind, die viele Lösungs-
möglichkeiten bieten. Einige Autoren gehen
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Anteriores Cingulum aufgrund von Ergebnissen aus Bildgebungs-


studien davon aus, dass der obere Teil des an-
Nachdem genügend Vigilanz und Alertness terioren Cingulums eher in die Selektion von
aufgebaut wurde, die interessierenden Reize Reaktionen im Kontext von kognitiven Auf-
erkannt und anvisiert wurden, müssen Ent- gaben eingebunden ist, während der untere
scheidungen getroffen werden. Diese Ent- Teil des anterioren Cingulums eher in die Kon-
scheidungen münden entweder in Handlungen trolle von Handlungen eingebunden ist, die im
oder kognitive Aktivitäten. Eine wichtige Hirn- Zusammenhang mit emotionalen Aufgaben
struktur, die in die Kontrolle dieser Selektions- auftreten. Ob diese Einteilung gerechtfertigt
und Entscheidungsprozesse eingebunden ist, ist, werden zukünftige Arbeiten zeigen. Auf
ist das anteriore Cingulum. Dieses Hirngebiet diesen Punkt werden wir im Kapitel über die
liegt oberhalb des vorderen Corpus callosum exekutiven Funktionen noch einmal zurück-
und ist ein wichtiges Bindeglied zwischen dem kommen. Insgesamt bleibt festzuhalten, dass
Kortex und tiefer liegenden Hirnstrukturen das anteriore Cingulum quasi die Endstrecke
(insbesondere dem limbischen System und der Aufmerksamkeitskontrolle ist. Hier wer-
dem ARAS). Die Stärke der Aktivität in diesem den die relevanten Handlungen ausgelöst, die
Hirngebiet hängt von der Schwierigkeit der in Abhängigkeit von der Aufmerksamkeitskon-
Aufgabe und der notwendigen psychischen trolle ausgewählt werden.
Energie ab, um bestimmte Handlungsimpulse
zu unterdrücken und dadurch andere zu er-
Lateraler Frontalkortex
möglichen.
Ein typisches Beispiel für eine Aufgabe, Der laterale Frontalkortex wird im Zusam-
welche die Aktivität des Cingulums nach sich menhang mit der Kontrolle der exekutiven
zieht, ist die bekannte Stroop-Aufgabe. Den Funktionen (Kap. 11) und der Psychomotorik
Versuchspersonen werden hierbei Farbworte (Kap. 12) eingehend besprochen. Im lateralen
in unterschiedlichen Farben präsentiert. Die Frontalkortex sind viele psychische Funktio-
Aufgabe besteht darin, die Farbe zu benennen, nen lokalisiert, die zur gelernten Verhaltens-
in der das jeweilige Wort geschrieben ist. Wird kontrolle eingesetzt werden. Ebenso wie das
z. B. das Wort „blau“ in roten Lettern geschrie- Cingulum ist auch der laterale Frontalkortex in
ben, wird automatisch der Impuls ausgelöst, die Selektion und Filterung von Reizen sowie
das Wort zu lesen und den Farbnamen (also in die Handlungskontrolle eingebunden. Im
„blau“) anzugeben. Die Aufgabe besteht aller- Unterschied zum Cingulum ist der laterale
dings darin, die Farbe („rot“) und nicht das Frontalkortex an komplexeren Selektions-,

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10.6.  Neurophysiologie der Aufmerksamkeit 321

Lobulus parietalis superior frontales Augenfeld

Gyrus cinguli anterior


Lobulus parietalis inferior

Präfrontalkortex
temporoparietaler
Übergang

präfrontaler Pol
Thalamus
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Pulvinar

Colliculi superiores

Hirnstamm und Corpus callosum

Aufmerksamkeit Orientierung Handlungsausführung

Abbildung 10-4: Darstellung der Hirnregionen, die in die Aufmerksamkeitskontrolle eingebunden sind.

Filterungs- und Handlungskontrollprozessen 10.6. Neurophysiologie


beteiligt. Anders als das Cingulum steht der der Aufmerksamkeit
laterale Frontalkortex im direkten Kontakt
mit vielen Hirngebieten, die neuronale Netz- 10.6.1. Verstärkung neuronaler ­
werke enthalten, die höhere kognitive Pro- Aktivität
zesse kontrollieren. So existieren direkte Ver-
bindungen zum expliziten und prozeduralen Grundsätzlich kann festgehalten werden, dass
Gedächtnis, zum Arbeitsgedächtnis, zum aufmerksam beachtete und bearbeitete Reize
Denken und Planen, zu den Emotionen, zur immer mit stärkeren neuronalen Antworten in
motorischen Kontrolle, zu den Augenbewe- jenen Hirngebieten assoziiert sind, die für die
gungen, zur Sprachproduktion und zur Ver- Verarbeitung dieser Reize spezialisiert sind.
haltenskontrolle. Lernen und Anpassen wird Dies ist praktisch für alle Modalitäten (visuell,
im Wesentlichen über den lateralen Frontal- auditorisch, taktil und motorisch) beschrieben
kortex kontrolliert. Über den lateralen Fron- worden. Im Folgenden werden einige Bei-
talkortex gelingt es dem Gehirn, die Umwelt spiele dargestellt, die diese Befunde belegen.
mit gelernten und automatisierten Verhaltens- In einer fMRT-Untersuchung wurde den
programmen in Verbindung zu bringen. Des Versuchspersonen jede Sekunde eine von
Weiteren werden über den lateralen Frontal- sechs unterschiedlichen Silben präsentiert,
kortex Umweltereignisse mit unserem erwor- während die hämodynamische Reaktion im
benen Wissen assoziiert. auditorischen Kortex (primärer und sekundä-

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322 10. Aufmerksamkeit

rer) auf diese Silben gemessen wurde (Jancke Gleichzeitig handelte es sich auch noch um
et al., 1999b). Diese Beschallung erfolgte im eine sogenannte Go-/No-go-Aufgabe. Das
Rahmen von drei unterschiedlichen Versuchs- bedeutet, dass nur bei einem ganz bestimmten
bedingungen. In einer Versuchsbedingung Reiz eine Reaktion erforderlich war, während
waren die Versuchspersonen angehalten, eine andere Reize (auch wenn sie dem Zielreiz sehr
bestimmte Silbe (in diesem Fall /ta/) zu er- ähnlich waren) keine Reaktionen erforderten.
kennen und beim Erkennen eine Reaktions- In einer zweiten Bedingung sollten die Pro-
taste zu drücken (Signalerkennung). Bei Prä- banden lediglich aufmerksam auf die Silben
sentation der anderen Silben sollten die Ver- achten. Es wurde keine Reaktion und auch
suchspersonen nicht reagieren. Insofern han- keine Erkennungsaufgabe von den Versuchs-
delte es sich um eine Aufgabe, bei der die personen verlangt (passives aufmerksames
selektive Aufmerksamkeit gefordert war. Zuhören). Diese Aufgabe erforderte tonische
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BA 41/42

4.0
linke Hemisphäre rechte Hemisphäre

3.5
Signalzunahme (%)

3.0

2.5

2.0

1.5
41/42
22 1.0

A) B) C) A) B) C)
0.5

BA 22
2.5
linke Hemisphäre rechte Hemisphäre

2.0
Signalzunahme (%)

1.5

1.0

A) ignorieren
B) aufmerksames Zuhören
C) selektive Aufmerksamkeit 0.5

A) B) C) A) B) C)
0.0

Abbildung 10-5: Ergebnisse aus dem Experiment von Jäncke et al. (1999). Die Versuchspersonen hörten
sechs unterschiedliche Silben und waren instruiert, die Silben entweder zu ignorieren, ihnen passiv zu-
zuhören und eine bestimmte Silbe zu entdecken. Man erkennt, dass die Hirnaktivität im auditorischen
Kortex (BA 41/42 und 22) am geringsten war, wenn die Versuchspersonen die Reize ignorieren sollten.

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10.6.  Neurophysiologie der Aufmerksamkeit 323

und intrinsische Alertness. In der dritten


Bedingung sollten sich die Versuchspersonen
nicht auf die Silben konzentrieren, sondern
sich wie bei der progressiven Relaxation auf rechts links
Körperteile konzentrieren. Das bedeutet, sie
sollten die Silben einfach ignorieren. Physika-
lisch waren die Reize in allen drei Bedingungen
6
völlig identisch, es variierte nur die Art und RH
Weise, wie die Aufmerksamkeit eingesetzt
5 LH
wurde. Die im primären (BA 41/42) und se-

BOLD-Reaktion
kundären (BA 22) auditorischen Kortex ge-

Hirnaktivität
4
messenen Aktivitäten variierten allerdings
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enorm. Die schwächsten Aktivitäten waren 3


während des Ignorierens der Silben und die
stärksten während der Silbenerkennung zu 2
messen. Das bedeutet, dass die neuronale Ak-
1
tivität im auditorischen Kortex extrem stark
FL FR DIV
von der Art der Aufmerksamkeitszuwendung
abhängt (Abb. 10-5).
Abbildung 10-6: Darstellung der Aktivitätsver-
Eine ähnliche aufmerksamkeitsabhängige
änderung im auditorischen Kortex in Abhängigkeit
Aktivitätsmodulation findet sich auch beim von der Fokussierung der Aufmerksamkeit auf das
dichotischen Hören (Jancke et al., 2001). rechte Ohr (FR:focused right), das linke Ohr (FL:
Beim dichotischen Hören werden den Ver- focused left) oder beide Ohren (DIV: divided). Nach
suchspersonen simultan zwei unterschiedli- Jäncke et al. (2001). RH: rechte Hemisphäre, LH:
che akustische Signale für jedes Ohr präsen- linke Hemisphäre.
tiert. Wenn die Versuchspersonen instruiert
sind, nur auf das rechte Ohr zu achten und die
dem linken Ohr präsentierten Reize zu igno- Reize bleiben physikalisch identisch) sich das
rieren (focused right, FR), ist die Aktivität im kortikale Aktivierungsmuster in Abhängigkeit
auditorischen Kortex kontralateral zum be- von der Aufmerksamkeitsfokussierung auf
achteten Ohr (also links) erheblich stärker als das rechte oder linke Ohr erheblich ändert
kontralateral zum nicht beachteten Ohr. Das (Abb. 10-6).
bedeutet, dass im linksseitigen auditorischen Auch mittels evozierter Potenziale können
Kortex stärkere neuronale Aktivitäten zu ver- solche Aufmerksamkeitseffekte festgestellt
zeichnen sind als im rechtsseitigen auditori- werden. Angenommen, Sie nehmen an einem
schen Kortex. Die Aktivitätsverhältnisse än- Experiment teil, in dem Ihnen zwei Töne un-
dern sich, wenn die Versuchspersonen instru- terschiedlicher Frequenz dargeboten werden.
iert sind, nur die Reize zu beachten, die dem Bei der Präsentation eines Tons sollen Sie eine
linken Ohr präsentiert werden (focused left, Reaktionstaste drücken, während Sie bei der
FL), und jene zu ignorieren, die dem rechten Präsentation des anderen Tons nichts machen
Ohr dargeboten werden. In dieser Situation müssen. Demzufolge widmen Sie einem Ton
ist die Aktivität im rechtsseitigen auditori- mehr Aufmerksamkeit als dem anderen. Wer-
schen Kortex deutlich stärker als im linkssei- den nun evozierte Potenziale getrennt für be-
tigen auditorischen Kortex. Festzuhalten ist, achtete und nicht beachtete Reize berechnet,
dass bei derselben Stimulation (denn die ist festzustellen, dass die N1-Amplitude für

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324 10. Aufmerksamkeit

Elektrode

Spannung (mV)
Lautsprecher 0
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50 100 150 200 Zeit (ms)

Abbildung 10-7: Typisches Beispiel für die Abhängigkeit der N1-Amplitude des auditorisch evozierten
Potenzials von der Aufmerksamkeit. Das hier dargestellte auditorisch evozierte Potenzial wurde am
Vertex (oben auf dem Schädel) abgeleitet. Die gestrichelte Linie repräsentiert das auditorisch evozierte
Potenzial auf Reize, die nicht aufmerksam beachtet werden. Die durchgezogene Linie repräsentiert das
evozierte Potenzial auf Reize, die aufmerksam beachtet wurden.

Aufmerksamkeit nach links. Aufmerksamkeit nach rechts.


Stimulus (weißer Balken) kommt links Stimulus (weißer Balken) kommt links

Abbildung 10.8: Beispiel für aufmerksamkeitsabhängige neuronale Aktivitäten im visuellen Kortex. Bei
Beachtung des linken Gesichtsfeldes und Präsentation des Reizes im beachteten Feld ist die neuronale
Aktivität im rechten (kontralateralen) visuellen Kortex stärker als bei Fokussierung der Aufmerksamkeit
auf das rechte Gesichtsfeld.

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10.6.  Neurophysiologie der Aufmerksamkeit 325

beachtete Reize deutlich größer als die N1-


Amplitude für weniger beachtete auditorische N1
Reize ist.

Quellenlokalisationsexperimente haben
gezeigt, dass die intrazerebralen Quellen der
N1-Amplitude des auditorisch evozierten
Potenzials unter anderem im auditorischen
Kortex liegen (Abb. 10-7). Insofern bestätigen
diese EEG-Experimente die oben besproche-
400 ms
nen fMRT-Ergebnisse. Auch im visuellen Sys-
tem sind solche Aufmerksamkeitseffekte fest- + Aufmerksamkeit
zustellen. Die neuronalen Aktivitäten sind im links
Aufmerksamkeit
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visuellen Kortex immer abhängig von der Auf- rechts


S
merksamkeit, die dem betrachteten Reiz ge- (t = 0) P1
widmet wird. Wenn z. B. die Aufmerksamkeit
auf das linke Gesichtsfeld gelenkt wird, dann Abbildung 10-9: Visuell evozierte Potenziale auf
sind die neuronalen Antworten im rechtsseiti- aufmerksam beachtete und weniger aufmerksam
gen visuellen Kortex (also kontralateral zum beachtete visuelle Reize. Die Versuchspersonen
beachteten Gesichtsfeld) stärker als auf visuelle mussten ihre Aufmerksamkeit auf den linksseiti-
Reize, die zwar linksseitig präsentiert werden, gen oder rechtsseitigen Gesichtsfeldbereich rich-
die Aufmerksamkeit allerdings nach rechts ver- ten. Der Zielreiz wurde allerdings nur im linksseiti-
lagert wurde (Abb. 10-8 und 10-9). gen Gesichtsfeldbereich präsentiert. Man erkennt,
Diese durch Aufmerksamkeit hervorgeru- dass der P1-N1-Amplitudenkomplex größer ist,
wenn der Reiz im aufmerksam beachteten Ge-
fene Verstärkung der neuronalen Aktivität hat
sichtsfeldbereich (links) präsentiert wurde (durch-
zur „Spotlight-in-the-brain“-Metapher ge-
gezogene Linie).
führt. Hierbei wird die Aufmerksamkeit als
eine Art „Taschenlampe“ aufgefasst, die auf
jene Hirngebiete „leuchtet“, die gerade beson-
ders intensiv gebraucht werden. Dadurch wird also auf die Farbe, was zur Folge hat, dass die
die Aktivität in einigen Hirngebieten verstärkt Aktivität im Farbareal V4 (im Gyrus fusifor-
und in anderen Hirngebieten abgeschwächt. mis) besonders stark ist. Wenn sie in einer an-
Dies lässt sich in Experimenten nachweisen, in deren Versuchsbedingung ihre Aufmerksam-
denen den Versuchspersonen nacheinander keit auf ein ganz bestimmtes Objekt (z. B. ein
unterschiedliche Objekte an unterschiedlichen Gesicht) lenken und instruiert werden, nur
Positionen dargeboten werden. Die Objekte dann eine Taste zu drücken, wenn dieses be-
unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Form, stimmte Objekt unabhängig von der Farbe
Farbe und Größe. In verschiedenen Versuchs- auftaucht, dann wird insbesondere das Ge-
bedingungen werden zwar die gleichen Ob- sichtswahrnehmungsareal (FFA) aktiv. Wenn
jekte dargeboten, aber die Versuchspersonen sie instruiert werden, auf die Reaktionstaste zu
werden unterschiedlich instruiert. drücken, wenn ein Objekt (egal welches und in
In einer Versuchsbedingung besteht die welcher Farbe) oben rechts auf dem Bild-
Aufgabe darin, nur auf die Reaktionstaste zu schirm erscheint, dann werden die Raumwahr-
drücken, wenn ein rotes Objekt auftaucht, un- nehmungsareale im Parietallappen besonders
abhängig von der Lokalisation und der Art des stark aktiv. Die Farb- und Objektwahrneh-
Objekts. Die Probanden konzentrieren sich mungsareale sind dann weniger stark aktiv.

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326 10. Aufmerksamkeit

Der Aachener Neuropsychologe Walter 10.6.2. Aufmerksamkeit und ­


Sturm hat mittels PET die Durchblutungsver- elektrische Hirnoszillationen
änderung bei intrinsischer Alertness unter-
sucht (Sturm et al., 2004). Zur Erinnerung: In jüngster Zeit rücken zunehmend die elek-
Die intrinsische Alertness beschreibt die trischen Oszillationen des Gehirns, die mit-
interne und kognitive Kontrolle des Erre- tels des Elektroenzephalogramms und der
gungsniveaus zu einem bestimmten Messzeit- Magnetenzephalografie an der Schädelober-
punkt. Das Ziel von Sturms Experimenten war fläche gemessen werden können, in den Fo-
es, ein neuronales Netzwerk zu identifizieren, kus neurowissenschaftlicher Untersuchun-
das insbesondere in die Kontrolle der Alert- gen und theoretischer Überlegungen. Wie in
ness eingebunden ist. Er konnte zeigen, dass Kapitel 5 dargestellt, werden die EEG- und
insbesondere auf der rechten Hemisphäre MEG-Oszillationen in Frequenzbänder einge-
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Hirnbereiche im ventralen Frontalkortex, im teilt. Mit zunehmender Aufmerksamkeit und


vorderen Cingulum und im Lobulus parietalis Aufgabenanforderung nimmt die Energie im
inferior stärker durchblutet waren. In einer Alpha-Band (8–13 Hz), und hier insbesondere
Folgeuntersuchung konnte dieser Befund im unteren Alpha-Band (8–10 Hz), ab. Diese
nicht repliziert werden, stattdessen wurde Abnahme wird als Desynchronisation  – in
eine vorwiegend bilaterale Durchblutungs- diesem Fall als Alpha-Desynchronisation –
steigerung festgestellt. Die Durchblutungs- bezeichnet. Alpha-Synchronisationen bzw.
veränderungen sind auch hier vorwiegend in zunehmende und starke Oszillationen im Al-
einem parietofrontalen Netzwerk zu messen pha-Band repräsentieren wahrscheinlich einen
gewesen, allerdings nicht nur in ventralen „wachen“, aber „unaufmerksamen“ Grundzu-
Hirngebieten, wie in der ersten Untersuchung, stand des Gehirns. Manche Forscher vermu-
sondern auch in dorsalen Hirngebieten (dor- ten sogar, dass eine Alpha-Synchronisation so
saler Frontalkortex und Parietallappen). Bei etwas wie eine kortikale Hemmung andeutet.
geteilter räumlicher Aufmerksamkeit (wenn Die Alpha-Desynchronisation ist nicht
die Versuchspersonen auf bestimmte räumli- nur im Zusammenhang mit Aufmerksam-
che Positionen zu achten hatten) war bis auf keitsprozessen zu beobachten, sondern auch
den Lobulus parietalis superior prinzipiell das dann, wenn neuronale Netzwerke aktiv sind
gleiche Netzwerk aktiv (Sturm et al., 2006). und gemäß ihrer Spezialisierung konkrete
Im Grunde weist dieser Befund auf drei As- Informationsverarbeitungsprozesse durch-
pekte hin: führen. Die Hirngebiete, die aktiv sind und
1. Die Aufmerksamkeitsnetzwerke für un- Alpha-Desynchronisation zeigen, sind dann
terschiedliche Aufmerksamkeitsaufgaben in der Regel von Hirngebieten umgeben, die
überschneiden sich. eine Alpha-Synchronisation aufweisen. Dies
2. Es scheint dorsale und ventrale Hirngebiete könnte auf eine spezielle inhibitorische Kon-
zu geben, die in die Aufmerksamkeitskon- trolle der benachbarten Netzwerke hindeu-
trolle eingebunden sind. ten. Interessant sind auch neuere Studien,
3. Das Cingulum ist offenbar immer in die die zeigen, dass im visuellen Kortex kon-
Aufmerksamkeitskontrolle eingebunden. tralateral zum beachteten Gesichtsfeld eine
Alpha-Desynchronisation während des Er-
wartens und Präsentierens von visuellen
Das Aufmerksamkeitsmodell von Corbetta Reizen auftritt. Gleichzeitig findet man über
und Shulman (Kap. 10.9.) vereinigt elegant dem anderen visuellen Kortex (ipsilateral
beide Befunde von Sturm und Kollegen. zum beachteten Gesichtsfeld) vor und wäh-

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10.6.  Neurophysiologie der Aufmerksamkeit 327

rend der Reizpräsentation eine Alpha-Syn- Hirngebiete ausbreitete. Das bedeutet, dass
chronisation. die Kohärenz (also die Verbundenheit) der
Wenn Aufmerksamkeit und Konzentration Hirngebiete mit zunehmender Wachheit und
weiter abnehmen und man einen entspannten, wahrscheinlich Aufmerksamkeit zunimmt
leicht dösigen Zustand erreicht, nimmt die (Massimini et al., 2005).
Energie im Theta-Band zu (Theta-Synchro-
nisation). Bei Einnahme von Benzodiazepi-
nen oder unter Alkohol reduziert sich die Ener- 10.6.3. Neurochemie der ­
gie im Alpha- und Beta-Band noch stärker und Aufmerksamkeit
es ist vermehrt Delta-Aktivität (0,5–3,5 Hz) zu
beobachten (Alpha- und Beta-Desynchronisa- Verschiedene Neurotransmittersysteme sind
tion sowie Delta-Synchronisation). Im Übrigen an der Modulation der Aufmerksamkeit bzw.
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nimmt die Energie im Delta-Band im Schlaf, der unterschiedlichen Teilaspekte der Auf-
unter Hypnose, in Trance, während sexueller merksamkeit beteiligt. Die wichtigsten sind
Erregung und bei der Verarbeitung neuer, aber das noradrenerge, das serotonerge und das
wichtiger Reize zu. cholinerge System.
Auch die hochfrequenten Oszillationen im
Gamma-Band (30–100 Hz) reagieren im Zu-
Noradrenerges System
sammenhang mit Aufmerksamkeitsprozes-
sen. Obwohl in diesem Kapitel die einzelnen Die Bedeutung des noradrenergen Systems
Frequenzbänder separat beschrieben wur- für die Regulation der Aufmerksamkeit ist an
den, ist es wahrscheinlich, dass diese Oszilla- der Noradrenalinfreisetzung während gestei-
tionen im Zusammenhang mit verschiedenen gerter Aufmerksamkeit und im wachen Zu-
kognitiven Prozessen interagieren. Wichtig stand zu erkennen. Während des REM-Schlafs
ist wahrscheinlich, dass Oszillationen in den nimmt die Aktivität in diesem System und da-
unterschiedlichen Frequenzbereichen in ver- mit auch die Noradrenalinfreisetzung ab. Das
schiedenen miteinander verbundenen Hirn- noradrenerge System umfasst Kerngebiete im
gebieten gemeinsam, also kohärent, oszillie- Hirnstamm mit efferenten Einflüssen zum
ren. Dies konnte die Arbeitsgruppe um Giulio Thalamus, limbischen System und Kortex. Im
Tononi sehr eindrücklich mittels transkra- Hirnstamm (genauer im Rhombencephalon)
nieller Magnetstimulation (TMS) und gleich- befindet sich als wichtiges Kerngebiet dieses
zeitiger Ableitung des EEG zeigen. Die Wis- Systems der Locus caeruleus (auch Locus
senschaftler konnten nachweisen, dass mit coeruleus). Dieser noradrenalinhaltige Kern-
steigendem Grad der Wachheit und Auf- komplex liegt im dorsalen Tegmentum etwas
merksamkeit die Kohärenz (als die korrelierte vor den Colliculi inferiores und erstreckt sich
Aktivität) der Hirnaktivität zunimmt. Hierzu bis zum vierten Ventrikel. Wichtige Verbin-
haben sie den Versuchspersonen während des dungen des Locus caeruleus sind der dorsale
Non-REM-Schlafs einen TMS-Puls über dem tegmentale und der dorsale periventrikuläre
Prämotorkortex appliziert und die elektri- Weg. Der dorsale tegmentale Weg begleitet
sche Aktivität des Gehirns gemessen. Hiermit das mediale Vorderhirnbündel durch den
konnten sie zeigen, dass sich die durch den kaudalen und lateralen Hypothalamus bis
TMS-Puls evozierte Aktivität nicht nennens- zum basalen Vorderhirn und zum Kortex. Der
wert im Gehirn ausbreitete. Anders war es im zweite Weg projiziert in den dorsalen Thala-
entspannten Wachzustand, in dem sich die mus und in verschiedene hypothalamische
evozierte Hirnaktivität über weiter entfernte Zentren.

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328 10. Aufmerksamkeit

cholinerges System tivitätsveränderungen sind auch mit der Aus-


Frontal- schüttung von Noradrenalin gekoppelt (je
kortex
stärker der LC aktiviert ist, desto mehr Nor-
adrenalin wird ausgeschüttet). Die Bedeutung
des LC und der Freisetzung von Noradrenalin
ist an der P300-Komponente des evozierten
Potenzials erkennbar, die auch im Tierversuch
(insbesondere bei Affen) abgeleitet werden
basales kann. Bei bilateraler Läsion des LC wird die
Hirngebiet Amplitude der P300-Komponente kleiner. Die
Latenzen der P300-Amplitude korrelieren
Mittelhirnkerne
auch mit den Latenzen der LC-Reaktionen.
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noradrenerges System Die Latenz bis zum Auftreten einer Reaktion


im LC nach Präsentation eines Reizes beträgt
ca. 90 ms, während die Latenz der P300-Am-
plitude ca. 300 ms beträgt. Die Latenzen der
beiden neurophysiologischen Reaktionen kor-
relieren auch mit den Leistungen bei Vigilanz-
und Aufmerksamkeitsaufgaben (lange Laten-
zen sind mit schlechten Leistungen bei den
Aufmerksamkeitsaufgaben verbunden).
Thalamus

Locus caeruleus
Serotonerges System
serotonerges System Ein wichtiges Kerngebiet des serotonergen
Systems, die Raphekerne, liegt im Stamm-
hirn zwischen der Medulla oblongata und dem
Mesencephalon. Die serotonergen Nerven-
bahnen dieses Kernkomplexes verteilen sich
im ganzen Gehirn. An ihren Enden wird Sero-
tonin ausgeschüttet. Ein bestimmter Bereich
der Raphekerne (die sogenannte hypnogene
Zone) ist zuständig für die Auslösung des syn-
chronen Schlafs, seine Zerstörung führt zu
Raphekerne völliger Schlaflosigkeit. Oft wirken diese sero-
tonergen Einflüsse antagonistisch zum norad-
Abbildung 10-10: Schematische Darstellung der
renergen System. Postsynaptisch wirkt Sero-
verschiedenen Transmittersysteme, die an der Re-
tonin hemmend. Die Raphekerne beeinflussen
gulation der Aufmerksamkeit beteiligt sind.
durch weit verzweigte Efferenzen global das
Gehirn. Diese „verteilte“ Beeinflussung ist
In Tierversuchen ist die elektrische Aktivi- wahrscheinlich wichtig, um eine Aktivitäts-
tät des LC im Zusammenhang mit verschiede- umverteilung im Gehirn im Zusammenhang
nen Wachheitsstadien untersucht worden. Bei mit unterschiedlichen Wachheitszuständen
Wachheit ist die Aktivität im LC erhöht und (z. B. Schlaf) vorzunehmen. Unter Stress nimmt
während des Schlafs nimmt sie ab. Diese Ak- die Ausschüttung von Serotonin zu, während

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10.7.  Zeitlicher Verlauf von Aufmerksamkeits­prozessen 329

sie im Stamm- und Zwischenhirn vermindert führt haben. Diese Verhaltensänderung ist mit
ist. Diese Aktivitätsumverteilung könnte der einer reduzierten Durchblutung in verschiede-
Grund dafür sein, dass unter Stress schnellere, nen Hirngebieten im Frontal- und Parietallap-
wenn auch weniger durchdachte Reaktionen pen assoziiert (rechtsseitig im Gyrus angularis
ausgelöst werden können. und Gyrus frontalis medius, linksseitig im
Derzeit wird diskutiert, ob Depressionen, Sulcus intraparietalis und im Precuneus). Ne-
bipolare und Angststörungen mit einem Sero- ben dieser Aktivitätsreduktion kann gelegent-
toninmangel zusammenhängen bzw. durch lich auch eine Aktivitätszunahme im rechts-
einen solchen verursacht werden. Sicher ist, seitigen Gyrus temporalis superior beobachtet
dass die Depressions- und Angstsymptomatik werden. Insgesamt ist festzuhalten, dass Ni-
durch eine Erhöhung des Serotoninspiegels kotin insbesondere das Alerting-System (im
deutlich gelindert werden kann. Gelegentlich Sinne des Modells von Corbetta und Shulman,
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wird auch behauptet, dass die aktuelle Seroto- 2002) moduliert.


ninkonzentration etwas mit „Liebe“ zu tun
habe und insbesondere bei „Verliebten“ erhöht
sei. Häufig wurde allerdings berichtet, dass ein
10.7. Zeitlicher Verlauf
ausgeglichener bzw. leicht erhöhter Serotonin- von Aufmerksamkeits­
spiegel das Wohlbefinden erhöht bzw. ein Ge- prozessen
fühl der Zufriedenheit ausgelöst habe, weshalb
Serotonin auch als „Glückshormon“ bezeich- In den psychologischen Aufmerksamkeits-
net wird. Angenommen wird ferner, dass ein modellen wird immer wieder die Frage auf-
erhöhter Serotoninspiegel im Gehirn zu einer geworfen, zu welchem Zeitpunkt der Informa-
Erhöhung der Ejakulationsschwelle führt. tionsverarbeitung Aufmerksamkeitsprozesse
wirksam werden. Dies findet in der Diskussion
der Modelle der frühen oder späten Filterung
Cholinerges System
Niederschlag. Moderne EEG- und MEG-Un-
Das cholinerge System (Neurotransmitter tersuchungen sind sehr gut geeignet, den Ver-
Acetylcholin, ACh) ist ebenfalls während wa- lauf der Informationsverarbeitung und das
cher Zustände aktiv; während des Non-REM- Wirksamwerden von Aufmerksamkeitsein-
Schlafs nimmt diese Aktivität ab und während flüssen zu messen. In einem mittlerweile klas-
des REM-Schlafs wieder zu. Gesteigerte Akti- sischen Experiment wurden den Versuchsper-
vität im cholinergen System führt zu einer De- sonen per Kopfhörer auf beiden Ohren Töne
synchronisation im EEG (Abnahme des Alpha- präsentiert. Sie waren instruiert, nur auf ein
Band-Anteils im EEG) und zu einer Zunahme Ohr zu achten und die dem anderen Ohr prä-
der Wachheit. Das cholinerge System kann sentierten Informationen zu ignorieren. In ei-
durch externe Gabe von Nikotin (z. B. Nikotin- ner anderen Bedingung sollten die Versuchs-
pflaster bei Nichtrauchern) stimuliert werden. personen die Zieltöne auf dem vormals nicht
Nikotin führt zu einer EEG-Desynchronisation beachteten Ohr mit Aufmerksamkeit beach-
(im Alpha-Band) und beeinflusst eine Reihe ten. Auf diese Weise lassen sich evozierte Po-
von Kognitionen (Newhouse et al., 2011; Thiel tenziale auf die Zielreize für zwei unterschied-
& Fink, 2008). Insbesondere die Aufmerksam- liche Bedingungen berechnen. Einmal, wenn
keitsverlagerung bei räumlichen Aufmerksam- die Zielreize dem beachteten Ohr, und einmal,
keitsaufgaben wird deutlich verbessert, wäh- wenn die Zielreize dem nicht beachteten Ohr
rend Untersuchungen zum Einfluss auf die präsentiert wurden. Das evozierte Potenzial
Alertness zu uneinheitlichen Ergebnissen ge- für die beachteten Zielreize war bereits wäh-

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330 10. Aufmerksamkeit

rend der ersten 100 ms nach Reizpräsenta- visuellen Reiz beobachtet werden und wird
tion negativer als die evozierten Potenziale neuronalen Aktivitäten des primären visuel-
auf die nicht beachteten Reize. Berechnet len Kortex zugeordnet. Diese Komponente
man für diese beiden evozierten Potenziale reagiert nicht auf Aufmerksamkeitsvariatio-
ein Differenzpotenzial, erhält man die so- nen. Obwohl einige fMRT-Untersuchungen
genannte negative Differenz-Komponente Aktivitätsveränderungen im primären visuel-
(Nd; Abb. 10-11). Ähnliche Effekte können len Kortex im Zusammenhang mit Aufmerk-
auch für visuell evozierte Potenziale ermittelt samkeitsvariationen erbracht haben (Jancke et
werden (Abb. 10-9). Insgesamt belegen diese al., 1999a), bedeutet dies nicht, dass auch tat-
Befunde, dass die Aufmerksamkeit bereits sächlich schon auf der frühen Stufe der Infor-
sehr früh ihren Einfluss entfalten kann. mationsverarbeitung im primären visuellen
Im visuellen System ist vor dem P1-N1- Kortex Aktivitätsmodulationen aufgrund der
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Komplex eine weitere Komponente fest- Aufmerksamkeit stattgefunden haben. Dazu


zustellen, die als C1-Komponente bezeich- ist die fMRT im Hinblick auf die zeitliche Auf-
net wird. Sie kann bereits 50–70 ms nach dem lösung (im Sekundenbereich) viel zu ungenau.

Aufmerksamkeit auf linkem Ohr Aufmerksamkeit auf rechtem Ohr

N1 Beachtetes Ohr
nicht beachtetes Ohr
N1

– –
P2 P2

3 µV 3 µV

+ 0 200 400 600 + 0 200 400 600


Zeit (ms) Zeit (ms)

Abbildung 10-11: Modulation früher Komponenten des evozierten Potenzials. Das Potenzial ist größer,
wenn es durch einen Reiz evoziert wird, der dem beachteten Ohr präsentiert wird. Bitte beachten Sie,
dass in diesem Versuch das linke und rechte Ohr simultan beschallt wurden, aber die Aufmerksamkeit
je nach Versuchsbedingung nur auf das linke oder rechte Ohr gerichtet wurde. Besonders hervorgehoben
sind die Komponenten N1 und P2. Links sind die evozierten Potenziale für Reize dargestellt, die dem
linken beachteten Ohr präsentiert wurden. Rechts erkennt man die evozierten Potenziale für Reize, die
dem rechten beachteten Ohr dargeboten wurden. Die durchgezogene Linie repräsentiert die evozierten
Potenziale, die man bei Aufmerksamkeitslenkung auf das beachtete Ohr erhält. Die gestrichelte Linie
stellt das evozierte Potenzial dar, dass man bei Aufmerksamkeitslenkung auf das nicht beachtete Ohr
erhält. Die Differenz zwischen der durchgezogenen und gestrichelten Linie um die N1 wird als Nd-Kom-
ponente bezeichnet. Die aufmerksamkeitsabhängige Differenz der evozierten Potenziale beginnt bereits
in den ersten 100 ms.

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10.8.  Neurophysiologie ­bewusster und reflexiver Aufmerksamkeits­steuerung 331

Ein kombiniertes EEG- und fMRT-Experiment plituden, die bei mehrfacher Präsentation des
von Noesselt et al. (2002) konnte zeigen, dass jeweiligen Reizes immer kleiner werden (Habi-
die Aufmerksamkeitsmodulation im primären tuation). Auch die späteren Komponenten, die
visuellen Kortex ca. 200 ms nach Reizbeginn mit komplexen kognitiven Operationen in Zu-
erfolgt. Insofern handelt es sich hierbei nicht sammenhang gebracht werden (z. B. N400 in-
um eine Aufmerksamkeitsmodulation auf frü- diziert semantische Integration; P600 indiziert
her Verarbeitungsstufe, sondern wahrschein- Prozesse im Zusammenhang mit dem verbalen
lich um eine Rückkopplung aus übergeord- episodischen Gedächtnis), reagieren stark auf
neten extrastriären Hirngebieten zum primä- Aufmerksamkeitsmodulationen.
ren visuellen Kortex.
Die Aufmerksamkeit wird zwar relativ früh,
10.8. Neurophysiologie ­
aber in der Regel erst in den sekundären Area-
bewusster und reflexiver
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len wirksam. Spätere Komponenten der evo-


zierten Potenziale reagieren recht stark auf Aufmerksamkeits­
Aufmerksamkeitsmodulationen. So wird z. B. steuerung
die N200-Komponente (Negativierung ca.
200 ms nach Reizeinsatz) sehr stark durch die Wie im vorangegangenen Kapitel dargestellt,
Fokussierung der Aufmerksamkeit beeinflusst. weist beim visuell evozierten Potenzial der P1-
Manchmal wird diese Komponente auch als N1-Komplex größere Amplituden bei Rei-
„pc“-Komponente bezeichnet, da sie mit maxi- zen  auf, die aufmerksam beachtet werden.
maler Amplitude parietal (p) und kontralateral Dieser Vergrößerungseffekt kann durch vo-
(c) zum beachteten Reiz aufgezeichnet wird. rausgegangene Hinweisreize moduliert wer-
Die P300-Komponente ist eine Positivierung den. Wird ca. 100–250 ms vor dem Reiz, der
des evozierten Potenzials ca. 300 ms nach das evozierte Potenzial auslöst, ein Hinweisreiz
Reizeinsatz. Die P300-Amplitude reflektiert (der die Versuchsperson vorwarnt, dass gleich
Gehirnaktivität, die erforderlich ist, um eine der wichtige Reiz erscheinen wird) präsentiert,
Repräsentation im Kurzzeitgedächtnis auf- dann ist die P1-Amplitude deutlich vergrößert.
rechtzuerhalten, wenn das mentale Modell Das bedeutet, dass der Vergrößerungseffekt
der Umgebung aktualisiert wird. Darüber hi- sehr schnell, also nach ca. 50–70 ms auftritt
naus ist die P300-Amplitude proportional zur (das ist die typische Latenz der P1-Amplitude).
Menge an Aufmerksamkeit, die einer Aufgabe In diesem Zusammenhang wird auch von einer
gewidmet wird. Die P300-Amplitude kann also schnellen und automatischen Aufmerksam-
als ein Index der Gehirnaktivität angesehen keitslenkung gesprochen.
werden, der die Verarbeitung einkommender Werden jedoch längere Interstimulusinter-
Informationen und ihre Integration in aktuelle valle (ISI) zwischen Hinweis- und Zielreiz ver-
Gedächtnisrepräsentationen reflektiert. Die wendet (> 300 ms), wird die Amplitude der
Gipfellatenz der P300-Komponente wird als P1-Komponente kleiner und die der N1-Kom-
ein Maß für die Geschwindigkeit des Reizeva- ponente größer. Es wird vermutet, dass dann
luationsprozesses angesehen. Top-down-Einflüsse wirksam werden und es
Insbesondere die P300-Amplitude, die über zu einer langsameren und bewussten Auf-
dem frontalen Kortex (meist Fz) abgeleitet wird merksamkeitslenkung kommt (Abb. 10-12).
(auch als „Novel“-P300 bezeichnet), reagiert Auch in Reaktionszeitexperimenten kann fest-
besonders stark auf Aufmerksamkeitsprozesse. gestellt werden, dass das Interstimulusinter-
Neue Reize evozieren über frontalen Hirn- vall zwischen Hinweisreiz und Zielreiz für den
gebieten P300-Komponenten mit großen Am- begünstigenden Effekt auf die Reaktionszei-

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332 10. Aufmerksamkeit

A) Reiz, der evoziertes


Hinweisreiz Potenzial auslöst

ISI evoziertes Potenzial

Zeit in ms

B) N1 N1
kurzes ISI langes ISI


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+
P1
+
P1

Abbildung 10-12: Evozierte Potenziale, die durch Hinweisreize moduliert werden. (A) Die spezifische Art
der Modulation hängt entscheidend von dem Interstimulusintervall (ISI) zwischen dem Hinweisreiz und
dem Reiz ab, der das evozierte Potenzial auslöst. (B) Ist das ISI kurz (in etwa 100–200 ms), dann ist die
P1-Amplitude des visuell evozierten Potenzials in der Bedingung mit dem Hinweisreiz deutlich vergrö-
ßert. Ist das ISI länger als 200 ms, ist die P1-Amplitude in der Bedingung mit dem Hinweisreiz kleiner;
gleichzeitig ist aber die N1-Amplitude größer als in der Bedingung ohne Hinweisreiz.

ten entscheidend verantwortlich ist. Bei kur- Reaktionszeitverlängerung wird darauf zu-
zen ISI zwischen Hinweis- (auch Warnreiz) rückgeführt, dass nun Top-down-Einflüsse
und Zielreiz sind die Reaktionszeiten sehr ihre Wirkung entfalten, um zu verhindern,
schnell und v. a. schneller als ohne Hinweis- dass die Aufmerksamkeit zu lange auf einen
reiz. Bei langen ISI werden die Reaktionszei- bestimmten Ort gerichtet ist. Wenn am beach-
ten langsamer als ohne Hinweisreize.36 Diese teten Ort kein wichtiger Reiz erscheint, dann
wäre das ja Ressourcenverschwendung, denn
es ist dann sinnvoller, die Aufmerksamkeit auf
36  Dieses Phänomen wird auch als Inhibition of
andere Positionen zu richten. Diese Befunde
Return bezeichnet. Damit soll zum Ausdruck ge-
sind sehr gut mit der „Spotlight“-Metapher der
bracht werden, dass die Aufmerksamkeit sich vom
Initialort der Aufmerksamkeitsfokussierung zu an- Aufmerksamkeit kompatibel. Die Aufmerk-
deren Positionen verlagert und die Rückkehr an den samkeit kann automatisch oder willentlich auf
Initialort gehemmt wird. einen bestimmten Ort gelenkt werden und da-

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10.9. Aufmerksamkeitsmodelle 333

mit die Verarbeitung der dort erscheinenden erscheint ein interessanter Reiz. Das Aufmerk-
Zielreize verbessern. samkeitsnetzwerk wird zunächst veranlassen,
dass die Aufmerksamkeit vom gerade beachte-
ten Reiz „losgerissen“ wird (disengage). Dann
10.9. Aufmerksamkeits- muss sich die Aufmerksamkeit auf den neuen
modelle Reiz ausrichten (move und shift). Dies kann
durch Augen- und Kopfbewegungen, aber
10.9.1. Aufmerksamkeitsmodell auch verdeckt erfolgen. Im letzten Stadium
nach Posner muss sich die Aufmerksamkeit auf den neuen
Reiz ausrichten und sich auf ihn „fokussieren“
Posner und Petersen (1990) haben ein Auf- (engage). Alle drei Prozesse sind aufwendig
merksamkeitsmodell vorgeschlagen, das auf und erfordern kognitive Ressourcen.
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der Grundlage von Arbeiten aus dem Bereich


der kognitiven Psychologie entwickelt wurde.
Orientierungsnetzwerk
Zunächst standen die neurophysiologischen
und neuroanatomischen Grundlagen nicht im Das Orientierungsnetzwerk kontrolliert das
Vordergrund von Posners Arbeiten. Gemäß Zuwenden zu neuen und das Abwenden von
seiner Ansicht wird die Aufmerksamkeit ge- alten Reizen. Tritt ein neuer und interessanter
nutzt, um drei wesentliche Funktionen zu ge- Reiz auf, muss sich der Organismus vom alten,
währleisten: Orientierung, Aufrechterhaltung gerade betrachteten Reiz lösen. Dieses „Los-
von Vigilanz und Daueraufmerksamkeit sowie lösen“ oder „Losreißen“ vom alten Reiz (im
exekutive Kontrolle. In seinen späteren Arbei- Englischen „disengagement“) wird von Hirn-
ten hat er diese unterschiedlichen Aufmerk- strukturen kontrolliert, die vorwiegend im
samkeitsfunktionen verschiedenen neuro- posterioren Hirnbereich lokalisiert sind (Pa-
anatomischen Netzwerken zugeordnet. Diese rietallappen, Colliculi superiores, Thalamus
Netzwerke kooperieren miteinander, aber auch und Pulvinar). Aufgrund der anatomischen
mit anderen neuronalen Netzwerken. Folgende Lage wird dieses Netzwerk auch gelegentlich
drei Netzwerke schlägt Posner vor: als posteriores Aufmerksamkeitssystem be-
• Orientierungsnetzwerk: Orientierung zu zeichnet. Hierbei übernimmt insbesondere
Ereignissen (insbesondere visuellen Ereig- der Parietallappen die Rolle der bewussten
nissen). Dieses Netzwerk wird aufgrund der Aufmerksamkeitszuwendung und trägt zur
beteiligten Hirngebiete auch als posteriores Orientierung im Raum bei. Denn wenn ein
Netzwerk bezeichnet. neuer Reiz anvisiert werden muss, erfordert
• Vigilanz-/Alertness-Netzwerk: Herstel- das die korrekte Lokalisation des Reizes im
len und Aufrechterhalten eines alerten und Raum. Wir werden noch in anderen Kapiteln
vigilanten Zustands. lernen, dass das Parietallappensystem nicht
• Exekutives Netzwerk: Kontrolle und Be- nur in die Aufmerksamkeitskontrolle ein-
reitstellung von bewussten Willenshand- gebunden ist, sondern auch in die Kontrolle
lungen. Dieses Netzwerk wird aufgrund der der räumlichen Orientierung.
beteiligten Hirngebiete auch als anteriores Ist der neue Reiz räumlich korrekt lokali-
Netzwerk bezeichnet. siert, müssen die entsprechenden Augenbe-
wegungen ausgelöst und präzise gesteuert
Das Zusammenspiel dieser drei Netzwerke werden. Dies übernimmt insbesondere das
kann man sich folgendermaßen vorstellen: Mittelhirn und hier die Colliculi superiores.
Angenommen, in Ihrer nächsten Umgebung Letztlich sind in diesen Prozess noch der Tha-

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334 10. Aufmerksamkeit

Tabelle 10-3: Aufmerksamkeitsmodell von Posner inklusive der beteiligten Hirnstrukturen und der je-
weiligen Aufmerksamkeitsfunktionen

Aufmerksamkeitsnetzwerk Funktion Neuroanatomie


Orientierungsnetzwerk • Orientierung zum Reiz • Lobulus parietalis
• Loslassen vom Reiz superior
(disengage) • Übergangsbereich
• Hinwendung zum Reiz (move) zwischen hinterem
• Anbinden an neuen Reiz ­ Temporallappen und
(engage) unterem Parietallappen
• Colliculi superiores
Vigilanz-/Alertness-Netzwerk Aufrechterhalten eines rechtes frontoparietales ­
aktivierten und alerten Netzwerk
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Zustands
exekutives Netzwerk Bereitstellung und • vorderes Cingulum
Kontrolle von Willens­handlungen • lateraler Präfrontalkortex
• Orbitofrontalkortex
• Basalganglien
• Thalamus

lamus und besonders das Pulvinar eingebun- Studien an neurologischen Patienten haben al-
den. Diese Strukturen unterstützen das Filtern lerdings ergeben, dass Störungen im „Losrei-
und Sortieren wichtiger Informationen. Dieses ßen“ der Aufmerksamkeit oft dann auftreten,
Orientierungssystem ist nicht nur aktiv, wenn wenn Läsionen im Übergangsbereich zwi-
Augenbewegungen vom alten Reiz zum neuen, schen dem Temporal- und dem Parietallappen
aufmerksamkeitsfordernden Reiz stattfinden, vorliegen, insbesondere dann, wenn die zu be-
sondern auch dann, wenn die Aufmerksamkeit achtenden Reize neu sind. Läsionen im Be-
„verdeckt“, also ohne Augenbewegungen er- reich des Lobulus parietalis superior sind eher
folgt. Diese Form der Aufmerksamkeitsver- mit Problemen der bewussten Aufmerksam-
schiebung muss man sich ungefähr so vorstel- keitsverschiebung verbunden, wenn die Auf-
len: Nehmen wir mal an, Sie würden mit Ihrem merksamkeit nach der Präsentation von Hin-
Auto eine belebte Straße entlangfahren. Ihre weisreizen verschoben werden soll. Auch die
Augen sind nach vorne auf die Straße gerich- visuelle Suche nach Reizen im Raum ist bei
tet. Sie wissen allerdings, dass auf dieser diesen Läsionen erheblich gestört. Neuere
Straße gelegentlich Kinder auf dem Bürger- Arbeiten belegen auch, dass das hintere Ori-
steig spielen. Insofern sind Sie innerlich vorge- entierungssystem durch den Neurotransmit-
warnt, dass von rechts Gefahr drohen könnte. ter Acetylcholin (ACh) vermittelt wird. ACh
Ihre Aufmerksamkeit hat sich innerlich, also wird im Nucleus basalis (in der Nähe des Nu-
verdeckt, nach rechts orientiert. Wenn nun tat- cleus accumbens) gebildet und innerviert
sächlich ein Kind von rechts kommend auf die weite Teile des Kortex und auch den Parietal-
Straße läuft, werden Sie schneller reagieren, lappen. Läsionen des Nucleus basalis führen
als wenn ein Kind von links erscheinen würde. zu Störungen des „Losreißens“ von einem
Posner postuliert in seinen frühen Arbeiten, Reiz im ipsiläsionalen Gesichtsfeld (auf der
dass für das „Losreißen“ insbesondere der Lo- gleichen Seite, wo der lädierte Nucleus basa-
bulus parietalis superior verantwortlich sei. lis liegt) und zu Problemen der „Aufmerk-

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10.9. Aufmerksamkeitsmodelle 335

samkeitsverlagerung“ auf die andere (kontra- schiedliche Aspekte der Aufmerksamkeit kon-
läsionale) Seite und des dortigen „Anbindens“ trollieren sollen und in unterschiedlichen
an den neuen Reiz. Hirngebieten lokalisiert sind. Diese vier Mo-
dule sind wechselseitig miteinander verknüpft
(Abb. 10-13):
Vigilanz-Alertness-Netzwerk
• Das Arousal-System zur Bereitstellung der
Für Posner und Petersen ist das Vigilanznetz- grundsätzlichen Aktivierung. Es entspricht
werk für die Generierung und Aufrechter- neuroanatomisch und funktionell dem be-
haltung des „Grundaktivierungsniveaus“ bzw. reits dargestellten ARAS.
der „Grundreaktionsbereitschaft“ verant- • Das sensorische Repräsentationssystem
wortlich. Sie gehen davon aus, dass das Mit- im Parietallappen. Dieses Modul soll die
telhirn und rechtshemisphärische kortikale sensorischen Informationen der Umwelt
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Areale (v. a. der rechtsseitige Präfrontalkortex) integrieren und mental repräsentieren. Ins-
hierfür spezialisiert sind. Ein wichtiger Trans- besondere der obere Teil des Parietallap-
mitter in diesem Netzwerk ist das Noradre- pens (Lobulus parietalis superior) wird als
nalin (Kap. 10.6.). anatomische Struktur vorgeschlagen, wel-
che die entsprechenden neuronalen Netz-
werke enthalten soll.
Exekutives Netzwerk
• Das motorische Kontrollsystem im Fron-
Dieses System wird auch als anteriores Netz- talkortex. Dieses System (inklusive des fron-
werk bezeichnet und ist in die selektive Ent- talen Augenfelds) soll die motorischen Pro-
deckung sensorischer und semantischer Ereig- gramme zur Verfügung stellen, mit denen
nisse involviert. Es übernimmt des Weiteren gemäß der Aufmerksamkeitsanforderun-
eine wichtige Funktion bei der willentlichen gen die Umwelt exploriert, abgetastet und
Aufmerksamkeitskontrolle. Zu diesen Kon- fixiert wird. Im Frontalkortex werden auch
trollprozessen werden Inhibition, Aufgaben- die Augenbewegungen gemäß der Auf-
wechsel, Konfliktlösung, Ressourcenzuteilung merksamkeitsanforderungen kontrolliert.
und Planungsprozesse gezählt. Anatomisch • Das Motivationssystem im anterioren Gy-
werden diesem Netzwerk Teile des mittleren rus cinguli. Dieses Modul ist für die Ver-
präfrontalen Kortex (v. a. das anteriore Cingu- arbeitung der motivationalen Bedeutung der
lum, ACC) sowie die supplementärmotori- wahrgenommenen Reize verantwortlich.
schen Felder zugeordnet. Auch eine Betei-
ligung der Basalganglien und des Thalamus Wie oben erwähnt, bestehen zwischen den ge-
wird diskutiert. Die zentrale Struktur ist aller- nannten Strukturen Wechselwirkungen. Die
dings das anteriore Cingulum. sensorische Repräsentation in den parietalen
Regionen ist beispielsweise Grundlage für die
Koordination von explorativen Bewegungen.
Aus diesen Bewegungen werden Informatio-
10.9.2. Aufmerksamkeitsmodell nen gewonnen, die sich wiederum auf die sen-
nach Mesulam sorische Repräsentation auswirken. Motiva-
tionale Vorgänge greifen direkt in die vorher
Der Neurologe Marsel Mesulam (1981) hat im genannten Prozesse ein. Große Unterschiede
Rahmen mehrerer Publikationen ein eige- zum oben genannten Modell von Posner sind
nes Aufmerksamkeitsmodell vorgelegt. Die- nicht zu identifizieren. Für die räumliche Auf-
ses Modell sieht vier Module vor, die unter- merksamkeit sind nach Mesulam ebenfalls die

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336 10. Aufmerksamkeit

sensorische Repräsentation motorische Repräsentation

Parietallappen Frontallappen
Lobulus parietalis superior dorsaler Präfrontalkortex
Lobulus parietalis inferior ventraler Präfrontalkortex

Thalamus/Striatum

motivationale Repräsentation

Gyrus cinguli
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ARAS

Erregung/Arousal

Abbildung 10-13: Aufmerksamkeitsmodell nach Mesulam.

parietalen und cingulären Strukturen von Be- einer großen Gruppe von gesunden Kontroll-
deutung, was sich mit dem Modell von Posner personen und psychiatrischen Patienten zur Be-
und Petersen deckt. Auch die Bedeutung des arbeitung vorgelegt. Die Testresultate wurden
Gyrus cinguli für die Target-Entdeckung kann statistischen Analysen unterzogen und vier
mit der Bedeutung der cingulären Strukturen Grundfaktoren konnten identifiziert werden.
für die motivationale Bedeutungsgebung in Diese Grundfaktoren nennt Mirsky „Grundele-
Einklang gebracht werden. mente der Aufmerksamkeit“ (elements of at-
tention). In seiner ersten Publikation hat er vier
Elemente erwähnt, kürzlich wurde ein fünftes
10.9.3. Aufmerksamkeitsmodell Element (stable) hinzugefügt. Allerdings weist
nach Mirsky dieses Element sehr viele Gemeinsamkeiten
mit dem dritten Element auf, sodass im Folgen-
Allan F. Mirsky (1996) hat ein Aufmerksam- den nur die vier ursprünglichen „Elemente der
keitsmodell vorgelegt, das im Wesentlichen Aufmerksamkeit“ dargestellt werden:
empirisch-deskriptiv mittels der Analyse von 1. Focus-execute: Dieses Element beschreibt
neuropsychologischen Testbefunden heraus- das Fokussieren und Anwenden (Exekutie-
gearbeitet wurde. Hierzu hat er eine neuropsy- ren) der Aufmerksamkeit. In der bislang in
chologische Testbatterie verwendet und diese diesem Kapitel verwendeten Terminologie

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10.9. Aufmerksamkeitsmodelle 337

gehören die selektive Aufmerksamkeit und Mirskys Modell ist insbesondere für den kli-
die mit der  Aufmerksamkeit verbundene nischen Alltag, und hier v. a. im Zusammen-
Handlungskontrolle zu diesem Aufmerk- hang mit der Funktionsbeschreibung von psy-
samkeitselement. chiatrischen und neurologischen Patienten,
2. Shifting attention: Dieses Element be- von Bedeutung, v. a. da er Standardtests ge-
schreibt den Wechsel bzw. die Verlagerung nutzt hat, die quasi in allen (zumindest in US-
der Aufmerksamkeit von einem Ort/Ge- amerikanischen) Kliniken genutzt werden.
genstand zum anderen. Des Weiteren hat Mirsky intensiv psychiatri-
3. Sustained attention: Hiermit ist die sche und neurologische Patienten untersucht,
Daueraufmerksamkeit (inkl. der Vigilanz) sodass er typische „Aufmerksamkeitsprofile“
gemeint. Dieses Aufmerksamkeitselement bestimmter Patientengruppen herausarbeiten
soll die notwendigen Ressourcen zur Ver- konnte. Kritisch anzumerken ist allerdings,
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fügung stellen, um über längere Zeiträume dass die von ihm vorgenommenen Zuordnun-
aufmerksam zu sein. gen der einzelnen Aufmerksamkeitselemente
4. Encode attention: Hiermit beschreibt Mir- zu Hirngebieten angesichts neuerer Befunde
sky die Fähigkeit, Informationen kurzzeitig zu grob sind. Die einzelnen Elemente können
im Gedächtnis zu halten, während gleich- gemäß Mirsky mit folgenden neuropsycho-
zeitig andere verarbeitet werden, die in Be- logischen Tests untersucht und bestimmten
zug zu den gespeicherten Informationen Hirngebieten zugeordnet werden:
stehen. Wie wir später sehen werden, wird
dieses Aufmerksamkeitselement heute
eher dem Arbeitsgedächtnis zugeordnet.

Element 1: Focus-execute und Vigilanztests deutscher Computertest-


• Tests: batterien sehr ähnlich (TAP, Wiener Determi-
• Zahlen-Symbol-Test nationsgerät).
(Wechsler-Intelligenztest)
• beteiligte Hirngebiete
• Stroop-Test
• „Letter-Cancellation“-Test • Hirngebiete in der Mittellinie des Frontal-
(ähnlich dem d2-Strich-Test) kortex (anteriores Cingulum, dorsaler Fron-
• Trail-Making-Test (TMT-A und TMT-B) talkortex)
• beteiligte Hirngebiete • Hirnstamm (ARAS)
• focus:
• Lobulus parietalis inferior Element 4: Encode attention
• Gyrus temporalis superior • Tests:
• execute: • Zahlenspannetest (forward und backward
• Lobulus parietalis inferior digit span aus dem Wechsler-Intelligenz-
• Striatum test)
• Rechenaufgaben (Wechsler-Intelligenztest)
Element 2: Shifting attention
• beteiligte Hirngebiete
• Test: „Wisconsin-card-sorting“-Test
• Hippocampus (es ist sehr problematisch,
• beteiligtes Hirngebiet: Präfrontalkortex
den Hippocampuskomplex als wichtige
Element 3: Sustained attention Hirnstruktur dieses Aufmerksamkeitsele-
• Test: „Continuous-performance“-Test (CPT). ments aufzufassen)
Dieser Test ist den Daueraufmerksamkeits- • Amygdala

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338 10. Aufmerksamkeit

10.9.4. Aufmerksamkeitsmodell nach frontalen Augenfeld beobachten. Möglicher-


Corbetta und Shulman weise weil implizit oder explizit Augenbewe-
gungen inhibiert oder gestartet werden.
Die Washingtoner Neurologen und Neurora- Das ventrale System, das stark rechtslate-
diologen Maurizio Corbetta und Norman Shul- ralisiert ist, umfasst Hirngebiete im unteren
man haben im Rahmen eines Übersichtsarti- Parietallappen (LPi), im Übergangsbereich
kels ihre Interpretation der publizierten Be- zwischen dem hinteren Teil des Temporallap-
funde aus bildgebenden Untersuchungen zur pens und dem unteren Teil des Parietallappens
Aufmerksamkeit zusammengefasst ­(Corbetta (temporoparietal junction, TPJ) und den ven-
& Shulman, 2002). Als Ergebnis ihrer Litera- tralen Präfrontalkortex (ventral prefrontal
turübersicht schlagen sie ein neuroanatomisch kortex, vPFC). Dieses System fungiert als Bot-
orientiertes Aufmerksamkeitsmodell mit zwei tom-up-System, das durch die eintreffenden
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Systemen vor, einem dorsalen und einem Reize aktiviert wird und quasi als „Abschalter“
ventralen Aufmerksamkeitssystem. für das Top-down-System dient. Das „Ab-
Das dorsale Aufmerksamkeitssystem, schalten“ soll durch enge Verbindungen zwi-
das insbesondere den Lobulus parietalis su- schen IPL und TPJ erfolgen. Der ventrale Prä-
perior (superior parietal lobule, SPL), den Sul- frontalkortex soll in die Evaluation neuer
cus intraparietalis (intraparietal sulcus, IPS) Reize und in Verhaltenssimulationen ein-
und das frontale Augenfeld (frontal eye field, gebunden sein. Obwohl in der Publikation
FEF) umfassen soll, ist in die Top-down-Kon- wörtlich der Begriff des „Abschalters“ (circuit
trolle der Aufmerksamkeit eingebunden. Die- breaker) benutzt wurde, um deutlich zu ma-
ses System soll bilateral angelegt sein und eine chen, dass das Bottom-up-System durch Reize
zielgerichtete Reiz-Reaktions-Auswahl bereit- „getrieben“ den Top-down-Mechanismus un-
stellen. Es weist viele Gemeinsamkeiten mit terbrechen kann, wird von den Autoren aus-
Mesulams frontalem und parietalem System drücklich betont, dass zwischen beiden Syste-
auf. Obwohl Corbetta und Shulman explizit men intensive Wechselwirkungen vorliegen.
das frontale Augenfeld als wesentliches fron- So soll das Top-down-System sogar das Bot-
tales Hirngebiet für die Top-down-Kontrolle tom-up-System mit Informationen über die
hervorheben, muss davon ausgegangen wer- mögliche Relevanz der eintreffenden Reize
den, dass auch andere frontale Hirnbereiche in versorgen. Auf diese Art und Weise kann z. B.
diese Kontrolle eingebunden sind. Insbeson- die gelernte Bedeutung von Reizen in das ven-
dere dorsale prämotorische Hirngebiete, die trale System „einfließen“.
an der Bewegungsplanung beteiligt sind, müs- Zusammengefasst wird in diesem Modell
sen zum Top-down-System hinzugezählt wer- ein ventrales von einem dorsalen System un-
den. Die grundsätzliche Bedeutung dieses terschieden (Abb. 10-14). Das ventrale System
Systems ist es, die sensorischen Repräsenta- fungiert als  ein reizgetriebenes Bottom-up-
tionen der Umwelt mit den motorischen Re- System, das man auch als Alerting-System
präsentationen, die für die Handlungsausfüh- bezeichnen könnte. Wichtige Reize (biologisch
rung wichtig sind, zu verbinden. Der Grund wichtige Reize und Reize, die durch Lernen
dafür, dass Corbetta und Shulman das frontale wichtig geworden sind) erregen automatisch
Augenfeld besonders hervorheben, ist, dass in Aufmerksamkeit und werden in diesen ven-
den meisten Untersuchungen mit dem Posner- tralen Strukturen verarbeitet. Die Realisie-
Paradigma oder vergleichbaren Varianten von rung von zielgerichteten Verhaltensweisen
Aufgaben gearbeitet wurde. In diesen Unter- erfordert die Wirksamkeit des Top-down-
suchungen kann man häufig Aktivierungen im Systems.

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10.10.  Aufmerksamkeits­störungen 339

IPs/IPL FEF beschädigte kortikale Hirnareale


beim räumlichen Neglekt

TPJ VFC
(IPL/STG) (IFg/MFg)

Top-down-Kontrolle
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L FEF R FEF Neuigkeit

L VFC R VFC

Stimulus-
antwort- «Stromkreisunterbrecher»
Selektion

L TPJ L IPs R IPs R TPJ

Verhaltensvalenz

visuelle Areale
Bottom-up-Kontrolle

Abbildung 10-14: Schematische Darstellung des neuroanatomischen Aufmerksamkeitsmodells von Cor-


betta und Shulman. Oben links sind die Hirnstrukturen dargestellt, die das dorsale und ventrale Aufmerk-
samkeitssystem ausmachen. Rechts oben sind typische Läsionsorte dargestellt, die zu einem Neglekt
führen. Im unteren Teil der Abbildung sind das Bottom-up- (helle Rechtecke) und das Top-down-Netzwerk
(dunkle Rechtecke) mit ihren Teilstrukturen dargestellt. Man erkennt hier auch die wechselseitige Bezie-
hung der beiden Aufmerksamkeitssysteme.(Nachgezeichnet nach Corbetta & Shulman, 2002)

Das hier dargestellte Modell ist mit vielen sind. Auf der anderen Seite werden sie teil-
Befunden aus dem Bereich der kognitiven weise „magnetisch“ von Informationen im
Neurowissenschaften und der Bildgebung rechten Gesichtsfeld angezogen. Diese Patien-
kompatibel. Es ist insbesondere auch kom- ten können auch den Raum kontralateral zur
patibel mit aktuellen Befunden, welche die Läsion nicht explorieren, was bedeutet, dass
genaue Lokalisation von Hirnläsionen im Zu- sie keine oder nur wenige Arm- und Augen-
sammenhang mit dem Neglekt beschreiben. bewegungen in diesem Bereich zeigen.
Patienten, die unter einem Neglekt leiden,
weisen in der Regel Läsionen rechtsseitig im
unteren Parietallappen bis hinab in den hin- 10.10. Aufmerksamkeits­
teren Teil des Temporallappens auf. Gelegent- störungen
lich treten auch Läsionen im ventralen Fron-
talkortex auf. Diese Patienten missachten Wie dargestellt, sind die in die Kontrolle der
konsistent Informationen, die kontralateral Aufmerksamkeit eingebundenen Hirnstruktu-
zur Läsion, also im linken Gesichtsfeld präsent ren weit im Gehirn verteilt Es gibt nicht „das“

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340 10. Aufmerksamkeit

Aufmerksamkeitszentrum, sondern eher ver- nur auf die Seite, auf der die Läsion liegt (ipsi-
teilte Netzwerke. Insofern ist es verständlich, läsionale Seite), und schauen selten von sich
dass viele Hirnstörungen (fokale und ver- aus auf die beeinträchtigte Seite. Moderne
teilte), psychiatrische Erkrankungen, Hirnrei- Analysen von Augenbewegungen bestätigen
fungsprobleme, aber auch Fehllernen mit Auf- die nach rechts versetzte Blickrichtung ein-
merksamkeitsstörungen assoziiert sind. Im drücklich (Karnath et al., 1996). Wenn Ne-
Folgenden werden zwei für die Neuropsycho- glekt-Patienten den Raum vor sich nach be-
logie wichtige Syndrome beschrieben, die mit stimmten Objekten absuchen müssen, dann
Aufmerksamkeitsstörungen assoziiert sind. ist ihre Blickbewegung deutlich nach rechts
verschoben. Auch Handbewegungen bei der
Suche nach Objekten auf einem Tisch werden
10.10.1.   Neglekt eher nach rechts verschoben und „vernach-
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lässigen“ die linke Tischseite. Im klinischen


Der Neglekt ist unter anderem eine Störung Alltag geht der Neglekt häufig mit Anosogno-
der Aufmerksamkeit, die durch eine halbsei- sie (Unfähigkeit, eine Halbenseitenlähmung
tige Schädigung des Gehirns (meistens rechts zu erkennen) einher, die Patienten sind sich
im unteren Parietallappenbereich) hervor- ihrer Einschränkung also nicht bewusst. Inte-
gerufen wird. Das häufigste Symptom von ressant ist auch, dass der Neglekt sich auf Er-
Neglekt-Patienten ist, dass sie Dinge über- innerungen auswirkt.
sehen, die auf der kontraläsionalen Seite (also Lange Zeit galt, dass Läsionen (meistens
links) liegen. Die Betroffenen stoßen gegen rechts) im oberen und teilweise im unteren
Hindernisse wie z. B. Türen oder Stühle, die Parietallappen zu einem Neglekt führen.
sich auf der kontraläsionalen Seite befinden; Der Tübinger Neuropsychologie Hans-Otto­
sie reagieren nicht oder nur selten, wenn man Karnath hat jedoch anhand einer sehr sorg-
sie auf der kontraläsionalen Seite anspricht; sie fältigen Analyse von 140 Neglekt-Patienten
essen nur eine Hälfte ihres Tellers leer; sie ra- gezeigt, dass die Kernläsion v. a. im hinteren
sieren nur eine Gesichtshälfte; sie können rechtsseitigen Temporallappen liegt. Dieser
Dinge, die sie suchen, nicht oder nur schwer Befund ist erstaunlich, da man jahrzehntelang
finden, wenn sie auf der kontraläsionalen Seite davon ausging, dass die Kernregion im Parie-
lokalisiert sind. Insofern kann man sich sehr tallappen läge. Allerdings bleibt festzuhalten,
gut vorstellen, dass Neglekt-Patienten große dass praktisch alle Neglekt-Patienten neben
Mühe haben, sich im Alltag zurechtzufinden. der Läsion im hinteren rechtsseitigen Tem-
Die Störung kann in mehreren Modalitä- porallappen auch Läsionen zumindest im
ten (visuell, auditiv und taktil) auftreten unteren Teil des Parietallappens aufwiesen­
(multimodale Störung). Dass ein wesentli- (Karnath et al., 2004; Abb. 10-15).
cher Aspekt dieser Störung die fehlerhafte Der Gyrus temporalis superior kann im
Aufmerksamkeitslenkung ist, ist auch daran zu Wesentlichen als eine Zwischenstation zwi-
erkennen, dass entsprechende Hinweise, auf schen dem dorsalen und ventralen Informati-
das „vernachlässigte“ Wahrnehmungsfeld zu onspfad der visuellen Informationsverarbei-
achten, meistens nur kurzfristig Erfolg haben. tung aufgefasst werden. Insofern ist der Gyrus
Wird ein Neglekt-Patient gebeten, sich auf temporalis superior ein Bindeglied zwischen
Gegenstände oder Objekte auf der vernach- dem unteren Parietallappen (als Teil des dor-
lässigten Seite zu konzentrieren, kann er diese salen Strangs) und dem unteren Temporal-
vorübergehend wahrnehmen. Allerdings rich- lappen (als Teil des ventralen Strangs). Der
ten diese Patienten ihren Blick normalerweise Gyrus temporalis superior erhält aus beiden

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10.10.  Aufmerksamkeits­störungen 341

Gruppe von Tests werden auch Kopier- oder


Zeichenaufgaben genutzt. Informativ kann
z. B. das freie Zeichnen sind. Der Patient wird
LP
i gebeten, ein Bild (z. B. ein Haus oder einen
Tisch) nachzuzeichnen oder aus dem Gedächt-
GT nis ein Objekt zu malen. Neglekt-Patienten
s
lassen bei ihren Zeichnungen Teile aus, nor-
malerweise auf der kontraläsionalen Hälfte
des Motivs, und zeichnen so z. B. nur eine
halbe Uhr. Diesbezüglich existieren einige ein-
drucksvolle Beispiele von Malern, die Selbst-
porträts angefertigt haben, während sie unter
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einem Neglekt litten. Hierbei zeigt sich, dass


zum Pulvinar
Nucleus caudatus diese Maler in der Regel nur die rechte Seite
Putamen des Blatts bemalten. Das wohl bekannteste
Beispiel lieferte der deutsche Maler Anton
Abbildung 10-15: Läsionsorte (GTs: Gyrus tempo- Räderscheidt, der sich während der Symptom-
ralis superior, LPi: Lobulus parietalis inferior) nach verbesserung mehrmals selbst porträtierte.
Karnath et al. (2004), die mit dem Entstehen einer
Auch Leseaufgaben und die in diesem Zusam-
Neglekt-Symptomatik einhergehen.
menhang erbrachten Leistungen können Auf-
schluss über das Vorliegen eines Neglekts ge-
Systemen Informationszufluss. Das bedeutet, ben. Liest der Patient einen vor ihm liegenden
dass hier Objektinformationen (aus dem unte- Text, vergisst er häufig die am Anfang (also
ren Temporallappen) mit Rauminformationen links) stehenden Wörter.
(aus dem Parietallappen) integriert werden. Der Neglekt bessert sich meist spontan. Bei
Zur Diagnostik des Neglekts werden ver- ca. zwei Dritteln der Patienten ist nach mehr
schiedene Testverfahren eingesetzt. Dazu als einem Jahr kein Neglekt mehr nachweisbar.
gehören die Linienhalbierung, Such- und Beim übrigen Drittel bleiben deutliche Ein-
Durchstreichaufgaben, Nachzeichnen und Le- schränkungen bestehen. Durch therapeuti-
seaufgaben. Bei der Linienhalbierung werden sche Interventionen kann die Neglektsymp-
dem Probanden horizontale Linien vorgelegt, tomatik reduziert werden. Zur Neglekttherapie
die er in der Mitte durchstreichen soll. Eine werden verschiedene Verfahren genutzt.
Verschiebung der Halbierungen zu einer Seite Hierzu gehören das visuelle Explorationstrai-
spricht für einen Neglekt. Bei rechtsseitiger ning, die Vibrationstherapie der Nackenmus-
Läsion und Neglekt zur linken Seite sind die keln, das Alertnesstraining, die optokinetische
Linienhalbierungen nach rechts verschoben. Stimulation und die Prismenadaptation mit
Häufig verwendet werden auch Such- und einer Prismenbrille.
Durchstreichaufgaben. Hierbei erhält der Pro- In experimentellen Situationen kann man
band einen Bogen Papier, auf dem verschie- den Neglekt kurzfristig beeinflussen und eli-
dene Symbole (Dreiecke, Quadrate oder Buch- minieren. Eine schon seit Langem bekannte
staben) zufällig verteilt sind. Auf diesem Blatt Methode ist die einseitige kalorische Stimula-
soll der Patient ein bestimmtes Zielobjekt su- tion, bei der entweder warmes oder kaltes Was-
chen und durchstreichen. Hierbei zeigt sich, ser durch den Gehörgang in ein Ohr gespült
dass Neglekt-Patienten die Symbole auf der wird. Zu bedenken ist allerdings, dass die Spü-
kontraläsionalen Seite auslassen. Als weitere lung des Gehörgangs kurzzeitig zu Nystagmus,

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342 10. Aufmerksamkeit

massivem Schwindel bis hin zum Erbrechen


führen kann. Im Rahmen dieses Kapitels sind
Befunde interessant, in denen unbewusste
Hinweisreize im negierten Gesichtsfeld eine
Hinwendung der Aufmerksamkeit zum ver-
nachlässigten Gesichtsfeld nach sich zogen.
Eine Genfer Arbeitsgruppe konnte dies ein- L R L R
drücklich mittels eines cleveren Experiments
nachweisen (Rotshtein et al., 2007). Sie boten
Abbildung 10-16: Modell von Kinsbourne bezüg-
den Neglekt-Patienten tachistoskopisch (also lich der  Aufmerksamkeitslenkung und des Ne-
sehr kurz und kaum merklich) schematische glekts. Links ist der Normalfall und rechts die Si-
Abbildungen von Furcht ausdrückenden Ge- tuation beim Neglekt.
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sichtern dar. Kurz nach dem jeweiligen emo-


tionalen Hinweisreiz wurde an der Position, an
der das Gesicht präsentiert wurde, ein Balken
dargeboten. Die neurophysiologischen Re- (LH-bias) und die Aufmerksamkeit wird ver-
aktionen 120 ms nach diesem Balken (gemes- stärkt nach rechts gelenkt. Bei einer Läsion der
sen mit einem visuell evozierten Potenzial) linken Hemisphäre nimmt der hemmende
waren bereits stärker als bei der Präsentation Einfluss der linken Hemisphäre auf die rechte
eines neutralen Gesichts. Das bedeutet, dass Hemisphäre auch ab. Der dann entstehende
offenbar unbewusst Aufmerksamkeit auf das zunehmende Einfluss der rechten Hemisphäre
negierte Gesichtsfeld gelenkt werden kann. (RH-bias) führt aber zu einer vergleichsweise
Um den Neglekt zu erklären, werden der- schwächeren Aufmerksamkeitsverlagerung
zeit verschiedene Modelle diskutiert. Im Rah- nach links. Der LH-bias ist stärker als der RH-
men dieses Kapitels werden die Aufmerk- bias (Abb. 10-16). Im Rahmen des Aufmerk-
samkeitsmodelle zur Erklärung des Neglekts samkeitsmodells nach Posner wird eher die
beschrieben. Eines der ersten Aufmerksam- Unfähigkeit oder die Schwierigkeit des Los-
keitsmodelle ist das von Marcel Kinsbourne lösens der Aufmerksamkeit (disengagement)
vorgeschlagene Modell. Nach Kinsbourne ge- von einem Reiz thematisiert. Wie oben dar-
neriert jede unserer beiden Hirnhälften einen gestellt, wird das Loslösen der Aufmerksam-
Aufmerksamkeits-Shift in die jeweils gegen- keit eher mit dem Lobus parietalis superior in
überliegende Seite der Außenwelt. Dabei wird Verbindung gebracht. Da aber die neuen Un-
gleichzeitig auch die Aktivität der jeweils an- tersuchungen von Karnath ergeben haben,
deren Hirnhemisphäre gehemmt. Durch die dass der Kern der Läsion bei Neglekt-Patien-
gegenseitige Hemmung befinden sich beide ten im Gyrus temporalis superior liegt, ist das
Hirnhemisphären in einer Aktivitätsbalance. Posner-Modell nicht mehr vollumfänglich mit
Bei einer Läsion einer Hemisphäre nimmt der diesen Befunden kompatibel.
hemmende Einfluss der unbeschädigten He-
misphäre auf die geschädigte zu. Umgekehrt
nimmt der Einfluss der beschädigten Hemi- 10.10.2.   Bálint-Holmes-Syndrom
sphäre auf die gesunde ab. Bei Läsion der rech-
ten Hemisphäre nimmt demzufolge der hem- Das Bálint-Holmes-Syndrom ist ein sehr sel-
mende Einfluss der geschädigten rechten tenes neurologisches Syndrom, das neben
Hemisphäre auf die linke ab. Dadurch entsteht schweren räumlichen Aufmerksamkeits- und
ein stärkerer Einfluss der linken Hemisphäre Orientierungsstörungen Symptome wie opti-

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10.11. Zusammenfassung 343

10.11. Zusammenfassung
• Aufmerksamkeit ist für viele psychologi-
sche Funktionen elementar.
• Aufmerksamkeit und Bewusstsein sind
keine identischen Phänomene. Sie über-
schneiden sich allerdings in einigen Be-
reichen.
• Einfache und komplexe Feedforward-Akti-
vierungen in neuronalen Netzen sind nicht
mit bewusstwerdenden Phänomenen asso-
L R ziiert.

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Komplexe Feedforward-Aktivierungen kön-


nen Aufmerksamkeit hervorrufen, während
einfache Feedforward-Aktivierungen un-
abhängig von Aufmerksamkeitsprozessen
Abbildung 10-17: Schematische Darstellung der ablaufen.
Läsionsorte, die dem Bálint-Holmes-Syndrom zu- • Bewusste Verarbeitungen und Empfindun-
grunde liegen. gen entstehen erst dann, wenn die neurona-
len Aktivitäten größere neuronale Netze
aktivieren und die Aktivierungen auch re-
kurrent (also wiederkehrend) erfolgen. Ein-
sche Ataxie37, Blickbewegungsstörungen, Si- fache rekurrente Aktivierungen entfalten
multanagnosie38 beinhaltet. Dominierend ist sich in der Regel ohne Aufmerksamkeits-
jedoch die visuelle Aufmerksamkeitsstörung. anforderung, werden aber bewusst. Tief-
Die betroffenen Menschen nehmen die vi- greifende rekurrente neuronale Verarbeitun-
suelle Welt fälschlicherweise als unzusam- gen werden uns dagegen vollends bewusst
menhängende Menge an Einzelobjekten wahr. und erfordern auch Aufmerksamkeitspro-
Komplexere Bilder oder Szenen können dem- zesse (Flaschenhals der Aufmerksamkeit).
nach nicht mehr im Ganzen erfasst werden. • Es wird davon ausgegangen, dass begrenzte
Diesen Teil des Syndroms bezeichnet man Kapazitäten für die Aufmerksamkeit und
auch als Simultanagnosie. Die zugrunde lie- das Denken im Allgemeinen vorliegen.
genden Läsionen sind bilateral im okzipitopa- • Infolge der begrenzten Kapazitäten trifft
rietalen Übergangsbereich lokalisiert. Das be- das Gehirn mittels bestimmter Aufmerk-
deutet, dass der dorsale Strang erheblich samkeitsprozesse eine Auswahl der zu be-
betroffen ist (Abb. 10-17). arbeitenden Informationen.
• Die Aufmerksamkeit beschränkt sich nicht
nur auf die Wahrnehmung, sondern er-
streckt sich praktisch auf alle Denktätig-
37 Unfähigkeit oder Schwierigkeit, zielgerichtete keiten.
Handbewegungen anhand visueller Kontrolle durch-
zuführen.
• Aufmerksamkeit hilft uns zu überprüfen,
wie gut wir uns in den aktuellen Lebens-
38  Extreme Einengung der visuellen Aufmerksam-
keit auf einzelne Teilaspekte komplexer Bilder, so- situationen zurechtfinden.
dass diese nicht im Ganzen aufgefasst werden • Sie hilft uns, die Gegenwart mit der Ver-
können. gangenheit (Gedächtnis) in Verbindung zu

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344 10. Aufmerksamkeit

bringen, und trägt damit zur Erstellung ei- Aufmerksamkeitsleistung, die im Zusam-
nes kohärenten und kontinuierlichen Ab- menhang mit der Entdeckung seltener, in
bildes unserer Erfahrung bei. unregelmäßigen Intervallen erscheinender
• Sie hilft uns, zukünftige Aktionen zu planen relevanter Stimuli über lange Zeitperioden
und zu kontrollieren. Dazu werden Infor- notwendig ist; (5) Daueraufmerksamkeit:
mationen aus Gegenwart und Vergangen- Aufmerksamkeitsleistung, die im Zusam-
heit benötigt. menhang mit der Entdeckung häufiger, in
• Die Modelle, die frühe Auswahlprozesse regelmäßigen Intervallen auftretender re-
favorisieren, gehen davon aus, dass bereits levanter Stimuli über lange Zeitperioden
auf frühen Stufen der Informationsver- notwendig ist.
arbeitung Informationen herausgefiltert • Hinsichtlich der Selektivität wird folgende
oder zumindest „abgeschwächt“ werden. Einteilung der Aufmerksamkeit vorgenom-

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Modelle, die späte Auswahlprozesse favori- men: (1) visuell-selektive oder fokussierte
sieren, propagieren einen Auswahlmecha- Aufmerksamkeit: Bestimmte Reize werden
nismus, bei dem die Selektion später er- verarbeitet, während andere nicht beachtet
folgt. Diese Auswahl erfolgt demzufolge und nicht analysiert werden; (2) visuell-
erst beim Eingang ins Gedächtnis, ins Be- räumliche selektive Aufmerksamkeit: Spe-
wusstsein oder wenn Handlungen aus- zialvariante der selektiven Aufmerksam-
gewählt werden sollen. Diese Modelle er- keit, bei der diese auf eine bestimmte
öffnen ein größeres Spektrum. räumliche Position gelenkt wird; (3) audito-
• Die Modelle der begrenzten Ressourcen risch-räumliche selektive Aufmerksamkeit:
gehen davon aus, dass die Aufmerksamkeit Aufmerksamkeitsverlagerung von einem
durch die freien mentalen Ressourcen be- Ohr auf das andere; untersuchbar mittels
grenzt ist. Bei erhöhten Anforderungen des dichotischen Hörtests; (4) geteilte Auf-
kommt es deshalb zu einer Leistungsver- merksamkeit: Verteilung der Aufmerksam-
schlechterung. keit auf mehrere Informationsquellen; dies
• Aufmerksamkeitssteigerungen können be- ist typischerweise der Fall bei Mehrfach-
wusst oder unbewusst erfolgen. bzw. Doppeltätigkeitsaufgaben.
• Unterschieden werden zwei Dimensionen • Das „Biased-competition“-Modell der
der Aufmerksamkeit: Intensität und Se- Aufmerksamkeit: Unterschiedliche Reize
lektion. konkurrieren um Aufmerksamkeit und neu-
• Hinsichtlich der Intensität der Aufmerk- ronale Verarbeitungsressourcen (Bottom-
samkeit wird folgende Einteilung vor- up-Weg). Über Top-down-Einflüsse kann
genommen: (1) tonische Alertness: länger auf diese Verarbeitung Einfluss genommen
andauernde, durch den physiologischen werden.
Zustand des Organismus bestimmte to- • Aufmerksamkeit wird durch ein weit verteil-
nische Aufmerksamkeitsaktivierung; um- tes Netzwerk von Hirnstrukturen kontrol-
fasst auch die Aufmerksamkeitsaktivie- liert. Dieses Aufmerksamkeitsnetzwerk
rung vom Koma bis zur Wachheit; (2) besteht aus sechs unterschiedlichen Hirn-
phasische Alertness: plötzliche Zunahme strukturen: (1) den aktivierenden retikulären
von Aktivierung und Aufmerksamkeit un- aufsteigenden System (ARAS), (2) den Colli-
mittelbar nach einem Warnreiz; (3) intrin- culi superiores im Mittelhirn, (3) dem Thala-
sische Alertness: interne und kognitive mus, (4) großen Bereichen des Parietallap-
Kontrolle des Erregungsniveaus zu einem pens, (5) dem anterioren Cingulum, (6) dem
bestimmten Messzeitpunkt; (4) Vigilanz: lateralen Teil des Frontalkortex.

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10.11. Zusammenfassung 345

• Aufmerksam beachtete Reize führen zu negative Korrelation zwischen Hirndurch-


stärkeren neuronalen Reaktionen in den blutung und Alpha-Power im Frontal- und
sensorischen Hirngebieten als nicht auf- Parietalkortex. Im entspannten, dösigen
merksam beachtete (attentional enhance- Zustand nimmt die Energie im Theta-Band
ment, Verstärkungseffekt). Zum Beispiel zu (Theta-Synchronisation). Bei Einnahme
sind die Amplituden des P1-N1-Komplexes von Benzodiazepinen oder unter Alkohol
des auditorisch evozierten Potenzials unter reduziert sich die Energie im Alpha- und
Aufmerksamkeit größer. Ebenso führen Beta-Band noch stärker und es ist vermehrt
aufmerksam beachtete visuelle Reize zu Delta-Aktivität (0,5–3,5 Hz) zu beobachten.
größeren Amplituden im P1-N1-Komplex Bei aufmerksam und kontrolliert durch-
des visuell evozierten Potenzials. geführten kognitiven Tätigkeiten nimmt die
• Die hämodynamischen Reaktionen im Energie im Gamma-Band (> 30 Hz) zu. Be-
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auditorischen und visuellen Kortex sind auf wusste und aufmerksame Kognitionen sind
aufmerksam beachtete akustische Reize mit kohärent oszillierenden kortikalen
stärker als auf nicht aufmerksam beachtete. Hirnaktivierungen verbunden.
Allerdings sind vorrangig die sekundären • Die für die Aufmerksamkeitskontrolle
Areale stärker aktiv als die primären. Die wichtigsten Transmittersysteme sind: das
primären Areale werden wahrscheinlich Noradrenalin-, Serotonin-, und das Acetyl-
durch eine Rückkopplung aus den sekun- cholinsystem.
dären Arealen durch Aufmerksamkeit mo- • Circa 100 ms nach Reizeinsatz führt ge-
duliert. steigerte Aufmerksamkeit für den dargebo-
• Wird die Aufmerksamkeit auf bestimmte tenen Reiz zu einer Zunahme der Ampli-
Aspekte von Reizen gelenkt (z. B. selektiv tude der ersten Negativierung im evozierten
auf Farbe, Form, Bewegung oder Ort des Potenzial. Dies ist mittels der Nd-Kom-
Erscheinens), nimmt die Aktivität im je- ponente messbar.
weils spezialisierten Verarbeitungsmodul • Auch die späteren Komponenten des evo-
zu („Spotlight-in-the-brain“-Metapher). zierten Potenzials (N200, P300 und N400)
• Neben den lokalen Aktivitätsveränderun- werden durch Aufmerksamkeit beeinflusst.
gen finden sich auch verteilte Aktivitätsstei- • Die P300-Komponente, die insbesondere
gerungen in einem Netzwerk, das insbeson- über frontalen Hirnregionen abgeleitet
dere große Bereiche des Frontal- und Parie- wird (auch als „Novel“-P300 bezeichnet),
tallappens umfasst. Diesbezüglich besteht reagiert besonders stark auf Aufmerksam-
eine Tendenz der stärkeren rechtsseitigen keitsprozesse. Neue Reize evozieren über
Aktivität in diesem frontoparietalen Netz- frontalen Hirngebieten P300-Komponen-
werk. ten mit großen Amplituden, die bei mehr-
• Mit zunehmender Aufmerksamkeitsanfor- facher Präsentation des jeweiligen Reizes
derung sind lokale und verteilte Alpha-De- immer kleiner werden (Habituation).
synchronisationen v. a. im unteren Alpha- • Im visuellen System sind auch Rückkopp-
Band (8–10 Hz) zu beobachten. lungseffekte bekannt, die mit der Aufmerk-
• Alpha-Synchronisation repräsentiert ei- samkeit zusammenhängen. So kann man ca.
nen „wachen“, aber „unaufmerksamen“ 200 ms nach Reizpräsentation eine auf-
Grundzustand des Gehirns. Alpha-Synchro- merksamkeitsbedingte Aktivitätserhöhung
nisation indiziert lokale Hemmungen, meist im primären visuellen System feststellen.
um Hirngebiete, um die herum Alpha-De- • Aufgrund der Tatsache, dass die Aufmerk-
synchronisation stattfindet. Es besteht eine samkeit durch ein verteiltes neuronales

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346 10. Aufmerksamkeit

Netzwerk kontrolliert wird, resultieren • Beschreiben Sie die gängigen Aufmerksam-


viele Hirnschädigungen in Aufmerksam- keitsmetaphern.
keitsstörungen. • Beschreiben Sie die Taxonomie der Auf-
• Auch Hirnreifungsprobleme, die insbeson- merksamkeit.
dere die Hirnstrukturen betreffen, die an • Was ist der wesentliche Unterschied zwi-
der Aufmerksamkeitskontrolle beteiligt schen Vigilanz und Daueraufmerksamkeit?
sind, führen zu Aufmerksamkeitsproble- • Was besagt das „Biased-competition“-Mo-
men. dell?
• Das Neglekt-Syndrom tritt nach einseiti- • Beschreiben Sie die anatomischen Struk-
ger Läsion (meistens rechts) im hinteren turen, die in die Kontrolle der Aufmerksam-
Gyrus temporalis superior auf. Die Patien- keit eingebunden sind.
ten „vernachlässigen“ die Umwelt kontrala- • Wie reagieren die Hirngebiete neurophy-
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teral zur Läsion. siologisch auf Reize, die aufmerksam be-


• Das Aufmerksamkeitsmodell geht von arbeitet werden? Nennen Sie Beispiele.
einer interhemisphärischen Aktivitätskon- • Welche Transmittersysteme sind in die
trolle der Aufmerksamkeit aus. Im Normal- Kontrolle der Aufmerksamkeit eingebun-
fall führt dies zu einer Aktivitätsbalance den?
zwischen beiden Hemisphären. Die rechte • Wie ist der zeitliche Verlauf des Aufmerk-
Hemisphäre soll allerdings die Aufmerk- samkeitseinflusses?
samkeit auf beide Seiten der Umwelt aus- • Erläutern Sie die Befunde zur automati-
richten können, während die linke Hemi- schen und bewussten Aufmerksamkeits-
sphäre die Aufmerksamkeit lediglich nach kontrolle.
rechts verschieben kann. • Erklären Sie die Aufmerksamkeitsmodelle
• Dem Bálint-Holmes-Syndrom liegt eine von Posner, Mesulam und Mirsky. Welche
beidseitige Läsion im okzipitoparietalen Gemeinsamkeiten und Unterschiede kön-
Übergangsbereich zugrunde. Die Patienten nen Sie feststellen?
leiden an  optischer Apraxie, Blickbewe- • Beschreiben Sie das Aufmerksamkeits-
gungsstörungen, schweren räumlichen Ori- modell nach Corbetta und Shulman.
entierungsstörungen und einer Simultana- • Erläutern Sie den Neglekt und das Bálint-
gnosie. Holmes-Syndrom und deren Bedeutung für
• Die Simultanagnosie beschreibt ein Stö- die Aufmerksamkeit.
rungsbild, bei dem die Patienten einzelne
Elemente noch erkennen können, sie aber
nicht zu einem gemeinsamen Bild zusam-
menzufassen in der Lage sind. 10.13. Weiterführende Literatur

Desimone, R., Duncan, J. (1995). Neural mecha-


nisms of selective visual attention. Annu Rev
Neurosc, 18, 193–222.
10.12. Fragen und Aufgaben James, W. (1890). The principles of psychology.
New York, London: Holt and Macmillian.
• Beschreiben Sie, an welchen psychischen Lanaj, K., Chang, C. H., Johnson, R. E. (2012).
Prozessen Aufmerksamkeit beteiligt ist. Regulatory focus and work-related outcomes:
• Was sind kontrollierte und automatische a review and meta-analysis. Psychol Bull,
Prozesse? 138(5), 998–1034.

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10.13.  Weiterführende Literatur 347

Mesulam, M. M. (1981). A cortical network for


directed attention and unilateral neglect. Ann
Neurol, 10(4), 309–325.
Mirsky, A. F. (1996). Disorders of attention: A
neuropsychological perspective. In: G. R .
Lyon, N. A. Krasnegor (Eds.) Attention, me-
moy, and executive function (pp. 71–96). Bal-
timore: Paul H. Brookes.
Posner, M. I., Petersen, S. E. (1990). The attention
system of the human brain. Annu Rev Neu-
rosci, 13, 25–42.
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349

11. Exekutive Funktionen


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11.1.  Was sind exekutive Funktionen? 351

11.1. Was sind exekutive • Kontrolle und Beobachtung von Hand-


lungsergebnissen
Funktionen?
• Korrektur eigener Handlungen
Der Mensch ist ausgestattet mit einem System, • Erkennen von Fehlern
das Handlungen und Gedanken kontrolliert. • Umgang mit neuen Informationen
Dieses Kontrollsystem wird v. a. genutzt, wenn • Regellernen
die zu kontrollierenden Handlungen und Ge- • Aufrechterhalten von Handlungsplänen
danken nicht automatisiert ablaufen. Dies ist • Selbstkontrolle
v. a. dann der Fall, wenn man den Handlungen • abstraktes Denken
und Gedanken besondere Aufmerksamkeit zu- • motorische Kontrolle.
kommen lassen will, wenn Hindernisse die
Ausführung erschweren oder wenn man mit Obwohl eine akzeptierte Definition der EF
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Vorsatz handelt. Auch wenn mehrere Schritte existiert, ist die Vielzahl von Untergliederun-
verfolgt und realisiert werden müssen, um gen und Subkomponenten verwirrend und er-
einen komplexen Plan zu verwirklichen, wird schwert den Blick auf das Gemeinsame der EF.
eine besondere Kontrolle unseres Verhaltens Des Weiteren sind viele der in der Literatur
erforderlich, welche die Zwischenschritte erwähnten Verhaltensbereiche nicht oder nur
überprüft. Die Kontrollinstanz, die dabei zum mäßig gut operationalisiert. Hinzu kommt,
Einsatz kommt, wird als exekutive Funktion dass die Datenquellen sehr unterschiedlich
(EF) bezeichnet. In der Literatur hat sich der und teilweise auch nicht miteinander kom-
Begriff exekutive Funktion durchgesetzt, es patibel sind. So korrespondieren die Befunde
werden jedoch auch alternative Begriffe ver- aus Untersuchungen mit Läsionspatienten
wendet, die diese Kontrollinstanz treffender nicht immer mit den Befunden aus bildgeben-
beschreiben: z. B. zentrale oder kognitive Kon- den Untersuchungen.
trolle. Interessant ist, dass der Begriff EF im Grun­
Wie dargelegt, werden die EF genutzt, um ­de nur im Kontext der klinischen Neuropsy-
andere grundlegende psychische Funktionen chologie, der Neurologie und der kognitiven
(z. B. Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Motorik) Neurowissenschaften verwendet wird. In der
zu orchestrieren und sinnvoll einzusetzen, um kognitiven Psychologie werden die Teilfunk-
ein möglichst günstiges Verhaltensergebnis zu tionen, die den EF zugeordnet werden, als ei-
erzielen. genständige Funktionsbereiche betrachtet
Typische psychische Funktionen, die un- (z. B. Denken, Problemlösen, Motivation und
ter dem Begriff EF subsumiert werden, sind: Handlungskontrolle). Insofern „passen“ Neu-
• Setzen von Zielen ropsychologie/kognitive Neurowissenschaf-
• Planen, Entscheiden ten und kognitive Psychologie in dieser Hin-
• Setzen von Prioritäten sicht nicht wirklich gut zueinander. Das ist
• Starten und Sequenzieren von Handlungen nicht unproblematisch, denn die klinische
Neuropsychologie könnte von den theoreti-
schen und empirischen Ansätzen der kogniti-
Exekutive Funktionen (EF) sind Kontrollpro-
ven Psychologie profitieren.
zesse, die es einem Individuum erlauben, sein
Verhalten situationsgerecht zu optimieren,
indem die grundlegenden psychischen Funk-
tionen zielführend eingesetzt werden.

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352 11.  Exekutive Funktionen

11.2. Theoretische Über­ ten oben angeordnet ist, die größte Chance
hat, sich zu entfalten. Es übt auf die unter-
legungen zu den exe­­
geordneten Schemata starke hemmende Ein-
kutiven Funktionen flüsse aus. Die automatischen Schemata ent-
falten sich in Routinesituationen. So wird ein
Vier einflussreiche theoretische Ansätze sind geübter Autofahrer viele Verkehrssituationen
im Zusammenhang mit den EF vorgeschlagen bei der morgendlichen Fahrt zur Arbeit auto-
worden: (1) das System der überwachenden matisch meistern. Insbesondere die Routine-
Aufmerksamkeit (supervisory attentional sys- tätigkeiten wie das Einlegen der verschiede-
tem, SAS), (2) handlungstheoretische Modelle, nen Gänge, Gasgeben und Bremsen wird er
(3) Arbeitsgedächtnismodelle und (4) die automatisch und ohne Probleme koordinieren.
Theorie der somatischen Marker. Sobald allerdings eine unerwartete Situation
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eintritt  – z. B. ein Kind auf die Straße läuft  –,


muss der Ablauf der Routinetätigkeit unter-
11.2.1. System der überwachenden brochen werden und neue situationsangepass-
Aufmerksamkeit tere Handlungen müssen an die Stelle der
Routinetätigkeiten treten. In dieser Situation
Norman und Shallice haben ein einflussrei- greift das SAS ein, indem es die Aufmerksam-
ches Modell vorgeschlagen, in dem die Auf- keit auf schwach aktivierte Schemata richtet
merksamkeitskontrolle für die Planung und und dadurch deren Aktivität verstärkt (atten-
Überwachung von Handlungen eine heraus- tional enhancement; s. Kap. 10). Typische Si-
ragende Rolle spielt (System der überwachen- tuationen, in denen das SAS eingreift und das
den Aufmerksamkeit; supervisory attentional CS ersetzt, sind:
system, SAS; Norman & Shallice, 1980; 1986). • Situationen, in denen Planen und Entschei-
Kernüberlegung ihres Modells ist, dass man- den gefordert sind
che Handlungen automatisch ablaufen, wäh- • Situationen, die eine Fehlerkorrektur und
rend andere bewusste Kontrolle erfordern. eine Verhaltensanpassung erfordern
Abhängig davon, ob die Handlung automatisch • Situationen, in denen wenig gut beherrschte
oder bewusst abläuft, greifen zwei unter- Reaktionen angewendet werden oder die
schiedliche Subsysteme in die Kontrolle ein: völlig neue Reaktionen erfordern
das supervisory attentional system (SAS) und • Situationen, die als gefährlich oder tech-
das contention scheduling system (CS). nisch schwierig eingeschätzt werden
Das CS ist ein automatisch arbeitendes • Situationen, die es notwendig machen, dass
System, das aus Aktionsschemata besteht. überlernte und fest eingefahrene Verhal-
Diese werden durch Umweltreize ausgelöst tensmuster überwunden werden.
und entfalten sich automatisch ohne bewusste
Kontrolle. Im Gedächtnis sind viele Schemata
gespeichert, die für verschiedene Situationen 11.2.2. Handlungstheoretische ­
Aktionsschemata anbieten. Es können auch Modelle
mehrere Schemata für die gleiche Situation
vorliegen. Damit aber in bestimmten Situatio- Im Rahmen der psychologischen Handlungs-
nen immer das passende Schema abgerufen theorie sind Handlungen Verhaltensweisen,
wird, hemmen sich die Schemata untereinan- die durch Zielgerichtetheit, Zweckhaftigkeit
der und sind in Hierarchien angelegt, wobei und Bewusstheit gekennzeichnet sind. Ein
das Schema, das in der Hierarchie am weites- wichtiges Grundmodell wurde von Miller und

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11.2.  Theoretische Über­legungen zu den exe­­kutiven Funktionen 353

Kollegen (1960) vorgeschlagen und ist unter Schleife und das visuell-räumliche Notizbuch
dem Akronym TOTE bekannt geworden. Es (s. Kap. 16). Baddeley fasst die zentrale Exe-
beinhaltet vier Elemente: kutive als einen Supervisor auf, der in die Aus-
1. Bei Annäherung an eine Situation oder ein wahl, Aufrechterhaltung und Manipulation der
Problem werden diese einer ersten Über- Informationen eingreift, die für das Arbeits-
prüfung unterzogen (test). gedächtnis verwendet werden.
2. Als Ergebnis dieser Überprüfung erfolgt Auch Smith und Jonides (1999) beschrei-
eine Handlung, die den Ausgangszustand ben Mechanismen, die sie dem Arbeitsge­
gemäß einem Ziel verändern soll (operate). dächtnis zuschreiben, die aber im Grunde ge-
3. Es erfolgt eine erneute Überprüfung, ob die nommen Aspekte der exekutiven Kontrolle
gewünschte Veränderung erreicht wurde sind: (1) die Aufmerksamkeitsausrichtung auf
(test). relevante und die Inhibition von irrelevanten
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4. Wird im Rahmen der Überprüfung fest- Informationen und Prozessen (attention and
gestellt, dass das erwünschte Ziel erreicht inhibition), (2) die zeitliche Organisation von
wurde, wird die Schleife verlassen (exit), Prozessen und die Organisation des Wechsels
ansonsten erfolgt ein weiterer Durchlauf. des Aufmerksamkeitsfokus von einer Auf-
gabe zur nächsten (task management), (3) das
Karl Pribram, einer der Autoren dieses ersten Planen von Teilschritten zum Erreichen eines
handlungstheoretischen Modells, nahm an, übergeordneten Ziels (planing), (4) das Aktua-
dass der Frontalkortex eine vorrangige Be­ lisieren und Überprüfen von Inhalten des Ar-
deutung bei der Planung, Strukturierung und beitsgedächtnisses zum Planen der nächsten
Überwachung komplexer Handlungsabläufe Teilschritte (monitoring) und (5) das Codieren
hat. Mittlerweile sind komplexere handlungs- von Inhalten des Arbeitsgedächtnisses im Hin-
theoretische Modelle vorgeschlagen worden blick auf Zeit und Ort des Auftretens (coding).
(Kalveram, 1998), die jedoch bislang keinen Die hier aufgeführten Prozesse ähneln denen,
direkten Einfluss auf die Neuropsychologie die typischerweise den EF zugeordnet werden.
hatten. Grundsätzlich muss festgestellt wer- Auch in dem neuen Arbeitsgedächtnis-
den, dass die Grundstruktur der thematisier- modell von Cowan (2011) wird die exekutive
ten Handlungen Diskrepanzen zwischen ei- Kontrolle als ein Bestandteil des Arbeitsge­
nem Soll- und einem Ist-Wert sind, die der dächtnisses aufgefasst. Einige Arbeiten weisen
Handelnde überwinden muss (Soll-Ist-Wert- auch darauf hin, dass Störungen des Arbeits-
Differenz oder Regelabweichung). Das Ziel gedächtnisses Verhaltensauffälligkeiten nach
der Handlung ist die Reduktion oder Eliminie- sich ziehen, die typischerweise als dysexe-
rung der Regelabweichung. kutive Störungen (also Störungen der EF) be-
zeichnet werden (Kimberg & Farah, 1993). In
einem aktuellen Simulationsmodell exekuti-
11.2.3. Arbeitsgedächtnismodelle ver Kontrolle werden die EF durch sechs Funk-
tionen des Arbeitsgedächtnisses erklärt (Hazy
Einige Wissenschaftler gehen davon aus, dass et al., 2007). Insgesamt wird deutlich, wie
das Konzept der EF weitestgehend identisch stark die Überschneidungen zwischen dem
ist mit dem Konzept des Arbeitsgedächtnisses. Konzept des Arbeitsgedächtnisses und dem
Im klassischen Arbeitsgedächtnismodell von EF-Konzept sind. Allerdings muss darauf hin-
Baddeley (2010) wird eine zentrale Exekutive gewiesen werden, dass das Arbeitsgedächtnis-
angenommen, die zwei untergeordnete Sys- konzept nicht alle Aspekte der EF erklären
teme kontrollieren soll: die phonologische kann, denn die Komplexität der Handlungs-

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354 11.  Exekutive Funktionen

regulation im Alltag hängt auch (wenn nicht geht, aber er kann keinen Zusammenhang
sogar entscheidend) von Gefühlen, Antrieben zwischen dem Diebstahl und Gefühlen wie
und Motiven ab. Angst, Ärger, Abscheu und Reue herstellen.
Insofern werden sich seine Entscheidungen
von emotional verankerten Regeln entkoppeln.
11.2.4. Theorie der somatischen ­ Fehlt der modulierende Einfluss von Emotio-
Marker nen, dann werden Entscheidungen impulsiv
und willkürlich getroffen.
Einige Autoren unterscheiden cold (kognitive)
und hot (motivationale) EF (Kerr & Zelazo,
2004). Auch der Wille wird neben dem Motiv 11.2.5. Reduktion auf Basisprozesse
und der Motivation als eine wichtige Kom-
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ponente der EF erkannt. Insofern sind Motive, Basierend auf einer Pfadanalyse unterschei-
Gefühle und Antriebe wichtige Aspekte der den Miyake und Kollegen (2000) voneinander
Verhaltenskontrolle. mehr oder weniger unabhängige Basisfunk-
Darauf weist auch Antonio Damasio im tionen. Um zu diesem Ergebnis zu gelangen,
Rahmen seiner Theorie der somatischen Mar- haben sie vielfach genutzte Tests zur Messung
ker (s.  Kap. 20) hin. Der wesentliche Aspekt von EF von einer großen Gruppe von Proban-
dieser Theorie ist, dass menschliche Entschei- den bearbeiten lassen, die Testergebnisse sta-
dungen durch Gefühle beeinflusst werden. tistisch weiterverarbeitet und zu drei unabhän-
Wichtig ist auch, dass für Damasio Emotionen, gigen Dimensionen bzw. Basismechanismen
Entscheidungen und Denken eng miteinander zusammengefasst:
verzahnt sind. Die somatischen Marker sind 1. Wechsel des Aufmerksamkeitsfokus (shift­
emotionale Reaktionen, die über das vegetative ing)
Nervensystem oder im Sinne einer Simulation 2. Inhibition dominanter Antworttendenzen
im Kortex generiert werden. Diese somati- (inhibition)
schen Marker greifen in Entscheidungssituatio- 3. Aktualisierung von Arbeitsgedächtnisinhal-
nen ein und dienen als Richtungsweiser für die ten (updating).
Verhaltenskontrolle und -planung. Hierbei sind
v. a. der Frontalkortex und insbesondere der Der Vorteil dieses Ansatzes besteht darin, dass
ventromediale Präfrontalkortex wesentlich mit Operationalisierungen gearbeitet wurde.
beteiligt, denn über diese Hirngebiete werden Das bedeutet, dass bestimmte Tests genutzt
Erfahrungen mit den somatischen Markern werden können, um die jeweiligen Basisfunk-
verknüpft und so zu verhaltenssteuernden Ele- tionen zu überprüfen.
menten. Können diese Verknüpfungen nicht Eine Reduktion auf Basisprozesse schlagen
realisiert werden, z. B., weil der ventromediale auch Stuss und Alexander (2007) auf der Basis
Präfrontalkortex lädiert ist, dann gelingt es von Metaanalysen von Patientendaten vor. Sie
dem Patienten nicht, die somatischen Marker teilen die EF in drei funktional unabhängige
für seine Handlungssteuerung zu nutzen. Als Prozesse der Aufmerksamkeitskontrolle ein:
Folge werden für die Betroffenen Belohnung 1. Energetisierung (energization)
und Bestrafung unwirksam und sie können die 2. Initiierung und Aufrechterhaltung von Reiz-
zu erwartenden (emotionalen) Konsequenzen Reaktions-Verbindungen (task-setting)
ihrer Handlungen nicht mehr abrufen. Ein be- 3. Aufgabenlösungsüberwachung und Verbes-
troffener Patient mag z. B. wissen, dass er sich serung der Verhaltensanpassung (monitor­
strafbar macht, wenn er einen Diebstahl be- ing).

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11.2.  Theoretische Über­legungen zu den exe­­kutiven Funktionen 355

Auch bei diesem Ansatz bieten die Autoren Aspekte der EF mit Emotionen, Motivationen
Operationalisierungen zur Untersuchung der und den unterschiedlichen Komplexitätsebe-
verschiedenen Prozesse an. Des Weiteren nen der Anforderungen an die EF elegant zu-
schlagen sie anhand ihrer Patientendaten vor, sammen (Abb. 11-1).
dass diese drei Prozesse vorrangig von unter-
schiedlichen Hirngebieten verarbeitet werden. Sie unterscheidet vier Regulationsebenen:
Die Energetisierung erfolgt vorrangig im su- • kognitive Regulation
perioren medialen Frontalkortex, die Auf- • Aktivitätsregulation
rechterhaltung von Reaktionsverbindungen • Emotionsregulation
linkslateral im Präfrontalkortex und die Ver- • Regulation von Sozialverhalten,
haltensüberwachung rechtslateral im Präfron-
talkortex. zwei Komplexitätsebenen:

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basal
• komplex
11.2.6. Konzept der exekutiven Funk­
tionen nach Drechsler und vier basale Prozesse:
• Hemmen
Vor Kurzem wurden ein Gesamtüberblick und • Initiieren
eine Taxonomie der exekutiven Funktionen • Wechseln
und ihrer Störungen vorgelegt (Drechsler, • Erneuern von Informationen im Arbeits-
2007). Die besondere Leistung dieser Taxono- speicher.
mie besteht darin, dass die Autorin die ver-
schiedenen theoretischen Strömungen bezüg- Hinsichtlich der basalen Prozesse orientiert
lich der EF zusammengeführt und in einen sie sich an den Ergebnissen von Miyake und
gemeinsamen konzeptuellen Rahmen ein- Kollegen (s. o.). Ob der vierte Prozess (Erneu-
gebettet hat. Hierbei fügt sie die klassischen ern von Informationen im Arbeitsspeicher) als
basaler Prozess aufzufassen ist, ist umstrit-
ten. Die Autorin gibt an, dass die getrennte
Beschreibung von Regulationsprozessen heu-
Regulationsebenen
ristisch begründet ist und sich an klinisch re-
levanten Beschreibungs- und Beobachtungs-
Ko

Em

Ak

So
t
g

ebenen orientiert. In Tabelle 11-1 ist die


ot

ivi
ni

zia
io


ti

l
on

Taxonomie aufgeführt. Wie erwähnt, werden


Komplex

hier im Gegensatz oder besser in Ergänzung


Initiieren zu den bislang existierenden Modellen zur
EF alle im Zusammenhang mit den EF dis-
Basal

Wechseln
kutierten Bereiche zusammengefasst. Bemer-
Prozesse

kenswert ist auch, dass den jeweiligen Re­


Ko

gulationsebenen die zugehörigen Störungen


m
pl
ex

Hemmen
zugeordnet werden. Aufgeführt sind auch die
itä
t

jeweiligen Operationalisierungen.
Abbildung 11-1: Beschreibungsebenen exekuti-
ver Funktionen (nach Drechsler, 2007).

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356 11.  Exekutive Funktionen

Tabelle 11-1: Exekutive Funktionen: Ebenen regulativer Prozesse, klinische Störungs­merkmale und Auf-
gabenparadigmen. Die Darstellung der Prozesse ist etwas komplexer als es Abb. 11-1 vermuten lässt
(mit Genehmigung der Autorin aus Drechsler, 2007, entnommen).

Ebene der Störungsebene Aufgabenparadigma


Regulationsprozesse klinische Verhaltens- (Beispiel)
exekutive Funktionen auffälligkeiten
kognitive Regulation
basale Regulationsprozesse
Aufrechterhalten und Erneuern oberflächliche Informationsauf- N-back-Aufgaben, Brown-
von Informationen im Arbeits- nahme, Proband verliert den Faden, Peterson-Technik, Spann-
speicher kann sich kurzfristig nichts merken masse-Aufgaben
Initiieren Fehlen spontaner Handlungen, „An- Flüssigkeitsaufgaben,
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laufschwierigkeiten“, Verlangsamung intrinsische Alertness


Wechseln Perseverationen, mangelndes Um- Aufgaben mit Wechsel
stellvermögen, Rigidität des Zielkriteriums
Hemmen Impulsivität, Ablenkbarkeit Go-/No-go-Aufgabe
kognitive Regulation
komplexe Regulationsprozesse
Monitoring/Überwachung Flüchtigkeitsfehler, Ziele werden Sorgfaltsleistung,
• Ergebniskontrolle aus den Augen verloren, Regel- z. B. in Durchstreichtests,
• Zielkontrolle brüche Aufgaben mit expliziter
Regelvorgabe
(z. B. Turmtest)
Problemlösen und Planen Proband weiß nicht, wie er vorgehen Planungsaufgaben
• Ziele finden und auswählen soll, fehlende Kreativität, unsyste- (z. B. Weg-Zeit-Aufgaben,
• Hypothesen, Ideen generieren matisches, sprunghaftes Arbeiten, Turmtest), Flüssigkeits-
• Strategien auswählen Abbrüche, kein vorausschauendes aufgaben
• Teilschritte bilden, in eine Handeln, fehlende Zukunftsorientie-
sinnvolle Reihenfolge bringen rung, fehlende Plausibilitätskontrol- Schätzaufgaben
• Evaluieren, Relativieren len, Proband kann den verlangten
Aufgabenrahmen nicht abschätzen
(wie präzise, wie detailliert, welcher
Umfang etc.?)
Aufgabenorganisation Unpünktlichkeit, falsche Zeit­ Multitasking
• Zeit einteilen einschätzung, langsamer, ineffizien-
• Prioritäten setzen ter, chaotischer Arbeitsstil, „Hängen-
• gleichzeitiges Bearbeiten bleiben“ an unwichtigen Details,
mehrerer Aufgaben unter Zusammenbruch unter Stress
Zeitdruck
Aufmerksamkeitsverteilung Aufmerksamkeit kann nicht gleich- Test zur geteilten
zeitig auf mehrere Aufgaben gerich- Aufmerksamkeit
tet werden; keine Anpassung an
wechselnden Schwierigkeitsgrad

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11.2.  Theoretische Über­legungen zu den exe­­kutiven Funktionen 357

Ebene der Störungsebene Aufgabenparadigma


Regulationsprozesse klinische Verhaltens- (Beispiel)
exekutive Funktionen auffälligkeiten
Konfliktverarbeitung Probleme beim Unterdrücken Interferenzaufgaben
einer dominanten Antwort (z. B. Stroop)
Encodierstrategien/ unsystematischer Lernstil, Lerntests mit Strategie-
Abrufstrategien Diskrepanz zwischen gutem ­ anwendung (z. B. CVLT)
Wiedererkennen und vermindertem
spontanen Abruf
Aktivitätsregulation
Aktivitätshemmung/ Apathie, Antriebsmangel, Alertness-Aufgaben,
Fehlen von Aktivierung Interessenlosigkeit, Flüssigkeitsaufgaben,
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Indifferenz klinische Verhaltens­


skalen
Aktivitätsüberschuss/ Ruhelosigkeit, überschießendes Go-/No-go-Aufgabe, Tests
Fehlen von Hemmung Verhalten, Ablenkbarkeit durch zur Aufmerksamkeits-
interne oder externe Reize, Sprech- fokussierung, klinische
drang, Abschweifen, sexuelle/ Verhaltensskalen
soziale Desinhibition
emotionale Regulation
Affektregulation Wutausbrüche, Reizbarkeit, klinische Verhaltens­
Weinen, Euphorie, Depression skalen
Lernen durch Feedback keine Verhaltensanpassung Aufgaben zur Überprüfung
und emotionale Bewertung nach Feedback, instabile Ziele, der Risikoabwägung und
unangemessenes Risikoverhalten, des Lernens aus Feedback
Unwirksamkeit von Belohnung oder (z. B. Iowa Gambling Task)
Bestrafung, fehlender Belohnungs-
aufschub, verminderte Frustrations- reversal learning
toleranz, Suchtverhalten
soziale Regulation
Bewusstsein für die eigene ­ verminderte Introspektionsfähigkeit, klinische Skalen zum
Person/Störungsbewusstsein eingeschränktes Störungsbewusst- Störungsbewusstsein
sein bzw. unangemessene Beurtei-
lung der Konsequenzen der Störung
Bewusstsein für andere
• Empathie/Perspektiven­ fehlendes Einfühlungsvermögen Theory-of-Mind-Aufgaben
wechsel in Gefühle und Gedanken anderer,
Ich-Bezogenheit
• Sozialverhalten distanzloses Verhalten, klinische Verhaltens­
Taktlosigkeit, Ignorieren/Fehldeuten skalen
von sozialem Feedback
• Gesprächsverhalten Gesprächskonventionen werden Checklisten zum kom-
nicht beachtet, Nichtverstehen munikativen Verhalten
oder unangemessener Einsatz
von Humor

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358 11.  Exekutive Funktionen

A) dorsolateraler B) 3 1 25
Präfrontalkortex parietaler Kortex
6 4
8
7 7
6 9
9 4 1 24
8 31
46 2 10
40 39 23
10
32
45 44 12

11 11
47
43
ventromedialer Präfrontalkortex

C) 3 1 25 D)
Nucleus caudatus
6 4
8
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9 7
24
10 31
23
32
12

11
26
Putamen
anteriores Cingulum

Abbildung 11-2: Wichtige Hirngebiete, die in die Kontrolle der exekutiven Funktionen eingebunden sind.
Aufgeführt sind auch die Brodmann-Areal-Nummern.

11.3. Anatomie der ­ werden die Brodmann-Areale 9 und 46 als


exekutiven Kontrolle DLPFC zusammengefasst. Eine etwas groß-
zügigere Definition rechnet zum DLPFC die
Eine wichtige Hirnstruktur für die exekutiven Brodmann-Areale 9–12, 45 und 46 sowie den
Funktionen ist der Frontalkortex. Dieses Hirn- oberen Teil des Areals 47. Zum VMPFC ge­
gebiet nimmt ca. ein Drittel des gesamten hören der Orbitofrontalkortex (OFC) und die
Hirnvolumens ein. In vielen Lehrbüchern wird medialen Teile des Frontalkortex. Zum me-
immer wieder betont, dass beim Menschen dialen Teil des Frontalkortex gehört auch der
das relative Volumen (bezogen auf den Fron- anteriore cinguläre Kortex (ACC; Brodmann-
talkortex) viel größer sei als bei den Primaten. Areale 24 und 3239; Abb. 11-2; Tab. 11-2). Gele-
Neuere anatomische Arbeiten können dies al- gentlich wird dieser Hirnbereich auch als Cin-
lerdings nicht belegen (Semendeferi et al., gulum bezeichnet.
2002). Auch bei verschiedenen Affenarten
nimmt der Frontalkortex ca. ein Drittel des ge-
samten Hirnvolumens ein. 39  BA 32 ist eher das cinguläre Motorareal, da aber
An der Kontrolle der exekutiven Funk­ das Cingulum bei ca. einem Drittel der Gehirne
nicht deutlich vom cingulären Motorareal zu tren-
tionen sind einige Hirngebiete besonders
nen ist, soll BA 32 hier zum Cingulum gerechnet
stark beteiligt: der dorsolaterale Präfrontalkor-
werden. BA 25 ist die Area subcallosa unter dem
tex (DLPFC), der ventromediale Präfrontal- Rostrum des Corpus callosum. BA 23 ist der poste-
kortex (VMPFC), der posteriore Parietallappen riore Teil des Cingulums, der nicht zum Frontalkor-
(PPC) und die Basalganglien (BG). In der Regel tex gehört.

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11.3.  Anatomie der ­exekutiven Kontrolle 359

Tabelle 11-2: Hirngebiete im Frontalkortex mit ihren Brodmann-Areal-Nummern und den wichtigsten
Funktionen.

Brodmann- anatomische wahrscheinliche wahrscheinliche ­


Areal Bezeichnung Funktionen Funktionen
(linke Hemisphäre) (rechte Hemisphäre)
4 primärer Motorkortex kortikale Motoneurone für die kortikale Motoneurone
(M1) Ansteuerung der kontralatera- für die Ansteuerung
len Extremitäten; bei Rechts- der kontralateralen
händern ist das linksseitige Extremitäten
M1-Areal auch in die Kontrolle
der ipsilateralen Extremitäten
eingebunden
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6 lateraler ­ Vorbereitung, Kontrolle und Vorbereitung, Kontrolle


Prämotorkortex Lernen von komplexen Hand- und Lernen von kom-
lungsfolgen; Anbinden der ­ plexen Handlungsfol-
Motorik an externe Reize gen; Anbinden der Mo-
torik an externe Reize
8 frontales Augenfeld Kontrolle von konjugierten ­ Kontrolle von kon-
lateralen Augenbewegungen jugierten lateralen
Augenbewegungen
45, 47, 44 ventrolateraler ­ Abruf und Halten seman­ Abruf und Halten von
Präfrontalkortex tischer und linguistischer ­ visuellen und räum­
(VLPFC) Funktionen; Areale 44 + 45 lichen Informationen
= Broca-Areal
46, 9 dorsolateraler ­ Auswahl von möglichen ­ Kontrolle von Informa-
Präfrontalkortex Reaktionen; Hemmung von tionen, die im Gedächt-
(DLPFC) nicht benötigten Reaktionen; nis bearbeitet werden;
Manipulation von Arbeits- Kontrolle von Vigilanz,
gedächtnisinhalten Daueraufmerksamkeit
und Alertness
10 rostraler ­ Kontrolle von Mehrfachauf­ wie auf der links­
Präfrontalkortex gaben; Halten und Bearbeiten seitigen Hemisphäre
(RPFC) von zukünftigen Zielen, ­
während aktuelle Ziele be-
arbeitet werden; der mesiale
Teil wird mit der Kontrolle der
„Theory of Mind“ in Zusam-
menhang gebracht
24, 32 Cingulum pars Kontrolle und Verarbeitung
anterior von Konflikten und Fehlern
11 Orbitofrontalkortex
(OFC)
ventromedialer Assoziieren von Emo-
Präfrontalkortex tionen mit konventio-
(VMPFC) nellen Reizen und ­
Verhaltensweisen

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360 11.  Exekutive Funktionen

11.3.1. Anatomisch-funktionelles (Substantia nigra und Tegmentum), dem Klein-


Netzwerk der exekutiven hirn und eben mit dem Thalamus (z. B. dem
Funktionen Globus pallidus) verbunden. All diese Hirn-
gebiete sind besonders in die Kontrolle der
Die oben aufgeführten Hirngebiete sind ana- Motorik und der Verstärkung eingebunden.
tomisch und funktionell eng miteinander ver- Der ventromediale Teil des Präfrontalkor-
bunden; v. a. der Präfrontalkortex mit anderen tex erhält seine Afferenzen über die parvozel-
Hirngebieten. Die meisten Afferenzen errei- lulären Teile des mediodorsalen Thalamus.
chen den Präfrontalkortex über den Thalamus Diese thalamischen Kerngebiete erhalten ih-
(ca. 80 %), und hier insbesondere über die ren afferenten Zufluss aus Hirngebieten, die in
mediodorsalen Kerngebiete (Tab. 11-3). Der die Kontrolle der Emotionen und der Erregung
dorsale Teil des Präfrontalkortex erhält seine eingebunden sind (z. B. von der Amygdala und
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Afferenzen aus den medial liegenden Kern- dem limbischen System). Ein anderes Teil-
gebieten (dem magnozellulären Teil). Über gebiet des Thalamus (Pars paralamellaris)
diese Kerngebiete des Thalamus ist der Prä- projiziert in das frontale Augenfeld. Ein weite-
frontalkortex mit den Mittelhirnstrukturen res thalamisches Hirngebiet, das in Kapitel 10

Tabelle 11-3: Zusammenfassung der bidirektionalen Verbindungen zwischen dem PFC und anderen
Hirngebieten.

anatomische Verbindungen vom PFC zu anderen Hirngebieten (Efferenzen)


• PFC ➞ VMPFC ➞ Limbisches System – Amygdala
• PFC ➞ Hypothalamus
• PFC ➞ Hippocampus (nur wenige Verbindungen)
• PFC ➞ entorhinaler Kortex
• PFC ➞ Basalganglien
• PFC ➞ sekundäre sensorische Areale

anatomische Verbindungen zum PFC (Afferenzen)


• Thalamus (mediodorsale Kerne) ➞ PFC (Kontrolle von Motorik und Verstärkung)
• pars magnozellularis ➞ dorsaler PFC
• Substantia nigra ➞ pars magnozellularis
• Kleinhirn ➞ pars magnozellularis
• Globus pallidus ➞ pars magnozellularis
• ventrales Tegmentum ➞ pars magnozellularis
• Basalganglien ➞ pars magnozellularis
• pars parvozellularis ➞ ventromedialer PFC
• Amygdala ➞ pars parvozellularis
• pars paralamellaris ➞ frontales Augenfeld
• Pulvinar ➞ PFC
• sekundäre sensorische Areale ➞ PFC
• OFC ➞ PFC
• primäres Geruchszentrum ➞ OFC
• primäres Geschmackszentrum ➞ OFC
• primäres somatosensorisches Gebiet ➞ OFC
• Parietallappen ➞ PFC
• Hippocampus ➞ PFC

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11.3.  Anatomie der ­exekutiven Kontrolle 361

3 5
SM, PM
7 PC
6
9 4 1
FEF
8 S1/S2
46

DLPFC 2
10 40
43 39

45
A2 22
11
44 41
42
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19
VMPFC Ins 17
V2
18
38
47 21 37

20

3 1 2

8 4
5
9
7

24 19
31

ACC
26
23 18

Tha
10 BG
34 30 29 17
32
12 27

VMPFC 19
MTL 37
Amy 28 35
11
38 36
20

Abbildung 11-3: Die wichtigsten anatomischen Verbindungen zwischen dem Präfrontalkortex und an-
deren Hirngebieten. Die meisten Verbindungen sind bidirektional. DLPFC: dorsolateraler Präfrontalkor-
tex, VMPFC: ventromedialer Präfrontalkortex, SM: supplementär motorisches Areal, PM: Prämotorkortex,
FEF: frontales Augenfeld, INS: Insular, PC: Parietalkortex, S1/S2: somatosensorische Areale, A2: sekun-
därer auditorischer Kortex, V2: sekundärer visueller Kortex, ACC: anteriores Cingulum: BG: Basalganglien,
Amy: Amygdala, MTL: mesiotemporale Hirngebiete, Tha: Thalamus.

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362 11.  Exekutive Funktionen

besprochen wurde, ist das Pulvinar, das ins- xibilität, der Sequenzierung, beim Gedächt-
besondere in den Parietallappen projiziert. nisabruf, beim Kategoriewechsel sowie Per-
Neben diesen Hirngebieten projizieren sekun- severationen vor. Andere Funktionsbereiche
däre visuelle und auditorische sensorische wie Sprache, Rechnen und Wahrnehmung sind
Areale in den Präfrontalkortex. Auch Hirn- nicht betroffen, sofern sie nicht von den EF
gebiete aus dem inferioren Temporallappen abhängen. Das Orbitofrontalhirnsyndrom
(Objektwahrnehmung) projizieren in den Prä- ist mit Persönlichkeitsveränderungen, Störun-
frontalkortex und insbesondere in BA 46 und gen der Emotionalität und des Sozialverhal-
BA 8 (DLPFC). Über den OFC ist der Präfron- tens verbunden. Die Patienten werden impul-
talkortex mit den primären sensorischen Zen- siv, mitunter aggressiv, wirken enthemmt,
tren für die Verarbeitung von Geruch, Ge- distanzlos und verhalten sich deutlich risiko-
schmack und Somatosensorik verbunden, betonter. Es liegt offenbar eine Störung der
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denn der OFC erhält direkte Afferenzen aus Verhaltenshemmung vor. Beeinträchtigun­
diesen Hirngebieten. Auch der Parietallappen, gen der cingulären Schleife sind mit An-
das Inselgebiet und die Basalganglien proji- triebsminderungen in verbunden.
zieren in den Präfrontalkortex, und hier ins- Die Basalganglien gelten als Kerngebiete,
besondere in den DLPFC. die typischerweise in motorische Kontrollpro-
Efferent ist der PFC mit dem limbischen zesse eingebunden sind. Patienten mit Basal-
System, dem Hypothalamus, dem Hippocam- ganglienstörungen leiden unter motorischen
pus und dem entorhinalen Kortex, den Basal- Kontrollproblemen, insbesondere unter dem
ganglien und den sekundären sensorischen Problem, Bewegungen zu starten oder zu be-
Arealen verbunden. In Tabelle 11-3 sind diese enden. Ursache ist eine Degeneration der Sub-
Verbindungen schematisch und in Abbildung stantia nigra, was zur Folge hat, dass zu wenig
11-3 grafisch dargestellt. Dopamin gebildet wird und das gesamte fron-
tostriatale System unter einem Dopaminman-
gel leidet. Mittlerweile existieren zahlreiche
11.3.2. Rolle der Basalganglien
Befunde, die belegen, dass die Basalganglien
Der Frontalkortex ist mit den Basalganglien auch in die Kontrolle von Kognitionen ein-
intensiv bidirektional verbunden. Unterschie- gebunden sind. Ein wesentlicher Grund dafür
den werden drei „Basalganglien-Schleifen“, ist, dass die Basalganglien über den Thalamus
die in verschiedene Aspekte der EF eingebun- mit dem DLPFC, dem ACC und dem OFC ver-
den sind: (1)  DLPFC-Schleife, (2)  VMPFC- bunden sind. Das bedeutet, dass sie auch auf
Schleife und (3)  ACC-Schleife (Abb. 11-4). Kognitionen und emotionale Prozesse Einfluss
Dyskonnektionsstörungen innerhalb dieser nehmen können. In der Tat leiden Basalgan-
Schleifen führen zu spezifischen Verhaltens- glienpatienten neben den motorischen Störun-
auffälligkeiten. Unterschieden wird entspre- gen unter einer Reihe von kognitiven Proble-
chend der betroffenen Schleife men (Assoziationslernen etc.).
(1) ein dorsolaterales Präfrontalhirnsyndrom,
(2) ein Orbitofrontalhirnsyndrom und
(3) ein vorderes cinguläres Syndrom. 11.3.3. Frontalkortex

Das dorsolaterale Präfrontalhirnsyndrom ist Dass der Frontalkortex in die Kontrolle der EF
typischerweise mit Problemen in höheren ko- eingebunden ist, ist unzweifelhaft. Allerdings
gnitiven Funktionen assoziiert. Hierbei liegen ist bislang noch nicht eindeutig geklärt, wie er
Defizite in der Planung, der kognitiven Fle- organisiert ist, um die EF zu kontrollieren.

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11.3.  Anatomie der ­exekutiven Kontrolle 363

dorsolateraler
Präfrontalkortex parietaler Kortex

anteriores Cingulum
ventromedialer Präfrontalkortex

Kognition Emotion Motivation


dorsolaterale mediale vordere
präfrontale Schleife orbitofrontale Schleife cinguläre Schleife
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dorsolateraler orbitofrontaler anteriorer


Präfrontalkortex Kortex (lateral) cingulärer Kortex

Nucleus caudatus Nucleus caudatus ventrales


dorsolateral ventromedial Striatum

Globus Pallidus Globus Pallidus Globus Pallidus


(lateral dorso- (medial dorso- (rostrolateral)
medial) medial)

Substantia nigra Substantia nigra Substantia nigra


(rostral) (rostromedial) (rostrodorsal)

Thalamus Thalamus Thalamus


(Nucleus ventralis (Nucleus ventralis (Nucleus ventralis
anterior & anterior & anterior &
medial dorsal) medial dorsal) medial dorsal)

Abbildung 11-4: Drei Basalganglienschleifen. Jede Schleife ist in andere Funktionsbereiche (Kognition,
Emotion und Motivation) eingebunden (angelehnt an Alexander et al., 1990 und Müller & Münte, 2009).

Dieses Problem mag auch der Grund dafür und der präzisen Abgrenzung von anderen
sein, dass derzeit viele unterschiedliche Be- psychischen Funktionen. Wie noch gezeigt
funde, Modelle und Interpretationen hinsicht- wird, sind mit den EF Aufmerksamkeits- und
lich der Funktion des Frontalkortex vorliegen. Arbeitsgedächtnisfunktionen verbunden, so-
Auffällig ist auch, dass Studien an Patienten dass sie sehr schwer von den EF experimentell
mit Frontalkortexläsionen und bildgebende und konzeptuell zu trennen sind. Bevor wir
Untersuchungen zu Frontalkortexfunktionen uns den speziellen funktionellen Aspekten des
nicht immer zu korrespondierenden Ergeb- Frontalkortex zuwenden, werden allgemeine
nissen führen. Ein weiteres Problem ist die Funktionsprinzipien des Frontalkortex be­
Schwierigkeit der Operationalisierung der EF sprochen.

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364 11.  Exekutive Funktionen

11.4. Modelle der Frontal­ Teilaspekte der EF wie Wechseln, Initiieren


und Hemmen von unterschiedlichen neurona-
kortexfunktionen
len Netzwerken innerhalb des Frontalkortex
kontrolliert werden. Für die Teilfunktionen
11.4.1. Domänenspezifisch des Arbeitsgedächtnisses Halten und Mani-
oder funktionsspezifisch pulieren scheint sich eine funktionale Spezia-
lisierung bestätigt zu haben, denn es hat sich
Es wird diskutiert, ob der Präfrontalkortex gezeigt, dass diese in unterschiedlichen Be-
domänen- oder funktionsspezifisch organi- reichen des PFC verarbeitet werden. Beim
siert ist. Unter einem domänenspezifischen Manipulieren von Informationen ist eher der
Organisationsprinzip wird verstanden, dass DLPFC aktiv, beim Halten von Informationen
einige Teilgebiete des PFC für bestimmte Mo- der VLPFC (Petrides, 2005; Abb. 11-5). Nicht
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dalitäten (auch Domänen genannt) speziali- nur für diese Arbeitsgedächtnisfunktionen


siert sind. Ein typisches Beispiel wäre, wenn konnte eine funktionelle Spezialisierung der
Teilgebiete des PFC in die räumliche Analyse PFC-Teilbereiche festgestellt werden, sondern
und andere in die Analyse von Objektinforma- auch für andere Funktionsbereiche. Die Frage
tionen eingebunden wären. Der domänen- ist jedoch, wie spezifisch die Spezialisierung
spezifische Ansatz stammt aus der Tierfor- werden kann. Ist es z. B. möglich, dass Teil-
schung und ist wesentlich durch die Arbeiten bereiche der EF wie das Inhibieren, Initiieren
von Patricia Goldman-Rakic (1996) geprägt und Wechseln von unterschiedlichen Teil-
worden. Sie konnte zeigen, dass im Präfrontal- strukturen des DLPFC bearbeitet werden?
kortex des Affen viele Neurone existieren, die Diese Frage wird derzeit noch diskutiert.
spezifisch auf räumliche Informationen an- Die schwerwiegendsten Argumente gegen
sprechen, während andere auf nichträumliche den funktionsspezifischen Ansatz liefern ei-
Informationen ansprechen. Hierbei sollen nige Übersichtsarbeiten, die gezeigt haben,
Neurone oberhalb des Sulcus principalis eher dass identische oder stark überlappende Be-
räumliche Informationen bearbeiten (ins- reiche des DLPFC und des VLPFC durch unter-
besondere kurzzeitig abspeichern, halten und schiedliche EF-Aufgaben aktiviert werden
manipulieren), während ventral des Sulcus können (Duncan & Owen, 2000). In diesen
principalis lokalisierte Neurone eher nicht- Arbeiten konnten also keine spezialisierten
räumliche Informationen (z. B. Gesichts- und
Objektinformationen) halten und manipulie-
ren sollen. Einige bildgebende Arbeiten am Manipulieren
und Überprüfen
Menschen schienen diese Befunde zu bestäti- (DLPFC)
gen. Die Mehrzahl der bildgebenden Arbeiten
konnte allerdings diese Form der Domänen-
spezifität nicht belegen.
Speicher-
Im Rahmen des funktionsspezifischen Halten
strukturen
und Abrufen
Ansatzes wird davon ausgegangen, dass Teil- (VLPFC)
(posteriore
Gebiete)
bereiche des PFC für bestimmte kognitive
Funktionen spezialisiert sind. Forscher, die
Frontalkortex nichtfrontal
sich diesem Ansatz verpflichtet sehen, gehen
davon aus, dass bestimmte Subareale des PFC Abbildung 11-5: Schematische Darstellung der
für ganz bestimmte Teilaspekte der EF spe- wichtigsten Funktionen des PFC (nach Petrides,
zialisiert sind. Zum Beispiel sollen spezifische 2005).

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11.4.  Modelle der Frontal­kortexfunktionen 365

Strukturen innerhalb des DLPFC und VLPFC 11.4.2. Hierarchische Modelle


für Teilbereiche der EF gefunden werden, son-
dern jede EF-Teilfunktion aktivierte die glei- Hierarchische Modelle der funktionellen Or-
chen oder zumindest stark überlappende (und ganisation des PFC werden derzeit intensiv
mit den aktuellen Methoden nicht trennbare) diskutiert. Eines der ersten hierarchischen
Hirngebiete. Der Grund für diese Aktivitäts- Modelle wurde von Joaquin Fuster in den
überlappung wird in den psychischen Funktio- 1990er Jahren vorgestellt und mehrfach wei-
nen gesehen, die bei allen EF genutzt werden, terentwickelt und präzisiert (Fuster, 2001;
d. h. in der Aufmerksamkeit und dem Arbeits- Abb. 11-6). Für ihn ist der PFC hierarchisch
gedächtnis. Wenn diese psychischen Funktio- organisiert. Auf der untersten Ebene befinden
nen bei allen oder zumindest den meisten EF- sich die primären motorischen Areale, es folgt
Funktionen beteiligt sind, dann verwundert es der PFC und die höchste Hierarchieebene ist
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nicht, wenn es zu ähnlichen und überlappen- der Frontalpol. Je höher die Hierarchiestufe,
den kortikalen Aktivierungen kommt. Kürzlich desto integrativer sind die Funktionen dieser
konnten Duncan und Owen (2006) zeigen, Areale. Auch die posterioren Hirngebiete sind
dass bei bestimmten Aufmerksamkeitsauf- gemäß Fuster hierarchisch organisiert; von
gaben, die eine bewusste Zuwendung erforder- den sensorischen Arealen am posterioren Pol
ten, aber keine Handlung oder Entscheidung des Gehirns bis zu den parietalen Hirngebie-
nach sich zogen, ein frontoparietales Netzwerk ten. Die posterioren Hirngebiete sind für die
aktiv war, das auch bei der Bearbeitung von Wahrnehmung und der PFC ist für die Hand-
typischen EF-Aufgaben aktiv ist. lungskontrolle zuständig. Beide Hirnsysteme

RF
3 1 2

6
perzeptives Gedächtnis
5
exekutives Gedächtnis 8
9 Konzepte
Konzepte
4 Semantik
Pläne
Episoden
Programme
9
46 40 Polysensorik
Handlungen
10 6 39 sensorisch
motorisch
43
3 41
45 42 19
22 18
17
47
7
37
11 38
28
Ber
Ges
Ger

Geh

Seh

Aktionen
ühr
uch

20
chm

ör

en

(Verhalten, Sprache)
ung
ack

Abbildung 11-6: Modell der PFC-Funktionen von Joaquin Fuster (nach Fuster, 2001).

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366 11.  Exekutive Funktionen

interagieren intensiv miteinander und bilden Stufe vorliegenden, noch sequenziell auf der
einen Wahrnehmungs-Handlungs-Zyklus Zeitachse angeordneten Informationen wer-
(perception-action-cycle). den von der übergeordneten Hierarchieebene
Dieses Modell ist eines der ersten hierar- zu einer (parallelen) Information umgewan-
chischen Frontalkortexmodelle, die einen Hie- delt. Dabei wird diese Serien-Parallel-Wand-
rarchie-Gradienten auf der rostrokaudalen lung von anderen psychischen Funktionen
Achse für den PFC vorschlagen (Abb. 11-7). (z. B. Arbeitsgedächtnis und Aufmerksamkeit)
Auch Fuster unterscheidet drei Teilbereiche unterstützt.
des OFC (orbital, medial, lateral), die unter- Diese hierarchische Anordnung von spezi-
schiedliche Funktionsbereiche abdecken (Emo- ellen (in kaudalen PFC-Bereichen kontrollier-
tion, Motivation und Kognition). Das Gemein- ten) zu allgemeinen und übergeordneten (in
same aller PFC-Bereiche ist die zeitliche rostralen PFC-Bereichen kontrollierten) Funk-
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Organisation und Integration unterschied­ tionsbereichen ist in der Übersichtsarbeit von


licher Informationen. Man kann sich die zeit- David Badre (2008) konkretisiert worden. Er
liche Organisation als eine Serien-Parallel- unterscheidet vier Gruppen von hierarchischen
Wandlung vorstellen. Die auf der untersten PFC-Modellen, bei denen die psychischen

anteriorer primärer
Prämotor- Motorkortex
kortex Prämotor-
kortex (BA 4)
(BA 8)
(BA 6) dorsal

dorsolateraler
Präfrontalkortex
(BA 9/46)
lateraler
Frontopolar-
kortex
(BA 10)

ventrolateraler
Präfrontalkortex ventraler
(BA 47/45/44) anteriorer ventral
Prämotorkortex
(BA 44/6)
anterior posterior

rostral kaudal

Abbildung 11-7: Rostrokaudale Organisation des PFC (nach Badre, 2008).

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11.4.  Modelle der Frontal­kortexfunktionen 367

Funktionen auf der rostrokaudalen Achse an- und 8 (prämotorische Gebiete) an der Vorberei-
geordnet sind (Abb. 11-8): (1) domänenspezi­ tung und Programmierung der aktuellen Moto-
fische vs. domänenübergreifende Modelle, rik beteiligt, während die anterioren Gebiete
(2) Modelle der relationalen Komplexität, (3) des PFC eher die übergeordneten Pläne kon-
das Kaskadenmodell der relationalen Bezie- trollieren (domänenübergreifend), was durch
hung und (4) ein Modell des Abstraktions­ hohe Korrelationen der Hirnaktivitäten in
grades mentaler Repräsentationen. Die letzte- den kaudalen und rostralen Gebieten wäh-
ren drei Modelle sind konkretere Varianten des rend der Bewegungsvorbereitung angezeigt
PFC-Modells von Joaquin Fuster. wird. Bei Patienten mit Läsionen in den rostra-
Weiter oben wurden die domänenspezi- len ­Hirngebieten kann man feststellen, dass
fischen Ansätze zur funktionellen Organisation die posterioren PFC-Gebiete (insbesondere
des PFC besprochen und dabei die ventral- die Prämotorareale) aktiv sind, obwohl es den
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dorsale Achse beschrieben. Wie dargestellt, Patienten nicht gelingt, eine angemessene Be-
sind die Belege für diese Domänenspezifität wegung durchzuführen. Offenbar ist die funk-
widersprüchlich. Allerdings existieren Befun­­ tionelle Verbindung zwischen den rostralen
de, die eine domänenspezifische Organisa­ und kaudalen Gebieten unterbrochen.
tion des PFC auf der rostrokaudalen Ebene Im Rahmen anderer Modelle wird der PFC
nahelegen. Die kaudalen PFC-Bereiche sind funktional anhand der Komplexität der men­
hierbei eher in die direkte (domänenspe­ talen Beziehungen eingeteilt. Hierbei wird
zifische) Kontrolle des Verhaltens bzw. der der VLPFC als Gebiet betrachtet, welches das
Motorik eingebunden. So sind die Areale 6 Operieren mit einfachen Repräsentationen,

A) C)
sensorische
domänenspezifisch Kontrolle

Kontext-
kontrolle
domänenübergreifend

episodische
Kontrolle
abstrakter Plan/Schema
internale Beobachtung entscheidende
Kontrolle
B) D)

konkretes Merkmal
Antwort-
konflikt

Beziehung der Merkmals-


1. Ordnung konflikt

Dimensions-
Beziehung der konflikt
2. Ordnung Kontext-
konflikt

Abbildung 11-8: Schematische Darstellung der hierarchischen rostrokaudalen Organisation Frontalkor-


tex nachgezeichnet nach Badre (2008). (A) Domänenübergreifende zu domänenspezifische rostrokau-
dale Organisation. (B) Modell der Organisation nach der relationalen Komplexität. (C) Kaskadenmodell
der relationalen Beziehung. (D) Modell des Abstraktionsgrades mentaler Repräsentation.

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368 11.  Exekutive Funktionen

z. B. das Behalten von konkreten und einfachen ausstehenden zeitlichen Bezuges zur Ver-
Merkmalen („Das Auto ist rot.“), bewerkstel- fügung gestellt werden. Diese ausstehenden
ligt. Auf der nächsthöheren Hierarchieebene zeitlichen Bezüge veranlassen das System,
wird dann der etwas kaudaler gelegene DLPFC Entscheidungen für die zukünftigen Hand-
mit einbezogen. Dies tritt ein, wenn z. B. Bezie- lungen zu treffen (Verzweigungskontrolle).
hungen zwischen verschiedenen Merkmalen Von kaudal nach rostral unterscheiden sich die
geknüpft werden müssen („Das Auto ist rot und Kontrollsignale im Hinblick darauf, ob unmit-
zum Transport geeignet.“). Komplexere Bezie- telbare sensorische und episodische Informa-
hungen zwischen verschiedenen Merkmalen tionen, Kontextinformationen oder bevorste-
erfordern dann den anterioren PFC. Der ante- hende Informationen aus der Umwelt zur
riore PFC ist im Rahmen dieser Modelle die Handlungskontrolle beitragen.
Struktur, welche die komplexesten mentalen Eine vierte Modellgruppe (Modell des Abs-
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Merkmalszusammenhänge bearbeitet. Andere traktionsgrades mentaler Repräsentation) be-


Autoren betonen, dass der anteriore PFC nicht tont nicht die hierarchisch organisierten Kon-
nur an der Verarbeitung von komplexen men- trollsignale, die quasi von „oben“ nach „unten“
talen Beziehungen beteiligt ist, sondern grund- durchgeschaltet werden, sondern die hierar-
sätzlich aktiv wird, wenn mehrere kognitive chisch organisierten psychologischen Anfor­
Operationen miteinander koordiniert werden derungen. So können z. B. abstrakte Hand-
müssen. Mentale Beziehungen zwischen ver- lungsanweisungen untergeordnete spezifische
schiedenen Objekten und Merkmalen wären Anweisungen bestimmen. Hierbei konkurrie-
demzufolge nur ein Sonderfall des Operierens ren auf jeder Hierarchieebene verschiedene
mit mehreren kognitiven Operationen. Repräsentationen miteinander um Ausfüh-
Im Kaskadenmodell werden direkte Ein- rung. Mit anderen Worten: Sie erzeugen Kon-
flüsse von übergeordneten auf untergeordnete flikte, die gelöst werden müssen. So können auf
Hirngebiete angenommen. Die Befürworter der abstrakten Ebene verschiedene Repräsen-
dieses Modells sprechen auch von hierar- tationen von Handlungen miteinander kon-
chischen Kontrollsignalen, die in die Verhal- kurrieren. Welche abstrakte Handlung ge-
tenskontrolle eingreifen. Auf der untersten wählt wird und zur Ausführung kommt, hängt
Ebene sollen z. B. sensorische Verarbeitungs- von Entscheidungen ab, die in anderen Hirn-
module durch Signale aus dem Prämotorkor- gebieten durchgeführt werden. Ist eine Ent-
tex beeinflusst werden, sodass die entspre- scheidung auf der obersten abstrakten Ebene
chenden motorischen Programme aufgrund getroffen worden, dann werden spezifischere
des sensorischen Kontextes ausgewählt wer- Repräsentationen auf der nächstunteren Ebene
den können (sensorische Kontrolle). Auf der aktiviert. Auch hier müssen dann Entscheidun-
nächsthöheren Ebene nehmen Signale aus gen bezüglich der weiter zu verfolgenden Re-
anterioren PFC-Bereichen Einfluss auf den präsentationen getroffen werden. Dies setzt
Prämotorkortex und leiten die Wahl der moto- sich fort bis in die motorischen Areale.
rischen Programme auf der Basis von Kontext-
einflüssen (Kontextkontrolle). Weiter anterior
liegende Hirnbereiche tragen dann zur Hand- 11.4.3. Dorsolaterales präfrontales
lungsauswahl bei, indem sie den zeitlichen Kontrollsystem
Kontext mit einbeziehen (episodische Kon-
trolle). Der frontopolare Kortex trägt auf der Anhand der oben aufgeführten Modellvorstel-
höchsten Hierarchieebene zur Verhaltenskon- lungen ist ersichtlich, dass die theoretische
trolle bei, indem Informationen bezüglich des Einordnung der Befunde bezüglich der PFC-

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11.4.  Modelle der Frontal­kortexfunktionen 369

Funktionen nicht einheitlich ist. Im Folgenden Anwenden einer alten, aber nicht mehr gülti-
werden einige wichtige Befunde hinsichtlich gen Regel wird als Perseveration bezeichnet.
der Beteiligung des DLPFC an der exekutiven Eine solche Verhaltensweise zeigen Patienten
Kontrolle dargestellt. Im Vordergrund stehen mit Läsionen im DLPFC. Sie perseverieren auf
Befunde aus der Bildgebung, wobei Standard- der alten Regel und können sich nicht auf die
tests zur Überprüfung der exekutiven Funk- neue Regel umstellen.
tionen verwendet wurden. fMRT-Untersuchungen mit gesunden Pro-
banden während des Lösens des Wisconsin-
Card-Sorting-Tests haben ergeben, dass ein
Verhaltenshemmung und -initiierung
frontoparietales Netzwerk aktiv ist. In der Ar-
Oft müssen wir liebgewonnene Handlungen, beit von Specht und Kollegen (2009) wurden
Regeln oder Gedanken unterbinden, um die die Aktivierungen während des Lösens von
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Möglichkeit zu eröffnen, dass sich neue ent­ Arbeitsgedächtnisaufgaben mit den Aktivie-
falten können. Dies sind Fähigkeiten, die Pa- rungen während des Bearbeitens von Wiscon-
tienten mit Läsionen im DLPFC mehr oder sin-Card-Sorting-Test-Aufgaben verglichen.
weniger ausgeprägt abhanden gekommen sind. Hierbei zeigten sich bilaterale Aktivierungen
Diesen Patienten gelingt es nur mühsam, ein- im Frontalkortex, und hier insbesondere im
mal eingeschlagene Problemlösungswege zu DLPFC, im anterioren PFC und im ventrola-
verlassen und neue Problemlösestrategien zu teralen Präfrontalkortex (VLPFC; Abb. 11-9).
entwickeln. Ihnen gelingt es auch nicht, sich Es offenbarte sich allerdings ein Lateralisie-
Neuem zuzuwenden, weil die alten Informatio- rungsmuster mit stärkerer Aktivierung im
nen zu dominant sind und sich nicht hemmen rechtsseitigen VLPFC beim Bearbeiten von
lassen. Die hier kurz skizzierten Fertigkeiten Arbeitsgedächtnisaufgaben und stärkerer Ak-
werden in der Neuropsychologie mit Standard- tivierung im rechtsseitigen DLPFC beim Be-
tests überprüft, die im Folgenden näher dar- arbeiten des Wisconsin-Card-Sorting-Tests
gestellt werden: Wisconsin-Card-Sorting-Test, (Abb. 11-9). Hier offenbart sich, dass der
Stroop-Test und Flüssigkeitstests. VLPFC eher in das Halten und der DLPFC in
Beim Wisconsin-Card-Sorting-Test wer- das Manipulieren von Informationen einge­
den dem Probanden vier Karten vorgelegt. bunden ist. Neben dem PFC waren auch bila-
Eine fünfte Karte, die der Proband einem Kar- teral der Parietallappen und ein Gebiet im
tenstapel entnimmt, soll einer der vier Karten linksseitigen Temporallappen aktiv.40
zugeordnet werden. Das Zuordnungskriterium Der Psychologe Ridley Stroop hat 1935 ein
(Farbe, Form oder Anzahl der Symbole) wird nach ihm benanntes Verfahren – den Stroop-
dem Probanden nicht mitgeteilt. Findet der Test – vorgestellt, mit dem er die individuelle
Proband über „Versuch und Irrtum“ das gül-
tige Kriterium, erhält er eine positive Rück- 40  In der klinischen Neuropsychologie wird der
meldung vom Untersucher. Das Zuordnungs- Wisconsin-Card-Sorting-Test in der Regel zur Über-
kriterium bleibt für weitere zehn Kartenzüge prüfung von Frontalkortexfunktionen eingesetzt.
konstant. Bei der elften Zuordnung wird es Die Studie von Specht et al. (2009) zeigt allerdings
spontan und unerwartet für den Probanden deutlich, dass nicht nur der Frontalkortex, sondern
auch viele andere Hirngebiete bei der Lösung der
vom Versuchsleiter gewechselt. Der Proband
Aufgaben eingebunden sind. Des Weiteren zeigen
muss dann sein zuvor genutztes Kriterium än-
diese Resultate, dass verschiedene Gebiete des Fron-
dern. Gemessen wird, wie lange der Proband talkortex (ventral vs. dorsal, anterior vs. posterior)
benötigt, um das neue Kriterium anzuwenden, aktiv sind. Insgesamt belegen diese Befunde, wie
und wie oft er die alte Regel anwendet. Das unspezifisch der Wisconsin-Card-Sorting-Test ist.

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370 11.  Exekutive Funktionen

DLPFC

VLPFC
Anzahl Farbe Form

DLPFC
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1.5
VLPFC
1.3
* *
1.1

0.9
Signalzunahme (in %)

0.7
**
0.5

0.3
Arbeitsgedächtnis
0.1
WCST
–0.1 ventrolateral ventrolateral dorsolateral dorsolateral
PFC (L) PFC (R) PFC (L) PFC (R)
–0.3

–0.5

Abbildung 11-9: Beispiel für den Wisconsin-Card-Sorting-Test und die mittels fMRT gemessenen Hirn-
aktivierungen beim Bearbeiten des Wisconsin-Card-Sorting-Test. Bei den Spielkarten repräsentieren
die unterschiedlichen Grautönungen unterschiedliche Farben, die hier nicht dargestellt werden können.
In den Standardtests werden in der Regel die Farben Rot, Blau, Grün und Gelb genutzt. Man erkennt,
dass beim Wisconsin-Card-Sorting-Test bilaterale Durchblutungssteigerungen im Präfrontalkortex
(PFC) auftreten. (Nach Specht et al., 2009)

Interferenzneigung bei der Farb-Wort-Interfe- deren Farbe dargestellt; das Wort „blau“ kann
renz gemessen hat. Dieser Test besteht aus in gelben Buchstaben dargestellt sein. In den
Farbworten, die in unterschiedlichen Farben inkongruenten Bedingungen geraten die Pro-
geschrieben sind. Es gibt kongruente und in- banden immer in einen Konflikt, insbesondere
kongruente Bedingungen. In den kongruenten wenn sie die Farbe benennen sollen, in der das
Bedingungen ist das Farbwort in der Farbe ge- Wort geschrieben ist. Dieser Konflikt resultiert
schrieben, die es benennt. Das Wort „rot“ er- in längeren Antwortzeiten als bei der Überein-
scheint dann in roten Buchstaben, das Wort stimmung von Farbname und Wortfarbe. Er ist
„blau“ in blauen. In den inkongruenten Bedin- darin begründet, dass die Person das Wort
gungen ist das jeweilige Farbwort in einer an- automatisch lesen muss (weil Lesen in unse-

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11.4.  Modelle der Frontal­kortexfunktionen 371

rem Kulturkreis bei den meisten Menschen


Beim Wisconsin-Card-Sorting-Tests (WCST)
automatisiert ist), obwohl sie den Wortinhalt
sind bilateral der DLPFC, der VLPFC und parie-
nicht beachten soll. Sie kann das Lesen nicht
tale Hirngebiete aktiv. Unterschiede zu den
unterdrücken. Die Farbwahrnehmung ist we-
Aktivierungen beim Lösen von Arbeitsgedächt-
niger automatisiert. Um die Benennung der nisaufgaben findet man im rechtsseitigen
Farbe zu gewährleisten, muss das automati- VLPFC (bei Arbeitsgedächtnisaufgaben stär-
sierte Lesen gehemmt werden. Dieser Konflikt ker als bei WCST-Aufgaben) und im rechtssei-
zwischen der stark überlernten und auto- tigen DLPFC (bei WCST-Aufgaben stärker als
matisierten Lesefähigkeit und der weniger bei Arbeitsgedächtnisaufgaben).
automatisierten Farbbenennung wird vom
Cingulum und vom lateralen Präfrontalkortex gezeigt, dass bei diesen Aufgaben insbeson-
verarbeitet. dere weite Teile des Frontalkortex (dorsolate-
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Kürzlich konnte gezeigt werden, dass bei ral und ventrolateral) aktiv sind. Diese Unter-
solchen Konflikten auch ein Hirngebiet an der suchungen haben eine Besonderheit ergeben:
Schnittstelle zwischen dem ventralen und dor- Bei phonologischen Flüssigkeitsaufgaben, also
salen Präfrontalkortex aktiv wird, das an der Aufgaben, bei denen die Probanden in einer
Verbindungsstelle zwischen dem Sulcus fron- bestimmten Zeit so viele Wörter wie möglich
talis inferior und dem Sulcus praecentralis in- finden müssen, die mit einem bestimmten
ferior liegt (inferiores frontales Kreuzungs- Anfangsbuchstaben beginnen, sind dorsale
areal; Derrfuss et al., 2012). Bereiche des Gyrus frontalis inferior aktiviert.
Frontalhirnpatienten leiden auch darunter, Bei semantischen Flüssigkeitsaufgaben sind
dass sie ineffizient mit neuen kognitiven An- die Durchblutungszunahmen etwas weiter
forderungen umgehen. Untersucht wird dies ventral verortet (Costafreda et al., 2006;
mit sogenannten Flüssigkeitstests. Typische Abb. 11-10). Bei räumlichen Flüssigkeitsauf-
Aufgaben sind die verbalen Flüssigkeitstests.
Hierbei erhalten die Probanden die Aufgabe,
innerhalb einer vorgegebenen Zeitspanne so
viele Wörter wie möglich mit einem bestimm-
ten Anfangsbuchstaben zu bilden. Im anglo-
amerikanischen Sprachraum werden oft die 1
Anfangsbuchstaben „F“, „A“ und „S“ genutzt. 4 2 5
Im deutschsprachigen Raum wird der Regens­
3
burger Wortflüssigkeitstest verwendet, der
neben der Aufgabe, anhand bestimmter An-
fangsbuchstaben Wörter zu bilden, auch se-
mantische Flüssigkeitsaufgaben anbietet. Mit
einem weiteren Flüssigkeitstest kann die Fä-
higkeit, neue räumliche Muster zu produzie-
ren, gemessen werden. Ein gebräuchlicher
Abbildung 11-10: Schematische Darstellung der
Test ist der 5- Punkte-Test, bei dem die Pro-
Hirnaktivierungen bei verschiedenen Flüssig-
banden nacheinander vorgegebene Punkte keitsaufgaben. (1) Bei phonologischen Flüssig-
mit Linien verbinden müssen, um neue Figu- keitsaufgaben, (2) bei semantischen Flüssigkeits-
ren zu zeichnen. aufgaben, (3) während des Aufgabenwechsels,
fMRT-Untersuchungen während des Lö- (4)  beim Initiieren und Auswählen und (5) beim
sens von solchen Flüssigkeitsaufgaben haben Ausführen von Bewegungen.

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372 11.  Exekutive Funktionen

gaben zeigen sich ebenfalls Durchblutungs- schiedenen Versionen vor. Das Grundprinzip
zunahmen im Präfrontalkortex, allerdings mit dieses Tests ist bei allen Versionen identisch.
einer leichten rechtsseitigen Aktivierungs- Der Test besteht aus mehreren Stäbchen, die
dominanz. nebeneinander angeordnet sind. Auf diesen
Stäbchen sind Kugeln in unterschiedlichen
Farben aufgesteckt. Die Versuchsperson hat
Verhaltensplanung
die Aufgabe, die Kugeln von einer Ausgangs-
Planen wird definiert als der zielgerichtete position in eine andere Position zu verlagern
Versuch, erworbenes Wissen für zukünftige und dabei bestimmte Regeln einzuhalten.
Handlungen optimal einzusetzen. Wer keinen Diese Regeln können je nach Version variie-
Plan hat, sieht sich außerstande, den Anfor- ren. Eine häufig angewendete Regel ist, immer
derungen, die aktuell oder zukünftig an ihn nur eine Kugel pro Zug zu bewegen. Gemessen
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gestellt werden, durch geeignetes Verhalten werden die Zeit und die Anzahl der Züge, die
vorausschauend zu begegnen. Zur Unter- benötigt werden, um die Aufgabe zu lösen. Je
suchung von Planungsprozessen werden häu- nach Anzahl der Kugeln und Stäbchen kann
fig Varianten des Tower-of-London-Tests die Schwierigkeit variiert werden. Für die ver-
(ToL) verwendet. Der ToL-Test, der auch als schiedenen Varianten des ToL-Tests existieren
Tower-of-Hanoi-Test existiert, liegt in ver- umfangreiche Normen. Untersuchungen mit-

A) C)
DLPFC
54
Start

53
Blutflusszunahme

Ziel

52
B)

51

DLPFC

50
Rest 1 2 3 4 5

Schwierigkeit

Abbildung 11-11: (A) Beispiel für ToL-Aufgabe und (B) typische fMRT-Aktivierung beimLösen der ToL-
Aufgabe (nach Unterreiner & Owen, 2006). (C) Rechts erkennt man die hämodynamischen Reaktionen im
DLPFC in Abhängigkeit von der Schwierigkeit der Aufgabe.

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11.4.  Modelle der Frontal­kortexfunktionen 373

tels der funktionellen Magnetresonanztomo- Gefühle, Antriebe und Intentionen kontrollie-


grafie haben ergeben, dass während des Lö- ren. Selbstkontrolle reicht etwas weiter als die
sens von ToL-Aufgaben insbesondere der oben besprochene Verhaltenshemmung. Wird
dorsolaterale Präfrontalkortex aktiviert ist. der rechtsseitige DLPFC gehemmt (z. B. mit-
Die Aktivierungen nehmen mit der Anzahl der tels niederfrequentem rTMS oder kathodaler
notwendigen Züge und mit der Schwierigkeit tDCS), reduziert sich die vom DLPFC aus-
der Aufgabe zu (Unterrainer & Owen, 2006; geübte Top-down-Hemmung und die Proban-
Abb. 11-11). den werden risikoreicher und ungehemmter
Andere Tests, mit denen exekutive Funk- (Knoch, 2007). Gleichzeitig neigen sie auch
tionen überprüft werden können, sind der zunehmend eher dazu, sich von der Realität zu
Six-Elements-Test und der Executive-Route- entfernen und virtuelle Realitäten als real auf-
Finding-Test. Bei dem Six-Elements-Test wird zufassen (Jancke et al., 2009).
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die Fähigkeit überprüft, sechs einfache Auf-


gaben (2 Reiseberichte diktieren, 2 Rechen-
aufgaben lösen und 2 Objekt- und Bilder­ 11.4.4. Ventromediales präfrontales
benennungsaufgaben) zeitlich zu planen und System
bei der  Durchführung die einzelnen Zeit-
beschränkungen einzukalkulieren. Beim Exe- Die wichtigste Funktion des ventromedialen
cutive-Route-Finding-Test bekommen die Präfrontalkortex ist die Verhaltenshem­
Patienten die Aufgabe, ein bestimmtes Zim- mung. Über den VMPFC werden gelernte Re-
mer in einem mehrstöckigen Gebäude zu geln, die mit ihnen verbundenen Emotionen,
finden, ohne vom Untersuchungsleiter Hin- Verstärkung und Bestrafung wirksam. Patien-
weise zu erhalten. Bewertet werden Instruk-ten mit bilateralen Läsionen des VMPFC er-
tionsverständnis, Strategien zur Informa­ bringen weitgehend normale Leistungen in
tionssuche, das Behalten von Anweisungen, neuropsychologischen Tests (z. B. in Tests zur
die Handlungskontrolle, die FehlerkorrekturMessung des Arbeitsgedächtnisses, der Auf-
sowie das zielgerichtete Verfolgen der Auf-merksamkeit und des Gedächtnisses), in ihrem
gabe. Mittlerweile liegen auch einige neue Alltagsverhalten sind sie jedoch massiv auffäl-
Computerversionen von Planungstests vor. lig. Sie wirken sozial unangepasst, schwanken
Besonders hervorzuheben sind der Plan-a- zwischen Euphorie und Trauer, lachen in un-
day-Test und das Norderstedt-Adventure von angemessenen Situationen, sind gelegentlich
Funke (2003). Diese Tests sind nicht nur als
apathisch oder werden aggressiv. Eine wesent-
Diagnoseinstrumente konzipiert, sondern liche Ursache ihres Verhaltens ist, dass sie die
bieten auch vielfältige Möglichkeiten zum Konsequenzen ihres Verhaltens nicht erken-
Training von Planungsfertigkeiten. nen und zur Kontrolle einsetzen können. Das
hat auch Auswirkungen auf die Kontrolle von
zukünftigem Verhalten. Diese Patienten kön-
Selbstkontrolle
nen ihr Verhalten nicht planen, denn sie kön-
Insbesondere der rechtsseitige DLPFC ist nen auch die möglichen Konsequenzen des
in die Selbstkontrolle eingebunden, wobei zukünftigen Verhaltens nicht abschätzen. Da-
dieses Gebiet im Sinne einer Top-down-­ durch wird ihr Verhalten momentbezogen und
Kontrolle die angeschlossenen Hirngebiete selbstgenügsam. Auch fehlt es ihnen an Ein-
(VLPFC, VMPFC, limbisches System und Ba- sicht in ihre Verhaltensprobleme. Antonio Da-
salganglien) kontrolliert und in der Regel masio nennt dieses Verhalten erworbene So­
hemmt. Über den DLPFC können wir unsere ziopathie.

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374 11.  Exekutive Funktionen

Aufmerksamkeit auf bestimmte Funktions-


Der französische Neurologe Francois Lher-
bereiche gelenkt. Insofern ist es nicht verwun-
mitte (Lhermitte, 1986; Lhermitte et al., 1986)
derlich, dass eine für die Aufmerksamkeit
beschrieb weitere Symptome bei Patienten
mit Läsionen im VMPFC und bezeichnete sie wichtige Hirnstruktur wie der Parietallappen
zusammenfassend als Umweltabhängig­ in die exekutive Kontrolle eingebunden ist.
keitssyndrom (environmental dependency Bei der exekutiven Kontrolle werden auch
syndrome). Diese Patienten fielen durch ein Handlungen vorbereitet, sequenziert, kon-
übertriebenes Imitations- sowie durch Utili- trolliert und an die Umweltgegebenheiten
sationsverhalten auf. Das übertriebene Imi- angepasst. Das bedeutet, dass motorische
tationsverhalten zeigte sich in den Inter- Kontrollprozesse mit eingebunden werden
viewsituationen, die Lhermitte mit diesen müssen. Die mit eingebundenen Kontrollpro-
Patienten erlebte. Die Patienten imitierten
zesse sind im Wesentlichen motorische Trans-
spontan Gesten, mimische Ausdrücke und
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formationen (sensomotorische Transforma-


komplexe Handlungsfolgen des Interviewers.
tionen, kinematische Transformationen und
Unter dem Utilisierungsverhalten41 verstand
Werkzeugtransformationen), die vorwiegend
Lhermitte die übertriebene Abhängigkeit des
Verhaltens der Patienten von externen Reizen.
im Parietallappen ausgeführt werden (ins-
Das Verhalten wird stimulusgetrieben und besondere im intraparietalen Sulcus).
weniger abhängig von internen Motiven. Se- Letztlich wird über das Parietallappensys-
hen diese Patienten ein Glas vor sich, dann tem das Körperwissen und die Fähigkeit zur
gießen sie Wasser ­hinein. Platziert man einen Fremd- und Eigenunterscheidung mit in die
Hammer vor ihnen, beginnen sie zu hämmern. Entscheidung eingebunden. Denn wenn ein
Sie führen Handlungen aus, die mit den Ob- Individuum seine Handlungen plant, muss es
jekten der Umwelt assoziiert sind. wissen, wer der Agent der Handlung ist. Vor
allem aufgrund von Läsionsstudien ist be-
kannt, dass insbesondere der rechtsseitige Pa-
Parietales Kontrollsystem rietallappen (vorwiegend der inferiore Parietal-
lappen mit Übergriff auf den Okzipitalkortex)
Wie oben dargestellt, ist ein weit verteiltes
das Körperwissen verarbeitet und auch die Zu-
Netzwerk an der exekutiven Kontrolle betei-
ordnung zum Handelnden vornimmt. Läsio-
ligt, das nicht nur den Frontalkortex, sondern
nen in diesen Hirngebieten führen zur Asoma­
auch andere Hirngebiete einschließt. Eine
tognosie (Leugnen der Zugehörigkeit einer
wichtige Struktur ist der Parietallappen, der
Extremität), zur Somatoparaphrenie (die ei-
vielfältig zur exekutiven Kontrolle beiträgt,
gene Extremität wird einer anderen Person zu-
z. B.:
• Aufmerksamkeitslenkung (Kap. 10)
geschrieben) und zur Anosodiaphorie (eine
• motorische Transformationen (Kap. 12)
schwere Krankheit wird als Lappalie bewertet).
• Fremd- und Eigenunterscheidung.
Cinguläres Kontrollsystem
Wie bereits dargestellt, ist die Aufmerksam-
Im Aufmerksamkeitsmodell von Posner und
keitslenkung eine wesentliche Komponente
Petersen wird dem anterioren Cingulum (als
der EF. Im Grunde wird über die EF die
wichtigem Bestandteil des anterioren Netz-
werks) eine zentrale Rolle im „exekutiven Kon-
41  Utilisieren bedeutet „Nutzbarmachung“. In dem
hier verwendeten Sinn bedeutet es, dass die Patien- trollsystem“ zugeschrieben (Kap. 10). Es soll
ten die in der Umgebung entdeckten Reiz nutzbar wichtige Funktionen bei der willentlichen Auf-
machen. merksamkeitskontrolle, bei der Inhibition,

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11.4.  Modelle der Frontal­kortexfunktionen 375

dem Aufgabenwechsel, der Konfliktlösung, der


Ressourcenzuteilung und bei Planungsprozes- kongruent inkongruent

sen übernehmen. Eine wichtige und in vielen SSSSS SSHSS


HHHHH HHSHH
Studien immer wieder beschriebene Funktion,
die mit dem ACC in Verbindung gebracht wird,
ist die Konfliktlösung und -bearbeitung. Immer Abbildung 11-12: Typische Flanker-Aufgabe.
wenn Konflikte vorliegen, welches Verhalten Der Proband hat die Aufgabe, auf den in der Mitte
bei einer bestimmten Reizsituation zu wählen stehenden Buchstaben zu achten. Ein in der Mitte
ist, ist das ACC aktiv. Zur Untersuchung von stehendes /S/ verlangt das Betätigen einer rechts
angeordneten Taste, während ein in der Mitte
Konflikten werden typischerweise Stroop-Auf-
stehendes /H/ das Drücken der links angeord-
gaben (s. o.) oder Flanker-Aufgaben eingesetzt.
neten Taste erfordert. Werden in einer Reihe die
Bei den Flanker-Aufgaben wird den Versuchs-
gleichen Buchstaben dargeboten, dann liegt eine
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personen eine Reihe von Zeichen dargeboten. kongruente Bedingung vor. Wird der in der Mitte
Dies können z. B. fünf Buchstaben sein. Die stehende Buchstabe von anderen Buchstaben
Probanden müssen allerdings nur auf den mitt- flankiert, die mit der anderen Reaktion assoziiert
leren Buchstaben achten, denn der ist für die zu sind, dann liegt eine inkongruente Bedingung vor.
tätigende Reaktion wesentlich. Die Aufgabe
könnte darin bestehen, dass der Proband auf
die rechts angeordnete Reaktionstaste drücken emotionalen Stroop-Test modifiziert ­(Mathews
soll, wenn in der Mitte ein /S/ steht. Steht in & MacLeod, 1985). Hierbei werden den Pro-
der Mitte ein /H/, bestünde die Aufgabe darin, banden emotional „geladene“ Wörter in unter-
auf eine links angeordnete Taste zu drücken. schiedlichen Farben dargeboten. So kann z. B.
Werden fünf /S/ oder fünf /H/ nebeneinander das Wort „Trauer“ in Rot, das Wort „Freude“
dargeboten, ist die Aufgabe relativ einfach zu in Grün oder das Wort „Tod“ in Blau präsen-
lösen, denn die Information ist eindeutig tiert werden. Die Probanden haben die Auf-
(kongruente Bedingung; Abb. 11-12). Wenn al- gabe, die Farbe der dargebotenen Wörter zu
lerdings ein /S/ in der Mitte steht, das rechts benennen. Die Farbbenennung ist bei Per-
und links jeweils von zwei /H/ flankiert ist sonen verlangsamt, die eine besondere emo-
(HHSHH), dann wird die Aufgabe schwieriger. tionale Beziehung zu dem emotionalen Wort
Die flankierenden Buchstaben fordern implizit haben, das gerade dargeboten wird. Ein de-
zum Drücken der links angeordneten Reakti- pressiver Proband zeigt z. B. eine verlangsamte
onstaste auf. Auch die umgekehrte Buchsta- Farbbenennung bei der Präsentation des
benanordnung (ein /H/ in der Mitte mit flan- Wortes „Trauer“. Auch gesunde Probanden
kierenden /S/: SSHSS) ist relativ schwierig, lassen sich durch die emotionalen Wörter be-
denn die flankierenden Buchstaben fordern einflussen. Die Farbbenennungen für emotio-
implizit zum Drücken der rechts angeordneten nale Wörter (z. B. „Krieg“, „Tod“, „Krankheit“,
Taste auf (inkongruente Bedingung). In den in- „Krebs“) erfolgen immer etwas langsamer
kongruenten Bedingungen entsteht ein Kon- als für neutrale Wörter. Die Verlangsamung
flikt, der zu längeren Reaktionszeiten führt. kommt wahrscheinlich dadurch zustande,
Dieser Konflikt ist typischerweise mit Durch- dass das negative emotionale Wort die Auf-
blutungszunahmen im ACC verbunden. merksamkeit von der aktuellen Aufgabe­
Auch bei Anwendung des klassischen (Benennung der Farbe) ablenkt. Trotz allem
Stroop-Tests zeigen sich typischerweise Durch- kommt es zu einem Konflikt zwischen der Be-
blutungszunahmen im ACC. Der Stroop-Test nennung der Farbe und des Wortes. Auch bei
wurde in einigen Untersuchungen zu ­einem solchen emotionalen Stroop-Aufgaben ist das

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376 11.  Exekutive Funktionen

ACC aktiv. Allerdings findet sich die Aktivität rioren Cingulum zugeschrieben werden. Die
nicht in den gleichen Arealen des ACC wie bei Komponente wird durch dopaminerge Sig-
klassischen Stroop-Aufgaben. Die klassischen nale aus den Basalganglien (Nucleus accum-
Stroop-Aufgaben führen eher zu Aktivierun- bens) und dem Mittelhirn (ventrales Teg-
gen im dorsalen ACC, während die emotiona- mentum) „getrieben“. Offenbar ist das ACC
len Stroop-Aufgaben mit Aktivierungen im bereits sehr früh in die Verhaltenskontrolle
ventralen Teil des ACC assoziiert sind (Bush et eingebunden.
al., 2000). Die oben dargestellten Befunde werden in
Auch elektrophysiologisch kann die Betei- der Regel als Evidenz für die Beteiligung des
ligung des ACC an der Verhaltenskontrolle ACC an der Lösung von Konflikten interpre-
nachgewiesen werden. Wenn die Probanden tiert. Allerdings zeigen andere Untersuchun-
bei Flanker-Aufgaben (oder Stroop-Aufgaben) gen, dass das ACC auch an anderen Prozes-
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Fehler machen, dann kann über dem Vertex sen beteiligt ist. So konnte z. B. nachgewiesen
die Error-Related Negativity (ERN) ca. 80– werden, dass beim Verarbeiten von zurück-
150 ms nach dem Begehen des Fehlers ge- gemeldeten Informationen (z. B., wenn die
messen werden. Es handelt sich hierbei um Korrektheit einer Reaktion angezeigt oder der
eine Negativierung, deren Quellen dem ante- Erhalt der Belohnung bemerkt wird) das ACC
aktiv ist. Auch bei der Fehlervermeidung fin-
dorsales ACC det sich eine stärkere Aktivität im ACC. Be-
kognitiver Teil
merkenswert ist, dass Patienten mit Läsionen
im ACC bei Konfliktaufgaben eher unauffällig
sind. Deshalb wird vermutet, dass das ACC
eher an der Kontrolle der Motivation beteiligt
ist. Das würde bedeuten, dass der Antrieb, sich
mit Konflikten oder den Problemen der Ver-
haltenskontrolle auseinanderzusetzen, über
das ACC kontrolliert würde.

Der visuelle Konzentrationsverlaufstest

Neben den oben dargestellten Flanker- und


Stroop-Aufgaben werden in den kognitiven
Neurowissenschaften auch häufig sogenannte
ventrales ACC
emotionalerTeil Go-/No-go-Aufgaben eingesetzt. Im Prinzip
funktionieren die Aufgaben so, dass die Ver-
Abbildung 11-13: Schematische Darstellung der suchspersonen bei einem bestimmten Reiz
Ergebnisse von Bush und Kollegen (2000). Der schnell reagieren müssen (indem sie zum Bei-
dorsale Teil des ACC ist eher in die Verarbeitung
spiel eine Reaktionstaste niederdrücken),
kognitiver Konflikte eingebunden. Kognitive Kon-
während sie bei einem No-go-Reiz nicht rea-
flikte entstehen bei den typischen Stroop-Auf-
gieren sollen. Eine besondere Variante von
gaben mit den Farbwort-Farb-Interferenzen. Des-
halb wird dieser Teilbereich des ACC auch als
Go-/No-go-Aufgaben sind die cued-Go-/No-
kognitiver Teil bezeichnet. Der ventrale Teil des go-Aufgaben. Die Reize werden bei diesem
ACC reagiert besonders stark bei emotionalen Aufgabentyp nacheinander dargeboten. Dabei
Stroop-Aufgaben. Dieser Bereich wird deshalb als kann ein bestimmter Reiz als Hinweisreiz für
emotionaler Teil des ACC bezeichnet. einen folgenden Go-Reiz dienen. Das heißt,

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11.4.  Modelle der Frontal­kortexfunktionen 377

dass die Versuchsperson sich nach dem Hin- dient demzufolge als Go-Reiz. Folgt dem ers-
weisreiz auf den möglicherweise in der Folge ten Tierbild allerdings kein weiteres Tierbild,
erscheinenden Go-Reiz vorbereiten kann. sondern das Bild einer Pflanze (A-P), müssen
Wird der Go-Reiz tatsächlich dargeboten, die Versuchspersonen die vorbereitete Reak-
kann die Person die Reaktion auslösen. Er- tion hemmen. Das Bild der Pflanze dient dem-
scheint allerdings der No-go-Reiz, muss sie zufolge als No-go-Reiz. Die anderen Bildfol-
die bereits vorbereitete Reaktion unterbinden gen sind Kontrollbedingungen, die für die
bzw. hemmen. Mit solchen Versuchsanord- Abschätzung von sensorischen Funktionen
nungen kann man recht elegant verschiedene und Aufmerksamkeitsfunktionen wichtig sein
psychologische Prozesse im Zusammenhang können.
mit exekutiven Funktionen und den damit ver- Personen, welche Schwierigkeiten haben,
bundenen neurophysiologischen Grundlagen eine bereits vorbereitete Reaktion zu hemmen,
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untersuchen. werden bei Erscheinen der No-go-Reize recht


Eine interessante Variante dieser Go-/No- häufig fälschlicherweise die Reaktionstaste
go-Aufgaben ist der sogenannte visuelle betätigen (commission error). Manche Ver-
Konzentrationsverlaufstest (Visual-Conti- suchspersonen reagieren verzögert oder sehr
nuous-Performance-Test, VCPT) (Abb. 11-14). variabel auf die Go-Reize. Sie können auch
Dabei werden verschiedene Bilder nach­ manchmal nicht auf Go-Reize reagieren (om-
einander (getrennt durch ein Intervall von ei- mission error). Interessanter sind neben den
ner Sekunde Dauer) dargeboten. Dies können Verhaltensauffälligkeiten aber vielmehr die
zwei Bilder von Tieren (A-A, A für animal) ERPs, die in den Go- und No-go-Bedingungen
sein, Bilder von Tieren und Pflanzen (A-P, P gemessen werden können. Diese ERPs geben
für plants), zwei Pflanzen (P-P) oder ein Bild uns Aufschluss über die während und vor
von einer Pflanze gefolgt von einem Bild, wel- der Reaktion stattfindenden neurophysiologi-
ches einen Menschen bei der Arbeit darstellt schen Prozesse. Demzufolge können wir mit
(P-H, H für human). Die Versuchspersonen diesen speziellen ERPs mehr erfahren als­
sollen allerdings nur auf den zweiten Reiz der alleine durch die Verhaltensparameter.
Bedingung A-A reagieren. Das zweite Tierbild

GO A & A Taste drücken

NO-GO A & P Taste nicht drücken

IGNORE P & P Ignorieren

+ Ton

NOVELTY P & H Ignorieren

Abbildung 11-14: Visueller Konzentrationsverlaufstest (VCPT) (mit Dank von Dr. Andreas Müller über-
lassen (nach Müller et al., 2011).

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378 11.  Exekutive Funktionen

Eine interessante und lohnenswerte Aktivierung beitragen) aufweisen. Jede die-


Strategie diese ERPs auszuwerten besteht ser unterschiedlichen ERPs repräsentieren
darin, sie in Teilkomponenten zu zerlegen. neurophysiologische Prozesse, die mit be-
Dies macht man mit einem bestimmten ma- stimmten Aspekten der exekutiven Funk­
thematischen Verfahren (independent compo- tionen verbunden sind. Mit dieser ICA-­
nent analysis: ICA). Nach der Zerlegung mit- Methode kann man drei für die exekutiven
tels der ICA erhält man neue, voneinander Funktionen wichtige ERP-Komponenten
unabhängige ERPs, die unterschiedliche To- herausarbeiten: (1) Die fronto-zentrale
pografien und auch unterschiedliche intra- P3a-No-go-­Komponente, (2) die parietale
kortikale Quellen (also Hirngebiete, die zur P3b-Go-Komponente, (3) die zentro-fron-
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Konfliktmonitoring

5,60 P3a-No-go

–5,60

Engagement

3,30
P3b-Go

–3,30

Inhibition

4,20
P3z-No-go

–4,20 Go
No-go

Abbildung 11-15: Dargestellt sind die drei für exekutive Funktionen wesentlichen ERP-Komponenten,
die man im Zusammenhang mit der Konzentrationsverlaufsaufgabe (VCPT) und der ICA erhält. (1) Die
fronto-zentrale P3a-No-go-Komponente, (2) die parietale P3b-Go-Komponente und (3) die zentro-fron-
tale P3z-Komponente. Dargestellt sind in unterschiedlichen Farben die Komponenten für die Go- (rot)
und die No-go-Reaktion (grün) (mit Dank von Dr. Andreas Müller überlassen (Müller et al., 2011) und
ergänzt durch Informationen aus Kropotov et al., 2011).

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11.5. Zusammenfassung 379

tale P3z-Komponente (siehe hierzu auch­­ 11.5. Zusammenfassung


Abb. 11-15).
Die fronto-zentrale P3a-No-go-Kom- • Exekutive Funktionen (EF) sind Kontroll-
ponente wird auch als Konfliktmonitoring­ prozesse, die es einem Individuum erlau-
komponente bezeichnet. Sie ist eine Positi- ben, sein Verhalten situationsgerecht zu
vierung, welche zirka 300–400 ms nach dem optimieren, indem die grundlegenden psy-
No-go-Reiz auftritt und ein fronto-zentrales chischen Funktionen zielführend einge­
Maximum (meist über Cz) aufweist. Die intra- setzt werden.
kortikalen Quellen findet man vor allem in • Im Rahmen des Modells „System der
Mittellinienstrukturen und hier vor allem im überwachenden Aufmerksamkeit“ (su-
Cingulum. Diese Komponente repräsentiert pervisory attentional system, SAS) greifen
neurophysiologische Aktivierungen, die not- zwei unterschiedliche Subsysteme in die
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wendig sind, um Fehler zu entdecken und sie Kontrolle ein. Das contention scheduling
gegebenenfalls zu korrigieren. Im Zusammen- system (CS) ist ein automatisch arbeitendes
hang mit dem Konzentrationsverlaufstest re- System, das aus Aktionsschemata besteht.
präsentiert diese Komponente neurophysio- Diese werden durch Umweltreize ausgelöst
logische Aktivierungen, bei denen erwartete und entfalten sich ohne bewusste Kontrolle
Handlungen mit der aktuellen Handlung ver- automatisch. In bestimmten Situationen
glichen werden. Wenn das ausgeführte oder greift das „System der überwachenden Auf-
gehemmte Verhalten nicht der Erwartung ent- merksamkeit“ ein, indem es die Aufmerk-
spricht, wird eine Änderung im Verhalten aus- samkeit auf schwach aktivierte Schemata
gelöst, um die Diskrepanz zu korrigieren. richtet und dadurch deren Aktivität ver-
Die parietale P3b-Go-Komponente wird stärkt. Typische Situationen, in denen das
auch als Aktivierungs- und/oder Engage­ SAS eingreift und das CS ersetzt, sind: (1)
mentkomponente bezeichnet. Sie tritt im Situationen, in denen Planen und Entschei-
Zeitbereich von 200–400 ms nach dem Go- den gefordert sind; (2) Situationen, die ei-
Reiz auf. Bei dieser Komponente kann man ner Fehlerkorrektur und einer Verhaltens-
intrakortikale Aktivierungsquellen vor allem anpassung bedürfen; (3) Situationen, in
im Parietallappen und Frontallappen feststel- denen wenig gut beherrschte Reaktionen
len. Sie repräsentiert die Bereitstellung der angewendet werden oder die völlig neue
notwendigen Aufmerksamkeitsressourcen für Reaktionen erfordern; (4) Situationen, die
die Bewältigung der Aufgabe. Die P3b-Go- als gefährlich oder technisch schwierig ein-
Komponente kann man am besten an parieta- geschätzt werden; (5) Situationen, die es
len Elektrodenpositionen (z. B. an Pz) ableiten. notwendig machen, dass man überlernte
Die Inhibitionskomponente (auch als und fest eingefahrene Verhaltensmuster
P3z-No-go bezeichnet) ist durch eine Positi- überwinden muss.
vierung zirka 300–400 ms nach dem No-go- • Im Rahmen der theoretischen Überlegun-
Reiz gekennzeichnet. Die kortikalen Quellen gen zu den exekutiven Funktionen werden
findet man vor allem im medialen Frontalkor- auch handlungstheoretische Modelle, Mo-
tex (SMA und pre-SMA). Diese Komponente delle des Arbeitsgedächtnisses und die
kann an der Schädeloberfläche am besten an Theorie der somatischen Marker diskutiert.
Cz registriert werden. Diese Komponente re- In empirischen Arbeiten werden die ver-
präsentiert die neuronalen Ressourcen, die zur schiedenen exekutiven Funktionen auf Ba-
Unterdrückung einer inadäquaten Reaktion sisfunktionen reduziert: (1) Wechsel des
notwendig sind. Aufmerksamkeitsfokus (shifting), (2) Inhi-

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380 11.  Exekutive Funktionen

bition dominanter Antworttendenzen (inhi- gen innerhalb dieser Schleifen führen zu


bition) und (3) Aktualisierung von Arbeits- spezifischen Verhaltensauffälligkeiten. Da-
gedächtnisinhalten (updating). Klinische bei werden entsprechend der betroffenen
Studien reduzieren die exekutiven Funk- Schleife ein (1) dorsolaterales  Präfrontal-
tionen auf drei funktional unabhängige hirnsyndrom, (2) ein Orbitofrontalhirnsyn-
Prozesse der Aufmerksamkeitskontrolle: drom und (3) ein vorderes cinguläres Syn-
(1) Energetisierung (energization), (2) Ini- drom unterschieden.
tiierung und Aufrechterhaltung von Reiz- • Derzeit werden domänen- und funktions-
Reaktions-Verbindungen (task-setting) und spezifische Modelle sowie hierarchische
(3) Aufgabenlösungsüberwachung und Ver- Modelle des PFC diskutiert.
besserung der Verhaltensanpassung (moni- • Verschiedene Bereiche des PFC und v. a.
toring). des DLPFC sind bei unterschiedlichen Auf-

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Renate Drechsler schlägt eine umfassende gaben zur Testung der exekutiven Funktio-
Taxonomie der exekutiven Funktionen vor. nen unterschiedlich stark aktiviert. Beim
Sie umfasst vier Regulationsebenen: (1) ko- Wisconsin-Card-Sorting-Test (WCST) sind
gnitive Regulation, (2) Aktivitätsregulation, bilateral der DLPFC, der VLPFC und parie-
(3) Emotionsregulation und (4) Regulation tale Hirngebiete aktiv. Unterschiede zu den
von Sozialverhalten. Diese Regulations- Aktivierungen beim Lösen von Arbeits-
ebenen werden in zwei Komplexitätsebenen gedächtnisaufgaben findet man im rechts-
eingeteilt (basal und komplex). seitigen VLPFC (bei Arbeitsgedächtnisauf-
• An der Kontrolle der exekutiven Funk­ gaben stärker als bei WCST-Aufgaben) und
tionen sind insbesondere der dorsolaterale im rechtsseitigen DLPFC (bei WCST-Auf-
Präfrontalkortex (DLPFC), der ventrome- gaben stärker als bei Arbeitsgedächtnisauf-
diale Präfrontalkortex (VMPFC), der poste- gaben). Beim Lösen des Stroop-Tests ist
riore Parietallappen (PPC) und die Basal- insbesondere auch die Verbindungsstelle
ganglien (BG) beteiligt. In der Regel werden zwischen dem Sulcus frontalis inferior und
die Brodmann-Areale 9 und 46 als DLPFC dem Sulcus praecentralis inferior (inferio-
zusammengefasst. Eine etwas großzügi- res frontales Kreuzungsareal) aktiv. Bei
gere Definition rechnet zum DLPFC die phonologischen Flüssigkeitsaufgaben sind
Brodmann-Areale 9–12, 45 und 46 sowie dorsale Bereiche des Gyrus frontalis infe-
den oberen Teil des Areals 47. Zum VMPFC rior aktiv. Bei semantischen Flüssigkeits-
gehören der Orbitofrontalkortex (OFC) und aufgaben sind eher ventrale Frontalkortex-
die medialen Teile des Frontalkortex. Zum bereiche aktiv.
medialen Teil des Frontalkortex zählt auch • Mit zunehmender Schwierigkeit des Tower-
der anteriore cinguläre Kortex (Brodmann- of-London-Tests nimmt die Aktivität im
Areale 24 und 32). Dieser Hirnbereich wird DLPFC zu.
auch als Cingulum bezeichnet. • Der rechtsseitige DLPFC ist in die Selbst-
• Der DLPFC ist funktionell und anatomisch kontrolle eingebunden.
intensiv bidirektional mit anderen Hirn- • Die wichtigste Funktion des ventromedia-
gebieten verbunden. len Präfrontalkortex ist die Verhaltenshem-
• Unterschieden werden drei „Basalgan­ mung. Über ihn werden gelernte Regeln,
glien-Schleifen“, die in unterschiedliche die mit ihnen verbundenen Emotionen,
Aspekte der EF eingebunden sind: (1) Verstärkung und Bestrafung wirksam.
DLPFC-Schleife, (2) VMPFC-Schleife und • Der Parietallappen greift in die exekutive
(3) ACC-Schleife. Dyskonnektionsstörun- Kontrolle v. a. in Form von folgenden Funk-

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11.6.  Fragen und Aufgaben 381

tionen ein: (1) Aufmerksamkeitslenkung, drückung einer inadäquaten Reaktion not-


(2) motorische Transformationen und (3) wendig sind.
Fremd- und Eigenunterscheidung.
• Das cinguläre Kontrollsystem ist insbeson-
dere bei der Bearbeitung von Konflikten 11.6. Fragen und Aufgaben
eingebunden. Man unterscheidet einen
dorsalen (kognitiven) und einen ventralen • Definieren Sie die exekutiven Funktionen.
(emotionalen) Teil. • Beschreiben Sie die theoretischen Positio-
• Mit dem visuellen Konzentrationsverlaufs­ nen der verschiedenen Modelle der exe-
test kann man ERPs evozieren, die für die kutiven Funktionen und vergleichen Sie
Analyse exekutiver Funktionen wichtig diese Modelle miteinander.
sind. Die ERPs werden mit einer ICA vor- • Erläutern Sie die Taxonomie der exekutiven
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verarbeitet, so dass voneinander unabhän- Funktionen nach Drechsler.


gige Komponenten berechnet werden. • Welche Hirngebiete sind in die Kontrolle
• Mit dieser ICA-Methode kann man drei für der exekutiven Funktionen eingebunden?
die exekutiven Funktionen wichtige ERP- • Welche Rolle spielen die Basalganglien bei
Komponenten herausarbeiten: (1) Die der Kontrolle der exekutiven Funktionen?
fronto-zentrale P3a-No-go-Komponente, • Wie ist der PFC mit anderen Hirngebieten
(2) die parietale P3b-Go-Komponente, (3) anatomisch verbunden?
die zentro-frontale P3z-Komponente. • Welche Modelle des PFC kennen Sie?
• Die fronto-zentrale P3a-No-go-Kompo­ • Vergleichen Sie die einzelnen Modelle.
nente wird auch als Konfliktmonitoring- • Worin ist das Problem begründet, dass ein-
komponente bezeichnet. Die intrakortika- zelne Hirngebiete des PFC nicht eindeutig
len Quellen findet man vor allem in mit bestimmten Teilfunktionen der exe-
Mittellinienstrukturen und hier vor allem kutiven Funktionen in Verbindung zu brin-
im Cingulum. Diese Komponente repräsen- gen sind?
tiert neurophysiologische Aktivierungen, • Welche Rolle spielt der Parietallappen bei
die notwendig sind, um Fehler zu ent- der Kontrolle der exekutiven Funktionen?
decken und sie gegebenenfalls zu korri- • Welche Rolle spielt das Cingulum bei der
gieren. Kontrolle der exekutiven Funktionen?
• Die parietale P3b-Go-Komponente wird • Welchen neurophysiologischen und psy-
auch als Engagementkomponente bezeich- chologischen Prozess repräsentiert die
net. Bei dieser Komponente kann man in- Aktivierungskomponente des ERPs im
trakortikale Aktivierungsquellen vor allem Zusammenhang mit der visuellen Kon­
im Parietallappen und Frontallappen fest- zentrationsverlaufsaufgabe?
stellen. Sie repräsentiert die Bereitstellung • Welchen neurophysiologischen und psy­
der notwendigen Aufmerksamkeitsressour- chologischen Prozess repräsentiert die­
cen für die Bewältigung der Aufgabe. Inhibitionskomponente des ERPs im Zu-
• Die Inhibitionskomponente (P3z- No-go) ist sammenhang mit der visuellen Konzen-
durch eine Positivierung zirka 300-400 ms trationsverlaufsaufgabe?
nach dem No-go-Reiz gekennzeichnet. Die • Welchen neurophysiologischen und psy-
kortikalen Quellen findet man vor allem im chologischen Prozess repräsentiert die
medialen Frontalkortex (SMA und pre- Konfliktmonitoringkomponente des ERPs
SMA). Diese Komponente repräsentiert die im Zusammenhang mit der visuellen Kon-
neuronalen Ressourcen, die zur Unter­ zentrationsverlaufsaufgabe?

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382 11.  Exekutive Funktionen

11.7. Weiterführende Literatur Fuster, J. M. (2001). The prefrontal cortex – an up-
date: time is of the essence. Neuron, 30(2),
Badre, D. (2008). Cognitive control, hierarchy, 319–333.
and the rostro-caudal organization of the fron- Goldman-Rakic, P. S. (1996). The prefrontal
tal lobes. Trends Cogn Sci, 12(5), 193–200. landscape: implications of functional architec-
ture for understanding human mentation and
the central executive. Philos Trans R Soc Lond
B Biol Sci, 351(1346), 1445–1453.
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383

12. Motorische Kontrolle


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12.2.  Das motorische Transformationsproblem 385

12.1. Faszination der ­ 12.2. Das motorische Trans­


Bewegung formationsproblem
Unsere Bewegungen und die damit verbun- Im Zusammenhang mit der Kontrolle mensch-
denen Kontrollprozesse sind uns mehr oder licher Bewegungen wird von einem „Problem
weniger nicht bewusst. Wenn wir laufen und der Bewegungskontrolle“ oder dem „motori-
werfen, bemerken wir gar nicht, welche kom- schen Transformationsproblem“ gesprochen.
plexen Kontrollprozesse während dieser Be- Worin besteht das Problem? Um eine Bewe-
wegungen in unserem Gehirn ablaufen. Uns gung in Gang zu setzen, ist es notwendig, dass
wird die Komplexität der Bewegungssteue- eine Kette von Befehlen im Nervensystem ge-
rung erst bewusst, wenn wir aufgrund neuro- neriert und verarbeitet wird:
logischer Beeinträchtigungen Bewegungen • Motoneurone feuern (Neurophysiologie)

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nicht mehr kontrolliert ausführen können und Muskeln kontrahieren (Mechanik)


selbst die einfachsten Bewegungen mühsam • Glieder bewegen sich (Kinematik)
und schwierig werden. Besonders auffällig ist • Werkzeuge werden betätigt (Werkzeug-
die Schwierigkeit der Bewegungskontrolle bei gebrauch)
Spitzensportlern und Musikern. Ist es nicht • Kontrolle des Bewegungserfolgs.
faszinierend zu beobachten, wie Profigolfer
den viel zu kleinen Ball mit dem Golfschläger Im Verlauf dieser Informationsverarbeitung
derart treffen, dass er weit und präzise fliegt? findet eine Reihe von Transformationen statt,
Bewundernswürdig ist auch die motorische wobei das Ausgangssignal (z. B. ein bestimmtes
Geschicklichkeit von Pianisten oder Strei- Aktivitätsmuster im Motorkortex) letztlich zu
chern, die mit enormer Geschwindigkeit und einer Bewegung führt, die mechanisch (z. B.
Präzision ihr Instrument bedienen. Ein Welt- Kraft) und kinematisch (z. B. Geschwindig-
klassepianist muss beim Spielen bis zu 1 800 keit) beschreibbar ist. Konkret bedeutet dies,
Noten pro Minute auf dem Klavier mit höchs- dass elektrophysiologische Erregungsmuster in
ter Präzision anschlagen (z. B., wenn er die 11. Kräfte und kinematische Größen umgewandelt,
Variation der 6.  Paganini-Etüde von Franz also transformiert werden. Dieser Ablauf wird
Liszt spielt). als motorische Transformation bezeichnet.
Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass Etwas formaler formuliert, kann der se-
der Mensch anders als alle Tiere über große quenzielle Ablauf der Transformationen auf
Freiheiten verfügt, Bewegungen zu erfinden, einem Kontinuum von proximal nach distal ge-
und sie bis zur Perfektion lernen kann. Er kann ordnet werden. Zur proximalen Seite hin kann
sich Werkzeuge ausdenken, mit denen er an- die Aktivität von Nervenzellen in Rückenmark
dere Werkzeuge herstellt, um mit diesen dann oder Gehirn angeordnet werden, zur distalen
komplizierte Objekte zu fertigen (rekursives Seite die Bewegung eines Endeffektors im
Denken). Auf diese Weise gelingt es dem Men- Raum, die durch Bewegungen mehrerer Ge-
schen, Kulturgegenstände zu erschaffen, die lenke bestimmt wird. Ein geläufiges Beispiel
seine Natur ausmachen. Alle diese Tätigkei- ist die Bewegung eines Cursors auf einem Bild-
ten, so selbstverständlich uns die meisten auch schirm, der mithilfe einer Maus kontrolliert
erscheinen mögen, sind an komplexe motori- wird. Die Übergänge von einem proximaleren
sche Kontrollprozesse gebunden, die im Fol- Signal zu einem distaleren Signal sind die mo-
genden dargestellt werden. torischen Transformationen.
In diesem Zusammenhang werden Teil-
transformationen unterschieden (Abb. 12-1).

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386 12.  Motorische Kontrolle

aber auch die Werkzeugtransformation stän-


proximal neuronale Aktivität proximal
dig den sich ändernden körperlichen Möglich-
neuromuskuläre keiten anpassen muss. Des Weiteren muss ge-
Transformation
lernt werden, sich auf unterschiedliche Arten
Vorwärtstransformation

inverse Transformation
Muskelkontraktion von Hämmern einzustellen, um die effizien-
testen Werkzeugtransformationen zu wählen.
Körper-
Bei Spitzensportlern, aber auch Profimusikern
transformation
kann der jeweilige Transformationsprozess
Körperbewegung derart spezifisch sein, dass andere Werkzeuge
(z. B. andere Tennisschläger) oder andere In-
Werkzeug-
transformation strumente (z. B. ein anderes Piano als jenes,
das man gewohnt ist zu spielen) schon zu
distal distal
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Werkzeugbewegung
merkbaren Veränderungen der motorischen
Aktionen führen, weil die jeweilige Werkzeug-
Abbildung 12-1: Motorische Transformationen. und Körpertransformation den spezifischen
Dargestellt sind die „Vorwärtstransformation“ und
Instrumenten und Werkzeugen durch Lernen
die „inverse Transformation“. Bei der „Vorwärts-
angepasst wurde.
transformation“ wird die neuronale Aktivität letzt-
Diese kurze Skizze soll genügen, um die
lich in Bewegungen umgewandelt. Bei der „inver-
sen Transformation“ wird die Vorstellung einer Komplexität motorischer Transformationen
Bewegung letztlich zu neuronalen Erregungen sowie ihre Abhängigkeit von situativen und
umgewandelt. organischen Gegebenheiten zu verdeutlichen.
Das zentrale Problem der Bewegungskontrolle
Der Übergang von neuronaler Aktivität zur ist, die motorischen Kommandos so zu bestim-
Muskelaktivität (also die Transformation elek- men, dass nach Durchlaufen der motorischen
trischer Erregungen zur Kraftentwicklung) Transformation die beabsichtigte Bewegung
wird neuromuskuläre Transformation ge- entsteht. Da dieses Problem aber von fast je-
nannt. Im nächsten Schritt erfolgt die Trans- dem Menschen täglich viele Male mühelos ge-
formation von Muskelaktivität zur Kinematik. löst wird, stellt sich die Frage, welche neurona-
Dieser Schritt wird als Körpertransformation len und kognitiven Prozesse dazu notwendig
bezeichnet, um zum Ausdruck zu bringen, sind. Eine Voraussetzung für eine erfolgreiche
dass eine Gliedmaßenbewegung (des Körpers) Bewegungskontrolle ist die Invertierung mo­
durch die Mechanik des Muskels erreicht wer- torischer Transformationen, mit der die für
den muss. Als letzter Transformationsschritt eine beabsichtigte Bewegung erforderliche
erfolgt die Werkzeugtransformation. Bei Muskelaktivität bestimmt werden kann.
diesem Schritt wird die Kinematik dem Werk- Unter der Invertierung motorischer Trans-
zeuggebrauch angepasst. formationen wird im Wesentlichen die Um-
Jede einzelne Transformation muss gelernt kehrung der motorischen Transformation ver-
und nachadjustiert werden. Man stelle sich ein standen (Abb. 12-1). Mit anderen Worten ist es
kleines Kind vor, das lernen muss, einen Ham- die Suche nach den korrekten oder am besten
mer zu bewegen. Bei dieser motorischen Ak- geeigneten motorischen Kommandos, um eine
tion müssen die neuronalen Signale in Kraft bestimmte Handlung zu ermöglichen. Im Zu-
und Kinematik umgewandelt werden. Die sammenhang mit der Planung und Vorberei-
Kraft verändert sich allerdings im Verlauf des tung von Bewegungen werden die mentalen
Wachstums und mit zunehmender Muskel- Repräsentationen der verschiedenen Trans-
masse. Das bedeutet, dass sich die Körper-, formationen abgerufen und es wird die jeweils

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12.3.  Ein einfaches Modell der menschlichen Bewegungskontrolle 387

am besten geeignete Teiltransformation ge- Transformation) auch nur eine begrenzte Ge-
wählt. In gewisser Weise ist dieser Prozess in nauigkeit haben.
seiner Flussrichtung als umgekehrt (also inver-
tiert) zum Ablauf der oben beschriebenen mo-
torischen Transformation aufzufassen. Man
12.3. Ein einfaches Modell
muss sich inverse Transformation als eine Art der menschlichen Bewe­
inneres Modell der motorischen Transformatio- gungskontrolle
nen vorstellen, das so etwas wie die mathe-
matischen Anweisungen enthält, mit denen die Bewegungen sind das Ergebnis komplexer
Transformationen bewerkstelligt werden. Die- neuronaler Prozesse, die durch innere und äu-
ses Modell ist nicht an einer bestimmten Stelle ßere Einflüsse bestimmt werden. Sensorische
im Gehirn lokalisiert, sondern in einem weit Reize, emotionale, kognitive und motivatio-
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verteilten Netzwerk, das viele Hirngebiete um- nale Faktoren beeinflussen die Formulierung
fasst. Ein wesentliches Merkmal eines inneren eines Bewegungsziels. Um dieses Ziel zu er-
Modells ist, dass es vom aktuellen Zustand der möglichen, muss der Organismus einen Be-
motorischen Transformation abgekoppelt ist. wegungsplan entwerfen, indem letztlich eine
Es ist zwar flexibel und kann an Änderungen Bewegungssequenz gewählt wird, mit der das
der motorischen Transformation angepasst Bewegungsziel möglichst präzise erreicht wer-
werden, das aber stets nur mit Verzögerung. Da den soll. Die geplante Abfolge muss dann in
die motorische Transformation kompliziert entsprechende motorische Kommandos trans-
und variabel ist sowie Zufallseinflüssen unter- formiert werden, damit der Bewegungsappa-
liegt, kann ein inneres Modell der motorischen rat die intendierten Bewegungen auch tatsäch-
Transformation (und entsprechend die inverse lich ausführt (Abb. 12-2).

sensorische motorische
Transformation Transformation

Fehler – x
dx = –x
+
erwartete Afferenz
Efferenz (es)
(g) inverses Modell
+
S –1
g

S–1(g) = es

perzeptuelles Ziel

Abbildung 12-2: Schematischer Ablauf der sensomotorischen Kontrolle. Zentraler Bestandteil der sen-
somotorischen Kontrolle ist das inverse Modell. Erwartete Afferenzen (g), die z. B. aus dem Gedächtnis
abgerufen werden, werden durch das inverse Modell in Efferenzen (es) umgewandelt,die den motori-
schen Transformationen zugeführt werden. Die durch die Bewegung erzeugten sensorischen Informa-
tionen werden mit dem perzeptuellen Ziel (g) verglichen. Bei Abweichung der durch die Bewegung pro-
duzierten tatsächlichen sensorischen Information von der erwarteten Afferenz werden Korrekturen
vorgenommen (dx), welche die motorischen Transformationen beeinflussen (nach Kalveram, 1998).

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388 12.  Motorische Kontrolle

Motorische Planungsprozesse sind sequen- Steuerung (open-loop) Regelung (closed-loop)


zieller Natur und gehen den eigentlichen Kon- Ziele Ziele
trollprozessen zeitlich voraus. Die Kontrolle
der Willkürmotorik ist definiert als ein Prozess,
bei dem ein motorischer Plan in Bewegung
motorische motorische
umgesetzt wird. Willkürmotorik unterscheidet Kommandos Kommandos
sich von Reflexmotorik, bei der sensorische
Reize eine definierte und nicht veränderbare
Bewegungsantwort auslösen. In diesem Kapi-
tel wird v. a. die Kontrolle der Willkürmotorik Gliedmaßen Gliedmaßen

dargestellt. Dabei darf nicht vergessen werden,


dass Reflexmotorik häufig parallel zur Willkür-
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motorik abläuft und beide Prozesse sich wech-


Bewegung Bewegung
selseitig beeinflussen können.

12.3.1. Regelung und Steuerung


Abbildung 12-3: Schematische Darstellung von
Steuerung und Regelung bzw. Open-loop- und
Prinzipiell können zwei motorische Kontroll-
Closed-loop-Kontrolle. Bei der Regelung wirkt ein
prozesse unterschieden werden: motorische Rückmeldesignal auf die motorischen Komman-
Regelung und Steuerung. Beide Begriffe sind dos zurück und kann die Bewegungskontrolle
aus der Regelungstechnik entlehnt (Abb. 12-3). während der Bewegung beeinflussen. Bei der
Im englischen Sprachraum werden im Zusam- Steuerung lösen die motorischen Kommandos
menhang mit der motorischen Kontrolle alter- Bewegungen aus, deren Rückmeldungen nicht in
nativ die Begriffe closed-loop (für Regelung) die aktuelle Bewegungskontrolle eingreifen.
und open-loop (für Steuerung) verwendet. Ge-
nutzt werden auch die Begriffe feedforward-
control (für Steuerung) oder negative feed- fende motorische Vorgänge zu kontrollieren.
back-control (für Regelung). Im menschlichen Da die Verarbeitung der Rückmeldung zeit-
Gehirn laufen beide Prozesse parallel ab, so- intensiv ist, sind Regelungsvorgänge bei der
dass in den meisten Fällen die beobachtbare motorischen Kontrolle eher bei langsamen
Bewegung immer durch beide Kontrollmodi Bewegungen festzustellen. Hierbei ist zu be-
bestimmt wird. denken, dass die afferenten Informationen
Bei der Regelung werden Signale des zu erst einmal entstehen müssen, dann über die
regelnden Vorgangs dem System zurück- afferenten Bahnen zum Kontrollzentrum zu-
gemeldet, damit es sich anpassen kann. Im Zu- rückgeleitet und dort verarbeitet werden. Erst
sammenhang mit der motorischen Kontrolle nach dieser Verarbeitung kann das Regelungs-
bedeutet das, dass Signale des motorischen signal in die Peripherie zurückgeschickt wer-
Systems und des Gesamtorganismus während den. Je nach zu regelndem Organ kann diese
der Bewegung erfasst und dem motorischen Verzögerung bis zu 200 ms dauern.
Kontrollzentrum zwecks Anpassung der ab- Typische Beispiele sind das Lenken eines
laufenden Bewegung zurückgemeldet werden. Autos oder die Folgebewegungen der Augen
Im einfachsten Fall heißt dies, dass afferente beim Beobachten eines sich am Horizont
Signale aus den Muskeln oder visuelle Signale bewegenden Tiers. Der Vorteil dieses Kon-
aus der Umwelt genutzt werden, um ablau- trollprozesses besteht darin, dass auf Verände-

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12.3.  Ein einfaches Modell der menschlichen Bewegungskontrolle 389

rungen in der Umwelt während der Bewe- wird, dann kann er durch vor der Bewegung
gungsausführung reagiert werden kann. Ein bereitgestellte Korrekturbewegungen korri-
wesentlicher Nachteil ist, dass der tatsächliche giert werden.
Zustand der Peripherie und der Kontrollzu­
stand im Gehirn nie exakt übereinstimmen.
Diese Zeitverzögerung ist dafür verantwort- 12.3.2. Das motorische Programm
lich, dass negativ geregelte Systeme, bei denen
ein bestimmter Bewegungsfehler minimiert Heutzutage wird davon ausgegangen, dass die
werden soll, zu unkontrollierten Schwingun- Bewegungsabläufe zentral als motorische Pro-
gen neigen. Das bedeutet, dass motorische gramme oder analog zu den Gedächtnisinhal-
Kontrollprozesse, die ausschließlich auf dem ten als motorische Engramme repräsentiert
Prinzip der Regelung beruhen, nie glatt bzw. sind. In den 1960er Jahren hat der Kogni­
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stabil sein werden. Geregelte motorische Kon- tionspsychologe Keele (Keele & Posner, 1968;
trollprozesse zeichnen sich demzufolge da- Keele et al., 2003) den Begriff des motori­
durch aus, dass sie um einen stabilen Zustand schen Programms spezifiziert und postuliert;
herum schwingen. Dies lässt sich anhand von diesem folgend sind die relevanten motori-
Zeigebewegungen auf kleine Ziele und bei so- schen Kommandos an die Muskulatur bereits
genannten visuellen Nachfolgeaufgaben de- vor Bewegungsbeginn als motorisches Pro-
monstrieren. Bei diesen Aufgaben sind Oszil- gramm abgelegt. Die zentrale Idee ist, dass das
lationen im Bewegungsprofil um den Soll-Wert motorische Programm – ähnlich einem Com-
herum typisch. puterprogramm  – als Code im Gehirn abge-
Steuerung erfordert einen Plan bzw. ein speichert und jederzeit abrufbar ist. Hierbei
Programm (s. u.), gemäß dem die Bewegungs- wird angenommen, dass das motorische Pro-
ausführung ohne sensorische Rückmeldung gramm als ein Satz zentraler Kommandos zur
erfolgt. Der Informationsablauf ist offen Durchführung von Bewegungen aufgefasst
(ohne Rückmeldung), demzufolge wird die werden kann. Das Programm läuft nach Be-
Steuerung im Englischen auch als open loop wegungsbeginn ohne Rückgriff auf sensori-
bezeichnet. Steuerungsprozesse sind ins- sche Rückmeldungen ab. Etwaige Fehler in
besondere bei sehr schnellen Bewegungen der Bewegungsausführung können frühes-
festzustellen. Der Nachteil einer reinen Steue- tens nach einer Reaktionsperiode (ca. 200 ms)
rung ist, dass Planungsfehler oder plötzlich durch ein aktualisiertes Programm korrigiert
auftretende externe Störungen nicht berück- werden. Insofern kann das motorische Pro-
sichtigt werden können. Nur „vorhersehbare“ gramm als ein reiner Steuerungsmechanismus
mögliche Veränderungen des Bewegungs- aufgefasst werden.
zustands können kompensiert werden, indem Da man nicht für jede einzelne Bewegung
der motorische Plan in der nachfolgenden ein spezifisches motorisches Programm er­
Bewegung entsprechend abgeändert wird. Es lernen bzw. speichern kann, wurde das Pro-
können auch „vorhersehbare“ Fehler so „an- grammkonzept in den 1970er Jahren er­
tizipiert“ werden, dass zu deren Korrektur weitert. Im Unterschied zum ursprünglichen
schnelle Ausgleichsprozesse quasi als Pro- Ansatz, in dem alle relevanten physiologischen
gramme bereitgestellt werden. Ein typisches und biomechanischen Parameter einer Bewe-
Beispiel ist das schnelle Klavierspielen, das gung eindeutig festgelegt sind, wird im Rah-
gesteuert (und nicht geregelt) wird. Sollte al- men des neuen Modells davon ausgegangen,
lerdings ein kleiner motorischer Fehler auf- dass das motorische Programm als eine Art
treten, der vom motorischen System erahnt Bewegungsschablone aufzufassen ist. Diese

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390 12.  Motorische Kontrolle

Bewegungsschablone wird jetzt als generali­ 12.4. Motorareale


siertes motorisches Programm (GMP) be-
zeichnet. Nicht einzelne Muskelkommandos Die zentrale Kontrolle der Bewegungssteue-
werden gespeichert, sondern das GMP spezifi- rung erfolgt durch ein hierarchisch struktu-
ziert die invariante Kinematik und die dyna- riertes System, das kortikale, subkortikale,
mischen Bewegungsmerkmale. Invariante zerebelläre und spinale Elemente umfasst. In
Parameter sind z. B. die Reihenfolge der Be- diesem System haben alle Innervationen der
wegungskomponenten, deren zeitliche Struk- Extremitäten letztlich ihren Ursprung in Neu-
tur sowie deren relative Kraft. Das GMP ist ronen, die im Rückenmark oder im Hirn-
demzufolge ein abstraktes Muster der aus- stamm lokalisiert sind. Diese spinalen Neu-
zuführenden Bewegung und bestimmt nicht rone (Motoneurone) werden von absteigenden
die präzise Aktivierung verschiedener Muskel- Informationen des Hirnstamms und des Kor-
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gruppen. Die jeweiligen Bewegungen werden tex beeinflusst und durch das Kleinhirn und
durch motorische Parameter spezifiziert. die Basalganglien moduliert. Demzufolge
Motorische Parameter können die Dauer, die umfasst die Bewegungssteuerung neuronale
Amplitude und die Frequenz von Bewegungen Strukturen, die auf verschiedenen Ebenen des
sein. Durch die Anwendung verschiedener Pa- zentralen Nervensystems verteilt sind.
rameter kann das GMP zu unterschiedlichen Der Kortex kann die Aktivität des Rücken-
Bewegungen führen. Mit diesem Programm- marks direkt oder indirekt kontrollieren. Di-
konzept ist es gelungen, eines der wesentli- rekte Verbindungen werden über den korti­
chen Probleme des ursprünglichen Konzepts kospinalen Trakt hergestellt, der eine Länge
des motorischen Programms zu umgehen, von ca. 90 cm hat. Gelegentlich wird dieser
nämlich das Problem der Speicherung einer Trakt auch als Pyramidenbahn bezeichnet, da
sehr großen, wenn nicht gar nahezu unendlich man früher davon ausging, dass er seinen Ur-
großen Menge von motorischen Programmen. sprung in den großen Pyramidenzellen des
Das GMP definiert als abstraktes Muster Grup- Kortex hat. Heutzutage ist bekannt, dass der
pen von Bewegungen, deren individueller kortikospinale Trakt seinen Ursprung auch in
„Charakter“ durch die jeweiligen motorischen anderen kortikalen Zellen als den Pyramiden-
Parameter festgelegt wird. Das GMP wird zellen haben kann.
durch Lernen erworben. Die Feinanpassung Kortikospinale Axone haben ihren Ursprung
der Bewegung erfolgt im zweiten Schritt durch in unterschiedlichen Arealen des Kortex. Diese
Parameteradjustierung. Areale konnten durch zyto- und myeloarchi-
Obwohl das Konzept des GMP aus Sicht der tektonische Studien sowie durch neuere bild-
kognitiven Psychologie erfolgreich genutzt gebende Arbeiten beschrieben und unterschie-
wurde, um menschliche Bewegungen zu be- den werden (Abb. 12-4). Das bekannteste Areal
schreiben, ist derzeit unklar, wie das GMP ist der primäre motorische Kortex, auch M1
neuronal repräsentiert ist. Fest steht aller- genannt (Brodmann-Areal 4). Dieses Areal ist
dings, dass das GMP nicht in einem bestimm- auf dem Gyrus praecentralis unter Einschluss
ten Hirnareal gespeichert, sondern vermutlich der Zentralfurche (Sulcus centralis) lokalisiert.
in einem verteilten Netzwerk innerhalb der Kortikospinale Axone haben ihren Ursprung
Motorareale abgelegt ist. auch im prämotorischen Kortex (BA 6) und
in Bereichen des somatosensorischen Kortex,
insbesondere auf dem Gyrus postcentralis un-
ter Einschluss der hinteren Wand des Sulcus
centralis (auch S1 genannt; BA 1, 2 und 3).

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12.4. Motorareale 391

A) B)
SMA
M1 S1 M1
dPMC
SPL pre-SMA

vPMC
IPL

Broca 44
45

rCM
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cCM

CB

Abbildung 12-4: Motorareale. (A) Laterale Ansicht und (B) mesiale Ansicht. M1: primärer Motorkortex,
dPMC: dorsaler Prämotorkortex, vPMC: ventraler Prämotorkortex, S1: sensomotorischer Kortex, SPL
(superior parietal lobule): Lobulus parietalis superior, IPL (inferior parietal lobule): Lobulus parietalis
inferior, PRC: Präcentralis, CB: Cerebellum – Kleinhirn, pre-SMA: präsupplementärmotorisches Areal,
SMA: supplementärmotorisches Areal, rCM: rostrales cinguläres Motorareal, cCM: kaudales rostrales
cinguläres Motorareal, Broca: Broca-Areal.

Der somatosensorische Kortex als wich- reich (PMCr), der unmittelbar vor PMCc liegt,
tigste kortikale Umschaltstation für afferente unterteilt. Weitere funktionale Einteilungen
Informationen aus der Tiefensensibilität ist sehen einen ventralen Teil vor (vPMC), der
im Wesentlichen auf dem Gyrus postcentralis unterhalb (also ventral) des dorsalen prämoto-
und in der hinteren Wand der Zentralfurche rischen Kortex (dPMC) lokalisiert ist. Vor dem
lokalisiert. Die Tatsache, dass auch der soma- dorsalen prämotorischen Kortex ist das fron-
tosensorische Kortex Ursprung efferenter tale Augenfeld (BA 8) lokalisiert, das für kon-
Axone ist, macht deutlich, dass eine einfache jugierte und willentliche Augenbewegungen
Einteilung in einen motorischen und einen verantwortlich ist. Hinter der Zentralfurche
sensorischenmotorischen Kortex nicht mehr finden sich weitere motorische Areale, ins-
angemessen ist. Der prämotorische Kortex besondere das somatosensorische Areal auf
(PMC) dehnt sich von vorderen Teilen des dem Gyrus postcentralis, aber auch die weiter
Gyrus praecentralis über den Sulcus centralis posterior gelegenen Areale im Lobulus parie-
bis zum hinteren Teil des Gyrus frontalis talis superior (LPS) unmittelbar hinter dem
superior aus. Aufgrund von Einzelzellablei- Sulcus postcentralis (BA 5 und 7) unter Ein-
tungen an nichtmenschlichen Primaten und schluss des Sulcus intraparietalis (IPS).
neueren Arbeiten unter Verwendung bild- Das supplementärmotorische Areal
gebender Verfahren wird der prämotorische (SMA) ist auf der medialen Hemisphärenober-
Kortex weiter in einen kaudalen Teil (PMCc), fläche vor Areal 4 lokalisiert und hat etwa die-
der auf dem Gyrus praecentralis unmittelbar selbe rostrokaudale Ausdehnung wie der late-
vor M1 lokalisiert ist, und einen rostralen Be- rale prämotorische Kortex. Es ist nach neueren

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392 12.  Motorische Kontrolle

Untersuchungen in ein rostrales präsupple- Homunkulus motorisch


mentärmotorisches (pre-SMA) und ein kauda-
les Areal, das eigentliche supplementärmo­

Hüfte
Rumpf
Schulter
torische Areal (SMA), zu gliedern. Unterhalb

Ellbogenlenk

e
Hand

Kni
el

Ha
dieser supplementärmotorischen Areale auf k ö ch

ge
R le

nd
M in ine Kn hen
dem Gyrus cinguli sind mindestens zwei wei- Ze itt gfin r F Ze
D ig elfi ge in
tere motorische Areale zu identifizieren, das Haaumefin ng r ger
Au ls en ge er
rostrale und das kaudale cinguläre Motorareal Auggenbr r
a
(rCMA und cCMA). Ges enlid u uen
icht n
sau d Aug
Neben diesen klassischen motorischen sdr
uckapfel

mbildung
Mund

lsekretion
Arealen werden weitere motorikrelevante
Kinn ge ken
Areale diskutiert, die insbesondere bei senso- n c
Zu hlu

Stim
Sc
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motorischen Interaktionen bedeutsam sind.

e
en
h
eic
u
Ka Sp
Hierzu zählen spezielle Gebiete im intraparie-
talen Sulcus, die insbesondere mit der visuell-
und auditorisch-motorischen Interaktion in
Verbindung gebracht werden. Schließlich ist
Abbildung 12-5: Somatotopie im Motorkortex
das Broca-Sprachzentrum auf der linken He-
(Homunkulus). (Nachgezeichnet nach Penfield &
misphäre zu erwähnen, das die motorischen
Rasmussen, 1950, und Zilles & Rehkämper, 1998)
Abläufe beim Sprechen steuert. Es liegt direkt
vor dem lateralen prämotorischen Kortex und
entspricht den Brodmann-Arealen 44 (kaudal) den medialen Wänden des Lobulus paracen-
und 45 (rostral). tralis liegt. An der Mantelkante befinden sich
die Repräsentationen des oberen Beinbe­
reichs, während die Repräsentationen des
12.4.1. Organisation der Motorareale Schulterbereichs (proximale Extremitäten) et-
was weiter lateral folgen. Auf der lateralen
Zwei Organisationsprinzipien innerhalb der Konvexität des Gyrus praecentralis schließt
motorischen Areale können unterschieden sich das Handareal an, gefolgt vom Gesichts-
werden: die somatotopische Ordnung und die areal. Am unteren Ende des primären motori-
hierarchische Mehrebenenorganisation. In- schen Kortex findet sich die Repräsentation
nerhalb jedes motorischen Teilsystems besteht der Kauwerkzeuge und der Zunge.
eine somatotopische Repräsentation des Hierbei fällt insbesondere auf, dass die
Körpers (räumliche Zuordnung zwischen Kör- Gliedmaßen, die über besonders gute moto-
perperipherie und jeweiligem motorischen rische Fähigkeiten verfügen, wie z. B. Finger,
Areal). Im primären motorischen Kortex (M1) Lippen, Zunge, weit überproportionale Anteile
ist diese Ordnung am deutlichsten erkennbar des Gyrus praecentralis einnehmen, während
und kann durch direkte elektrische Stimulatio- Rumpf und proximale Extremitäten nur auf
nen von M1, aber auch durch Registrierung relativ kleinen Anteilen repräsentiert sind.
kortikaler  Durchblutungsmuster (fMRT) er- Neben diesem motorischen Homunkulus ist
schlossen und letztlich als sogenannter mo­ auf dem Gyrus postcentralis ein sensomotori-
torischer Homunkulus dargestellt werden scher Homunkulus zu unterscheiden, der im
(Abb. 12-5). Hierbei zeigt sich, dass die effe- Wesentlichen hinsichtlich der relativen Größe
rente Innervation des Beckenbodens, des Fuß- der Repräsentationsgebiete dem motorischen
gelenks und des oberen Beinbereichs direkt an Homunkulus ähnlich ist.

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12.4. Motorareale 393

Die somatotopische Repräsentation für die onsleistungen, nur mit Unterstützung der
distalen Extremitäten (Finger, Hand und Arm) Stützmotorik, hervorbringen. Hierzu zählen
ist im Wesentlichen auf einer Hemisphäre lo- die gekreuzten Streckreflexe, die wahrschein-
kalisiert, d. h., die entsprechenden Areale ei- lich die Grundlage für die Schreitbewegungen
ner Hemisphäre kontrollieren die Extremitä- des Menschen sind. Auf der höchsten Ebene
ten der kontralateralen Körperseite. Dieses sind die prämotorischen Areale sowie die As-
Kontrollprinzip hängt mit der Kreuzung der soziationsareale im Frontal- und Parietallap-
Pyramidenbahnen am Übergangsgebiet zwi- pen angesiedelt. Diese Areale sind in die mo-
schen Medulla oblongata (verlängertes Rü- torische Planung eingebunden, wobei diese
ckenmark) und dem Rückenmark zusammen. Planungen anhand aktueller, vergangener,
Dort kreuzt ein Großteil der Pyramiden-, aber gewünschter bzw. vorgestellter sensorischer
auch der extrapyramidalen Bahnen auf die Informationen vorgenommen werden. In die-
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kontralaterale Seite. Eine Ausnahme bilden sen „höheren“ Arealen sind psychische Funk-
die dem Kleinhirn entstammenden Efferen- tionen lokalisiert, die auch zur Funktion ande-
zen, die zweimal kreuzen, sodass letztlich eine rer Kognitionen beitragen. Der Motorkortex
Kleinhirnhemisphäre die ipsilaterale Körper-
seite innerviert. Das supplementärmotorische Limbisches System
Orbitofrontalkortex
Areal ist grob somatotop gegliedert, wobei von
Präfrontalkortex
rostral nach okzipital die Repräsentation von CMA
Gesicht, Arm und Bein zu identifizieren ist.
Das supplementärmotorische Areal einer Seite PMC
beeinflusst ipsi- und kontralateral die periphe- SMA
pre-SMA Basal-
ren Zielorgane. Dabei können die Motoneu- Cerebellum ganglien
rone für die proximale Muskulatur über Pro-
SPL, IPS,
jektionen zum Hirnstamm und Rückenmark M1 - S1
IPL
direkt erreicht werden. Distale Muskelgrup-
pen, wie sie etwa zur Versorgung der Hand
Hirnstamm
benötigt werden, sind von hier aus nur über
den primären motorischen Kortex anzuspre-
chen. Der prämotorische Kortex ist ebenfalls
somatotop organisiert, wobei die Abfolge Rückenmark

von Bein-, Arm- und Gesichtsrepräsentation


ebenso wie im primären motorischen Kortex Muskel
von dorsal nach ventral angeordnet ist.
Das zweite Organisationsprinzip ist die Abbildung 12-6: Hierarchische Mehrebenenorga­
hierarchische Mehrebenenorganisation nisation der Motorik. Dargestellt sind die ver-
(Abb. 12-6). Auf der untersten Ebene dieser schiedenen Funktionselemente, die in die motori­
sche Kontrolle eingebunden sind. CMA: cinguläres
Hierarchie ist das Rückenmark bzw. sind die
Motorareal, M1: primärer Motorkortex, PMC:­
jeweiligen Rückenmarksegmente angesiedelt.
Prämotorkortex, S1: sensomotorischer Kortex,
Auf dieser Ebene erfolgen einfache Reflexkon-
SPL (superior parietal lobule): Lobulus parietalis­
trollen (mono- und polysynaptische Reflexe superior, IPL (inferior parietal lobule): Lobulus
innerhalb eines Rückenmarksegments), aber parietalis inferior, IPS: intraparietaler Sulcus,
auch Reflexe, die über mehrere Rückenmark- Cerebellum: Kleinhirn, pre-SMA: präsupplemen-
segmente verlaufen. Diese Reflexe können tärmotorisches Areal, SMA: supplementärmoto-
auch beim Menschen beachtliche Koordinati- risches Areal.

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394 12.  Motorische Kontrolle

mit den Basalganglien und dem Kleinhirn ist dem Prinzip der „Parallel-Serien-Wandlung“
im Wesentlichen an der Übersetzung dieser (s.  Kap. 11), wobei zunächst übergeordnete
„höheren“, der Motorik nahestehenden Kogni- Pläne, die als Schemata oder Skripte vorliegen,
tionen in die aktuellen Bewegungen beteiligt. in entsprechende untergeordnete Teilsche-
Die hier dargestellte Hierarchie motorischer mata oder Teilskripte zerlegt bzw. transfor-
Kontrollelemente belegt, dass die motorische miert werden müssen. Auf weiteren Ebenen
Kontrolle durch verteilte Systeme erfolgt, wo- werden dann die entsprechenden motorischen
bei auf jeder Ebene spezielle Kontrollinstanzen Kommandos abgerufen und zur Peripherie
durchlaufen werden. Hierbei trägt jedes Funk- geleitet, wo weitere Transformationsschritte
tionselement zum Gelingen des motorischen notwendig werden. Diese zeitliche Realisation
Ablaufs bei. Die übergeordneten Funktionsele- der Teilschritte muss dann einem zeitlichen
mente (z. B. im prämotorischen, aber auch im Muster (Rhythmus) zugeordnet werden, ge-
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frontalen Kortex) sind wahrscheinlich nicht mit mäß dem die einzelnen Teilschritte realisiert
den Details der Bewegung vertraut. In diesen werden.
Arealen werden die übergeordneten Pläne fest- Neben dieser zeitlichen Sequenzierung der
gelegt, die dann durch die untergeordneten Einzelschritte sind weitere Umcodierungen
Strukturen realisiert werden. Insofern erzwingt notwendig. So erfordert ein Handlungsplan
diese hierarchische Organisation eine Reihe die mentale Vorstellung eines Schemas oder
von Transformationen. Diese Transformatio- Skripts. Diese mentale Vorstellung setzt vo-
nen verlaufen auf den obersten Ebenen nach raus, dass dieses Schema oder Skript aus dem

Basalganglien
Start & Stopp
Bewegungswechsel

IDEE
Bewegung

SMA
Bewegungsauswahl
interne Steuerung
gelernte Bewegungen
Assoziations- M1
kortex Muskelaktivierung
Auswahl von Vorlagen
und Bewegungszielen
PMC
Bewegungsauswahl
externe Steuerung
sensomot. Kopplung intermediäres Kleinhirn
motor. Programme Vorbereitung von
Bewegungsmustern

laterales Kleinhirn
Vorbereitung von
Bewegungsmustern
somatosensorische
Afferenzen

Abbildung 12-7: Hierarchische Funktionsanordnung der motorischen Kontrolle.

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12.4. Motorareale 395

Gedächtnis abrufbar ist. Dann muss es in einer belegen jedoch, dass die Zuordnung von Neu-
bestimmten Form im Arbeitsgedächtnis re- ronengruppen zu den peripheren Muskeln
präsentiert werden. Wie diese Repräsentation bzw. zu den spinalen Motoneuronen wesent-
erfolgt, ist derzeit noch nicht eindeutig geklärt. lich komplexer ist. So ist insbesondere für die
So wird vermutet, dass diese Repräsentationen Repräsentation der Hand bekannt, dass indi-
vor und während der Bewegung „wahrneh- viduelle Axone der Pyramidenbahn an Grup-
mungsnah“ als Bilder (images) in den visuellen pen von Motoneuronen terminieren, die ver-
Arealen vorwiegend des ventralen Informati- schiedene Muskeln innervieren. Des Weiteren
onswegs (ventral stream) vorliegen. Manche konnte gezeigt werden, dass ein einziger Mus-
Repräsentationen können aber auch verbaler kel kortikal an verschiedenen Stellen reprä-
(in Form von Handlungsanweisungen) oder sentiert ist, wobei die räumliche Variabilität
auditorischer (z. B. Rhythmen) Natur sein. In bei nichtmenschlichen Primaten 2–3 mm er-
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solchen Fällen sind die Repräsentationen in reicht. Selbst die relative räumliche Zuord-
Spracharealen und im auditorischen Kortex nung einzelner Finger ist nicht immer ein-
lokalisiert. Eine andere Hypothese geht davon deutig und folgt nicht grundsätzlich dem
aus, dass Schemata und Skripte bereits in vor- motorischen Homunkulus, sodass gelegent-
bereiteter und in für die Motorik zugänglicher lich von einer verteilten kortikalen Repräsen-
Form vorliegen (motoriknah). tation gesprochen wird. Offenbar werden über
horizontale Verbindungen zwischen solchen
kortikalen Neuronen Neuronengruppen zu-
12.4.2. Funktion einzelner kortikaler sammengefasst, die das Erregungsmuster im
Areale – der Informations­ Vorderhorn des Rückenmarks kontrollieren,
fluss im motorischen System um ein koordiniertes Kontraktionsmuster her-
vorzurufen.
Die Funktionen, die durch die einzelnen Hirn- Anhand von Mikroelektrodenableitungen
bereiche kontrolliert werden, sind noch nicht in M1 beim Affen konnte gezeigt werden, dass
gänzlich verstanden, zumal viele motorische das spezifische elektrische Entladungsmuster
Funktionen offenbar durch das Zusammen- in einer großen Gruppe von Neuronen abhän-
spiel verschiedener Areale realisiert werden. gig von der Bewegungsrichtung der Hände
Das soll nicht bedeuten, dass alle motorischen variierte. Jedes einzelne Neuron der Neuro-
Funktionen über ein verteiltes neuronales nengruppe zeigte graduell sich ändernde Ent-
Netzwerk kontrolliert werden. Dass dies nicht ladungsmuster abhängig von der Bewegungs-
so ist, wird täglich in der neurologischen Klinik richtung, wobei jedes Neuron offenbar bei
an Patienten beobachtet, die spezifische moto- bevorzugten Bewegungsrichtungen mit ver-
rische Ausfälle infolge von eng lokalisierten stärkter Aktivität antwortete. Für jedes Neuron
Läsionen zeigen. Im folgenden Abschnitt wer- ergibt sich somit eine glockenförmige Bewe­
den die „klassischen“ Funktionen einzelner gungsrichtungstuningkurve (Abb. 12-8) mit
motorischer Areale beschrieben. einer Bewegungsrichtung, die zu maximaler
Entladung führt, und Bewegungsrichtungen,
die zu geringeren bzw. minimalen Entladun-
Primärer motorischer Kortex – M1
gen führen. Hieraus ergibt sich in den Neuro-
Früher wurde davon ausgegangen, dass be- nengruppen für jede aktuelle Bewegungsrich-
stimmte Neurone aus M1 bestimmte Muskel- tung aus der Resultante der individuellen
gruppen ansteuern würden. Neuere anato­ neuronalen Entladungen ein Vektor, der so-
mische und physiologische Untersuchungen genannte Populationsvektor. Dieser Popu-

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396 12.  Motorische Kontrolle

A) Prämotorische Areale
hoch

Wie oben dargestellt, werden laterale von me-


Antwortrate

dialen sowie ventrale von dorsalen prämoto-


rischen Arealen unterschieden. Vom lateral-
dorsalen prämotorischen Kortex (dPMCc und
niedrig dPMCr) führt eine bilateral organisierte moto-
0° 90° 180° 270° 0° rische Bahn in den Hirnstamm, die dort auf
Bewegungsrichtung ebenfalls bilaterale Bahnen (tecto- und vesti-
bulospinale Bahnen) umgeschaltet wird, die
B)
letztlich in den entsprechenden Rückenmark-
segmenten terminieren. Der prämotorische
Kortex ist mit dem parietalen Areal 7, das
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seinerseits eine wichtige Funktion bei der


Populations- Kontrolle visuell gesteuerter Armbewegungen
90°
vektoren ausübt, sowie mit dem Areal 19 des visuel-
len Assoziationskortex durch direkte Faser-
180° 0°
verbindungen verbunden. Ferner bestehen
reziproke Verbindungen zum primären moto-
270° rischen Kortex und zu den supplementär-
motorischen Arealen beider Hemisphären.
Dagegen gibt es keine direkten Projektionen
vom primär somatosensorischen Kortex
(Brodmann-Areale 1 und 2, 3) zum prämoto-
rischen Kortex. Bildgebende Studien beim
Abbildung 12-8: (A) Bewegungsrichtungstuning- Menschen haben Durchblutungszunahmen
kurve. Jedes Neuron reagiert auf eine bestimmte im lateralen prämotorischen Kortex bei fol-
Bewegungsrichtung mit maximaler Frequenz. Bei genden motorischen Tätigkeiten belegt:
diesem Neuron ist es die Bewegungsrichtung • distale und proximale Stütz- und Halte-
180° vom Körper weg. (B) Verschiedene Populati- motorik
onsvektoren. Je nach Bewegungsrichtung sind
• proximale Willkürbewegungen
unterschiedliche Neurone maximal aktiv. Daraus
ergeben sich für die Neuronengruppe unter-
• Bewegungen, die eine sensorische Führung
erfordern

schiedliche Populationsvektoren.
Etablierung neuer oder Modulation bereits
gelernter motorischer Programme.
lationsvektor indiziert somit die Summen-
entladungsstärke einer Neuronengruppe bei Im Gegensatz zum supplementärmotorischen
gegebener Bewegungsrichtung. Neben der Areal fanden sich keine bzw. nur schwache Ak-
Codierung der Bewegungsrichtung sind die tivierungen der prämotorischen Areale bei der
einzelnen M1-Neurone auch in die Kraftkon- internen Programmierung von Bewegungs-
trolle der Gliedmaßen eingebunden. Insofern sequenzen, z. B. beim Vorstellen von Bewe-
kann davon ausgegangen werden, dass über gungen.
M1 wichtige motorische Parameter (Kraft, Während die Funktionen der dorsalen prä-
Richtung und Geschwindigkeit) für die moto- motorischen Areale bekannt sind, besteht für
rischen Programme übermittelt werden. die ventralen prämotorischen Areale hinsicht-

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12.4. Motorareale 397

lich der von ihnen kontrollierten Funktionen unterschiedlicher Bewegungen oder im


noch kein Konsens. Die Funktion des ventralen Zuge von Bewegungsvorbereitungen
Prämotorkortex erhellen könnten Befunde, die • rein mentale Durchführung von komplexe-
in den homologen Arealen bei nichtmensch- ren Bewegungen.
lichen Primaten erhoben werden konnten. Es
konnte gezeigt werden, dass einige Neurone in Das weiter rostral gelegene präsupplemen­
diesem Gebiet besonders stark feuern, wenn tärmotorische Areal (pre-SMA) dagegen ist
die Affen von anderen (Affen oder Menschen) offenbar in andere, allerdings das SMA er­
ausgeführte Bewegungen sehen, die sie später gänzende Funktionskreise eingebunden. Ein-
selbst ausführen sollen. Die entsprechenden zelzellableitungen bei nichtmenschlichen Pri-
Neurone werden als Spiegelneurone bezeich- maten und kernspintomografische Studien
net. Unter Einsatz bildgebender Verfahren belegen, dass dieses Gebiet insbesondere bei
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konnte beim Menschen gezeigt werden, dass folgenden motorischen Prozessen verstärkt
der ventrale Prämotorkortex vorwiegend bei beteiligt ist:
der Vorstellung und Imitation komplexer Be- • Wechsel zwischen verschiedenen motori-
wegungen aktiv ist. Die enge räumliche Nähe schen Programmen (motor program shift)
zum bzw. die gelegentliche Überlappung mit • Lernen neuer sequenzieller uni- und bima-
dem Broca-Areal lässt vermuten, dass hierbei nualer Bewegungsmuster
ähnliche Funktionen aktiviert sind wie beim • Anpassen sequenzieller Bewegungsmuster
Generieren einer Sprachäußerung. an sich verändernde Anforderungen.
Für das supplementärmotorische Areal
(SMA) wird traditionell angenommen, dass es Das cinguläre motorische Areal (CMA) lässt
in die Planung und die intern geleitete Initiie- in Human- und Tierexperimenten neurophy-
rung von Bewegungen eingebunden ist. Dies siologische Aktivierungen während unter-
zeigt sich sehr deutlich bei Patienten mit bila- schiedlicher motorischer Aktivitäten erkennen.
teralen Läsionen in diesem Hirnbereich, die Obwohl die bisherigen Ergebnisse noch zu un-
nicht oder nur schwer in der Lage sind, willent- vollständig sind, um im Rahmen eines Lehr-
lich zu sprechen oder andere Bewegungen in buchs ausführlicher besprochen zu werden,
Gang zu setzen, obwohl automatische Bewe- scheinen die cingulären Motorareale in die
gungen (u. a. Reflexe) unbeeinflusst sind. Bei Auswahl von motorischen Handlungen ein-
der Initiierung der Bewegung durch externe gebunden zu sein, wobei diese Auswahl im Zu-
Reize zeigen diese Patienten allerdings keine sammenhang mit internen Motivationslagen
motorischen Auffälligkeiten. Trotz dieser ein- zu stehen scheint. Im vorangegangenen Kapitel
drucksvollen Befunde sind die Funktionen, die wurde die Rolle des Cingulums bei der Fehler-
durch das supplementärmotorische Areal kon- korrektur und -erkennung besprochen. Es ist
trolliert werden, noch nicht vollständig ver- durchaus möglich, dass Teile des cingulären
standen. Neuere Befunde aufgrund bildgeben- Motorareals auch in die allgemeine Fehlerkor-
der Verfahren erbrachten, dass dieses Gebiet rektur und Fehlererkennung eingebunden sind.
verstärkt in folgende motorische Kontrollpro-
zesse eingebunden ist:
• uni- und bimanuale sequenzielle Bewe-
Parietallappen

gungen Parietallappenregionen machen einen Großteil


• bimanuale und bipedale Bewegungen des dorsalen visuellen Informationswegs (dor-
• kurzzeitige Speicherung von Bewegungs- sal stream) aus. Läsionsstudien an Menschen
sequenzen, z. B. zwischen der Ausführung sowie Einzelzellableitungen bei nichtmensch-

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398 12.  Motorische Kontrolle

lichen Primaten ergaben, dass verschiedene Menschen ca. 7 cm langen intraparietalen Sul-
Parietallappenbereiche an Aufmerksamkeits- cus sind mindestens fünf Subregionen zu un-
und sensomotorischen Integrationsprozessen terscheiden, die in unterschiedliche senso-
beteiligt sind. Abbildung 12-9 zeigt schematisch motorische Prozesse involviert sind (Culham &
den menschlichen Parietalkortex mitsamt den Kanwisher, 2001):
wesentlichen anatomischen Landmarken. Der • der laterale intraparietale Sulcus (LIP),
Parietallappen beginnt hinter dem Sulcus cen- der Sakkaden im Zusammenhang mit Auf-
tralis mit dem Gyrus postcentralis, auf dem das merksamkeitsprozessen kontrolliert
primäre somatosensorische Areal lokalisiert • eine vor dem lateralen intraparietalen Sul-
ist. Dieses somatosensorische Areal ist ähnlich cus gelegene Greif-Region, die beim Zeigen
wie der Gyrus praecentralis somatotop geglie- und Greifen zu kortikalen Aktivierungen
dert, sodass sich hier ein somatosensorischer führt

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Homunkulus ergibt. Hinter dem Gyrus post- der anteriore intraparietale Sulcus (AIP),
centralis ist ein superiorer (SPL) von einem in- der beim visuell geführten Greifen, beim
ferioren Parietalkortex (IPL) zu unterscheiden. taktilen Explorieren, beim vorgestellten
Getrennt werden diese beiden Regionen vom Objektmanipulieren und beim mentalen
intraparietalen Sulcus (IPS). Entlang des beim Rotieren aktiv ist
• der kaudale intraparietale Sulcus (cIPS),
der insbesondere bei der dreidimensiona-
5 len visuellen Wahrnehmung beteiligt ist
CS S1
7
SPL
• das beim Menschen noch nicht eindeutig
AIP? nachgewiesene Gebiet im ventralen in­
VIP? POS
PCS SMG traparietalen Sulcus (VIP), das bei visuell
TPJ LIP? wahrgenommenen Bewegungen in Rich-
IPL
AG tung zum Gesicht sowie bei Stimulationen
cIPS?
IPS des Gesichts aktiv ist.
SF
STS

Insgesamt kann der intraparietale Sulcus als


ein Hirngebiet aufgefasst werden, in dem vi-
suomotorische (und wahrscheinlich auch au-
diomotorische) Transformationen erfolgen.
Diese Transformationen sind wichtig, denn
durch sie werden die sensorischen Informatio-
Abbildung 12-9: Hervorgehoben ist hier der Parie- nen so transformiert, dass sie für die Motorik
tallappen mit den für die motorische Kontrolle „handhabbar“ sind. Im Zusammenhang mit
wichtigen Teilstrukturen. IPS: intraparietaler Sul- der visuomotorischen Transformation werden
cus, AIP: anteriorer intraparietaler Sulcus, VIP: die visuellen Informationen, die noch eine re-
ventraler intraparietaler Sulcus, LIP: lateraler in-
tinotope Organisation aufweisen, in körper-
traparietaler Sulcus, cIPS: kaudaler intraparie-
zentrierte Koordinaten transformiert.
taler Sulcus, SPL: Lobulus parietalis superior,
Neben diesen Arealen im intraparietalen
POS:parietookzipitaler Sulcus, TPJ: temporalpa-
rietaler Übergangsbereich, SMA: Gyrus supramar-
Sulcus können im superioren Parietallappen
ginalis, AG: Gyrus angularis, SF: Sylvische Fissur, Regionen identifiziert werden, die in die vi-
STS:Sulcus temporalis superior, CS: Sulcus cen- suelle Kontrolle von Bewegungen involviert
tralis,S1: somatosensorischer Kortex, PCS: Sulcus sind. Häufig sind die Aktivierungen in diesen
postcentralis. Gebieten jedoch nicht eindeutig mit senso-

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12.4. Motorareale 399

motorischen Prozessen in Verbindung zu brin- Der entwicklungsgeschichtlich älteste Teil  –


gen, da selbst psychische Funktionen wie die das Vestibulocerebellum – wird von den ves-
räumliche Aufmerksamkeit, unabhängig von tibulären Kernen des Hirnstamms innerviert
Bewegungen, unter Beteiligung des Parietal- und koordiniert Gleichgewicht und Augen-
lappens ablaufen. bewegungen. Läsionen in diesem Bereich
führen zu charakteristischen Störungen des
Gleichgewichts. So wird z. B. der vestibuloo-
Kleinhirn
kuläre Reflex durch Läsionen im Vestibuloce-
Das Kleinhirn (Cerebellum) kann man als ei- rebellum beeinträchtigt. Dieser Reflex ist für
nen Satellitenrechner auffassen, der parallel die visuomotorische Interaktion des Men-
zum bidirektionalen Informationsfluss zwi- schen notwendig, da über diesen Reflex das
schen Kortex und Peripherie angeordnet ist Auge auch bei sich bewegendem Kopf auf fi-
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(Abb. 12-10). Das Kleinhirn erhält einen inten- xierte Objekte ausgerichtet bleiben kann.
siven afferenten Zustrom von somatosensori- Das Spinocerebellum erhält afferente In-
schen, vestibulären, visuellen und auditori- formationen von den Effektoren aus der Peri-
schen Informationen. Gleichzeitig erhält es pherie über das Rückenmark. Des Weiteren
Afferenzen aus dem Motorkortex, aber auch reagieren einzelne Zellen in diesem Gebiet auf
aus anderen Kortexbereichen. Das Kleinhirn auditorische und visuelle Reize und belegen,
innerviert über die Kleinhirnkerne verschie- dass das Kleinhirn auch in polysensorische In-
dene Hirnbereiche direkt oder indirekt. Hierzu tegrationen eingebunden ist. Das Spinocere-
gehören der Hirnstamm und der Thalamus. bellum hat sich wahrscheinlich im Zuge der
Über den Thalamus nimmt das Kleinhirn di- Phylogenese mit zunehmender Anforderung
rekten Einfluss auf das extrapyramidale Sys- an die Feinmotorik entwickelt. Läsionen des
tem (Basalganglien-Schleife). Spinocerebellums resultieren in Störungen der
Das Kleinhirn wird in drei unterschiedliche glatten Bewegungsabläufe, sodass manche
Bereiche unterteilt (Abb. 12-11): Bewegungen ruckartiger ausfallen. Läsionen
• Vestibulocerebellum im Bereich der Vermis (mesialer Teil des Spi-
• Spinocerebellum nocerebellums) resultieren in Störungen von
• Neocerebellum. Stand- und Haltemuskulatur und führen zu
einer Dysfunktion hinsichtlich der Koordina-
tion der axialen Muskulatur. Chronischer Al-
Motorkortex koholkonsum zerstört Zellen im anterioren
sensorischer
Kortex Vermisbereich. Patienten mit diesen Läsionen
leiden deshalb an Geh- und Standstörungen.
Auch akuter Alkoholkonsum beeinträchtigt
die Geh- und Standfunktionen. Läsionen der
Kleinhirn
etwas weiter lateral gelegenen intermediären
Zone (Grenze zwischen Spinocerebellum und
Neocerebellum) führen zu ungeschickten, ir-
regulären und teilweise erratischen Bewegun-
gen. Schnelle Zeigebewegungen resultieren
Muskeln sensorische häufig in sogenannten Dysmetrien, d. h. im
Organe
„Überschießen“ der Bewegung über den ange-
Abbildung 12-10: Schematische Darstellung des peilten Zielpunkt hinaus. Häufig können diese
Informationsflusses zum und vom Kleinhirn. Patienten die begonnenen Bewegungen nicht

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400 12.  Motorische Kontrolle

Afferenzen: Efferenzen:

Bewegung +
Zielmotorik
Assoziationskortex Nucleus dentatus

Spinocerebellum
Thalamus
Pons

Vermis

Okulomotorik
Stützmotorik
Nucleus interpositus

P Nucl. ruber
Rückenmark ce onto
reb -
ell
um
Formatio
reticularis Nucleus fastigii

Gleichgewicht
Okulomotorik
Formatio
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reticularis
Vestibularorgan Nucleus vestibularis
Vestibulocerebellum (Deiters)

Abbildung 12-11: Schematische Darstellung der Einteilung des Kleinhirns. Synonym gebraucht wird
häufig auch noch die Einteilung nach dem stammesgeschichtlichen Alter (Phylogenese). Gemäß die-
ser Einteilung entspricht das Vestibulocerebellum dem Archicerebellum, das Spinocerebellum dem
Paläocerebellum und das Pontocerebellum dem Neocerebellum.

glatt und effizient beenden. Beim Erreichen Übergang von der einen zur anderen Teilbe-
des Ziels setzen Bewegungsoszillationen ein wegung realisieren können. Häufig ist auch die
(Intentionstremor). Bewegungsinitiierung verzögert, weshalb ver-
Der laterale Bereich des Kleinhirns (Klein­ mutet wird, dass das Neocerebellum stärker in
hirnhemisphären oder Neocerebellum) hat die Bewegungsplanung involviert ist, während
im Zuge der Entwicklungsgeschichte immens das intermediäre Cerebellum eher an der
an Volumen zugenommen. Dieses Gebiet er- Regulation der aktuellen Bewegung beteiligt
hält vielfältige Afferenzen von sensorischen ist. Bildgebende Arbeiten belegen, dass das
und motorischen Hirnbereichen und sendet Neocerebellum vorwiegend bei komplexeren­
seine Efferenzen über den Nucleus dentatus Bewegungen aktiv ist, die offenbar mehr
zum extrapyramidalen System, zum Kortex Kontrollkapazität erfordern, während die in-
und zum Thalamus. Über den Thalamus ge- termediäre Zone mehr in die Kontrolle von
langen die Efferenzen der Kleinhirnhemisphä- automatischen Bewegungen eingebunden ist.
ren in den primären motorischen Kortex, den Das Kleinhirn ist, wie erwähnt, als ein Sa-
lateralen prämotorischen Kortex und die prä- tellitenrechner aufzufassen, der parallel zum
frontalen Hirnbereiche. Insofern ist das Neo- Informationsfluss vom und zum Gehirn an-
cerebellum in die willentliche Kontrolle der geordnet ist. Das bedeutet, dass die ab- und
Motorik eingebunden. Läsionen der Kleinhirn- aufsteigenden Bahnen mit dem Kleinhirn ver-
hemisphären resultieren in Bewegungsstörun- bunden sind. Über die absteigenden Bahnen
gen, die denen ähnlich sind, die bei Läsionen erhält das Kleinhirn eine Kopie der Befehle, die
der intermediären Zone auftreten. Zusätzlich in die Peripherie zu den Muskeln gelangen
können Störungen bei der sequenziellen Ab- (Efferenzkopie). Gleichzeitig erhält es eine
folge von komplexen Bewegungen auftreten, Kopie der Afferenzen, die aus den sensorischen
wobei die Patienten häufig keinen „glatten“ Organen zum Gehirn geleitet werden (Affe­

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12.4. Motorareale 401

renzkopie). Man vermutet, dass das Kleinhirn (Pars compacta der Substantia nigra, Nucleus
anhand der Efferenzkopie auch die erwarteten subthalamicus und Pars externa des Globus
Afferenzen vorausberechnen kann und diese pallidus) sind im Wesentlichen mit Modula-
mit den tatsächlichen Afferenzen (Reafferenz) tionsprozessen betraut. Diese Kerngebiete
vergleicht. Aus diesem Vergleich ergibt sich projizieren in den Basalganglienkreislauf. Die­
dann eine Differenz (Exafferenz), die die Ge- Efferenzen aus den Basalganglien in die
nauigkeit der Voraussage der erwarteten Affe- Peripherie steigen überwiegend in das Rü-
renzen ausdrückt und als wichtige Regelgröße ckenmark hinab. Basalganglienefferenzen er-
im motorischen System genutzt wird. reichen aber auch den Thalamus, der die mo-
Aufgrund der besonderen Verschaltung des torischen Areale im Frontallappen innerviert.
Kleinhirns ist es in viele Zusatzberechnungen Die von den Basalganglien ausgeübte Mo-
eingebunden, die für die motorische Kontrolle dulationsfunktion ist im Wesentlichen hem-
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wichtig sind. Es ist in die zeitliche und sequen- mender Natur, wobei das Ausmaß der Hem-
zielle Koordination der Motorik involviert, mung vom exzitatorischen Eingang aus dem
nutzt sensorische Informationen, um Bewe- Kortex abhängt. Entfällt innerhalb des Basal-
gungen „glatter“ erscheinen zu lassen, und ist gangliensystems z. B. der hemmende Einfluss
am Aufbau von Reiz-Reaktions-Verbindungen der Substantia nigra auf das Striatum (z. B. bei
beteiligt. Die Berechnung von Reiz-Reaktions- der Parkinsonkrankheit), nimmt der hem-
Verbindungen wird auch als Codierung be-
zeichnet und man erkennt diese Leistung sehr
gut an der visuell-motorischen Kopplung (s. u.). Kortex
Hierbei werden funktionelle Kopplungen zwi-
schen visuellen Reizen und motorischen Kom-
mandos hergestellt. So muss z. B. ein Tennis-
spieler die visuell ermittelte Position des
Tennisballs mit seiner Armposition (Werk- Substantia nigra Nucleus
zeugtransformation) und seiner Körpertrans- pars compacta caudatus und
Putamen
formation in Übereinstimmung bringen.

Basalganglien

Die Basalganglien (soweit sie für die Motorik


Globus pallidus
relevant sind) bestehen aus fünf Kerngebieten, Nucleus und Substantia
die am basalen Pol des Gehirns platziert sind: subthalamicus nigra pars
reticulata
Nucleus caudatus, Putamen, Globus palli­
dus, Substantia nigra, Nucleus subthalami­
cus. Nucleus caudatus und Putamen werden
zum Striatum zusammengefasst. Das Stria-
tum erhält afferenten Informationszustrom
aus dem Kortex und dem Thalamus. Efferente Thalamus
Informationen werden fast ausschließlich
über das interne Segment des Globus pallidus Abbildung 12-12: Schematische Darstellung der
(Pars interna) und einen Teil der Substantia Basalganglienverschaltung. Das Pluszeichen in-
nigra (Pars reticularis) in das Rückenmark pro- diziert erregende Einflüsse, während das Minus-
jiziert. Die restlichen Basalganglienanteile zeichen hemmende Einflüsse indiziert.

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402 12.  Motorische Kontrolle

mende Einfluss der Basalganglien auf motori- mandos ist zu berücksichtigen, dass ähnliche
sche Kortexareale zu, sodass v. a. das Starten und konkurrierende Kommandos gehemmt
und das Beenden von Bewegungen erschwert werden. Werden keine nützlichen motorischen
werden. Wenn allerdings der hemmende Ein- Kommandos gefunden, müssen neue Kom-
fluss vom Striatum zum Globus pallidus re- mandos erlernt oder aus bestehenden neu zu-
duziert ist, was im Fall der Huntingtonkrank- sammengesetzt werden. Dann muss die Hand-
heit wahrscheinlich der Fall ist, dann resultiert lung gestartet werden. Möglich ist ja, dass alle
daraus als „Nettokonsequenz“ reduzierte motorischen Kommandos vorhanden sind,
Hemmung und damit kortikale Erregung, die man motiviert ist, eine bestimmte Vorstellung
letztlich in „überschießenden“ Bewegungen zu realisieren, sich aber nicht traut, weil man
resultiert. Diese Beispiele belegen, dass inner- Sorge hat, den sozialen Regeln zu widerspre-
halb des Basalgangliensystems ein kompli- chen. Entscheidet man sich, die Handlung aus-
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ziertes Gleichgewicht zwischen hemmenden zuführen, muss letztlich überprüft werden, ob


und erregenden Einflüssen existiert (Abb. 12- das Bewegungsziel erreicht wurde, und gemäß
12), das letztlich die Efferenzen aus den korti- dieser Überprüfung kann der ganze vorher
kalen Bereichen moduliert. durchlaufene Prozess nochmals unter ver-
änderten Bedingungen ablaufen. Vor einer
Bewegung findet also ein komplizierter Ablauf
12.5. Planung von ­ von psychischen Prozessen statt. Zusammen-
Bewegungen gefasst lässt sich festhalten, dass folgende psy-
chische Prozesse ablaufen, wenn eine Bewe-
Bewegungen passieren nicht einfach so, selbst gung ausgeführt werden soll:
dann, wenn sie uns nicht bewusst sind. Bewe- • Aufbau der Motivation, eine Bewegung aus-
gungen werden vorbereitet und geplant. Man zuführen
stelle sich Michelangelo vor, der seine be- • Auswahl der Aufgabe
rühmte Skulptur David modellieren möchte. • Definition des Bewegungsziels
Wie konnte er dieses wunderschöne Kunst- • Auswahl der auszuführenden Handlung
werk realisieren? Welche psychischen Vor- • Wahl der entsprechenden motorischen
gänge waren notwendig, um über mehrere Kommandos
Jahre hinweg diese Skulptur zu modellieren? • Auswahl der passenden Parameter für die
Versuchen wir uns vorzustellen, welche kogni- motorischen Kommandos,
tiven Prozesse in einem Bildhauer „ablaufen“ • letzte Überprüfung, ob alles korrekt aus-
müssen, damit er eine Skulptur formen kann. gewählt wurde
Zunächst benötigt er eine mehr oder weni- • letzte Überprüfung, ob die gewählte Bewe-
ger bewusste Vorstellung von dem zu modellie- gung auch wirklich ausgeführt werden soll
renden Objekt. Dann muss er über ein Motiv • Start der Bewegung
verfügen, diese Skulptur zu modellieren, das • das Bewegungsergebnis muss verarbeitet
in Motivation und einen Willen mündet, sich werden und es müssen für die folgende
dieser mühevollen Aufgabe zu stellen. Die Bewegung anhand der festgestellten Fehler
Vorstellung oder  – anders ausgedrückt  – die und Unzulänglichkeiten Anpassungen vor-
mentale Repräsentation des Ziels muss zu kon- genommen werden.
kreten Zielen geformt und die dazu passenden
motorischen Kommandos müssen ausgewählt Bewegungsvorbereitungsprozesse werden im
und im motorischen Gedächtnis gefunden wer- Rahmen von Verhaltensexperimenten oder
den. Bei der Auswahl der motorischen Kom- mittels neurophysiologischer Methoden un-

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12.5.  Planung von ­Bewegungen 403

tersucht. In Verhaltensexperimenten können A) B)


Reaktionszeiten und Fehlerraten gemessen
werden, die im Zusammenhang mit der Aus- CNV

wahl von Bewegungen auftreten. So ist z. B. BP


bekannt, dass die Reaktionszeiten länger sind,
wenn zwischen verschiedenen Bewegungen Hinweisreiz Go-Reiz EMG
gewählt werden muss. Wird immer wieder die Bewegungs-
gleiche Bewegung ausgeführt, dann werden beginn
25 µV 10 µV
die Reaktionszeiten immer kürzer. Die län-
geren Reaktionszeiten repräsentieren dem- 1s 1s

zufolge die Auswahl der notwendigen mo­


Abbildung 12-13: (A) Beispiel für eine Contingent
torischen Kommandos aus einer definierten negative variation (CNV). Zwischen einem Hin-
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Menge von konkurrierenden motorischen weisreiz und einem Go-Reiz entwickelt sich eine
Kommandos. Verlängerte Reaktionszeiten negative Gleichspannung. Vor allem der Teil der
sind auch festzustellen, wenn die Versuchs- Gleichspannung, der vor dem Go-Reiz auftritt, re-
personen zwischen komplexen und ähnlichen präsentiert Bewegungsvorbereitungsprozesse.
Bewegungen zu wählen haben. Nicht nur die (B) Bereitschaftspotenzial (BP), das sich vor einer
aktive Auswahl von motorischen Programmen Bewegung aufbaut. Es ist ein negatives Gleich-
ist in der Reaktionszeit repräsentiert, sondern spannungspotenzial, das sich ca. 1.5 s vor der
Bewegung über dem Vertex zu entwickeln beginnt.
auch die Unterdrückung von ähnlichen, aber
weniger effizienten motorischen Program-
men kostet offenbar „psychische“ Energie. verschiedene definierte Bewegungen wie-
Bewegungsvorbereitungsprozesse können derholt auszuführen, wobei der Bewegungs-
gut mittels ereigniskorrelierter Potenziale ge- beginn ihnen mehr oder weniger selbst über-
messen werden (Abb. 12-13). Hierzu wird das lassen ist.
sogenannte Bereitschaftspotenzial (BP) oder Die Contingent negative variation ist eine
das aus dem Bereitschaftspotenzial abgelei- langsame Verschiebung des EEG-Potenzials
tete lateralisierte Bereitschaftspotenzial (LRP) nach negativ im Zeitraum zwischen einem Hin-
gemessen. Eine andere Variante, Bewegungs- weisreiz (S1) und einem imperativen Signal
vorbereitungsprozesse neurophysiologisch zu (S2). Die spätere Phase der CNV, die vor dem
untersuchen, ist die sogenannte Contingent imperativen Reiz ansteigt, ist über dem Vertex
negative variation (CNV). maximal und dem BP sehr ähnlich. Trotz der
Das Bereitschaftspotenzial wird über die Ähnlichkeit wird die späte CNV von einer Viel-
Mittelung vieler EEG-Sequenzen, die vor dem zahl kortikaler Generatoren erzeugt. Die späte
Bewegungsbeginn gemessen werden, errech- CNV besteht wahrscheinlich aus zwei verschie-
net. Es ist ein Gleichspannungspotenzial, das denen bewegungsbezogenen Komponenten:
sich vor Bewegungsbeginn aufbaut. Circa Eine Komponente zeigt sich an zentroparieta-
1,5 s vor Bewegungsbeginn „entwickelt“ sich len Elektrodenpositionen (Pz) und reflektiert
eine bis zum Bewegungsbeginn zunehmende wahrscheinlich, dass die Reiz-Reaktions-Ver-
Negativierung. Diese Negativierung ist am bindungen für verschiedene erwartete Mög-
ausgeprägtesten über zentralen Elektroden- lichkeiten im Zusammenhang mit dem impera-
positionen (Cz und Fz) und repräsentiert Hirn- tiven Reiz (S2) bereitgehalten werden. Das
aktivierungen in lateralen und mesialen prä- könnten z. B. im Gedächtnis gehaltene Vorsätze
motorischen Hirnbereichen. In BP-Versuchen wie „Sobald die Reize rot werden, muss ich die
werden die Versuchspersonen aufgefordert, linke Taste drücken“ sein. Die andere Kom-

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404 12.  Motorische Kontrolle

ponente der späten CNV hat ein frontozentra- diese Potenzialdifferenz getrennt für Durch-
les Maximum (Fz) und spiegelt wahrscheinlich gänge mit Reaktion der rechten und der linken
effektorspezifische Aktivierungen der hand- Hand aufsummiert und gemittelt. In formaler
motorischen Areale wider. Schreibweise und unter Nutzung der Elektro-
Das lateralisierte Bereitschaftspotenzial denpositionen C3 und C4 ergibt sich daraus
(LRP) ist als eine bestimmte Art zu betrachten, folgende Formel für das LRP:
wie die EEG-Daten verrechnet werden. Das
LRP = ((C3–C4)Bewegung rechts
LRP wird von zwei symmetrischen Kopfhaut-
+ (C4–C3)Bewegung links)/2.
positionen abgeleitet (meistens an den Elektro-
denpositionen C3 und C4) und ist definiert als Dieses Verrechnungsverfahren entfernt aus
die Potenzialdifferenz zwischen diesen beiden den Daten nichtlateralisierte sowie konstante
Elektrodenpositionen. Konkret ist dies die Dif- Asymmetrien. Somit reflektiert das LRP moto-
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ferenz zwischen den Bereitschaftspotenzialen rische Selektionsprozesse, in diesem Fall, wel-


kontralateral minus ipsilateral zur jeweils rea- che Hand für die nächste Reaktion gewählt
gierenden Hand. Zur Ermittlung des LRP wird wird. Die Generatoren für das LRP sind im
primären motorischen Kortex (M1), aber auch
im lateralen Prämotorkortex (PMC) zu finden.
C
Bewegungsvorbereitungsprozesse werden
PM
auch mit modernen bildgebenden Verfahren
untersucht. Der Vorteil dieser Verfahren be-
steht in der besseren räumlichen Auflösung
der zu kartierenden psychischen Funktionen.
Allerdings ist die zeitliche Auflösung zu unge-
nau, um die Durchblutungsveränderungen vor
Bewegungsbeginn präzise von jenen zu tren-
nen, die während der Bewegung auftreten. Die
bis heute mit diesen Methoden durchgeführ-
ten Arbeiten belegen jedoch, dass laterale und
mesiale prämotorische Areale, aber auch Pa-
rietallappenbereiche (und hier besonders der
- SMA intraparietale Sulcus) an der Vorbereitung von
pre A
SM Bewegungen beteiligt sind (Abb. 12-14).
A
CM

12.6. Bewegungsvorbereitung
und Willenshandlungen

Dem Neurophysiologen Benjamin Libet


(1983) ist beim Betrachten des Bereitschafts-
potenzials aufgefallen, dass die Negativierung
vor Bewegungsbeginn außerordentlich früh,
d. h. ca.  1,5 s vor der Bewegung begann. Er
Abbildung 12-14: Laterale (PMC) und mesiale leitete daraus ab, dass die neurophysiologische
prämotorische (SMA, pre-SMA, CMA) Areale, die in Bewegungsvorbereitung vor der psychologi-
die Bewegungsvorbereitung eingebunden sind. schen erfolge. Er konnte sich nicht vorstellen,

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12.6.  Bewegungsvorbereitung und Willenshandlungen 405

dass der Wille, eine einfache Handbewegung Wie in den klassischen Experimenten zum
zu starten, bereits 1 s oder gelegentlich auch Bereitschaftspotenzial waren die Versuchsper-
1,5 s vor der Bewegung präsent ist. Um dies sonen angehalten, einfache Fingerbewegun-
genauer zu untersuchen, gestaltete er ein be- gen auszuführen. Sie konnten den Zeitpunkt
rühmt gewordenes Experiment, das im Fol- der Bewegung selbst wählen, waren allerdings
genden wiedergegeben wird (Abb. 12-15). instruiert, zwischen den einzelnen Finger-

1. Zeigerposition 2. Zeigerposition im 3. Bewegungs- 4. Bericht der Zeiger-


beobachten Moment der be- ausführung position im Moment
wussten Absicht (Knopfdruck) der bewussten
merken Absicht

55 60 5 5560 5
50 10 50 10
45 45
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15 15
40 20 40 20
353025 353025

Bereitschaftspotenzial (RP) für Cz-fixierte und freie Antwortbedingung


–10 µV
fixierte Antwortbedingung
freie Antwortbedingung

bewusste Wahrnehmung
des Bewegungsbeginns
RP Amplitude

1 µV –2 000 –1 500 –1 000 –500 +400 ms

Knopfdruck

Abbildung 12-15: Das Libet-Experiment mit einem typischen Ergebnis. In der oberen Bilderreihe ist der
Ablauf des typischen Libet-Experiments schematisch dargestellt. Im Prinzip muss sich die Versuchs-
person während des Tastendrucks die Zeigerposition einer vor ihr angebrachten Uhr merken und diese
Position dem Versuchsleiter mitteilen (nach Haggard, 2008). Im unteren Bild ist ein typisches Bereit-
schaftspotenzial dargestellt. Als Senkrechten sind die Zeitpunkte des Tastendrucks und des subjektiv
empfundenen freien Willens, die Taste zu drücken, eingezeichnet. Man erkennt, dass die bewusste Wahr-
nehmung des Wunsches, die Bewegung auszuführen, ca. 300 ms vor Bewegungsbeginn auftritt. (Nach-
gezeichnet nach Haggard, 2008)

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406 12.  Motorische Kontrolle

bewegungen ca. 4–10 s verstreichen zu lassen. Impuls zur Bewegung verspürten. Insofern
Gleichzeitig sollten die Probanden eine vor mussten die Versuchspersonen viele psy-
ihnen angebrachte große Uhr betrachten und chische Funktionen anwenden, um diese Auf-
sich die Zeigerstellung zu dem Zeitpunkt mer- gabe zu meistern (Aufmerksamkeit, Arbeits-
ken, da sie den Impuls zur erneuten Finger- gedächtnis etc.). Des Weiteren mussten zur
bewegung spürten. Diesen Zeitpunkt sollten Berechnung der Bereitschaftspotenziale die
sie nach der Bewegung dem Versuchsleiter einfachen Bewegungen wiederholt durch-
mitteilen. Während des gesamten Versuchs- geführt werden. Insofern ist es durchaus mög-
ablaufs wurde das EEG gemessen. lich, dass die Bereitschaftspotenziale nicht die
Libet erfasste folgende Messwerte: das Be- willentliche Vorbereitung der Fingerbewegung
reitschaftspotenzial, den Beginn der Finger- repräsentierten, sondern eher die neuronalen
bewegung und den Zeitpunkt, an dem die Aktivitäten, die mit der Vorhersage immer
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Versuchsperson den Wunsch verspürte, die wiederkehrender einfacher Bewegungen zu-


Fingerbewegung durchzuführen. Er stellte sammenhängen. Um Aussagen über die Wirk-
fest, dass die Versuchspersonen ca. 300 ms vor samkeit und Bedeutung des freien Willens als
dem Bewegungsbeginn den Impuls zur Bewe- bewegungssteuerndes Element treffen zu
gung spürten. Das bedeutete allerdings, dass können, müssten komplexere Bewegungen
mindestens 700 ms vor dem Impuls die moto- untersucht werden. Nicht nur komplexere Be-
rischen Areale aktiv waren, um die Bewegung wegungen wären in diesem Zusammenhang
vorzubereiten. Daraus leitete er ab, dass der interessant, sondern auch Bewegungen, die
freie Wille für die Bewegungsvorbereitung wichtige und weitreichende Konsequenzen
mehr oder weniger unbedeutend sei, denn das haben. Denn insbesondere in Situationen, in
„Gehirn“ würde unbewusst die Bewegungen denen unsere Handlungen mit bedeutenden
vorbereiten, ohne dass der freie Wille auf diese Konsequenzen verbunden sind, müssen kogni-
Vorbereitung Einfluss nehmen könne. Dieses tive Kontrollprozesse regulierend eingreifen.
Experiment und seine Interpretation sind Ge- Insofern werden das Libet-Experiment und
genstand vielfältiger und weitreichender Dis- die damit zusammenhängenden Interpretatio-
kussionen über den freien Willen. Viele zeitge- nen zunehmend infrage gestellt.
nössische Hirnforscher leiten aus diesen Neuere Experimente am offengelegten
Befunden ab, dass der Mensch über keinen Gehirn von Patienten, die eine neurochirurgi-
freien Willen verfüge und dass demzufolge der sche Operation erwarteten, belegen, dass der
freie Wille als psychischer Mechanismus zur Wunsch, eine Bewegung durchzuführen (urge
Verhaltenssteuerung eine reine Illusion sei to move), mit neurophysiologischen Aktivie-
(Walter, 2004). rungen im unteren Teil des Parietallappens
Bei der Bewertung der oben dargestellten assoziiert ist (Desmurget et al., 2009; Abb. 12-
Befunde darf nicht außer Acht gelassen wer- 16). Interessant ist, dass dieses spezifische Ak-
den, dass das klassische Experiment von Libet tivitätsmuster im Parietallappen nicht mit
Mängel aufweist, welche die weitreichenden gleichzeitiger Aktivität in den Gliedmaßen
Interpretationen eigentlich unmöglich ma- assoziiert ist, die man wünscht zu bewegen.
chen. Die Versuchspersonen mussten im Daraus ließe sich ableiten, dass der untere
Grunde eine Doppeltätigkeitsaufgabe durch- Parietallappen den Wunsch, eine Bewegung
führen, denn sie waren instruiert, gleichzeitig durchzuführen, neuronal codiert.
mit der Bewegungsvorbereitung auch eine Uhr Im Zusammenhang mit dieser Diskussion
zu betrachten und sich die Zeigerposition zu muss der freie Wille vom Bewusstwerden mo-
merken, die sie gesehen hatten, als sie den torischer Handlungen unterschieden werden.

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12.6.  Bewegungsvorbereitung und Willenshandlungen 407

SMA Parietal-
pre-SMA Prämotor- M1 kortex
M1 S1
kortex
intrapa-
Präfrontal- rietaler
kortex Sulcus
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Basalganglien

Abbildung 12-16: Zusammenfassung der Ergebnisse von Desmurget et al. (2008). Im Parietallappen soll
der „Wunsch“, eine Bewegung durchzuführen, codiert sein. Dieser „Wunsch“ wird in den lateralen Prä-
motorkortex übertragen und löst dort die motorischen Kommandos aus.

Es ist vorstellbar, dass sogar Willenshandlun- Zusammenhang steht auch das Ziel, das mit
gen mehr oder weniger unbewusst ablaufen der spezifischen Bewegung erreicht werden
können. Im Hinblick auf das Bewusstwer- soll (Zielauswahl). Dies hat etwas mit Planen
den von Handlungen kann ein Kontinuum und der Zukunftsorientierung zu tun. Pla-
angenommen werden, das sich zwischen Re­ nungsprozesse werden vorwiegend von Hirn-
flexen und Willenshandlungen erstreckt strukturen im frontopolaren Kortex kontrol-
(Abb. 12-17). Reflexe, die ausschließlich reiz- liert. Hat man sich für ein bestimmtes Ziel
getrieben sind, laufen ab, ohne dass sie be- entschieden, muss geklärt werden, mit wel-
wusst werden. Willenshandlungen, die auf der chen spezifischen Bewegungen dieses Ziel er-
anderen Seite dieses Kontinuums angesiedelt reicht werden soll.
und vorwiegend reizunabhängig sind, laufen Im nächsten Schritt muss die spezifische
vorwiegend bewusst ab. Allerdings ist es mög- Aufgabe oder das spezifische Teilziel aus-
lich, dass sich Teile der Willenshandlung oder gewählt werden (Teilzielauswahl). In der Regel
gar die gesamte Willenshandlung unbewusst
entfalten.
Kontinuum
Die psychischen Prozesse, die sich bei Wil-
lenshandlungen entfalten, sind als serielle Ab-
folge von Teilprozessen vorstellbar (Abb. 12-
18). Am Beginn der Willenshandlung findet
Reflex Willenshandlung
sich die Motivation für eine bestimmte Hand-
reiz-
lung. Mit anderen Worten geht es hier um die reiz-
getrieben unabhängig
Frage, ob man eine bestimmte Bewegung aus-
führen soll, und wenn man sie ausführt, wa- Abbildung 12-17: Kontinuum zwischen Reflex
rum man diese Bewegung ausführt? In diesem und Willenshandlung.

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408 12.  Motorische Kontrolle

Modell der Willenshandlung


Handlungs-
ausführung
späte Entscheidung
«Veto»

letzte Überprüfung
der Folgen
(Vorwärtsmodell)

g?
idun
he Handlungs-
sc
Ent auswahl
lche
We
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Aufgaben-
auswahl

frühe
Entscheidung
Motivation, externe Umgebungs-
Begründung für bedingungen
Handlung

Abbildung 12-18: Ablauf der Willenshandlung. (Nachgezeichnet nach Haggard, 2008)

wird das Hauptziel durch Realisierung ver- handengekommen. Die von den Patienten aus-
schiedener Teilziele erreicht, die seriell an- gelösten Bewegungen und Handlungsfolgen
geordnet werden müssen. Die Auswahl des können selbst für die Patienten peinlich wer-
aktuellen Teilziels ist nicht unproblematisch den (in der Literatur ist z. B. ein Fall von un-
und erfordert die Hemmung anderer Teilziele, willentlicher Masturbation verbürgt; Bejot et
damit sich das wichtige und im Moment effi- al., 2008).
zientere Teilziel entfalten kann. Patienten mit Hat die Teilzielauswahl stattgefunden,
Läsionen im lateralen Frontalkortex und in der muss im nächsten Schritt aus dem Repertoire
pre-SMA haben mit der Auswahl von Teilzie- aller verfügbaren Bewegungen die jeweils
len Schwierigkeiten. Ein typisches Beispiel ist adäquate ausgewählt werden (Bewegungs-
die Magnetapraxie, die bei Patienten mit den auswahl). Aufgrund von bildgebenden Un-
oben beschriebenen Läsionen häufig fest- tersuchungen ist bekannt, dass für die Bewe-
gestellt werden kann. Diese Patienten greifen gungsauswahl ein frontoparietales Netzwerk
wahllos nach allen sich in ihrem Sehfeld an- verantwortlich ist. Im Parietallappen werden
bietenden Objekten. Sie können nicht mehr die sensorischen Ziele, die mit den Bewegun-
selbstkontrolliert auswählen; sie sind reizge- gen erreicht werden sollen, berechnet und
trieben. Ein anderes Beispiel ist das sogenannte mental repräsentiert. Wahrscheinlich werden
Alien-Hand-Syndrom. Sofern Patienten mit hier auch einige der Berechnungen durchge­
diesem Syndrom nur Frontalkortexläsionen führt, die oben als invertierte Transforma­
haben, führen sie Handlungen aus, die sie ei- tion bezeichnet wurden. Das bedeutet, es
gentlich gar nicht ausführen wollen. Ihnen ist werden aus den vorgestellten sensorischen
quasi ihr eigener Wille als verhaltenssteuern- Zielen die notwendigen motorischen Kom-
des Element durch die Frontalkortexläsion ab- mandos erschlossen, mit denen diese sensori-

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12.7. Bewegungslernen 409

schen Ziele erreicht werden können. Auch die handlungen ist bislang ausgespart worden: die
Berechnung von Soll-Ist-Differenzen erfolgt Einflüsse aus der Umwelt. Aus der Umwelt
im Wesentlichen im Parietallappen. Ein weite- erreichen den Organismus Reize und Anreize,
res Problem, das gelöst werden muss, ist die bestimmte Bewegungen in Betracht zu ziehen
Festlegung, dass die handelnde Person als der und sie auszuführen. Insofern haben wir es
Verursacher der Handlung angesehen wird hier mit einem typischen sensomotorischen
(Ich als Agent). Wir wissen, dass insbesondere Handlungskreislauf zu tun, wobei die Bewe-
Läsionen im unteren Teil des Parietallappens gung dazu dient, dem Organismus bestimmte
dazu führen können, dass diese Ursachen- sensorische Eindrücke zu vermitteln.
zuschreibung nicht mehr angemessen funk-
tioniert. Das kann z. B. zu einer weiteren Vari-
ante des Alien-Hand-Syndroms führen, bei der 12.7. Bewegungslernen
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Bewegungen, aber auch Körperteile nicht als


zur Person gehörend wahrgenommen werden. Jeder, der Sport treibt oder ein Musikinstru-
Die unter dem Alien-Hand-Syndrom leidende ment spielt, weiß, dass stetes Üben die Bewe-
Person kann dann den Eindruck entwickeln, gungen verbessert. Aber was verbessern wir,
dass beim Schreiben auf einer Computertas- wenn wir üben? Aus den vorangegangenen
tatur mehrere Hände neben der eigenen ar- Kapiteln sollte deutlich geworden sein, was wir
beiten. Auch durch elektrische Stimulation des beim Üben von Bewegungen konkret verbes-
unteren Teils des Parietallappens (Gyrus angu- sern:
laris) am offengelegten Gehirn kann das Ge- • motorischen Programme
fühl evoziert werden, dass der so stimulierte • Parameter für die motorischen Programme
Patient seinen Körper verlässt und durch den • Repräsentation der Bewegungsziele
Raum schwebt, also eine Dissoziation des • verschiedene motorische Transformations-
wahrgenommenen Körpers von dem, was eine schritte
Person sich selbst zuschreibt, stattfindet. • inverse Transformation.
Sind alle Vorbereitungsschritte absolviert,
besteht immer noch die Möglichkeit, die vor- Im Verlauf des motorischen Lernens werden
bereitete Bewegung nicht auszuführen. Dieses verschiedene Phasen durchlaufen. Zu Beginn
Phänomen wird in der Literatur als Veto-Mög­ (kognitive Phase) sind uns die zu lernenden
lichkeit bezeichnet. Anhand bildgebender Bewegungen häufig bewusst. Wir können sie
Arbeiten weiß man, dass diese Veto-Funktion explizit beschreiben, aber nicht notwendiger-
über frontomediale Hirngebiete vermittelt weise auch gut ausführen. Diese Phase ist je-
wird. dem bekannt, der eine neue Sportart erlernt.
Am Ende dieser Kette von psychischen Der Trainer erklärt die entsprechenden Bewe-
Funktionen befindet sich die Auslösung der gungen und der Lernende kann sie auch verbal
Bewegung. Sie erfolgt über den primären Mo- nachvollziehen. Nur gelingt es ihm in der Re-
torkortex und führt dazu, dass die Gliedmaßen gel nicht, die Bewegung auch korrekt aus-
angemessen angesteuert werden (Bewegungs- zuführen. Nur durch intensives Üben kann der
auslösung). Lernende die nächste Phase des motorischen
Im Verlauf der Vorbereitung von Willens- Lernens erreichen, die als assoziative Phase
handlungen sind unterschiedliche Zustände bezeichnet wird. In dieser Phase gelingen die
zu identifizieren, in denen Willensentschei- motorischen Aktionen schon deutlich besser.
dungen wirksam werden können. Ein wichti- Während des Durchführens sind dem Ler-
ger Aspekt bei der Vorbereitung von Willens- nenden aber noch die expliziten Bewegungs-

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410 12.  Motorische Kontrolle

beschreibungen präsent. Das bedeutet, der Phase werden vornehmlich interne Kontroll­
Lernende kann die Bewegungen benennen mechanismen genutzt, was dazu führt, dass
und auch gut verbal beschreiben. Erst durch die Bewegungskontrolle unabhängiger von
weiteres Üben wird die automatische Phase externen Reizen wird. Typische Hirngebiete in
erreicht. In dieser Phase werden die Bewegun- der automatischen Phase sind:
gen automatisch durchgeführt, ohne dass der • primärer motorischer Kortex (M1)
Akteur in der Lage ist, sie explizit zu beschrei- • dorsaler Prämotorkortex (dPMC)
ben. Dieses Phänomen zeigt sich eindrücklich • ventraler Prämotorkortex (vPMC)
bei Profisportlern, die große Probleme haben, • supplementärmotorisches Areal (SMA)
ihre besonderen motorischen Tätigkeiten ver- • Basalganglien
bal zu beschreiben; sie können sie einfach. • Kleinhirn.
Hierbei kommt zum Ausdruck, dass die moto-
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rischen Programme prozeduralisiert sind und Im Rahmen der internen Kontrolle wird
ohne Rückgriff auf bewusste Kontrollprozesse wahrscheinlich verstärkt auf fest etablierte
ablaufen. Für die motorische Kontrolle ist dies Transformationsalgorithmen zurückgegriffen
der optimale Lernzustand. (Abb. 12-19). Dadurch ist es möglich, bekann­­
In diesen drei Phasen sind jeweils spezi- te inverse Transformationen zu verwenden
fische Hirngebiete an der motorischen Kon- und die motorische Kontrolle im Sinne ei-
trolle beteiligt. In der kognitiven Phase ist ein nes Steuerungsprozesses (also ohne Einfluss
ausgedehntes Netzwerk an der motorischen durch externe Rückmeldungen; feedforward)
Kontrolle beteiligt. Dieses Netzwerk umfasst ablaufen zu lassen.
je nach Komplexität der motorischen Hand- Durch diesen Kontrollmodus ist das Gehirn
lung folgende Hirngebiete: in der Lage, schnell und automatisch Fehler zu
• primärer motorischer Kortex (M1) korrigieren. Gleichzeitig wird der Kortex von
• Lobulus parietalis superior (SPL) zeitraubenden Berechnungen „befreit“ und
• Lobulus parietalis inferior (IPL) kann sich auf andere Analysen konzentrieren.
• dorsaler Prämotorkortex (dPMC) Die Basalganglien und v. a. das Kleinhirn über-
• dorsolateraler Präfrontalkortex (DLPFC) nehmen bei geübten Bewegungen viele Be-
• ventrolateraler Präfrontalkortex (VLPFC) rechnungen, die parallel zur Kontrolle von
• mesiale prämotorische Areale (SMA, pre- Willenshandlungen ablaufen. So kann z. B. das
SMA, CMA). Kleinhirn Reiz-Reaktions-Assoziationen er-
mitteln und für die motorische Kontrolle zur
In der assoziativen Phase sind im Wesentli- Verfügung stellen.
chen die gleichen Hirngebiete aktiv wie in der Dass das Kleinhirn gerade für solche Reiz-
kognitiven Phase, jedoch mit geringerer In- Reaktions-Assoziationen spezialisiert ist, kann
tensität und geringerer räumlicher Ausbrei- anhand von Prismenexperimenten nach-
tung. Wird die automatische Phase erreicht, gewiesen werden. Lässt man eine Versuchs-
verändert sich das Aktivierungsmuster wäh- person mit einem Pfeil auf eine Scheibe wer-
rend der Bewegungsdurchführung erheblich. fen (beim Dartspiel), wird sie mehr oder
Kortikal sind die Aktivierungen bei der Kon- weniger gut die Pfeile um den zentralen Ziel-
trolle gelernter Bewegungen deutlich redu- punkt herum platzieren. Trägt sie allerdings
ziert und konzentrieren sich im Wesentlichen eine Prismenbrille, die ihren Geradeausblick
auf den primären Motorkortex, den dorsalen um ca. 20° nach links versetzt, wird sie zu Be-
und zentralen Prämotorkortex, das SMA, die ginn diese Pfeile ca. 20° nach rechts positio-
Basalganglien und das Kleinhirn. In dieser nieren. Nach einer Reihe von Durchgängen

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12.8.  Bewegung, Vorstellung und Sprache 411

Externe Schleife Interne Schleife


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Abbildung 12-19: Veränderung von externer zu interner Kontrolle beim Lernen motorischer Abläufe. Je
besser eine Bewegung beherrscht wird, desto weniger wird der laterale Prämotorkortex und der laterale
Parietallappen in die motorische Kontrolle eingebunden. Vor allem die SMA und die Basalganglien über-
nehmen dann als interne Schleife die motorische Kontrolle.

passt sich das Gehirn an diese veränderte Reiz- wegungen, die unter Einbezug des SMA, des
Reaktions-Beziehung an. Der Versuchsperson Cingulums, der Basalganglien und des Klein-
gelingt es dann recht genau, das Ziel zu tref- hirns erfolgen.
fen. Wird die Prismenbrille wieder abgenom-
men, lässt sich ein Nacheffekt feststellen. Die
Versuchsperson trifft nicht das Ziel, sondern 12.8. Bewegung, Vorstellung
platziert die Pfeile zunächst etwas nach links und Sprache
versetzt. Es dauert eine Weile, bis sie sich an
die neue Situation gewöhnt hat und wiederum Aufgrund der Tatsache, dass die neuronalen
mehr oder weniger genau den zentralen Ziel- Netzwerke, die in die Kontrolle der Sprache
punkt trifft. Patienten, die unter einer Klein- und der Feinmotorik eingebunden sind, vor-
hirnläsion leiden, können sich nicht an die wiegend auf einer Hemisphäre  – meist der
durch die Prismenbrille veränderte Blickrich- linken – lokalisiert sind, wurden häufig funk-
tung anpassen. Sie platzieren, die Prismen- tionelle Zusammenhänge zwischen diesen
brille tragend, die Pfeile konsistent nach rechts Funktionen vorgeschlagen. Im Rahmen einer
um ca. 20° versetzt. Nehmen sie die Prismen- Hypothese wird davon ausgegangen, dass die
brille wieder ab, kann bei ihnen kein Nach- linke Hemisphäre im Wesentlichen für die
effekt festgestellt werden. Sie positionieren Kontrolle von sequenziellen Bewegungen spe-
die Pfeile um den zentralen Zielpunkt herum zialisiert ist. Ohne Frage müssen beim Spre-
(Abb. 12-20). chen vielfältige sequenzielle Operationen er-
Andere Beispiele für durch motorisches folgen, bevor das akustische Sprechereignis
Lernen etablierte automatische Kontroll­ beim Zuhörer verständlich ankommt. Zu-
prozesse sind bei professionellen Pianisten nächst muss der Gedanke, der wahrscheinlich
festzustellen. Bei ihnen führen kleine Abwei- in paralleler Form (z. B. als Schema) vorliegt, in
chungen der Fingerbewegungen auf der Kla- eine serielle Ordnung gewandelt werden (Pa­
viertastatur zu automatischen Korrekturbe- rallel-Serien-Wandlung). Die daraus resul-

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412 12.  Motorische Kontrolle

Ablauf:

gesunde Person
40
erste mit nach Entfernung
Pfeilwürfe Prismenbrille der Prismenbrille

nach rechts
20

Abweichung vom Zielpunkt


0

–20

–40

nach links
Person wirft einen
Dartpfeil zum
Zielpunkt –60
Prismen-
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brille –80
Versuche

Person trägt Prismen– Patient mit Kleinhirnschädigung


brille, die das
40
Blickfeld verzerrt erste mit nach Entfernung
Pfeilwürfe Prismenbrille der Prismenbrille
nach rechts

20
Abweichung vom Zielpunkt

–20

–40
nach links

–60

die Prismenbrille –80


wird der Person Versuche
wieder entfernt

Abbildung 12-20: Prismenbrillenversuch bei gesunden Personen und Kleinhirnpatienten (Nachgezeich-


net nach Thach et al., 1992).

tierenden sequenziell geordneten Elemente der sequenziellen Ordnung treten v. a. dann
müssen dann durch sehr präzise aufeinander auf, wenn die für diesen Prozess verantwort-
abgestimmte motorische Realisationen zu lichen Hirngebiete Läsionen aufweisen (z. B.
verständlichen Phonemen geformt werden. im Zuge einer Broca-Aphasie).
Hierbei ist die präzise zeitliche Ordnung und Läsionen der linken Hemisphäre im Be-
das Einhalten von bestimmten Zeitintervallen reich der prämotorischen Areale führen auch
wichtig, damit der Empfänger verstehen kann, zu Störungen sequenzieller Bewegungen, die
was der Sprecher übermitteln will. Probleme nicht direkt mit linguistischen Funktionen in

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12.8.  Bewegung, Vorstellung und Sprache 413

Zusammenhang zu bringen sind. Diese als funktionaler Zusammenhang zwischen se-


Apraxien bekannten motorischen Störungen quenziellen Bewegungen und der Sprache
betreffen nicht eine einzelne Hand oder ein bzw. dem Sprechen nicht unwahrscheinlich ist.
einzelnes Bein, sondern wirken sich gleicher- Neuere Arbeiten unter Verwendung bild-
maßen auf die Gliedmaßen beider Körpersei- gebender Verfahren belegen, dass der links-
ten aus. Bewegungen des Mundes und des Ge- seitige ventrale prämotorische Kortex, der
sichts scheinen auch verstärkt von einer stark mit dem Broca-Areal überlappt, bei der
Hemisphäre – meist der linken – kontrolliert zu Vorstellung und Vorbereitung sowie bei der
werden. Diese Befunde betonen die Bedeu- Imitation von bedeutsamen Bewegungen stark
tung der linken Hemisphäre für die Kontrolle aktiviert ist.
von sequenziellen Bewegungen. Wie gezeigt, sind mit motorischen Prozes-
Eine der bekanntesten Hypothesen, die ei- sen auch typische psychische Prozesse wie
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nen Zusammenhang zwischen motorischen Aufmerksamkeit und Gedächtnis verknüpft.


und sprachlichen Funktionen nahelegt, ist von Nirgendwo wird die innere Bedingtheit und
Michael Corballis (2002) formuliert worden. Abhängigkeit der Bewegungssteuerung je-
Hiernach soll die linke Hemisphäre über ein doch deutlicher als in Situationen, in denen
spezielles Modul für die Kontrolle von se- der Mensch sich nicht bewegt, aber darüber
quenziellen Abfolgen verfügen (Generative nachdenkt oder sich vorstellt, sich zu bewegen.
assembly device, GAD; Abb. 12-21), das kom- Mittlerweile sind einige Arbeiten publiziert
plexe Sequenzen aus einer beschränkten worden, welche die kortikalen Aktivierungen
Anzahl von einfachen Elementen generieren im Zusammenhang mit Bewegungsvorstel-
kann. Corballis vermutet, dass die Funktionen lungen ohne explizite Bewegung untersucht
dieses Moduls auch für andere Leistungen der haben (mentales Vorstellen). Diese Arbeiten
linken Hemisphäre verfügbar sind. Hierbei konnten belegen, dass fast alle motorischen
geht Corballis davon aus, dass im Zuge der Areale auch bei der mentalen Vorstellung
menschlichen Phylogenese auch die neurona- von Bewegungen aktiviert sind, meistens
len Netzwerke, die für die Kontrolle der Hand- jedoch weniger intensiv als beim tatsäch-
und Armfunktionen spezialisiert sind, von lichen Durchführen der Bewegung. Während
diesem Modul Gebrauch machen können. Da- in der Anfangszeit der Erforschung dieser
mit könne der Mensch wegen des aufrechten Prozesse postuliert wurde, dass beim Vorstel-
Gangs seine Hände für andere Zwecke als die len von Bewegungen insbesondere der pri-
Lokomotion einsetzen. märe motorische Kortex inaktiv bleiben
Andere Hypothesen gehen davon aus, dass würde, stellen neuere Arbeiten auch in diesem
die Sprachlateralisierung eine direkte Folge Areal kortikale Aktivierungen fest, die allein
der motorischen Spezialisierung ist (Kimura, durch die Vorstellung, sich zu bewegen, her-
1980). Durch die zunehmende Spezialisierung vorgerufen werden.
für feinmotorische Tätigkeiten sollen sich spe- Offenbar kann das Gehirn, ohne direkt ex-
zialisierte Strukturen vorwiegend auf der lin- terne Reize wahrzunehmen, Vorstellungsbil-
ken Hemisphäre entwickelt haben, die dann der abrufen, wobei der Abruf in der Regel
auch – zumindest teilweise – für die phylogene- durch jene Hirngebiete kontrolliert wird, die
tische Sprachentwicklung verwendet wurden. auch bei der tatsächlichen Verarbeitung dieser
Welche dieser Hypothesen letztlich den größ- Reize eingebunden sind. Ähnlich ist es beim
ten Erklärungswert haben wird, wird vielleicht Vorstellen von Bewegungen. Bezzola und Kol-
nicht eindeutig feststellbar sein. Für dieses legen haben Golfneulinge untersucht und sie
Kapitel ist lediglich von Bedeutung, dass ein gebeten, sich einen Golfschwung vor und nach

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414 12.  Motorische Kontrolle

Motor

GAD

Sprache

Wörter Aktionseinheiten
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Ball,
Junge,
Mädchen,
werfen,
etc.

GAD GAD

Der Junge
warf
den Ball
zum Mädchen.

Abbildung 12-21: Generative assembly device (GAD) nach Michael Corballis (2002). Das GAD soll ein
Hirngebiet sein, das zwischen den Motorarealen und dem Broca-Areal liegt. Es soll für die sequenzielle
Ordnung von motorischen Aktionen spezialisiert sein.

einem 40 Stunden dauernden Golftraining caudatus aktiv. Nach dem Training hat sich die
vorzustellen (Bezzola et al., 2012). Während Aktivität im Prämotorkortex verringert. Es
des Vorstellens der Golfschwünge wurden die sind also während des Vorstellens des Golf-
Durchblutungsveränderungen im Gehirn ge- schwungs jene Hirngebiete aktiv, die wahr-
messen und zwei wesentliche Befunde er- scheinlich beim Ausführen eines „echten“
hoben: Während des Vorstellens des Golf- Golfschwungs aktiv wären. Des Weiteren sind
schwungs sind der Prämotorkortex, der im Prämotorkortex nach dem Training gerin-
superiore Parietallappen und der Nucleus gere Aktivierungen festzustellen, was auch

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12.9.  Störungen der Motorik 415

beim realen Durchführen der Bewegung zu A)


erwarten wäre (Abb. 12-22). 2
1 3
Durch die interne Aktivierung der motori-
schen Areale werden „Bewegungskorrelate“ 4 5

erzeugt, die auch beim Durchführen der tat-


sächlichen Bewegung auftreten. In gewisser
Weise könnten diese Befunde mit den Über-
legungen zum (erweiterten) Reafferenzprin- B)

zip in Verbindung gebracht werden. Im Rah- 2.50


men dieses Modells wird davon ausgegangen,
dass von jeder Efferenz eine Efferenzkopie

geschätzte Differenzen (T1–T2)


2.00
angefertigt wird, die dann zu einem speziellen
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Element, dem Korrelationsspeicher, weiterge- 1.50


leitet wird. Anhand der Efferenzkopie und der
im Korrelationsspeicher abgelegten Informa- 1.00
tionen kann das System dann die erwarteten
Afferenzen vorhersagen. Der Korrelations- 0.50
speicher kann auch umgekehrt betrieben wer-
den, indem das System mental vorgestellte Af- 0.00

ferenzen dem Korrelationsspeicher zuführt,


–0.50
der dann jene Efferenzen schätzt, die am 1: dPMC 2: LPs 3: rPMC 4+5: lvPMC
besten geeignet sind, um die vorgestellten + rvPMC
Afferenzen zu erreichen. Diese geschätzten dPMC = dorsaler Prämotorkortex, PMC = Prämotorkortex
Afferenzen und Efferenzen müssen neuro- LPs = Lobulus Parietalis superior, r = rechts, l = links

physiologisch repräsentiert sein. Eine Mög- Abbildung 12-22: (A) Hirngebiete, die beim men-
lichkeit besteht darin, dass sie in jenen Hirn- talen Vorstellen eines Golfschwungs aktiv waren.
bereichen repräsentiert sind, die sie auch (B) Aktivierungsveränderungen im Prämotorkor-
verarbeiten, wenn diese Afferenzen und Effe- tex als Folge eines 40 Stunden dauernden Golf-
renzen explizit vorliegen. Insofern müssten trainings. Aktivitätsreduktionen bei Golfnovizen,
beim Vorstellen von Bewegungen, je nach- die am Golftraining teilgenommen hatten (dunkle
dem, was man sich vorstellt (die Afferenz oder Balken), und Aktivitätsreduktionen bei Golfno-
die Efferenz), entsprechende kortikale Akti- vizen, die nicht am Golftraining teilgenommen
hatten (helle Balken).
vierungen feststellbar sein.

Degeneration der dopaminergen Neurone in


12.9. Störungen der Motorik der Substantia nigra zugrunde. Im fortgeschrit-
tenen Stadium der Erkrankung sind die dopa-
Es gibt sehr viele Varianten motorischer Stö- minergen Neurone in der Substantia nigra fast
rungen. Im Rahmen dieses Lehrbuchs kann vollständig verschwunden. Als Folge dieser
nicht auf jede einzelne eingegangen werden. Degeneration sinkt die Dopaminkonzentra-
Es werden einige Störungen hervorgehoben, tion im Striatum auf bis zu 10 % der Normal-
die im Zusammenhang mit den bislang dar- konzentration. Die Patienten zeigen die Kar-
gestellten Funktionen interessant sind. dinalsymptome Rigor, Tremor und Akinese.
Der Morbus Parkinson ist die wichtigste Die Akinese ist durch eine Unfähigkeit oder
Erkrankung der Basalganglien. Ihr liegt eine Schwierigkeit des Startens und Beendens von

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416 12.  Motorische Kontrolle

Bewegungen gekennzeichnet. Der Rigor ist werden, einen Brief in einen Briefkastenschlitz
eine Muskelstarre, die sich durch eine gestörte einzuwerfen. Ihnen gelingt es nicht auf An-
Synchronisation zwischen der Muskelaktivität hieb, den Brief in einer horizontalen Position
von Agonisten und Antagonisten ergibt. Der zum Briefkastenschlitz zu führen. Sie müssen
Tremor ist ein Muskelzittern, das auch in Ruhe durch Probieren herausfinden, in welcher Po-
auftritt. Die Gabe von L-Dopa, dem Vorläufer sition der Brief durch den Schlitz passt.
von Dopamin, kann die motorischen Symp- Unter dem Begriff der Apraxie werden ver-
tome deutlich verringern. schiedene motorische Störungen zusammen-
Eine weitere Basalganglienstörung mit gefasst. Es handelt sich um Störungen der Aus-
dramatischen Folgen für die Motorik ist die führung willkürlicher zielgerichteter und
Chorea Huntington, die autosomal-domi- geordneter Bewegungen bei ansonsten intak-
nant vererbt wird. Neben der Demenz tre- ter motorischer Funktion. Eine Lähmung oder
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ten choreatische Bewegungen auf, d. h. plötz- Ataxie besteht nicht und unwillkürliche Bewe-
lich einsetzende, unwillkürliche Bewegungen gungen können koordiniert ausgeführt wer-
verschiedener Glieder, durch die initiierte den. Betroffen sind die Mimik (Apraxie des
Willkürbewegungen unterbrochen werden. Gesichts), das Sprechen (Apraxie der Sprech-
Die Patienten versuchen gelegentlich, die cho- werkzeuge), die Gestik und/oder der Gebrauch
reatischen Bewegungen zu verbergen, indem von Werkzeugen (Extremitätenapraxie). Die
sie diese in willkürliche Bewegungsabläufe Ursache für dieses Störungsbild sind Hirn-
einbauen. Im fortgeschrittenen Stadium sind schädigungen meist der sprachdominanten
die Muskelbewegungen jedoch nicht mehr Großhirnhälfte (bei 95 % der Rechtshänder
kontrollierbar. Letztlich kommt es bei dieser und 70 % der Linkshänder ist dies jeweils die
Erkrankung zum plötzlichen Grimassieren linke Hirnhälfte). Neurologische Ursachen
und zu schleudernden Bewegungen von Ar- dieser Läsionen sind Schlaganfälle, Demenz-
men und Beinen. Bei diesen Patienten findet erkrankungen, Tumore, Hirnhautentzündun-
sich ein starker Verlust GABAerger Neurone gen oder andere neurologische Beeinträchti-
im Striatum. Dieser Mangel soll der Grund für gungen der sprachdominanten Hemisphäre.
den Ausfall der direkten Inhibition des Globus Der deutsche Neurologe und Psychiater
pallidus und der Substantia nigra sein. Hugo Liepmann (Goldenberg, 2003) hat die
Die optische Ataxie ist eine motorische Apraxie zuerst beschrieben und sie in drei Un-
Störung, die im Zusammenhang mit dem Bá- terformen eingeteilt: die ideomotorische, die
lint-Holmes-Syndrom auftritt. Die optische ideatorische und die visuell-konstruktive
Ataxie ist die Unfähigkeit, zielgerichtete Apraxie. Heute wird vorwiegend die Klassi-
Hand- bzw. Greifbewegungen unter Kontrolle fikation von Kenneth Heilman oder Georg
durch die Augen durchzuführen. Sie tritt auf, Goldenberg verwendet. Heilman (Heilman &
wenn bilaterale parietookzipitale Läsionen Valenstein, 2003) hat die Einteilung von Liep-
unter Einschluss des Gyrus supramarginalis mann um weitere Unterformen ergänzt und
und des Gyrus angularis vorliegen. Die Seh- präzisiert. Er unterscheidet sechs Apraxien
rinde ist dagegen nicht betroffen. Die Patien- (Tab. 12-1):
ten können ihre Greifbewegungen nicht mehr 1. anteriore ideomotorische Apraxie
mit den visuellen Informationen koordinieren, 2. posteriore ideomotorische Apraxie
wahrscheinlich, weil die visuell-motorische 3. Leitungsapraxie
Transformation nicht mehr möglich ist. Diese 4. Disassoziationsapraxie
visuell-motorische Problematik kann demons- 5. ideatorische Apraxie
triert werden, wenn die Patienten aufgefordert 6. konzeptuelle Apraxie.

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12.9.  Störungen der Motorik 417

Tabelle 12-1: Fehlermuster bei den unterschiedlichen Apraxien nach Heilman & Valenstein (2003).

Syndrom Gesten Verständnis Imitation Serien Werkzeug


ant. ideomotor. +++ 0 ++ 0 0
post. ideomotor. +++ +++ ++ 0 0
Leitungsapraxie + 0 +++ 0 0
Disassoziationsapraxie +++ 0 0 0 0
ideatorische Apraxie 0 0 0 +++ 0
konzeptuelle Apraxie 0 0 0 0 +++
+++: sehr starke Beeinträchtigung, ++: starke Beeinträchtigung, +: moderate Beeinträchtigung;
0: keine Beeinträchtigung.
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Bei der anterioren ideomotorischen Apra­ chen durch einen fehlerhaften Werkzeug-
xie sind insbesondere Gesten und die Imi- gebrauch gekennzeichnet. Patienten, die un-
tation von Bewegungen gestört. Patienten mit ter dieser Apraxie leiden, können Werkzeuge
dieser Apraxie sind ungestört im Werkzeug- wie Schraubenzieher und Hammer nicht kor-
gebrauch, können serielle Handlungen durch- rekt verwenden. Alle anderen motorischen
führen und aus den Bewegungen semantische Aktionen sind dagegen unauffällig.
Bedeutungen ableiten. Die posteriore ideo­ Georg Goldenberg (2007) unterteilt die
motorische Apraxie ist durch ein ähnliches Apraxien ebenfalls nach beobachtbaren
Muster von motorischen Störungen gekenn- Symptomen. Er unterscheidet drei Symptom-
zeichnet. Zusätzlich ist das Erschließen eines gruppen:
semantischen Verständnisses aus Bewegun- • Probleme beim Imitieren von Gesten
gen nicht mehr möglich. Das bedeutet, dass • Probleme beim Ausführen bedeutungsvol-
diese Patienten Symbole aus den Gesten nicht ler Gesten
mehr erkennen können. Ein typisches Sym- • Probleme beim Gebrauch von Werkzeugen
bol ist das Victory-Zeichen, das Winston und Objekten.
Churchill auf vielen Fotos demonstrierte. Die
Leitungsapraxie ist insbesondere durch die Beim Imitieren von Gesten kommt es darauf
Schwierigkeit des Imitierens von vorgemach- an, ob die Patienten Hand- oder Fingerstellun-
ten Bewegungen gekennzeichnet. Gelegent- gen zu imitieren haben. Bei der Imitation von
lich können diese Patienten auch Gesten nicht Handstellungen wird vermehrt auf das Körper-
mehr korrekt ausführen. Bei der Disassozia­ wissen zurückgegriffen, da die Position der
tionsapraxie ist die Produktion von Gesten Hand in Relation zu unterschiedlichen Körper-
grundsätzlich gestört. Die ideatorische Apra­ teilen (z. B. Stirn, Nase, Mund, Schulter) be-
xie ist durch häufige Fehler bei seriellen stimmt werden muss. Diese Analyse wird vor-
Handlungen gekennzeichnet. Das bedeutet, nehmlich linkshemisphärisch im Parietallap-
dass diese komplexen Handlungsfolgen nicht pen vollzogen. Finger hingegen sind sich sehr
mehr korrekt ausgeführt werden können. Dies ähnlich und entsprechend steht bei der Imi-
führt dazu, dass die unter diesen Störungen tation von Fingerstellungen die visuell-räumli-
leidenden Patienten Teile der Handlungen che Analyse dieser Objekte im Vordergrund,
auslassen, sie verfälschen oder eine falsche die vornehmlich rechtshemisphärisch durch-
Reihenfolge der Handlungsfolge generieren. geführt wird. Insofern kann aus der differen-
Die konzeptuelle Apraxie ist im Wesentli- ziellen Analyse von fehlerhaften Imitationen

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418 12.  Motorische Kontrolle

der Finger- und Handstellungen auf die zu- • Jeder Transformationsschritt wird gelernt
grunde liegenden Läsionen geschlossen wer- und ständig angepasst.
den. Die Analyse bedeutungsvoller Gesten wird • Das zentrale Problem der Bewegungskon­
im Wesentlichen durch das semantische Wis- trolle ist, die motorischen Kommandos so
sen geleitet, das vorwiegend im linkshemisphä- zu bestimmen, dass nach dem Durchlaufen
rischen Parietal- und Temporallappen gespei- der motorischen Transformation die be-
chert ist. Die Kontrolle komplexer Handlungs- absichtigte Bewegung entsteht.
folgen mit Werkzeugen und anderen Objekten • Die Kontrolle der Willkürmotorik ist de-
erfordert eine dezidierte Planung der Hand- finiert als ein Prozess, bei dem ein motori-
lung, bei der das Wissen bezüglich der Werk- scher Plan in Bewegung umgesetzt wird.
zeuge und Objekte, aber auch das Wissen über Willkürmotorik unterscheidet sich von Re-
die Struktur des Körpers wichtig ist. Wissen be- flexmotorik, bei der sensorische Reize eine
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züglich der Werkzeuge und des Körpers muss definierte und nicht veränderbare Bewe-
gerade beim Werkzeuggebrauch miteinander in gungsantwort auslösen.
Verbindung gebracht werden. Dieser Zusam- • Prinzipiell können zwei motorische Kon-
menhang wurde bereits als Werkzeugtransfor- trollprozesse unterschieden werden: mo-
mation beschrieben (s. o.). Werkzeugtransfor- torische Regelung und Steuerung. Im
mationen sind hochkomplexe psychologische englischen Sprachraum werden im Zusam-
Funktionen, da kulturell erworbenes Wissen menhang mit der motorischen Kontrolle
mit Bewegungen in Verbindung gebracht wer- die Begriffe closed-loop (für Regelung)
den muss. Es bedeutet, dass gerade hier Ler- und open-loop (für Steuerung) verwendet.
nen und Erfahrung sehr wichtig sind. Genutzt werden auch die Begriffe feedfor-
ward-control (für Steuerung) oder nega-
tive feedback-control (für Regelung). Im
12.10. Zusammenfassung menschlichen Gehirn laufen beide Pro-
zesse parallel ab, sodass in den meisten
• Der Mensch ist in der Lage, Bewegungen zu Fällen die beobachtbare Bewegung immer
erfinden, die in der Natur nicht vorkommen. durch beide Kontrollmodi bestimmt wird.
Dies deutet darauf hin, dass der Mensch • Das motorische Programm ist ein Satz
sehr flexibel ist, Bewegungen zu lernen. zentraler Kommandos zur Durchführung
• Bei der Kontrolle menschlicher Bewegun- von Bewegungen. Es läuft nach Bewegungs-
gen müssen motorische Transformatio­ beginn ohne Rückgriff auf sensorische
nen durchgeführt werden. Unterschieden Rückmeldungen ab. Mögliche Fehler in der
werden die neuromuskuläre Transforma- Bewegungsausführung können frühestens
tion, die Körper- und die Werkzeugtrans- nach einer Reaktionsperiode (ca. 200 ms)
formation. durch ein aktualisiertes Programm korri-
• Bei der neuromuskulären Transformation giert werden. Insofern kann das motorische
wird neuronale Aktivität in Muskelaktivität Programm als ein reiner Steuerungsmecha-
umgewandelt. nismus aufgefasst werden.
• Bei der Körpertransformation wird Muskel- • Ein generalisiertes motorisches Programm
aktivität in die Kinematik der Gliedmaßen (GMP) spezifiziert die invariante Kinematik
transformiert. und die dynamischen Merkmale einer Be-
• Im Rahmen der Werkzeugtransformation wegung. Damit wird eine ganze Klasse von
wird die Gliedmaßenkinematik in die Be- Bewegungen spezifiziert. Die jeweiligen
wegung der Werkzeuge umgesetzt. spezifischen Bewegungen werden durch

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12.10. Zusammenfassung 419

motorische Parameter weiter spezifiziert. Funktion anderer Kognitionen beitragen.


Motorische Parameter können die Dauer, Der Motorkortex ist zusammen mit den
die Amplitude und die Frequenz von Bewe- Basalganglien und dem Kleinhirn im We-
gungen sein. Durch die Anwendung ver- sentlichen an der Übersetzung dieser „hö-
schiedener Parameter kann das GMP zu heren“ – der Motorik nahestehenden – Ko-
verschiedenen Bewegungen führen. Ein gnitionen in aktuelle Bewegungen beteiligt.
GMP wird durch Lernen erworben. Die • Parallel-Serien-Wandlungen finden in hie-
Feinanpassung der Bewegung wird dann im rarchisch angeordneten Systemen und ins-
zweiten Schritt durch Parameteradjustie- besondere auch bei der Motorik statt. So
rung bewerkstelligt. werden z. B. übergeordnete motorische Pro-
• Die wichtigsten Motorareale sind: primä- gramme an untergeordnete Kontrollzentren
rer motorischer Kortex (M1), Prämotorkor- übergeben und dort in kleinere Teilpro-
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tex (PMC), somatosensorischer Kortex gramme aufgeteilt. Diese Teilprogramme


(S1), ventraler PMC, dorsaler PMC, fron- laufen seriell ab, während das übergeord-
tales Augenfeld, supplementärmotorische nete motorische Programm parallel vorliegt.
Areale (SMA und pre-SMA), Lobulus parie- • Über den primären motorischen Kortex
talis superior (LPS), Sulcus intraparietalis (M1) werden wichtige motorische Para-
(IPS), cinguläre Motorareale (CMA), Klein- meter (Kraft, Richtung und Geschwindig-
hirn und Basalganglien. keit) für die motorischen Programme
• Zwei Organisationsprinzipien innerhalb übermittelt.
der motorischen Areale werden unterschie- • Der laterale Prämotorkortex (lPMC) ist ein-
den: die somatotopische Ordnung und die gebunden in die Kontrolle folgender Auf-
hierarchische Mehrebenenorganisation. gaben: (1) axiale und proximale Stütz- und
• Somatotopie ist grob definiert die Abbil- Haltemotorik, (2) proximale Willkürbewe-
dung von Körperregionen auf bestimmten gungen, (3) Bewegungen, die eine sensori-
Hirnarealen. Im Motorkortex und im senso- sche Führung erfordern, (4) Etablierung
motorischen Kortex lässt sich die Somato- neuer oder Modulation bereits gelernter
topie als Homunkulus beschreiben und dar- motorischer Programme.
stellen. • Der ventrale Prämotorkortex (vPMC) ist
• Unter hierarchischer Mehrebenenorganisa- eingebunden bei der (1) Imitation von Be-
tion wird die hierarchische Organisation wegungen, (2) beim mentalen Vorstellen
der Module zur Kontrolle der Motorik ver- von Bewegungen und (3) beim Lernen kom-
standen. Auf der untersten Ebene dieser plexer Bewegungsabläufe.
Hierarchie ist das Rückenmark bzw. sind • Das supplementärmotorische Areal (SMA)
die jeweiligen Rückenmarksegmente ange- ist an folgenden Kontrollprozessen betei-
siedelt. Auf der höchsten Ebene sind die ligt: (1) uni- und bimanuale sequenzielle
prämotorischen Areale sowie die Assoziati- Bewegungen, (2) bimanuale und bipedale
onsareale im Frontal- und Parietallappen Bewegungen, (3) kurzzeitige Speicherung
angesiedelt. Diese Areale sind in die moto- von Bewegungssequenzen und (4) mentale
rische Planung eingebunden, wobei diese Durchführung von komplexeren Bewe-
Planungen anhand aktueller, vergangener, gungen.
gewünschter bzw. vorgestellter sensori- • Das präsupplementärmotorische Areal
scher Informationen vorgenommen wer- (pre-SMA) ist an folgenden motorischen
den. In diesen „höheren“ Arealen sind psy- Prozessen beteiligt: (1) Wechsel zwischen
chische Funktionen lokalisiert, die auch zur verschiedenen motorischen Programmen

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420 12.  Motorische Kontrolle

(motor program shift), (2) Lernen neuer se- cleus subthalamicus. Nucleus caudatus und
quenzieller uni- und bimanualer Bewe- Putamen werden zum Striatum zusammen-
gungsmuster und (3) Anpassen sequenziel- gefasst. Das Striatum erhält afferenten In-
ler Bewegungsmuster an sich verändernde formationszustrom aus dem Kortex und
Anforderungen. dem Thalamus. Efferente Informationen
• Das cinguläre motorische Areal (CMA) ist werden über den Globus pallidus und die
an der Auswahl von motorischen Hand- Substantia nigra in das Rückenmark proji-
lungen beteiligt, wobei es durch seine Ver- ziert. Substantia nigra, Nucleus subthalami-
bindung zum limbischen System den mo- cus und der Globus pallidus projizieren
tivationalen Teil der Bewegungsauswahl auch in den Basalganglienkreislauf. Über
vermittelt. den Thalamus erreichen die Basalganglie-
• Im Parietallappen befinden sich neuronale nefferenzen die motorischen Areale im
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Netzwerke, die an folgenden motorischen Frontallappen. Die Basalganglien modulie-


Kontrollprozessen beteiligt sind: (1) Kon- ren die Aktivität im motorischen System.
trolle der Sakkaden im Zusammenhang mit Entfällt innerhalb der Basalganglien der
Aufmerksamkeitsprozessen (LIP), (2) Vor- hemmende Einfluss der Substantia nigra
bereitung von Greifbewegungen (IPS), (3) auf das Striatum (wie bei der Parkinson-
Vorbereitung und Durchführung visuell ge- krankheit), nimmt der hemmende Einfluss
führter Greifbewegungen (AIP), (4) Analyse der Basalganglien zu, sodass v. a. das Star-
dreidimensionaler Informationen im Zu- ten und das Beenden von Bewegungen er-
sammenhang mit Greifbewegungen (AIP), schwert werden. Wenn allerdings der hem-
(5) visuell-motorische (und wahrscheinlich mende Einfluss vom Striatum zum Globus
auch audiomotorische) Transformationen pallidus reduziert ist (wie bei der Hunting-
(z. B. Überführen von retinotopen und tono- tonkrankheit), dann resultiert daraus eine
topen zu körperzentrierten Koordinaten). reduzierte Hemmung und damit eine korti-
• Das Kleinhirn besteht aus drei größeren kale Erregung, die letztlich zu „überschie-
Abschnitten: Vestibulocerebellum, Spino- ßenden“ Bewegungen führt.
cerebellum und Neocerebellum. Das Vesti- • Die folgenden psychischen Prozesse sind
bulocerebellum ist in die Kontrolle des bei der Bewegungsvorbereitung beteiligt:
Gleichgewichts und der Okulomotorik ein- (1) Aufbau der Motivation, eine Bewegung
gebunden. Das Spinocerebellum ist spezia- auszuführen; (2) Auswahl der Aufgabe; (3)
lisiert für die Kontrolle der Stützmotorik Definition des Bewegungsziels; (4) Auswahl
und der Okulomotorik. Das Neocerebellum der auszuführenden Handlung; (5) Wahl
kontrolliert die komplexeren Bewegungen der entsprechenden motorischen Kom-
inklusive der Zielmotorik. Das Kleinhirn mandos; (6) Auswahl der passenden Para-
fungiert auch als Satellitenrechner (Hilfs- meter für die motorischen Kommandos; (7)
rechner) für das motorische System. Des letzte Überprüfung, ob alles korrekt aus-
Weiteren kontrolliert das Kleinhirn den gewählt wurde; (8) letzte Überprüfung, ob
zeitlichen Takt von Bewegungen, trägt zur die gewählte Bewegung auch wirklich aus-
Entstehung eines glatten Bewegungsver- geführt werden soll; (9) Start der Bewe-
laufs bei und legt Reiz-Reaktions-Assozia- gung; (10) das Bewegungsergebnis muss
tionen fest. verarbeitet werden und es müssen für die
• Die Basalganglien bestehen aus dem Nu- folgende Bewegung anhand der festgestell-
cleus caudatus, dem Putamen, dem Globus ten Fehler und Unzulänglichkeiten Anpas-
pallidus, der Substantia nigra und dem Nu- sungen vorgenommen werden.

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12.10. Zusammenfassung 421

• Bewegungsvorbereitungsprozesse können und die automatische Phase. In diesen drei


mittels ereigniskorrelierter Potenziale ge- Phasen sind jeweils spezifische Hirngebiete
messen werden. Hierzu wird das sogenannte an der motorischen Kontrolle beteiligt. Am
Bereitschaftspotenzial (BP) oder das aus Beginn des Bewegungslernens sind je nach
dem Bereitschaftspotenzial abgeleitete late- Komplexität der Bewegung ein laterales
ralisierte Bereitschaftspotenzial (LRP) be- frontoparietales Netzwerk, der primäre Mo-
rechnet. Eine andere Variante, Bewegungs- torkortex, die lateralen Präfrontalkortex-
vorbereitungsprozesse neurophysiologisch bereiche (DLPFC und VLPFC) und die sup-
zu untersuchen, ist die sogenannte Contin- plementärmotorischen Areale beteiligt. Je
gent negative variation (CNV). besser die Bewegung beherrscht wird, desto
• Beim Libet-Experiment werden ebenfalls mehr reduzieren sich die Aktivierungen in
Bereitschaftspotenziale gemessen. Die Ver- diesen Hirngebieten und konzentrieren sich
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suchsperson muss während des Tasten- im Wesentlichen auf den primären Motor-
drucks auf eine große Uhr schauen und sich kortex, den dorsalen und zentralen Prä-
die Zeigerposition in dem Moment merken, motorkortex, das SMA, die Basalganglien
in dem sie den Willen verspürte, auf die und das Kleinhirn. In dieser automatischen
Taste zu drücken. Es stellte sich heraus, Phase werden vornehmlich interne Kon­
dass das Gehirn vor der vermeintlichen trollmechanismen genutzt, was dazu
Willensentscheidung ca. 1 Sekunde offen- führt, dass die Bewegungskontrolle un-
bar in Vorbereitungsprozesse eingebunden abhängiger von externen Reizen wird.
ist. Daraus wird abgeleitet, dass der freie • Sprache und Bewegung weisen einige Ge-
Wille die Bewegung gar nicht eingeleitet meinsamkeiten auf. Bei der Sprach- und
haben könne. Das Libet-Experiment wird Bewegungsproduktion müssen Parallel-
aber methodisch und theoretisch diskutiert. Serien-Wandlungen vorgenommen wer-
• Neuere Experimente am offengelegten Ge- den. Dies soll nach Michael Corballis in ei-
hirn von Patienten, die eine neurochirurgi- nem besonderen Hirngebiet, dem General
sche Operation erwarteten, belegen, dass assembly device (GAD), erfolgen, das so-
der Wunsch, eine Bewegung durchzufüh- wohl für Sprache als auch für die Bewegung
ren (urge to move), mit neurophysiologi- genutzt wird.
schen Aktivierungen im unteren Teil des • Bei der Bewegungsvorstellung sind in der
Parietallappens assoziiert ist. Regel die gleichen Hirngebiete aktiv, die
• Willenshandlungen können als Kette von auch bei der Bewegungsausführung aktiv
seriell ablaufenden Teilprozessen aufge­fasst wären. Die Aktivierungen sind allerdings
werden: Motivation für die Bewegung, Auf- geringer und weisen eine geringere räumli-
gaben- und Handlungsselektion, Vorhersage che Ausdehnung auf. Die Aktivierungen
des Bewegungserfolgs und Bewegungsini- beim mentalen Vorstellen des Durchführens
tiierung. Am Ende dieser Kette besteht im- einer Bewegung verändern sich im Zuge des
mer noch die Möglichkeit, die vorbereitete Übens der vorgestellten Bewegung.
Bewegung nicht auszuführen. Dieses Phäno- • Die optische Ataxie ist eine motorische
men wird als Veto-Möglichkeit bezeichnet. Störung, die im Zusammenhang mit dem
Aufgrund bildgebender Arbeiten weiß man, Bálint-Holmes-Syndrom auftritt und durch
dass diese Veto-Funktion über frontome- die Unfähigkeit gekennzeichnet ist, zielge-
diale Hirngebiete vermittelt wird. richtete Hand- bzw. Greifbewegungen unter
• Beim Bewegungslernen durchlaufen wir Kontrolle der Augen durchzuführen. Sie tritt
drei Phasen: die kognitive, die assoziative auf, wenn bilaterale parietookzipitale Läsio-

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422 12.  Motorische Kontrolle

nen unter Einschluss des Gyrus supramargi- • Erläutern Sie die grundsätzliche Organisa-
nalis und das Gyrus angularis vorliegen. tion der Motorik.
• Unter dem Begriff der Apraxie werden ver- • Beschreiben Sie die wesentlichen Funktio-
schiedene motorische Störungen bei der nen von M1, den Prämotorarealen, dem
Ausführung willkürlicher zielgerichteter Parietallappen und dem Kleinhirn bei der
und geordneter Bewegungen bei intakter motorischen Kontrolle.
motorischer Funktion zusammengefasst. • Welche physiologischen Veränderungen
• Nach Liepmann werden drei Apraxiefor- treten bei der Planung und Vorbereitung
men unterschieden: (1) ideomotorische von Bewegungen auf?
Apraxie, (2) ideatorische Apraxie und (3) • Welche Aktivitätsveränderungen treten
visuell-konstruktive Apraxie. beim motorischen Lernen ein?
• Nach Heilman werden sechs Apraxiefor- • Was passiert im Gehirn während der men-
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men unterschieden: (1) anteriore ideo- talen Vorstellung von Bewegungen?


motorische Apraxie, (2) posteriore ideo- • Besteht ein Zusammenhang zwischen Spra-
motorische Apraxie, (3) Leitungsapraxie, che und Bewegung?
(4) Disassoziationsapraxie, (5) ideatorische • Welche Bewegungsstörungen sind in die-
Apraxie und (6) konzeptuelle Apraxie. sem Kapitel besprochen worden?

12.11. Fragen und Aufgaben


12.12. Weiterführende Literatur
• Was versteht man unter einer motorischen Heuer, H., Jäncke, L. (2006). Psychomotorik. In:
Transformation?
• Was ist eine inverse Transformation?
H. Spada (Hrsg.). Lehrbuch Allgemeine Psy-
chologie (pp 553–614). Bern: Hans Huber.
• Definieren Sie ein motorisches Programm. Rosenbaum, D. A. (2009). Human Motor Control.
• Beschreiben Sie das Grundprinzip der sen- 2nd ed. London: Academic Press.
somotorischen Kontrolle. Schmidt, R., Lee, T. (2011). Motor Control and
• Beschreiben Sie die Motorareale des Learning: A Behavioral Emphasis. 5th ed.
menschlichen Gehirns. Human Kinetics.

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423

13. Allgemeines zum Gedächtnis


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13.1.  Warum das Gedächtnis so wichtig ist? 425

13.1. Warum das Gedächtnis nichtverbalem Gedächtnis differenziert wer-


den. Prozessorientierte Klassifikationen un-
so wichtig ist?
terscheiden das Arbeitsgedächtnis von passi-
Der Mensch ist ein Kulturwesen, das sich seine ven Gedächtnisspeichern. Eine traditionelle
Umwelt zu großen Teilen selbst erschafft und Einteilung erfolgt nach dem Bewusstseins-
neu gestaltet. Er erschafft Objekte, verändert grad der am Gedächtnis beteiligten Prozesse;
die Umwelt und kreiert die sozialen Regeln, bewusste (deklarative) werden hier von unbe-
nach denen er mit seinen Mitmenschen leben wussten (impliziten) Gedächtnisspeichern
will. Dies erfordert Flexibilität im Umgang mit unterschieden.
den Informationen, mit denen der Mensch im Unser Gedächtnis ist nicht immer perfekt.
Verlauf seines Lebens konfrontiert wird. Aus Gelegentlich haben wir das Gefühl, dass wir
diesem Grund muss er Wissen über seine den Informationen bereits begegnet wären,
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Umwelt erwerben, speichern sowie in den ohne dass wir uns bewusst daran erinnern
entsprechenden Situationen abrufen und in können. Dieses Gefühl der Vertrautheit (fa-
Handlungen umsetzen. Auch das Gefühls- milarity) kennzeichnet auch einen wichtigen
leben wird stark durch Erfahrungen beein- Gedächtnisprozess. Frühe Untersuchungen
flusst. Wenn die Umwelt durch kulturelle Leis- zum Lernen konzentrierten sich auf relativ
tungen gestaltet wird, dann ist auch das, was einfache Lernprozesse wie das klassische und
als angenehm, unangenehm und gefährlich operante Konditionieren. Beide Lernformen
empfunden wird, stark erfahrungsabhängig. sind sehr intensiv am Tiermodell untersucht
Lernen und Gedächtnis sind demzufolge für worden, sind aber auch für das menschliche
den Menschen enorm wichtig. Lernen relevant. Als einfachste Lernformen
Gedächtnis ist ein Sammelbegriff für Pro- werden die Habituation und die Sensitivie­
zesse und Systeme, die für die Einspeicherung, rung aufgefasst.
die Aufbewahrung, den Abruf, das Verges- Alle Lernformen weisen Gemeinsamkei-
sen und die Anwendung von Informationen ten auf. Allen gemein ist der Umstand, dass
zuständig sind, sobald die ursprüngliche Informationen im Nervensystem, d. h. in Ner-
Quelle der Information nicht mehr verfügbar venzellen und Nervenzellverbänden gespei-
ist. Die im Gedächtnis verarbeiteten Informa- chert werden. Die zugrunde liegenden zel-
tionen können vielfältig sein und reichen von lulären und molekularen Mechanismen sind
Wörtern, Geräuschen, Bildern, Musikstücken, bei allen Lern- und Gedächtnisvorgängen
autobiografischen Aspekten, Wissen bis hin zu gleich. In den folgenden Abschnitten werden
spezifischen Fertigkeiten (Motorik, Sprach- die unterschiedlichen Lern- und Gedächt-
regeln etc.). nisprozesse dargestellt. Zunächst werden
Die unter dem Begriff Gedächtnis zusam- Gedächtnissysteme und -prozesse beschrie-
mengefassten Speichersysteme (Gedächtnis­ ben; es folgen Lern- und Gedächtnisvorgänge
systeme) können hinsichtlich der Zeit, der auf Molekül- und Zellebene. Am Ende die-
Modalitäten, der beteiligten Prozesse oder des ses Kapitels werden wir uns mit den mög-
Bewusstseinsgrades der jeweiligen Gedächt- lichen Konsolidierungsprozessen im Ge­
nisfunktion unterschieden werden. Bezüglich dächtnis auseinandersetzen. Die jeweiligen
der Zeitdauer der gespeicherten Informa­ Gedächtnissysteme werden in eigenen Kapi-
tionen wird das Kurzzeit- (auch transientes teln detaillierter dargestellt.
Gedächtnis) vom Langzeitgedächtnis unter-
schieden. Hinsichtlich der unterschiedlichen
Modalitäten kann zwischen verbalem und

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426 13.  Allgemeines zum Gedächtnis

13.2. Gedächtnissysteme eine Speicherstruktur, sondern v. a. ein Sys-


tem, in dem Informationen bearbeitet werden.
Die Gedächtnissysteme sind anhand von Läsi- Es besteht aus mehreren Subkomponenten:
ons-, Bildgebungs-, EEG-Studien und v. a. der phonologischen Schleife, dem visuell-
mittels experimenteller Anordnungen im Rah- räumlichen Notizblock und der zentralen Exe-
men von kognitionspsychologischen Experi- kutive. Neuerdings wird auch ein episodischer
menten definiert worden. Zwischen diesen Puffer als Teil des Arbeitsgedächtnisses auf-
Systemen existieren vielfältige Querbeziehun- gefasst (s. u.).
gen, die in den nächsten Kapiteln besprochen
werden.
Gedächtnissysteme sind hierarchisch ge- 13.3. Gedächtnisprozesse
gliedert (Tab. 13-1). Auf der untersten Ebene ist
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der sensorische Speicher (auch Ultrakurz- Die Gedächtnisprozesse können in vier Pha-
zeitgedächtnis) angesiedelt, in dem Informa- sen eingeteilt werden. Aus Gründen der Über-
tionen für wenige Sekunden gespeichert wer- sichtlichkeit wird in diesem Lehrbuch das Ver-
den. Er liegt in zwei Formen vor: als visueller gessen als vierte Phase angesehen, was nicht
(ikonischer Speicher) und auditorischer Spei- in allen Lehrbüchern der Fall ist:
cher (echoischer Speicher). Im Kurzzeitge­ (1) Encodierung
dächtnis werden Informationen für Sekunden (2) Konsolidierung
bis maximal wenige Minuten gespeichert. Die (3) Abruf
Aufnahmekapazität des Kurzzeitspeichers ist (4) Vergessen.
begrenzt. Es wird davon ausgegangen, dass
ca.  7 ± 2 Informationseinheiten aufgenom- Encodierung: erste Phase des Gedächtnis-
men und kurzfristig behalten werden. Die­ prozesses. Sie wird häufig synonym mit dem
Informationen werden entweder in das Begriff Lernen verwendet. Man versteht da-
Langzeitgedächtnis überführt, dem Arbeits- runter die Abspeicherung bzw. Einspeicherung
gedächtnis bereitgestellt oder sie gehen ver- von Informationen.
loren. Das Langzeitgedächtnis ist sowohl Konsolidierung: Die gespeicherten Informa-
hinsichtlich der Dauer als auch der Kapazität tionen müssen aufrechterhalten werden. Man
unbegrenzt. Das Arbeitsgedächtnis nimmt spricht in diesem Zusammenhang von Reten­
eine Sonderstellung ein, denn es ist nicht nur tion (englisch: retention). Während dieser

Tabelle 13-1: Tabellarische Darstellung der unterschiedlichen Gedächtnissysteme.

sensorischer Speicher (Ultrakurzzeitgedächtnis) • ikonischer Speicher: visuell


• echoischer Speicher: auditorisch
Kurzzeitgedächtnis
Arbeitsgedächtnis • zentrale Exekutive
• Subsystem: phonologische Schleife,
visuell-räumlicher Notizblock,
episodischer Puffer
Langzeitgedächtnis (deklaratives System) • episodisches Gedächtnis
• semantisches Gedächtnis
Langzeitgedächtnis (implizites System) • perzeptuelles Gedächtnis
• prozedurales Wissen

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13.5.  Taxonomie des Langzeitgedächtnisses 427

Phase (Retentionsphase oder Retentions­ Grund, warum Multiple-Choice-Aufgaben so


intervall) kann es zu einer neuronalen Festi- beliebt sind.
gung dieser Information (der Gedächtnisspur)
kommen.
Abruf: Um Gedächtniseinträge zu nutzen, 13.5. Taxonomie des Langzeit­
müssen sie aus dem Gedächtnisspeicher abge- gedächtnisses
rufen werden. Dies geschieht in der Abruf-
phase (englisch: recall). Das Langzeitgedächtnis kann auf unterschied-
Vergessen: Die gespeicherten Informationen liche Weise eingeteilt werden, am gebräuch-
können verloren gehen oder mit der Zeit ver- lichsten ist die Einteilung hinsichtlich des
blassen. Bewusstwerdens der jeweiligen Gedächtnis-
prozesse. Demzufolge wird das Gedächtnis-
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system grob in das bewusste (deklarative) und


13.4. Messung des ­ unbewusste (implizite) Gedächtnis eingeteilt.
Gedächtnisses Diese Einteilung geht v. a. auf Studien mit und
Beobachtungen von Läsionspatienten zurück,
Zur Untersuchung des Gedächtnisses werden durch die gezeigt werden konnte, dass Patien-
Wort- oder Bilderlisten oder auditorische ten mit Läsionen in mesiotemporalen Hirn-
Reize präsentiert. Um zu überprüfen, ob diese bereichen (insbesondere im Hippocampus)
Reize gelernt wurden, werden zwei Abfrage- typischerweise einen Verlust oder zumindest
techniken verwendet: die Wiedererkennung eine Einschränkung von Gedächtnisinhalten
(recognition) und die Reproduktion (recall). aufweisen, die normalerweise bewusst ange-
In typischen Rekognitionsexperimenten wer- geben werden können, v. a. Fakten oder Episo-
den die Reize zunächst in einer Lernphase dar- den (z. B. wer wann was mit wem gemacht hat).
geboten, damit die Versuchspersonen diese Unbewusste Gedächtnisinhalte, z. B. Hand-
Reize lernen können. In der Testphase werden lungsabläufe (Autofahren, sportliche Tätig-
diese Reize erneut gezeigt und mit Reizen ge- keiten), aber auch Regeln (z. B. Grammatik-
mischt, die nicht während der Lernphase prä- regeln) sowie Wahrnehmungsaspekte bleiben
sentiert wurden (Distraktoren). Die Versuchs- bei Läsionen des mesiotemporalen Gedächt-
person muss nach jeder Präsentation eine nissystems erhalten. Diese unbewussten In-
Alt-neu-Entscheidung treffen. Bei einer kor- formationen werden beeinträchtigt oder
rekten Entscheidung weiß man, dass die Ver- gehen verloren, wenn andere Hirnsysteme
suchsperson den Reiz offenbar behalten hat. betroffen sind. Die Einteilung in bewusstes
Bei der Reproduktion muss ein Reiz wieder- und unbewusstes Gedächtnis wird aktuell dis-
gegeben werden, der vorher schon einmal ge- kutiert und ist mit Gegenvorschlägen konfron-
lernt wurde. Dies wird als freie Reproduktion tiert. Nach einem neueren Vorschlag sollte das
bezeichnet. Wird die Reproduktion durch ei- Gedächtnis anhand der beteiligten Hirnstruk-
nen Hinweisreiz unterstützt (retrieval cue), turen eingeteilt werden (s. u.).
spricht man von einer Reproduktion mit Hin­ In Tabelle 13-2 ist die Taxonomie des Lang-
weisreiz (cued recall); sie liegt z. B. bei Mul­ zeitgedächtnisses dargestellt. Das bewusste
tiple-Choice-Klausuren vor. Die Fragen und (deklarative) Gedächtnis besteht aus zwei un-
Antwortalternativen dienen als Hinweisreize tergeordneten Systemen: aus Faktenwissen
für die korrekte Antwort. Reproduktionen mit und dem episodischen Gedächtnis. Das Fak-
Hinweisreizen führen zu den besten Gedächt- tenwissen (auch semantisches Gedächtnis
nisleistungen. Wahrscheinlich ist das der genannt) repräsentiert das Wissen über die

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428 13.  Allgemeines zum Gedächtnis

Tabelle 13-2: Schematische Gliederung des Langzeitgedächtnisses.

deklarativ nondeklarativ
episodisches semantisches Fertigkeiten Priming perzeptuelles Konditionieren
Gedächtnis Gedächtnis Gedächtnis
Erfahrungen Fakten Handlungen Bahnung Wahrnehmung Konditionie-
Personen Wissen Regeln ohne Anbin- rungen
Zeit dung an das
Raum Wissen
Ereignisse
bewusst bewusst unbewusst unbewusst unbewusst unbewusst
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gelernten Fakten. Es ist ein eher emotionsloses und Fertigkeiten (skills) gespeichert sind, z. B.
und damit „kaltes“ Gedächtnissystem. Jahres- Fahrradfahren, Autofahren oder sportliche Be-
zahlen von historischen Ereignissen, Formeln tätigungen. Diese Fertigkeiten werden durch
oder andere Sachverhalte sind in diesem Sys- intensives Üben aufgebaut und können nach
tem gespeichert. Das episodische Gedächtnis Konsolidierung unbewusst durchgeführt wer-
speichert Informationen über Ereignisse. Das den. Am Beispiel des Autofahrens ist dies an-
Besondere dieses Gedächtnissystems ist, dass schaulich darstellbar. Dem Anfänger fällt die
in ihm Gedächtnisinformationen miteinander Koordination der vielen Tätigkeiten beim Au-
verbunden sind, also wer mit wem was wann tofahren schwer. Er hat Mühe, den Anweisun-
und wo gemacht hat. Das heißt, dass im episo- gen des Fahrlehrers zu folgen, gleichzeitig die
dischen Gedächtnis Informationen zur Zeit, verschiedenen Kontroll- und Steuertätigkei-
zum Ort, zu Personen und den dazugehörigen ten des Fahrzeugführens durchzuführen und
Sachverhalten miteinander zu einem Gedächt- dann auch noch dem Verkehr und den Ver-
nisengramm verbunden werden. In der Regel kehrsregeln zu folgen. Mit zunehmender
sind solche Ereignisse auch interessant und Übung werden die einzelnen Kontroll- und
demzufolge mit emotionalen Regungen ver- Steuertätigkeiten beim Autofahren automati-
bunden. Die beiden Subsysteme des bewussten siert, sodass sie ohne bewusste Wahrnehmung
Gedächtnisses benötigen insbesondere das ablaufen. Das hat den Vorteil, dass kompli-
mesiotemporale Hirnsystem sowie den Fron- zierte Handlungsabläufe ohne Rückgriff auf
talkortex (insbesondere die lateralen Teile) und bewusste und damit Aufmerksamkeit for-
den Parietallappen (die lateralen Teile). Das dernde Prozesse durchgeführt werden kön-
episodische System greift darüber hinaus stär- nen. Des Weiteren eröffnet die unbewusste
ker auf das limbische System zurück, da epi- und automatische Kontrolle dieser Abläufe die
sodische Informationen stärker mit emotiona- Möglichkeit, dass gleichzeitig andere Tätig-
len Informationen besetzt sind. Das implizite keiten  – auch bewusste  – ausgeführt werden
Gedächtnis umfasst das prozedurale Gedächt- können. Am prozeduralen Gedächtnis betei-
nis, ein perzeptuelles Gedächtnis, ein Gedächt- ligt sind überwiegend die motorischen Hirn-
nis für assoziative Zusammenhänge und ein gebiete (Motorkortex, Prämotorkortex, Basal-
Gedächtnis für elementare Aspekte, die durch ganglien, Kleinhirn).
klassisches und instrumentelles Konditionie- Weiterhin wird das perzeptuelle Gedächt­
ren zustande kommen. nis unterschieden. Wie der Name bereits an-
Das prozedurale Gedächtnis ist ein Ge- deutet, handelt es sich um ein Wahrnehmungs-
dächtnissystem, in dem Handlungsabläufe gedächtnis. Typischerweise speichert dieses

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13.6.  Gedächtnis auf der zellulären Ebene 429

Gedächtnissystem Wahrnehmungsinforma- bildschirm Wortfragmente (Buchstabenkom-


tionen, ohne diese an das semantische Ge- binationen, in denen einige Buchstaben feh-
dächtnis anzubinden. Das kann dazu führen, len, um ein sinnvolles Wort zu ergeben), die Sie
dass wir das Gefühl haben, etwas wiederzuer- so schnell wie möglich zu korrekten vollständi-
kennen, ohne zu wissen, dass wir es gesehen gen Wörtern zusammensetzen müssen. Sie
haben, z. B., wenn wir eine Person in einem werden die Wörter, die während des vorheri-
anderen Kontext als dem gewohnten treffen. gen Gesprächs an der Tafel standen und die
Das perzeptuelle Gedächtnis trägt zur Erken- Sie eher nebenbei betrachtet hatten, im Expe-
nung eines Gesichtes bei, ohne dass die dazu riment viel schneller und häufiger korrekt ver-
„passende“ Person erkannt wird. Déjà-vu-­ vollständigen, wenn diese als Wortfragmente
Erlebnisse sind ebenfalls mittels des per- präsentiert werden. Offenbar führt das unbe-
zeptuellen Gedächtnisses zu erklären. Eine wusste Betrachten der Wörter dazu, dass diese
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bestimmte, vertraute Wahrnehmung wird er- in den sie verarbeitenden sensorischen Netz-
zeugt (z. B. eine bestimmte Landschaft), ohne werken gespeichert werden. Sie können dann
dass man diese Wahrnehmungsbilder an das unbewusst auf diese Informationen zurück-
semantische Wissensgedächtnis anbinden greifen und die Aufgaben effizienter lösen.
kann. Das perzeptuelle Gedächtnis erzeugt Eine andere Gruppe von unbewussten Ge-
dann ein Gefühl der Vertrautheit und stößt dächtnissystemen umfasst Prozesse wie das
Interpretationsprozesse an, um das Vertraut- klassische und instrumentelle Konditionie­
heitsgefühl zu erklären, was je nach Persön- ren. Hierbei handelt es sich um Lernprozesse,
lichkeitseigenschaft und den gespeicherten bei denen unbewusste Assoziationen zwischen
Gedächtnisinformationen zu teilweise skurri- verschiedenen Reizen, Reaktionen sowie Rei-
len „Erklärungen“ führen kann. zen und Reaktionen aufgebaut werden. Die
Das unbewusste Gedächtnis für assozia­ letzte Gruppe impliziter Lernprozesse umfasst
tive Zusammenhänge ist sehr gut mittels die zellulären Lernprozesse Habituation und
Priming-Aufgaben untersucht worden. Bei Sensitivierung.
Priming-Aufgaben werden den Versuchsper-
sonen unterschiedliche Reize dargeboten,
ohne dass sie wissen, dass diese Reize für spä- 13.6. Gedächtnis auf
tere Aufgaben von Bedeutung sein werden. der zellulären Ebene
Sollen sie allerdings Aufgaben im Zusammen-
hang mit diesen Reizen bearbeiten, dann zeigt Das menschliche Gehirn ist wie ein Netzwerk
sich, dass sie diese Aufgaben schneller lösen, organisiert, in dem die Informationen neuro-
als wenn sie auf Reize zurückgreifen, die sie physiologisch und verteilt über das Netzwerk
vorher noch nicht (auch nicht unbewusst) ge- repräsentiert sind. Verschiedene Nervenzellen
sehen haben. Angenommen, Sie sitzen in ei- werden zu Nervenzellensembles (neural as-
nem Büro, um sich dort mit dem Versuchslei- semblies), auch neuronale Netze genannt,
ter über einen nebensächlichen Sachverhalt zusammengeschaltet. Jede Nervenzelle hat
auseinanderzusetzen. Auf einer in diesem mit ca. 5 000–10 000 anderen Nervenzellen
Büro angebrachten Tafel stehen Wörter, die in Verbindungen aufgebaut. Je nach Qualität und
keinem Zusammenhang mit dem Gespräch Quantität der Verbindungen sind die Netz-
stehen. Auf diese Wörter wird während des werke unterschiedlich groß, fragil oder wi­
Versuchs kein Bezug genommen. Nach dem derstandsfähig oder arbeiten schneller oder
Gespräch beginnt das Experiment in einem langsamer. Diese Netzwerke codieren die ge-
Nebenraum. Sie sehen auf einem Computer- speicherten Informationen als elektrische Er-

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430 13.  Allgemeines zum Gedächtnis

regungsmuster, die sich innerhalb des Nerven- sen nicht unveränderbar sind, sondern ständig
zellensembles in einer noch nicht gänzlich neu entstehen, untergehen oder ihre Übertra-
verstandenen Art entwickeln und entfalten. gungseffizienz auf benachbarte Neurone ver-
Nicht nur die spezifische Art der elektrischen ändern können. Hebb postulierte, dass Synap-
Erregung innerhalb des Nervenzellensembles sen durch bestimmte Aktivitätskonstellationen
codiert die gespeicherte Information, die Co- ihre Übertragungsstärke ändern können. Eine
dierung hängt vielmehr auch davon ab, welche besondere Aktivitätskonstellation wurde in der
Nervenzellen in das jeweilige Ensemble ein- Folge als Hebb-Lernregel bezeichnet und ex-
gebaut werden. Da die Informationsübertra- perimentell bestätigt: Je häufiger ein Neuron
gung innerhalb solcher Nervenzellnetzwerke gleichzeitig (oder leicht zeitverzögert) mit ei-
über Synapsen erfolgt, kommt der Qualität nem anderen Neuron aktiv ist, umso bevorzug-
und Quantität der synaptischen Verbindungen ter werden die beiden Neuronen aufeinander
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beim Lernen und bei Gedächtnisprozessen reagieren. Diese bevorzugte Reaktion wird
zentrale Bedeutung zu. Um es etwas salopp über biochemische Veränderungen der synap-
auszudrücken: Lernen erfolgt vorwiegend an tischen Übertragung zwischen diesen beiden
den Synapsen! Neuronen ermöglicht.
In der Anfangsphase der akademischen Mit anderen Worten bedeutet dies, dass die
Psychologie wurde von Engrammen oder Ge­ Verbindungen zwischen gleichzeitig feuern-
dächtnisspuren gesprochen, um anzudeuten, den Nervenzellen gestärkt werden (Abb. 13-1).
dass die Gedächtnisinhalte „irgendwie“ im Ge- Dieser Mechanismus wurde mit der Formel
hirn abgelegt werden, ohne wirklich eine kon- „neurons that fire together wire together“
krete Vorstellung davon zu haben, wie sie im (Neuronen, die gemeinsam feuern, steigern
Gehirn verankert werden. Einen bis heute gül- ihre synaptische Verbindung) plakativ zum
tigen Vorschlag, wie Engramme oder Gedächt- Ausdruck gebracht.
nisspuren in den Nervenzellensembles nieder-
gelegt werden, unterbreitete der kanadische
Neuropsychologe Donald O. Hebb (1949). Für 13.6.1. Habituation und ­
Hebb war die synaptische Plastizität entschei- Sensitivierung
dend. Das bedeutet, dass die meisten Synap-
Das Studium synaptischer „Lernmechanis-
Hebb-Lernregel men“ ist am menschlichen Gehirn praktisch
unmöglich, weshalb auf Tiermodelle zurück-
gegriffen wird. Ein sehr praktisches Tiermo-
dell ist die Schnecke, insbesondere die Aplysia
californica, die über ein Saugrohr und Kiemen
verfügt. Wird ein Wasserstrahl auf das Saug-
rohr gerichtet, ziehen sich die Kiemen sofort
zurück. Die Schnecke zeigt also eine Abwehr-
reaktion. Sie gewöhnt sich jedoch nach wieder-
holter Stimulation des Saugrohrs an den Sti-
mulus und zeigt schwächere oder letztlich
keine Abwehrreaktionen. Dieser Gewöh-
nungsprozess wird als Habituation bezeich-
Abbildung 13-1: Schematische Darstellung der net. Die Schnecke kann, auch nach erfolgter
Hebb-Lernregel. Habituation, wieder mit stärkerer Abwehr

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13.6.  Gedächtnis auf der zellulären Ebene 431

reagieren, wenn bestimmte zusätzliche Reize Seite des sensorischen Neurons zu einer Re-
bestehen. Wird kurz vor dem Wasserstrahl auf duktion des Kaliumausstroms. Dadurch bleibt
das Saugrohr der Schwanz oder das Mantelge- die Membran länger depolarisiert (also akti-
rüst der Schnecke elektrisch gereizt, verstärkt viert), weil mehr Kalzium in die präsynaptische
sich ihre Abwehrreaktion. Dieser Vorgang wird Membran fließt. In der Folge werden größere
als Sensitivierung bezeichnet. Beide Vor- Mengen von Neurotransmittern vom sensori-
gänge werden als elementare Grundlagen des schen Neuron ausgeschüttet, die zur post-
Lernens und des Gedächtnisses aufgefasst und synaptischen Membran diffundieren.
ihre neuronalen Grundlagen sind bekannt. Sensitivierung und Habituation gelten als
Um den Habituationsprozess zu verste- einfachste Lern- und Gedächtnismechanis-
hen, muss die neuronale Verschaltung von men. Beide Prozesse laufen innerhalb von
Saugrohr und Kiemen verstanden sein. Das wenigen Minuten ab und können deshalb als
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Saugrohr wird von sensorischen Neuronen in- einfache Modelle des Kurzzeitgedächtnisses
nerviert, die wiederum direkt mit nach- angesehen werden. Neuere Untersuchungen
geschalteten Motoneuronen verbunden sind. zeigten, dass längere Stimulationen, z. B. mit-
Die Motoneurone lösen die Abwehrreaktion tels aversiver Reize auf den Schwanz der
der Kiemen aus. Das sensorische Neuron ist Schnecke, Proteinsynthesen hervorrufen, die
also über eine Synapse mit dem Motoneuron letztlich dazu führen, dass sich neue Synapsen
verbunden. Wiederholte Stimulation des sen- bilden und bestehende gestärkt werden.
sorischen Neurons führt zu reduzierter Aus-
schüttung von Neurotransmittern auf der
präsynaptischen Seite, was wiederum dazu 13.6.2. Langzeitpotenzierung
führt, dass das Motoneuron (postsynaptisch) und Langzeitdepression
schwächere Reaktionen (weniger Aktions-
potenziale) generiert. Die geringere präsy­ Ein weiterer wichtiger zellulärer Mechanis-
naptische Neurotransmitterausschüttung ist mus des Lernens und des Gedächtnisses ist
auf einen reduzierten Einstrom von Kalzium die Langzeitpotenzierung (long-term poten-
in die präsynaptische Membran zurückzufüh- tiation, LTP). Dieser Mechanismus wurde
ren. Kalzium stimuliert die Ausschüttung von ursprünglich im Hippocampus der Ratte iden-
Transmittern auf der präsynaptischen Seite. Je tifiziert, mittlerweile ist er aber auch in ver-
weniger Kalzium in die präsynaptische Mem- schiedenen Kortexgebieten, in der Amygdala
bran fließt, desto weniger Neurotransmitter und in den Basalganglien nachgewiesen wor-
schüttet die präsynaptische Membran aus und den. Das Grundprinzip der Langzeitpotenzie-
desto schwächer wird auch das Motoneuron rung ist gut an einer Modellsynapse zu ver-
stimuliert. deutlichen. Wird das präsynaptische Neuron
Die Sensitivierung durch den aversiven elektrisch stimuliert, werden Neurotransmit-
Reiz auf den Schwanz der Schnecke führt zu ter ausgeschüttet und exzitatorische post-
einer Zunahme der Neurotransmitteraus­ synaptische Potenziale (EPSP) ausgelöst. Wird
schüttung am sensorischen Neuron. Diese das präsynaptische Neuron über 1 s mit einer
Zunahme wird durch ein Interneuron vermit- Frequenz von 100 Hz stimuliert (tetanische
telt, das eine synaptische Verbindung mit dem Stimulation), so sind EPSP über Minuten bis zu
sensorischen Neuron eingeht. Dieses Inter- Stunden deutlich erhöht. Wird mit derselben
neuron wird durch den aversiven Reiz aktiviert Pulsfrequenz alle 10 min, z. B. 4-mal, gereizt,
und schüttet präsynaptisch den Neurotrans- dann sind die EPSP über Stunden bis Wochen
mitter Serotonin aus. Serotonin führt auf der erhöht. Dieser LTP-Mechanismus ist sehr spe-

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432 13.  Allgemeines zum Gedächtnis

zifisch (Spezifität von LTP), denn er ist nur an In Rattenversuchen konnte gezeigt werden,
den Synapsen zu erkennen, die erregt wurden. dass Ratten, die in anregenden Umgebungen
Neben der Spezifität ist die Assoziativität lebten, neuronale Erregungsmuster zeigten,
ein weiteres Prinzip im Zusammenhang mit die denen der LTP ähnlich waren. Auch Ex­
dem LTP-Mechanismus. Damit ist gemeint, perimente, bei denen Ratten räumliche Zu-
dass LTP auch bei miteinander funktionell ver- sammenhänge lernen mussten, resultierten in
bundenen Neuronen feststellbar ist, nicht im- Erregungssteigerungen im Hippocampus, die
mer mit der gleichen Stärke wie am stimulier- denen ähnlich sind, die bei LTP gefunden
ten Neuron, aber doch mit signifikant erhöhten werden. Eine andere Möglichkeit, heraus-
EPSP. Assoziativität bedeutet, dass nur Sy- zufinden, ob LTP verhaltensrelevant ist, be-
napsen, die am Zustandekommen eines be- steht darin, Gene experimentell so zu beein-
stimmten neuronalen Netzes beteiligt sind, flussen (knock-out), dass die Bildung von
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LTP zeigen. Synapsen, auch solche, die un- NMDA-Rezeptoren im Hippocampus unmög-
mittelbar in der Nachbarschaft zu Neuronen lich wird. Die so behandelten Ratten waren
liegen, die LTP aufweisen, aber nicht zum nicht mehr in der Lage, räumliche Orientie-
funktionalen Netz gehören, zeigen keine LTP- rungsaufgaben zu lernen, obwohl sie nicht-
bedingten Veränderungen. räumliche Aufgaben lernen konnten. Da der
Langzeitdepression (LTD) entsteht da- Hippocampus wesentlich am räumlichen Ler-
gegen, wenn die Stimulationsfrequenz we- nen beteiligt ist, deuten diese Studien darauf
sentlich geringer als 100 Hz ist. Genutzt wer- hin, dass LTP im Hippocampus an räumlichen
den hierbei Frequenzen um ca. 1 Hz. Danach Lern- und Gedächtnisprozessen beteiligt ist.
ist das EPSP an der postsynaptischen Zelle re-
duziert und die synaptische Verbindung damit
geschwächt. 13.6.3. Veränderung der Synapsen
Die molekularen Mechanismen der LTP beim Lernen
sind sehr gut geklärt. LTP findet an Synapsen
statt, die Glutamat als Transmitter nutzen. Während des Lernens finden morphologische
Postsynaptisch stimuliert Glutamat zwei Re- Veränderungen an den Synapsen statt, d. h.,
zeptortypen: den NMDA- und den AMPA-­ sie verändern ihre Form, ihre Größe und ihre
Rezeptor. Der NMDA-Rezeptor ist während Anzahl. Diese Veränderungen erfordern das
normaler Stimulationsbedingungen durch Auslesen von genetischen Informationen, da-
Magnesiummoleküle blockiert. Durch die te- mit die notwendigen Proteine gebildet wer-
tanische Stimulation der Präsynapse wird die den können (Genexpression). Dieser Prozess
postsynaptische Membran so stark durch die der morphologischen Veränderung von Sy-
großen Mengen an ausgeschüttetem Gluta- napsen wird als synaptische Konsolidierung
mat stimuliert, dass sich die Magnesiummole- bezeichnet. Durch diese synaptische Konsoli-
küle von den NMDA-Rezeptoren ablösen. Da- dierung wird die Verbindung zwischen den
durch wird der NMDA-Rezeptor frei und Synapsen verbessert, sodass die Informati-
ermöglicht das Anbinden von Glutamat. Das onsübertragung immer effizienter wird. Ein
hat zur Folge, dass mehr Kalzium über die zentraler Mechanismus ist die Ausbildung
postsynaptische Membran in die Zelle fließt. von Ausstülpungen an den Dendriten, die in
Dadurch wird ein Second-Messenger-Mecha- der Fachsprache auch Dendritic Spines ge-
nismus ausgelöst, der die Sensibilität für Glu- nannt werden. Es handelt sich um kleine Fort-
tamat an den AMPA-Rezeptoren erhöht und sätze, die je nach Lerndauer und Lernvorgang
die Erregbarkeit damit steigert. unterschiedlich groß und unterschiedlich

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13.7.  Neuronale Netze 433

häufig sind. Vier Grundprinzipen der mor- die molekularen Mechanismen gut be-
phologischen Veränderung an den Synapsen kannt.
(hier an den Dendriten) können unterschie- • Alle synaptischen Lernmechanismen er-
den werden: fordern Veränderungen der Genexpression,
• Vergrößerung der dendritischen Fortsätze Proteinsynthese und führen zu morphologi-
• Entwicklung neuer synaptischer Zonen, die schen Veränderungen der Synapsen.
durch einen Spalt getrennt sind (perforierte
Synapsen)
• Entwicklung von neuen und völlig getrenn- 13.7. Neuronale Netze
ten dendritischen Fortsätzen
• Entwicklung neuer dendritischer Fortsätze. Künstliche „neuronale Netze“ sind Computer-
simulationen echter neuronaler Netze. Analog
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Diese morphologischen Veränderungen kön- zu den echten neuronalen Netzen bestehen die
nen nacheinander auftreten. Dendritische künstlichen neuronalen Netze aus Verarbei-
Fortsätze können bereits nach 30 min dauern- tungseinheiten, die ebenfalls als Neuronen
der LTP festgestellt werden. Nach ca. 1 h sind bezeichnet werden. Diese Neuronen sind mit-
neue separate Fortsätze bereits erkennbar. Ins- einander verbunden (Synapsen). Diese Ver-
gesamt kann festgehalten werden, dass sich bindungen können unterschiedlich effizient
durch diese morphologischen Veränderungen sein und demzufolge unterschiedliche Ge-
die Anzahl der Synapsen und die Größe der wichte aufweisen (man spricht auch von Ver-
synaptischen Fläche vergrößert. Dadurch wird stärkungsfaktoren). Das Weiterleiten der In-
die synaptische Übertragung effizienter. formationen erfolgt innerhalb dieser Netze
gemäß unterschiedlicher Regeln (Propagie­
rungsregel). Gemäß der jeweiligen Regel
13.6.4. Zusammenfassung der sy­ können die Informationen vorwärts (feedfor-
naptischen Mechanismen ward) oder zurückführend (feedback) weiter-
geleitet werden. Während des Ausbreitens der
• Gedächtnisinhalte bzw. Engramme werden Erregungen innerhalb des Netzwerks nehmen
in neuronalen Netzwerken gespeichert die Neuronen unterschiedliche Aktivierungs-
(Neural Assemblies). zustände an, die abhängig von den Netzeigen-
• Hierbei ist die Verbindung zwischen den schaften und der jeweiligen Aktivierungsregel
Neuronen wesentlich. Diese Verbindungen unterschiedlich ausfallen können. Die jewei-
können infolge des Lernprozesses gestärkt lige Aktivität eines Neurons muss sich nicht
oder abgeschwächt werden. zwangsläufig auf die anderen Neurone des
• Die molekularen Mechanismen des Ler- Netzwerks ausbreiten, sondern kann abhängig
nens sind bislang an sehr einfachen Ner- von unterschiedlichen Ausgaberegeln geregelt
venzellmodellen untersucht worden (z. B. werden. Manchmal muss eine bestimmte Ak-
an dem der Schnecke). tivitätsschwelle der Neurone überschritten
• LTP und LDP sind wichtige Mechanismen werden, damit die Aktivität weitergeleitet
des Lernens, die v. a. am Hippocampus (ins- wird, aber auch andere, kompliziertere Aus-
besondere in der Schicht CA1) untersucht gaberegeln sind möglich. Wichtig ist die Ak­
worden sind. tivierungsregel, die bestimmt, wie die Ein-
• Habituation und Sensitivierung sind wei- gangsaktivierungen eines Neurons mit dessen
tere zelluläre Modelle des Lernens. Bei momentanem Zustand zu einem neuen Zu-
diesen einfachsten Lernmechanismen sind stand des Neurons kombiniert werden. Die

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434 13.  Allgemeines zum Gedächtnis

Neurone können unterschiedlich komplex verteilten Repräsentation der gespeicherten


und in unterschiedlichen Schichten angeord- Informationen gesprochen. Eine besondere
net sein. Man spricht in diesem Zusammen- Eigenschaft dieser Netzwerke ist, dass sie ge-
hang von Ein- oder Mehrschichtennetz­werken. mäß bestimmter Regeln (Lernregel) lernen
Manche Netzwerke weisen auch „verborgene“ und verlernen können. Das bedeutet auch,
Schichten auf (hidden layers), die an internen dass sich diese Muster über die Zeit hinweg
Verarbeitungsprozessen beteiligt sind. Neuro- verändern. Zusammenfassend kann fest-
nale Netzwerke können abhängig von den be- gehalten werden, dass künstliche neuronale
teiligten Neuronen und der Anzahl und Art der Netzwerke aus folgenden Elementen be­
Verbindungen komplex werden (Abb. 13-2). stehen:
Das Verschaltungsmuster der „neuronalen • Neuronen (die elementaren Verarbei-
Netze“ und das Muster der Verbindungsver- tungseinheiten)

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stärkungen repräsentieren die jeweiligen ge- Netz der Verbindungen (Synapsen) zwi-
speicherten Informationen. Man könnte auch schen den Neuronen
sagen, dass diese Muster als Engramme auf- • Gewichte der Verbindungen (Verbin­
zufassen sind. Da es sich um Netzwerke han- dungsverstärkungen)
delt, die aus komplizierten Anordnungen von • Propagierungsregel für das Weiterleiten
Neuronen, Verbindungen und Verbindungs- eines Inputs
stärken aufgebaut sind, wird auch von einer • Aktivationszustände der Neuronen
• Output-Funktionen und Schwellenwerte
der Neuronen
A) B) • Aktivierungsregel, die bestimmt, wie alle
Eingänge eines Neurons, mit dessen mo-
mentanem Zustand zu einem neuen Zu-
stand des Neurons kombiniert werden
• Lernregel, nach der die Gewichte der Ver-
bindungen auf der Basis von Trainingsein-
C) D) gaben verändert und angepasst werden
können
• Umgebung, in der das lernende System ar-
beiten soll.

Die Aktivierungsregel ist zentral für das Ver-


ständnis von neuronalen Netzwerken. Gemäß
dieser Regel werden alle Eingänge eines Neu-
Abbildung 13-2: Vereinfachte Darstellung ein- rons (man spricht auch von Aktivierungen) mit
facher neuronaler Netze. (A) Einfaches Netz mit dessen momentanem Zustand (Aktivierungs-
zwei Eingangs- und einem Ausgangsneuron. (B)
zustand des Neurons) zu einem neuen Zustand
Netz mit drei Eingangsneuronen und zwei Aus-
des Neurons kombiniert (Abb. 13-3). Diese
gangsneuronen. (C)  Netz mit einer „verborgenen
Kombination ist eine einfache mathematische
Schicht“ aus drei Neuronen, zwei Eingangsneuro-
nen und einem Ausgangsneuron. (D) Netz mit ei-
Operation, in der die Eingangsaktivierungen
ner „verborgenen Schicht“ aus zwei Neuronen, mit den Verbindungsgewichten multipliziert
zwei Eingangsneuronen und einem Ausgangs- werden. Wenn mehrere Eingangsneurone mit
neuron. (Nachgezeichnet und modifiziert nach einem Ausgangsneuron verschaltet sind, dann
Haberlandt, 1994) müssen diese Produkte miteinander addiert

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13.7.  Neuronale Netze 435

Aktivierungsregel A) B)

C) D)
1.0 1.0 –1.0 1.0 1.0 –1.0

0.40 0
0.25 0.15 0 0.5 0.5 1

Abbildung 13-4: (A) Netzwerk aus drei Elementen:


zwei Eingangsneuronen und einem Ausgangs-
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Eingang 1 Eingang 2 Eingang 3 neuron. Das Ausgangsneuron ist dunkelblau dar-


gestellt. (B) Formale Darstellung des Netzwerks
Abbildung 13-3: Aktivierungsregel. aus drei Elementen. (C) Darstellung wie in (B) al-
lerdings sind die „Aktivitäten“ der Eingangsneu-
rone und die Gewichte als Zahlenwerte dar-
werden, um zur Aktivierung des Ausgangs- gestellt. Die Gewichte sind grafisch noch als
neurons zu gelangen. Formalisiert heißt das: kleine Kreiselemente kenntlich gemacht. Die „Ak-
tivität“ des Ausgangsneurons ist auch angegeben.
Ausgangsaktivierung = Summe (D) Darstellung eines Netzwerks mit fünf Elemen-
(Eingangsaktivierungs × Gewichtrs) ten, bestehend aus vier Eingangsneuronen und
einem Ausgangsneuron.
Die Indizes s und rs in der obigen Gleichung
bezeichnen „sendende“ ( s) und „empfangene“
(rs) Einheiten. In diesem Fall ist die Empfangs- neurone mit dem Wert 1 angegeben.42 Die Ver-
einheit auch eine Ausgabeeinheit und die­ bindung des ersten Eingangsneurons mit dem
Sendereinheit ist auch eine Eingangseinheit. Ausgangsneuron (G1) hat ein Gewicht von
0.25 und die Verbindung des zweiten Ein-
Grafisch ist die Aktivierungsregel in Abbildung gangsneurons mit dem Ausgangsneuron (G2)
13-3 dargestellt. Zu erkennen ist ein neuro- hat das Gewicht 0.15. Um die Aktivierung
nales Netz mit drei Eingängen und einem des Ausgangsneurons zu berechnen, muss die­
Ausgangsneuron. Die Eingangsinformatio- Aktivierung des jeweiligen Eingangsneurons
nen werden zu einer Ausgangsinformation mit dem jeweils zugehörigen Gewicht multi-
verrechnet. Weitere Netzwerke mit zwei Ein- pliziert werden (1 × 0.25 = 0.25 plus 1 × 0.15
gangsneuronen und einem Ausgangsneuron =  0.15). Diese beiden Werte werden dann
sind in der Abbildung 13-4 erkennbar. In dieser summiert, um den aktuellen Aktivierungs-
Abbildung wird auch ersichtlich, wie man zu zustand des Ausgangsneurons zu erhalten:
einer formaleren und übersichtlicheren Dar-
Ausgangsaktivierung
stellung der Netzwerke gelangt. Die Kreu-
= (1 × 0.25) + (1 × 0.15) = 0.40
zungspunkte der Linien in dieser Abbildung
repräsentieren die jeweiligen Gewichte. Ein-
getragen sind einige Beispielgewichte.
Die beiden Eingangsneurone weisen die 42  Die hier dargestellten Rechenbeispiele sind dem
gleiche Aktivierung auf. Zur Veranschauli- Buch von Haberlandt (1994, S. 162–164, 168–169
chung ist die Aktivierung beider Eingangs- und 173–174) entnommen und modifiziert worden.

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436 13.  Allgemeines zum Gedächtnis

Tabelle 13-3: Beispiel eines Netzwerks aus drei Neuronen (zwei Eingangsneuronen und ein Ausgangs-
neuron).

Eingang 1 Eingang 2 Gewicht 1 Gewicht 2 Ausgang


1.00 1.00 0.25 0.15 0.4000
1.00 1.00 0.25 0.00 0.2500
1.00 0.50 0.30 0.10 0.3500
0.50 1.00 0.10 –0.25 –0.2000
0.50 0.50 0.20 0.80 0.5000

Diese einfachen mathematischen Operatio- Ausgangsaktivierung in Zustand 1


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nen sind auch in Form von Tabellen darstell- = (1 × 0.25) + (1 × 0.15) = 0.40
bar. Tabelle 13-3 zeigt verschiedene Zustände
Ausgangsaktivierung in Zustand 2
eines Netzwerks aus drei Neuronen. In den
= (1 × 0.25) + (1 × 0.00) = 0.25
ersten beiden Spalten befinden sich unter-
schiedliche Werte für den Aktivierungsgrad etc.
der Eingangsneurone. Jede Zeile repräsentiert
einen unterschiedlichen Zustandszeitpunkt. In Abbildung 13-4D ist ein Netzwerk mit vier
In der dritten und vierten Spalte finden sich die Eingangsneuronen und ein Ausgangsneuron
Werte für die Gewichte bzw. Verbindungsstär- dargestellt, also ein Netzwerk mit fünf Ele-
ken. In der dritten Spalte finden sich die Ge- menten. In Tabelle 13-4 ist dieses Netzwerk
wichte, welche die Effizienz (oder Stärke) der aus fünf Elementen für unterschiedliche
Verbindung zwischen dem Eingangsneuron 1 Zustände tabellarisch dargestellt. Die Akti-
(E1) und dem Ausgangsneuron kennzeichnen. vierungsregel ist die gleiche wie bei dem
Analog dazu enthält Spalte vier die Gewichte, einfachen Beispiel des Netzwerks mit drei Ele-
welche die Verbindungsstärke von Eingangs- menten.
neuron 2 (E2) zum Ausgangsneuron kenn- Ein anderes Beispiel ist ein Netzwerk mit
zeichnen. Die fünfte Spalte enthält die Summe zwei Eingangs- und zwei Ausgangsneuro-
der Produkte aus den jeweiligen Gewichten nen, also ein Netzwerk mit vier Elementen
und den Eingangsstärken. Die Aktivität des (Abb. 13-5).
Ausgangsneurons berechnet sich für den je- Im Folgenden soll kurz dargestellt werden,
weiligen Zustand wie folgt: dass solche Netzwerke, wenn sie einmal die

Tabelle 13-4: Beispiel eines Netzwerks aus fünf Neuronen (vier Eingangsneuronen [E1–E4] und ein Aus-
gangsneuron [A]). Die Gewichte sind in den Spalten G1–G4 abgetragen. Jede Zeile repräsentiert einen
unterschiedlichen Zustand des Netzwerks.

E1 E2 E3 E4 G1 G2 G3 G4 A
1  1 1  1 0.3 0.5 0.3 0.2 1.30
1  1 0.5  0.5 0.25 0.15 0.2 0.3 0.65
1 –1 1 –1 0.25 0.15 0.2 0.3 0.00
1 –1 1 –1 0.5 0.5 0.8 0.15 0.65
0.1  0.1 1  1 0.5 0.4 0.1 0.2 0.39

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13.7.  Neuronale Netze 437

Netzwerk mit zwei Eingangsneuronen Netzwerk mit vier Eingangsneuronen

A)
1.0 1.0 E1 E2 E3 E4

E1 E2

A1
0.25 0.15
A1 0.40
A2

0.10 0.50
A2 0.60
A3

B)
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1.0 –1.0 A4

E1 E2
Abbildung 13-6: Netzwerk mit vier Eingangsneu-
ronen (E1–E4) und vier Ausgangsneuronen (A1–
0.25 0.15 A4). Ein 4-×-4-Netzwerk.
A1 0.10

0.10 0.50 Spalte) repräsentiert die deutsche Überset-


A2 –0.40 zung von „horse“, nämlich „Pferd“. Immer
dann, wenn dem Netzwerk das Wort „horse“
Abbildung 13-5: Netzwerk mit zwei Eingangs- präsentiert wird, assoziiert das Netzwerk die
neuronen (E1 und E2) und zwei Ausgangsneuro- korrekte deutsche Übersetzung.
nen (A1 und A2). Zwei Netzwerke mit unterschied-
Was passiert allerdings, wenn diesem Netz-
lichen Gewichten.
werk nicht die komplette Eingangsinforma-
tion zur Verfügung steht? Das kann z. B. ein-
entsprechenden Gewichte gelernt haben, in treten, wenn die Lichtverhältnisse beim Lesen
der Lage sind, aus fragmentierten Eingangs- so schlecht sind, dass einige Eingangskanäle
informationen die korrekte Information ab- unzulängliche Informationen anbieten. In Ta­
zurufen. Stellen wir uns dazu ein 4-×-4-Netz- belle 13-6 haben wir eine solche Situation si-
werk mit vier Eingangsneuronen und vier muliert. Die Eingangsinformation in der drit-
Ausgangsneuronen vor (Abb. 13-6). Dieses ten Spalte ist nicht vorhanden (deshalb ist dort
Netzwerk hat demzufolge 16 Gewichte. Stel- als Eingangsinformation eine 0 aufgeführt).
len wir uns weiter vor, das Netzwerk hätte Das Netzwerk liefert als Ausgangsinformation
gelernt, das englische Wort „horse“ mit der
deutschen Übersetzung „Pferd“ zu assoziie-
ren. Das Lernen hätte zu einem bestimmten Tabelle 13-5: 4-×-4-Netzwerk, in dem das eng-
Muster von Gewichten im neuronalen Netz lische Wort „horse“ mit dem deutschen Wort
„Pferd“ gekoppelt ist.
geführt. In Tabelle 13-5 ist ein solches Netz
als Matrix dargestellt. In der ersten Zeile 1 –1 –1 1
sind die Eingangsinformationen als Folge von –0.25  0.25  0.25 –0.25 –1
vier Zahlen aufgeführt. Diese Zahlenkom- –0.25  0.25  0.25 –0.25 –1
bination soll das Wort „horse“ repräsentieren.
 0.25 –0.25 –0.25  0.25  1
Die gelernten Gewichte sind in der Matrix
 0.25 –0.25 –0.25  0.25  1
dargestellt. Das Muster am Ausgang (letzte

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438 13.  Allgemeines zum Gedächtnis

Tabelle 13-6: Gleiches 4-×-4-Netzwerk wie oben, Tabelle 13-7: 4-×-4-Netzwerk, das gelernt hat,
nur die Eingangsinformationen sind leicht ver- die beiden englischen Wörter „horse“ und „cat“ mit
ändert. Die Eingangsinformation in der dritten den zutreffenden deutschen Übersetzungen zu
Spalte fehlt. Trotzdem ist das abgerufene Muster assoziieren.
demOriginalmuster sehr ähnlich.
horse
1 –1 0 1 1 –1 –1 1 Pferd
–0.25  0.25  0.25 –0.25 –0.75  0  0  0.5 –0.5 –1
–0.25  0.25  0.25 –0.25 –0.75 –0.5  0.5  0  0 –1
 0.25 –0.25 –0.25  0.25   0.75  0  0 –0.5  0.5  1
 0.25 –0.25 –0.25  0.25   0.75  0.5 –0.5  0  0  1
cat
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–1  1 –1  1 Katze
anstatt des Musters –1, –1, 1, 1 das Muster
 0  0  0.5 –0.5 –1
–.75, –.75, .75, .75. Das grundsätzliche Muster
–0.5  0.5  0  0  1
ist trotz unterschiedlicher Zahlen gleich (zwei
relativ großen negativen Zahlen folgen zwei  0  0 –0.5  0.5  1
relativ große positive Zahlen). Unter der Vo-  0.5 –0.5  0  0 –1
rannahme, dass Informationen am Ausgang,
die größer oder gleich 0.75 oder kleiner oder
gleich –0.75 sind, so interpretiert werden, als Matrizen in den oben gezeigten Netzwerken
ob sie eine 1 oder eine –1 wären, assoziiert das unterschiedliche Gewichte. Wird das Ein-
Netzwerk die korrekte Übersetzung. Dies ist gangsmuster für „horse“ angelegt, erinnert
ein großer Vorteil solcher assoziativen Netz- das Netzwerk korrekt die deutsche Überset-
werke, denn man kann mit diesem Modell er- zung „Pferd“. Das gleiche Netzwerk kann mit
klären, warum Gedächtnisinformationen ab- den gleichen Gewichten aus einem anderen
gerufen werden können, ohne dass uns alle Eingangsmuster (hier für „cat“) die korrekte
Eingangsinformationen zur Verfügung stehen! Übersetzung „Katze“ assoziieren.
Ein weiterer Vorteil von solchen assozia- Zusammengefasst lässt sich an diesen Mo-
tiven Netzwerken ist, dass diese lernen kön- dellen ablesen, wie in etwa in den „echten“
nen, verschiedene Informationen im gleichen neuronalen Netzen anhand der Muster der Sy-
Netzwerk zu speichern. Dies soll an einem 4- napsengewichte unterschiedliche Informatio-
×-4-Netzwerk kurz erläutert werden. An- nen gespeichert werden können. Am Rande
genommen, dass dieses Netzwerk mit seinen soll allerdings erwähnt werden, dass mit zu-
16 Gewichten gelernt hätte, zwei unterschied- nehmender Anzahl der in einem Netzwerk
liche englische Wörter (horse und cat) mit ih- gespeicherten Informationen die Fähigkeit
ren Übersetzungen zu assoziieren. Um ver- verloren geht, die korrekte Information aus
schiedene Wörter im gleichen Netzwerk zu fragmentierten Eingangsinformationen zu er-
assoziieren, muss das Netzwerk Gewichte ge- schließen. Das Netzwerk wird dann zuneh-
lernt haben, die auf die beiden unterschiedli- mend interferenzanfällig.
chen Eingangsinformationen gleichermaßen Die bislang dargestellten künstlichen Netz-
anzuwenden sind und die  je nach Eingangs- werke sind einfach und dienen der Veranschau-
muster eindeutige Assoziationen generieren. lichung, wie man sich die synaptischen Stärken
In Tabelle 13-7 ist ein solches Netzwerk dar- als Gewichte innerhalb des Netzwerks vorstel-
gestellt. Man erkennt im Gegensatz zu den len kann. Diese Gewichte verändern sich stän-

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13.8.  Mesiotemporales ­Gedächtnissystem 439

Netzwerk mit 16 Ein- und Ausgängen


Eingangsneurone H. M.
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16
H. M. sind die Initialen eines neurologischen
Patienten, dessen Fall für die kognitiven Neu-
rowissenschaften von herausragender Bedeu-
tung ist. H. M. litt unter epileptischen Anfällen.
Die behandelnden Ärzte stellten fest, dass

Ausgangssneurone
seine Anfälle durch Läsionen im Bereich des
mesiolateralen Temporalkortex, und hier ins-
besondere im Hippocampus, bedingt gewesen
seien. Aus diesem Grund entfernte ihm der
Neurochirurg William Scoville beidseitig die
Hippocampi. Nach der Operation stellten sich
unerwartete neuropsychologische Ausfälle
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ein. Es zeigte sich, dass H. M. keine neuen ex-


pliziten Informationen mehr lernen konnte. Im
Grunde verharrte er hinsichtlich seines expli-
Abbildung 13-7: Schematische Darstellung eines ziten Wissens in der Zeit unmittelbar vor sei-
Netzwerks mit 16 Eingängen und 16 Ausgängen. ner Operation. Obwohl er keine neuen explizi-
(Nachgezeichnet nachHaberlandt, 1994) ten Informationen mehr lernen konnte, war er
in der Lage, ­motorische und sensomotorische
Aufgaben zu lernen und die Leistungen zu per-
dig in Abhängigkeit von der Erfahrung und fektionieren. Auch Wahrnehmungsaufgaben
dem damit zusammenhängenden Lernen. Je meisterte er. Aufgrund seiner Defizite und der
nach Größe der Netzwerke können unter- erhaltenen ­Fähigkeiten wurde im Wesentli-
schiedlich viele Informationen gespeichert chen die heute noch aktuelle Taxonomie des
Gedächtnisses entwickelt. H. M. verstarb im
werden. In Abbildung 13-7 ist ein Netzwerk mit
Dezember 2008. Sein Gehirn wurde ein Jahr
16 Eingängen und 16 Ausgängen dargestellt.
später unter großer medialer Anteilnahme
Dieses Netzwerk weist 16 × 16 = 256 Ge-
seziert. Die Hirnschnitte sollen zu weiterfüh-
wichte auf und ermöglicht damit eine differen- renden Forschungen an seinem Gehirn ver-
zierte Speicherung von Informationen. wendet werden.

13.8. Mesiotemporales ­
Gedächtnissystem Kern des expliziten Gedächtnissystems. Es ist
darüber hinaus mit dem Neokortex im Fron-
Das mesiotemporale Gedächtnissystem be- tal-, Parietal-, Temporal- und Okzipitallappen
steht aus dem Hippocampus, dem unmittel- verbunden (Abb. 13-9).
bar posterior anschließenden entorhinalen Schädigungen dieses Systems sind immer
Kortex, dem anterior anschließenden peri­ mit Beeinträchtigungen des expliziten Ge-
rhinalen Kortex und dem lateral liegenden dächtnisses bis hin zum totalen Verlust dessel-
Gyrus parahippocampalis. Letztlich muss ben verbunden. Aus Bildgebungs- und Läsi-
auch noch der Mandelkern (Amygdala) da- onsstudien ist bekannt, dass dieses System an
zugezählt werden, eine runde Hirnstruktur, der Verknüpfung verschiedener Gedächtnis-
die unmittelbar vor dem Hippocampus liegt informationen wesentlich beteiligt ist. Die ver-
(Abb. 13-8). Dieses eng und bidirektional mit- schiedenen Informationen werden hier inte-
einander verbundene Hirnsystem bildet den griert und in den Neokortex übertragen.

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440 13.  Allgemeines zum Gedächtnis

Präfrontal- Parietal- Temporal-


kortex lappen lappen

Output Output Output

Hippocampus

5 3

1 2 entorhinaler Kortex
4

Input
Gyrus parahippocampalis
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Abbildung 13-9: Verschaltung des mesiotempo-


ralen Hirnsystems.
Abbildung 13-8: Die wichtigen mesiotemporalen
Hirngebiete. Dargestellt ist die basale Ansicht. 1:
Hippocampus, 2: Gyrus parahippocampalis, 3: neokortikalen Strukturen zunehmend stärker
perirhinaler Kortex, 4: entorhinaler Kortex, 5: verbunden werden (s. Kap. 13.9.).
Amygdala.
Das mesiotemporale Gedächtnissystem ist
während aller Stadien von expliziten Gedächt-
nisfunktionen beteiligt. Beim Encodieren
Verknüpfung und Integration (Vernetzung) neuer Informationen werden die zu lernenden
sind die wesentlichen Aufgaben, die im Hip- Informationen dort miteinander verknüpft
pocampus und den anliegenden Hirngebie- und dann in den kortikalen Hirnbereichen
ten bearbeitet werden, wie episodische Ge- abgelegt. Beim Abruf werden über den Hip-
dächtnisinformationen veranschaulichen. Als pocampus und die angrenzenden Hirn-
Beispiel soll hier eine Episode dienen, in der strukturen des mesiotemporalen Gedächt-
ein Student englische Vokabeln in einer be- nissystems die „Verknüpfungen“ mit den
stimmten Situation, in Gegenwart bestimmter neokortikalen Hirngebieten reaktiviert und
Personen und im Zusammenhang mit einem somit die gespeicherten Informationen wie-
bestimmten Problem gelernt hat. Die zu ler- dergefunden. Während der Konsolidierung
nenden Vokabeln sind mit der Situation, den werden die Verknüpfungen im Hippocampus
Personen und dem Problem verknüpft. Die aktiv gehalten und zunehmend in neokorti-
aktive neurophysiologische Verknüpfung un- kale Strukturen verlagert und mit ihnen stär-
terschiedlicher Informationen übernehmen ker verbunden. Am Beginn der Konsolidie-
zu Beginn des Lernens der Hippocampus rung sind mesiotemporale und neokortikale
und das gesamte mesiotemporale Gedächt- Hirngebiete gemeinsam aktiv, mit zunehmen-
nissystem. Dieses System lernt sehr schnell, der Nutzung der in diesen Netzwerken gespei-
was wahrscheinlich daran liegt, dass im Hip- cherten Informationen werden jedoch die
pocampus die Langzeitpotenzierung und neokortikalen Netzwerke immer effizienter
die Langzeitdepression besonders effizient und übernehmen die Speicherung und den
sind. Die Informationen, die in diesem System Abruf der Informationen gänzlich.
gelernt und gespeichert werden, müssen mit
der Zeit in den Neokortex übertragen oder mit

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13.10.  Konsolidierung im ­deklarativen Gedächtnis 441

13.9. Von der zellulären Ebene greifend festgestellt werden, dass die Kon-
solidierung der Synapsen insbesondere in den
zum übergeordneten
Hirngebieten stattfindet, die auch an der Kon-
System trolle der jeweiligen Aufgabe beteiligt sind. Im
Gegensatz zur Konsolidierung der Synapsen
In den vorangegangenen Kapiteln wurden dauert die Systemkonsolidierung erheblich
grundlegende Prinzipien und Einteilungsge­ länger und kann Tage, Woche oder gar Jahre in
sichtspunkte des menschlichen Gedächtnisses Anspruch nehmen. Bei der Systemkonsoli-
besprochen. Auf der zellulären Ebene sind die dierung verändert sich das System, in dem die
synaptischen Mechanismen an den Gedächt- Informationen gespeichert werden. Hirn-
nisprozessen beteiligt. Über die Veränderung gebiete, die zu Beginn am Lernen und Spei-
der synaptischen Kontakte werden Netzwerke chern beteiligt waren, können für die Kon-
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aufgebaut, in denen Informationen langfristig trolle der gelernten Funktion zunehmend an


zur Verfügung stehen. Demzufolge kann das Bedeutung verlieren. Andere Hirngebiete
Engramm als ein Muster von synaptischen können dann die Kontrolle dieser Funktion
Verbindungen in einem verteilten Netzwerk übernehmen. Systemkonsolidierung findet
aufgefasst werden. sowohl beim deklarativen wie auch beim im-
Nach dem heutigen Wissensstand sind die pliziten Lernen statt.
zellulären Mechanismen für alle Gedächtnis-
systeme identisch. Das bedeutet: Bei jedem (!)
Lern- und Gedächtnisvorgang wird auf neuro- 13.10. Konsolidierung im ­
nale Netzwerke zurückgegriffen, deren Struk- deklarativen Gedächtnis
tur durch das Muster der synaptischen Ver-
bindungen innerhalb des jeweiligen Netzwerks Im Zusammenhang mit dem deklarativen Ge-
determiniert ist. Im Zusammenhang mit den dächtnis werden zwei unterschiedliche Theo-
verschiedenen Gedächtnissystemen haben die rien der Systemkonsolidierung diskutiert: die
verschiedenen Hirngebiete unterschiedliche Standardkonsolidierungstheorie (standard
Bedeutungen für das jeweilige Gedächtnis. consolidation theory) und die Viel-Spuren-
Die Verfestigung von Gedächtnisinforma- Theorie (multiple-trace theory). Die Stan-
tionen (Konsolidierung) erfolgt auf zwei dardkonsolidierungs-theorie geht davon aus,
Ebenen (Diekelmann & Born, 2010): auf der dass der Hippocampus neue Informationen
Ebene der Synapsen (Synapsenkonsolidie­ schnell encodiert, da im Hippocampus Lang­
rung) und auf der Ebene des jeweiligen Ge- zeitpotenzierung und Langzeitdepression
dächtnissystems (Systemkonsolidierung). möglich sind, und dass er diese Informationen
Die Synapsenkonsolidierung erfolgt inner- dann ins langsamer arbeitende neokortikale
halb von Minuten bis Stunden. Sie beinhaltet System überträgt (Abb. 13-10). Der Hippocam-
Veränderungen von Genexpressionen, die pus verknüpft beim Encodieren die verschie-
mit Proteinsynthesen verbunden sind. In der denen Informationen, die mit der zu lernen-
Folge werden die Synapsen verändert und ggf. den Information assoziiert sind.
verstärkt oder abgebaut. Diese Konsolidie- Warum ist der Hippocampus beim deklara-
rung kann durch entsprechende Pharmaka tiven Lernen so wichtig? Nach allem, was wir
(Protein-Synthese-Hemmer) gehemmt oder derzeit über den Hippocampus wissen, werden
gesteigert werden. Wird sie gehemmt, kann in ihm die zu speichernden Informationen viel-
dadurch die Konsolidierung gestört oder ver- fältig untereinander und mit anderen Informa-
hindert werden. Bislang konnte tierartenüber- tionen verknüpft. Stellen Sie sich einen roten

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442 13.  Allgemeines zum Gedächtnis

Langzeitspeicher werden in verschiedenen Hirngebieten und


(langfristig – Neokortex)
unterschiedlichen Netzwerken verarbeitet und
gespeichert. Sie müssen jetzt allerdings mit-
Encodieren
einander verkoppelt werden, um ein einheitli-
ches Engramm zu formieren. Dies erfolgt über
den Hippocampus. Über den Hippocampus
Encodieren Konsolidieren werden die verschiedenen Netzwerke zusam-
mengehalten und auch zusammengeführt
(Abb. 13-11). Der Vorgang der Systemkonsoli-
dierung läuft dabei mehrstufig ab (Abb. 13-12):
• Beim Encodieren neuer Informationen
werden diese von neokortikalen Strukturen
Langzeitspeicher
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(kurzfristig – Hippocampus) codiert und in den Hippocampus überführt.


• Im Hippocampus werden diese Informatio-
Abbildung 13-10: Schematische Darstellung
nen schnell gelernt bzw. konsolidiert. Hier-
der Standardkonsolidierungstheorie.
bei werden die Verbindungen zu den Netz-
werken im Neokortex aufrechterhalten und
Fußball mit einer bestimmten Beschriftung gestärkt.
vor: Sie müssen die Form (Ball) mit einer Farbe • Mit zunehmender Konsolidierung, d. h. mit
(Rot), einer Funktion (Fußballspielen) und den häufiger Reaktivierung dieser Netzwerke,
verbalen Informationen (Beschriftung) kop- bilden sich im Neokortex immer stabilere
peln. Diese unterschiedlichen Informationen Netzwerke aus. Es bestehen dabei immer
noch Verbindungen zum Hippocampus,
sodass der Abruf über den Hippocampus
immer noch möglich ist.
Areal 3
Areal 4 A) B) C)

Neokortex Neokortex Neokortex


Areal 2

Hippocampus Areal 1

Abbildung 13-11: Verbindung des Hippocampus


mit neokortikalen Hirngebieten. In den verschie-
denen neokortikalen Arealen werden jeweils
spezifische Informationen verarbeitet (z. B. in Hippocampus Hippocampus Hippocampus

Areal 1 Farbinformationen, in Areal 2 akustische


Informationen, in Areal 3 motorische Informatio- Abbildung 13-12: Ablauf der Systemkonsolidie-
nen, in Areal 4 räumliche Informationen). Der rung (nach Diekelmann & Born, 2010). (A) Beginn
Hippocampus hat zu allen Arealen besondere des Lernens, (B) fortgeschrittenes Stadium des
Verbindungen aufgebaut, die das Gedächtnis- Lernens, (C) am weitesten fortgeschrittenes Sta-
netzwerk ausmachen. dium des Lernens.

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13.10.  Konsolidierung im ­deklarativen Gedächtnis 443

• Nach sehr häufiger Reaktivierung der Netz-

Reproduktion
A)
werke kann der Hippocampus für den Abruf

gute
bestimmter Engramme bedeutungslos wer-
den, da die Netzwerke im Neokortex so
stabil sind, dass sie unter Vermeidung des

Reproduktion
Umwegs über den Hippocampus aktiviert

schlechte
werden können.

Die besondere Bedeutung des mesiotempo- 1916 1930 1940 1950 1960 1970
–1930 –1940 –1950 –1960 –1970 –1980
ralen Gedächtnissystems beim Aufbau von ver-
knüpften Gedächtnisinformationen wird durch B)
Kindheit
eine Reihe von experimentellen Befunden be-

gut
Jugend

Erinnerungsleistung
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legt. Aus Bildgebungsstudien ist bekannt, dass Gegenwart

insbesondere das Lernen von episodischen In-


formationen mit starken Aktivierungen des
Hippocampus einhergeht. Episodische Infor-

gering
mationen bestehen „von Natur aus“ aus ver-
schiedenen Informationen. Des Weiteren sind
KG HC Alzheimer
besonders lebhafte und mit verschiedenen
Modalitäten verbundene Informationen mit Abbildung 13-13: (A) Beispiel für einen negativen
ausgeprägter Hippocampusaktivität assoziiert. zeitlichen Gradienten im Zusammenhang mit ei-
Die Systemkonsolidierung zeigt sich im Zu- ner Amnesie infolge einer Hippocampusläsion. (B)
sammenhang mit gut gelernten Informatio- Zeitliche Gradienten für die Gedächtnisleistungen
nen, für die genügend Zeit zur Verfügung bei Gesunden (KG), bei Patienten mit Hippocam-
pusläsionen (HC) und bei Patienten mit Alzhei-
stand, um sie in neokortikalen Hirngebieten
mer-Amnesien.
zu verankern. Sind diese neokortikalen Netz-
werke erst einmal fest etabliert, wird das me-
siotemporale Hirnsystem immer weniger ge- Box: Der Taxifahrer ohne Hippocampus). Bei
nutzt und wird mit der Zeit sogar unwichtig für Patienten, die unter einer Alzheimer-Demenz
die besonders gut gelernten Informationen. leiden, ist der Gedächtnisgradient umge-
Die Standardkonsolidierungstheorie kehrt. Da bei ihnen starke Degenerationen
kann den zeitlichen Gradienten von retrogra- des Neokortex vorliegen, verlieren sie auch
den Amnesien im Zusammenhang mit Hippo- den Zugang zu ihrem deklarativen Gedächtnis,
campusläsionen erklären (Abb. 13-13). Alte weshalb sie viele Informationen aus ihrer Ver-
Gedächtnisengramme, die über einen län- gangenheit vergessen. Sie leiden allerdings
geren Zeitraum reaktiviert und konsolidiert auch unter Kurzzeitgedächtniseinbußen.
werden, sind besonders gut im Neokortex ver- Eine andere Erklärung für die Bedeutung
ankert und werden auch nach langer Zeit des Hippocampus ist die Viel-Spuren-Theo­
erinnert. Selbst Patienten mit Läsionen in rie. Der wesentliche Unterschied zur Stan-
mesiotemporalen Hirngebieten (unter Ein- dardkonsolidierungstheorie besteht darin,
schluss des Hippocampus) können weit zu- dass im Rahmen der Viel-Spuren-Theorie da-
rückliegende Informationen noch gut er- von ausgegangen wird, dass der Hippocampus
innern. Dies belegt, dass bestimmte bewusste immer am Abruf von deklarativen Gedächtnis-
Gedächtnisengramme existieren, deren Abruf informationen beteiligt ist. Auch wenn etwas
den Hippocampus nicht mehr erfordert (siehe gut gelernt wurde, soll der Neokortex die Spei-

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444 13.  Allgemeines zum Gedächtnis

Der Taxifahrer ohne Hippocampus dort befindlichen Netzwerke aktiv sind. In der
oben angesprochenen Publikation wurde ein
Ein interessantes Beispiel für das Unabhängig- Mann vorgestellt, der seit einigen Jahrzehnten
werden des mesiotemporalen Gedächtnissys- als Taxifahrer in London gearbeitet hatte. Er
tems konnte in einer Publikation dokumentiert hatte somit genügend Gelegenheit, die räumli-
werden (Maguire et al., 2006). Das Lernen von chen Informationen, die in den mesiotemporalen
räumlichen Zusammenhängen, wie sie z. B. auf Netzwerken lokalisiert waren, in neokortikale
der Karte einer Großstadt wie London repräsen- Strukturen zu verlagern. Dieser Taxifahrer wies
tiert sind, greift insbesondere auf den hinteren im vorangeschrittenen Alter massive Läsionen
rechtsseitigen Hippocampus zurück. Die dort des Hippocampus auf, war aber dennoch in der
befindlichen Netzwerke lernen räumliche Zu- Lage, sich in London sehr gut zurechtzufinden.
sammenhänge und bauen ein Netzwerk auf, Das bedeutet, dass er zur räumlichen Orientie-
in dem diese Zusammenhänge abgelegt sind. rung seine neokortikalen Netzwerke nutzen
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Dieses Netzwerk ist auch beim Abruf der räum­ konnte und nicht mehr auf die hippocampalen
lichen Informationen beteiligt. Werden z. B. Lon- Netzwerke zurückgreifen musste. Er konnte al-
doner Taxifahrer während des Lösens von lerdings keine neuen räumlichen Zusammen-
Orientierungsaufgaben untersucht, ist fest- hänge lernen; mit neuen Straßen und Wegleitun-
zustellen, dass immer der Hippocampus und die gen hatte er demzufolge große Mühe.

cherung der Engramme nicht allein überneh- schnell überlagert werden; das System hätte
men, sondern der Hippocampus immer betei- dann keine Möglichkeit mehr, stabile Ver-
ligt sein. Im Rahmen der Viel-Spuren-Theorie knüpfungen aufzubauen.
wird davon ausgegangen, dass bei jeder Re-
aktivierung der gespeicherten Engramme eine
neue „Spur“ oder – anders ausgedrückt – eine 13.11. Gedächtnis und ­
neue Verbindung im Hippocampus zu den Emotionen
Netzwerken im Neokortex angelegt wird. Je
länger also etwas gelernt und damit reaktiviert Emotionen können als Verstärker für die Kon-
wurde, desto mehr „Spuren“ und „Verbindun- solidierung von gelernten Informationen wir-
gen“ existieren im Hippocampus. Der zeitliche ken. Je stärker die emotionale Erregung beim
Gradient bei Amnesien wäre demzufolge eine Lernen, desto besser wird das Lernmaterial
lineare Funktion der Anzahl der zerstörten erinnert. Wahrscheinlich werden die gelernten
„Spuren“ und „Verbindungen“. Informationen durch die emotionale Erregung
Beide Theorien berücksichtigen, dass der besser konsolidiert. Dies zeigen eine Reihe
Hippocampus das schneller lernende und der interessanter Arbeiten von denen eine exem-
Neokortex das langsamer lernende System plarisch an dieser Stelle dargestellt werden
ist. Offenbar ist diese Arbeitsteilung recht soll. Die Autoren dieser Arbeit (Judde &­
günstig, denn Simulationsstudien haben ge- Rickard, 2010) ließen ihre Versuchspersonen
zeigt, dass mit einem schnell und einem lang- Wortlisten auswendig lernen. Nach einer Wo-
sam lernenden System eine Überlagerungs­ che luden sie diese Versuchspersonen wieder
katastrophe verhindert werden kann. Unter ins Labor ein, um zu überprüfen, wie viele
diesem Begriff versteht man, dass die Ver- dieser Wörter die Versuchspersonen noch er-
knüpfungen zwischen den zu lernenden In- innern würden. Die Anzahl der erinnerten
formationen durch neue Informationen zu Wörter diente als Indikator für die Langzeitge-

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13.11.  Gedächtnis und ­Emotionen 445

dächtnisleistung. Die Versuchspersonen wur- den, das Konsolidieren von gelerntem Mate-
den vor dem Experiment zufällig auf verschie- rial deutlich verbesserte. Offenbar funktioniert
dene Gruppen aufgeteilt. Eine Gruppe hörte diese Konsolidierungsverbesserung durch
unmittelbar (0 Minuten) nach dem Lernen der emotionale Erregung auch beim Menschen
Wortliste emotional erregende Musik, eine und kann auf recht einfache Art und Weise
andere 20 Minuten nach dem Lernen und eine durch emotionale Musik hervorgerufen wer-
dritte Gruppe 40 Minuten nach dem Lernen. den. Neurophysiologisch erklärt man sich die-
Es zeigte sich, dass die Erinnerungsleistungen sen Effekt durch die vermehrte Ausschüttung
eine Woche später bei der Gruppe, die 20 Mi- von Katecholaminen (Adrenalin und Noradre-
nuten nach dem Lernen emotional erregende nalin) und Glukokortikoiden, welche als Folge
Musik gehört hatte, deutlich besser war, als bei der emotionalen Erregung durch Musik auf-
den anderen Versuchsgruppen und bei einer tritt. Adrenalin wird im Nebennierenmark ge-
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weiteren Kontrollgruppe, die keine Musik nach bildet und stimuliert vor allem die Amygdala,
dem Lernen präsentiert bekommen hatte. Of-
fenbar ist die emotionale Erregung, die 20 Mi- Lernen
Erfahrung
nuten nach dem Lernen durch die Musik evo-
ziert wird, für das Konsolidieren des Gelernten
sehr förderlich (siehe Abb. 13-14). Amygdala
Motorkortex (M1)
Sensomotorischer
Dieser Befund passt sehr gut zu den Er- Kortex (S1)
Nor-
kenntnissen aus der Tierforschung, in der baso- adrenalin Prämotorkortex (PMC)
zentrale
laterale Orbitofrontalkortex (OFC)
die neurophysiologischen Grundlagen der Kern
Kern Temporallappen
Gedächtniskonsolidierung untersucht worden Hippocampus
Basalganglien
sind. In diesen Arbeiten zeigte sich, dass neu-
ronale Erregungen, die bei den Tieren bis
25 Minuten nach dem Lernen induziert wur-
Adrenalin

ide
ico
emotionale
ort

Reaktionen
15
coc

Verhalten
Wiedererkennungsleistung

Glu

Physiologie
13 Endo- Neben-
1 Woche später

krinologie niere

11
Abbildung 13-15: Schematische Darstellung der
neurophysiologischen Mechanismen bei emotio-
9
naler Erregung, welche sich günstig auf die Kon-
solidierung auswirken. Zentral sind in diesem
7
Kontrolle 0 Minuten 20 Minuten 40 Minuten
Wirkungsgefüge die endokrinen Reaktionen, wo-
bei es zur Ausschüttung von Adrenalin/Noradre-
Abbildung 13-14: Schematische Darstellung der nalin und Glukokortikoiden aus der Nebenniere
Ergebnisse von Judde und Rickard (2010). Dar- kommt. Über den adrenergen Weg wird der baso-
gestellt sind die Wiedererkennensleistungen von laterale Kernbereich der Amygdala moduliert. Der
Wörtern, die vor ca. 1 Woche gelernt wurden. Dar- basolaterale Kernbereich stimuliert die Basal-
gestellt sind die Erkennensleistungen in Abhän- ganglien, Motorkortex und andere kortikale Be-
gigkeit davon, ob unmittelbar nach dem Lernen reiche. Die Glukokortikoide modulieren die Basal-
(0 Minuten), 20 Minuten nach dem Lernen oder ganglien und vor allem die Aktivität in den
40 Minuten nach dem Lernen emotional erre- kortikalen Hirnbereichen. Über diese „emotionale“
gende Musik präsentiert wurde. (Nachgezeichnet Schleife werden die Konsolidierungsprozesse im
nach Judde & Rickard, 2010) Kortex moduliert.

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446 13.  Allgemeines zum Gedächtnis

die wiederum Noradrenalin ausschüttet. In der zellulären Mechanismen für diese Vor-
Nebennierenrinde werden bei emotionaler Er- gänge sind bekannt.
regung vermehrt Glukokortkoide (Cortisol) • Die Habituation ist ein Gewöhnungspro-
ausgeschüttet. Noradrenalin und die Gluko- zess, in dessen Zusammenhang die Re-
kortkoide stimulieren wiederum viele kortikale aktionen auf einen Stimulus immer schwä-
Hirnbereiche, die auch als Gedächtnisspeicher cher werden. Die Reaktionsverminderung
agieren. Durch diese Aktivitätsbeeinflussung ist auf eine geringere präsynaptische Neu-
20 Minuten nach dem Lernen werden wahr- rotransmitterausschüttung zurückzufüh-
scheinlich die Konsolidierung und die damit ren. Verantwortlich dafür ist reduzierter
verbundenen synaptischen Prozesse günstig Einstrom von Kalzium in die präsynapti-
beeinflusst. Erfolgt diese Aktivitätsbeeinflus- sche Membran. Kalzium stimuliert die Aus-
sung früher (also unmittelbar nach dem Ler- schüttung von Transmittern auf der prä-
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nen) oder erheblich später (45 Minuten nach synaptischen Seite. Je weniger Kalzium in
dem Lernen), bleibt der günstige Einfluss der die präsynaptische Membran fließt, desto
emotionalen Erregung aus (siehe Abb. 13-15). weniger Neurotransmitter schüttet die prä-
synaptische Membran aus und desto
schwächer wird auch das Motoneuron sti-
13.12. Zusammenfassung muliert.
• Bei der Sensitivierung nimmt die Reaktion
• Das menschliche Gedächtnis ist als Netz- auf einen aversiven Reiz zu. Die Stimu­
werk aufzufassen, in dem die gespeicherten lation führt zu einer vermehrten Neuro-
Informationen (Engramme) als Muster von transmitterausschüttung am sensorischen
Synapsengewichten verstanden werden Neuron. Diese Zunahme wird durch ein
können. Interneuron vermittelt, das eine synap­
• Das Gedächtnis kann auf der zellulären tische Verbindung mit dem sensorischen
Ebene und auf der Ebene der Neuroanato- Neuron eingeht. Dieses Interneuron wird
mie (Systemebene) betrachtet werden. durch den aversiven Reiz aktiviert und
• Auf der zellulären Ebene können im Zu- schüttet präsynaptisch den Neurotransmit-
sammenhang mit dem Lernen neurophy- ter Serotonin aus, der auf der Seite des
siologische und neuroanatomische Ver- sensorischen Neurons zu einer Reduktion
änderungen an den Synapsen festgestellt des Ausflusses von Kalium führt. Dadurch
werden. Im Wesentlichen verändert sich bleibt die Membran länger depolarisiert
infolge des Lernens die Effizienz der synap- (also aktiviert), weil mehr Kalzium in die
tischen Übertragung. präsynaptische Membran fließt. In der
• Ein bedeutender Mechanismus zum Erklä- Folge werden auch größere Mengen von
ren der synaptischen Veränderungen im Neurotransmittern vom sensorischen Neu-
Zusammenhang mit dem Lernen ist die ron ausgeschüttet, die zur postsynaptischen
Hebb-Lernregel: Eine Synapse zwischen Membran diffundieren können.
zwei Neuronen, die gleichzeitig (oder mit • Langzeitpotenzierung (LTP): Wird das
geringen zeitlichen Verzögerungen) Akti- präsynaptische Neuron über 1 s mit einer
onspotenziale generieren, steigert ihre sy- Frequenz von 100 Hz stimuliert, sind die
naptische Stärke. exzitatorischen postsynaptischen Poten-
• Habituation und Sensitivierung sind zwei ziale (EPSP) über Minuten bis zu Stunden
einfache Lernvorgänge, die an der Schne- deutlich erhöht. Reizt man mit derselben
cke sehr gut untersucht worden sind. Die Pulsfrequenz alle 10 min, z. B. 4-mal, dann

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13.12. Zusammenfassung 447

sind die EPSP über Stunden bis Wochen wird die synaptische Übertragung effi-
erhöht. zienter.
• Molekulare Mechanismen der LTP: • Künstliche „neuronale Netze“ sind Com-
Durch die tetanische Stimulation der Prä- putersimulationen von echten neuronalen
synapse wird die postsynaptische Membran Netzen. Analog zu den echten neuronalen
so stark durch die großen Mengen an aus- Netzen bestehen die künstlichen neurona-
geschüttetem Glutamat stimuliert, dass len Netze aus Verarbeitungseinheiten, die
sich die Magnesiummoleküle von den auch als Neuronen bezeichnet werden.
NMDA-Rezeptoren ablösen. Dadurch wird Diese Neurone sind über spezielle Verbin-
der NMDA-Rezeptor frei und ermöglicht dungen miteinander verbunden (Synap-
das Anbinden von Glutamat. Das hat zur sen). Diese Verbindungen können unter-
Folge, dass mehr Kalzium über die post- schiedlich effizient sein und demzufolge
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synaptische Membran in die Zelle fließt. unterschiedliche Gewichte aufweisen (man


Dadurch wird ein Second-Messenger-Me- spricht auch von Verstärkungsfaktoren).
chanismus ausgelöst, der die Sensibilität • Künstliche neuronale Netzwerke bestehen
für Glutamat an den AMPA-Rezeptoren er- aus folgenden Elementen: (1) Neuronen
höht und die Erregbarkeit damit steigert. (die elementaren Verarbeitungseinheiten);
• Langzeitdepression (LDP) entsteht da- (2) Netz der Verbindungen (Synapsen) zwi-
gegen, wenn die Stimulationsfrequenz we- schen den Neuronen; (3) Gewichte der Ver-
sentlich geringer als 100 Hz ist. Dazu wer- bindungen (Verbindungsverstärkungen);
den Stimulationsfrequenzen um ca. 1 Hz (4) Propagierungsregel für das Weiterleiten
verwendet. Danach ist das EPSP an der eines Inputs; (5) Aktivationszustände der
postsynaptischen Zelle reduziert und die Neuronen; (6) Output-Funktionen und
synaptische Verbindung damit geschwächt. Schwellenwerte der Neuronen; (7) Aktivie-
• Vier verschiedene Grundprinzipen der rungsregel, die bestimmt, wie alle Eingänge
morphologischen Veränderung an den eines Neurons mit dessen momentanem
Synapsen (hier an den Dendriten) können Zustand zu einem neuen Zustand des Neu-
unterschieden werden: (1) Vergrößerung rons kombiniert werden; (8) Lernregel,
der dendritischen Fortsätze; (2) Entwick- nach der die Gewichte der Verbindungen
lung neuer synaptischer Zonen, die durch auf der Basis von Trainingseingaben ver-
einen Spalt getrennt sind (perforierte Sy- ändert und angepasst werden können; (9)
napsen); (3) Entwicklung von neuen und Umgebung, in der das lernende System ar-
völlig getrennten dendritischen Fortsätzen; beiten soll.
(4) Entwicklung neuer dendritischer Fort- • Das menschliche Gedächtnis wird in Lang­
sätze. zeit- und Kurzzeitgedächtnis unterteilt.
• Diese vier morphologischen Veränderun- Das Langzeitgedächtnis wird wiederum in
gen können nacheinander auftreten. Den- ein bewusstes (deklaratives) und ein unbe-
dritische Fortsätze können bereits nach wusstes (implizites) Gedächtnis eingeteilt.
30 min dauernder LTP festgestellt werden. Zum deklarativen Gedächtnis zählt man
Nach ca. 1 h sind neue separate Fortsätze das episodische und das semantische Ge-
bereits erkennbar. Insgesamt kann fest- dächtnis. Dem impliziten Gedächtnis wer-
gehalten werden, dass durch diese mor- den das prozedurale und das perzeptuelle
phologischen Veränderungen sich die An- Gedächtnis, das Priming-Gedächtnis, das
zahl der Synapsen und die Größe der klassische Konditionieren sowie Habitua-
synaptischen Fläche vergrößert. Dadurch tion und Sensitivierung zugeordnet.

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448 13.  Allgemeines zum Gedächtnis

• Das mesiotemporale Gedächtnissystem ist • Beschreiben Sie Habituation und Sensiti-


für das deklarative Gedächtnis von heraus- vierung.
ragender Bedeutung. • Was versteht man unter Langzeitpotenzie-
• Im Zusammenhang mit dem deklarativen rung und Langzeitdepression?
Gedächtnis werden zwei Theorien unter- • Welche Grundprinzipen der morphologi-
schieden, die die Konsolidierung und die schen Veränderung an den Synapsen (hier
Rolle des Hippocampus dabei erklären: die an den Dendriten) können beim Lernen
Standardkonsolidierungstheorie (stan- unterschieden werden?
dard consolidation theory) und die Viel- • Aus welchen Elementen bestehen künst-
Spuren-Theorie (multiple-trace theory). liche neuronale Netze?
• Im Rahmen der Standardkonsolidierungs- • In welche Systeme kann das Gedächtnis
theorie wird davon ausgegangen, dass der eingeteilt werden?

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Hippocampus schnell ein neuronales Netz Beschreiben Sie das mesiotemporale Ge-
aufbaut. Durch häufiges Reaktivieren der dächtnissystem.
Gedächtnisinformationen wird das Ge- • Was ist der Unterschied zwischen der Stan-
dächtnisnetzwerk zunehmend in neokorti- dardkonsolidierungstheorie und der Viel-
kalen Strukturen abgelegt. Nach häufiger Spuren-Theorie?
Reaktivierung kann dann der Gedächtnis- • Welche Rolle spielt der Hippocampus beim
abruf ohne Rückgriff auf den Hippocampus Gedächtnis?
erfolgen. • Wie erklärt man sich den günstigen Einfluss
• Die Viel-Spuren-Theorie geht davon aus, der emotionalen Erregung auf die Konsoli-
dass bei jedem Reaktivieren des Gedächt- dierung?
nisinhalts eine neue „Spur“ bzw. eine neue
Verbindung zu den bereits bestehenden
hinzugefügt wird. 13.14. Weiterführende Literatur
• Der Hippocampus hat eine besondere Rolle
beim Zusammenfügen und Zusammen- Gould, E. (2007). How widespread is adult neu-
halten der verschiedenen Informationen, rogenesis in mammals. Nature Reviews
die eine Gedächtnisspur ausmachen. Neuroscience, 8, 481–488.
• Die Konsolidierung wird durch emotionale Gruber, T. (2010). Gedächtnis. Heidelberg: VS
Verlag.
Erregung gefördert. Vor allem dann, wenn
Haberlandt, K. (1994). Cognitive Psychology.
die emotionale Erregung relativ kurzzeitig
Zug: Allyn & Bacon.
nach dem Lernen eintritt (ca. 20 Minuten). McClelland, J. L., McNaughton, B. L., O’Reilly,
Dann führen die aus der Nebenniere aus- R. C. (1995). Why there are complementary
geschütteten Katecholamine und Gluko- learning systems in the hippocampus and neo-
kortikoide zu einer effizienteren Konsoli- kortex: insights from the success and failures
dierung. of connectionist models of learning and me-
mory. Psychological Review, 3, 419–457.
Tulving, E., Craik, F. I. M. (2000). The Oxford
13.13. Fragen und Aufgaben Handbook of Memory. Oxford: Oxford Uni-
versity Press.
• Wie werden die Gedächtnisinformationen
prinzipiell gespeichert?
• Beschreiben Sie die Hebb-Lernregel.

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449

14. Deklaratives Gedächtnis


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14.2.  Mesiotemporaler Hirnbereich und das deklarative Gedächtnis 451

14.1. Das deklarative ­ sonderer Gedächtnistyp ist das autobiogra-


fische Gedächtnis, das Informationen über
Gedächtnis und seine
uns und die von uns erlebten Ereignisse ent-
Teilkomponenten hält. Es nutzt Informationen aus dem seman-
tischen Faktengedächtnis und verbindet diese
Das deklarative Gedächtnis ist das Gedächt- mit Informationen aus dem episodischen Ge-
nissystem, das am stärksten mit dem Alltags- dächtnis.
verständnis des Gedächtnisses in Verbindung Das Erinnern und der Abruf funktionieren
gebracht wird. Es ist das Gedächtnis, dessen im episodischen Gedächtnis unterschiedlich.
Inhalte wir bewusst angeben können. Im Ge- Eine Möglichkeit besteht darin, sich an die ge-
gensatz dazu sind uns die Gedächtnisinhalte speicherten Informationen zu erinnern. In
des impliziten Gedächtnisses nicht bewusst. diesem Zusammenhang werden die Gedächt-
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Der Unterschied zwischen dem bewussten nisinformationen abgerufen, indem alle ver-
und dem unbewussten Gedächtnis kann auch fügbaren zugehörigen Informationen mit ak-
als der Unterschied zwischen Wissen und tiviert werden. Beim episodischen Gedächtnis
Können bezeichnet werden. Das deklarative sind das die Informationen über das Wann,
Gedächtnis ist kein einheitliches Gedächtnis- Wo, Warum, Wie und Wer. Dieser Abruftypus
system, sondern besteht aus Teilsystemen wird Rekollektion genannt. Hierbei handelt
(Abb. 14-1). Unterschieden wird das semanti­ es sich also um einen bewussten und detail-
sche vom episodischen Gedächtnis; eine reichen Abruf. Von dieser Art des Abrufs wird
Sonderstellung nimmt das autobiografische eine Form der Erinnerung unterschieden, die
Gedächtnis ein. Das semantische Gedächtnis uns gelegentlich beim Lösen von Multiple-
ist unser Faktenwissen, während im episo- Choice-Aufgaben begegnet. In diesem Zu-
dischen Gedächtnis mit verschiedenen Bezü- sammenhang entwickeln wir eher ein Gefühl,
gen versehene Ereignisse gespeichert sind, dass wir die erinnerte Information kennen.
z. B. wann man wo mit wem in einem Restaurant Wir erinnern nicht die Details und sind uns
gespeist hat. Hierbei werden Informationen auch nicht zwingend bewusst, diese Informa-
über Personen, Orte und Zeitpunkte mit be- tion zu kennen. Diese Form des Abrufs wird als
stimmten Sachverhalten gekoppelt. Ein be- Vertrautheit (familiarity) bezeichnet. Beide
Arten des Abrufs werden von verschiedenen
semantisches
Hirnstrukturen kontrolliert.
Gedächtnis

14.2. Mesiotemporaler Hirn­


bereich und das deklara­
autobiografisches tive Gedächtnis
Gedächtnis

14.2.1. Theorien

Um die Arbeitsweise des deklarativen Ge-


episodisches Vertrautheit dächtnisses näher zu erläutern, sind verschie-
Gedächtnis
Rekollektion
dene Theorien vorgeschlagen worden. Die
ersten beiden Theorien entstammen der Tier-
Abbildung 14-1: Schematische Darstellung des forschung und wurden auf den Menschen
deklarativen Gedächtnisses. übertragen, während die beiden anderen

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452 14.  Deklaratives Gedächtnis

Theorien anhand der Analyse von Patienten Aktivitätsmuster für bestimmte Rauminfor-
entwickelt wurden, die Läsionen in mesiotem- mationen. In gewisser Weise erhält diese Theo-
poralen und temporalen Hirngebieten auf- rie Bestätigung durch neuere Experimente, in
wiesen: denen gezeigt werden konnte, dass sich der
1. Theorie der kortikalen Karten (cognitive hintere rechtsseitige Hippocampus erfah-
map theory) rungsabhängig (vor allem im Hinblick auf
2. Theorie des relationalen Gedächtnisses Ortsinformationen) hinsichtlich des Volumens
(relational memory theory) vergrößerte. Dies konnte an Londoner Taxi-
3. Theorie des episodischen Gedächtnisses fahrern nachgewiesen werden: Je länger diese
(episodic memory theory) in London als Taxifahrer arbeiteten, desto grö-
4. allgemeine Theorie des deklarativen Ge­ ßer war der hintere rechtsseitige Hippocam-
dächtnisses (declarative memory theory). pus. Auch die Dichte der grauen Substanz des
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Hippocampus korrelierte mit der Berufserfah-


Die Theorie der kortikalen Karten entstand rung der Taxifahrer (Maguire et al., 2000).
im Zusammenhang mit Untersuchungen an Während die Theorie der kortikalen Karten
Nagern und Mäusen. In diesen Arbeiten konnte noch sehr stark am räumlichen Gedächtnis
gezeigt werden, dass bestimmte Neurone im orientiert war, wurde im Rahmen der relatio­
Hippocampus dieser Tiere „feuerten“, wenn nalen Gedächtnistheorie versucht, die Idee
die Tiere an bestimmten Orten verweilten oder der räumlichen Karte allgemeiner zu formulie-
bestimmte Wegstrecken durchliefen. Offenbar ren. Im Rahmen dieser Theorie wird nicht von
codieren einzelne Neuronen und/oder Neuro- einem Raum im Sinne einer Landkarte, son-
nengruppen räumliche Zusammenhänge. Bei dern von einem Gedächtnisraum gesprochen.
epileptischen Patienten, denen Elektroden in In diesem Gedächtnisraum sollen die einzel-
den Hippocampus eingepflanzt wurden, konn- nen Informationen miteinander in einer be-
ten ortsabhängige Aktivitätsmuster im Hippo- stimmten Beziehung stehen. Man kann sich
campus gemessen werden, was darauf hin- den Gedächtnisraum als eine zweidimensio-
weist, dass auch beim Menschen ähnliche nale Karte vorstellen, auf der verschiedene
Ortscodierungen im Hippocampus vorzufin- Gedächtnisinformationen aufgetragen und
den sind wie bei den Nagern und Mäusen. Ein miteinander verknüpft sind, etwa wie bei ei-
eindrückliches Experiment haben Arne Ek- nem semantischen Netzwerk. Solche relationa-
strom und Kollegen publiziert (Ekstrom et al., len Gedächtnisinformationen können für ver-
2003). Sie ließen epileptische Patienten in ei- schiedene Modalitäten existieren, also auch für
ner virtuellen Umgebung mit einem Taxi durch räumliche, verbale oder andere Varianten.
verschiedene Szenarien fahren. Während die Die Theorie des episodischen Gedächt­
Patienten diese Aufgabe bewältigten, regis- nisses wurde im Gegensatz zu den oben er-
trierten die Wissenschaftler in verschiedenen wähnten Theorien im Wesentlichen am Men-
Hirngebieten die Aktivität von 317 Neuronen schen erarbeitet. Hierbei waren insbesondere
mittels Einzelzellableitungen. Die meisten re- die detaillierten Analysen der Gedächtnisleis-
gistrierten Neurone waren in mesiotemporalen tungen von Menschen hilfreich, die unter Lä-
Hirngebieten (67 im Hippocampus, 54 im Gy- sionen mesiotemporaler und angrenzender
rus parahippocampalis) lokalisiert. Darüber temporaler Hirnbereiche litten. Es konnte
hinaus wurden Neuronenaktivitäten in der vielfach bestätigt werden, dass Patienten mit
Amygdala (111 Neurone) und im Frontalkor- Läsionen in mesiotemporalen Hirnbereichen
tex (85 Neurone) registriert. Insbesondere die (insbesondere im Hippocampus) besonders
Neurone im Hippocampus zeigten typische starke Einschränkungen (bis zum völligen

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14.2.  Mesiotemporaler Hirnbereich und das deklarative Gedächtnis 453

Ausfall) des retrograden episodischen Ge- Die Bedeutung des Hippocampus und des
dächtnisses aufweisen (s. o.). Diese Patienten mesiotemporalen Systems für das deklarative
können trotz der starken Beeinträchtigungen Gedächtnis stellt sich auch im Zusammenhang
des episodischen Gedächtnisses noch recht mit den Phänomenen Vertrautheit und Re­
gut ihr semantisches Gedächtnis nutzen und kollektion dar. Wie oben bereits beschrieben,
z. B. neue semantische Informationen lernen. versteht man unter dem Begriff Rekollektion
Ein gutes Beispiel hierfür ist der Patient K. C., den aktiven und bewussten Abruf von Infor-
der von Rosenbaum und Kollegen vorgestellt mationen aus dem Gedächtnis, wobei auch die
wurde (Rosenbaum et al., 2005). Er hatte jeweiligen Verknüpfungen mit anderen Infor-
nach einer fast kompletten bilateralen Läsion mationen abgerufen werden. Ein Beispiel ist
des Hippocampus sein episodisches Wissen das bewusste Abrufen einer Information bei
völlig verloren, war jedoch noch in der Lage, einer Prüfung. Der Prüfer stellt eine Frage und
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sein semantisches Gedächtnis zu nutzen, um der Prüfling kann diese mit ihren Querbezü-
Mathematikaufgaben zu lösen, Schach zu gen beantworten. Es liegt also eine bewusste
spielen, zu lesen und zu schreiben. Auch Erinnerung vor. Diesem Prozess der Rekollek-
konnte er neue semantische Informationen tion wird ein anderer Erinnerungsprozess ge-
lernen, neue episodische Informationen hin- genübergestellt, die Vertrautheit. Dieser Er-
gegen nicht. Dieser Fall belegt, dass die me- innerungsprozess tritt ein, wenn uns Dinge
siotemporalen Hirnbereiche für den Aufbau bekannt vorkommen, ohne dass wir wissen,
und den Abruf episodischer Informationen wo und wann wir sie gelernt haben. Im Zu-
wichtig sind. Es sind auch doppelte Dissozia- sammenhang mit Prüfungen begegnet uns das
tionen berichtet worden, welche die Theorie Vertrautheitsgefühl bei Multiple-Choice-Fra-
des episodischen Gedächtnisses unterstützen. gen. Wir erkennen die richtige Antwortalter-
So konnte z. B. gezeigt werden, dass Läsionen native, aber wir wissen nicht, warum diese
des linksseitigen vorderen Temporallappens eine Alternative korrekt ist und die andere
mit Beeinträchtigungen des semantischen falsch. In diesem Zusammenhang kann uns
Gedächtnisses einhergingen, nicht aber mit eine Antwortalternative vertraut sein, ohne
Beeinträchtigungen des episodischen Ge- dass wir die Zusammenhänge detailliert und
dächtnisses. Andererseits führten Läsionen bewusst erkennen.
des Hippocampus zu Beeinträchtigungen Rekollektion ist offenbar stark mit dem
des episodischen Gedächtnisses, aber nicht zu Hippocampus assoziiert. Zum Beispiel konn-
schwerwiegenden Beeinträchtigungen des ten mehrere Studien zeigen, dass nur bei der
semantischen Gedächtnisses. Rekollektion der Hippocampus aktiv war. Pa-
Die Theorie des deklarativen Gedächt­ tienten, die unter Läsionen des Hippocampus
nisses wurde von Larry Squire formuliert und leiden, zeigen Einbußen in der Rekollektion.
besagt, dass alle bewussten Informationen Diese These ist allerdings umstritten. Nach
(z. B. räumliche und verbale) über das mesio- anderen Ansichten ist der Übergang von Ver-
temporale Gedächtnissystem verarbeitet wer- trautheit zur Rekollektion kontinuierlich (Ein­
den (Squire et al., 2004). Diese Theorie ist bis- prozesstheorie). Das bedeutet, dass bei bes-
lang die am weitesten akzeptierte, auch wenn serem und intensiverem Lernen vertraute
sie durch neuere Befunde nicht mehr eindeu- Informationen zunehmend besser im deklara-
tig gestützt wird, denn es konnte nachgewie- tiven Gedächtnis verankert und mehr Bezüge
sen werden, dass auch unbewusste Informa- zu anderen Informationen aufgebaut werden.
tionen über den Hippocampus gelernt und Im Gegensatz dazu geht die Zweiprozess­
abgerufen werden (Henke, 2010). theorie davon aus, dass für Rekollektion und

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454 14.  Deklaratives Gedächtnis

Vertrautheit unterschiedliche Hirngebiete ge- pus-Perirhinal-Theorie, bezieht neben dem


nutzt werden und beide Prozesse funktionell Hippocampus die anderen mesiotemporalen
unterschiedlich sind. Die aktuelle Literatur Hirngebiete ein, um die differenzielle Betei-
favorisiert das Zweiprozessmodell. ligung an deklarativen Gedächtnisprozessen
herauszuarbeiten. Der Hippocampus ist bidi-
rektional mit den direkt angrenzenden Hirn-
Gemeinsamkeiten der Theorien gebieten, dem perirhinalen Kortex und dem
Gyrus parahippocampalis, verbunden. Der pe-
Das Gemeinsame dieser Theorien zum dekla-
rirhinale Kortex ist sehr stark in den ventralen
rativen Gedächtnis besteht darin, dass über
Informationsstrang eingebunden, der darauf
den Hippocampus die zu lernenden Informa-
tionen mit verschiedenen Informationen ver- spezialisiert ist, visuelle Informationen zu ka-
bunden werden. Dies können räumliche, ver- tegorisieren und zu erkennen (Was-Strang).
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bale oder sonstige Verbindungen sein. Wichtig Der Gyrus parahippocampalis dagegen ist stär-
ist, dass die Informationen vielfach verknüpft ker in den dorsalen Strang eingebunden, der
werden. Der Hippocampus trägt zu diesem Ver- für räumliche Analysen und motorische Kon-
knüpfungsprozess bei, indem er die Verbin- trollen spezialisiert ist (Wo-Strang). Die beiden
dungen zu den unterschiedlichen Hirngebie- Teilbereiche des mesiotemporalen Systems
ten, die mit der Speicherung der verbundenen sind also in unterschiedliche Schaltkreise ein-
Informa­ tionen betraut sind, aufrechterhält
gebunden, werden allerdings über den Hippo-
oder sie ­erstellt. Je stärker und vielfältiger
campus miteinander in Verbindung gebracht.
diese Ver­bindungen sind, desto lebhafter sind
Dass diese Systeme funktionell unterschiedlich
auch die abgerufenen deklarativen Gedächt-
nisinformationen (s. o.).
eingebunden sind, ist auch an ihrer unter-
schiedlichen Beteiligung an den Gedächtnis-
phänomenen Rekollektion und Vertrautheit
zu erkennen. Bildgebende Studien konnten
wiederholt belegen, dass der Hippocampus
14.2.2. Integration aller neuro­ stärker während der Rekollektion durchblutet
wissenschaftlichen Gedächt­ ist, während der rhinale Kortex gesteigerte
nistheorien Durchblutungen bei Vertrautheit zeigt.
Um diese Befunde zu verstehen, ist ein typi-
Allen oben genannten Theorien ist gemein, sches Experiment zu diesem Thema hilfreich.
dass sie den Hippocampus als zentrale Station Die Versuchspersonen lernen Wortlisten und
für die Verknüpfung von Informationen he- werden in der anschließenden Abrufphase mit
rausarbeiten. Der Hippocampus ist dem- Wortlisten konfrontiert, die alte und neue
zufolge beim Encodieren (also beim Verknüp- Wörter (Distraktoren) enthalten. Sie müssen
fen), beim Konsolidieren (beim Verfestigen der bei jedem Wort angeben, ob sie dieses Wort
Verknüpfungen) und beim Abruf der Verknüp- bewusst erinnern (indiziert Rekollektion) oder
fungen beteiligt. Allerdings konzentrieren sich erkennen (indiziert Vertrautheit). Diese Ent-
diese Theorien teilweise auf unterschiedliche scheidung ist auch als Entscheidung zwischen
Subareale des Hippocampus. Räumliche Ge- Wissen (Rekollektion) und Können (Vertraut-
dächtnisinformationen werden offenbar eher heit) aufzufassen. In anderen Experimenten
vom rechtsseitigen hinteren Hippocampus ver- werden Rekollektion und Vertrautheit anhand
arbeitet, während allge­meine Verknüpfungen der Entscheidung untersucht, ob man einen
eher linksseitig im Hippocampus verarbeitet Reiz definitiv schon einmal präsentiert bekam
werden. Eine andere Theorie, die Hippocam­ (definitiv ein alter Reiz = Rekollektion) oder ob

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14.3.  Frontalkortex und ­deklaratives Gedächtnis 455

ein Reiz definitiv neu ist (definitiv ein neuer die Versuchspersonen mit den Items zuneh-
Reiz = Vertrautheit). In diesen Versuchen wird mend vertraut sind und den Inhalt bewusst
Neuheit mit Vertrautheit gleichgesetzt, was erinnern. Dies deutet darauf hin, dass der pe-
experimentell und theoretisch nicht ganz kor- rirhinale Kortex stärker in die Kontrolle der
rekt ist. Wichtig ist aber, dass Rekollektion mit Vertrautheit eingebunden ist.
dem bewussten Wissen bezüglich eines ge-
lernten Ereignisses einhergeht. Diese Ent-
scheidungen werden im Folgenden der Ein- 14.3. Frontalkortex und ­
fachheit halber Wissensentscheidungen und deklaratives Gedächtnis
die Entscheidungen, bei denen mehr Vertraut-
heit vorliegt, Könnensentscheidungen ge- Das mesiotemporale Hirnsystem ist zentral für
nannt. Typischerweise gehen die Wissensent- das deklarative Gedächtnis. Allerdings sind
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scheidungen immer mit gesteigerter Aktivität auch andere Hirnbereiche am Encodieren und
im Hippocampus einher. Die Könnensent- am Abruf von deklarativen Gedächtnisin­
scheidungen dagegen sind mit reduzierter formationen beteiligt. Eine besondere Rolle
Durchblutung im Hippocampus, aber gestei- nimmt der laterale Präfrontalkortex (lPFC)
gerter Durchblutung im rhinalen und perirhi- ein. Anhand von Studien an Patienten mit
nalen Kortex assoziiert (Abb. 14-2). Frontalkortexläsionen konnte gezeigt werden,
Im Hippocampus nimmt die Durchblutung dass diese Patienten eher Probleme mit dem
auch zu, wenn sich die Versuchspersonen si- Kontext der im deklarativen Gedächtnis ge-
cher werden, einem Item bereits schon einmal speicherten Informationen haben. Ihnen sind
begegnet zu sein. Wahrscheinlich ist dann die oft die räumlichen und zeitlichen Bezüge der
Rekollektion aktiv. Die Durchblutung im pe- Gedächtnisinformationen nicht mehr präsent.
rirhinalen Kortex nimmt dagegen ab, sobald Man nennt dieses Problem auch Quellenge­
dächtnisproblem. Angenommen, Sie hätten
bei einem bestimmten Lehrer in einem be-
A) Hippokampus B) Hippokampus
stimmten Klassenzimmer die Grundlagen der
perirhinaler Kortex Mechanik gelernt. Sie hätten, je nach schau-
0.3 0.3 spielerischem Geschick und Persönlichkeit
des Lehrers, diese vermittelten Grundlagen
% Signalzunahme

0.15 0.15
mit den Äußerungen des Lehrers, seinem Aus-
0 0 sehen, der Zeit, dem Klassenraum und der
–0.15
damaligen Lernsituation gekoppelt. An die-
–0.15
sem Verbinden von Lerninformationen mit
–0.3 –0.3 den Quellen (wo, wann, mit wem und unter
korrekt korrekt alt neu
«erinnert» «vertraut» welchen Umständen diese Information ver-
mittelt wurde) ist der Frontalkortex wesentlich
Abbildung 14-2: Durchblutungsveränderungen
beteiligt. Bei Läsion des Frontalkortex können
(als prozentuale Signalzunahme im fMRT) imHip-
diese Kontextinformationen oder auch Quel-
pocampus und im rhinalen Kortex bei der Rekol-
len nicht mehr korrekt assoziiert werden oder
lektion und der Vertrautheit. (A) Durchblutungs-
veränderungen im Hippocampus bei Rekollektion
sie gehen verloren. Dann leidet der Patient
und Vertrautheit. (BDurchblutungsveränderungen unter einer Quellenamnesie.
im Hippocampus und im rhinalen Kortex bei
Alt-­neu-Entscheidungen. (Nachgezeichnet nach
Daselaar et al., 2006; Prince et al., 2005)

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456 14.  Deklaratives Gedächtnis

14.3.1. Encodieren im Frontalkortex

Die Funktion des lateralen Frontalkortex beim


Encodieren neuer Informationen ist mittels FC
vP
der funktionellen Magnetresonanztomografie,
des Elektroenzephalogramms (EEG) und des
Magnetenzephalogramms (MEG) beschrieben
worden. Der Vorteil dieser Methoden besteht
1
darin, dass mit ihnen auch das gesunde Gehirn
untersucht werden kann, denn beim neurolo-
gisch geschädigten Gehirn können Kompensa- 0.75
tionsprozesse nicht ausgeschlossen werden.
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Zur Untersuchung des deklarativen Gedächt-

% Signalzunahme
nisses wird sehr häufig das Subsequent Me­ 0.5

mory Paradigm genutzt. Mittels dieses Para-


digmas wird die Hirnaktivität während des
0.25
Encodierens von Informationen untersucht,
die später erinnert oder vergessen werden.
Versuche zum Subsequent Memory Paradigm 0
sind prinzipiell wie folgt gestaltet: Den Ver- vPFC

suchspersonen werden nacheinander Reize Behalten Vergessen DM-Effekt


dargeboten, die sie sich einprägen sollen (En-
Abbildung 14-3: DM-Effekt (positiver) im ven-
codierphase). Die Hirnaktivität wird mit der
tralen Präfrontalkortex (vPFC). „Behalten“: Durch-
jeweiligen Methode während des Encodierens
blutungszunahme beim Encodieren für Reize,
gemessen. In der Testphase werden die vorher
die später erinnert wurden; „Vergessen“: Durch-
präsentierten Reize nochmals dargeboten, blutungszunahme beim Encodieren für Reize,
wobei sie durchmischt sind mit Reizen, die die vergessen wurden; DM-Effekt: Differenz der
nicht auf der Lernliste waren. In dieser Phase Durchblutungen zwischen „Behalten“ und „Ver-
wird identifiziert, welche Reize gelernt wur- gessen“.
den und welche nicht. Anschließend wird
getrennt die mittlere Hirnaktivität in der­ (Abb. 14-3 als Beispiel für einen positiven
Encodierphase für die Reize berechnet, die DM-Effekt im vPFC).
hinterher in der Testphase erinnert wurden Positive DM-Effekte werden beim Enco­
oder nicht. Werden diese Hirnaktivitäten von- dieren im Gyrus frontalis inferior (auch als
einander subtrahiert, können Unterschiede in ventraler Präfrontalkortex bezeichnet = vPFC)
den Hirnaktivierungen beim Encodieren von festgestellt (Abb. 14-4). Linksseitig ist der po-
später gelerntem und vergessenem Material sitive DM-Effekt beim Encodieren von ver-
herausgearbeitet werden. Der neurophysio- balem Material für das semantische Gedächt-
logische Effekt, der damit herausgearbeitet nis etwas größer. Beim Encodieren von
wird, wird Difference-in-memory-Effekt nichtverbalen episodischen Informationen
(DM-Effekt) genannt. DM-Effekte können können beidseitig positive DM-Effekte im
Zunahmen (positive DM-Effekte) oder Ab- Gyrus frontalis inferior gemessen werden.
nahmen (negative DM-Effekte) von Hirnak­ Der Gyrus frontalis inferior weist eine funk-
tivierungen während des Encodierens von­ tionale Spezialisierung auf. Der vordere Teil
gelernten und nicht gelernten Reizen sein des Gyrus frontalis inferior ist eher an der

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14.3.  Frontalkortex und ­deklaratives Gedächtnis 457

Lernen und dem Abruf Verzögerungen ein-


gebaut werden), treten positive DM-Effekte
FC im dorsolateralen Präfrontalkortex (dPFC;
dP
Abb. 14-4) auf, die mit den zusätzlich geforder-
FC
vP ten Arbeitsgedächtnisleistungen erklärt wer-
den können. Das Abspeichern der in der Enco-
dierphase präsentierten Reize in umgedrehter
Reihenfolge erfordert den Einsatz des Arbeits-
1
gedächtnisses. Je stärker das Arbeitsgedächt-
nis in die Encodierung eingebunden ist, desto
% Signalzunahme

0.75 besser werden die während der Encodierphase


präsentierten Reize manipuliert (hier umge-
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0.5 dreht) gelernt und in der Testphase erinnert.


DM-Effekte können auch in anderen Hirn-
gebieten (z. B. im mesialen Temporallappen
0.25
und im Parietallappen; siehe hierzu nächster
Abschnitt) gemessen werden, was darauf hin-
0 weist, dass viele Hirngebiete am Aufbau des
vPFC dPFC
deklarativen Gedächtnisses beteiligt sind. Al-
Hinweisreiz Verzögerung Test lerdings ist der laterale Frontalkortex beson-
ders intensiv eingebunden, um die neuen In-
Abbildung 14-4: Positive DM-Effekte im ventralen
(vPFC) und dorsolateralen (dPFC) Präfrontalkor-
formationen zu organisieren, sie mit dem
tex beim Encodieren neuer Informationen. DM- Arbeitsgedächtnis zu verbinden und Verbin-
Effekte gemessen mittels fMRT. Angegeben sind dungen zu den Kontextinformationen beim
prozentuale Signalveränderungen. Man erkennt Encodieren herzustellen und aufrechtzuer-
hier auch, dass der DM-Effekt im vPFC durch den halten.
erleichterten Abruf (unter Zuhilfenahme von Hin-
weisreizen) schwächer wird. Der dPFC reagiert mit
gesteigerter Aktivität vor allem bei dem verzöger- 14.3.2. Abruf von Informationen
ten Abruf.

Um zu verstehen, wie der Frontalkortex beim


Encodierung von semantischen Informatio- Abruf episodischer Informationen beteiligt ist,
nen beteiligt, während der hintere Teil ins- muss man sich zunächst vergegenwärtigen,
besondere in das Encodieren von phoneti- welche psychischen Vorgänge beim Abruf ab-
schen und phonologischen Informationen laufen. In der Regel wird der Abruf von In­
eingebunden ist. Der hintere Teil des Gyrus formationen aus dem episodischen Speicher
frontalis inferior ist auf der linken Hemi- durch ganz bestimmte Hinweisreize (cues) ge-
sphäre weitgehend deckungsgleich mit dem triggert. Das können Fragen, Reize in der Um-
Broca-Areal. gebung oder selbst generierte Reize (z. B. Auf-
Wenn während des Encodierens zusätzli- forderungen) sein. Diese Hinweisreize lösen
che Aufgaben anfallen, z. B. das Lernmaterial ein Suchverhalten nach den passenden Infor-
umorganisiert werden muss (etwa die Spei- mationen im episodischen Gedächtnis aus
cherung einer Zahlenfolge in umgekehrter (Gedächtnissuche; memory search). Diese
Reihenfolge statt in der Reihenfolge, wie sie Suche ist nicht immer zielgenau, sondern sie
präsentiert wurde, oder wenn zwischen dem „kreist“ mitunter um die jeweiligen Zielinfor-

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458 14.  Deklaratives Gedächtnis

mationen. Wird eine Information gefunden, Tabelle 14-1: Zusammenfassung der beim Abruf
muss sie „wiederhergestellt“ bzw. verfügbar ablaufenden psychischen Prozesse.
gemacht werden (Wiederherstellung; reco- Abrufzustand Hinweisreiz (cue)
very). Dann muss überprüft werden, ob es die (retrieval mode) Gedächtnissuche
gesuchte Gedächtnisinformation ist und wie (memory search)
weit man noch vom „Ziel“ entfernt ist. Hat man Wiederherstellung (recovery)
die gesuchte Information gefunden, muss der Überprüfung – Entscheidung
Suchvorgang abgebrochen werden, damit neue (monitoring)
Suchprozesse gestartet werden können (Über­ Abruferfolg
prüfung; monitoring). Diese kurzen Ausfüh- (retrieval ­
rungen machen deutlich, dass der Abrufprozess success)
ein komplexer Vorgang ist, der das episodische Abrufaufwand
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Gedächtnis in einen bestimmten Zustand ver- (retrieval effort)


setzt, der auch Abrufzustand ­(retrieval mode)
genannt wird. Dieser Abrufzustand ist ein län- EEG- und fMRT-Studien haben gezeigt,
ger dauernder tonischer Zustand, der von dass mit dem Abrufzustand und gelegentlich
schnelleren transienten Zuständen unterschie- auch mit dem Abrufaufwand länger andau-
den werden kann, die beim Abruf zu beobach- ernde Aktivierungen insbesondere des rechts-
ten sind. seitigen Frontalkortex auftreten (in Abb. 14-5
Ein weiterer Aspekt, der im Zusammen- ist ein typisches Ergebnis hierzu dargestellt, in
hang mit dem Abruf zu beobachten ist, ist der der mittels fMRT die Durchblutung des Fron-
Abruferfolg (retrieval success). Der Abruf- talkortex beim Abruf gemessen wurde). Diese
erfolg ist ebenfalls mit bestimmten Hirn­ rechtsseitigen Aktivierungszunahmen reflek-
aktivierungsmustern assoziiert. Die mit dem tieren wahrscheinlich alle Kontroll- und Über-
Abruferfolg assoziierten Hirnaktivierungen wachungsprozesse, die mit dem Abruf von
erhält man, wenn man die Hirnaktivitäten, die episodischen Gedächtnisinformationen asso-
bei erfolgreichem Abruf und nicht erfolgrei- ziiert sind.
chem Abruf zu messen sind, voneinander ab- In diesem Zusammenhang ist eine Fallstu-
zieht. Die Hirngebiete, die beim Abruferfolg die über einen Patienten interessant, der unter
stärker aktiv sind, sind wahrscheinlich be­ einer Läsion des dorsalen PFC litt. Dieser Pa-
sonders stark an Abrufprozessen und/oder an tient (B. G.) fiel in Gedächtnisexperimenten
begleitenden psychischen Prozessen beteiligt. dadurch auf, dass er in den Testphasen auffal-
Der Abruferfolg stellt sich nicht immer auto- lend viele Reize als „alt“ (also gelernt) iden-
matisch ein, sondern erfordert einen psy- tifizierte. Eine genaue Analyse der Reaktionen
chischen Aufwand, der als Abrufaufwand ergab, dass er sehr viele „falsche Alarme“
(retrieval effort) bezeichnet wird. Der Abruf- produzierte (Schacter et al., 1996). Das bedeu-
aufwand verstärkt sich naturgemäß in Situa- tet, er indizierte viele Reize als „alt“, obwohl
tionen, in denen der Abruf schwieriger wird, sie gar nicht auf der Lernliste enthalten waren.
z. B., wenn verschiedene ähnliche Informatio- Offenbar gelang es ihm nicht, den Impuls zu
nen abgerufen werden müssen oder wenn der unterdrücken, „neue“ Reize als gelernt zu
Abruf durch bestimmte Randbedingungen er- identifizieren. Wahrscheinlich fühlte er sich in
schwert wird. Letzteres kann eintreten, wenn diesem Experiment herausgefordert, mög-
beim Abruf gleichzeitig weitere Tätigkeiten lichst viele Treffer zu produzieren.
durchzuführen sind (z. B. Musikhören oder das Ein weiterer Unterschied ist zwischen dem
Lösen mathematischer Aufgaben). rechts- und linksseitigen Frontalkortex fest-

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14.3.  Frontalkortex und ­deklaratives Gedächtnis 459

rechter
PFC
FC vP
vP FC

0.1

0.05

% Signalintensität
0
0.4
–0.05
0.3
0.2 –0.1
% Effektgröße

0.1 –0.15
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0 –0.2
–0.1 PFC links PFC rechts
–0.2 Rekollektion Vertrautheit
–0.3
–0.4 Abbildung 14-6: Lateralisierung der Durchblu-
PFC tung im PFC während des Abrufs von Gedächtnis-
Sicherheit: informationen in Abhängigkeit vom Vorliegen von
gering mäßig hoch „Rekollektion“ und „Vertrautheit“ (Henson et al.,
1999).
Abbildung 14-5: Durchblutungszunahmen im
rechtsseitigen PFC in Abhängigkeit von der sub- ßer die Unsicherheit, ob die abgerufene Infor-
jektiven „Sicherheit“, mit der die Versuchsper- mation wirklich gelernt wurde, desto stärker
sonen angeben, eine vorher gelernte Information
ist die Aktivität des rechtsseitigen Frontalkor-
zuerinnern.
tex (Abb. 14-5).
Ein weiterer funktioneller Hemisphären-
stellbar. Der bewusste und detaillierte Abruf unterschied beim Encodieren und Abruf wird
gespeicherter Informationen wird über den mit dem sogenannten HERA-Modell (He-
linksseitigen Frontalkortex vermittelt (Rekol­ mispheric encoding retrieval asymmetry) vor-
lektion). Sofern dieser detaillierte Abruf nicht geschlagen. Gemäß diesem Modell ist beim
möglich ist (z. B. aufgrund des fehlenden Zu- Encodieren von episodischen Informationen
griffs auf die Informationen oder weil sie nicht vermehrt der linksseitige Frontalkortex aktiv.
vorhanden sind), entsteht ein Vertrautheits- Beim Abruf dagegen ist der rechtsseitige Fron-
gefühl, das über den rechtsseitigen Frontal- talkortex verstärkt aktiv. Beim semantischen
kortex vermittelt wird. Möglicherweise ist das Gedächtnis (insbesondere wenn verbales Ma-
Vertrautheitsgefühl mit größerer Unsicherheit terial verarbeitet wird) trifft das HERA-Modell
verbunden, sodass der Kontrollaufwand beim nicht zu, denn hier ist vorrangig der linkssei-
Abruf erhöht ist. Dies konnte in verschiedenen tige Frontalkortex aktiv. Es ist jedoch zu be-
Studien beschrieben werden. Werden episo- achten, dass bei diesen Gedächtnisprozessen
dische Informationen abgerufen, sind sich die nicht nur eine Hemisphäre ausschließlich ak-
Versuchspersonen nicht bei allen Informatio- tiv ist, sondern dass in der Regel beidseitige
nen gleich sicher, ob die Informationen korrekt Durchblutungszunahmen nachzuweisen sind.
sind. Je sicherer sie sich sind, desto weniger Nur beim Encodieren und Abruf episodischer
stark ist die Aktivität im rechtsseitigen Fron- Informationen tritt eine relative Durchblu-
talkortex. Zusammengefasst heißt das, je grö- tungsasymmetrie zugunsten des linken (beim

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460 14.  Deklaratives Gedächtnis

2
L R

R
1.5

Effektstärke
1

0.5

L
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Encodierung Abruf (verzögert)

Abbildung 14-7: Beispiel für eine typische Durchblutungsasymmetrie gemäß dem HERA-Modell (nach
Neuner et al., 2007).

Encodieren) und rechten (beim Abruf) Frontal- • Vertrautheit beim Abruf und die damit ver-
kortex auf (Abb. 14-7). bundene Unsicherheit, etwas wirklich ge-
lernt zu haben, ist mit stärkerer Aktivität im
rechtsseitigen PFC verbunden.
14.3.3. Zusammenfassung • Beim erfolgreichen Encodieren von nicht-
verbalen episodischen Informationen sind
• Der Frontalkortex ist in das Encodieren und der rechtsseitige und linksseitige Gyrus
den Abruf von deklarativen Informationen frontalis inferior eingebunden.
eingebunden. • Der vordere Teil des Gyrus frontalis inferior
• Je besser der Abruferfolg, desto stärker ist ist eher an der Encodierung von semanti-
die Aktivität im linksseitigen Gyrus fronta- schen Informationen, der hintere Teil ins-
lis inferior. besondere an der Encodierung von phone-
• Während des Abrufzustands treten länger tischen und phonologischen Informationen
andauernde Aktivierungen insbesondere beteiligt.
des rechtsseitigen Frontalkortex auf.
• Gelegentlich kann festgestellt werden, dass
der Abrufaufwand auch mit tonischen Akti- 14.4. Parietallappen und ­
vierungen des rechtsseitigen Frontalkortex deklaratives Gedächtnis
assoziiert ist. Diese rechtsseitigen Aktivie-
rungszunahmen reflektieren wahrschein- Die Hirngebiete des Parietallappens, die an
lich alle Kontroll- und Überwachungspro- deklarativen Gedächtnisprozessen beteiligt
zesse, die mit dem Abruf von episodischen sind, sind insbesondere der Präcuneus, das
Gedächtnisinformationen assoziiert sind. retrospleniale Hirngebiet (oberhalb des Sple-
• Detaillierte Erinnerung (Rekollektion) ist niums des Corpus callosum gelegen), der in-
mit starker linksseitiger Aktivität im PFC traparietale Sulcus und der inferiore Parietal-
verbunden. lappen (LPi). All diese Hirngebiete sind

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14.6.  Elektrophysiologische Kennwerte des deklarativen Gedächtnisses 461

besonders stark durchblutet, wenn der Abruf und zeigen bei vielen kognitiven Tätigkei-
erfolgreich war. Gelegentlich zeigt sich auch ten geringe Aktivierungen. Dieser Zustand
ein linearer Zusammenhang zwischen der kann als ein „organisierter Leerlaufmodus“
Stärke der Aktivierung in diesen Hirngebieten aufgefasst werden, der immer dann auftritt,
und dem Erfolg des Abrufs (je stärker durch- wenn ein Mensch seine Gedanken schweifen
blutet, desto besser der Abruf). Interessant ist, lässt und seine Aufmerksamkeit nicht auf zu
dass diese Hirngebiete während des Enco­ bewältigende Aufgaben oder externe Reize
dierens „deaktiviert“ sind und negative DM- lenkt.
Effekte aufweisen (Abb. 14-8). Das bedeutet,
dass die Durchblutung in diesen Hirngebieten
während des erfolgreichen Encodierens stär- 14.5. Sensorische Areale und
ker deaktiviert ist als während des weniger deklaratives Gedächtnis
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erfolgreichen Encodierens. Diese Hirngebiete


sind auch im „Grundzustand“ oder „Grund- Viele Gedächtnisinformationen werden dort
betrieb“ (default mode) des Gehirns „aktiv“ gespeichert, wo sie während der Encodie-
rung verarbeitet wurden. Werden also visuelle
Reize encodiert, dann sind auch visuelle
Areale beteiligt. Wenn akustische Reize enco-
diert werden, sind demzufolge auditorische
LPi Areale involviert. Sollen Versuchspersonen
visuell präsentierte Wörter lernen, dann wer-
den beim Abrufen dieser Wörter auch die vi-
suellen Areale im Okzipitalkortex aktiv sein.
Werden die Versuchspersonen dagegen instru-
negativer DM-Effekt
iert, sich akustisch präsentierte Wörter zu
0 merken, dann wird beim Abruf dieser Wörter
der auditorische Kortex aktiv sein. Dieses Phä-
0.225 nomen wird als Reaktivierung bezeichnet.
Reaktivierung bedeutet, dass jene Hirngebiete
% Signalzunahme

beim Abruf aktiv sind, die auch bei der Enco-


–0.45
dierung beteiligt waren.

–0.675
14.6. Elektrophysiologische
–0.9
Kennwerte des deklara­
LPi tiven Gedächtnisses
Behalten Vergessen DM-Effekt
Das Elektro- und das Magnetenzephalogramm
Abbildung 14-8: „Deaktivierung“ im Lobulus pa-
bieten hervorragende Möglichkeiten, Hirn-
rietalis inferior (LPi) beim Encodieren. Dargestellt
aktivierungen zeitlich sehr präzise zu erfassen.
ist auch der „negative DM-Effekt“ beim Encodie-
ren. Beim Abruf nimmt die Aktivität im LPi aller-
Allerdings ist die Zuordnung der Hirnaktivie-
dings zu. Je besser der Abruf, desto stärker ist die rungen zu bestimmten Hirngebieten nicht un-
Aktivierung im LPi. Ähnliche Aktivierungsmuster problematisch. Da in den vorangegangenen
sind auch für den Präcuneus und das retrosple- Kapiteln die räumliche Zuordnung im Vorder-
niale Gebiet berichtet worden. grund stand, wurden die EEG- bzw. MEG-Be-

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462 14.  Deklaratives Gedächtnis

funde bislang nicht ausführlich dargestellt. In Wahrscheinlich erfordert der Aufbau von
diesem Kapitel werden die EEG-Befunde zu- Engrammen, die zur Rekollektion führen, Auf-
sammengefasst dargestellt, da sie hinsichtlich merksamkeit und die Auseinandersetzung
der zeitlichen Information, aber auch hinsicht- mit den zu lernenden Reizen. Aufmerksamkeit
lich der wahrscheinlich beteiligten neurophy- ist wahrscheinlich notwendig, um die neuen
siologischen Prozesse weitere Informationen Informationen mit dem Kontext zu verbin-
liefern. Der oben bereits im Zusammenhang den. Ist es nicht möglich oder nicht gewünscht,
mit fMRT-Untersuchungen beschriebene Alt- die notwendigen Aufmerksamkeitsressourcen
neu-Effekt ist zuerst im Rahmen von EEG- aufzuwenden, wird lediglich Vertrautheit ent-
Untersuchungen genutzt worden. In der Regel wickelt. Angenommen, Sie fahren mit dem
werden evozierte Potenziale (EVP) für Reize Auto in einem fremden Land (z. B. England)
berechnet, die gelernt wurden (EVP für „alte“ und müssen auf den Verkehr achten. Sie hätten
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Reize), und für Reize, die nicht gelernt wur- wahrscheinlich nicht genügend Ressourcen
den (EVP für „neue“ Reize). Werden diese zur Verfügung, um gleichzeitig auch noch auf-
EVP voneinander subtrahiert, erhält man merksam dem Radioprogramm zu folgen. Sie
Differenzpotenziale, die zwei typische Alt-­ könnten demzufolge die dort behandelten In-
neu-­Effekte zeigen. Man spricht von einem formationen nicht zu einem bewusst werden-
linksparietalen Alt-neu-Effekt, der ungefähr den Engrammgeflecht verarbeiten. In solchen
400–700 ms nach Präsentation des Testreizes Situationen werden Sie die Engramme mehr
auftritt, und einem frontalen Alt-neu-Effekt, oder weniger unbewusst ablegen und Ver-
der zwischen 300 und 500 ms nach Reizprä- trautheit entwickeln, ohne dass Sie diese Infor-
sentation erscheint. Diese Alt-neu-Effekte mationen verknüpfen und mit Kontextinfor-
sind anhand der Topografie der EVP erkenn- mationen versehen. Allerdings werden Sie den
bar (Topografie ist die Verteilung der elektri- Eindruck haben, dass diese Informationen
schen Aktivität an der Schädeloberfläche für eben nicht fremd sind, Sie können sie jedoch
ein bestimmtes Zeitfenster des EVP). Der nicht bewusst benennen. Im Übrigen bauen
linksparietale Alt-neu-Effekt ist durch eine wir so auch die Vertrautheit mit Musik auf, die
große positive Deflexion des EVP über dem wir sehr häufig eher nebenbei hören.
linksseitigen parietalen Schädelbereich ge- Nicht nur die Hirnaktivität während und
kennzeichnet. Der frontale Alt-neu-Effekt ist kurz nach dem Encodieren hängt mit der Güte
durch eine starke Negativierung des EVP über der Gedächtnisleistungen zusammen, son-
frontalen Schädelbereichen gekennzeichnet. dern auch die Hirnaktivität unmittelbar vor
Diese beiden Effekte werden mit den Subpro- dem Encodieren. Dies konnten Otten und
zessen Rekollektion und Vertrautheit in Ver- Kollegen belegen (Otten et al., 2006). Ihr Ver-
bindung gebracht; Vertrautheit mit dem etwas suchsaufbau entspricht im Prinzip dem, den
früher auftretenden frontalen und Rekollek- wir bereits aus den anderen Subsequent-Me-
tion mit dem später auftretenden parietalen mory-Experimenten kennen. In diesem Expe-
Alt-neu-Effekt. Dieser Befund belegt erneut, riment wird allerdings auch die Hirnaktivität
dass während des Abrufs zwei unterschiedli- vor der Encodierung gemessen und getrennt
che Abrufprozesse wirksam sein können. Der für gelernte und vergessene Reize analysiert.
implizite Prozess (Vertrautheit) ist dabei etwas Die Differenz dieser Hirnaktivitäten ergibt
schneller (300–500 ms nach Reizdarbietung) den bereits bekannten Difference-in-me­
als der explizite (Rekollektion; 400–800 ms mory-Effekt (DM-Effekt), nun jedoch auch
nach Reizdarbietung). Auch diese Befunde für die Hirnaktivität vor der Encodierung.
unterstützen die Zweiprozesstheorie (s. o.). Hierbei ergab sich, dass die Hirnaktivität vor

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14.6.  Elektrophysiologische Kennwerte des deklarativen Gedächtnisses 463

der Encodierung mit dem späteren Encodier- Weitere Befunde belegen, dass auch an-
erfolg zusammenhing. Über frontalen Hirn- dere EEG-Oszillationen differenziell mit
gebieten zeigte sich eine stärkere Negati- dem Abruferfolg zusammenhängen. Wird
vierung des evozierten Potenzials vor der ein Reiz präsentiert, der semantisch erkannt
Encodierung. Über parietalen Hirngebieten werden soll, ist eine Abnahme der Energie
kehrte sich die Polarität zu einer Positivierung im oberen Alpha-Bereich (10–12 Hz; ereig­
um. Am stärksten waren diese Effekte unmit- nisbezogene Desynchronisation, ERD) zu
telbar vor der Wortpräsentation. Die Autoren beobachten, die ungefähr bis 4 s nach dem
nennen diesen Effekt Prestimulus subsequent Reiz anhält und dann in eine Synchronisa-
memory effect. Wahrscheinlich müssen die tion (ereignisbezogene Synchronisation,
für die Encodierung relevanten Hirngebiete ERS) des oberen Alpha-Bands übergeht.
sich in einem optimalen neuronalen Erre- Eine Synchronisation indiziert eine Zu-
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gungszustand befinden, damit sie effizient nahme der Energie (hier im Alpha-Band).
Encodieren können. Gleichzeitig ist eine Synchronisation im
Der Abruf von Gedächtnisinformationen Theta-Band ca. 500 ms nach der Präsenta-
kann auch mittels EEG-Oszillationen unter- tion des Reizes zu erkennen. Allerdings tritt
sucht werden. In einem typischen Experiment die Theta-Synchronisation nur bei guten
(Gruber et al., 2008) mussten die Versuchsper- Lernern auf, also jenen Versuchspersonen,
sonen bei einer Wiedererkennungsaufgabe welche die dargebotenen Reize auch gut be-
Alt-neu-Entscheidungen treffen. Während des halten haben, während bei schlechten Ler-
Abrufs wurden Gamma-Band- und Theta- nern eine Theta-Desynchronisation eintritt.
Band-EEG-Oszillationen an der Schädelober- Gute Lerner fallen darüber hinaus dadurch
fläche gemessen. Die Gamma-Band-Oszilla- auf, dass sie stärkere Desynchronisationen
tion (hier 35–80 Hz) spiegelt die Aktivität im Alpha-Band aufweisen als schlechte Ler-
neokortikaler Netzwerke wider. Die Theta- ner (Abb. 14-9). Was bedeuten diese Be-
Band-Oszillationen können in diesem Fall als funde? Je stärker die Desynchronisation im
ein Indikator für die Interaktion zwischen Alpha-Band und je stärker die Synchronisa-
mesiotemporalen Hirngebieten und dem Neo- tion im Theta-Band, desto besser können se-
kortex aufgefasst werden. Bei diesem Versuch mantische Informationen später abgerufen
zeigte sich, dass die Theta-Band-Aktivität nur werden. Die Theta-Band-Aktivität reflektiert
dann anstieg, wenn die Versuchspersonen die Interaktion zwischen mesiotemporalen
beim Abruf auch die Kontextinformationen er- Hirngebieten und dem Neokortex. Das be-
innerten, also Rekollektion zeigten. Wenn sie deutet, je intensiver diese Interaktion, desto
allerdings nur in der Lage waren, anzugeben, besser ist die Abrufleistung. Die Alpha-Band-
ob die dargebotenen Reize alt oder neu waren Aktivität ist wahrscheinlich mit den Kontroll-
(ohne Kontextbezug, also Vertrautheit), nahm prozessen während des Enkodierens und
die Gamma-Band-Aktivität zu. Im Übrigen trat späteren Abrufs assoziiert. Eine Zunahme der
die Gamma-Band-Aktivität etwas früher auf Alpha-Band-Oszillationen vor allem an poste-
als die Theta-Band-Aktivität. Insgesamt be- rioren Elektroden indiziert sehr wahrschein-
stätigen diese Befunde die Existenz von zwei lich kortikale Inhibitionsprozesse. Beim er-
Subprozessen beim Abruf von Gedächtnis- folgreichen Enkodieren und Abrufen müssen
informationen. Andere Studien zeigen, dass irrelevante Prozesse inhibiert werden, die
die Gamma-Band-Aktivität beim erfolgrei- sich möglicherweise störend auf das Enkodie-
chen Encodieren zunimmt (Herrmann et al., ren und Abrufen auswirken (siehe zusam-
2010). menfassend Tabelle 14-2).

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464 14.  Deklaratives Gedächtnis

Alpha (10–12 Hz) Theta (3–7 Hz)


40 ERD in % 10

30 5

ERD in %
ERD in %

20 0

10 –5

0 –10
ERS in %
0–500 ms 500–1 000 ms 0–500 ms 500–1 000 ms

gute Lerner gute Lerner


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schlechte Lerner schlechte Lerner

Abbildung 14-9: Ereignisbezogene Desynchronisation (ERD) im oberen Alpha-Band und ereignisbezo-


gene Synchronisation (ERS) im Theta-Band, dargestellt für „gute“ und „schlechte“ Lerner. Die ERD und
ERS sind auch jeweils für die ersten und zweiten 500 ms nach Präsentation des zu lernenden Reizes
dargestellt. ERD und ERS sind als prozentuale Abweichungen von einem Ruhezustand berechnet wor-
den. Die Grafik ist der von Klimesch (1999) nachempfunden.

Tabelle 14-2: Zusammenfassung der wichtigsten neurophysiologischen Befunde zum deklarativen


Gedächtnis

Frontaler • Negativierung 300–500 ms des evozierten Potenzials nach Reizpräsenta-


Alt-neu-Effekt tion über frontalen Elektroden im Zusammenhang mit Alt-neu-Paradigmen
• Wird mit Vertrautheitsphänomen beim Erinnern in Verbindung gebracht
Links-parietaler • Positivierung 400–700 ms des evozierten Potenzials nach Reizpräsentation
Alt-neu-Effekt über parietalen Elektroden im Zusammenhang mit Alt-neu-Paradigmen
• Wird mit der Rekollektion von Gedächtnisinhalten in Verbindung gebracht
Frontale ­ • Über frontalen Hirngebieten zeigte sich eine stärkere Negativierung
Negativierung des evozierten Potenzials vor der Encodierung.
Zunahme der • Zunahme nur dann, wenn Versuchspersonen beim Abruf von Gedächtnis-
Theta-Band-Power informationen auch Kontextinformationen erinnern (also Rekollektion)
Zunahme • Zunahme dann, wenn Versuchspersonen beim Abruf von Gedächtnis­
der Gamma- informationen keine Kontextinformationen erinnern
Band-Power (also eher Vertrautheit)
Zunahme • Beim erfolgreichen Enkodieren von Gedächtnisinformationen
der Gamma-
Band-Power
Theta-Band- • Zunahme der Theta-Band-Power beim Enkodieren zirka 500 ms nach ­
Synchronisation Reizpräsentation nur dann, wenn der Reiz später erinnert wird
Alpha-Band- • Abnahme der Alpha-Band-Power beim Enkodieren zirka 1000 ms nach
Desynchronisation Reizpräsentation, wenn erfolgreich enkodiert wird
Späte Alpha-Band- • Eine späte Zunahme der Alpha-Band-Power beim Enkodieren zirka
Synchronisation 4 Sekunden nach Reizpräsentation, wenn erfolgreich enkodiert wird

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14.7.  Wie ist Wissen ­repräsentiert? 465

Neuere Untersuchungen haben des Wei- logen von Wissen und der Repräsentation von
teren gezeigt, dass man offenbar das Enco- Wissen sprechen, benutzen sie Begriffe wie
dieren willentlich unterbinden oder zumin- Konzept, Merkmal, Skript, Proposition,
dest erschweren kann. Zur Untersuchung Handlung oder Symbol, um zu beschreiben,
dieses Phänomens wurde unter anderem das was als Wissenselement aufzufassen ist. Wir
Nichtdenkparadigma (no-think paradigm) wollen uns kurz diesen Begriffen zuwenden,
verwendet. Hierbei werden die Versuchsper- um dann die wichtigsten theoretischen Vor-
sonen in einer Lernphase mit Wortpaaren stellungen bezüglich der Wissensrepräsenta-
(einem Hinweis- und einem Zielwort) kon- tion zu erörtern.
frontiert. Nach der Lernphase folgt die experi- Konzepte werden seit den Anfängen der
mentelle Phase, in der nur das Hinweiswort griechischen Philosophie als grundlegende
präsentiert wird und die Versuchspersonen in Einheiten des Denkens aufgefasst. Konzepte
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zwei Bedingungen unterschiedlich mit dem helfen uns, die Vielzahl von Objekten, Ereig-
assoziierten Zielwort „umgehen“ sollen. In nissen und Beziehungen in unserer physika-
den Nichtdenkbedingungen sollen sie das As- lischen und mentalen Welt zu organisieren.
soziieren des Zielworts mit dem Hinweisreiz Mithilfe von Konzepten gelingt es, diese As-
aktiv unterdrücken. In der Kontrollbedingung pekte auf wesentliche Grundelemente zu re-
sind sie angehalten, sich das zum Hinweiswort duzieren. Hätten wir keine Konzepte, müsste
passende Zielwort möglichst lebhaft vorzu- jedes Objekt und jedes Ereignis einzeln abge-
stellen. Es zeigte sich, dass in späteren Ab- speichert und benannt werden. Man stelle sich
rufbedingungen die Abrufleistung für das eine Welt ohne das Konzept Mensch vor. Wir
Zielwort am schlechtesten war, wenn eine müssten dann für jede einzelne Person einen
Nichtdenkphase vorausgegangen war. Die Begriff abspeichern und nutzen. Es würde uns
gleichzeitig gemessenen EEG-Aktivitäten v. a. sehr schwer fallen, Menschen von Tieren
zeigten auch, dass die Verminderung des Ab- oder Möbeln zu unterscheiden. Um Konzepte
rufs in den Nichtdenkbedingungen mit cha- entwickeln zu können, sind Kenntnisse über
rakteristischen EEG-Aktivitäten vor dem Abruf die Objekte, Ereignisse und Relationen erfor-
assoziiert waren (Hanslmayr et al., 2009). derlich, die mittels der Konzepte ausgedrückt
werden sollen. Oft sind die Kenntnisse nicht
objektiv messbar, müssen gedanklich er-
14.7. Wie ist Wissen ­ schlossen werden oder man hat sie physika-
repräsentiert? lisch nie erlebt und wird sie wahrscheinlich
auch nie selbst bewusst erleben. Ein Beispiel
In den vorherigen Abschnitten wurden En- für ein Konzept, das sehr stark auf Erschlosse-
gramme, Gedächtnisspuren und neuronale nem, Erdachtem und physikalisch nicht De-
Netzwerke besprochen, in denen oder mit finierbarem beruht, ist das Konzept des reli-
denen Gedächtnisinformationen gespeichert giösen Glaubens.
werden. In der kognitiven Psychologie wird Konzepte werden durch Merkmale be-
bereits lange Zeit über die Frage nachgedacht, schrieben oder stehen über Merkmale mit-
wie Gedächtnisinformationen gespeichert einander in Verbindung. Merkmale sind in der
werden. In der kognitiven Psychologie wird Regel erlernt und können ein Leben lang stabil
von Wissensrepräsentation gesprochen, sein. Konzepte beziehen sich nicht nur auf Ob-
wenn ausgedrückt werden soll, wie Gedächt- jekte, sondern auch auf Ereignisse. Konzepte
nisinformationen im deklarativen Gedächtnis für Ereignisse werden auch Skripte genannt
gespeichert werden. Wenn Kognitionspsycho- (im Englischen auch events). Ein Restaurant-

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466 14.  Deklaratives Gedächtnis

besuch ist ein Beispiel für ein Skript. Dieses geln, Vorgänge etc.). Ein Stoppschild an einer
Skript fasst viele Unterereignisse zusammen, Straßenkreuzung ist ein Symbol für ein Kom-
die für einen Restaurantbesuch typisch sind mando (Proposition), das eine bestimmte
(Reservierung, Ankunft, Einweisung durch Handlung erzwingt und mit bestimmten Skrip-
den Ober, Platz nehmen, Speisekarte studie- ten assoziiert ist. Symbole werden im jewei-
ren, Auswahl des Essens, Bestellung etc.). Den ligen Kulturkontext durch Lernen und Erfah-
Skripten ähnlich sind Propositionen. Das rung definiert.
Spezifische an Propositionen ist, dass ver- Wie ist nun dieses Wissen im deklarativen
schiedene Gedächtniselemente wie in einem Gedächtnis organisiert? Gegenwärtig werden
Satz zusammengefasst und abgespeichert wer- im Wesentlichen drei Modelle diskutiert, die
den. Diese so zusammengefassten Elemente nicht als einander ausschließende Organisati-
bilden eine Proposition, die als Einheit abge- onsprinzipien aufzufassen sind, sondern als
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speichert und abgerufen wird. Eine Proposi- unterschiedliche Strategien, mit denen Wis-
tion besteht typischerweise aus Subjekt, Prädi- sen organisiert und repräsentiert wird. Diese
kat, Objekt, Kontext und weiteren Elementen. drei Modelle sind das semantische Netz­
Zum Beispiel besteht die Erinnerung „Ver- werk, das Prototypenmodell und die Exem­
gangenen Winter habe ich in St. Moritz im plartheorie.
Engadin Urlaub gemacht“ aus den Begriffen
„vergangener Winter“ (Zeit), „St. Moritz im
Engadin“ (Ort), „ich“ (Subjekt), „Urlaub ma- 14.7.1. Semantisches Netzwerk
chen“ (Prädikat). Die gesamte Gedächtnis-
kette ist allerdings eine Proposition und kann Das semantische Netzwerkmodell wurde
auf verschiedene Weisen verbalisiert oder vi- von Collins und Quillian (Collins, 1969) vor-
sualisiert werden. geschlagen. Die beiden Wissenschaftler haben
Handlungen sind zeitlich in sich geschlos- ihr Modell auf der Basis relativ einfacher Ver-
sene, auf ein Ziel gerichtete sowie inhaltlich haltensexperimente entwickelt. Die Versuchs-
und zeitlich gegliederte Einheiten der Tätig- personen sollten die Korrektheit von Aus-
keit. Handlungen grenzen sich von Tätigkeiten sagen beurteilen und ihr Urteil so schnell wie
durch die mit der Absicht der Realisierung möglich mittels eines Tastendrucks angeben
(Intention) verknüpfte Vorwegnahme des Er- (Satzüberprüfung; sentence verification). Die
gebnisses (Antizipation) ab. Insofern ist jede abhängige Variable in diesem Fall ist die Re-
Handlung ein bewusster psychischer Vorgang, aktionszeit. Angenommen, Sie müssten die
der zielgerichtet ist und zur Erfüllung be- Aussagen „Ein Kanarienvogel kann singen.“
stimmter Aufgaben eingesetzt wird. Für Teil- (Aussage 1), „Ein Kanarienvogel hat Flügel.“
handlungen (Operationen) und die in diese (Aussage 2) und „Ein Kanarienvogel kann sich
eingeschlossenen Bewegungen gilt das nicht. bewegen.“ (Aussage 3) im Hinblick auf „wahr“
Jede Handlung beinhaltet neben den Zielen oder „falsch“ beurteilen. Am schnellsten wer-
auch kognitive Prozesse. Eine Handlung kann den die meisten Versuchspersonen Aussage 1
auch als eine sensomotorische Einheit auf- als „wahr“ identifizieren, am längsten wer-
gefasst werden, unter der eine Einheit von den die Reaktionszeiten für Aussage 3 ausfal-
Wahrnehmung, Urteilen, Behalten, Reprodu- len. Kurze Reaktionszeiten indizieren einen
zieren und motorischem Ausführen (Bewegen) schnellen und lange Reaktionszeiten einen
verstanden wird. Symbole sind Zeichen oder langsameren Zugang zu den semantischen
Bezeichnungen für Entitäten (Objekte, Zei- Informationen. Collins und Quillian schlossen
chen, Wörter, Gegenstände, Handlungen, Re- daraus, dass die semantischen Informationen

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14.7.  Wie ist Wissen ­repräsentiert? 467

auf unterschiedlichen Ebenen lokalisiert sind. werk ist eines der ersten, das die beiden Wis-
Ist eine Information auf einer unteren Ebene senschaftler entwickelt hatten. Solche Netz-
lokalisiert, dann gelingt der Zugriff schneller werke weisen einige Probleme auf. Zunächst
als auf Informationen, die sich auf einer über- ist festzuhalten, dass v. a. das Beispielnetz-
geordneten Ebene befinden. Aus solchen Re- werk sehr taxonomisch ist; d. h., es ähnelt sehr
aktionszeitexperimenten konstruierten die einer Taxonomie eines Zoologen. Hierbei
beiden Forscher das semantische Netzwerk. In stellt sich die Frage, ob die semantischen
Abbildung 14-10 ist ein typisches semantisches Netzwerke aller Menschen so „ordentlich“
Netzwerk dargestellt, das sich in vielen Lehr- und wissenschaftlich aufgebaut sind. Ein
büchern der kognitiven Psychologie findet. anderes Problem betrifft die Nichtaustausch-
In diesem Netzwerk repräsentiert jedes barkeit einiger Merkmale. Zum Beispiel ha-
Viereck ein Konzept oder eine Kategorie. ben die Aussagen „Ein Rotkehlchen ist ein
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Jede Kategorie ist durch eine Gruppe von Vogel.“ und „Ein Huhn ist ein Vogel.“ die
Merkmalen definiert. Um vom Konzept „Ka- gleiche Beziehung und „Distanz“ zur überge-
narienvogel“ zum Konzept „Tier“ zu gelan- ordneten Kategorie (Vogel), aber sie unter-
gen, muss das übergeordnete Konzept „Vo- scheiden sich im Hinblick auf ihre Typikali­
gel“ durchlaufen werden. Dies erfordert Zeit tät. Viele werden darin übereinstimmen,
und schlägt sich in längeren Reaktionszeiten dass ein Rotkehlchen mehr einem Vogel ent-
bei Aussagebeurteilungen nieder. Die einzel- spricht als einem Huhn. Deshalb werden
nen Konzepte sind miteinander verbunden Versuchspersonen der Aussage, ein Rotkehl-
und können sich gegenseitig beeinflussen chen sei ein Vogel, schneller zustimmen als
(z. B. aktivieren). Das hier dargestellte Netz- der Aussage, dass ein Huhn ein Vogel sei.

Ebene 3

Tier
Haut
bewegt sich
isst
atmet

Ebene 2

Vogel Fisch
Federn Schuppen
Flügel schwimmt
fliegt Kiemen

Ebene 1

Lachs
Kanarienvogel Strauß Hai
rosa
singt läuft beißt
essbar
gelb groß gefährlich
laicht

Abbildung 14-10: Beispiel eines semantischen Netzwerks nach Collins und Quillian (1969).

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468 14.  Deklaratives Gedächtnis

14.7.2. Prototypenmodell alpsychologie etc.). Vor allem hat sich gezeigt,


dass Prototypen sehr stark durch Erfahrung und
Um dem Problem der Typikalität Rechnung zu Lernen beeinflusst sind. Prototypen sind flexi-
tragen, wurde das Prototypenmodell vor- bel und infolge von Lernen und Erfahrung
geschlagen (Malt & Smith, 1984). Auch im schnell anpassbar. Sie müssen auch flexibel
Rahmen des Prototypenmodells wird die Be- sein, denn sie können Kategorien nicht so per-
deutung eines Konzepts durch die Assoziatio- fekt beschreiben, dass jedes Objekt zweifelsfrei
nen mit benachbarten Konzepten definiert. Im der entsprechenden Kategorie zugeordnet wer-
Gegensatz zum semantischen Netzwerk wird den kann, daher wird auch von unscharfen
die Ähnlichkeit der Konzepte durch Überein- Konzepten (fuzzy concepts) gesprochen. Pro-
stimmung mit einem Prototyp definiert. Bei totypen verschiedener Konzepte können sich zu
unserem Beispiel bleibend, wird ein Prototyp- neuen Prototypen mischen und sie existieren
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konzept für Vogel angenommen, das durch für verschiedene Bereiche. Typische Beispiele
typische Merkmale definiert ist. Je mehr Merk- sind sozialpsychologisch definierte Stereotype
male andere Konzepte mit diesem Prototyp über Personengruppen (Männer vs. Frauen)
teilen, desto mehr werden die anderen Kon- oder Angehörige von verschiedenen Nationen
zepte im Sinne des Prototyps bewertet. und Berufsgruppen.
In Tabelle 14-3 ist eine Merkmalsliste für ei-
nen Vogel aufgeführt. Des Weiteren sind be-
stimmte Vögel mit ihren Merkmalen inklusive 14.7.3. Exemplartheorie
der Übereinstimmungen mit dem Prototyp dar-
gestellt. Zu erkennen ist, dass Rotkehlchen und Eine Erweiterung des Prototypenmodells ist
Schwalbe exakt dem Prototyp entsprechen und die Exemplartheorie. Im Rahmen dieser
deshalb auch sehr schnell dem Konzept Vogel Theorie wird davon ausgegangen, dass keine
zugeordnet werden. Huhn und Pinguin weisen Repräsentationen von einzelnen Konzepten
nur ein gemeinsames Merkmal mit dem Proto- und/oder Prototypen existieren, sondern nur
typ Vogel auf, was mit langen Verifikationszei- Erinnerungen an wahrgenommene Exemplare.
ten verbunden ist. Prototy­penmodelle werden Ein Konzept wird je nach Kontext und Fra-
in der Psychologie breit angewendet (kognitive gestellung ad hoc konstruiert. Vereinfacht kann
Psychologie, Wahrnehmungspsychologie, Sozi- man sich das wie folgt vorstellen: Ein Kind sieht

Tabelle 14-3: Beispiel für Merkmalsübereinstimmungen von verschiedenen Vögeln mit dem Prototyp
Vogel (nach Haberlandt, 1994).

Merkmale Vogel Rotkehlchen Schwalbe Geier Huhn Pinguin


fliegt + + + + – –
singt + + + – – –
legt Eier + + + – + +
ist klein + + + – – –
nistet in Bäumen + + + + – –
isst Insekten + + + – – –
Summe 6 6 6 2 1 1
Übereinstimmungen

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14.7.  Wie ist Wissen ­repräsentiert? 469

nacheinander vier verschiedene Hunde (Da-


ckel, Schäferhund, Pudel und Bernhardiner). all
ge
me
Jeder Hund wird als eine Gedächtnisspur im in
Gedächtnis (als Exemplar) gespeichert. Aus
diesen Repräsentationen wird eine mittlere Re- speziell
präsentation berechnet. Diese Repräsentation
kann als ein ad hoc produzierter Prototyp auf- Personen
Tiere Werkzeuge
gefasst werden. Bei diesem Mittelungsprozess
werden Merkmale ausgewählt, einzelne wer- Abbildung 14-11: Schematische Darstellung der
den besonders gewichtet (verstärkt oder abge- Orte im Temporallappen, an denen bestimmte Ka-
schwächt) oder sogar eliminiert. tegorien von Gedächtnisinformationen gespei-
chert sind (nach Damasio et al., 2001).
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14.7.4. Neurowissenschaftliche ­ pretieren, in denen teilweise weit voneinander


Befunde getrennte Netzwerkknoten miteinander ver-
bunden sind. Je nach spezifischer Kategorie
Eine Reihe von Befunden bei Läsionspatienten sind in diese Netzwerke Hirnstrukturen ein-
belegt, dass neuronale Netzwerke existieren, gebunden, die auch an der Wahrnehmung und
die für bestimmte Gedächtniskategorien spe- motorischen Kontrolle der repräsentierten In-
zialisiert sind. So wird z. B. von einem Patien- formationen beteiligt sind (Farbnamen = Farb-
ten (J. J.) berichtet, der nach Temporallappen- wahrnehmungsareale im unteren Teil des
läsionen Einbußen im Erinnern von Möbeln Temporallappens; Worte für Gesichter = sen-
und Nahrungsmitteln aufwies, während er somotorische Hirngebiete zur Verarbeitung
Tiernamen erinnerte. Ein anderer Patient (P. S.) von Gesichtsinformationen; Worte für Arme
wies Gedächtniseinschränkungen bei Tier- = Prämotorkortex; Worte für Formen = unte-
namen auf, während er Möbel- und Nahrungs- rer Teil des Temporallappens; Abb. 14-12).
mittelnamen erinnerte. Antonio Damasio Die N-400 ist eine Komponente des evo-
(1990) hat die Läsionsdaten von Patienten mit zierten Potenzials, die ca. 400 ms nach Präsen-
Temporallappenläsionen zusammengetragen tation von Reizen mit einem zentroparieta-
und kommt zu dem Schluss, dass bestimmte len Maximum gemessen werden kann. Diese
Kategorien offenbar an bestimmten Orten des Komponente reagiert sensibel auf semantische
Temporallappens gespeichert sind. PET-Un- Manipulationen des evozierenden Reizes. So
tersuchungen konnten diesen Befund an ge- ist z. B. die N-400-Amplitude verringert, wenn
sunden Probanden bestätigen. Gemäß diesen Worte präsentiert werden, die sich semantisch
Befunden sind Gedächtnisinformationen über sehr ähnlich sind. Andererseits können grö-
Personen (z. B. Namen) eher im vorderen Teil ßere N-400-Amplituden gemessen werden,
des Temporallappens gespeichert. Im mitt- wenn Wörter präsentiert werden, die sich se-
leren Teil finden sich Informationen über mantisch unähnlich sind. Die N-400-Ampli-
Tiere und im hinteren Teil Informationen über tude kann auch beeinflusst werden, indem vor
Möbel und Werkzeuge (Abb. 14-11). dem evozierenden Wort ein semantisch ähn-
Friedmann Pulvermüller (Pulvermüller & liches Wort präsentiert wird. Dieses Phänomen
Fadiga, 2010) schlägt vor, die kategoriespe- wird als Bahnung (Priming) bezeichnet und es
zifischen Hirnaktivierungen (im Zusammen- wird davon ausgegangen, dass das Bahnungs-
hang mit dem verbalen Gedächtnis) eher im wort (der Prime) das semantische Netzwerk so
Sinne von neuronalen Netzwerken zu inter- voraktiviert, dass die nachfolgenden Reize von

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470 14.  Deklaratives Gedächtnis

Worte für Farben Worte für Formen Einflussgrößen auf die Gedächtnisleistung
sind im Folgenden dargestellt.
Abrufintervall (retention intervall): Je länger
das Intervall zwischen Lernen und Abruf,
desto schlechter sind die Abrufleistungen.
Listenlänge: Je mehr Informationen gelernt
werden, desto schlechter sind die Abrufleis-
tungen.
Worte für Gesichter Worte für Arme
Serielle Position des zu lernenden Materials:
Werden Listen von Informationen gelernt,
werden die am Anfang und am Ende der Liste
stehenden Informationen besser gelernt (Re-
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cency- und Primacy-Effekt).


Tiefe der Verarbeitung: Die Abrufleistung
wird verbessert, wenn die gelernten Informa-
tionen semantisch verarbeitet werden. Damit
Abbildung 14-12: Schematische Darstellung
von  Netzwerken, die in das verbale Gedächtnis
werden die neuen Informationen an beste-
verschiedener Informationen eingebunden sind hende semantische Netzwerke angebunden.
(nach Pulvermüller & Fadiga, 2010). Beim Lernen müssen die zu lernenden Infor-
mationen an bereits bestehendes Wissen ge-
diesem voraktivierten Netzwerk effizienter koppelt werden. Das gelingt, indem man die
und mit geringerer neuronaler Aktivität ver- Testpersonen bittet, die neuen Informationen
arbeitet werden. Solche Bahnungsphänomene bezüglich vorgegebener semantischer Infor-
konnten auch mit Musik erzielt werden, die mationen zu verarbeiten (z. B.: Passt das Wort
vor den Wörtern präsentiert wurde, welche in einen bestimmten semantischen Kontext?).
die N-400-Komponente evozieren sollten. Studierzeit: Je mehr bzw. länger gelernt wird,
Wurde Musik präsentiert, die bestimmte se- desto stärker verfestigen sich die Informatio-
mantische Konzepte evozierte (z. B. „Wärme“, nen im Gedächtnis.
„Kälte“ oder „Weite“), führten nachfolgende Encodierspezifität: Der Abruf wird besser,
Wörter zu geringeren N-400-Amplituden, wenn während des Abrufs ähnliche Begleit-
wenn sie mit den Konzepten der vorher präsen- informationen vorliegen wie beim Lernen.
tierten Musik zusammenhingen (Koelsch et al., Unverwechselbarkeit der gelernten Informa-
2004). Die jeweilige Musik hatte offenbar be- tionen: Je unverwechselbarer und damit ein-
stimmte semantische Netzwerke voraktiviert maliger eine zu lernende Information ist,
und eine effizientere nachfolgende Wortbear- desto besser wird sie behalten.
beitung ermöglicht. Testmethode: Wiedererkennen gelingt bes-
ser als freier Abruf.
Häufigkeit des Testens: Eine Überprüfung
14.8. Beeinflussung des ­ der Gedächtnisleistung führt zu einer Verstär-
deklarativen Gedächt­ kung der Gedächtnisleistung für das gelernte
nisses Material. Je häufiger getestet wird, desto bes-
ser werden die getesteten Informationen be-
Die Gedächtnispsychologie hat die fördernden halten.
und hemmenden Faktoren von Gedächtnis- Neben den oben aufgeführten Methoden wer-
leistungen herausgearbeitet. Die wesentlichen den derzeit Techniken getestet, die aus dem

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14.8.  Beeinflussung des ­deklarativen Gedächtnisses 471

Forschungsbereich der Neurowissenschaften nigungsvorgang“ aufgefasst werden, im Rah-


entlehnt wurden, um die deklarative Gedächt- men dessen unnötige und schwache synap-
nisleistung zu verbessern. So haben einige tische Verbindungen gelöst und die damit
neuere Studien gezeigt, dass die Erregung des verbundenen Gedächtnisinformationen ge-
lateralen Frontalkortex (z. B. mittels TMS und löscht werden. Welche der beiden Hypothe-
tDCS) das Encodieren verbessert. Eine De- sen letztlich Erklärungshoheit gewinnen wird,
aktivierung des lateralen Frontalkortex (ins- müssen zukünftige Studien ergeben.
besondere des linksseitigen Frontalkortex) Abschließend kann noch erwähnt werden,
verschlechtert die Lernleistung. Auch die Er- dass derzeit diskutiert wird, ob und wie stark
regung von Hirngebieten im posterioren peri- das deklarative Gedächtnissystem genetisch
sylvischen Hirnbereich resultiert in verbes- beeinflusst wird. Als wichtiges Gen wird in
serten Lernleistungen für verbales Material. diesem Zusammenhang das Apolipoprotein E
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Wenn sich diese Befunde in zukünftigen Stu- (ApoE) und hier vor allem der Genotyp ApoE4
dien bestätigen, erwachsen daraus interes- diskutiert. Träger dieses Genoytyps (es exis-
sante neue Ansätze zur Verbesserung von Ge- tieren noch die Varianten ApoE3, ApoE2) er-
dächtnisleistungen. kranken häufiger an der Alzheimer-Demenz
Auch während des Schlafs entfalten sich vor allem in jüngeren Jahren (Bu et al., 2009;­
gedächtnisfördernde Effekte. Insbesondere Cordre et al., 1993). Bei gesunden und jünge-
der Tübinger Neuropsychologie Jan Born hat ren Personen dagegen scheint dagegen das
dieses Phänomen erforscht (Diekelmann & ApoE4 einen günstigen Effekt auf das episo-
Born, 2010). Er konnte zeigen, dass der frühe dische Gedächtnis auszuüben. Träger dieser
Schlaf, der durch tiefe Schlafphasen und ty­ Genvariante erbrachten bessere episodische
pische Hirnaktivierungen (sogenannte Slow- Gedächtnisleistungen erbringen als die Träger
wave-EEG-Muster) gekennzeichnet ist, einen der anderen ApoE-Varianten. Die bessere epi-
fördernden Einfluss auf das deklarative Ge- sodische Gedächtnisleistung war auch mit ei-
dächtnis hat. Wörter, die vor dem Einschlafen ner geringeren Durchblutung im deklarativen
gelernt wurden, wurden insbesondere in der Gedächtnisnetzwerk (Hippocampus, Orbito-
ersten Schlafhälfte, wenn besonders viel Tief- frontalkortex, mittlere Frontalkortex und mitt-
schlaf und Slow-wave-EEG-Aktivität vorliegt, lerer Temporalkortex) während des Lernens
besser konsolidiert, was mit besseren Abruf- und Abrufs verbunden (Mondadori et al., 2006).
leistungen nach dem Schlaf verbunden war. Das ApoE4 ist offenbar mit einer höheren Ef-
Jan Born erklärt dies mit einer optimaleren fizienz des episodischen Lernens bei jungen
Konsolidierung, die über die Interaktion zwi- und gesunden Personen assoziiert. Bei mittel-
schen hippocampalen und kortikalen Netz- alten und älteren Personen dagegen scheint
werken vermittelt wird (Standardkonsoli­ sich dagegen das ApoE4 eher ungünstig auf
dierung). Ein anderes Modell erklärt diesen die Hirnentwicklung zu entfalten.
Effekt mit einem generellen Abschwächen In einer weiteren Arbeit konnte gezeigt
von synaptischen Verbindungen (downscaling werden, dass die genetische Beeinflussung des
hypothesis) während des Schlafs. Im Rahmen Serotonin-Systems auch die Gedächtnisleis-
dieses Modells wird davon ausgegangen, dass tung zu beeinflussen scheint (de Queurvain et
durch generelles Abschwächen der synapti- al., 2003). Das Serotonin ist ein Transmitter,
schen Verbindungen die schwachen Verbin- der eine wichtige Funktion für das deklarative
dungen gelöscht werden, während die star- Gedächtnis ausübt. Eine relativ seltene Vari-
ken (und damit wichtigen) erhalten bleiben. ante des Gens, das die Bildung des Serotonin-
Der Schlafvorgang könnte als eine Art „Rei- Rezeptors beeinflusst (Gen H452Y) und das

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472 14.  Deklaratives Gedächtnis

nur bei ca. 9 % der Population vorkommt, war • Im Rahmen der Einprozesstheorie wird
in dieser Arbeit mit einer leicht reduzierten davon ausgegangen, dass der Übergang von
verzögerten Gedächtnisleistung assoziiert. Vertrautheit zur Rekollektion kontinuier-
Die Träger dieser seltenen Genvariante er- lich ist. Im Gegensatz dazu geht die Zwei­
innerten bei einem verbalen Gedächtnistest prozesstheorie davon aus, dass für Rekol-
nach einem Tag im Durchschnitt etwa 2 Worte lektion und Vertrautheit unterschiedliche
weniger als die „normale“ Gruppe. Obwohl Hirngebiete genutzt werden und dass beide
diese Befunde einer weiteren Untersuchung Prozesse funktionell unterschiedlich sind.
bedürfen, kann festgehalten werden, dass das Die aktuelle Literaturlage favorisiert das
menschliche Gedächtnis sicher auch von gene- Zweiprozessmodell.
tischen Faktoren beeinflusst wird. • Das Gemeinsame der Theorien zum dekla-
rativen Gedächtnis besteht darin, dass die
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zu lernenden Informationen über den Hip-


14.9. Zusammenfassung pocampus mit verschiedenen Informatio-
nen verbunden werden.
• Zum deklarativen Gedächtnis werden das • Im Rahmen der Hippocampus-Perir­
semantische und das episodische Gedächt- hinal-Theorie werden neben dem Hip-
nis gezählt. Eine Sonderstellung nimmt das pocampus weitere mesiotemporale Hirn-
autobiografische Gedächtnis ein, das An- gebiete einbezogen, um die differenzielle
teile des semantischen wie auch des episo- Beteiligung an deklarativen Gedächtnis-
dischen Gedächtnisses enthält. prozessen herauszuarbeiten. Der perirhi­
• Das semantische Gedächtnis repräsentiert nale Kortex ist dafür spezialisiert, visuelle
unser Faktenwissen. Das episodische Ge- Informationen zu kategorisieren und zu er-
dächtnis speichert bestimmte Inhalte mit kennen. Der Gyrus parahippocampalis
ihren Bezügen (wer wann was wo mit wem dagegen ist für räumliche Analysen und
gemacht hat). Im autobiografischen Ge- motorische Kontrollen spezialisiert. Bild-
dächtnis befinden sich Erinnerungen aus gebende Studien konnten belegen, dass der
unserem Leben mit ihren jeweiligen zeitli- Hippocampus stärker während der Rekol-
chen Bezügen. lektion durchblutet ist, während der rhinale
• Beim Abruf von Gedächtnisinformationen Kortex gesteigerte Durchblutungen auf-
wird Rekollektion von Vertrautheit (Fami- weist, wenn Vertrautheit vorliegt.
liarität) unterschieden. Bei der Rekollektion • Zur Untersuchung des deklarativen Ge-
werden Erinnerungen mit ihren Bezügen dächtnisses wird sehr häufig das Sub­
bewusst abgerufen. Bei der Vertrautheit sequent Memory Paradigm genutzt. Mit-
fehlen die Bezüge und die Erinnerungen tels dieses Paradigmas untersucht man die
sind vage. Hirnaktivität während des Encodierens von
• Zur Beteiligung des mesiotemporalen Hirn- Informationen, die später erinnert oder ver-
systems am deklarativen Gedächtnis gibt es gessen werden. Den neurophysiologischen
vier Theorien: die Theorie der kortikalen Effekt, den man damit herausarbeitet,
Karten, die Theorie des relationalen Ge­ nennt man Difference-in-­Memory-Effekt
dächtnisses, die Theorie des episodischen (DM-Effekt). DM-Effekte können Zunah-
Gedächtnisses und die allgemeine Theorie men (positive DM-Effekte) oder Abnahmen
des deklarativen Gedächtnisses. (negative DM-Effekte) von Hirnaktivierun-
• Rekollektion ist offenbar sehr stark mit dem gen während des Encodierens von gelern-
Hippocampus assoziiert. ten und nicht gelernten Reizen sein.

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14.9. Zusammenfassung 473

• Positive DM-Effekte werden beim Enco- Präcuneus, das retrospleniale Hirngebiet


dieren im Gyrus frontalis inferior (auch (oberhalb des Spleniums des Corpus callo-
bezeichnet als ventraler Präfrontalkortex sum gelegen), der intraparietale Sulcus und
=  vPFC) festgestellt. Wenn während des der inferiore Parietallappen (LPi). All diese
Encodierens zusätzliche Aufgaben anfal- Hirngebiete sind besonders stark durch-
len, z. B. das Lernmaterial umorganisiert blutet, wenn der Abruf erfolgreich war.
werden muss (z. B. Speicherung einer Zah- Während des Encodierens sind die Gebiete
lenfolge in umgekehrter Reihenfolge statt „deaktiviert“ und es treten negative DM-
in der Reihenfolge, wie sie präsentiert Effekte auf.
wurde), treten positive DM-Effekte im dor- • Viele Gedächtnisinformationen werden
salen lateralen Präfrontalkortex (dorsolate- dort gespeichert, wo sie während der Enco-
ralen Präfrontalkortex = dPFC) auf. dierung verarbeitet wurden (sensorische

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Beim Abruf von Informationen können ver- Areale). Beim Abruf dieser Informationen
schiedene Prozesse unterschieden werden: werden diese Areale erneut aktiviert (Re­
Gedächtnissuche, Wiederherstellung, Über- aktivierung).
prüfung, Abrufaufwand und Abrufzustand. • Mittels des EVP können Alt-neu-Effekte
Diese Prozesse sind mit unterschiedlichem bei Gedächtnisuntersuchungen (ähnlich
Abruferfolg assoziiert. den DM-Effekten) gezeigt werden: ein
• EEG- und fMRT-Studien haben gezeigt, dass linksparietaler Alt-neu-Effekt, der unge-
mit dem Abrufzustand und gelegentlich fähr 400–700 ms nach Präsentation des
auch mit dem Abrufaufwand länger an- Testreizes auftritt, und ein frontaler Alt-
dauernde Aktivierungen insbesondere des neu-Effekt, der zwischen 300 und 500 ms
rechtsseitigen Frontalkortex verbunden sind. nach Reizpräsentation erscheint. Rekollek-
• Der bewusste und detaillierte Abruf gespei- tion tritt im Zusammenhang mit dem links-
cherter Informationen wird über den links- parietalen und Vertrautheit im Zusammen-
seitigen Frontalkortex vermittelt (Rekol­ hang mit dem frontalen Alt-neu-Effekt auf.
lektion). Das Vertrautheitsgefühl wird über • Der Erfolg des Encodierens hängt auch von
den rechtsseitigen Frontalkortex vermit- der Hirnaktivität vor dem Encodieren ab.
telt. Je stärker die Unsicherheit, ob die ab- • Der Abruferfolg hängt mit der Aktivität im
gerufene Information wirklich gelernt Alpha- und Theta-Band nach der Präsenta-
wurde, desto stärker ist die Aktivität des tion der zu lernenden Reize zusammen. Je
rechtsseitigen Frontalkortex. stärker die Desynchronisation im Alpha-
• Das HERA-Modell (Hemispheric encoding Band und je stärker die Synchronisation im
retrieval asymmetry) besagt, dass beim Theta-Band, desto besser können semanti-
Encodieren von episodischen Informatio- sche Informationen nach dem Lernen ab-
nen vermehrt der linksseitige Frontalkortex gerufen werden. Die Theta-Band-Aktivi-
aktiv ist. Beim Abruf dagegen ist der rechts- tät reflektiert die Interaktion zwischen
seitige Frontalkortex verstärkt aktiv. Beim mesiotemporalen Hirngebieten und dem
semantischen Gedächtnis (insbesondere Neokortex. Die Alpha-Band-Aktivität ist
wenn verbales Material verarbeitet wird) wahrscheinlich mit den Kontrollprozessen
greift das HERA-Modell nicht, denn bei während des Abrufs assoziiert.
diesem Material ist vorrangig der linkssei- • Das Wissen ist in Form von Konzepten,
tige Frontalkortex aktiv. Merkmalen, Skripten, Propositionen,
• Im Parietallappen sind an Gedächtnispro- Handlungen oder Symbolen im deklarati-
zessen die folgenden Hirngebiete beteiligt: ven Gedächtnis gespeichert.

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474 14.  Deklaratives Gedächtnis

• Wichtige theoretische Vorstellungen be- • Welche Rolle spielt der Frontalkortex beim
züglich der mentalen Repräsentationen des Encodieren und beim Abruf von deklarati-
Wissens sind semantische Netzwerk­ ven Gedächtnisinformationen?
modelle, das Prototypenmodell und die • Beschreiben Sie das Subsequent Memory
Exemplartheorien. Paradigm.
• Gedächtnisleistungen hängen von vielen • Was ist ein Difference-in-memory-Effekt
Faktoren ab. Beeinflussende Faktoren sind: (DM-Effekt)?
die Dauer des Abrufintervalls, die Menge • Definieren Sie Rekollektion und Vertraut-
des Lernmaterials, die serielle Position des heit im Zusammenhang mit dem Abruf de-
Lernmaterials, die Tiefe der Verarbeitung, klarativer Gedächtnisleistungen.
die Studierzeit, die Encodierspezifität, die • Beschreiben Sie das HERA-Modell.
Unverwechselbarkeit der gelernten Infor- • Beschreiben Sie die DM-Effekte für den
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mationen und die Häufigkeit des Testens. Parietallappen. Was bedeutet das für die
• Während des Tiefschlafs, v. a. in der ersten Beteiligung des Parietallappens am dekla-
Hälfte des Schlafs, werden Informationen rativen Gedächtnis?
konsolidiert, die dem deklarativen Ge- • Wie sind die sensorischen Hirngebiete in
dächtnis zugeführt werden. das deklarative Gedächtnis eingebunden?
• Junge und gesunde Träger des Genotyps • Beschreiben Sie den frontalen und den
ApoE4 erbringen etwas bessere episodische linksparietalen Alt-neu-Effekt im Zusam-
Gedächtnisleistungen als Träger anderer menhang mit elektrophysiologischen Ge-
ApoE-Varianten. Darüber hinaus erfolgt dächtnisuntersuchungen.
das Enkodieren und Abrufen der Lerninfor- • Welche Befunde bezüglich der Hirnaktivi-
mationen neurophysiologisch effizienter. tät vor dem Encodieren kennen Sie?
ApoE4 ist allerdings auch ein Risikofaktor • Wie sind die EEG-Oszillationen in die En-
für die Alzheimer-Demenz. Darüber hinaus codierung und den Abruf von Gedächtnis-
werden noch weitere genetische Faktoren informationen eingebunden?
diskutiert, die Einfluss auf das Gedächtnis- • Welche Effekte beeinflussen die Gedächt-
system nehmen können. nisbildung?
• Welchen Einfluss hat der Schlaf auf das de-
klarative Gedächtnis?
14.10. Fragen und Aufgaben • Welche genetischen Einflüsse auf das Ge-
dächtnissystem kennen Sie?
• Welche Teilkomponenten des deklarativen
Gedächtnisses kennen Sie?
• Definieren Sie das episodische, das seman- 14.11. Weiterführende Literatur
tische und das autobiografische Gedächt-
nis. Gluck, M. A., Mercado, E., Myers, C. E. (2007).
• Welche Theorien bezüglich der Einbindung Learning and memory: From brain to beha-
des mesiotemporalen Hirnbereichs kennen vior. Worth Publishers.
Sie? Oberauer, K., Mayr, U., Kluwe, E. R . (2006) Ge-
dächtnis und Wissen. In: H. Spada (Hrsg.).
Lehrbuch Allgemeine Psychologie. (pp. 116–
196). Bern: Huber.

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475

15. Nondeklaratives Gedächtnis


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nondeklaratives
Gedächtnis

perzeptuelle motorische kognitive


Fertigkeiten Fertigkeiten Fertigkeiten

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15.1. Einleitung 477

15.1. Einleitung personen den geforderten Probe schneller


und häufiger korrekt identifizieren. Die neu-
Das nondeklarative Gedächtnis unterscheidet rophysiologischen Reaktionen auf den Probe
sich vom deklarativen Gedächtnis dadurch, sind nach vorheriger Präsentation des Primes
dass die Wiedergabe von Gedächtnisinhalten niedriger. Je nach Beziehung zwischen Prime
unbewusst, automatisch und ohne Willens- und Probe und den genutzten Hinweisreizen
anstrengung erfolgt. Unbewusst ist in diesem werden folgende Formen des Primings unter-
Zusammenhang der Zugriff auf die gespei- schieden:
cherte Information, der mit wenig Aufmerk- • direktes Priming
samkeitsressourcen gelingt. Am unbewussten •
perzeptuelles Priming
(nondeklarativen oder auch impliziten) Lernen •
konzeptuelles Priming
ist das mesiotemporale Hirnsystem im We- • indirektes Priming

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sentlichen nicht beteiligt, was jedoch durch semantisches Priming.


neuere Arbeiten infrage gestellt wird (Henke,
2010). Das unbewusste Gedächtnissystem Beim direkten Priming sind Prime und Tar-
wird anhand verschiedener Prozesse in Teil- get identisch. Beim indirekten Priming sind
bereiche untergliedert: beide Reize unterschiedlich und stehen zum
• Bahnung (Priming) Beispiel semantisch miteinander in Bezie-
• Lernen von Fertigkeiten (skill learning) hung. Beim perzeptuellen Priming sind
• Konditionierung Prime und Probe identisch. Der Hinweisreiz
• Habituation. ist ein verfremdeter Prime. Das kann ein Frag-
ment eines Wortes oder nur der Wortstamm
Unter Bahnung (Priming) wird die Erleichte- des vorher präsentierten Wortes sein. Dieser
rung der Verarbeitung eines Zielreizes (Target Hinweisreiz wird vor dem Probe dargeboten.
oder auch Probe) aufgrund der vorherigen Beim konzeptuellen Priming sind Prime und
Darbietung eines Bahnungsreizes (Prime) ver- Probe ebenfalls identisch. Der Hinweisreiz ist
standen. Im Folgenden werden die englischen mit dem Prime und Probe konzeptuell ähn-
Begriffe beibehalten, weil sie sich auch in der lich. Wenn z. B. als Prime und Probe der Be-
deutschsprachigen Literatur etabliert haben. griff „Fahrzeug“ genutzt wird, dann kann der
Allgemein ausgedrückt bezeichnet Priming Hinweisreiz „Werkstatt“ sein. Eine andere
die Beeinflussung der Verarbeitung (Kogni- Variante des konzeptuellen Primings ist der
tion) eines Reizes durch die Präsentation ei- allgemeine Wissenstest (general knowledge
nes vorangegangenen Reizes (der Prime), der test), in dem die Versuchspersonen Allerwelts-
implizite Gedächtnisinhalte aktiviert. Die fragen beantworten sollen. Vor den Fragen
Primes können Wörter, Bilder, Töne oder an- werden den Versuchspersonen Primes präsen-
dere Reize sein. Der Prime ist ein Reiz, der mit tiert, die konzeptuell mit bestimmten Fragen
dem Probe in einer bestimmten Beziehung in Verbindung stehen. So kann z. B. der Prime
steht. Entweder sind die beiden Reize iden- „Leopard“ das Beantworten der Frage „Wie
tisch oder sie stehen semantisch oder  kon- heißt das schnellste landlebende Tier?“ güns-
zeptuell miteinander in Beziehung. In Pri- tig beeinflussen. Beim semantischen Pri­
ming-Experimenten werden häufig auch ming stehen Prime und Probe semantisch mit-
Hinweisreize (manchmal auch als Testreize einander in Beziehung. So könnte der Prime
bezeichnet) genutzt, die vor der Präsentation „Hund“ und der Probe „Katze“ sein. Die ver-
der Probes dargeboten wurden. Die Präsenta- schiedenen Formen des Primings sind in Ta­
tion des Primes führt dazu, dass die Versuchs- belle 15-1 dargestellt.

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478 15.  Nondeklaratives Gedächtnis

Tabelle 15-1: Schematische Darstellung verschiedener Varianten des Primings.

Prime Hinweisreiz Target (Probe)


Perzeptuelles Priming Fahrzeug F_h_z_u_ Fahrzeug
Konzeptuelles Priming Fahrzeug Werkstatt Fahrzeug
Semantisches Priming Fahrzeug Motorrad

Unter dem Begriff Lernen von Fertigkeiten dann zum konditionierten Reiz. Da der so aus-
werden verschiedene Lernbereiche zusam- gelöste Speichelfluss im Hinblick auf verschie-
mengefasst: dene Aspekte (zeitlicher Ablauf, Intensität etc.)
• Lernen von motorischen Fertigkeiten nicht vollkommen identisch ist, wird diese Re-

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Lernen von perzeptuellen Fertigkeiten aktion auch als konditionierte Reaktion be-
• Lernen von kognitiven Fertigkeiten. zeichnet. Der Ton löst den Speichelfluss auto-
matisch aus und die konditionierte Reaktion
Ein typisches Beispiel für das Lernen von mo- ist nicht willentlich unterdrückbar.
torischen Fertigkeiten ist das Autofahren. Neben den oben beschriebenen Lernfor-
Nachdem wir über viele Jahre die Bedienung men werden die Habituation und die Sensiti-
eines Kraftfahrzeugs gelernt und perfektio- vierung dem nondeklarativen Lernen zugeord-
niert haben, gelingt es uns, das Fahrzeug durch net. Diese beiden Lernformen wurden bereits
den Verkehr zu lenken, während wir verschie- im Zusammenhang mit den zellulären Lern-
dene Tätigkeiten simultan ausführen. Wir hö- mechanismen besprochen (Kap. 13.7.1.). Ha-
ren währenddessen Musik, sprechen mit unse- bituation tritt im Zusammenhang mit der
ren Mitfahrern und gelegentlich telefonieren Orientierungsreaktion (OR) auf. Treten un-
wir während des Fahrens. Auch das klassische erwartete Reize auf, dann führt der Organis-
Konditionieren wird zum nondeklarativen mus eine Orientierungsreaktion aus. Diese
Gedächtnis gezählt. Reaktion ist gekennzeichnet durch das Herab-
Das Paradebeispiel für das klassische Kon­ senken der Sinnesschwellen, die Erhöhung der
ditionieren wurde am pawlowschen Hund be- Muskelspannung und eine erhöhte Aktivität
schrieben. Normalerweise wird ein Hund auf des vegetativen Nervensystems. Nach der Hin-
einen neutralen Reiz (z. B. einen Ton) nicht wendung zum auslösenden Reiz nehmen diese
vermehrt Speichel absondern, sondern nur, Reaktionen zunehmend ab. Diese Abnahme
wenn man ihn füttert oder ihm Futter zeigt. der Orientierungsreaktion wird als Habitua-
Der Futterreiz ist der unkonditionierte Reiz, tion bezeichnet.
der eine Reflexreaktion (die unkonditionierte
Reaktion) auslöst. Wird einem Hund aller-
dings kurz vor dem Futterreiz wiederholt ein 15.2. Verschiedene Formen
Ton präsentiert, bildet sich eine neurophysio- des Primings
logische Assoziation zwischen den neurophy-
siologischen Repräsentationen des Tons und 15.2.1. Perzeptuelles Priming
des Futterreizes. Die Stärke dieser neurophy-
siologischen Verbindung hängt von der Häu- Beim perzeptuellen Priming sind Prime und
figkeit der gemeinsamen Präsentation von Ton Probe identisch. Das bekannteste Beispiel ist
und Futterreiz ab. Schließlich wird der Ton al- der Wortfragmenttest und die damit erzielten
lein den Speichelfluss auslösen. Der Ton wird Ergebnisse. Dieser Test besteht aus zwei Ver-

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15.2.  Verschiedene Formen des Primings 479

Tabelle 15-2: Ablauf eines typischen Priming-Experiments (Wortfragmenttest).

Versuchsphase 1 Versuchsphase 2 Ergebnis


gelesene Wörter
Element E_e_e_t schneller und besser vervollständigt als
Fahrzeug F_h_z_u_ für jene Wörter, die in der ersten Versuchs-
Name N_m_ phase nicht gelesen wurden
nicht gelesene Wörter
Stein S_e_n
Monument M_n_m_n_
Klavier K_a_i_r

suchsphasen (Tab. 15-2). In der ersten Ver- Das Prinzip ist ähnlich, nur dass die Versuchs-
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suchsphase müssen die Versuchspersonen eine personen in der zweiten Versuchsphase den
Wortliste lesen, wobei sie nicht instruiert wer- Wortstamm sehen und nicht das ganze Wort.
den, diese Wörter zu lernen. Meistens wird das Sie müssen den Wortstamm zu einem Wort
Lesen mit einer Tarngeschichte verbunden. ergänzen. Auch hierbei sind sie schneller,
Den Versuchspersonen wird gesagt, sie sollen wenn sie Wörter ergänzen müssen, die sie
perfekt lesen oder auf den Klang der gelesenen vorher gelesen haben.
Wörter achten. Wichtig ist, dass diese Wörter Perzeptuelles Priming wird über Hirn-
gelesen werden, ohne dass die Versuchsper- gebiete vermittelt, die für die Verarbeitung der
sonen den Eindruck haben, sie müssten sie physikalischen Eigenschaften der Testreize
lernen. Das Zeitintervall zwischen der ersten zuständig sind. Das bedeutet, dass perzeptuel-
und zweiten Versuchsphase kann sehr kurz les Priming nicht von den gleichen Hirngebie-
(unmittelbar anschließend) oder relativ lang ten kontrolliert wird, die auch an der Kontrolle
sein (bis zu mehreren Wochen). In der zwei- des episodischen Gedächtnisses beteiligt sind.
ten Versuchsphase werden den Versuchsper- Unterschiede zum episodischen und semanti-
sonen Wortfragmente auf einem Computer- schen Gedächtnis haben sich auf folgenden
bildschirm präsentiert. Diese Wortfragmente Ebenen gezeigt:
sind letztlich Wörter, in denen an bestimmten • Funktion
Positionen statt Buchstaben Striche stehen • Entwicklung
(Tab. 15-2). Es werden Wortfragmente von • Pathologie.
Wörtern dargeboten, die auf der Liste aus der
ersten Phase enthalten waren (Testwörter), Funktionale Unterschiede zum episodischen
und von Wörtern, die nicht auf dieser Liste und semantischen Gedächtnis können heraus-
standen (Distraktoren). Die Aufgabe besteht gearbeitet werden, indem entweder die Be-
darin, die Wortfragmente so schnell wie mög- deutung oder die physikalischen Eigenschaf-
lich zu sinnvollen Wörtern zusammenzufügen. ten des zu lernenden Materials beeinflusst
Bei solchen Tests stellte sich heraus, dass Wort- werden. Hierbei zeigt sich konsistent, dass bei
fragmente von Wörtern, die in der ersten Ver- Manipulation der Bedeutung des Lernmate-
suchsphase gelesen wurden, schneller und rials die Leistung (und Hirnaktivität) des epi-
häufiger korrekt vervollständigt wurden als sodischen Gedächtnisses beeinflusst wird,
Wortfragmente, die in keinem Zusammenhang während Manipulationen der physikalischen
mit den Wörtern der Liste standen. Eigenschaften keinen Einfluss auf das episo-
Dieser Test ist in mehreren Varianten im dische Gedächtnis haben. Manipulationen der
Umlauf, u. a. als Wortstammergänzungstest. physikalischen Eigenschaften resultieren je-

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480 15.  Nondeklaratives Gedächtnis

A) B)
100 45

90 40
80 35
70
30
Gedächtnisleistung

Gedächtnisleistung
60
25
50
20
40
15
30
20 10

10 5
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0 0
Wieder- Wortstamm- freier Fragment-
erkennung ergänzung Abruf ergänzung

semantisch nicht-semantisch Bilder Wörter

Abbildung 15-1: Befunde zur funktionalen Dissoziation von perzeptuellem Priming und episodischem
Gedächtnis. (A) Semantisches Encodieren führt zu besseren Wiedererkennensleistungen bei einem
Gedächtnistest. Bei einer Wortstammergänzungsaufgabe macht es allerdings keinen Unterschied, ob
die Informationen semantisch oder nichtsemantisch encodiert wurden (nach Graf & Mandler, 1984).
(B) Ein Priming-Effekt zeigt sich nur für Wörter, die auch als Wörter gelernt wurden (nach Weldon &
Roediger, 1987).

doch in veränderten perzeptuellen Priming- entweder als Bilder oder als geschriebene
Effekten. Ein typisches Experiment hierzu Wörter lernen. Die Abrufleistungen beim
haben Graf und Mandler (1984) durchgeführt. freien Abruf waren praktisch identisch für Be-
Sie ließen Versuchspersonen Wörter „seman- griffe, die als geschriebene Wörter oder Bilder
tisch“ oder „nichtsemantisch“ encodieren. In gelernt wurden. Es zeigte sich jedoch ein mas-
der „semantischen“ Bedingung mussten sie siver Unterschied beim Wortfragmenttest, wo
das zu lernende Wortmaterial während des sich nur ein Priming-Effekt für Wörter zeigte,
Encodierens mit bestimmten Aussagen ver- die auch als Wörter „gelernt“ wurden. Wörter,
gleichen und überprüfen, ob das zu lernende die als Bilder gelernt wurden, ergaben keinen
Wort mit der jeweiligen Aussage „semantisch“ Priming-Effekt beim Wortergänzungstest
in korrekter Beziehung steht. In der anderen (Abb. 15-1).
Versuchsbedingung war kein semantischer Perzeptuelle Priming-Effekte bleiben prak-
Vergleich gefordert. Wie erwartet, zeigten sich tisch während des gesamten Lebens konstant.
für die „semantisch“ encodierten Wörter bes- Anders ist dies bei der episodischen Gedächt-
sere Wiedererkennensleistungen als für die nisleistung. Sie ist in der frühen Kindheit noch
„nichtsemantisch“ encodierten. Die Art der nicht gut ausgebildet, nimmt im Erwachsenen-
Encodierung hatte jedoch keinen Einfluss auf alter zu, um dann im Seniorenalter (im Durch-
die Leistung bei Wortergänzungsaufgaben. schnitt) wieder abzunehmen (Abb. 15-2).
Ein anderes Experiment zu diesem Thema Läsionen in unterschiedlichen Hirngebie-
haben Weldon und Roediger (1987) durch- ten beeinflussen perzeptuelles Priming und
geführt. Sie ließen Versuchspersonen Begriffe episodisches Gedächtnis unterschiedlich. Lä-

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15.2.  Verschiedene Formen des Primings 481

100 55
90
80 45
70

Gedächtnisleistung
Gedächtnisleistung

60 35
50
40 25
30
20 15
10
0 5
3 Jahre alt junge junge ältere
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Erwachsene Erwachsene Erwachsene

Bilderkennung (Priming) Wortstammergänzung (Priming)

Bildwiedererkennung (episodisch) Wortabruf (episodisch)

Abbildung 15-2: Priming-Leistungen und Leistungen des episodischen Gedächtnisses für verschiedene
Altersgruppen. Die Priming-Leistung ist für unterschiedliche Altersgruppen konstant. Die episodische
Gedächtnisleistung verändert sich dagegen über das Alter hinweg erheblich (nach Light & Singh, 1987;
Parkin & Streete, 1988).

sionen in mesiotemporalen Hirngebieten füh- zeichnet. Mittels fMRT kann die Wieder-
ren zu den bereits besprochenen Ausfällen des holungsunterdrückung in vielen Hirngebieten
deklarativen Gedächtnisses. Das perzeptuelle gleichzeitig untersucht werden, was z. B. Randy
Priming wird durch solche Läsionen nicht be- Buckner und Kollegen (2000) im Zusammen-
einflusst. Jedoch führen Läsionen in primären hang von Wortstammergänzungsaufgaben ta-
und v. a. sekundären sensorischen Hirngebie- ten. Sie konnten zeigen, dass die Bearbei-
ten zu Defiziten beim perzeptuellen Priming. tung einer Wortstammergänzungsaufgabe mit
Auch Patienten, die unter Alzheimer-Demenz Durchblutungszunahmen in einem verteilten
leiden, sind immer noch in der Lage, perzep- Netzwerk assoziiert ist. Dieses Netzwerk bein-
tuelles Priming zu zeigen, obwohl im fort- haltet den ventrolateralen Präfrontalkortex
geschrittenen Stadium der Erkrankung große (links) und den ventralen Okzipitotemporal-
Bereiche des Kortex degeneriert sind, was die kortex (rechts). Priming reduzierte die Hirn-
wesentliche neurobiologische Grundlage für aktivität in beiden Hirngebieten (Abb. 15-3).
das reduzierte deklarative Gedächtnis ist. Darüber hinaus sind maskierte Priming-
Die neurophysiologischen Grundlagen des Effekte beobachtet worden. Maskierte Pri-
perzeptuellen Primings sind bislang noch nicht ming-Effekte werden evoziert, indem kurz
eindeutig geklärt. Ein typischer Befund, der nach dem Prime ein Maskierungsreiz präsen-
v. a. mittels fMRT-Technik herausgearbeitet tiert wird, der die bewusste Wahrnehmung des
wurde, ist, dass nach wiederholter Präsenta- Primes verhindert. Mit anderen Worten: Die
tion der gleichen Reize die durch sie angesto- Versuchspersonen realisieren gar nicht, dass
ßenen Durchblutungszunahmen abnehmen. sie einen Prime präsentiert bekommen haben.
Dieses Phänomen wird als Wiederholungs­ Anschließend wird die Hirnaktivität auf den
unterdrückung (repetition suppression) be- folgenden Probe gemessen. In der Regel ist die

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482 15.  Nondeklaratives Gedächtnis

Kleinbuchstaben geschrieben waren. Unmit-


telbar nach der ersten Präsentation dieser Wör-
PFC
ter (der Primes) folgte ein Maskierungsreiz
OT
L R (eine zufällige Anordnung von Mustern). Da-
nach wurde der Zielreiz (Probe) präsentiert. Im
1 linksseitigen Gyrus fusiformis zeigte sich eine
Verminderung der Durchblutung unabhän-
0.75 gig davon, ob Prime und Probe groß- oder
kleingeschrieben wurden (Abb. 15-4), d. h., ein
Signalveränderung

großgeschriebener Prime evozierte eine Wie-


0.5 derholungsunterdrückung auch bei einem
kleingeschriebenen Probe. Der rechtsseitige
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Okzipitalkortex zeigte jedoch nur eine Wieder-


0.25
holungsunterdrückung, wenn für den Probe
die gleiche Buchstabengröße genutzt wurde
0 wie für den Prime. Beim rechtsseitigen Okzipi-
ventrolateraler PFC ventraler OT
(links) (rechts)
talkortex müssen Prime und Probe offenbar
physikalisch identisch sein, damit eine Wieder-
Wortstammergänzungsaufgabe
gebahnte Aktivierung
holungsunterdrückung ausgelöst werden kann.
Der linksseitige Gyrus fusiformis dagegen
Abbildung 15-3: Schematische Darstellung der scheint etwas mehr zu abstrahieren.
Wiederholungsunterdrückung bei einer Wort-
stammergänzungsaufgabe. Hierbei zeigte sich,
dass die Bearbeitung einer Wortstammergän- 15.2.2. Konzeptuelles Priming
zungsaufgabe mit Durchblutungszunahmen in ei-
nem verteilten Netzwerk assoziiert ist. Dieses Beim konzeptuellen Priming wird das Lösen
Netzwerk beinhaltet den linksseitigen ventrolate-
einer Aufgabe durch einen vorherigen Prime
ralen Präfrontalkortex (PFC) und den rechtsseiti-
gefördert, weil der Prime mit der Aufgabe bzw.
gen ventralen Okzipitotemporalkortex (OT). Pri-
mit dem gewünschten Ergebnis konzeptuell
ming reduzierte die Hirnaktivität in beiden
Hirngebieten. in Verbindung steht. So kann z. B. der Prime
„Leopard“ das Beantworten der Frage „Wie
heißt das schnellste landlebende Tier?“ beför-
Durchblutung in den beteiligten Hirngebieten dern, weil Prime und Hinweisreiz konzeptuell
(gemessen mit fMRT) bei der Präsentation des miteinander in Beziehung stehen. Es fällt oft
Probes auch beim maskierten Priming gerin- schwer, konzeptuelles und semantisches Pri-
ger. Mittels der Wiederholungsunterdrückung ming voneinander zu unterscheiden, da „Kon-
können auch funktionelle Besonderheiten der zepte“ und „Semantik“ sehr viel gemeinsam
beteiligten Hirnstrukturen herausgearbeitet haben. Den wirklich wesentlichen Unter-
werden. Stanilas Dehaene und Kollegen (2001) schied haben wir oben bereits (siehe auch Ta-
nutzten den maskierten Priming-Effekt und belle 15-1) besprochen. Beim konzeptuellen
die damit verbundene Wiederholungsunter- Priming sind Prime und Probe identisch, beim
drückung, um funktionelle Asymmetrien im semantischen Priming nicht. Beim konzep-
Gyrus fusiformis und im Okzipitalkortex he- tuellen Priming wird als Hinweisreiz ein Reiz
rauszuarbeiten. In ihrem Versuch präsentier- benutzt, der zum Prime eine konzeptuelle bzw.
ten sie Wörter, die entweder in Groß- oder in semantische Beziehung hat.

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15.2.  Verschiedene Formen des Primings 483

Gyrus fusiformis
(links)

0.1 0.1

Aktivierung in %
Aktivierung in %

Gyrus occipitotemporalis
(rechts) 0
0
gleiche unterschied- gleiche unterschied-
Buchstaben- liche Buch- Buchstaben- liche Buch-
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größe stabengröße größe stabengröße


gleiches Wort
anderes Wort

Abbildung 15-4: Aktivierungen (Durchblutungsveränderungen) im Gyrus fusiformis und im Okzipito-


temporalkortex. Im Gyrus fusiformis tritt eine Verringerung der Aktivierung ein, wenn die Wörter wieder-
holt dargeboten werden, unabhängig davon, ob bei der wiederholten Darbietung die gleiche Buchstaben-
größe genutzt wurde. Im Okzipitotemporalkortex tritt die Aktivierungsverringerung nur dann ein, wenn
bei der wiederholten Darbietung auch die gleiche Buchstabengröße wie bei der Erstdarbietung genutzt
wurde (nach Dehaene et al., 2001).

Exemplarisch soll in diesem Zusammen- beim ersten Mal bei der Abstrakt-konkret-Auf-
hang das Experiment von Koutstaal und Kolle- gabe bereits bearbeitet wurden. Die Probanden
gen (2001) dargestellt werden: In der ersten bearbeiteten also in beiden Versuchsbedin-
Phase des Experiments mussten die Versuchs- gungen die Wörter semantisch (semantisch-
personen zwei Aufgaben durchführen: eine semantisch; within-task). Das bedeutet, dass
semantische und eine physikalische. In der eventuell zu messende Wiederholungsunter-
zweiten Phase bearbeiteten sie nur die seman- drückungseffekte auf konzeptuelles Priming
tische Aufgabe, allerdings mit jeweils unter- zurückzuführen wären. Wenn die Versuchsper-
schiedlichen Wörtern. Bei der ersten Aufgabe sonen in der ersten Sitzung mit den Wörtern
mussten sie beurteilen, ob die dargebotenen eine Groß-klein-Aufgabe bearbeiten und in der
Wörter „abstrakt“ oder „konkret“ waren (Abs- zweiten Sitzung semantische Entscheidungen
trakt-konkret-Aufgabe). Das bedeutet, sie treffen, dann haben sie schon Erfahrung mit
mussten semantische Entscheidungen treffen. den physikalischen Eigenschaften der Wörter.
In der zweiten Versuchsbedingung sollten Sie bearbeiten in der zweiten Bedingung die
sie überprüfen, ob  die dargebotenen Wörter Wörter, die sie in der ersten Versuchsbedin-
„groß-“ oder „kleingeschrieben“ waren (Groß- gung auf der Basis von physikalischen Eigen-
klein-Aufgabe). In dieser Bedingung sollten schaften bearbeitet hatten, nun semantisch.
also Entscheidungen auf der Basis physika- Das bedeutet, sie wechseln in der Aufgabe von
lischer Eigenschaften getroffen werden. physikalisch zu semantisch (physikalisch-se-
In der zweiten Versuchsphase mussten die mantisch; across-task). Eventuell auftretende
Abstrakt-konkret-Aufgaben erneut absolviert Wiederholungsunterdrückungseffekte können
werden, in einer Bedingung mit Wörtern, die dann nicht auf konzeptuelles Priming zurück-

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484 15.  Nondeklaratives Gedächtnis

geführt werden. In beiden Bedingungen kön- 15.2.3. Semantisches Priming


nen sich die Versuchspersonen z. B. den Klang
der Wörter merken. Phonetische Verarbeitun- Beim semantischen Priming bahnt ein Prime
gen werden im posterioren Teil des Gyrus fron- ein semantisches Netzwerk. So kann z. B. das
talis inferior durchgeführt. Wort „Katze“ das Netzwerk „Haustiere“ bah-
Die mittels fMRT gemessenen Wieder- nen. Als Folge können Analysen unter Nutzung
holungsunterdrückungseffekte fielen für zwei dieses Netzwerks effizienter durchgeführt
Hirngebiete unterschiedlich aus. Der anteriore werden. Man stellt sich vor, dass der Prime
Bereich des linksseitigen Gyrus frontalis infe- eine Bahnung innerhalb des semantischen
rior zeigte Wiederholungsunterdrückungs- Netzwerks erzeugt und weitere „Einträge“ in
effekte nur, wenn in beiden Versuchsbedin- diesem Netzwerk „aktiviert“. In der kogniti-
gungen semantische Analysen durchgeführt ven Psychologie wird dieses Phänomen als Ak­
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wurden (within-task). Wenn ein Wechsel von tivierungsausbreitung (spreading activation)


physikalisch basierter zu semantisch basier- bezeichnet. Diese „Aktivierung“ soll mit zu-
ter Analyse vorlag, wies dieses Hirngebiet nehmender Distanz zum Prime immer mehr
keine Wiederholungsunterdrückung auf. abnehmen.
Für diese Bedingung zeigte sich ein Wieder- Die bislang publizierten Befunde bezüg-
holungsunterdrückungseffekt nur im linkssei- lich der Hirnaktivierung beim semantischen
tigen posterioren Teil des Gyrus frontalis infe- Priming sind recht widersprüchlich. Beim se-
rior. Dieses Hirngebiet ist v. a. in phonetische mantischen Priming werden häufig Wie­derh
Analysen eingebunden (Abb. 15-5). olungsunterdrückungseffekte, aber auch Ak-

Gyrus frontalis inferior Gyrus frontalis inferior


anterior posterior
10 10

7 7

4 4
neu
wiederholt
1 1
semantisch- physikalisch- semantisch- physikalisch-
semantisch semantisch semantisch semantisch

Abbildung 15-5: Ergebnisse des Versuchs von Koutstaal und Kollegen (2001) zum konzeptuellen Pri-
ming. Wenn die Versuchspersonen wiederholt semantische Aufgaben zu lösen hatten (semantisch-
semantisch), dann zeigten der anteriore Gyrus frontalis inferior und der posteriore Gyrus frontalis in-
terior eine Wiederholungsunterdrückung. Sofern die Versuchspersonen die dargebotenen Reize
zunächst nach physikalischen Merkmalen (groß- oder kleingeschriebene Wörter) zu analysieren hatten
und danach semantisch (physikalisch-semantisch), zeigte sich im anterioren Gyrus frontalis inferior
kein Wiederholungsunterdrückungseffekt. In dieser Bedingung zeigte sich allerdings ein leichter Wie-
derholungsunterdrückungseffekt im posterioren Gyrus frontalis inferior, der bekanntlich in phoneti-
sche Analysen eingebunden ist.

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15.2.  Verschiedene Formen des Primings 485

tivierungsverstärkungen berichtet. Sachs und A) Aktivitätszunahme


Kollegen (2011) haben sich mit diesen kon- Gyrus frontalis inferior
links
troversen Befunden auseinandergesetzt und
zwei unterschiedliche Arten des semantischen
­Primings untersucht. Beim kategorialen Pri­
ming entstammen Prime und Zielwort der
gleichen semantischen Kategorie und sind
durch den gleichen übergeordneten Begriff
miteinander verbunden. So sind z. B. die Be-
griffe „Bus“ und „Auto“ der gleichen überge-
ordneten Kategorie, Fahrzeuge, zugeordnet.
Beispiele für solche kategorialen Beziehun-
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gen zwischen Prime und Zielwort sind Topf/­


Kessel, Jacke/Weste und Schrank/Kommode.
Beim assoziativen Priming stehen Prime und
B) Aktivitätsabnahme
Zielwort in einer engen funktionalen Bezie- Gyrus frontalis medius
hung und weisen Begriffsüberschneidungen rechts

auf. Typische Beispiele sind Topf/Herd, Jacke/


Knopf oder Schrank/Kleid. Es zeigten sich in
dem Experiment von Sachs und Kollegen un-
terschiedliche Priming-Effekte in den fMRT-
Untersuchungen abhängig davon, ob katego-
riales oder assoziatives Priming durchgeführt
wurde. Beim kategorialen Priming ergab sich
eine Wiederholungsunterdrückung der Durch-
blutung v. a. im rechtsseitigen Gyrus frontalis
medius. Beim assoziativen Priming zeigte sich
dagegen eine Aktivitätszunahme im linkssei-
tigen Gyrus frontalis inferior (Abb. 15-6). Die Abbildung 15-6: (A) Aktivitätszunahme im links-
Ursachen für diese Unterschiede sind bislang seitigen Gyrus frontalis inferior beim assoziativen
ungeklärt. Die Ergebnisse zeigen allerdings, Priming. (B) Aktivitätsabnahme im rechtsseitigen
dass semantische Informationen unterschied- Gyrus frontalis medius beim kategorialen Priming
lich verarbeitet werden können. Vermutet (nach Sachs et al., 2011).
wird, dass die Aktivierungsabnahme im rechts-
seitigen Frontalkortex mit dem Abrufaufwand
der semantischen Informationen zusammen-
hängt, während die Aktivitätszunahme im
linksseitigen Gyrus frontalis inferior mit der te ­Stefan ­Koelsch mit seiner Arbeitsgruppe
Aktivierungsausbreitung im semantischen (2004). Er nutzte als Prime kurze Musikstücke,
Netzwerk zusammenhängen könnte. die bestimmte semantische Assoziationen
Semantisches Priming ist auch anhand der auslösten. Wurden Musikexzerpte als Primes
N400-Amplitude des evozierten Potenzials genutzt, die semantische Assoziationen mit
erkennbar. Die N400-Amplitude nimmt beim „räumlicher Weite“ oder „Winter“ auslösten,
semantischen Priming ab. Einen interessan- dann fielen die N400-Amplituden auf Worte
ten Befund zum N400-Priming-Effekt konn­­ wie „Weite“, „Winter“ oder „Eis“ kleiner aus.

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486 15.  Nondeklaratives Gedächtnis

15.2.4. Theorien zum Priming der Transmitter reduziert wird, weil nicht ge-
nügend „Nachschub“ an chemischen Substan-
Bislang werden drei Theorien diskutiert, die zen in kurzer Zeit zur Verfügung gestellt wer-
versuchen, die neurophysiologischen Grund- den kann. Eine andere Möglichkeit ist, dass die
lagen des Primings zu erklären: das Erschöp- Nervenzellen sich teilweise noch in Refraktär-
fungsmodell (fatigue), das Schärfungsmodell phasen befinden. Dieses Modell kann aller-
(sharpening) und das Verbesserungsmodell dings den Zusammenhang mit den Verhal-
(facilitation; Abb. 15-7). tenseffekten nicht erklären. Wieso soll bei
Im Rahmen des Erschöpfungsmodells einer neuronalen „Erschöpfung“ eines Ner-
wird davon ausgegangen, dass alle Neurone venzellverbands gleichzeitig die von diesem
des aktivierten Netzwerks nach wiederholter Verband kontrollierte psychische Funktion
Aktivierung ihre Aktivität senken. Die Gründe besser und effizienter werden?
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dafür können vielfältiger Art sein. Eine Mög- Beim Schärfungsmodell wird ein anderer
lichkeit besteht darin, dass die Ausschüttung Mechanismus vorgeschlagen, der eleganter

A)

B) Schärfung Verschnellerung
Erschöpfung

Abbildung 15-7: Schematische Darstellung der drei Modelle zur Erklärung des Primings. (A) Die Kreise
repräsentieren ein dreischichtiges Neuronennetzwerk. Jeder einzelne Kreis ist in unterschiedlichen Grau-
tönen dargestellt. Die Grautöne repräsentieren die Feuerrate der Neuronen (hell = gering, schwarz = ma-
ximal). Bei der ersten Präsentation des Reizes weist dieses Netzwerk ein bestimmtes Aktivierungsmuster
auf. In (B) sind verschiedene Erklärungen für die häufig berichteten Aktivitätsabnahmen bei wiederholter
Darbietung der gleichen Reize schematisch dargestellt. Im Rahmen des „Erschöpfungsmodells“ geht man
davon aus, dass die meisten Neurone des aktivierten Netzwerks nach wiederholter Aktivierung ihre Ak-
tivität senken. Beim „Schärfungsmodell“ geht man davon aus, dass nur die wesentlichen Neurone aktiv
bleiben und gelegentlich auch ihre Aktivität steigern. In der Summe ist die Gesamtaktivität allerdings
geringer als bei der ersten Präsentation. Beim „Verschnellerungsmodell“ ist das Aktivierungsmuster so
wie bei der ersten Präsentation. Die Aktivierung tritt allerdings schneller ein und wird schneller beendet.
Auch das führt in der Summe zu einer geringeren Aktivität bei wiederholter Darbietung.

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15.3.  Lernen von Fertigkeiten 487

mit dem verbesserten Verhalten in Verbindung Man spricht auch vom „Lernen-durch-Tun“
gebracht werden kann. Hierbei wird davon (learning by doing). Ein weiteres typisches
ausgegangen, dass nur die Neurone ihre Akti- Merkmal des Lernens von Fertigkeiten ist die
vität reduzieren, die nicht unmittelbar in die zunehmende Unabhängigkeit der Fertigkeit
Kontrolle der jeweiligen psychischen Funktion von Aufmerksamkeitsressourcen. Je besser die
eingebunden sind. Das heißt, die überflüs- Fertigkeit beherrscht wird, desto weniger be-
sigen und „störenden“ Neurone werden aus wusster Kontrollaufwand und Aufmerksam-
dem Netz „gelöscht“, indem sie ihre Aktivität keit müssen eingesetzt werden. Es stehen
senken und sich nicht mehr an der Gesamt- dann weitere kognitive Ressourcen zur Ver-
aktivität beteiligen. Die notwendigen Neurone fügung, die für die Kontrolle anderer Fertig-
dagegen bleiben dem Netz erhalten und kön- keiten eingesetzt werden können, sodass zwei
nen ihre Aktivitäten steigern. Weil die wichti- oder mehr Tätigkeiten gleichzeitig ablaufen
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gen und notwendigen Neurone die Verarbei- können. Erkennbar ist dies beim geübten Pia-
tung des Reizes zunehmend übernehmen und nisten, der während des Spiels singen oder
diese Verarbeitung nicht mehr durch die „stö- auch das Notenblatt lesen kann. Das Lernen
rende“ Aktivität nicht notwendiger Neurone von Fertigkeiten ist auch dadurch gekenn-
behindert wird, verbessert sich die Verarbei- zeichnet, dass diese schwerlich beschrieben
tung des Reizes. Daraus resultiert eine opti- werden können. Man kann sie ausführen, aber
mierte Verarbeitung mit den entsprechenden es gelingt einem einfach nicht, sie anderen mit-
Verhaltenskonsequenzen. zuteilen. Dies lässt sich gelegentlich eindrück-
Das Verschnellerungsmodell geht davon lich bei Profisportlern beobachten, wenn sie
aus, dass bei repetitiver neuronaler Aktivität aufgefordert werden, ihre besonderen sport-
die neuronale Reaktion immer schneller be- lichen Leistungen dem Publikum zu erklären
ginnt (reduzierte Reaktionszeiten) und kürzer (was dann in der Regel nicht gut gelingt). Ein
dauert. Die mittlere Aktivität des gesamten anderes Beispiel ist die Grammatik der Mut-
Netzwerks würde dann im Laufe der Zeit ge- tersprache, die nach langem Üben irgendwie
ringer werden. Die drei Modelle können aller- (nicht immer korrekt!) beherrscht wird.
dings die Heterogenität der Priming-Effekte Unbewusstes Lernen von Fertigkeiten ist in
nicht erklären. Warum sind manche Priming- vielen Lebensbereichen zu beobachten. Typi-
Effekte so kurz und warum halten andere so sche Beispiele sind das Fahrradfahren, das
lange an? Sind die neuronalen Grundlagen der Lenken eines Fahrzeugs, das Spielen eines
Priming-Effekte in allen Hirngebieten gleich? Musikinstruments, der Erwerb der Lesefertig-
Diese Fragen müssen in zukünftigen Arbeiten keit, Schachspielen, der Gebrauch der Mutter-
beantwortet werden. sprache, der Erwerb von Denkstrategien sowie
das Erkennen von Gesichtern, räumlichen Zu-
sammenhängen, akustischen Mustern und
15.3. Lernen von Fertigkeiten Melodien. Manche Forscher vermuten gar,
dass fast alles, was in unserem Gedächtnis ge-
Das Lernen von Fertigkeiten (skill learning) speichert wird, in einer unbewussten Form
wird auch als prozedurales Lernen bezeich- abgespeichert wird (wir können mehr, als wir
net. Es ist eine unbewusste Form des Lernens, wissen). Selbst Informationen, die bewusst er-
die sich vom Priming v. a. dadurch unterschei- worben und im deklarativen Gedächtnis ge-
det, dass sehr lange gelernt werden muss, bis speichert wurden, können durch häufiges An-
die Fertigkeit beherrscht wird und sich eine wenden in das implizite Gedächtnis überführt
feste Gedächtnisrepräsentation gebildet hat. werden. Sie werden dann zu einer unbewuss-

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488 15.  Nondeklaratives Gedächtnis

ten Fertigkeit. Angesichts ihrer Vielfalt  – die nimmt er spezifische Werte an. In den Formeln
leicht zur Unübersichtlichkeit führen kann  – (1) und (2) ist er als negativer Wert definiert,
werden die oben dargestellten Fertigkeiten in was für Reaktionszeiten typisch ist, denn die
drei Lernbereiche eingeteilt, die im Folgenden nehmen ja mit zunehmender Lerndauer ab.
näher beschrieben werden: Wenn es um Trefferraten oder die Genauigkeit
• Lernen von motorischen Fertigkeiten (mo- einer Aufgabe geht, dann ist der Lernindex po-
tor skill learning) sitiv. In diesem „Gesetz“ kommt nicht nur zum
• perzeptuelles Lernen (perceptual skill lear- Ausdruck, dass mit zunehmender Übungs-
ning) dauer das Geübte besser beherrscht wird, son-
• Lernen von kognitiven Fertigkeiten (cogni- dern auch, dass der Lerngewinn am Anfang
tive skill learning). des Lernens größer ist als in späteren Lern-
durchgängen. Wird der Zusammenhang zwi-
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Wie oben dargestellt, ist eines der wesentli- schen Lerndauer und Verbesserung der Fertig-
chen Merkmale des Lernens von Fertigkeiten keit logarithmisch dargestellt, dann ergibt sich
die häufige Wiederholung. Dieses Phänomen eine lineare Funktion. Dieser Zusammenhang
ist mit dem Satz „Wiederholen ist die Mutter ist recht aufschlussreich für die Verbesserung
des Lernens“ auf den Punkt zu bringen. Diese von Fertigkeiten und für die Gestaltung des
Erkenntnis hat zu dem sogenannten Power- Trainings. Mit dieser Funktion kann man vor-
Law des Lernens geführt. Power ist hier nicht hersagen, wie groß der jeweilige Lerngewinn
mit Kraft gleichzusetzen, sondern hier kommt durch zusätzliches Training sein wird. Das
zum Ausdruck, dass der Zusammenhang zwi- kann motivierend, aber auch ein wenig des-
schen dem Lernergebnis und der Wieder- illusionierend sein. Beginnt man mit dem Trai-
holungshäufigkeit in Form einer Exponential- ning, sind große Lerngewinne zu erwarten. Im
funktion beschrieben werden kann. Das von fortgeschrittenen Stadium können allerdings
der Übung abhängige Lernergebnis kann dann nur geringe Lerngewinne anhand dieser Funk-
mit einer Exponentialfunktion beschrieben tion vorhergesagt werden. Im Grunde kann
werden. In der unten aufgeführten Formel sich ein Trainer, Lehrer oder der Übende selbst
wird die Lernleistung anhand der abnehmen- anhand dieser Funktion eine Vorstellung da-
den Reaktionszeit gemessen. von machen, welchen Lerngewinn er in Ab-
hängigkeit vom jeweiligen Trainingszustand
(1) Ln = L1 * n–a
zu erwarten hat und ob sich der Trainingsauf-
Ln Leistung zum Zeitpunkt n
wand überhaupt lohnt. Für einen Profisport-
L1 Leistung zu Beginn des Lernens
ler oder -musiker mögen auch kleine Lern­
n Durchgang
gewinne von herausragender Bedeutung sein.
a Lernindex oder Steigungsparameter
Amateure sollten sich allerdings anhand die-
(2) log Ln = log L1 – a * log n ses Power Laws gut überlegen, ob zusätzliche
Trainingseinheiten den zu erwartenden gerin-
Durch Logarithmierung und entsprechende gen Erfolg überhaupt rechtfertigen.
Umstellung erhält man die Formel (2). Der In diesem Zusammenhang wird häufig da-
Lernindex, der in der Exponentialfunktion als rüber diskutiert, wie Begabung und Lernen
Exponent in die Berechnung eingeht, wird in von Fertigkeiten zusammenhängen. Der Ko-
der Formel mit den logarithmierten Werten gnitionspsychologe Ericsson (2004) vertritt
zum Steigungsparameter. Er definiert die die Position, dass selbst außergewöhnliche
Lernrate bzw. den Lernzuwachs pro Durch- Fertigkeiten wie Schachspielen und Musizie-
gang. Je nach Lernart und gelernter Aufgabe ren auf höchstem internationalem Niveau

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15.3.  Lernen von Fertigkeiten 489

A) B)

Ln = LI * n–0.1 0.9 log Ln = log LI – 0.1 log n


2.4

0.8

log (Sekunde)
2.2
Sekunde

0.7
2.0

0.6
1.8

0 10 20 30 40 50 0 1 2 3 4
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Abbildung 15-8: Power-Law des Lernens. (A) Darstellung des Zusammenhangs zwischen Lerndauer (An-
zahl der Trainingseinheiten auf der x-Achse) und Lernleistung (als Abnahme der Bearbeitungsgeschwin-
digkeit auf der y-Achse). (B) Gleicher Zusammenhang wie in (A) nur die Werte sind logarithmiert.

Tabelle 15-3: Merkmale des Gedächtnisses für Fertigkeiten und des deklarativen Gedächtnisses.

Gedächtnis für Fertigkeiten deklaratives Gedächtnis


ist anderen schwer zu beschreiben ist anderen gut zu beschreiben
wird überwiegend ohne bewusste Kontrolle Inhalt ist bewusst verfügbar
erworben
erfordert viele Wiederholungen kann während eines Durchgangs erworben werden
benötigt wenig Aufmerksamkeit benötigt viel Aufmerksamkeit

wesentlich (wenn nicht gar ausschließlich) ker (moderat gute; M++) nur ca. 8 000 Stun-
durch die Trainingsdauer bestimmt werden. den geübt haben. Amateurmusiker kommen
Er konnte für seine Argumentation überzeu- im  Alter von 20 Jahren auf eine Trainings-
gende Befunde vorlegen, die zeigen, dass dauer von ca. 1 500 Stunden (Abb. 15-9, in der
selbst (vermeintlich) begabte klassische Musi- weitere Informationen zur Trainingsintensi-
ker sehr viel Training benötigen, um in die tät dargestellt sind).
Weltelite aufzusteigen. Er hat die Trainings- Ähnliche Zusammenhänge zwischen der
zeiten der (meist klassischen) Musiker aus re- Trainingsdauer und der Leistung finden sich
trospektiven Befragungsdaten berechnet. Aus auch in anderen Bereichen. Das Golfspielen,
diesen Berechnungen geht hervor, dass die das zu den technisch anspruchsvollen Sport-
Dauer des Trainings sehr stark mit der Güte arten gehört, erfordert ebenfalls viel Trainings-
des Musizierens und damit auch mit dem aufwand. Je besser die Fertigkeit des Golfspie-
Berufserfolg der Musiker zusammenhängt. lens, desto häufiger wurde trainiert (Jäncke et
Hervorragende Berufsmusiker (M++++) ha- al., 2009). Das Handicap beim Golfspiel ist ein
ben bereits im Alter von 20 Jahren mehr als präziser Messwert, der die Fertigkeit wieder-
11 000 Stunden mit ihrem Instrument ge- gibt. Je besser man Golf spielt, desto niedriger
arbeitet, während weniger gute Berufsmusi- ist das Handicap. Golftrainer verfügen über ein

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490 15.  Nondeklaratives Gedächtnis

11 000 bestimmten Kennwert, den Elo-Score, gemes-


sen werden. Je besser die Spielfertigkeit, desto
Trainingsstunden

8 250
höher ist der Elo-Score. Der Elo-Score korre-
liert wiederum sehr hoch mit der Häufigkeit
5 500
des Übens (de Bruin et al., 2008).
2 750 Gibt es demzufolge keine Begabung und
wird alles durch fleißiges und häufiges Üben
0
M++++ M+++ M++ M+ Amateure
erworben? Sicherlich spielt in diesem Zusam-
menhang auch die Begabung eine nicht zu
Alter in Jahren: 20 18 16
unterschätzende Rolle. Aber oft wird der Ein-
Abbildung 15-9: Darstellung der geschätzten fluss der Begabung auch überschätzt und im-
Trainingsdauer von exzellenten (M++++), sehr plizit angenommen, dass Begabung das Üben
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guten (M+++), guten (M++), mäßig guten Berufs- überflüssig macht. Diese Extremposition ist
musikern (M+) und Amateurmusikern. Darge- nicht mehr haltbar. Wer über Begabung in ei-
stellt sind die geschätzten Trainingszeiten im Al- nem bestimmten Fertigkeitsbereich verfügt,
ter von 20, 18 und 16 Jahren. (Nachgezeichnet
kann durch intensives Üben ein höheres Fer-
nach Ericsson, 2004)
tigkeitsniveau erreichen als jene Personen, die
über weniger Begabung in diesem Bereich
Handicap von 0, während fortgeschrittene verfügen.
Golfnovizen über ein Handicap von 36 ver- Bislang existieren leider nur wenige aus-
fügen (Abb. 15-10). Auch beim Schachspielen sagekräftige Arbeiten zum Einfluss der Bega-
ist die Spielhäufigkeit ein wichtiger, wenn nicht bung und der Genetik auf das Lernen von
gar wesentlicher Faktor, der die Güte dieser Fertigkeiten. Eine interessante Arbeit haben
Fertigkeit bestimmt. Die Leistung im Schach- Fox und Kollegen (1996) publiziert. Sie haben
spiel kann ähnlich wie beim Golf durch einen unter anderem eineiige Zwillinge die Pursuit-

Alter bei Beginn Gesamtzahl von


des Golftrainings Trainingsstunden

25 30 000

20 24 000

15 18 000
Stunden
Jahre

10 12 000

5 6 000

0 0
HCP: HCP: HCP: HCP: HCP: HCP:
0 1–14 15–36 0 1–14 15–36

Abbildung 15-10: Lernaufwand für Golfspieler. HCP = Handicap (nach Jäncke et al., 2009).

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15.3.  Lernen von Fertigkeiten 491

Rotor-Aufgabe trainieren lassen. Das Testge- und drei Stadien des motorischen Lernens vor-
rät, mit dem diese Aufgabe bearbeitet wird, geschlagen:
ähnelt in etwa einem alten Schallplattenspie- • kognitives Stadium
ler. Auf der Oberfläche dieses Geräts bewegt • assoziatives Stadium
sich ein Lichtpunkt auf einer vorbestimmten • automatisches Stadium.
dreiecksförmigen Bahn. Die Geschwindigkeit
der Bewegung des Lichtpunkts kann vom Ver- Das kognitive Stadium ist dadurch gekenn-
suchsleiter manipuliert werden. Die Versuchs- zeichnet, dass verbalisierbare Regeln vorlie-
person muss mit einem Stift dem Lichtpunkt gen. Sie werden genutzt, um das Verhalten zu
so genau wie möglich folgen; die Genauigkeit steuern. Stellen Sie sich vor, Sie würden den
ergibt den Messwert. Je mehr diese Aufgabe Rückhandschlag beim Tennis lernen. Der Ten-
geübt wird, desto besser werden die Leistun- nislehrer wird den Bewegungsablauf zunächst
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gen. Wenn allerdings eineiige Zwillinge üben, beschreiben. Er sagt Ihnen, welche Position
dann werden sie sich im Laufe des Trainings Sie zu dem ankommenden Ball einzunehmen
immer ähnlicher. Sie werden sich sogar im haben, wie Sie den Schläger nach hinten zu-
Hinblick auf ihre Leistungen ähnlicher als rückzuführen haben und wie Sie die Bewegung
zweieiige Zwillinge oder zufällig zusammen- nach vorne zum Ball einleiten und durchfüh-
gestellte Paare, die keine genetische Bezie- ren sollen. Diese verbalen Regeln lernen Sie
hung aufweisen. Offenbar wird mit zuneh- und Sie rufen sie während der Bewegung ab.
mender Übung die Fertigkeit immer weniger Die Regeln sind Ihnen bewusst und viele ver-
modifizierbar und hängt dann zunehmend von balisieren Sie auch leise (subvokales Sprechen)
den genetischen Grundlagen ab. Dieser Be- während und vor der Bewegung. Diese be-
fund belegt, dass genetische Grundlagen eine wusste Verbalisierung ist natürlich sehr lang-
wichtige Rolle spielen und das Lernen von sam und erfordert viel Aufmerksamkeit. Das
Fertigkeiten beeinflussen können. Dem- Ziel motorischen Lernens ist, die Bewegungen
zufolge hängt die Leistung bei einer Fertigkeit sehr schnell und mit wenig kognitiven Res-
von der Lernintensität und den genetischen sourcen (z. B. Aufmerksamkeit) auszuführen.
Grundlagen (der Begabung) ab. Natürlich Während des Übens werden die verbalen
spielt auch die Art des Lernens, also die Didak- Kommandos „verinnerlicht“, die Bewegung
tik eine wesentliche Rolle. wird besser und die Bewegungskontrolle geht
in die assoziative Phase über. In dieser Phase
werden die verbalen Regeln zu einem stereo-
15.3.1. Lernen von motorischen ­ typen Regelablauf, etwa wie ein Mantra oder
Fertigkeiten ein verbales Ritual. Die Bewegung wird dabei
schneller und weniger abhängig von den ver-
Selbst komplexe Handlungen können so gut balen Kommandos. Die verbalen Kommandos
geübt werden, dass sie sich unserer bewussten lösen die Bewegungselemente nicht mehr aus,
Kontrolle entziehen. Der Vorteil liegt darin, sind aber noch parallel während der Bewegung
dass wir dann quasi „befreit“ sind, diese wohl- vorhanden. Mit zunehmender Übung ver-
geübten Handlungen zu kontrollieren, und uns schwindet auch der letzte Bezug zu den ver-
auch auf andere Tätigkeiten konzentrieren balisierbaren Regeln. Die Bewegungskon-
können. trolle tritt in das automatische Stadium ein. In
Der Kognitionspsychologe Fitts (1954) hat diesem Stadium sind die Bewegungsabläufe
sich bereits in der 1950er Jahren intensiv mit automatisch, unbewusst und nicht mehr
dem motorischen Lernen auseinandergesetzt verbalisierbar. Die Bewegung wird schneller,

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492 15.  Nondeklaratives Gedächtnis

aber nicht mehr beschreibbar. In dieser Phase Aufleucht- wiederholte


sequenzen Sequenz
weist die Fertigkeit die typischen Eigenschaf-
ten einer impliziten motorischen Tätigkeit auf. 134321421343214213432142

Serielle Reaktionszeitaufgabe
(serial reaction time task, SRTT) 1 2 3 4

Vor der Versuchsperson sind vier Tasten an- 1 2 3 4


Knöpfe für
gebracht. Über jeder Taste befindet sich eine die Antwort
farblich gekennzeichnete LED-Lampe. Die vier
LEDs leuchten in einer für die Versuchsper-
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sonen nicht erkennbaren Reihenfolge auf. Bei


jedem Aufleuchten einer bestimmten LED-
Lampe, ist die Versuchsperson aufgefordert,
die zur jeweiligen Lampe gehörige Taste so
schnell wie möglich zu  drücken. Gemessen
wird die Reak­tionszeit vom Beginn des Auf-
leuchtens der Lampe bis zum Drücken der
korrekten Taste. Das Muster, nach dem die
LEDs aufleuchten, ist für den Probanden nicht
bewusst erkennbar. Es ist aber so angelegt,
dass es sich nach ca. 12-maligem Aufleuchten
immer wieder wiederholt. Nehmen wir mal an,
dass die vier LEDs von links nach rechts auf-
steigend nummeriert sind. Dann könnte die
RT

sich ständig wiederholende, aus 12 Elementen


bestehende Aufleucht-Sequenz wie folgt aus­
sehen:

134212323142

Wenn sie sich wiederholt, ist die Kernsequenz


nicht mehr bewusst erkennbar. Im Folgenden
sind drei Sequenzen nacheinander dargestellt: Zeit

134212323142134212323142134
Abbildung 15-11: Schematische Darstellung der
212323142
seriellen Reaktionszeitaufgabe und des damit
Mit zunehmender Übung verkürzen sich die erzielten typischen Befunds. Man erkennt eine
Reaktionszeiten, die durch das Aufleuchten kontinuierliche, mit der Dauer des Übens einher-
der LEDs initiiert wurden, und das, obwohl die ­ gehende, Abnahme der Reaktionszeit (RT).
Versuchspersonen gar nicht die Wiederholung
der Sequenzen bemerken. Sie bemerken auch
keine Regelmässigkeit in der Abfolge der Tas- In psychologischen Experimenten werden
ten, die sie zu drücken haben. Diese Reakti-
unterschiedliche Paradigmen genutzt, um das
onszeitverkürzung wird als Ausdruck des un-
Lernen motorischer Fertigkeiten zu unter-
bewussten motorischen Lernens aufgefasst
suchen. Die genutzten motorischen Aufgaben
(Abb. 15-11).
können in die seriell-motorischen und die

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15.3.  Lernen von Fertigkeiten 493

motorischen Anpassungsaufgaben unterteilt Ein grundsätzliches Kennzeichen der durch


werden. Zu den seriell-motorischen Auf­ motorisches Lernen entstehenden Aktivie-
gaben wird die serielle Reaktionszeitaufgabe rungsänderung ist die Abnahme der Hirnakti-
gezählt. Auch andere motorische Aufgaben, vität in den meisten der beteiligten Hirn-
in denen es darauf ankommt, die Abfolge gebiete. Vor allem die kortikalen Hirngebiete
von Bewegungselementen zu lernen, zählen zeigen reduzierte Aktivitäten; die subkortika-
dazu (z. B. Fingeroppositionsaufgaben). Moto­ len Areale (Basalganglien, Kleinhirn) dagegen
rische Anpassungsaufgaben sind dadurch zeigen Aktivitätszunahmen. Pianisten, die in-
charakterisiert, dass motorische Tätigkeiten tensiv und über viele Jahre hinweg geprobt
an sich verändernde Gegebenheiten angepasst haben, weisen bei einfachen und komplexen
werden müssen. Eine typische Aufgabe ist die Fingerbewegungen reduzierte Durchblutun-
Pursuit-Rotor-Aufgabe, die bereits im Zusam- gen in den kortikalen motorischen und senso-
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menhang mit den Zwillingsstudien zum moto- motorischen Arealen auf. Diese funktionellen
rischen Lernen erläutert wurde. Andere häufig Veränderungen sind auch mit anatomischen
genutzte motorische Anpassungsaufgaben Anpassungen verbunden. Die motorischen
werden mit Prismenbrillen durchgeführt. Eine und sensomotorischen Areale sind volume-
bestimmte motorische Aufgabe (z. B. Dart- trisch größer oder haben eine andere Verkabe-
pfeile werfen) wird ohne und mit Prismenbrille lungsarchitektur, wobei diese anatomischen
durchgeführt. Überprüft wird, wie sich die Veränderungen mit der Häufigkeit des Übens
Wurfleistung beim Tragen oder Nichttragen und dem Alter bei Beginn des Übens zusam-
der Prismenbrille verändert. Andere Beispiele menhängen (Jäncke, 2009).
sind Trackingaufgaben, bei denen die Ver- Das motorische Lernen ist kein Prozess, der
suchspersonen einem sich kontinuierlich be- sich für alle motorischen Aufgaben in gleicher
wegenden Zielreiz mit einem Zeiger möglichst Weise entwickelt. Es durchläuft vielmehr ver-
exakt folgen sollen oder bei denen kontinuier- schiedene Phasen, in denen unterschiedliche
lich die Kraft angepasst werden muss. Hirngebiete eingebunden sind (Abb. 15-12). Im
Ausführliche Untersuchungen mit bild- Verlauf des motorischen Lernens dissoziieren
gebenden Verfahren konnten zeigen, dass zwei Systeme, das kortikostriatale und das kor-
beim Lernen motorischer Fertigkeiten  – un- tikozerebelläre System, je nachdem, welche
abhängig davon, ob es sich um seriell-moto- motorische Aufgabe gelernt wird (serielle oder
rische Aufgaben oder um motorische Kom- adaptive Motoraufgaben). Zu Beginn des moto-
pensationsaufgaben handelt  – die gleichen rischen Lernens lernt man recht schnell. Diese
Hirngebiete beteiligt sind. Je nach spezifischer Phase wird auch die Phase des schnellen Ler­
Beteiligung von kognitiven Funktionen oder nens genannt (s. a. das Power-Law des Ler-
von spezifischen sensorischen Modalitäten nens). In dieser Phase finden sich in verschie-
(visuell, auditorisch oder taktil) können wei- denen Hirngebieten funktionelle Anpassungen,
tere Hirngebiete beteiligt sein. Kerngebiete die auch davon abhängen, welche spezifischen
beim unbewussten motorischen Lernen sind kognitiven und sensorischen Prozesse am mo-
immer: torischen Lernen beteiligt sind. So wird sich
• Basalganglien z. B. beim audiomotorischen Lernen (wenn
• Kleinhirn akustische Reize mit motorischen Handlungen
• Prämotorkortex gekoppelt werden) auch der auditorische Kor-
• oberer Parietallappen und Sulcus intra- tex „anpassen“ und weniger der visuelle Kor-
parietalis tex. Wenn deklarative Gedächtnisinformatio-
• primärer Motorkortex. nen wichtig sind, dann werden zu Beginn auch

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494 15.  Nondeklaratives Gedächtnis

Regionen des Motorkortex Regionen des Motorkortex


Aufrechterhaltung

Parietalkortex Parietalkortex
Striatum Kleinhirn

vergangene Zeit

Regionen des Motorkortex Regionen des Motorkortex


Parietalkortex Parietalkortex
Striatum Kleinhirn

Automatisierung
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Regionen des Motorkortex


Parietalkortex

Striatum Kleinhirn
langsames Lernen

Konsolidierung

frontale Assoziationsregionen

Regionen des Motorkortex Parietalkortex

sensomotorisches zerebellärer Kortex


Striatum und Nuclei

assoziatives Striatum zerebellärer Kortex

medialer Temporallappen
(Hippocampus)
schnelles Lernen

kognitive kognitive
Prozesse Prozesse

Motor- Motor-
sequenzierung adaptierung

Strukturen beider Prozesse:


Strukturen für das Strukturen für die sequenzielles Lernen und
sequenzielle Lernen motorische Adaption motorische Adaption

Abbildung 15-12: Schema des motorischen Lernens und der darin eingebundenen Hirngebiete. (Nach-
gezeichnet nach Doyon und Benali, 2005)

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15.3.  Lernen von Fertigkeiten 495

Hirngebiete am motorischen Lernen beteiligt hirn ist insbesondere beim Automatisieren


sein, die eher für das deklarative Lernen ver- motorischer Anpassungsprozesse und das
antwortlich sind. In dieser Phase sind beide Striatum beim Automatisieren sequenzieller
motorischen Systeme am Lernen beteiligt. motorischer Lernprozesse beteiligt.
Die zweite Lernphase läuft langsamer ab Diese Dissoziation beider Systeme bedeu-
als die erste und wird daher auch als lang­ tet nicht, dass keine Interaktion stattfindet.
same Lernphase bezeichnet. In dieser Phase Wenn z. B. das eine System ausfällt, kann das
wird vornehmlich das Gelernte konsolidiert. andere kompensierend eingreifen. Das ist bei
An diesem Konsolidierungsprozess sind das Parkinsonpatienten beobachtet worden, die
Striatum (v. a. das assoziative Striatum, das ein Defizit oder einen Ausfall des Striatums
Informationen aus frontalen, parietalen und aufweisen. Beim Durchführen von seriell-mo-
temporalen Hirngebieten erhält), prämotori- torischen Aufgaben wiesen die Parkinsonpa-
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sche Areale, der Motorkortex, der Parietallap- tienten stärkere Durchblutungszunahmen ge-
pen und der Hippocampus beteiligt. Dass der rade im Kleinhirn auf.
Hippocampus an der Konsolidierung von mo-
torischen Fertigkeiten beteiligt ist, mag er-
staunen und den Befunden widersprechen, 15.3.2. Perzeptuelles Lernen
die im vorherigen Kapitel zum deklarativen
Gedächtnis besprochen wurden. Vor allem die Wenn wir wiederholt bestimmte Objekte
Theorie von Squires (s.  Kap. 13.8.) geht ja wahrnehmen und uns bemühen, diese Objekte
davon aus, dass der Hippocampus nur an besser und schneller zu erkennen, verbessern
bewussten Lernprozessen beteiligt ist. Aller- wir die Wahrnehmung für diese speziellen Ob-
dings zeigt sich zunehmend, dass auch un­­ jekte. Solche Wahrnehmungsverbesserungen
bewusste Lernprozesse auf den Hippocam- sind uns im Alltag allgegenwärtig. Wir können
pus zurückgreifen. Sehr wahrscheinlich ist der z. B. die Gesichter von Europäern besser aus-
Hippocampus für die Verknüpfung und Asso- einanderhalten als Gesichter von Chinesen
ziation von Informationen während der Kon- oder Japanern. Wir können in den uns vertrau-
solidierung verantwortlich, auch unabhängig ten Gesichtern auch viel schneller und sicherer
davon, ob bewusste oder unbewusste Lern- individuelle Eigenarten erkennen. Ein anderes
prozesse stattfinden. In dieser langsamen Beispiel für durch Lernen verbesserte Wahr-
Lernphase erfolgt die Konsolidierung und an- nehmungsleistungen liefern die Kontrolleure
schließend werden die motorischen Lernpro- auf internationalen Flughäfen, die auf den
zesse automatisiert. Diese Automatisierung Durchleuchtungsbildern des Reisegepäcks er-
erfolgt abhängig von der zu lernenden moto- kennen können, ob Waffen oder Sprengstoff
rischen Aufgabe in unterschiedlichen Hirn- im Koffer versteckt sind. Die Fertigkeit, die
systemen. Seriell-motorische Aufgaben wer- gefährlichen Objekte und Substanzen zu er-
den unter Beteiligung des Parietallappens, der kennen, erfordert langes Training. Ein weite-
Motorareale und des Striatums automatisiert. res Alltagsbeispiel ist das Lesen. Das Erkennen
Motorische Anpassungsaufgaben dagegen von Buchstaben und Wörtern ist ebenfalls
werden unter Einbezug des Kleinhirns (und trainingsabhängig. Nicht nur das Erkennen
der Motorareale, des Prämotorkortex und des von Buchstaben ist stark erfahrungsgeleitet,
Parietallappens) automatisiert. Der wesentli- sondern auch das Erkennen ganzer Wörter.
che Unterschied bei der Automatisierung die- Insofern ist es nicht verwunderlich, dass die
ser beiden Bewegungstypen ist die Beteiligung Lesegeschwindigkeit sehr stark von der Lese-
des Kleinhirns und des Striatums. Das Klein- erfahrung abhängt. Alle Beispiele repräsentie-

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496 15.  Nondeklaratives Gedächtnis

ren das, was unter dem Begriff des perzeptuel- Offenbar hat die Expertise einen Einfluss
len Lernens zusammengefasst wird: eine auf die Aktivität des fusiformen Gyrus. Isabel
Verbesserung der Wahrnehmungsleistung in- Gauthier geht davon aus, dass dieses Hirn-
folge des Trainings. gebiet nicht nur für die Gesichtswahrneh-
Perzeptuelles Lernen ist mit neurophysiolo- mung spezialisiert ist, sondern so etwas wie
gischen und anatomischen Anpassungsprozes- ein Expertenareal darstellt, das jene visuellen
sen verbunden. Isabel Gauthier und Kollegen Reize verarbeitet, für die eine Expertise er-
(2000) haben sich mit den neurophysiologi- worben wurde. Es wird angenommen, dass
schen Grundlagen der Verbesserung der Ob- Gesichter jene Objekte sind, denen wir am
jektwahrnehmung infolge des Lernens aus- häufigsten ausgesetzt sind und die der Gyrus
einandergesetzt. In einem Experiment haben fusiformis demzufolge am häufigsten ver-
sie Ornithologen und Autoverkäufern Bilder arbeiten muss. Insofern haben wir wahr-
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von Vögeln, Autos, anderen Objekten und Ge- scheinlich eine Expertise für das Erkennen
sichtern präsentiert. Ziel war es zu überprüfen, von Gesichtern entwickelt und der Gyrus fusi-
ob der Gyrus fusiformis, und hier der für die formis ist kein Areal, das sich im Zuge der
Gesichtswahrnehmung spezialisierte Teil (fu- Evolution als ein reines Gesichtsverarbei-
siformes Gesichtsareal), nur auf Gesichter tungsareal herausgebildet hat. In weiteren
reagiert oder auch auf andere visuelle Reize. Untersuchungen haben Gauthier und Kolle-
Bis zu den Untersuchungen von Gauthier galt gen diese Hypothese überprüft und Lern-
das fusiforme Gesichtsareal als das Hirn- experimente durchgeführt, in denen die Ver-
gebiet, das ausschließlich für die Wahrneh- suchspersonen völlig unbekannte Objekte zu
mung von Gesichtern spezialisiert ist. Gaut- unterscheiden lernen mussten. Sie konnten
hier und Kollegen gingen davon aus, dass zeigen, dass nach einer gewissen Zeit des
Ornithologen eine besondere Expertise für die Lernens auch ehemals unbekannte Objekte
Wahrnehmung und Unterscheidung von Vo- besser erkannt werden und dieses bessere
gelsilhouetten und Körperformen von Vögeln Erkennen mit gesteigerten Durchblutungen
erworben haben müssten. Autoverkäufer da- im fusiformen Gesichtsareal verbunden war
gegen müssten aufgrund ihrer häufigen Kon- (Abb. 15-13).
frontation mit Autos in der Lage sein, Automar- Auch im auditorischen System können die
ken sehr schnell und treffsicher anhand von Konsequenzen perzeptuellen Lernens erkannt
Autobildern zu erkennen. Bei allen Versuchs- werden. Wird Versuchspersonen eine Serie
personen, die mittels fMRT untersucht wurden, von Tönen unterschiedlicher Frequenz prä-
konnten gesteigerte Durchblutungen im fusi- sentiert, nehmen sie diesen Reiz als eine zu-
formen Gesichtsareal festgestellt werden, wenn sammenhängende Tonfolge war. Wird nun
ihnen Gesichtsbilder präsentiert wurden. Inte- ein in der Mitte dieser Tonfolge platzierter
ressanter waren jedoch die Befunde bei den Ton etwa um 50 bis 100 ms verlängert, be-
Ornithologen und Autoverkäufern, die auch merken die Versuchspersonen dies ohne
Durchblutungszunahmen im fusiformen Ge- Übung nicht. Nach einigen Trainingsdurch-
sichtsareal bei Präsentation von Vogel- und gängen sind sie in der Lage, recht genau den
Autobildern zeigten. Die Durchblutungszunah- einen Ton zu identifizieren, der in dieser Ton-
men auf Autobilder waren bei Autoverkäufern folge verlängert wurde. Andere Beispiele für
stärker als bei Ornithologen. Andererseits wa- perzeptuelles Lernen stehen im Zusammen-
ren die Durchblutungszunahmen im fusifor- hang mit der Musikexpertise. Musiker ent-
men Gesichtsareal auf Vogelbilder bei Ornitho- wickeln im Zuge ihres intensiven und langen
logen stärker als bei Autoverkäufern. Trainings ein sensibles Gespür für Töne,

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15.3.  Lernen von Fertigkeiten 497

konzentrierter die Töne (genauer: Klänge) ih-


res eigenen Instruments oder ihrer eigenen
Instrumentengruppe gehört, sodass sie eine
Gyrus fusiformis
(rechts) Expertise für die Wahrnehmung dieser Töne
entwickelt haben (Pantev et al., 2001).
Diese Spezialisierung beginnt bereits in der
1 Kindheit. So konnte z. B. gezeigt werden, dass
Kinder, die im Alter von 6 bis 8 Jahren intensi-
0.75 ven Geigenunterricht hatten, eine unbewusste
arbiträre Werte

Spezialisierung für die Verarbeitung von Gei-


0.5 gentönen entwickelten (Meyer et al., 2011).
Die unbewusste neuronale Verarbeitung im
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0.25 auditorischen Kortex auf Geigentöne kann


mittels der Mismatch negativity (MMN) ge-
0 messen werden, einer Negativierung der elek-
Vogel- Auto- Kontroll-
trischen und/oder magnetischen Aktivität des
experten experten personen
auditorischen Kortex, die im Zusammenhang
Gesichter Vögel Autos mit der Verarbeitung unerwarteter Reize auf-

Abbildung 15-13: Ergebnisse der Experimente


von  Gauthier und Kollegen bezüglich des fusi­
formen Gesichtsareals. Dargestellt sind arbiträre
Werte, um die grundsätzlichen Befunde deutlich
zu machen. Man erkennt die unterschiedlichen R L
Aktivierungen im Gyrus fusiformis in Abhängigkeit
von den dargebotenen Reizen und in Abhängigkeit
von der Expertise der Versuchspersonen. hoch
Aktivität im auditorischen Kortex

Rhythmen, Melodien und weitere auditori-


sche Aspekte; sie entwickeln ein hochspeziali-
siertes Gehör für musikspezifische Reize.
Neurophysiologische Untersuchungen haben
gezeigt, dass die neuronale Aktivität im Hör-
kortex expertiseabhängig ist. Werden Strei-
chern Geigen- oder Trompetentöne präsen-
tiert, „reagiert“ der Hörkortex der Streicher
niedrig Geiger Trompeter
neurophysiologisch besonders sensibel auf
die Geigentöne und weniger sensibel auf die Geigenton Trompetenton
Trompetentöne. Andererseits zeigen Trompe-
Abbildung 15-14: Schematische Darstellung
ter bei Präsentation von Trompetentönen
der Ergebnisse des Experiments von Pantev und
stärkere Reaktionen auf Trompeten- als auf Kollegen (2001). Man erkennt, dass bei Geigern
Geigentöne (Abb. 15-14). Diese differenzielle Geigentöne stärkere Aktivitäten im auditorischen
Aktivität im Hörkortex reflektiert sehr wahr- Kortex auslösen als Trompetentöne. Umgekehrt
scheinlich die jeweilige Spezialisierung der lösen Trompetentöne bei Trompetern stärkere Ak-
Musiker. Sie haben natürlich häufiger und tivierungen im Hörkortex aus als Geigentöne.

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498 15.  Nondeklaratives Gedächtnis

tritt. Der Versuch kann so gestaltet werden, keit (z. B. 80 %) mit einem bestimmten Wet-
dass Geigentöne unterschiedlicher Frequenz terereignis assoziiert. Mit der Zeit lernt die
präsentiert werden. Häufig wird ein Ton mit Versuchsperson, diese Wahrscheinlichkeits-
einer bestimmten Frequenz und selten ein Ton zuordnung unbewusst zu erfassen und in ent-
mit leicht abweichender Frequenz präsentiert. sprechende Entscheidungen umzusetzen.
Die Hirnaktivität auf den abweichenden Ton Werden diese Aufgaben mit Amnesie-, Parkin-
ist die interessierende Aktivität, welche die sonpatienten und Kontrollpersonen durch-
MMN ausmacht. Diese MMN tritt ca. 100– geführt, entsteht ein interessantes Ergebnis.
150 ms nach Präsentation des abweichen- Während die Kontrollpersonen und die Amne-
den Tons auf. Sie ist unbeeinflusst von Auf- siepatienten diese Aufgabe mehr oder weniger
merksamkeitsprozessen und kann demzufolge problemlos meistern und mit zunehmender
nicht unterdrückt werden. Diese MMN ist bei Lerndauer immer bessere Lernleistungen zei-
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Kindern mit Musikexpertise besonders stark gen, scheitern die Parkinsonpatienten. Wer-
ausgeprägt, jedoch nur als Reaktion auf ab- den zur Kontrolle episodische Gedächtnistests
weichende Geigentöne und nicht auf abwei- durchgeführt, scheitern die Amnesiepatien-
chende Sinustöne. Selbst sehr junge Kinder ten, während die Parkinsonpatienten in diesen
entwickeln eine besondere Expertise für Töne Tests normal abschneiden (Abb. 15-15).
des Instruments, dessen Bedienung sie inten- Für das korrekte Bearbeiten der Wettervor-
siv üben bzw. geübt haben. hersageaufgabe ist offenbar ein funktionieren-
des Basalgangliensystem Voraussetzung. Da
dieses System bei Parkinsonpatienten beein-
15.3.3. Lernen von kognitiven ­ trächtigt ist, gelingt ihnen die Wettervorher-
Fertigkeiten sageaufgabe vergleichsweise schlecht. Für das
episodische Gedächtnis ist insbesondere das
Auch kognitive Fertigkeiten können über häu- mesiotemporale System und eine funktionie-
figes Wiederholen automatisiert werden. Viele rende Zusammenarbeit mit kortikalen Struk-
kognitive Tätigkeiten, z. B. Denkabläufe, das turen wichtig. Sind diese Systeme beeinträch-
Nutzen von Regeln oder die Verwendung der tigt, ist auch die episodische Gedächtnisleistung
Grammatik, sind automatisierte Fertigkeiten. beeinträchtigt. Dieses Experiment belegt, dass
Mit der Wettervorhersageaufgabe ist das die Basalganglien offenbar für den Aufbau
unbewusste Lernen von kognitiven Fertigkei- von statistischen Zusammenhängen essenziell
ten intensiv untersucht worden. Die Versuchs- sind. Zu ähnlichen Ergebnissen kamen auch
personen sehen nacheinander auf dem Com- Untersuchungen mit gesunden Versuchsper-
puterbildschirm eine von vier Spielkarten. Sie sonen, in denen mittels fMRT die Durchblu-
müssen über Versuch und Irrtum lernen, wel- tungsveränderung in den Basalganglien beim
che der vier Spielkarten mit einem bestimm- Bearbeiten der Wettervorhersageaufgabe ge-
ten Wetterereignis zusammenhängt. Nach je- messen wurde. In diesen Untersuchungen of-
der Präsentation einer Spielkarte und jeder fenbarte sich ein weiterer Befund: Zu Beginn
Antwort der Versuchsperson erhält sie eine des Versuch-und-Irrtum-Lernens sind Durch-
Rückmeldung, ob die Zuordnung korrekt oder blutungssteigerungen des mesiotemporalen
falsch war. Die Zuordnungen zwischen Spiel- Hirnsystems erkennbar, die aber im Verlauf
karte und Wetterereignis sind allerdings nicht des Lernens verschwinden. Die Basalganglien
konstant, sondern als Wahrscheinlichkeiten zeigen ein umgekehrtes Durchblutungsmuster.
definiert. Das bedeutet, eine bestimmte Karte Zu Beginn sind sie unterdurchblutet, während
ist mit einer bestimmten Wahrscheinlich- die Durchblutung gegen Ende zunimmt. Wahr-

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15.3.  Lernen von Fertigkeiten 499

A) scheinlich nutzen die Versuchspersonen zu Be-


ginn noch explizite Strategien. Mit zunehmen-
der Lerndauer tritt dann implizites Lernen mit
Beteiligung der Basalganglien ein.
In einer Arbeit, die von Gregory Berns und
B)
Kollegen (1997) publiziert wurde, haben die
75
Autoren überprüft, welche Hirngebiete am
korrekte Vorhersage in %

70 Aufbau von Regeln beteiligt sind. Sie haben für


65 ihre Untersuchung eine Variante der seriellen
Reaktionszeitaufgabe genutzt: Die Tasten-
60 drucksequenzen wurden so variiert, dass sie
55 einer bestimmten Regel folgen, die nicht be-
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50
wusst einsichtig war. Diese Regel wurde gele-
10 20 30 40 50 gentlich verändert und es wurde überprüft, ob
Kontrollgruppe in dem Moment, in dem die Regel geändert
Parkinsonpatienten wird, spezifische Hirnreaktionen zu messen
Amnesiepatienten
sind. Es muss bedacht werden, dass selbst die
C) 9 grundsätzliche Regel den Versuchspersonen
8
nicht bewusst ist. Wieso soll dann eine Abwei-
korrekte Vorhersage in %

7
chung von dieser unbewussten Regel von be-
6
stimmten neuronalen Netzwerken bemerkt
5
werden? Wenn die Abweichung von der Regel
4
zu markanten Hirnaktivierungen führt, dann
3
hat sich offenbar unbewusst ein Regelsystem
2
in dem neuronalen Netzwerk etabliert, das
1
auch korrekte und nicht korrekte Regeln aus-
0
Kontroll- Amnesie- Parkinson- einanderhalten kann.
gruppe patienten patienten Ähnliches ist auch bei den Regeln unserer
Muttersprache zu erkennen. Die Grammatik
Abbildung 15-15: Ergebnisse der klassischen
Wettervorhersageaufgabe. (A) Vier Spielkarten
ist uns häufig nicht bewusst. Wir wenden sie
werden den Versuchspersonen präsentiert. Jede an und wissen (genauer gesagt: fühlen) recht
Spielkarte wird mit einer bestimmten Wahrschein- genau, welche Regel richtig oder falsch ist.
lichkeit gemeinsam mit einem bestimmten Sym- Berns und Kollegen haben herausgefunden,
bol (Regen oder Sonne) präsentiert. Das Symbol dass unbewusste Regelverletzungen insbeson-
„Sonne“ wird hier häufig gemeinsam mit der ganz dere mit Durchblutungszunahmen in einem
links präsentierten Karte präsentiert. (B) Leistung Netzwerk verbunden sind, das den Prämotor-
im Zuordnen der Symbole zu den Karten. Parkin- kortex, das anteriore Cingulum und das ven-
sonpatienten verbessern sich nicht im Verlauf der trale Striatum umfasst. Wird eine Regel wie-
Lerndurchgänge, während Amnesiepatienten in
derholt angewendet, nimmt die Durchblutung
den späteren Lerndurchgängen immer besser
in diesem Netzwerk wieder ab (Abb. 15-16).
werden. (C) zeigt wie gut die drei Versuchsper-
sonengruppen im Durchschnitt in der Lage sind,
anhand der Karten die zugeordneten Symbole vor-
herzusagen. Man erkennt hier, dass die Parkinson-
patienten die schlechtesten Leistungen erbringen.
(Nachgezeichnet nach Knowlton et al., 1996)

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500 15.  Nondeklaratives Gedächtnis

(Abb. 15-17). In der Akquisitionsphase wird der


CS häufig vor dem US dargeboten. Durch diese
häufige zeitlich aufeinander bezogene Paa-
Prämotorkortex rung von CS und US erwirbt der CS gewisser-
maßen die Fähigkeit, das Erscheinen des US
vorherzusagen. Unterschieden werden zwei
Techniken des klassischen Konditionierens:
die verzögerte Konditionierung und die Spu-
anteriores renkonditionierung. Bei der verzögerten
Cingulum Konditionierung wird der CS vor dem US
präsentiert und ist so lange präsent, bis der US
beginnt. Unmittelbar mit dem Ende des CS be-
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ginnt der US. Bei der Spurenkonditionierung


existiert zwischen dem CS und dem US ein In-
ventrales tervall, in dem der CS und der US nicht vor-
Striatum
handen sind. Das hat zur Konsequenz, dass
eine Gedächtnisspur von dem CS für die Dauer
des Intervalls gespeichert werden muss. Aus
Tierversuchen und aus Versuchen mit Patien-
Abbildung 15-16: Regellernen und Regelbrechen ten, die unter Läsionen des Hippocampus oder
beim unbewussten Regellernen.Im Prämotorkor- des Kleinhirns leiden, ist bekannt, dass bei der
tex, im anterioren Cingulum und im ventralen Stria-
Spurenkonditionierung insbesondere der Hip-
tum nimmt während des Anwendens einer Regel
pocampus notwendig ist, während bei der ver-
die Durchblutung ab. Wird allerdings eine neue Re-
zögerten Konditionierung vorrangig das Klein-
geleingeführt, dann steigert sich in diesem Netz-
werk die Durchblutung (nach Bernset al., 1997).
hirn beteiligt ist. Dass der Hippocampus bei
der Spurenkonditionierung aktiv ist, deutet
darauf hin, dass die Gedächtnisspur des CS of-
fenbar unter Mitwirkung des Hippocampus im
15.4. Konditionierung Gedächtnis gehalten wird.
Moderne Experimente unter Nutzung von
Klassische und operante Konditionierung gel- fMRT und PET konnten diese Befunde prinzi-
ten als Paradebeispiele des unbewussten Ler- piell stützen (Büchel & Dolan, 2000). In diesen
nens. Diese Lernmechanismen sind insbeson- Arbeiten konnte gezeigt werden, dass bei der
dere in den 1970er und 1980er Jahren sehr Spurenkonditionierung auch der Hippocam-
intensiv in Human- und Tierversuchen unter- pus aktiv ist, während bei der verzögerten
sucht worden. Das Grundprinzip der klassi­ Konditionierung auch das Kleinhirn aktiv ist
schen Konditionierung besteht darin, dass (Abb. 15-18). Die meisten Bildgebungsexperi-
eine Reflexreaktion (UR), die durch einen un- mente zum klassischen Konditionieren wurden
konditionierten Reiz (US) automatisch aus- im Zusammenhang mit der Furchtkonditionie-
gelöst wird, infolge einer kontingenten Paa- rung durchgeführt. In diesen Experimenten
rung mit einem neutralen Reiz (konditionierter konnten des Weiteren Durchblutungszunah-
Reiz, CS) auch durch diesen neutralen Reiz men in der Amygdala zu Beginn der Extinkti-
ausgelöst werden kann. In Experimenten zur ons- und gegen Ende der Akquisitionsphase
klassischen Konditionierung wird die Akquisi- festgestellt werden. In den Studien zur Furcht-
tions- von der Extinktionsphase unterschieden konditionierung zeigte sich, dass der CS auch

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15.4. Konditionierung 501

klassische Konditionierung

CS
Spurenkonditionierung
Akquisition Extinktion

Wahrscheinlichkeit
CS
verzögerte

des CR
Konditionierung
US
(A)

Antwort Durchgänge

(B)
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Wahrscheinlichkeit
CR CS+

des CR
Antwort

(C)
CS–

Zeit Durchgänge

Abbildung 15-17: Ablauf der klassischen Konditionierung.

Spurenkonditionierung verzögerte Konditionierung

CS
CS

US US

anteriores
Hippocampus
Cingulum

Amygdala

Insel

Kleinhirn

Abbildung 15-18: Hirngebiete, die bei der Spurenkonditionierung und der verzögerten Konditionierung
aktiv sind.

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502 15.  Nondeklaratives Gedächtnis

Durchblutungszunahmen in Hirngebieten au- • negative Verstärkung: Dem Verhalten


ßerhalb der Amygdala, des Hippocampus und folgt kein negativer bzw. unangenehmer
des Kleinhirns evoziert. Insbesondere die In- Reiz mehr. Die negative Verstärkung führt
selgebiete, das Cingulum und der dorsale Fron- zu einer Erhöhung der Auftretenswahr-
talkortex (Hugdahl, 1998) sind bei Präsenta- scheinlichkeit des Verhaltens.
tion des CS regelmäßig stärker durchblutet, • Bestrafung durch aversive Reize: Dem
wahrscheinlich, weil automatisch auch kogni- Verhalten folgt ein unangenehmer Reiz (Be-
tive Kontrollprozesse (dorsaler Frontalkortex) schimpfungen, Schmerzreize, Hausarrest
und emotionale Reaktionen (Inselgebiete) aus- etc.). Die Folge ist eine Abnahme der Ver-
gelöst werden. haltenshäufigkeit des vorausgegangenen
Das Grundprinzip der operanten oder Verhaltens. Diese Form der Bestrafung wird
auch instrumentellen Konditionierung ist, auch als Bestrafungstyp 1 bezeichnet.

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dass die Häufigkeit von ehemals spontanem Bestrafung durch Entzug positiver
Verhalten durch die dem Verhalten folgenden Reize: Nach einem bestimmten Verhalten
Konsequenzen verändert wird. Instrumen- wird ein angenehmer Reiz entzogen. Das
telle Konditionierung ist gegenwärtig in den kann zum Beispiel der Entzug eines Privi-
Neurowissenschaften wieder neu „entdeckt“ legs, soziales Ignorieren, Fernsehverbot
worden und wird als theoretisches Konzept oder gar Essensentzug sein. Diese Form der
für die neue „Disziplin“ Neuroökonomie ge- Bestrafung wird auch als Bestrafungstyp II
nutzt. Man glaubt, über die Erkenntnis der bezeichnet.
neuronalen Grundlagen ökonomische Ver- • Löschung (Extinktion): Dem Verhalten
haltensprinzipien im Alltag besser verstehen folgt weder ein unangenehmes noch ein
zu können. Die dem Verhalten folgenden Kon- angenehmes Ereignis. Hiernach wird die
sequenzen verändern nicht nur das Verhalten, bedingte bzw. instrumentelle Reaktion
sondern auch die Motivation und den Anreiz- nicht mehr gezeigt, also gelöscht. Es han-
wert. Insofern ist die operante Konditionie- delt sich hierbei allerdings nicht um ein-
rung ein aktuell sehr intensiv erforschter faches „Vergessen“ oder um „Verlernen“,
Lernmechanismus. sondern um ein „zusätzliches“ Lernen. Bei
Die dem Verhalten folgenden Konsequen- diesem zusätzlichen Lernen verschwindet
zen werden in vier Gruppen eingeteilt: vorübergehend die Wirkung des bedingten
• positive Verstärkung: Dem Verhalten Reizes. Durch Spontanerholung kann die
folgt ein positiver Reiz, der die Verhaltens- Wirkung des Verstärkers wieder einsetzen.
häufigkeit erhöht; man spricht auch von
Belohnung (reward). Diese Reize werden Die neuronalen Grundlagen der Verstärkung
auch als Verstärker bezeichnet. Unter- sind besonders gut am Affengehirn untersucht
schieden werden primäre und sekundäre worden. In diesen Untersuchungen konnte ein
Verstärker. Primäre Verstärker sind ele- neuronales Netz identifiziert werden, das
mentare biologische Reize wie Nahrung, beim Eintreten, Erwarten und Vorhersagen
Geruch, soziale Nähe etc. Sekundäre Ver- von Verstärkern in charakteristischer Weise
stärker sind kulturell gelernte Reize, die aktiv ist. In Kapitel 20 werden die an der Ver-
über Lernen (klassische Konditionierung?) stärkung beteiligten Hirnstrukturen detailliert
mit primären Verstärkern gekoppelt wur- beschrieben.
den. Beispiele sind schöne Gesichter, po-
sitive soziale Interaktionen, Musik, Geld,
Markennamen etc.

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15.5. Zusammenfassung 503

15.5. Zusammenfassung • Unbewusstes Lernen kann wie folgt be-


schrieben werden: (1) es ist anderen schwer
• Das nondeklarative Gedächtnis speichert zu beschreiben, (2) wird überwiegend ohne
Informationen, deren Wiedergabe unbe- bewusste Kontrolle erworben, (3) erfordert
wusst, automatisch und ohne Willens- viele Wiederholungen und (4) benötigt we-
anstrengung erfolgt. Unbewusst ist in die- nig Aufmerksamkeit.
sem Zusammenhang der Zugriff auf die • Eines der wesentlichen Merkmale des Ler-
gespeicherte Information. nens von Fertigkeiten ist die „häufige Wie-
• Zum nondeklarativen (impliziten) Ge­ derholung“. Diese Erkenntnis hat zu dem
dächtnis werden das perzeptuelle Prim­ sogenannten Power-Law des Lernens ge-
ing-Gedächtnis, das konzeptuelle P ­ riming-­ führt. Das von der Übung abhängige Lern-
Gedächtnis und das semantische ergebnis kann mit einer Exponentialfunk-
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Priming-Gedächtnis gezählt. tion beschrieben werden (Ln = L1 * n–a).


• Beim wiederholten Darbieten von Reizen • Häufiges Üben ist mit Expertisen verbun-
und Informationen tritt in der Regel eine den. Am Beispiel von Profimusikern und
Aktivierungsverminderung in den Hirn- Golfspielern kann gezeigt werden, dass ex-
gebieten auf, die mit der Bearbeitung der zeptionelle Leistungen mit der Häufigkeit
dargebotenen Reize betraut sind (repetition des Übens dieser Leistungen zusammen-
suppression). hängen.
• Drei Modelle werden derzeit diskutiert, • Beim motorischen Lernen werden drei Pha-
welche die Aktivierungsverringerung nach sen unterschieden: (1) kognitive Phase, (2)
wiederholter Darbietung des gleichen assoziative Phase, (3) automatische Phase.
Reizes zu erklären versuchen: das Er- • Zwei große Gruppen von motorischen Auf-
schöpfungs-, das Schärfungs- und das Ver- gaben werden unterschieden: die seriell-
schnellerungsmodell. Im Rahmen des motorischen Aufgaben und die motori­
Erschöpfungsmodells wird davon aus- schen Anpassungsaufgaben.
gegangen, dass alle Neurone des aktivier- • Beim Lernen von motorischen Fertigkeiten
ten Netzwerks nach wiederholter Akti- sind insbesondere folgende Hirngebiete
vierung ihre Aktivität senken. Beim beteiligt: Basalganglien, Kleinhirn, Prä-
Schärfungsmodell wird eine Aktivierungs- motorkortex, oberer Parietallappen und
optimierung der beteiligten Neurone an- Sulcus intraparietalis sowie primärer Mo-
genommen. Im Rahmen des Verschnel- torkortex.
lerungsmodells wird davon ausgegangen, • Perzeptuelles Lernen ist mit neurophysio-
dass bei repetitiver neuronaler Aktivität logischen und anatomischen Anpassungs-
die neuronale Reaktion immer schneller prozessen verbunden, die in den Hirngebie-
beginnt (reduzierte Reaktionszeiten) und ten ablaufen, die bei der Wahrnehmung
kürzer dauert, was in der Summe zu einer eine wesentliche Rolle spielen. Profimusi-
geringeren Aktivität führt. ker verarbeiten musikspezifische Reize im
• Es werden drei Formen des unbewussten auditorischen Kortex anders als Nichtmusi-
Lernens von Fertigkeiten unterschieden: ker. Auto- und Vogelexperten zeigen Durch-
(1) Lernen von motorischen Fertigkeiten blutungszunahmen im Gyrus fusiformis (im
(motor skill learning); (2) perzeptuelles Ler- fusiformen Gesichtsareal) bei der Präsenta-
nen (perceptual skill learning); (3) Lernen tion der Reize, für die sie Expertenwissen
von kognitiven Fertigkeiten (cognitive skill entwickelt haben (Autoverkäufer bei Auto-
learning). und Vogelexperten bei Vogelbildern).

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504 15.  Nondeklaratives Gedächtnis

• Kognitive Fertigkeiten können auch unbe- • Beschreiben Sie den Ablauf des motori-
wusst gelernt werden. Dazu gehören z. B. schen Lernens.
auch kognitive Regeln. Eine typische Auf- • Wie erklärt man sich den Aufbau von Ex-
gabe, mit der man das untersuchen kann, pertenwissen im Zusammenhang mit dem
ist die sogenannte Wettervorhersageauf- perzeptuellen Lernen?
gabe. Typischerweise sind beim Regeller- • Beschreiben Sie die Wettervorhersageauf-
nen der Prämotorkortex, das anteriore gabe und erläutern Sie, was daraus abge-
Cingulum und das ventrale Striatum aktiv. leitet werden kann.
• Bei der Spurenkonditionierung ist auch der • Welche Hirngebiete sind in das Regellernen
Hippocampus aktiv. Ansonsten sind bei der eingebunden?
klassischen Konditionierung das Kleinhirn, • Welche Hirngebiete sind beim klassischen
das anteriore Cingulum, die Amygdala und Konditionieren beteiligt?
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die Insel aktiv.

15.7. Weiterführende Literatur


15.6. Fragen und Aufgaben Grill-Spector, K., Henson, R., Martin, A. (2006).
Repetition and the brain: neural models of
• Definieren Sie nondeklaratives Lernen. stimulus-specific effects. Trends Cogn Sci,
• Was wird unter perzeptuellem, semanti- 10(1), 14–23.
schem und konzeptuellem Priming ver- Henson, R. N., Rugg, M. D. (2003). Neural re-
standen? sponse suppression, haemodynamic repeti-
• Wie wird das Priming neurophysiologisch tion effects, and behavioural priming. Neuro-
psychologia, 41(3), 263–270.
erklärt?
• Erklären Sie das Power-Law des Lernens.
Henson, R. N., Shallice, T., Dolan, R. J. (1999).

• Welchen Einfluss hat die Lernhäufigkeit auf


Right prefrontal cortex and episodic memory
retrieval: a functional MRI test of the monito-
den Aufbau von Expertise? Können Sie dazu ring hypothesis. Brain, 122(7), 1367–1381.
explizite Beispiele nennen? Henson, R., Shallice, T., Dolan, R. (2000). Neuro-
• Was wird unter einer seriellen Reaktions- imaging evidence for dissociable forms of re-
zeitaufgabe verstanden? Wie sind die typi- petition priming. Science, 287(5456), 1269–
schen Ergebnisse? 1272.

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505

16. Arbeitsgedächtnis
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DLPFC
Prozess: Manipulation
Inhalt: räumlich

VLPFC
Prozess: Halten
Inhalt: objektbezogen

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16.1. Einführung 507

16.1. Einführung Vergessen durch einen einfachen Zerfall als


eine Funktion der Zeit oder durch Interferen-
Das Arbeitsgedächtnis ist eine zentrale psy- zen mit neuen Informationen zustande
chische Funktion. Es ist ein Teil des Gedächt- kommt. Die Menge des gleichzeitig im Ar-
nisses, und ein wichtiges Bindeglied zwischen beitsgedächtnis zu haltenden Materials ist re-
Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis. Das Ar- lativ klein (begrenzte Arbeitsgedächtnis-
beitsgedächtnis wird auch den exekutiven kapazität). Im Durchschnitt können nur ca.
Funktionen zugeordnet (Kap. 11). Ohne ein 3–5 Elemente simultan im Gedächtnis gehal-
funktionierendes Arbeitsgedächtnis könnten ten werden. Diese geringe Anzahl von Infor-
wir keine Romane lesen, uns nicht in fremden mationen steht im deutlichen Gegensatz zu
Städten zurechtfinden, wir könnten unseren den vielen Informationen, die im Langzeitge-
Freunden unsere Urlaubserlebnisse nicht er- dächtnis gehalten werden können. Die Anzahl
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zählen und wären auch nicht in der Lage, kom- der Informationen, die in einer bestimmten
plexe akademische Leistungen zu erbringen. Periode gleichzeitig im Arbeitsgedächtnis ge-
Das Arbeitsgedächtnis ist mit vielen anderen halten werden, führt zu einer spezifischen
psychischen Funktionen eng verbunden, z. B. Arbeitsgedächtnisbelastung. Die Arbeitsge­
mit dem prämotorischen System, der Wahr- dächtnisbelastung ist niedrig, wenn wenige
nehmung, der Aufmerksamkeit und dem Informationen gehalten und manipuliert wer-
Langzeitgedächtnis. Das wesentliche Charak- den, und hoch, wenn viele Informationen ge-
teristikum des Arbeitsgedächtnisses ist das halten und manipuliert werden.
Halten und Manipulieren von Informationen. Das Manipulieren von gehaltenen Informa-
Im Englischen kann man das sehr schön mit tionen ist eine wesentliche Eigenschaft des
einer Alliteration beschreiben und sich mer- Arbeitsgedächtnisses. Unter Manipulation
ken: maintenance und manipulation, was so- wird verstanden, dass die im Arbeitsgedächt-
viel bedeutet wie halten und manipulieren. nis gehaltenen Informationen organisiert, as-
Zur Beschreibung des Arbeitsgedächtnisses soziiert und transformiert werden, dass mit
existieren unterschiedliche Modelle. Allen ist ihnen also „gearbeitet“ wird. Ein typisches
gemein, dass sie ähnliche bzw. identische Ei- Beispiel ist das Lösen einfacher Rechenopera-
genschaften für das Arbeitsgedächtnis anneh- tionen. Angenommen, Sie sollen die Multipli-
men. Eine wesentliche Eigenschaft des Ar- kation 10 × 35 lösen. Dazu müssen Sie die
beitsgedächtnisses ist, dass Informationen nur beiden Zahlen im Gedächtnis behalten (Hal-
für kurze Zeit gespeichert werden können ten) und mit ihnen mathematische Operatio-
(ähnlich wie beim Kurzzeitgedächtnis). Diese nen (Manipulieren) durchführen, bei denen
Informationen müssen nach einer bestimmten Sie bestimmte mathematische Regeln anwen-
Zeit wieder aufgefrischt (refreshing) oder mit den, die Sie irgendwann einmal gelernt haben.
kognitivem Aufwand stabilisiert werden (rehe- Das bedeutet, Sie müssen diese Regeln aus
arsal). Nicht nur die Dauer ist ein begrenzen- Ihrem Gedächtnis abrufen, sie auf die jewei-
der Aspekt des Arbeitsgedächtnisses, sondern ligen Zahlen anwenden und diese Operation
auch die Kapazität, d. h. die Menge der in ei- dann in einer bestimmten Form mitteilen. Ein
nem bestimmten Zeitintervall zu speichern- anderes Beispiel für eine Manipulation ist das
den Informationen. Es wird davon ausgegan- Verbinden von im Gedächtnis gehaltenen In-
gen, dass ca. 10 s lang Informationen im formationen (chunking). Darunter wird das
Gedächtnis gehalten werden können, bevor Verbinden bzw. Verpacken von mehreren In-
sie vergessen werden oder aufgefrischt werden formationseinheiten zu einer Information ver-
müssen. Bislang ist allerdings unklar, ob das standen. Angenommen, Sie sollen folgende

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508 16. Arbeitsgedächtnis

Buchstabenserie auswendig lernen: U S A B R Probanden gebeten werden, den gerade prä-


D D D R U S S R. Das würde Ihnen sehr wahr- sentierten Buchstaben mit dem zu vorletzt
scheinlich große Mühe bereiten. Wenn Sie al- präsentierten Buchstaben zu vergleichen, das
lerdings die Informationen zu Gruppen zu- ist eine 2-back-Aufgabe. Werden die Proban-
sammenfassen, die womöglich auch noch den aufgefordert, den gerade präsentierten
einen Sinn ergeben, dann wird es Ihnen we- Buchstaben mit jenem zu vergleichen, der drei
niger schwerfallen, diese Buchstaben zu ler- Durchgänge vorher präsentiert wurde, dann
nen. Mögliche Gruppierungen sind: USA, handelt es sich um eine 3-back-Aufgabe
BRD, DDR, USSR. (Abb. 16-1). In diesem Beispiel wurden Buch-
Die Arbeitsgedächtnisleistung wird mit staben gewählt, es können jedoch auch Zahl-
spezifischen Aufgaben untersucht. Die be- wörter oder andere verbale Reize (z. B. Silben)
kannteste ist die sogenannte N-back-Auf- verwendet werden.
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gabe. Häufig genutzt wird aber auch der im Bei dem Zahlennachsprechtest rückwärts
Wechsler-Intelligenztest enthaltene Zahlen- werden dem Probanden Zahlenfolgen präsen-
nachsprechtest rückwärts (digit span back- tiert, die er in umgekehrter Reihenfolge re-
ward), bei dem die vorgesprochenen Zahlen produzieren soll. Zum Beispiel präsentiert
rückwärts reproduziert werden müssen. Bei der Testleiter die Zahlen 1, 5 und 7 und der
der N-back-Aufgabe werden nacheinander Proband soll diese Zahlenfolge in umgekehr-
unterschiedliche Reize dargeboten (Abb. 16-1). ter Reihenfolge wiedergeben; er müsste also
Bei der verbalen Variante der Arbeitsgedächt- korrekterweise 7 5 1 angeben. Der im Wechs­
nisaufgabe können z. B. nacheinander unter- ler-Intelligenztest ebenso enthaltene Zahlen-
schiedliche Buchstaben präsentiert werden. nachsprechtest vorwärts ist kein Arbeits-
Bei der 1-back-Variante muss der Proband gedächtnistest, sondern lediglich ein Kurz-
darauf achten, ob der gerade dargebotene zeitgedächtnistest, denn er erfordert keine
Buchstabe mit dem vorher präsentierten über- Manipulation (z. B. rückwärts Aufsagen) des
einstimmt. Der Proband muss demzufolge den präsentierten Testmaterials.43
vorher und gerade präsentierten Buchstaben
im Gedächtnis behalten (Halten) und beide
miteinander vergleichen (Manipulieren). Die 16.2. Arbeitsgedächtnis-
Arbeitsgedächtnisbelastung kann mit den N- modelle
back-Aufgaben gesteigert werden, indem die
Aktuell werden in erster Linie drei Arbeits-
gedächtnismodelle diskutiert: das Modell von
1-back 2-back 3-back
Baddeley, das Modell von Cowan und das von
Ja Oberauer. In  den 1970er Jahren entwickelte
2 2 2
Zeit

Ja der Kognitionspsychologie Alan Baddeley das


2 2 2
nach ihm benannte Arbeitsgedächtnismodell
6 6 6 auf der Basis von Verhaltensdaten (Baddeley,
2 Ja 2
Ja
2 2010). Dieses Modell besteht aus drei kapazi-
4 4 4
Nein
2 2 2

Abbildung 16-1: Beispiele für verschiedene Vari- 43  Obwohl bei beiden Tests unterschiedliche psy-
anten der N-back-Aufgabe (1-back, 2-back, chische Prozesse beteiligt sind, korrelieren die Test-
3-back). leistungen bei beiden Tests immer hoch.

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16.2. Arbeitsgedächtnismodelle 509

tätsbegrenzten Gedächtnisspeichern und ei- blassen. Für die phonologische Schleife ist dies
nem Kontrollsystem. Jeder Gedächtnisspeicher der phonologische Speicher, der Reaktivie-
verfügt über unterschiedliche Repräsentatio- rungsmechanismus wird als artikulatorisches
nen. Der phonologische Gedächtnisspeicher Üben bezeichnet (articulatory rehearsal). Für
(die phonologische Schleife) hält phonologi- Baddeley ist das artikulatorische Üben analog
sche Repräsentationen, der visuell-räumliche zum subvokalen oder inneren Sprechen, z. B.,
Notizblock (visual spatial sketch pad) hält vi- wenn wir nicht hörbar Telefonnummern men-
suell-räumliche Repräsentationen und der tal wiederholen. Für den visuell-räumlichen
episodische Speicher beinhaltet integrierte Notizblock existiert der visuelle Zwischen-
multimodale Repräsentationen (Abb. 16-2). Je- speicher (visual cache) und als Reaktivierungs-
der Speicher interagiert eng mit den verschie- mechanismus der sogenannte innere Schrei-
denen Langzeitgedächtnisrepräsentationen: ber (inner scribe).
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die phonologische Schleife mit Sprachinforma- Im Rahmen von Baddeleys Modell wird ex-
tionen, der visuell-räumliche Notizblock mit plizit zwischen Arbeitsgedächtnis- und Lang-
visuell-semantischen Informationen und der zeitgedächtnisrepräsentationen unterschie-
episodische Speicher mit dem episodischen den. Demzufolge sollen Arbeitsgedächtnis
Gedächtnis. Das in diesem Modell integrierte und Langzeitgedächtnis vollkommen unter-
Kontrollsystem ist die zentrale Exekutive. Es schiedliche Systeme sein.
hat die  Aufgabe, den unterschiedlichen Ge- Nelson Cowan von der University of Mis-
dächtnisspeichern Aufmerksamkeitsressour- souri schlägt ein anderes Arbeitsgedächtnis-
cen zuzuordnen und die jeweiligen Arbeits- modell vor, in dem Arbeitsgedächtnis- und
gedächtnisoperationen zu kontrollieren. Langzeitgedächtnisrepräsentationen eng mit-
Jeder Gedächtnisspeicher verfügt über zwei einander verwoben sind (Cowan, 2011).­
Komponenten: einen Speicher, der Informa- Cowan geht davon aus, dass das Arbeitsge-
tionen kurz hält, und einen Mechanismus, der dächtnis in zwei Ebenen organisiert ist
diese Informationen reaktiviert, bevor sie ver- (Abb. 16-3). Auf der ersten Ebene bestehen die

Fokus aktivierter
Arbeitsgedächtnis Cowan Teil des LZG
zentrale Exekutive

phono- episodischer visuell-


logische Puffer räumlicher
Schleife Notizblock

Sprache episodisches visuell Langzeitgedächtnis


Gedächtnis Semantik

Fokus
Langzeitgedächtnis Oberauer

Abbildung 16-2: Schematische Darstellung des Abbildung 16-3: Schematische Darstellung des
Arbeitsgedächtnismodells von Baddeley. Arbeitsgedächtnismodells von Cowan.

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510 16. Arbeitsgedächtnis

Arbeitsgedächtnisrepräsentationen aus „akti- wird angenommen, dass bestimmte Informa-


vierten“ Langzeitgedächtnisrepräsentationen. tionen über fokussierte Aufmerksamkeitspro-
In diesem Zusammenhang nimmt er keine Be- zesse aktiviert werden. Der Aufmerksamkeits-
grenzung der aktivierbaren Langzeitgedächt- fokus kann höchstens vier Items gleichzeitig
nisrepräsentationen an. Allerdings geht er da- aktiv halten. Die Kapazitätsbegrenzung des
von aus, dass sich die Aktivierung relativ Arbeitsgedächtnisses ist deshalb in der Kapazi-
schnell wieder abschwächt, sofern die akti- tät des Aufmerksamkeitsfokus begründet und
vierte Repräsentation nicht wieder aufgefrischt nicht in der Anzahl der aktivierten Langzeitge-
wird. Anders als im Modell von Baddeley sollen dächtnisrepräsentationen. Des Weiteren geht
die Arbeitsgedächtnisrepräsentationen der Cowan davon aus, dass die Aufmerksamkeits-
unterschiedlichen Modalitäten (verbal und vi- zuweisungen durch eine zentrale Exekutive
suell) alle in den jeweils spezialisierten Lang- kontrolliert werden.
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zeitgedächtnisspeichern gehalten werden und Klaus Oberauer von der Universität Zürich
nicht in separaten und spezialisierten Arbeits- hat ein neues Modell vorgelegt, das Struktur
gedächtnisspeichern. Auf der zweiten Ebene und Funktion des Arbeitsgedächtnisses präzi-
siert (Oberauer, 2009). Oberauer fasst das
Arbeitsgedächtnis als System mit drei Ebe-
Arbeitsgedächtnismodell von Oberauer nen auf (Abb. 16-4): (1) Aufmerksamkeits-
fokus (focus of attention), (2) Zone des direk-
ten Zugriffs und (3) aktivierter Teil des
Langzeitgedächtnisses. Ähnlich wie im Mo-
dell von Cowan geht Oberauer davon aus, dass
B das Arbeitsgedächtnis ein System ist, das den
selektiven Zugriff auf  Repräsentationen im
A Langzeitgedächtnis organisiert. Dies soll über
C
die oben beschriebenen drei Ebenen erfolgen.
Auf einer Stufe werden Repräsentationen ak-
tiviert (aktiviertes Langzeitgedächtnis), die
potenziell für anstehende kognitive Aufgaben
relevant sind. Auf der zweiten Stufe soll eine
kleine Zahl von Repräsentationseinheiten in
den Bereich des direkten Zugriffs aufgenom-
B men werden (direkter Zugriff). Auf dieser
Ebene werden die aktivierten Repräsentatio-
Abbildung 16-4: Arbeitsgedächtnismodell von nen in ein spezifisches mentales Koordinati-
Oberauer. Die Kreise symbolisieren mentale Re- onssystem eingebunden. Man muss sich das
präsentationen im Langzeitgedächtnis. Die Kreise so vorstellen, dass diese gewählten Repräsen-
sind überschwellig aktiviert. Drei Repräsentatio-
tationen in eine bestimmte Rangordnung der
nen (A, B und C) sind besonders herausgehoben,
durchzuführenden Operationen einsortiert
da auf sie direkt zugegriffen wird. Die dünnen Li-
werden. Diese Repräsentationen bilden dann
nien sind Assoziationen im Langzeitgedächtnis,
die gepunkteten Linien temporäre Verbindungen
eine Kandidatenmenge für die dritte Stufe,
zwischen den mentalen Repräsentationen A, B auf der eines der Elemente in den Fokus der
und C darstellen. Die mentale Repräsentation B Aufmerksamkeit genommen und dadurch als
wird gerade für die nächste mentale Operation Gegenstand der jeweils nächsten kognitiven
gewählt (nach Oberauer, 2009). Operation ausgewählt wird.

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16.3.  Hirnaktivität bei Arbeitsgedächtnisaufgaben 511

16.3. Hirnaktivität bei Arbeits- Frontalkortex, und hier insbesondere im dor-


solateralen Präfrontalkortex (DLPFC). Unter-
gedächtnisaufgaben
suchungen am Menschen mittels der funktio-
Zur Untersuchung der neuronalen Grundla- nellen Magnetresonanztomografie ergaben
gen des Arbeitsgedächtnisses sind verschie- während der Behaltensphase Durchblutungs-
dene Methoden genutzt worden. In der Tier- zunahmen in verschiedenen Hirnregionen,
forschung wurden insbesondere Einzelzella- u. a. im DLPFC, im Parietallappen und in Tei-
bleitungen eingesetzt, mit denen die Aktivität len des Temporalkortex (s. u.). Diese Durch-
einzelner und mehrerer Neurone im Frontal- blutungszunahmen blieben während der ge-
kortex und anderen Hirngebieten während samten Verzögerung konstant und hingen von
der Durchführung von Arbeitsgedächtnis- der Menge und der Komplexität des zu behal-
aufgaben gemessen wurde. Bei Untersuchun- tenden Materials ab. Je mehr Informationen zu
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gen am Menschen werden vorrangig EEG- behalten waren und je schwieriger die Arbeits-
und MEG-Ableitungen sowie die funktionelle gedächtnisaufgabe war, desto stärker waren
Magnetresonanztomografie genutzt. Bei die- die Durchblutungsveränderungen in der Ver-
sen Untersuchungen werden drei Phasen zögerungsphase. Dieser Effekt wird auch Ar-
von Arbeitsprozessen unterschieden, wäh- beitsgedächtnisbelastungseffekt (working
rend derer die neuronale Aktivität gemessen memory load effect) genannt (Abb. 16-6). Stär-
wird: Encodier-, Behaltens- (auch Retenti- kere neuronale Aktivitäten in der Behaltens-
onsphase genannt) und Abrufphase. In der phase (v. a. im Parietallappen, und hier ins-
Encodierphase werden die Informationen besondere im Sulcus intraparietalis) wurden
dem Arbeitsgedächtnis zugeführt, während
der Behaltensphase werden diese im Arbeits-
gedächtnis gehalten und während der Reakti- Arbeitsgedächtnisbelastungseffekt
BA 46
onsphase erfolgt die geforderte Reaktion. Im
Verlauf der Behaltensphase müssen die Infor- Durchblutungszunahme
9
mationen gehalten und für die folgende Re- 46
aktion bereitgestellt werden. Die Behaltens-
phase ist für die neurowissenschaftlichen
Untersuchungen des Arbeitsgedächtnisses die
wichtigste; auf sie beziehen sich alle Untersu- 3 Gesichter
chungen und Befunde, die im Folgenden er- 5 Gesichter

läutert werden (Abb. 16-5). Abbildung 16-6: Beispiel für einen Arbeitsge-


In Tierversuchen, in denen Einzelzella- dächtnisbelastungseffekt. Müssen fünf Gesichter
bleitungen durchgeführt wurden, zeigten sich behalten werden, ist die Durchblutung im DLPFC
während der Verzögerungsphase insbeson- (BA 46 und 9) stärker, als wenn nur drei Gesichter
dere starke neuronale Aktivitäten im lateralen behalten werden müssen (nach Linden, 2008).

Encodierphase Behaltensphase Abrufphase

Zeit

Abbildung 16-5: Typischer Ablauf eines Arbeitsgedächtnisexperiments mit der Encodier-, der Behal-
tens- und der späteren Abrufphase.

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512 16. Arbeitsgedächtnis

auch beobachtet, wenn die Arbeitsgedächtnis- 16.4. Verbales Arbeits-


aufgaben korrekt bearbeitet wurden. Je besser
gedächtnis
also die Arbeitsgedächtnisaufgabe bearbeitet
wurde, desto stärker waren die Aktivierungen Verbale Informationen im Arbeitsgedächtnis
in den beteiligten Hirngebieten (Erfolgs- zu halten, ist für das sprachliche Verständnis
effekt; Abb. 16-7). von herausragender Bedeutung. Ohne ein
Die neuronale Aktivierung in der Behal- funktionierendes verbales Arbeitsgedächtnis
tensphase ist offenbar ein für das Arbeitsge- könnten wir nicht lesen, keine verbalen Mittei-
dächtnis wichtiger physiologischer Kennwert. lungen verstehen oder auch selbst keine länge-
Wahrscheinlich ist sie durch die vermehrte ren Sätze formen. Das verbale Arbeitsgedächt-
Aufmerksamkeit bedingt, denn je komplexer nis wird auch für viele nicht offensichtlich ver-
die Arbeitsgedächtnisaufgabe, desto mehr bale Tätigkeiten genutzt, z. B. für den Umgang
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Aufmerksamkeit muss für die Bearbeitung zur mit Zahlen beim Rechnen. Viele Menschen
Verfügung gestellt werden. Fraglich ist jedoch, nutzen verbale Strategien, um einfache und
ob sich die Aktivitäten in der Behaltensphase komplexe Rechenoperationen durchzuführen.
eher auf den in der Encodierphase implemen- Um diese Rechenoperationen durchzuführen,
tierten Reiz (retrospektive Aktivierung) oder sind ebenfalls verbale Arbeitsgedächtnisleis-
auf die folgenden Reaktionen beziehen (pro- tungen notwendig, denn die einzelnen Zahlen
spektive Aktivierung). Zusammenfassend müssen im Gedächtnis gehalten werden. Im
kann allerdings festgehalten werden, dass die Folgenden werden drei spezielle Formen des
neuronale Aktivität in der Behaltensphase als verbalen Arbeitsgedächtnisses besprochen:
ein guter neuronaler Indikator für Arbeitsge- das phonologische, das graphembezogene
dächtnisprozesse aufgefasst werden kann. In und das semantische Arbeitsgedächtnis.
den folgenden Abschnitten werden wir uns mit
dem verbalen und visuellen Arbeitsgedächtnis
und anderen Formen des Arbeitsgedächtnis- 16.4.1. Phonologisches Arbeits-
ses detaillierter auseinandersetzen. gedächtnis

Gemäß dem Modell von Baddeley ist für das


Halten von verbalen Informationen im Ar-
beitsgedächtnis die phonologische Schleife
Arbeitsgedächtniserfolgseffekt verantwortlich, die aus einem phonologischen
IPS
Speicher und dem artikulatorischen Reakti-
Durchblutungszunahme

IPS vierungsmechanismus besteht. Die Unter-


scheidung dieser beiden Komponenten kann
zwei häufig replizierte Verhaltensphänomene
erklären: den phonologischen Ähnlichkeits-
effekt und den Wortlängeneffekt. Unter dem
falsch phonologischen Ähnlichkeitseffekt versteht
korrekt man das Phänomen, dass die Arbeitsgedächt-
nisleistung für Buchstaben, die ähnlich klin-
Abbildung 16-7: Darstellung des Erfolgseffekts
für das Arbeitsgedächtnis. Für die korrekt be- gen, schlechter ist als für Buchstaben, die un-
arbeiteten Arbeitsgedächtnisaufgaben ergaben terschiedlich klingen. Offenbar interferieren
sich stärkere Durchblutungen im Sulcus intrapa- ähnlich klingende Buchstaben, sodass es nicht
rietalis (nach Pessoa et al., 2002). mehr gelingt, diese Buchstaben im Arbeits-

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16.4.  Verbales Arbeitsgedächtnis 513

gedächtnis phonologisch voneinander zu tren- phonologisches Arbeitsgedächtnis


nen. Der phonologische Ähnlichkeitseffekt
bestätigt, dass es einen phonologischen Spei-
cher gibt, in dem verbale Informationen im
Arbeitsgedächtnis gehalten werden, d. h., dass
40
verbale Informationen in Klangform abge- 44
speichert werden. Ähnlich klingende Infor- 45
mationen, die allerdings unterschiedliche Be-
deutung haben, können dann nicht mehr
auseinandergehalten werden und werden in-
folgedessen nicht mehr effizient abgerufen, da
ähnliche Elemente verwechselt werden. Der
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Wortlängeneffekt beschreibt das Phänomen,


Abbildung 16-8: Hirngebiete, die in das phonolo-
dass kurze Wörter besser im Arbeitsgedächt-
gische Arbeitsgedächtnis involviert sind. Die
nis gehalten werden als längere Wörter. Kurze
Durchblutungszunahmen im unteren Teil des Pa-
Wörter erfordern für die artikulatorische Wie- rietallappens (BA 40) sind besonders stark, wenn
derholung weniger Zeit, sodass sie häufiger die Versuchspersonen ähnlich klingende Wörter
wiederholt werden können. Längere Wörter zu lernen hatten. Das Broca-Areal (BA 44, 45) ist
dagegen erfordern mehr Zeit, was dazu führt, umso stärker aktiviert, je mehr Silben die zu
dass sie seltener als kürzere Wörter im Arbeits- übenden Wörter enthalten.
gedächtnis subvokal wiederholt werden kön-
nen. Das führt dazu, dass die Gedächtnisspur
für längere Wörter schneller wieder „zerfällt“, ist, solche Silben im Gedächtnis zu halten,
bevor sie durch das artikulatorische Üben auf- sollte der phonologische Speicher besonders
gefrischt wird. stark aktiviert sein, denn er wird in die Lösung
Neuropsychologische Evidenz gewann dieser Aufgabe besonders intensiv einbezogen.
diese Zweiteilung der phonologischen Schleife Tatsächlich zeigten sich bei solchen Experi-
früh durch Läsionsstudien bei Patienten mit menten insbesondere im linksseitigen inferio-
Hirnverletzungen. Patienten mit Läsionen im ren Parietallappen stärkere Durchblutungs-
linksseitigen inferioren Parietallappen (BA 40) zunahmen. Das Broca-Areal dagegen war beim
konnten phonologische Informationen nicht Behalten von dreisilbigen Wörtern stärker ak-
mehr speichern, was darauf hinweist, dass tiviert als beim Behalten von einsilbigen Wör-
dieses Hirngebiet der phonologische Speicher tern. Dreisilbige Wörter artikulatorisch zu
ist. Patienten mit Läsionen im Broca-Areal üben, ist offenbar schwieriger als das artikula-
(BA 44 und 45) hatten Probleme mit dem ar- torische Üben einsilbiger Wörter (Abb. 16-8).
tikulatorischen Üben.
Die Rollenaufteilung zwischen dem links-
seitigen inferioren Parietallappen (phonologi- 16.4.2. Arbeitsgedächtnis
scher Speicher) und dem linksseitigen inferio- für Grapheme
ren Frontalkortex (artikulatorisches Üben)
konnte auch in fMRT-Studien an gesunden Während das phonologische Arbeitsgedächt-
Personen nachgewiesen werden. Ein typischer nis für die Verarbeitung von gesprochener
Versuchsansatz besteht darin, die Probanden Sprache zuständig ist, wird bei der Verarbei-
aufzufordern, unterschiedliche, aber ähnlich tung von Schriftzeichen das Arbeitsgedächt-
klingende Silben zu behalten. Da es schwierig nis für Grapheme genutzt. fMRT-Studien, in

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514 16. Arbeitsgedächtnis

denen Wörter visuell dargeboten wurden (z. B. mengefasst kann festgehalten werden, dass
Fiebach et al., 2006), offenbarten insbeson- das Arbeitsgedächtnis für Grapheme durch
dere im inferioren Temporallappen starke neuronale Netzwerke kontrolliert wird, die im
Durchblutungszunahmen in der Behaltens- linksseitigen inferioren Temporalkortex und
phase. Darüber hinaus konnten in diesem Ge- im linksseitigen Präfrontalkortex lokalisiert
biet stärkere Durchblutungen in dieser Phase sind. Der linksseitige inferiore Temporalkor-
identifiziert werden, wenn fünf statt zwei tex ist jene Hirnregion, in der Grapheme und
Wörter präsentiert wurden. Die Aktivität im Wörter gespeichert und analysiert werden.
inferioren Temporallappen korrelierte auch Insofern korrespondieren die Befunde bezüg-
mit der Genauigkeit, mit der die Arbeits- lich des Arbeitsgedächtnisses für Grapheme
gedächtnisaufgabe von den Probanden durch- mit den Annahmen von Cowan (2011) und
geführt wurde. Neben den Durchblutungs- Oberauer (2009), die von einem engen Zu-
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zunahmen im inferioren Temporallappen sammenhang zwischen Arbeitsgedächtnis


zeigten sich konsistent Durchblutungszunah- und den materialspezifischen Langzeitge-
men im inferioren Präfrontalkortex. Zusam- dächtnissystemen ausgehen.

2 C) 1.5 2 Wörter
A)
5 Wörter
Hirnaktivierung

1.5 Hirnaktivierung
1
1
0.5
0.5

0 0
Pseudo- Wörter Pseudo- Wörter
wörter wörter

B) D)
2 50
Treffer (%) 2–5 Wörter

40
Hirnaktivierung

1.5 30
20
1
10

0.5 0
–10
0 –20
Pseudo- Wörter –1 0 1 2 3
wörter Aktivität im IT
5–2 Wörter

Abbildung 16-9: Arbeitsgedächtnis für Grapheme (nach Fiebach et al., 2006). (A) Hirngebiet im inferioren
Temporallappen, das insbesondere beim Bearbeiten von Graphemen anspricht. (B) Bereich im inferioren
Temporallappen (posterior zu dem Gebiet in A), das besonders stark beim Bearbeiten von Pseudowörtern
reagiert. (C) Zusammenhang zwischen der Hirnaktivität in den beiden Gebieten des inferioren Tempo-
rallappens beim Halten und Manipulieren von Wörtern (Aktivierung aus der Region in A) und Pseudo-
wörtern (Aktivierung aus der Region in B) in Abhängigkeit von der Anzahl der zu behaltenden Worte. (D)
Zusammenhang zwischen der Aktivität im inferioren Temporallappen (IT) und der Anzahl der korrekt
verarbeiteten Wörter. Dargestellt sind die jeweiligen Differenzen zwischen Ergebnissen für die Bearbei-
tung von fünf und zwei Wörtern.

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16.4.  Verbales Arbeitsgedächtnis 515

16.4.3. Semantisches Arbeits- bindung gebracht werden. Offenbar sind die


gedächtnis Brodmann-Areale 45 und 47 auch in den für
Arbeitsgedächtnisprozesse typischen Reakti-
Es sind neurologische Patienten beschrieben vierungsmechanismus eingebunden, jedoch
worden, die stärker bei semantischen als bei vorrangig wenn semantische Arbeitsgedächt-
phonologischen Arbeitsgedächtnisaufgaben nisaufgaben bearbeitet werden. Auch die Be-
eingeschränkt waren. fMRT-Studien konnten funde zum semantischen Arbeitsgedächtnis
belegen, dass eine neuroanatomische Tren- korrespondieren mit den Vorstellungen von
nung zwischen dem phonologischen und Cowan und Oberauer bezüglich der Annahme
dem semantischen Arbeitsgedächtnis besteht. von materialspezifischen bzw. kategoriespezi-
Lässt man Probanden semantische und pho- fischen Speichersystemen (s. o.).
nologische Arbeitsgedächtnisaufgaben durch-
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führen, dann offenbaren sich je nach Aufgabe


unterschiedliche Aktivierungsmuster. Bei den 16.4.4. Zusammenfassung zum ver-
semantischen Arbeitsgedächtnisaufgaben zei- balen Arbeitsgedächtnis
gen sich insbesondere Durchblutungszunah-
men im linksseitigen inferioren Frontal- Das phonologische Arbeitsgedächtnis greift
kortex (Brodmann-Areale 45 und 47) und im auf den linksseitigen inferioren Parietallap-
linksseitigen Temporallappen (Brodmann- pen (als phonologischer Speicher) und den
Areale 22 und 21; Abb. 16-10). Die linksseiti- linksseitigen inferioren Frontalkortex zurück
gen ­Brodmann-Areale 45 und 47 sind auch (als Hirngebiet, in dem das artikulatorische
in andere semantische Operationen (Abruf Üben stattfindet). Das Arbeitsgedächtnis für
und semantische Verarbeitung) eingebunden Grapheme beinhaltet den linksseitigen infe-
(Kap. 14). Das Brodmann-Areal 47 ist etwas rioren Temporallappen. Das semantische Ar-
unterhalb des Brodmann-Areals 44 lokalisiert, beitsgedächtnis greift auch auf den linksseiti-
das eher in Prozesse eingebunden ist, die mit gen inferioren Temporalkortex zurück, nutzt
dem phonologischen Arbeitsgedächtnis in Ver- aber auch den linksseitigen inferioren Fron-

semantisches Arbeitsgedächtnis verbales Arbeitsgedächtnis

9
46
40
45
45 44
1 1
,2 ,2
22 22
47 47 IT

Abbildung 16-10: Hirngebiete, die in die Bearbei- Abbildung 16-11: Hirngebiete, die in die Kontrolle
tung des semantischen Arbeitsgedächtnisses des verbalen Arbeitsgedächtnisses eingebunden
eingebunden sind. sind.

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516 16. Arbeitsgedächtnis

talkortex. Diese Befunde können mit allen spielreize zu bearbeiten haben, dann müssen
Modellen des Arbeitsgedächtnisses in Ein- wahrscheinlich die Augenbewegungen auch
klang gebracht werden. In Übereinstimmung entsprechend kontrolliert werden. Wahr-
mit dem Baddeley-Modell können für die scheinlich wird auch die Blickrichtungsposition
Speicherung und den Reaktivierungsmecha- beim Betrachten des Beispielreizes festgehal-
nismus unterschiedliche Hirngebiete iden- ten und beim Vergleich und der nachfolgenden
tifiziert werden. Die Befunde, wonach für Entscheidung beim Betrachten des Zielreizes
unterschiedliche Aufgaben (Halten und Mani- wieder abgerufen. Dies erfordert offenbar ein
pulieren von phonologischen und semanti- Zusammenspiel des frontalen Augenfeldes und
schen Informationen sowie von Graphem- des intraparietalen Sulcus. Das frontale Augen-
informationen) auch unterschiedliche Hirn- feld codiert die Blickbewegung und der intra-
gebiete aktiviert sind, sprechen für die parietale Sulcus die räumliche Position, in die
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Modelle von Cowan und Oberauer. der Blick gelenkt werden soll.
Die Aktivierungen variieren jedoch beim
Menschen je nach genutztem Reizmaterial er-
16.5. Visuelles Arbeits- heblich. Werden Objekte als Reize genutzt
gedächtnis (Arbeitsgedächtnis für Objekte), zeigen sich
auch Aktivierungen in Hirngebieten, die an
Das visuelle Arbeitsgedächtnis besteht aus der Wahrnehmung und Speicherung der jewei-
zwei Komponenten: dem räumlichen Ar- ligen Objekte beteiligt sind. Werden z. B. in
beitsgedächtnis und dem Arbeitsgedächt- den Delayed-matching-to-sample-Aufgaben
nis für Objekte. In Tieruntersuchungen wur- Häuser als Reize verwendet, ergeben sich
den häufig sogenannte Delayed-matching-to- Durchblutungszunahmen im medial gelege-
sample-Aufgaben verwendet, um die neuro- nen Bereich des Gyrus fusiformis und/oder
nalen Grundlagen des Arbeitsgedächtnisses im Gyrus parahippocampalis. Werden da-
zu untersuchen. Bei diesen Aufgaben werden gegen Gesichter als Reize verwendet, dann
visuell ein Beispiel- und mehrere Zielreize zeigen sich Aktivierungen im lateralen Teil
zeitlich verzögert dargeboten. Die Behaltens- des Gyrus fusiformis. Offenbar werden kate-
phase kann mehrere Sekunden lang sein. Aus goriespezifische Hirngebiete für das Halten
den Zielreizen muss das Tier dann jenen Reiz von Informationen genutzt. Werden nicht Ob-
auswählen, der mit dem Beispielreiz iden- jekte, sondern räumliche Zusammenhänge
tisch ist. Das Tier muss den visuellen Bei- als Reizmaterial dargeboten (räumliches Ar-
spielreiz im Arbeitsgedächtnis halten und beitsgedächtnis), wird der Parietallappen,
überprüfen, ob der Beispielreiz zu dem Ziel- und hier insbesondere der intraparietale Sul-
reiz passt, und entsprechende Entscheidun- cus, aktiviert.
gen vornehmen. In der Behaltensphase „feu- Zur Untersuchung des räumlichen Arbeits-
ern“ v. a. Neurone im frontalen Augenfeld, gedächtnisses wird z. B. der Blockspannentest
im dorsolateralen Präfrontalkortex und im eingesetzt (Abb. 16-12). Dieser Test besteht
Parietallappen, und hier insbesondere im in- aus einigen kleinen Blöcken. Der Versuchs-
traparietalen Sulcus (IPS). leiter zeigt nacheinander auf drei, vier oder
Ähnliche Befunde konnten auch bei fMRT- fünf verschiedene Blöcke. Der Proband muss
Untersuchungen beim Menschen festgestellt anschließend diese Blöcke in umgekehrter
werden. Die Aktivitäten im frontalen Augen- Reihenfolge anzeigen. In der Behaltensphase
feld sind noch ausgeprägter, wenn die Pro- ergeben sich Aktivierungen im Parietallappen
banden großflächige visuelle Ziel- und Bei- und im intraparietalen Sulcus. Ein anderer

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16.5.  Visuelles Arbeitsgedächtnis 517

Blockspannentest dem Drehwinkel. Bei der Durchführung die-


ser Aufgabe sind je nach Schwierigkeit und
2 Expertise der Versuchspersonen der intrapa-
1
3 rietale Sulcus, Objekterkennungsnetzwerke
4 im inferioren Temporallappen und der dorso-
laterale Frontalkortex aktiviert (Abb. 16-13).
5
7
Die Dissoziation zwischen dem Arbeits-
6 gedächtnis für Objekte und dem räumlichen
8 9 Arbeitsgedächtnis wird auch durch Verhaltens-
untersuchungen belegt. Werden z. B. Block-
und Objektspannentests ohne und mit gleich-
mentaler Rotationstest
zeitigen Interferenzaufgaben durchgeführt,
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ergeben sich typische Leistungseinbußen je


nach Art der gleichzeitig durchgeführten Inter-
ferenzaufgabe. Wird der Blockspannentest
gleichzeitig mit einer räumlichen Interferenz-
aufgabe durchgeführt, nehmen die Leistungen
im Blockspannentest ab. Bearbeitet die Ver-
suchsperson den Blockspannentest, während
Abbildung 16-12: Blockspannentest und men-
sie gleichzeitig einen Objektspannentest be-
taler Rotationstest.
arbeitet, dann verringern sich die Leistungen
im Blockspannentest nicht. Beim Objektspan-
Test, mit dem visuell-räumliche Arbeits- nentest muss sich die Versuchsperson Objekte
gedächtnisleistungen erfasst werden, ist der merken und diese manipulieren und nicht mit
mentale Rotationstest.44 In der Originalform räumlichen Informationen umgehen. Offenbar
dieses Tests werden zwei zwei- oder dreidi- stört das gleichzeitige räumliche Bearbeiten
mensionale Figuren nebeneinander präsen- der Interferenzaufgabe das Bearbeiten des
tiert. Eine Figur ist der Standardreiz und die Blockspannentests. Umgekehrt führt nur das
andere ist der Vergleichsreiz. Der Vergleichs- gleichzeitige Bearbeiten eines Objektinterfe-
reiz kann im Vergleich zum Standardreiz ge-
dreht oder spiegelverkehrt angeordnet sein
oder er ist dem Standardreiz nur ähnlich, aber Frauen Männer
eben nicht identisch. Um zu entscheiden, ob
5 5
Standard- und Vergleichsreiz übereinstim-
4 4
men, muss die Versuchsperson einen oder
2 2
beide Reize mental drehen und dabei ständig
Vergleiche durchführen. Die Schwierigkeit 1
1
der Aufgabe, die beiden Figuren miteinander 3
in Deckung zu bringen, steigt mit zunehmen-
Abbildung 16-13: Typische Durchblutungszunah-
44  Der mentale Rotationstest gilt zwar nicht als ty- men beim Lösen von mentalen Rotationsauf-
pischer räumlicher Arbeitsgedächtnistest, die Leis- gaben (nach Jordan et al., 2002). 1:  okzipitaler
tungen in diesem Test korrelieren jedoch hoch mit Kortex (visuelle Areale),2: intraparietaler Sulcus,
denen, die in typischen räumlichen Arbeitsgedächt- 3: Gyrus fusiformis, 4: Motorkortex, 5: Prämotor-
nistests erzielt werden. kortex.

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518 16. Arbeitsgedächtnis

renztests zu Leistungseinbußen beim Objekt- das tonale und das verbale auditorische Ar-
spannentest, aber nicht das gleichzeitige Be- beitsgedächtnis die gleichen Hirnstrukturen
arbeiten einer räumlichen Interferenzaufgabe verwendet. Zusätzlich beteiligt ist bei diesem
(Della Sala et al., 1999). Arbeitsgedächtnissystem der sekundäre audi-
torische Kortex (Abb. 16-14). Bei Musikern, die
Experten im Verwenden des tonalen auditori-
16.6. Auditorisches Arbeits- schen Arbeitsgedächtnisses sind, zeigen sich
gedächtnis zusätzliche Aktivierungen insbesondere in
den Basalganglien, im Kleinhirn und im Cu-
Neben dem phonologischen Arbeitsgedächt- neus (Schulze et al., 2011). Auch diese Be-
nis, das eine Form des auditorischen Ar- funde belegen die zumindest teilweise ge-
beitsgedächtnisses ist, existiert auch ein nicht- nutzte kategoriespezifische Verarbeitung im
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verbales auditorisches Arbeitsgedächtnis. Arbeitsgedächtnis.


Diese Form des auditorischen Arbeitsgedächt-
nisses wird genutzt, wenn man sich z. B. Töne
oder Melodien merkt, um sie mit anderen Tö- 16.7. Die Rolle des dorsolate-
nen und Melodien zu vergleichen. Zur Unter- ralen Präfrontalkortex
suchung der neuronalen Grundlagen dieses
Arbeitsgedächtnissystems werden ebenfalls Der dorsolaterale Präfrontalkortex ist offen-
Verzögerungsparadigmen genutzt, in denen bar modalitätsunabhängig wichtig für das Ar-
die Probanden Beispieltöne oder -melodien beitsgedächtnis. Bislang ist jedoch nicht ab-
hören und diese für einige Sekunden im Ge- schließend geklärt, welche Funktion der Prä-
dächtnis halten müssen, um sie später mit Ver- frontalkortex bei der Durchführung von Ar-
gleichstönen oder -melodien zu vergleichen. beitsgedächtnisaufgaben ausübt. In der Lite-
Die bei tonalen auditorischen Arbeitsgedächt- ratur werden aktuell zwei Vorstellungen über
nisaufgaben zu beobachtenden Hirnaktivie- die grundsätzliche Rolle des Präfrontalkortex
rungen decken sich im Wesentlichen mit den bei Arbeitsgedächtnisfunktionen diskutiert,
typischen Hirnaktivierungen beim phonologi- die sich hinsichtlich der Funktionen unter-
schen Arbeitsgedächtnis. Offenbar werden für scheiden, die dem ventrolateralen und dem
dorsolateralen Präfrontalkortex zugeschrie-
ben werden. Die sogenannten inhaltsbasier-
ten Modelle betrachten den ventralen Prä-
frontalkortex als eine Hirnregion, die ins-
besondere für das Arbeitsgedächtnis für Ob-
jekte spezialisiert ist. Der dorsolaterale Prä-
40
44
frontalkortex dagegen soll mehr in räumliche
1
Arbeitsgedächtnisfunktionen eingebunden
45 ,2
22 sein. Die prozessbasierten Modelle gehen
davon aus, dass der ventrale Präfrontalkortex
vorrangig für das Halten von Informationen
spezialisiert ist, während der dorsolaterale
Präfrontalkortex mehr mit komplexen Prozes-
sen wie der Aufgabenüberwachung und dem
Abbildung 16-14: Typische Durchblutungszunah- Manipulieren von Informationen betraut sein
men beim auditorischen Arbeitsgedächtnis. soll (Abb. 16-15).

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16.8.  Elektrophysiologie des Arbeits­gedächtnisses 519

& Smith, 2003). Für die prozessbasierten Mo-


delle sprechen auch Ergebnisse, die belegen,
dass die Präfrontalkortexaktivität dann be-
DLPFC
Prozess: Manipulation sonders stark ist, wenn die Arbeitsgedächtnis-
Inhalt: räumlich
aufgabe korrekt gelöst wird. Dies spricht dafür,
dass der dorsolaterale Präfrontalkortex in die
VLPFC Organisation der Informationen innerhalb des
Prozess: Halten Arbeitsgedächtnisses eingebunden ist. Durch
Inhalt: objektbezogen
diese Organisation der im Arbeitsgedächtnis
zu haltenden Informationen werden diese
dann weniger anfällig für Distraktoren. Das
Organisieren der im Arbeitsgedächtnis zu hal-
Abbildung 16-15: Diskutierte Funktionen des
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tenden Informationen ist aufwendiger und


dorsolateralen Präfrontalkortex (DLPFC) und des
ventrolateralen Präfrontalkortex (VLPFC): inhalts- komplexer als das Halten der Informationen
vs. prozessbasierte Modelle. im Arbeitsgedächtnis. Dieser zusätzliche Pro-
zessierungsaufwand erfordert mehr kognitive
Ressourcen. Ein experimentelles Beispiel für
die Unterstützung des prozessbasierten Mo-
Die inhaltsbasierten Modelle folgen der dells ist die Arbeit von D’Esposito und Kolle-
Überlegung, dass der ventrale Pfad für Objekt- gen (1999). In dieser Arbeit mussten die Pro-
verarbeitung im ventrolateralen Präfrontal- banden in der Behaltensphase Wörter im
kortex endet. Der dorsale Pfad, der vorrangig Arbeitsgedächtnis halten (Haltebedingung)
in die räumliche Verarbeitung eingebunden oder sie zusätzlich buchstabieren (Buchsta-
ist, soll dagegen im dorsolateralen Präfron- bierbedingung). In der Behaltensphase zeigten
talkortex terminieren. In der Tat konnten in sich wie erwartet starke Durchblutungszunah-
Tierversuchen einige Frontalkortexneurone men im ventralen und dorsolateralen Präfron-
identifiziert werden, die spezifisch auf Objekt- talkortex. Die Aktivität im dorsolateralen Prä-
informationen (im ventrolateralen Frontal- frontalkortex war allerdings während der
kortex) oder Rauminformationen (im dorso- Buchstabierbedingung besonders stark, was
lateralen Präfrontalkortex) ansprechen. Es dafür spricht, dass der zusätzliche Kontrol-
sind jedoch auch Befunde berichtet worden, laufwand ein Eingreifen des dorsolateralen
wonach im lateralen Präfrontalkortex Neu- Präfrontalkortex nötig macht.
rone existieren, die sowohl auf räumliche wie
auch auf objektbezogene Informationen an-
sprechen.
16.8. Elektrophysiologie
fMRT-Untersuchungen am Menschen ha- des Arbeits­
ben diesbezüglich unterschiedliche Ergeb- gedächtnisses
nisse erbracht. Obwohl Befunde vorliegen, die
beide Modelle unterstützen, scheint sich zu- Das Arbeitsgedächtnis ist auch elektrophysio-
nehmend durchzusetzen, dass prozessbasierte logisch mittels des EEG und des MEG sehr in-
Modelle mehr Erklärungswert haben. Vor al- tensiv untersucht worden. Hierbei zeigten sich
lem neuere Metaanalysen haben gezeigt, dass insbesondere typische Oszillationsmuster in
mit zunehmender Komplexität der Arbeits- verschiedenen Frequenzbereichen während
gedächtnisaufgabe immer mehr dorsale Fron- des Durchführens von Arbeitsgedächtnisauf-
talkortexbereiche einbezogen werden (Wager gaben. Besonders intensiv wurde in diesem Zu-

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520 16. Arbeitsgedächtnis

zu Beginn nach dem


des Experiments Üben

einfache
Aufgabe

schwere
Aufgabe
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Abbildung 16-16: Typisches Ergebnis bezüglich FM-Theta. Mit zunehmender Schwierigkeit der Arbeits-
gedächtnisaufgabe nimmt die FM-Theta-Aktivität zu. Rechts sind die intrazerebralen Quellen der FM-
Theta-Aktivität dargestellt.

sammenhang die Theta-Frequenz (genauer: Aufrechterhaltung von Aufmerksamkeit45 oder


die Energie oder der Anteil dieses Frequenz- der Überwachung der Aufgabendurchführung
bandes) über frontalen und zentralen Elektro- verbunden ist. Dafür spricht u. a., dass die in-
denpositionen (Elektrodenpositionen F3, F4 trazerebralen Quellen der FM-Theta-Aktivität
und Fz) untersucht. Das Theta-Band ist die im anterioren Cingulum lokalisiert wurden,
EEG-Oszillation im Frequenzbereich zwischen einem Hirngebiet, das in die Kontrolle von exe-
4 und 7 Hz. Weil diese Oszillation über zen- kutiven Funktionen, und hier insbesondere
tralen und frontalen Elektrodenpositionen ge- in die Überwachung ablaufender kognitiver
messen wird, wird dieser Kennwert auch Funktionen, eingebunden ist.
Frontal-Midline-Theta (FM-Theta) genannt. Neuere Arbeiten haben des Weiteren ge-
FM-Theta variiert mit der Aufgabenschwierig- zeigt, dass sich nicht nur die Power im Theta-
keit, der Gedächtnisbelastung (memory load) Band (besonders über der frontalen Mittel-
und der tonischen Aufmerksamkeit. Besonders linie), sondern auch die Power im Alpha-Band
stark ist FM-Theta in der Behaltensphase bei charakteristisch verändert. Besonders das un-
Arbeitsgedächtnisaufgaben (Retentionsphase). tere Alpha-Band (8–10 Hz) indiziert neurophy-
In der Regel zeigt sich auch mit zunehmender siologische Prozesse, die bei Arbeitsgedächt-
Schwierigkeit der Arbeitsgedächtnisaufgabe nisaufgaben beteiligt sind. Intrakortikale
eine FM-Theta-Zunahme. Ob allerdings FM- Quellenschätzungen haben ergeben, dass die
Theta ausschließlich mit der Kontrolle von Ar-
beitsgedächtnisfunktionen verbunden ist, ist 45  Wie oben dargestellt, ist die Aufmerksamkeit
noch nicht abschließend geklärt. Es ist auch wesentlich für die Arbeitsgedächtnismodelle im
sehr wahrscheinlich, dass FM-Theta mit der Sinne von Cowan und Oberauer.

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16.8.  Elektrophysiologie des Arbeits­gedächtnisses 521

Hirngebiete, welche die Alpha-Band-Aktivität Diese Theta-Band-Desynchronisationen wa-


generieren, im lateralen DLPFC und im hin- ren besonders ausgeprägt vor allem bei
teren Temporallappen (Gyrus temporalis su- schwierigen Arbeitsgedächtnisaufgaben (Stei-
perior, Gyrus temporalis medius, Gyrus tem- ger et al., 2019) (siehe auch Abb. 16-18).
poralis inferior) sowie im Lobulus parietalis Neben der FM-Theta-Aktivität ist auch
inferior lokalisiert sind. Die Hirngebiete im überprüft worden, ob sich die Theta-Oszill-
Temporal- und Parietallappen sind bekannt- ation über dem ganzen Gehirn während des
lich Speicherstrukturen für das Gedächtnis Durchführens von Arbeitsgedächtnisaufgaben
(Maurer et al., 2015) (siehe auch Abb. 16-17). verändert. Hierbei konnte gezeigt werden,
Diese EEG-Aktivierungen scheinen sich dass die Theta-Kohärenz (im Wesentlichen ist
nach neueren Erkenntnissen mit zunehmen- dies die Korrelation der EEG-Oszillationen im
dem Alter der Versuchspersonen zu ändern. Theta-Frequenzbereich, die an verschiedenen
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Während bei jüngeren Versuchspersonen in Elektroden gemessen werden) über frontalen,


der Regel eine Theta-Band-Synchronisation parietalen und temporalen Hirngebieten beim
während des Bearbeitens von Arbeitsgedächt- Bearbeiten von Arbeitsgedächtnisaufgaben
nisaufgaben zu beobachten ist, sind bei Senio- (insbesondere in der Retentionsphase) zu-
ren Desynchronisationen berichtet worden. nimmt. Dieser Befund korrespondiert mit den

Theta-Band

Unteres
Alpha-Band

Abbildung 16-17: Kortikale Quellen, die bei der Bearbeitung von Arbeitsgedächtnisaufgaben beteiligt
sind. Im oberen Bildteil ist das vordere Cingulum gekennzeichnet, das für die Generierung der Theta-
Power (hier Zunahme im Vergleich zu einer Ruhebedingung: Synchronisation) verantwortlich ist. Im
unteren Teil der Abbildung sind die Hirngebiete gekennzeichnet, die für die Generierung der Alpha-Band-
Power während des Durchführens der Arbeitsgedächtnisaufgabe zuständig sind (hier ist eine Ab-
nahme der Alpha-Band-Power im Vergleich zu einer Ruhebedingung dargestellt: Desynchronisation).
Nachgezeichnet und verändert nach Maurer et al. (2015).

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522 16. Arbeitsgedächtnis
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Abbildung 16-18: Dargestellt ist die Entwicklung der Power im Frequenzbereich von 3–30 Hz über einen
Zeitraum von 3.5 Sekunden während der Behaltensphase beim Bearbeiten einer Arbeitsgedächtnisauf-
gabe. Im oberen Abbildungsteil ist die Desynchronisation (im Vergleich zur Baseline) dargestellt. Im
unteren Abbildungsteil sind analog die Synchronisationen dargestellt. Die dunklen Grautöne repräsen-
tieren hohe Power. Man erkennt, dass mit zunehmendem Schwierigkeitsgrad der Arbeitsgedächtnisauf-
gabe die Desynchronisationen im Alpha- und Theta-Band zunehmen. Nachgezeichnet und verändert
nach Steiger et al. (2019).

fMRT-Befunden, die ja auch zeigen, dass in Gamma-Band-Power zunahmen (z. B. Gries-


der Retentionsphase frontale, parietale und mayr et al., 2010). Das Gamma-Band ist eine
temporale Hirnregionen aktiv sind. hochfrequente Oszillation im Frequenzbereich
In weiteren Arbeiten zum Arbeitsgedächtnis von 30 bis 80 Hz, die mit Bewusstseins- und
fokussierte man sich nicht nur auf das Theta- Gedächtnisprozessen in Verbindung gebracht
und Alpha-Band, sondern interessierte sich wird. Es wird davon ausgegangen, dass diese
auch für die Korrelation zwischen der FM- Kohärenz zwischen FM-Theta- und Gam­
Theta-Aktivität und der Gamma-Band-Fre- ma-Band-Aktivität die neurophysiologischen
quenz über frontalen, parietalen und tempo- Grundlagen der Überwachungsfunktionen re-
ralen Hirnbereichen. In einigen Arbeiten präsentiert, die beim Memorieren von Gedächt-
konnte gezeigt werden, dass während des nisinformationen ablaufen. Neben diesem Zu-
Durchführens von Arbeitsgedächtnisaufgaben sammenhang zwischen der FM-Theta- und der
die Korrelationen zwischen der Theta- und Gamma-Band-Aktivität ist auch das Gamma-

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16.9. Zusammenfassung 523

A)

T5 T5 T3
T3

Fp1

Fp1
O1 F7 O1 F7

F3 F3
P3 P3
C3 C3

Pz Cz Fz Pz Cz Fz
B)
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C4 C4
F4 F4
P4 P4
Fp2

Fp2
F8 O2 F8
O2

T4 T4
T6 T6

Abbildung 16-19: Dargestellt sind die Kohärenzen zwischen verschiedenen Elektrodenpositionen im


Theta-Band während des Durchführens unterschiedlich schwerer Arbeitsgedächtnisaufgaben. (A) Er-
gebnisse für das Behalten von Graphemen und (B) für das Behalten von Zeichnungen. (Nachgezeichnet
nach Sarnthein et al., 1998)

Band allein, d. h. ohne direkten Bezug zu ande- mit Arbeitsgedächtnisprozessen in Verbin-
ren Frequenzbändern, mit Arbeitsgedächtnis- dung gebracht. Da diese Komponenten aber
prozessen in Verbindung gebracht worden. auch mit anderen psychischen Prozessen zu-
Gamma-Band-Aktivität tritt auf, wenn Arbeits- sammenhängen (z. B. Aufmerksamkeit und
gedächtnisaufgaben bearbeitet werden, und Orientierungsreaktionen, semantische Ge-
kann mitunter auch in Abhängigkeit von der dächtnisprozesse), werden sie nicht originär
Aufgabenschwierigkeit zunehmen. als Indikatoren von Arbeitsgedächtnisleis-
Man findet auch gelegentlich eine Ab- tungen aufgefasst.
nahme der Energie im Beta-Band. Diese Ener-
giereduktionen im Alpha- und Beta-Band sind
bei schwierigen Aufgaben am stärksten und 16.9. Zusammenfassung
dauern bei diesen Aufgaben auch am längsten.
Die zeitliche Struktur der neurophysiologi- • Das wesentliche Charakteristikum des Ar-
schen Prozesse wurde auch mit evozierten beitsgedächtnisses ist das Halten und Ma-
Potenzialen untersucht. Allerdings sind die nipulieren von Informationen.
Befunde nicht einheitlich. Gelegentlich wer- • Das Halten der Informationen erfolgt durch
den die P300- und die N400-Komponenten tonische neuronale Aktivität in posterioren

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524 16. Arbeitsgedächtnis

Hirngebieten (Parietal- und Temporallap- räumliche Analysen eingebunden, während


pen). Übergeordnete Kontrollen der Ar- das frontale Augenfeld mit der Steuerung
beitsgedächtnisfunktionen und die damit der Augenbewegung betraut ist.
verbundenen Manipulationen werden über • Das Arbeitsgedächtnis für Objekte ist mit
frontale Hirngebiete geregelt. okzipitotemporalen Aktivierungen assozi-
• Drei psychologische Arbeitsgedächtnis- iert. Je nach Objekt, das im Arbeitsgedächt-
modelle wurden vorgestellt: das Modell nis gehalten wird, werden unterschiedliche
von Alan Baddeley, das von Nelson Cowan Teilgebiete im Okzipitotemporallappen ge-
und das von Klaus Oberauer. nutzt. Werden z. B. Gesichtsbilder memo-
• Welches spezifische Hirngebiet (insbeson- riert, ist v. a. das fusiforme Gesichtsareal
dere der posterioren Hirngebiete) in die aktiv. Beim Halten von Bildern, auf denen
entsprechenden Arbeitsgedächtnisfunktio- Objekte dargestellt sind, ist v. a. der Gyrus
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nen eingebunden wird, hängt von der jewei- parahippocampalis aktiv.


ligen Information ab, die gehalten und ma- • Das auditorische Arbeitsgedächtnis nutzt
nipuliert wird (kategoriespezifisches Ar- den sekundären auditorischen Kortex für
beitsgedächtnis). das Halten und Speichern von Informa-
• Die Hirngebiete, die an der Kontrolle des tionen.
verbalen Arbeitsgedächtnisses beteiligt • Bezüglich der spezifischen Funktion des
sind, sind vorrangig linkslateralisiert. Die Präfrontalkortex bei Arbeitsgedächtnis-
Speicherstrukturen befinden sich im links- funktionen werden aktuell inhaltsbasierte
lateralisierten inferioren Parietallappen und prozessbasierte Modelle diskutiert. Die
(Brodmann-Areal 40) für phonologische prozessbasierten Modelle haben derzeit
Informationen, im linksseitigen inferioren mehr Erklärungskraft.
Temporallappen (Brodmann-Areal 21) für • Je komplexer und schwieriger die Arbeits-
semantische Informationen und im inferio- gedächtnisaufgabe wird, desto stärker wer-
ren Temporallappen im Wortformareal für den die lateralen Präfrontalkortexbereiche
Wortinformationen (Brodmann-Areale 37 in die Kontrolle mit einbezogen. Es ist auch
und 19). eine zunehmend bilaterale Aktivierung des
• Die Hirngebiete, die in das „Rehearsal“ für lateralen Präfrontalkortex mit zunehmen-
phonologische Informationen eingebunden der Aufgabenschwierigkeit festzustellen.
sind, befinden sich im Broca-Areal (Brod- • Die mit dem EEG gemessene Theta-Akti-
mann-Areal 44) und im inferioren Frontal- vität über frontalen und zentralen Hirn-
kortex (Brodmann-Areale 45 und 47). gebieten hängt von der Schwierigkeit der zu
• Die Hirngebiete, die in nonverbale Ar- lösenden Arbeitsgedächtnisaufgabe ab.
beitsgedächtnisfunktionen eingebunden Diese spezielle Theta-Aktivität wird als FM-
sind, befinden sich vorrangig auf der rech- Theta bezeichnet.
ten Hemisphäre. Sie unterscheiden sich je- • Die intrazerebralen Quellen der FM-Theta-
doch für das räumliche Arbeitsgedächtnis Aktivität befinden sich v. a. im anterioren
und das Arbeitsgedächtnis für Objekte. Cingulum.
• Das visuell-räumliche Arbeitsgedächtnis • Man findet auch Alpha-Band-Desynchro-
wird von einem frontoparietalen Netzwerk nisationen während des Bearbeitens von
kontrolliert. Zu diesem Netzwerk gehören Arbeitsgedächtnisaufgaben. Die intrazere-
das frontale Augenfeld (Brodmann-Areal 8) bralen Quellen befinden sich vorrangig im
und der intraparietale Sulcus (Brodmann- unteren Parietallappen und im hinteren
Areal 7). Der intraparietale Sulcus ist in Temporallappen.

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16.11.  Weiterführende Literatur 525

• Die FM-Theta-Aktivität während des Durch- • Was wird im Zusammenhang mit dem Ar-
führens von Arbeitsgedächtnisaufgaben beitsgedächtnis unter prozess- und/oder
korreliert auch mit der globalen Gamma- inhaltsorientierten Modellen vestanden?
Band-Aktivität. • Welche Rolle nimmt der Frontalkortex bei
• Beim Lösen von Arbeitsgedächtnisaufgaben der Kontrolle des Arbeitsgedächtnisses ein?
nimmt die Kohärenz (Zusammenhang) der • In welchem Zusammenhang stehen die
Theta-Oszillationen in frontalen, parietalen Theta-, Gamma-, Alpha- und Beta-Oszil-
und temporalen Hirngebieten zu. lationen des EEG mit dem Arbeitsge­
• Auch die Gamma-Band-Aktivität tritt beim dächtnis?
Lösen von Arbeitsgedächtnisaufgaben ver-
mehrt auf.
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16.10. Fragen und Aufgaben 16.11. Weiterführende Literatur

• Definieren Sie das Arbeitsgedächtnis. Baddeley, A. (2003). Working memory: looking

• Beschreiben Sie die drei gängigen Arbeits- back and looking forward. Nature reviews.
Neuroscience, 4(10), 829–39.
gedächtnismodelle (Baddeley, Cowan,
Baddeley, A., Eysenck, M., Anderson, M. C.
Oberauer). (2009). Memory. London: Psychology Press.
• Beschreiben Sie typische Arbeitsgedächt- Wagner, A. D., Shannon, B. J., Kahn, I., Buckner,
nisaufgaben für das phonologische, seman- R. L. (2005). Parietal lobe contributions to
tische, visuelle und räumliche Arbeits- episodic memory retrieval. Trends Cogn Sci,
gedächtnis. 9(9), 445–453.

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527

17. Plastizität
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17.1. Einleitung 529

17.1. Einleitung auch das Erwachsenengehirn erstaunlich


plastisch ist.
Das menschliche Gehirn ist ein komplexes Die Plastizität des Gehirns ist wahrschein-
Netzwerk, das sich bis ins Alter erfahrungs- lich auch die Grundlage für die enorme Lern-
abhängig ständig verändert. Viele Reifungs- fähigkeit des Menschen. Wie kein anderes Tier
prozesse werden nicht allein durch genetische kann der Mensch unterschiedliche Kommuni-
(oder andere biologische) Faktoren beein- kationsformen entwickeln und lernen. Wir
flusst, sondern auch durch Erfahrung und sprechen mehr als 20 000 Dialekte und ca.
Lernen (Kap. 4). Die durch Erfahrung aus- 6 000 Sprachen. Wir haben die Schriftsprache
gelöste Veränderung des Gehirns wird als Neu- entwickelt, um unser Wissen weiterzugeben
roplastizität, Gehirnplastizität oder neuronale und zu konservieren, und wir lernen Musik-
Plastizität bezeichnet. Unterschieden wird die instrumente spielen. Diese Lernfähigkeit er-
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funktionelle von der strukturellen Neuroplas- möglicht es, Kultur zu entwickeln. Sie erlaubt
tizität. Unter der funktionellen Neuroplas- uns, flexible Gesellschaftssysteme zu kon-
tizität wird die Veränderung der funktionellen struieren, auf konventionellen Normen auf-
Neuroanatomie als Resultat von Erfahrungen bauend, und wir lernen, dass diese Gesell-
verstanden. Dies können stärkere oder auch schaftssysteme für die jeweiligen Mitglieder
schwächere neurophysiologische Aktivierun- zur Norm werden. Im Grunde ermöglicht uns
gen in den betroffenen Hirngebieten sein. die Neuroplastizität das Lernen; und dies wie-
Möglich ist auch, dass neue Neuronengruppen derum macht uns zu individuellen Wesen,
in die Kontrolle der psychischen Funktionen denn jeder Mensch hat eigene, für ihn spezielle
eingebunden werden. Mit der funktionellen Lernerfahrungen gemacht. Dies führt zu einer
Neuroplastizität hängt die strukturelle Neu- enormen Vielfalt an Normen und individuel-
roplastizität zusammen, womit strukturelle len Besonderheiten und wir sind enorm an-
Veränderungen des Gehirns als Resultat von passungsfähig.
Erfahrungen bezeichnet werden. Dies können William James wird das Verdienst zuge-
Veränderungen der grauen und weißen Sub- sprochen, der Erste gewesen zu sein, der das
stanz sein. Prinzip der Plastizität erwähnt hat (James,
Im Zusammenhang mit Neuroplastizität 1890). Einen aus der Sicht der Neurophy-
kommt zwangsläufig die Frage auf, welche siologie relevanten Diskussionsbeitrag zur
Rolle die Genetik spielt. Heutzutage hat sich Neuroplastizität hat Jerzy Konorski (ein Schü-
die Sichtweise durchgesetzt, dass „Umwelt“ ler von Iwan Pawlow) erst 1948 vorgelegt­
und „Genetik“ zusammenspielen. Insofern (Konorski, 1948). In diesem Buch hat er
kann davon ausgegangen werden, dass Neuro- die neurophysiologischen Mechanismen be-
plastizität und Genetik interagieren. Über ge- schrieben, die dem klassischen und operanten
netische Einflüsse werden die Rahmenbedin- Konditionieren zugrunde liegen. Konorski
gungen für die Entwicklung des Gehirns und scheint mit seiner Arbeit früher als Donald O.
dessen erfahrungsbedingte Beeinflussung Hebb die Grundlagen für die neuronale Plas-
festgelegt. Einige Hirngebiete (z. B. die primä- tizität beschrieben zu haben, denn Hebbs
ren Motor- und die sensorischen Areale) sind Buch erschien erst ein Jahr später (Hebb,
wahrscheinlich weniger plastisch als andere 1949). Nach der Publikation beider Bücher
und in der frühen Kindheit ist die Möglichkeit vergingen noch ca. 25 Jahre, bis die ersten
zur Plastizität deutlich größer als im Erwach- Tierversuche zur Neuroplastizität folgten. Die
senenalter. Grundsätzlich hat sich jedoch ge- ersten Studien mit Menschen erschienen An-
zeigt, dass trotz genetischer Festlegungen fang der 1990er Jahre.

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530 17. Plastizität

Querschnittsansatz Längsschnittansatz

Versuchspersonen = Experten «normale» Versuchspersonen


(z. B. professionelle Musiker)
Training einer bestimmten
Vergleich mit Kontrollgruppe Fähigkeit

jahrelanges intensives kurzes intensives Training


Training Leistungsverbesserung
Leistungsverbesserung neuroanatomische Adaptation?
neuroanatomische Adaptation Veränderung der funk-
Veränderung der funk- tionellen Aktivierungsmuster?
tionellen Aktivierungsmuster
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Abbildung 17-1: Typische Forschungsansätze zur Untersuchung der Neuroplastizität.

Zur Untersuchung der Neuroplastizität muten, dass die neuroanatomischen und neu-
werden der Querschnitts- und der Längs- rophysiologischen Unterschiede bereits vor
schnittansatz genutzt (Abb. 17-1). Beim Quer- dem Expertisetraining vorlagen. Mit anderen
schnittsansatz werden Personen untersucht, Worten, die ererbten oder biologisch vor-
die in einem bestimmten Gebiet Experten gegebenen neurophysiologischen und neuro-
sind (z. B. professionelle Musiker). Diese anatomischen Unterschiede determinieren
werden dann mit Nichtexperten hinsichtlich die später auftretenden Verhaltensunter-
neurophysiologischer und neuroanatomischer schiede. Eine Möglichkeit, solche Interpreta-
Kennwerte verglichen. Die Unterschiede zwi- tionen auszuschließen, sind Längsschnitt-
schen diesen beiden Versuchsgruppen werden untersuchungen. Zu Beginn solcher Studien
dann auf die Expertise zurückgeführt. Dieser werden die ersten Messungen durchgeführt.
Versuchsansatz ist relativ ökonomisch und Im Idealfall finden sich bei dieser Baseline-
durchaus plausibel, v. a., weil aus der Experti- Untersuchung keine neurophysiologischen
seforschung bekannt ist, dass Experten ihre und/oder neuroanatomischen Unterschiede.
Expertise teilweise unter erheblichem Auf- Anschließend beginnt ein Training, das einige
wand erwerben. So hat z. B. Anders Ericsson Stunden, mehrere Wochen oder Monate
(2004) zeigen können, dass exzellente Profi- dauern kann. Am Ende dieser Intervention
musiker bis zum Alter von 20 Jahren mehr als erfolgt eine weitere Messung. Wenn nur die
10 000 Stunden geübt haben (s. Abb. 15-9). Im Trainingsgruppe neurophysiologische und/
Vergleich dazu fallen die ca. 1 500 Trainings- oder neuroanatomische Veränderungen zeigt,
stunden von Amateurmusikern im gleichen können diese eher auf die Intervention bezo-
Alter bescheiden aus. Wenn so viel trainiert gen werden.46 Solche Untersuchungen sind
wird, dann müssen sich die an der Kontrolle
der Expertise beteiligten neuronalen Netz-
werke anpassen und verändern. 46 Der hier dargestellte Längsschnittuntersu-
chungsansatz ist eine einfache, aber nicht optimale
Ein Problem der Querschnittsunter-
Variante. Es müsste auch noch mindestens eine Kon-
suchungen besteht darin, dass nicht aus-
trollgruppe aufgenommen werden, die zwar nicht
zuschließen ist, dass die Unterschiede durch die interessierende Aufgabe trainiert, die aber im
genetische oder andere biologische Faktoren gleichen Zeitraum wie die Trainingsgruppe etwas
vorbestimmt waren. Es lässt sich sogar ver- anderes durchführt.

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17.2.  Genetik und Umwelt 531

Intra-Paar-Korrelationen bei getrennt aufgewachsenen eineiigen Zwillingen

nichtrelig. soz. Einstellungen

berufliche Interessen

Persönlichkeitseigenschaften

Religiosität

systolischer Blutdruck

psychometrische Intelligenz

Gewicht

Alpha-Aktivität EEG
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Körpergröße

0 0.1 0.2 0.3 0.4 0.5 0.6 0.7 0.8 0.9 1.0
Korrelation

Abbildung 17-2: Korrelationen zwischen eineiigen Zwillingen, die getrennt aufgewachsen sind, für un-
terschiedliche Variablen (nach Bouchard et al., 1990).

aufwendiger als Querschnittsuntersuchun- den genetischen Einfluss zurückgeführt wer-


gen, insofern werden immer weniger Studien den. In diesen Untersuchungen zeigt sich eine
dieses Typs publiziert. Eine gute Kombination hohe Intra-Paar-Korrelation für die psycho-
beider Untersuchungsansätze im Rahmen ei- metrische Intelligenz von ca. 0.7, was bedeu-
nes Forschungsprojekts ist sicherlich der beste tet, dass die Intelligenz offenbar sehr stark
Weg, um Neuroplastizität zu untersuchen. genetisch determiniert ist (Bouchard et al.,
1990). Auch andere Eigenschaften sind bei
eineiigen Zwillingen sehr ähnlich. Dazu gehö-
17.2. Genetik und Umwelt ren Körpergröße, Gewicht, mittlere Alpha-Ak-
tivität im EEG und der systolische Blutdruck.
Wie oben dargestellt, interagieren Genetik Rein psychologische Variablen (Persönlich-
und Umwelt miteinander. Das bedeutet, dass keitseigenschaften, berufliche Interessen, Re-
Genetik und Umwelt die Anatomie und Phy- ligiosität oder soziale Einstellungen) korrelie-
siologie des Gehirns sowie das Verhalten nicht ren bei eineiigen Zwillingen deutlich niedriger
allein, sondern immer in Interaktion miteinan- (Abb. 17-2). Allerdings bleibt immer noch
der beeinflussen. Für die psychometrisch ge- „Raum“ für Umwelteinwirkungen, selbst bei
messene Intelligenz ist diese Interaktion bzw. eineiigen Zwillingen.
Interaktionsmöglichkeit gut beschrieben wor- Die psychometrische Intelligenz eineiiger
den. Um den genetischen Einfluss auf die Zwillinge kann auch mit der psychometrischen
Intelligenz abzuschätzen, werden eineiige Intelligenz zweieiiger Zwillinge verglichen
Zwillinge, die getrennt aufgewachsen sind, werden. Die Varianzanteile für den Umwelt-
untersucht. Diese Zwillinge verfügen über ei- und den genetischen Einfluss können hierbei
nen identischen Chromosomensatz, haben geschätzt werden (Heritabilität).47 Insgesamt
aber unterschiedliche Umwelterfahrungen
gemacht. Bei diesen Zwillingen kann die Ähn- 47  Es geht bei der Schätzung der Heritabilität im-
lichkeit der psychometrischen Intelligenz auf mer um die Erklärung der Variabilität in Gruppen.

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532 17. Plastizität

zeigen die hierzu durchgeführten Studien,


dass der Anteil der durch den genetischen Ein-
fluss erklärten Varianz ca. bei 50–60 % liegt.
Allerdings hängt der genetische Einfluss auch
von Umweltfaktoren ab. So konnte z. B. gezeigt
werden, dass in hohen sozialen Schichten die
Heritabilität für die Intelligenz auf über 70 %
steigen kann. In niedrigen sozialen Schichten
nicht genetisch
kann die Heritabilität bis auf 10 % abnehmen
(Turkheimer et al., 2003). Die Ursachen für
diese umweltabhängige Heritabilität der Intel- Abbildung 17-3: Heritabilität der Dichte der
ligenz sind noch unklar. Eine mögliche Erklä- grauen Substanz, dargestellt auf einem Stan-
dardgehirn (nach Thompson et al., 2001). Die dun-
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rung besteht darin, dass Kinder aus Familien


kel eingefärbten Hirngebiete sind jene, für die der
mit niedrigem ökonomischen Status aufgrund
genetische Einfluss auf die Dichte der grauen
ihrer kognitiv wenig anregenden Umgebung
Substanz eher gering ist. Für die hellen Hirn-
keine Möglichkeiten vorfinden, sich intellek- gebiete sind hohe Heritabilitätskoeffizienten be-
tuell zu entfalten. Selbst Kinder mit eigent- richtet worden.
lich guten Anlagen hätten demzufolge wenig
Chancen, sich angemessen zu entwickeln.
Einige wenige Familien dieser Schicht könn- einflusst zu werden. Allerdings werden weite
ten ihren Kindern jedoch ausreichend Anre- Teile des Frontalkortex (insbesondere der
gung bieten. Bei Kindern aus Familien mit dorsolaterale Präfrontalkortex) offenbar stark
hohem sozioökonomischen Status ist dies genetisch kontrolliert (Abb. 17-3).
anders, denn sie wachsen häufiger in ähn- Es besteht kein Zweifel daran, dass bedeu-
lichen, kognitiv anregenden Umwelten auf. tende genetische Einflüsse auf das Verhalten,
Da die Anregungen in der Umwelt relativ ähn- die Neurophysiologie und die Neuroanatomie
lich sind, werden die interindividuellen Un- existieren. Allerdings ist festzuhalten, dass
terschiede stärker durch die genetischen Fak- selbst im Fall von starker genetischer Determi-
toren bestimmt. nierung der Neuroanatomie und des Verhal-
Auch für neuroanatomische Kennwerte tens immer noch genügend Raum für erfah-
sind Berechnungen durchgeführt worden, um rungsbedingte Einflüsse bleibt. Des Weiteren
den genetischen Einfluss herauszuarbeiten. kann die Art, wie sich genetische Einflüsse
In einer Arbeit der kalifornischen Arbeits- entfalten, von Umweltfaktoren abhängen.
gruppe um Arthur Toga und Paul Thompson­
(Thompson et al., 2001) konnte gezeigt wer-
den, dass relativ große Hirnbereiche kaum 17.3. Funktionelle Plastizität
genetisch kontrolliert werden. Vor allem Hirn- bei Tieren
gebiete um die Sylvische Fissur (perisylvische
Hirngebiete) scheinen weniger genetisch be- In der Anfangszeit der Plastizitätsforschung
wurden v. a. Tierstudien erstellt. Eine einfluss-
reiche Arbeit wurde von Jenkins und Kollegen
Wird festgestellt, dass die Intelligenz eine Heritabi-
(1990) vorgelegt, die mittels Mikroelektroden
lität von 50 % aufweist, dann bedeutet dies, dass
50 % der Variabilität der Intelligenz in der unter- bei Affen den sensomotorischen Kortex ana-
suchten Stichprobe als durch genetische Faktoren lysierten. Durch taktile Stimulation der Fin-
beeinflusst erklärt werden kann. ger konnten sie die sensorischen Repräsen-

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17.4.  Funktionelle Plastizität beim Menschen 533

tationsgebiete der einzelnen Finger in die kortikale Repräsentationsfläche von Tö-


Area 3 kartieren. Danach mussten die Ver- nen um 2 500 Hz mit der Diskriminationsleis-
suchstiere ein taktiles Stimulationstraining tung korrelierte. Insgesamt haben diese und
durchführen, das bis zu 80 Tage dauerte. Ihre andere Tierstudien deutlich gemacht, dass
Aufgabe bestand darin, mit dem zweiten, drit- sich das Gehirn von Primaten infolge von Ler-
ten oder vierten Finger eine drehende Scheibe nen und Umwelterfahrung teilweise erheblich
mit einer variierenden Oberfläche zu berüh- verändern kann.
ren. Um eine Belohnung zu erhalten, mussten
sie eine bestimmte Kraft für ca. 15 s aufwen-
den und die jeweilige Fläche niederdrücken. 17.4. Funktionelle Plastizität
Nach dem Training hatte sich die kortikale beim Menschen
Repräsentation der stimulierten Finger ver-
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größert. Da sich die Repräsentation einzelner Beim Menschen begann die Plastizitätsfor-
Gebiete vergrößert hatte, veränderte sich schung erst in den 1990er Jahren. Ein Meilen-
auch die Größe und Form der benachbarten stein dieser Forschungsrichtung war die Un-
Repräsentationsgebiete. In einer anderen Ar- tersuchung von Ramachandran (1993) an
beit hat dieselbe Arbeitsgruppe (Allard et al., Patienten, die nach Amputation von Armen
1991) bei Affen die Finger drei und vier zu- oder Händen Schmerzen in diesen nicht mehr
sammengenäht48 und überprüft, ob sich nach existenten Gliedern verspürten (Phantom-
3–7,5 Monaten die Repräsentation der Finger schmerz). Mit einem Wattestäbchen strich er
im somatosensorischen Kortex (Area 3) ver- über die Wangen der Patienten und konnte bei
ändert hat. In der Tat zeigte sich, dass die Re- ihnen das Gefühl des Streichens über das am-
präsentationen der zusammengenähten Fin- putierte Glied auslösen. Offenbar befand sich
ger zu einem einzigen Repräsentationsgebiet noch eine „Restrepräsentation“ des amputier-
verschmolzen waren (Abb. 17-4). ten Glieds in der somatosensorischen Reprä-
Recanzone und Kollegen (1993) haben sentation des Gesichts. Er erklärte dies damit,
sich mit der Tonotopie im Affengehirn aus- dass die quasi „arbeitslos“ gewordenen Neu-
einandergesetzt und überprüft, ob sich diese rone des Handareals in den Repräsentations-
infolge eines auditorischen Diskriminations- bereich der benachbarten Repräsentationen
trainings verändert. Die Affen trainierten für eingebunden werden. Hierzu muss man sich
mehrere Wochen Töne, um den Frequenz- den sensorischen Homunkulus vorstellen. Die
bereich 2 500 Hz zu unterscheiden. Nach eini- sensorische Repräsentation der Hand liegt et-
gen Wochen Training verbesserte sich die Dis- was weiter oben als die Repräsentation des Ge-
kriminationsleistung erheblich und es kam zu sichts. Werden die Neurone für die Hand nicht
einer Veränderung der Tonotopie im auditori- mehr genutzt, weil die Hand amputiert wurde,
schen Kortex. Insbesondere die kortikale Re- dann werden diese Neurone offenbar in den
präsentation der Töne um 2 500 Hz hatte sich Repräsentationsbereich der benachbarten Re-
nach dem Training deutlich vergrößert, wobei präsentation des Gesichts (liegt etwas ventra-
ler) eingebunden. Dies ist ein Reorganisations-
prozess, bei dem bestimmte Neurone in einen
neuen Funktionsbereich eingebunden werden.
48  Hierbei handelt es sich um eine künstliche Form
Zu Beginn ist diese Reorganisation noch nicht
der Syndaktylie. Syndaktylie ist eine angeborene
anatomische Fehlbildung der Finger oder Zehen, die perfekt, sodass noch eine rudimentäre Reprä-
durch Verwachsung einzelner Zehen oder Finger sentation der Hand im Gesichtsbereich zu
entsteht. finden ist. Ist die „Übernahme“ komplett, ver-

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534 17. Plastizität

Affengehirn Affenhand

Brodmann-Areal 3b
normale kortikale Karte
3
4 2
5

r
Körpe 1

D5

D4
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Hand
Finger

D3

D2

D1

zusammengenähte
Brodmann-Areal 3b Finger 4 + 3

2
5
r
Körpe

D5
Hand

D4
D3
Finger

Grenze D3 + D4
nicht länger sichtbar
D2

D1

operative Verbindung der Haut der benachbarten Finger 3 + 4


künstliche Syndaktylie

Abbildung 17-4: Syndaktylie-Experiment von Allard und Kollegen (1991). Die Wissenschaftler haben
zunächst mittels Mikroelektroden die somatosensorische Repräsentation aller Finger gemessen. Dann
wurden den Affen die Finger drei und vier zusammengenäht. Nach 3–7,5 Monaten (für die einzelnen
Versuchstiere nach unterschiedlichen Perioden) wurde die Repräsentation aller Finger neu erfasst. Es
zeigte sich, dass die Repräsentation der Finger drei und vier zu einer Repräsentation verschmolzen war.
(Nachgezeichnet nach Gazzaniga et al., 2002)

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17.4.  Funktionelle Plastizität beim Menschen 535

schwindet auch die rudimentäre Repräsenta- im auditorischen Kortex vom Alter bei Be-
tion der Hand. Meistens verschwindet dann ginn des Musiktrainings abhängt. Je früher
auch der Phantomschmerz, der möglicher- die Musiker mit dem Musiktraining began-
weise ein Indikator eines noch nicht perfekten nen, desto stärker sind die neuronalen Ant-
Übernahmeprozesses ist. worten im auditorischen Kortex (Baumann
Diese Studie hat viele Arbeiten zur funktio- et al., 2008; Pantev et al., 1998).
nellen und anatomischen Plastizität des Men- • Diese neuronalen Antworten sind bei Pro-
schen stimuliert. In den meisten Arbeiten fimusikern sehr spezifisch. Streicher rea-
wurden Experten (in einem bestimmten Funk- gieren auf Violinentöne stärker als auf
tionsbereich) mit Nichtexperten verglichen Trompetentöne, während Trompeter stär-
(Querschnittsuntersuchungen). Eine vielfach ker auf Trompetentöne reagieren (Pantev
untersuchte Expertengruppe sind Musiker, die et al., 2001).

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in der Regel früh in ihrem Leben mit dem Mu- Bereits in der frühen Kindheit stellt sich der
siktraining beginnen und das Musizieren und auditorische Kortex auf spezifische Erfah-
den Umgang mit Musik meist sehr intensiv und rungen mit Musikklängen ein. Kinder, die
nicht selten ein Leben lang trainieren. Insofern im Alter von 8–9 Jahren intensiv das Vio-
sind sie bis heute ein willkommenes Modell für linenspiel üben, zeigen nach einer be-
die Plastizitätsforschung (Kraus & Chandrase- stimmten Trainingszeit stärkere neuronale
karan, 2010; Münte et al., 2002). Zusammen- Reaktionen des auditorischen Kortex auf
gefasst konnte in diesen Querschnittsunter- Violinen- als auf Sinustöne. Quasi neben-
suchungen Folgendes festgestellt werden: bei scheinen sie auch die Fähigkeit des
• Bei Streichern ist die sensorische Repräsen- absoluten Gehörs zu entwickeln (Meyer et
tation (in Area 3) der fünf Finger der linken, al., 2011).
nicht dominanten Hand insgesamt größer • Auch die Art, wie der auditorische Kortex
als bei Nichtmusikern. Die neuronale Ant- Phoneme verarbeitet, hat sich bei Musikern
wort im sensorischen Kortex auf die taktile verändert. Bereits auf den ersten und frü-
Stimulation des kleinen Fingers der linken hen Stufen der auditorischen Verarbei-
Hand ist bei Streichern besonders stark und tungskette führt die Präsentation von Pho-
korreliert mit dem Alter bei Beginn des Mu- nemen zu anderen neurophysiologischen
siktrainings. Je früher die Streicher mit dem Verarbeitungsmustern als bei Nichtmusi-
Musiktraining begonnen hatten, desto stär- kern (Ott et al., 2011).
ker waren die neuronalen Antworten im Re- • Die Verarbeitung von Syntax, Prosodie und
präsentationsbereich des kleinen Fingers Semantik ist bei Musikern ebenfalls mit
(Elbert et al., 1995). In der Untersuchung veränderten neuronalen Aktivierungen im
von Elbert und Kollegen wurde das MEG als Gyrus frontalis inferior, im Hörkortex und
neurophysiologische Messmethode genutzt. im Sulcus temporalis superior verbunden
Die Stärke der mit dem MEG gemessenen (Koelsch et al., 2004; Oechslin et al., 2009).
neuronalen Reaktion wird allgemein als In- • Auch im motorischen System weisen Musi-
dikator für die Anzahl der synchron mit- ker Besonderheiten auf. Motorische Tätig-
einander reagierenden Neurone aufgefasst. keiten, v. a., wenn sie in einem funktionalen
• Bei Musikern sind die neuronalen Antwor- Zusammenhang mit dem Musizieren ste-
ten im auditorischen Kortex auf Töne stär- hen (z. B. Fingertappen oder Durchführen
ker als bei Nichtmusikern, wie MEG- und von präzisen Fingerbewegungen), hängen
EEG-Untersuchungen ergaben. Interessant mit deutlich reduzierten neurophysiologi-
ist, dass die Stärke der neuronalen Antwort schen Aktivitäten im motorischen System

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536 17. Plastizität

zusammen. Vor allem die prämotorischen torkortex durch magnetische Impulse­


Areale sind bei Musikern weniger stark in (Koeneke et al., 2006; Abb. 17-6).
die motorische Kontrolle eingebunden­
(Jäncke et al., 2000; Meister et al., 2005).In anderen Arbeiten wurde gezeigt, dass sich
• Die funktionale Kopplung zwischen dem die funktionelle Netzwerkarchitektur durch
auditorischen und den frontalen prämoto- Lernen ändert. Das bedeutet, dass sich nicht
rischen Systemen ist bei Musikern eben- nur neurophysiologische Aktivitäten in be-
falls ausgeprägter (Bangert et al., 2006;­ stimmten Hirngebieten verändern, sondern
Baumann et al., 2007; Jäncke, 2012). auch die funktionale Beziehung der Hirn-
gebiete zueinander. Folgende Befunde wurden
In Längsschnittuntersuchungen zur Neuro- in diesem Zusammenhang erhoben:
plastizität wurden motorische, perzeptive und •
Werden elektrische Schocks (UCS) über
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kognitive Aspekte bei den Versuchspersonen klassisches Konditionieren mit Farbreizen


über mehrere Stunden, Tage oder Wochen (CS) gekoppelt, verändert sich die Kohärenz
trainiert und die neurophysiologischen Aktivi- im Gamma-Band (37–43 Hz) bei Präsenta-
täten vor dem Training mit jenen nach dem tion des CS zwischen EEG-Elektroden, die
Training verglichen. Typische Befunde sind: über dem visuellen Kortex, dem somatosen-
• Im Verlauf von Tondiskriminationstrai- sorischen Assoziationskortex und dem sen-
nings verändern sich die neuronalen Ant- sorischen Kortex angebracht sind. Wird der
worten des auditorischen Kortex auf die UCS während der Lernphase auf dem Ring-
trainierten Töne erheblich. In den EEG- finger der rechten Hand appliziert, nimmt
und MEG-Arbeiten werden in der Regel während der Präsentation des CS die Kohä-
stärkere neuronale Antworten, v. a. auf frü- renz zwischen dem visuellen Kortex, dem
hen Verarbeitungsstufen, nach dem Trai- linksseitigen somatosensorischen Assozia-
ning berichtet (Menning et al., 2000). In tionskortex und dem linksseitigen sensori-
Arbeiten, in denen hämodynamische Re- schen Kortex zu. Wird der UCS während der
aktionen mittels fMRT gemessen wurden, Lernphase auf dem Ringfinger der linken
zeigt sich meist eine geringere räumliche Hand appliziert, nehmen die Gamma-Band-
Ausdehnung der Durchblutung im Hörkor- Kohärenzen während der Präsentation des
tex (Jancke et al., 2001). CS über den rechtsseitigen Gebieten zu
• Bei Tongedächtnistrainings fallen Per- (Miltner et al., 1999; Abb. 17-7).
sonen, die erfolgreich trainiert haben, •
Gleichzeitige Präsentation von Lichtblitzen
durch zusätzliche Durchblutungen im Gy- und auditorischen Reizen (Silben) führt zu
rus supramarginalis auf (Gaab et al., 2003). simultanen Aktivierungen des visuellen
• Motorische Trainings sind mit Aktivitäts- und des auditorischen Kortex. Werden die
zunahmen im Motorkortex verbunden. visuellen und auditorischen Reize wieder-
Meist wurden diese Motortrainings als holt über mehrere Minuten simultan dar-
Schulungen von Finger- und Handbewe- geboten, evoziert die alleinige Präsentation
gungen über relativ kurze Zeiträume (einige der visuellen Reize Durchblutungszunah-
Stunden bis zu einige Wochen) durch- men im sekundären auditorischen Kortex
geführt. Die Aktivitätszunahmen zeigen (Jancke & Shah, 2004; Abb. 17-8).
sich entweder als „Ausbreitungen“ der •
Ein intensives digitales Multitasking-Trai-
Erregbarkeit des motorischen Kortex­ ning resultierte bei Senioren und jungen
(Pascual-­Leone et al., 1995; Abb. 17-5) oder Erwachsenen zu deutlichen Verbesserun-
als Zunahme der „Erregbarkeit“ des Mo- gen der Multitaskingleistung. Gleichzeitig

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17.4.  Funktionelle Plastizität beim Menschen 537

phyisikalische/körperliche Übung

Flexion

Extension

mentales Vorstellen
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Flexion

Extension

Kontrollgruppe

Flexion

Extension

1. Tag 2. Tag 3. Tag 4. Tag 5. Tag

60 100 2 cm
Wahrscheinlichkeit in %

Abbildung 17-5: Veränderung der Fläche über dem Handmotorkortex, über der motorisch evozierte Po-
tenziale (MEP) an zwei Fingermuskeln (Flexor- und Extensor-Muskel) ausgelöst werden können. Die
Versuchspersonen übten jeweils zwei Stunden an insgesamt fünf Tagen. Nach jedem Trainingstag wurde
die Auslösbarkeit der MEP getestet und überprüft, über welchem Gebiet um den Hotspot (dem Gebiet,
bei dessen Stimulation die stärksten MEP ausgelöst werden können) herum noch MEP ausgelöst werden
können. Man erkennt, dass mit zunehmender Trainingsdauer (von Tag 1 bis Tag 5) die erregbare Fläche
um den Hotspot größer wird. Bei den Kontrollpersonen, die nicht trainierten, konnte keine Flächenver-
änderung festgestellt werden. Interessant war auch, dass jene Gruppe, die nur mental übte (also ohne
eine Bewegung durchzuführen), auch Flächenvergrößerungen aufwies.Die Blaufärbungen indizieren
unterschiedliche Wahrscheinlichkeiten, mit denen an denjeweiligen Stellen MEP ausgelöst werden
konnten (nach Pascual-Leone et al., 1995).

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538 17. Plastizität

A) C)
800 T1 (vor Training)
*
T2 (nach Training)

MEP-Amplitude in µV
600

400
MEP

200

Musculus abductor 0
pollicis brevis (APB) rechter APB linker APB rechter ADM
li M1 re M1 li M1
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Stimulation Stimulation Stimulation

B) li Daumentraining D)
300 * T1
(2 Wochen)
T2 **
Intertap-Intervalle (ITI) 210 T3
220 200 250 t **
li Daumentraining T4
210 re Daumentraining 190
MEP-Amplitude in µV

180 200
200 170
IT in ms

**
190 160
vor nach 150
180 Training
170 100
re Daumentraining
160
1 2 3 4 5 6 7 8 9 101112 (2 Wochen)
Übungseinheiten/Tage 210 50
200
190 0
180 rechter APB linker APB
170 li M1 Stimulation re M1 Stimulation
*
160
vor nach
Training

Abbildung 17-6: Darstellung der Ergebnisse des Experiments von Koeneke und Kollegen (2006). Die
Versuchspersonen übten ca. zwölf Tage lang eine Stunde am Tag mit dem rechten (dominanten) oder
linken Daumen schneller zu tappen. (A) Vor, während und nach dem Training wurden die MEP (motorisch
evozierte Potenziale) des rechten und linken Daumenmuskels gemessen. (B) Die Intertap-Intervalle
wurden im Laufe des Trainings deutlich schneller. (C) Nach dem Training des rechten Daumens war die
Erregbarkeit des Motorkortex nur dann größer, wenn der Motorkortex kontralateral zum trainierten
Daumen stimuliert wurde. (D) Beim und nach dem Training des linken (subdominanten) Daumens ergab
sich ein differenziertes Bild. Über das ganze Training hinweg ergab sich eine Steigerung der Erregbarkeit
des rechtsseitigen Motorkortex. Die Erregbarkeit des rechtsseitigen Motorkortex nahm anfangs (vom 1.
zum 2. Tag) zu, um dann kontinuierlich wieder abzunehmen.

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17.4.  Funktionelle Plastizität beim Menschen 539

A) B)

A) visuelle Stimulation

3 3

2 2

1 1
L R L R

B) visuell-auditorische
1: visueller Kortex
Stimulation
2: somatosensorischer Assoziationskortex
3: primärer sensorischer Kortex

Abbildung 17-7: Schematische Darstellung der


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Gamma-Band-Kohärenzen zwischen dem visuel-


len Kortex, dem somatosensorischen Assoziati-
onskortex und dem sensorischen Kortex. (A) Prä-
C) visuelle Stimulation
sentation des UCS (Schmerzreiz) auf dem
linksseitigen Ringfinger. Bei Präsentation des CS
sind v. a. die Gamma-Band-Kohärenzen rechts-
seitig besonders stark. (B) Starke Gamma-Band-
Kohärenzen nach Präsentation des CS, wenn Abbildung 17-8: Durchblutungssteigerung des
vorher der UCS auf den rechtsseitigen Ringfinger auditorischen Kortex durch visuelle Stimulation.
appliziert wurde (nach Miltner et al., 1999). (A) Zunächst werden die visuellen Reize (Licht-
blitze) allein dargeboten und führen zu Durch-
blutungszunahmen im visuellen Kortex. (B) Dann
werden visuelle Reize simultan mit auditorischen
Reizen (Silben) dargeboten. (C) Im letzten Ver-
suchsdurchgang werden dann nur visuelle Reize
nahm insbesondere bei den älteren Per- präsentiert. Diese Präsentation führt dann zu
sonen (60–85 Jahre alt) die FM-Theta- Durchblutungszunahmen im sekundären audito-
Band-Aktivität (FM: frontale Mittellinie) rischen Kortex (Sulcus temporalis superior; nach
und die fronto-parietale Theta-Band-Kohä- Jäncke & Shah, 2004).
renz zu. Diese Zunahme der Theta-Band-
Aktivität wird als eine Optimierung der
neuronalen Netzwerke aufgefasst, die an
der Kontrolle der Aufmerksamkeit der exe- ihre Verbindungen zu anderen Hirngebie-
kutiven Funktionen beteiligt sind (Anguera ten optimieren (teilweise sogar verringern)
et al., 2013). oder sie intensivieren.
• Ein über mehrere Tage durchgeführtes
Arbeitsgedächtnistraining ergab ein ver- Fassen wir zusammen: Querschnittsunter-
ändertes Ruhenetzwerk, wobei insbeson- suchungen mit Experten (vorrangig Musikern)
dere jene Hirngebiete ihre funktionellen haben ergeben, dass die neurophysiologischen
Verbindungen veränderten, die typischer- Reaktionen der Experten auf expertiserele-
weise in die Kontrolle von Arbeitsgedächt- vante Reize sich deutlich von den neurophy-
nisfunktionen eingebunden sind (Langer et siologischen Reaktionen der Nichtexperten
al., 2013) (siehe auch Abb. 17-9). In dieser unterscheiden. Größere ERP-Komponenten
Studie zeigte sich, dass einige Hirngebiete (größere Amplituden) sind meist schon sehr

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540 17. Plastizität
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Abbildung 17-9: Dargestellt sind jene Hirngebiete, die ihre Netzwerkverbindungen zu anderen Hirn-
gebieten nach dem Arbeitsgedächtnistraining verändert haben. Die Größe der jeweiligen „Kugeln“ re-
präsentiert die Höhe der Korrelation zwischen der Leistung in der Arbeitsgedächtnisaufgabe und dem
Ausmaß der funktionellen Verbindung zu anderen Hirngebieten. Als Maß der Verbindungsgüte ist hier
der „Degree-Kennwert“ angegeben. Die in Dunkelgrau gekennzeichneten Hirngebiete verringern mit
besser werdender Arbeitsgedächtnisleistung ihre Verbindungsgüte, während die in Hellgrau dargestell-
ten Hirngebiete ihre Verbindungsgüte mit zunehmender Arbeitsgedächtnisleistung vergrößern (nach-
gezeichnet nach Langer et al., 2013).

früh in der Verarbeitungskette zu erkennen. sich mit zunehmender Expertise auch die funk-
Die größeren Amplituden werden als Indika- tionelle Netzwerkarchitektur bei Experten, was
tor für mehr synchron feuernde Neurone inter- bedeutet, dass verschiedene Hirngebiete an-
pretiert. Das kann man sich so vorstellen, dass ders miteinander interagieren.
zwar bei der Verarbeitung der expertiserele- In Längsschnittuntersuchungen werden
vanten Reize mehr Neurone feuern, dafür aber trainingsbedingte neurophysiologische Aktivie-
nur jene, die für die Verarbeitung dieser Reize rungsveränderungen gemessen. Hierbei zeigt
wirklich verantwortlich sind. Bei Nichtexperten sich, dass im Laufe des Trainings die ERP-Kom-
feuern dagegen auch Neurone, die nicht zwin- ponenten auf die gelernten Reize größer wer-
gend für die Verarbeitung benötigt werden. den. Des Weiteren zeigt sich eine Vergrößerung
fMRT-Untersuchungen weisen darauf hin, dass des aktivierten Volumens. Wahrscheinlich wer-
die Experten bei der Bearbeitung expertise- den während des Lernens mehr Neurone in die
relevanter Aufgaben eine geringere Durchblu- Kontrolle der gelernten Funktion einbezogen,
tung in den spezialisierten Hirngebieten auf- um herauszufinden, welche dieser Neurone
weisen. Diese geringere Durchblutung könnte letztlich notwendig sind. Auch die funktionelle
indizieren, dass nur die wichtigen Neurone Netzwerkarchitektur ändert sich während des
(dafür aber synchron) feuern. Diese Befunde Trainings. Die Hirngebiete, die an der Verarbei-
deuten darauf hin, dass die neurophysiologi- tung der gelernten Funktionen oder Reize be-
sche Bearbeitung dieser speziellen Reize oder teiligt sind, beginnen sich mehr und mehr funk-
Aufgaben bei Experten optimierter abläuft tional „zusammenzuschalten“ (Prinzip des
(Prinzip der neurophysiologischen Optimie- Aufbaus neuer oder der Veränderung bereits
rung). Neben diesen Optimierungen verändert bestehender funktionaler Verbindungen).

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17.5.  Strukturelle Plastizität 541

17.5. Strukturelle Plastizität ker etc.). In allen Untersuchungen zeigte sich


zusammengefasst, dass mit zunehmender
Expertise und Training verändern nicht nur Expertise die an der Expertise beteiligten
die neurophysiologische Aktivität in den Hirn- Hirngebiete entweder eine größere Dichte, ein
gebieten, die an der Kontrolle der Expertise größeres Volumen der grauen Substanz oder
und der trainierten Funktion beteiligt sind, eine größere kortikale Dicke aufweisen. An-
sondern auch deren Struktur und Anatomie. dere Arbeiten zeigten Veränderungen in der
Zur Untersuchung von trainingsinduzierten weißen Substanz. Eine typische Arbeit wurde
neuroanatomischen Veränderungen werden von Gaser und Kollegen (2003) publiziert. Sie
T1-gewichtete MRT- und DTI-Aufnahmen des haben das Volumen der grauen Substanz für
Gehirns erstellt. Anhand der T1-gewichteten jeden Voxel der digitalisierten Gehirne von
Bilder werden die Gehirne dreidimensional Musikern und Nichtmusikern gemessen und
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rekonstruiert und folgende Kennwerte49 für festgestellt, dass Musiker in einigen Hirngebie-
jeden einzelnen Voxel dieser rekonstruierten ten über ein größeres Volumen der grauen Sub-
Gehirne bestimmt: stanz verfügen (Abb. 17-10). Auch war das Volu-
• Dichte und/oder Volumen der grauen und men der grauen Substanz bei professionellen
weißen Substanz Musikern größer als bei Amateurmusikern.
• kortikale Dicke Nach Amputation einer Extremität zeigte sich
• Ausmaß der Verformung der einzelnen in einer anderen Studie kontralateral zum am-
Gyri, die notwendig ist, um sie an ein Stan- putierten Glied im Nucleus ventralis posterola-
dardgehirn anzupassen. teralis des Thalamus eine Reduktion der Dichte
der grauen Substanz (Draganski et al., 2006).
Die Dichte und/oder das Volumen der grauen Offenbar hat sich durch die fehlende Stimula-
Substanz wird als Grauwert codiert und re- tion dieses Thalamusgebiets aufgrund der
präsentiert verschiedene neuroanatomische Amputation die Dichte der grauen Substanz
Aspekte. Vermutet wird, dass mit zunehmen- reduziert. Insofern ist davon auszugehen, dass
der Dichte und/oder zunehmendem Volumen
der grauen Substanz die Neurone größer sein
können, über eine größere Dendritisierung
verfügen oder mehr Synapsen bilden können.
Bezüglich der Dichte und/oder des Volumens 1
der weißen Substanz wird davon ausgegan-
gen, dass dieser Wert die Myelinisierung
kennzeichnet. Mit der DTI-Technik werden
2
Kennwerte gemessen, die eine Aussage über 3
die Zusammensetzung der Kabelsysteme er-
4
möglichen.
5
In Querschnittsuntersuchungen wurden
bislang viele Expertengruppen mit Nicht-
experten verglichen (Musiker, Tänzer, Dol-
metscher, Sportler, Schachspieler, Mathemati- Abbildung 17-10: Hirngebiete, in denen Musiker
über eine größere Dichte der grauen Substanz
49  Alle aufgeführten Kennwerte können mittler- verfügen. 1: Motorkortex, 2: Hörkortex, 3: Gyrus
weile mit geeigneter Software automatisch be- frontalis inferior, 4:  Gyrus temporalis inferior, 5:
stimmt werden. Kleinhirn (nach Gaser et al., 2003).

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542 17. Plastizität

die Dichte der grauen Substanz mit der Exper- einer Folgearbeit konnten auch bei Senioren
tise korreliert. nach einem drei Monate dauernden Jon-
In anderen Arbeiten wurden die Kabelsys- gliertraining massive Zunahmen der grauen
teme bei professionellen Pianisten mittels der Substanz im Areal MT, aber auch in anderen
DTI-Technik untersucht. Es zeigte sich, dass in Hirngebieten festgestellt werden (Hippo-
einigen Kabeln die fraktionale Anisotropie50 campus und Nucleus accumbens; Boyke et
mit der Gesamtanzahl der bis zum Unter- al., 2008). Insofern scheinen auch die Ge-
suchungszeitraum aufgewendeten Trainings- hirne älterer Menschen zur strukturellen
stunden korrelierte. Je mehr diese Profipia- Plastizität fähig zu sein.
nisten geübt hatten, desto größer war die • Draganski und Kollegen (2006) haben Me-
fraktionale Anisotropie im Corpus callosum, in dizinstudenten untersucht, die sich auf
der Capsula interna und im Fasciculus arcua- das Physikum vorbereiteten. Vor dem drei
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tus (Bengtsson et al., 2005). Monate dauernden Lernen erfolgte die


Besonders interessant sind in diesem Zu- Basisuntersuchung, die zweite Messung
sammenhang Längsschnittstudien, in denen wurde nach Absolvieren der Prüfung durch-
neuroanatomische Veränderungen nach geführt. Sie identifizierten eine Zunahme
verschiedenen Interventionen untersucht der Dichte der grauen Substanz in parieta-
wurden. len Hirnbereichen und im Hippocampus.
• In der ersten Arbeit dieses Typs konnten die Auch drei Monate nach dem intensiven
Autoren nach einem drei Monate dauern- Lernen waren noch Zunahmen der Dichte
den Jongliertraining (1 Stunde pro Tag mit der grauen Substanz im Hippocampus fest-
drei Bällen) eine Zunahme der Dichte der stellbar, während sich in den Parietallap-
grauen Substanz im Areal MT und im intra- penbereichen keine weiteren anatomischen
parietalen Sulcus (IPS) feststellen. Nach Veränderungen einstellten (Abb. 17-11).
zwei Monaten ohne Training nahm die • In einer anderen Arbeit nahmen die Ver-
Dichte der grauen Substanz in diesen Hirn- suchspersonen an einem sechs Wochen
gebieten jedoch wieder ab (Draganski et al., dauernden Balanciertraining (45 min Trai-
2004). Das Areal MT ist in die visuelle Ana- ning pro Woche) teil (Taubert et al., 2010).
lyse sich bewegender Objekte eingebunden, Vor, während und nach diesem Training
während der IPS an der Transformation von wurden MRT- und DTI-Messungen vor-
visuellen Informationen zur Motorik betei- genommen. Es zeigte sich, dass insbeson-
ligt ist. Beide Hirngebiete sind am Jonglier- dere der Präfrontalkortex nach dem Trai-
lernen beteiligt und verändern ihre ana- ning über mehr graue Substanz verfügte als
tomische Struktur während des Lernens. In vor dem Training. Die mittels der DTI-
Technik gemessene fraktionale Anisotropie
50  Die fraktionale Anisotropie ist ein Maß für die und die Diffusivität nahm dagegen im Prä-
Gerichtetheit der Diffusion von Wasser in einem frontalkortex ab. Die Hirngebiete, für die
Kompartiment. In einem mit Myelin umgebenen diese Abnahmen festgestellt wurden, lagen
Axon ist die fraktionale Anisotropie sehr groß, denn neben jenen Hirngebieten, für die Zunah-
das Wasser kann nur in zwei Richtungen diffundie- men der grauen Substanz nachgewiesen
ren: nach vorne und nach hinten. In den Ventrikeln
wurden. Bereits ein kurzes Training führt
herrscht Isotropie vor, denn das Wasser kann in alle
demnach zu messbaren anatomischen Än-
Richtungen diffundieren. Die fraktionale Anisotro-
pie wird oft als Maß für die Integrität von Axonen derungen.
bzw. Axonbündeln genutzt. Bei einem geschädigten • Eine weitere Studie hat Personen im Alter
Axonbündel ist die fraktionale Anisotropie niedrig. von 50 Jahren neuroanatomisch unter-

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17.5.  Strukturelle Plastizität 543

Parietallappen
Signalzunahme in % und 90 %-Konfidenzintervall
(Clusterdurchschnitt)
3

2.5

Signalzunahme in %
2

1.5

0.5

–0.5
1 2 3
Scan
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Hippocampus
Signalzunahme in % und 90 %-Konfidenzintervall
(Clusterdurchschnitt)
3

2.5
Signalzunahme in %

1.5

0.5

–0.5
1 2 3
Scan

Abbildung 17-11: Hirngebiete, in denen Medizinstudenten nach einer drei Monate dauernden Prüfungs-
vorbereitung auf das Physikum Zunahmen der Dichte der grauen Substanz aufwiesen. Gemessen wurde
die Dichte der grauen Substanz vor der Prüfungsvorbereitung (Scan 1), nach der Prüfung (Scan 2) und
drei Monate nach der Prüfung (Scan 3; nach Draganski et al., 2006).

sucht und dabei überprüft, ob sich nach Übergangsbereich, kaudaler Teil des Lobu-
einem 40 Stunden dauernden Golftrai- lus parietalis inferior; Abb. 17-12). Interes-
ning die an der Kontrolle des Golftrainings sant war ferner, dass die Versuchspersonen,
beteiligten Hirngebiete anatomisch ver- die in diesen 40 Stunden am intensivsten
ändern (­ Bezzola et al., 2011). Hierzu wurde trainierten, auch die stärksten anatomi-
die Dichte der grauen Substanz gemessen schen Veränderungen aufwiesen.
und festgestellt, dass sich dieser Kennwert • Nahezu spektakulär sind die Befunde einer
im dorsalen Informationsweg im Verlauf sehr aufwendigen Längsschnittstudie von
des Trainings vergrößerte (Sulcus centralis, einer US-amerikanischen Forschergruppe
sensomotorischer Motorkortex, ventraler (Erickson et al., 2011). Diese Wissenschaft-
Prämotorkortex, Lobus parietalis inferior, ler haben 120 ältere Personen (55–80 Jahre
intraparietaler Sulcus, parietookzipitaler alt) über ein Jahr lang untersucht und diese

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544 17. Plastizität

4.0

Veränderung der grauen Substanz in %


1
6 2.0
8, 9
2 3, 4, 5
7

0.0
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Golfschüler
Kontrollgruppe
–2.0
CS vPMC rIPL rIPL rIPL IPS POJ cIPL cIPL
1 2 3 4 5 6 7 8 9

Abbildung 17-12: Hirngebiete, in denen im Laufe eines 40 Stunden dauernden Golftrainings bei Golf-
novizen die Dichte der grauen Substanz zunahm. 1: Sulcus centralis – Motorkortex, 2: ventraler Prä-
motorkortex, 3, 4, 5: drei unterschiedliche Regionen des Lobulus parietalis inferior, 6: intraparietaler
Sulcus, 7: parietookzipitaler Übergangsbereich, 8 & 9: zwei Subareale des kaudalen Lobulus parietalis
inferior (nach Bezzola et al., 2011). Im Balkendiagramm rechts neben dem Hirnbild ist die Zunahme der
Dichte der grauen Substanz angezeigt. Die dunklen Balken zeigen die Zunahme der grauen Substanz für
die Personen an, die trainiert haben. Die hellen Balken zeigen die Veränderungen der Dichte der grauen
Substanz bei den Personen, die nicht trainiert haben. Auf derAbszisse sind die Hirnregionen mit Akro-
nymen und Zahlen gekennzeichnet. Die Zahlen entsprechen denen, die im Hirnbild genutzt wurden.

Personen per Zufall einer von zwei Ver- der Hippokampusvolumens, sondern eine
suchsgruppen zugewiesen. Eine Gruppe Abnahme. Die Verringerung des Hippo-
absolvierte über mehrere Wochen ein Aero- kampusvolumens bei dieser Gruppe ent-
bic-Stretching-Training, während die an- sprach ungefähr der durchschnittlichen
dere Gruppe genauso intensiv Nordic-Wal- Volumenveränderung von 0.5 %/Jahr, die
king trainierte. Vor dem Training, nach man normalerweise bei älteren Personen
6 Monaten und nach einem Jahr haben die (ohne spezielles Training) messen kann
Forscher mittels MRT anatomische Auf- (Jäncke et al., 2020). Die Veränderung des
nahmen der Gehirne angefertigt und auch Hippokampusvolumens korrelierte im Üb-
eine Reihe von neuropsychologischen Tests rigen moderat mit der Gedächtnisleistung
durchgeführt. Dabei offenbarte sich, dass in einem Standardgedächtnistest. Es konn-
bei der Gruppe, die Nordic-Walking trai- ten auch moderate Korrelationen zwischen
nierte, das Hippokampusvolumen zunahm dem Hippokampusvolumen und einem
und gleichzeitig auch die Gedächtnisleis- Wachstumshormon (BDNF) und auch Kor-
tungen besser wurden. Bei der Stretching- relationen mit physiologischen Fitness-
Trainingsgruppe zeigte sich keine Zunahme Kennwerten festgestellt werden.

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17.6. Rehabilitation 545

Die oben dargestellten neuroanatomischen Veränderungen der weißen Substanz liegt


Studien belegen zusammengefasst, dass in- wahrscheinlich eine Verdickung der Myelin-
tensives Training anatomisch messbare Ver- schichten zugrunde.
änderungen in jenen Hirngebieten auslöst, die
in die Kontrolle des Trainings eingebunden
sind. Typischerweise kann trainingsinduziert 17.6. Rehabilitation
eine Zunahme der Dichte oder eine Volumen-
zunahme der grauen Substanz festgestellt Während der neurologischen bzw. neuropsy-
werden. Hinsichtlich der trainingsinduzierten chologischen Rehabilitation treten zwangsläu-
Veränderungen der weißen Substanz sind die fig plastische Veränderungen des Gehirns auf.
Befunde weniger eindeutig. Meist wird eine Ein anschauliches Beispiel hierfür wurde von
Zunahme der fraktionalen Anisotropie berich- der US-amerikanischen Arbeitsgruppe um
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tet. Abnahmen der fraktionalen Anisotropie Sadato (1996) berichtet. Die Wissenschaftler
finden sich insbesondere in den Hirngebieten, hatten mittels PET Durchblutungsänderungen
die unmittelbar neben Hirngebieten lokalisiert im visuellen Kortex bei Früherblindeten und
sind, die eine trainingsinduzierte Zunahme Kontrollpersonen nach taktiler Stimulation
der grauen Substanz aufweisen. Als mögliche untersucht. Zur taktilen Stimulation nutzten
Ursachen für die gemessene Veränderung der sie die Brailleschrift, welche die Versuchsper-
grauen Substanz werden folgende Mechanis- sonen zu ertasten hatten. Bei Früherblinde-
men diskutiert: ten ergaben sich beim Lesen der Brailleschrift
• Neuronenvergrößerungen (Oberflächen- Durchblutungszunahmen im primären und
vergrößerung) sekundären visuellen Kortex, während bei
• Zunahme der Dendritisierung und der Glia- normal sehenden Kontrollpersonen Durch-
fortsätze (Vergrößerung des Neuropils51) blutungsabnahmen im visuellen Kortex auf-
• Synaptogenese. traten. Offenbar hat hier eine Umorganisation
stattgefunden, sodass der visuelle Kortex der
Wahrscheinlich kann auch eine trainingsindu- Erblindeten nun andere Aufgaben als die
zierte Zunahme der Kapillarisierung zu Ver- Verarbeitung visueller Informationen über-
änderungen der gemessenen Kennwerte für nommen hat.
die graue Substanz führen. Mit zunehmendem Ein anderes Beispiel für eine kortikale
Training werden die benötigten Hirngebiete Umorganisation berichten Yu und Kollegen
auch besser durchblutet werden müssen. In- (2006). Sie haben zwei Patienten untersucht,
wieweit intrazelluläre Veränderungen die ge- denen beidseitig die Arme amputiert wurden
messenen Werte für die graue Substanz beein- und die gelernt hatten, mit ihren Füßen zu
flussen, ist aktuell noch nicht eindeutig geklärt. malen und als Bildhauer tätig zu sein. fMRT-
Durch den intensiveren Gebrauch der Neurone Messungen während einfacher motorischer
nimmt wahrscheinlich auch die Produktion Tätigkeiten, die sie mit ihren Füßen ausführ-
und Verarbeitung von Transmittern zu. Da- ten, offenbarten nicht nur Durchblutungs-
mit hängt eine Zunahme des metabolischen zunahmen im Fußareal (in der Mittellinie
Umsatzes zusammen. Trainingsinduzierten im parazentralen Hirnbereich gelegen), son-
dern auch im linksseitigen Handareal (M1
für die Hand). Offenbar haben die ehemals als
51  Unter dem Begriff Neuropil werden die nicht- „Handneurone“ genutzten Neurone im Hand-
myelinisierten Dendriten und die Gliafortsätze zu- motorkortex eine neue Aufgabe übernommen
sammengefasst. und kontrollieren nun auch Fußbewegungen.

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546 17. Plastizität

Krankheitsbedingte kortikale Reorganisatio- und Patienten mit Sozialen Angststörungen


nen treten recht schnell ein. Kürzlich konnten nicht nur die Angststörungen regulierte, son-
Langer und Kollegen (2012) zeigen, dass be- dern auch anatomische Veränderungen in je-
reits nach zweiwöchiger Immobilisierung des nen Hirngebieten induzierte, welche für die
rechten Arms nach einem Armbruch der Mo- Regulation dieser speziellen Ängsten wesent-
torkortex kontralateral zum gebrochenen und lich sind. Vor allem frontale Hirnareale, die bei
eingegipsten Arm deutliche Reduktionen der unbegründeten Angstgefühlen diese nicht ge-
kortikalen Dicke aufwies. Auch der mit dem nügend regulieren können, verändern sich
kontralateralen Motorkortex verbundene Kor- nach der Therapie massiv.
tikospinaltrakt zeigte markante Veränderun- Eine wichtige Frage ist derzeit, wie die Fä-
gen. Interessant war in diesem Zusammen- higkeit zur Plastizität des Gehirns besser ge-
hang, dass sich im Zuge der Immobilisation nutzt werden kann, um neurologische und psy-
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des rechten Arms die motorische Leistungs- chiatrische Schäden günstiger beeinflussen
fähigkeit des frei beweglichen linken Arms zu können. Leider befindet sich dieser For-
verbesserte und diese Verbesserung mit einer schungsbereich noch im status nascendi. Es
Zunahme der kortikalen Dicke des rechtsseiti- existieren jedoch bereits interessante Anwen-
gen Prämotorkortex verbunden war. In einer dungsvorschläge, um durch moderne Ergeb-
neuen Arbeit unserer Arbeitsgruppe (Steiger et nisse der Plastizitätsforschung zur Therapie
al., 2016) konnten wir sogar zeigen, dass eine von neurologischen, neuropsychologischen,
kognitive Verhaltenstherapie bei Patientinnen psychiatrischen oder sonstigen Beeinträchti-

klinische Phänotypen Neuroplastizität

Trauma, Schlaganfall, Anpassung, Fehlanpassung,


mentale Störungen, neuronale Netzwerke,
Süchte, Entwicklungsstörungen Transmittersysteme,
Hirndegeneration, Alter Neurone, Moleküle,
Kabelsysteme

Untersuchung Interventionen

Verhalten, Neurophysiologie nichtinvasive Hirnstimulation,


(Bildgebung, Elektrophysiologie), Tiefenstimulation, periphere
Neuroanatomie (strukturelle Stimulation, Pharmakologie,
Bildgebung), Lebensqualität physisches Training, kognitives
Training, Neurofeedback, rtfMRT

Abbildung 17-13: Aktuell untersuchte Ansätze zum Auslösen und/oder Beeinflussen der Neuroplas-
tizität.

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17.6. Rehabilitation 547

gungen zu gelangen (Cramer et al., 2011). gen durch eine ungünstige Interaktion beider
Aktuell wird intensiv untersucht, wie plas- Hemisphären beeinflusst. Die Motorareale
tische Prozesse effizient ausgelöst werden beider Hemisphären beeinflussen sich gegen-
können (Abb. 17-13). Physisches und kogniti- seitig, indem sie sich wechselseitig hemmen
ves Training hat sich als wirksame Methode (Abb. 17-14). Kommt es zu einer Läsion z. B. im
erwiesen, um Hirnplastizität auszulösen (s. o.). linksseitigen Motorkortex, kann der linkssei-
Aber auch pharmakologische Beeinflussun- tige Motorkortex bzw. das noch gesunde Ge-
gen haben sich als interessante Interventions- webe um die Läsion nicht mehr genug Hemm-
möglichkeiten zum Auslösen und/oder Beein- potenzial entwickeln, um die rechtsseitige
flussen neuroplastischer Prozesse erwiesen. Hemisphäre zu hemmen. Das führt dazu, dass
Ebenso werden derzeit mögliche günstige Ein- die jetzt enthemmte rechtsseitige Hemisphäre
flüsse der tiefen Hirnstimulation,52 der peri- den linksseitigen Motorkortex und das dort
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pheren Nervenstimulation, der externen noch vorhandene gesunde Gewebe noch stär-
Hirnstimulation53 und verschiedener An- ker hemmt als vor der Läsion. Mit anderen
wendungen des Neurofeedbacks untersucht. Worten, die lädierte Hemisphäre ist doppelt
Relativ weit fortgeschritten sind Arbeiten, in beeinträchtigt: einerseits durch die Läsion,
denen mittels Gehirnstimulationen plastische was dazu führt, dass weniger funktionsfähiges
Prozesse ausgelöst oder günstig beeinflusst Gewebe vorhanden ist, und andererseits auf-
werden. grund der starken Hemmung des noch ge-
Als Beispiel für die mögliche günstige Wir- sunden Gewebes durch die intakte rechte
kung von externen Gehirnstimulationen auf Hemisphäre. Diese für den Wiederaufbau
die Neuroplastizität soll hier die transkra- motorischer Leistungsfähigkeit ungünstige
nielle Magnetstimulation (TMS) besprochen neurophysiologische Ausgangslage kann durch
werden. Die TMS-Technik (aber auch die geeignete Stimulationen beeinflusst werden.
transkranielle Gleichstromstimulation) wird Ein Einfluss kann etwa durch neurophysiologi-
aktuell unter anderem in der Rehabilitation sche Hemmung der gesunden Hemisphäre
nach Schlaganfällen genutzt, um z. B. die mo- oder durch Erregung der lädierten Hemi-
torische Leistungsfähigkeit der gelähmten sphäre erzielt werden. Wird die gesunde He-
oder beeinträchtigten Arme und Hände güns- misphäre neurophysiologisch gehemmt, kann
tig zu beeinflussen. Einfache Trainings der sie die lädierte linksseitige Hemisphäre nicht
betroffenen Gliedmaßen führen in der Regel mehr so stark hemmen. Umgekehrt kann die
zu motorischen Leistungssteigerungen. Je- lädierte Hemisphäre neurophysiologisch er-
doch werden die motorischen Verbesserun- regt werden, um die von der gesunden Hemi-
sphäre verursachte Hemmung auszugleichen.
Auf diese Art werden für das motorische Trai-
ning des rechten Arms oder der rechten Hand
günstigere neurophysiologische Ausgangs-
52 Die tiefe Hirnstimulation ist ein neurochirur- bedingungen geschaffen. Die Erregung oder
gischer Eingriff, bei dem in das Gehirn Elektroden Hemmung kann mittels transkranieller Mag-
eingeführt werden, um bestimmte Hirngebiete zu netstimulation oder transkranieller Gleich-
erregen oder zu hemmen. Sie wird häufig zur Be-
stromstimulation erreicht werden. Zum Er-
handlung der Parkinsonkrankheit, der Dystonie, bei
regen der lädierten Hemisphäre werden
Zwängen und beim Tourettesyndrom eingesetzt.
53  Zu den externen Hirnstimulationen zählen die hochfrequente TMS-Impulse (oder eine ano-
transkranielle Magnetstimulation (TMS) und die dale tDCS-Stimulation) verwendet. Zur Hem-
transkranielle Gleichstromstimulation (tDCS). mung der gesunden rechtsseitigen Hemi-

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548 17. Plastizität

A) ungünstige interhemisphärische
Hemmung

B) Aktivierung der lädierten


Hemisphäre
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L
C) Deaktivierung der gesunden
Hemisphäre

n
io
im ve
at
St si
ul
le nva
ka ti
rti ich
ko n

Abbildung 17-14: Schematische Darstellung der gegenseitigen hemmenden Beeinflussung beider


Hemisphären. Die hypothetische Läsion ist als dunkelblauer Kreis im Bereich des oberen Teils des
angedeuteten Kortikospinaltrakts eingezeichnet. (A) Durch die Läsion ist die Hemmung der kontrala-
teralen Hemisphäre niedriger, was dazu führt, dass die Hemmung der linken lädierten Hemisphäre
größer ist. (B) Durch Erregung der lädierten linken Hemisphäre (mittels hochfrequentem TMS) wird die
kontralaterale rechte Hemisphäre wieder stärker gehemmt, sodass diese die linke Hemisphäre nicht
mehr so stark hemmen kann. (C) Möglich ist auch, die rechte Hemisphäre (mittels niederfrequentem,
aber lange andauerndem TMS) zu hemmen. Auch diese Stimulation führt dann zu einer ausgegliche-
neren gegenseitigen Beeinflussung beider Hemisphären, sodass motorische Trainings optimaler ge-
staltet werden können.

sphäre werden niederfrequente und länger 17.7. Zusammenfassung


andauernde TMS-Impulse eingesetzt (1 Hz
Stimulation über 10–30 min). In der Tat hat • Typische Forschungsansätze zur Unter-
sich gezeigt, dass eine Hemmung der gesun- suchung der Neuroplastizität sind Quer-
den oder eine Erregung der lädierten Hemi- schnitts- und Längsschnittuntersuchungen.
sphäre mit besseren motorischen Lernleis- Bei Querschnittsuntersuchungen werden
tungen verbunden ist. Experten und Nichtexperten hinsichtlich

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17.7. Zusammenfassung 549

anatomischer und neurophysiologischer meist schon sehr früh in der Verarbeitungs-


Kennwerte miteinander verglichen. kette entdeckt. Die größeren Amplituden
• Experten in bestimmten Funktionsberei- werden als Indikator für mehr synchron
chen (z. B. Musiker) sind für die Erforschung feuernde Neurone interpretiert.
der Neuroplastizität von besonderer Bedeu- • Querschnittsuntersuchungen, in denen
tung, da sie in der Regel sehr früh mit dem fMRT-Messungen durchgeführt wurden,
Training in ihrem Expertisebereich begin- zeigen, dass Experten bei der Bearbeitung
nen und dieses Training oft ein Leben lang expertise-relevanter Aufgaben eine gerin-
intensiv durchführen. gere Durchblutung in den spezialisierten
• Genetik und Umwelt üben gleichermaßen Hirngebieten aufweisen. Diese geringere
Einflüsse auf das Gehirn aus. Durchblutung könnte indizieren, dass nur
• Die Neuroplastizität wurde anfangs v. a. die wichtigen Neurone (dafür aber syn-
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mittels Tierstudien untersucht. Ein typi- chron) feuern. Zusammengefasst weisen


sches Beispiel ist das Syndaktylie-Experi- diese Befunde darauf hin, dass die neu-
ment, in dem bei Affen zwei Finger zusam- rophysiologische Bearbeitung dieser spe-
mengenäht wurden. Nach einer Weile war ziellen Reize oder Aufgaben bei Experten
die somatosensorische Repräsentation der optimierter abläuft (Prinzip der neuro-
zusammengenähten Finger in Area 3 ver- physiologischen Optimierung).
schmolzen. • Neben diesen Optimierungen verändert
• Die Erforschung der Neuroplastizität wurde sich mit zunehmender Expertise auch die
insbesondere durch die Experimente des funktionelle Netzwerkarchitektur bei Ex-
Neuropsychologen Ramachandran beför- perten, was bedeutet, dass verschiedene
dert. Er untersuchte Patienten, denen eine Hirngebiete anders miteinander inter-
Hand oder ein Arm amputiert wurde und agieren.
die über Schmerzen im amputierten Glied • In Längsschnittuntersuchungen werden
klagten (Phantomschmerz). Er konnte trainingsbedingte neurophysiologische Ak-
plausibel machen, dass der Phantom- tivierungsveränderungen gemessen. Im
schmerz mit der Reorganisation des soma- Laufe des Trainings werden die ERP-Kom-
tosensorischen Kortex zusammenhängt. ponenten auf die gelernten Reize größer
Neurone, die vormals das amputierte Glied und das aktivierte Volumen nimmt zu.
„versorgten“, werden nach der Amputation Wahrscheinlich werden während des Ler-
in neue Funktionskreise eingebunden. Dies nens mehr Neurone in die Kontrolle der ge-
sind in der Regel somatosensorische Re- lernten Funktion einbezogen, um heraus-
präsentationen, die unmittelbar neben der zufinden, welche dieser Neurone letztlich
somatosensorischen Repräsentation des wirklich notwendig sind. Auch die funktio-
amputierten Gliedes lokalisiert sind. nelle Netzwerkarchitektur ändert sich im
• In Querschnittsuntersuchungen zur funk- Zuge des Trainings. Die Hirngebiete, die an
tionellen Plastizität ist häufig mit Musikern der Verarbeitung der gelernten Funktionen
gearbeitet worden. Diese Studien haben er- oder Reize beteiligt sind, beginnen sich
geben, dass sich die neurophysiologischen mehr und mehr funktional „zusammen-
Reaktionen der Experten auf expertiserele- zuschalten“ (Prinzip des Aufbaus neuer
vante Reize deutlich von den neurophysio- oder der Veränderung bereits bestehen-
logischen Reaktionen der Nichtexperten der funktionaler Verbindungen).
unterscheiden. Prinzipiell wurden größere • Neuroanatomische Längsschnittstudien
ERP-Komponenten (größere Amplituden) zur Neuroplastizität belegen, dass intensi-

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550 17. Plastizität

ves Üben messbare anatomische Verände- • Am Beispiel der interhemisphärischen In-


rungen in jenen Hirngebieten auslöst, die in teraktion wird die Bedeutung der selektiven
die Kontrolle der trainierten Funktion ein- Hemmung oder Erregung einer Hemi-
gebunden sind. Typischerweise kann trai- sphäre zur Optimierung von Trainingspro-
ningsinduziert eine Zunahme der Dichte zessen diskutiert.
oder eine Volumenzunahme der grauen
Substanz festgestellt werden. Meist wird
auch eine Zunahme der fraktionalen Aniso- 17.8. Fragen und Aufgaben
tropie berichtet. Abnahmen der fraktiona-
len Anisotropie finden sich insbesondere in • Beschreiben Sie die kortikalen Reorganisa-
den Hirngebieten, die unmittelbar neben tionsprozesse bei Affen nach künstlicher
den Hirngebieten lokalisiert sind, die eine Syndaktylie.

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trainingsinduzierte Zunahme der grauen Wie verändert sich der auditorische Kortex
Substanz aufweisen. von Affen nach einem Tondiskriminations-
• Die zellulären Grundlagen der anatomi- training?
schen Plastizität sind noch unklar. Dis- • Beschreiben Sie die klassischen Versuchs-
kutiert werden folgende Mechanismen: ansätze zur Untersuchung der Neuroplas-
Neuronenvergrößerung (Oberflächenver- tizität.
größerung), Zunahme der Dendritisierung • Beschreiben Sie typische Befunde bezüg-
und der Gliafortsätze (Vergrößerung des lich der Plastizität bei Musikern.
Neuropils), Synaptogenese und Zunahme • Beschreiben Sie einige Grundprinzipien der
der Kapillarisierung. Plastizität.
• Bei Patienten nach Amputationen, bei Blin- • Beschreiben Sie ein typisches Beispiel für
den, aber auch im Zusammenhang mit der die Veränderung der Netzwerkarchitektur
krankheitsbedingten Immobilisierung von durch Training.
Gliedern kommt es zu teilweise massiven • Was wird unter struktureller Neuroplastizi-
Reorganisationen. Bei Blinden wird der vi- tät verstanden?
suelle Kortex in die Verarbeitung taktiler • Beschreiben Sie einige Befunde zur struk-
Informationen eingebunden. Bei Hand- turellen Neuroplastizität, die im Rahmen
amputierten können die ehemals für die von Querschnittsuntersuchungen erbracht
Hand zuständigen Neurone in die Kontrolle wurden.
der Füße eingebunden werden. • Beschreiben Sie einige Befunde zur struk-
• Aktuell wird intensiv über die Nutzbarma- turellen Neuroplastizität, die im Rahmen
chung der Erkenntnisse aus der Neuro- von Längsschnittuntersuchungen erbracht
plastizitätsforschung diskutiert. In diesem wurden.
Zusammenhang werden folgende Interven- • Welche Möglichkeiten zur „Auslösung“ von
tionsmöglichkeiten thematisiert, mit denen Neuroplastizität werden im Zusammen-
Neuroplastizität ausgelöst werden könnte: hang mit der Rehabilitation derzeit dis-
physisches und kognitives Training, phar- kutiert?
makologische Beeinflussungen, die tiefe • Kann Plastizität von „außen“ beeinflusst
Hirnstimulation, die periphere Nervensti- werden?
mulation, die externe Hirnstimulation und
verschiedene Anwendungen des Neuro-
feedbacks.

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17.9.  Weiterführende Literatur 551

17.9. Weiterführende Literatur


Jäncke, L. (2009). The plastic human brain. Res-
tor Neurol Neurosci, 27(5), 521–538.
May, A. (2011). Experience-dependent structural
plasticity in the adult human brain. Trends
Cogn Sci, 15(10), 475–482.
Pascual-Leone, A., Amedi, A., Fregni, F., Mera-
bet, L. B. (2005). The plastic human brain
cortex. Annu Rev Neurosci, 28, 377–401.
Zatorre, R. J., Fields, R. D., & Johansen-Berg, H.
(2012) Plasticity in gray and white: neuro-
imaging changes in brain structure during
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learning. Nat. Neurosci., 15, 528–536.

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553

18. Sprache und Kommunikation


Martin Meyer
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18.1. Einführung 555

18.1. Einführung erwächst aus dem Umstand, dass – anders als


im Zusammenhang mit Gedächtnis oder ele-
Neben dem aufrechten Gang und der musika- mentarer visueller oder auditorischer Verarbei-
lischen Kultur ist die Sprache eines der Merk- tung – praktisch keine Vergleiche mit Tierstu-
male, die als typisch für die menschliche Son- dien möglich sind. Eine weitere Einschränkung
derstellung unter allen Lebensformen gelten ist dem Umstand geschuldet, dass sich unter
(Fitch, 2011). Nach dem heutigen Wissens- den ca. 6000 bis 7000 existierenden Sprachen
stand ist die menschliche Sprache eine Fertig- unterschiedliche Klassen und Familien befin-
keit, die während der Evolution in dieser spe- den, die sich z. T. erheblich in Form, Aufbau
ziellen Form nur einmal entstanden ist; im und Struktur unterscheiden. So kommt der
Tierreich existiert kein Kommunikationssys- Sprachmelodie in tonalen Sprachen wie dem
tem, das dieselbe Komplexität erreicht (mehr Mandarin im Vergleich zu indogermanischen
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dazu 18.3.). Eine übereinstimmende Defini- Sprachen wie dem Deutschen eine viel größere
tion dessen, was Sprachwissenschaftlerin- Rolle bei der Verarbeitung von Bedeutungs-
nen, Psychologen, Philosophinnen, kognitive informationen zu. In so genannten Ergativ-
Neuro- und Computerwissenschaftler unter sprachen verhält es sich anders als in Akku-
Sprache verstehen, liegt aufgrund der Kom- sativsprachen (wie z. B. dem Deutschen) so,
plexität des Gegenstands nicht vor. In Ab- dass unterschiedliche Funktionen des gram-
schnitt 18.2. gehe ich detaillierter auf diese matischen Subjekts (also dem Handelnden)
Frage ein. Nichtsdestotrotz möchte ich zu Be- mithilfe von verschiedenen Kasusmarkierun-
ginn des Kapitels darauf hinweisen, dass im gen differenziert werden. Nur für 200 Sprachen
Folgenden verschiedene Aspekte der Gehirn- existiert eine Schriftform. Daraus wird ersicht-
Sprache Beziehung behandelt werden. Primär lich, dass Lautsprache als eine biologische Fä-
werde ich der Frage nachgehen, wo und wie im higkeit zu betrachten ist, deren Entstehung in
Gehirn Sprache und Kommunikation verarbei- ihren frühen Formen vermutlich einige Millio-
tet werden. Leser*innen, denen dieser Fokus nen, mindestens aber 500 000 Jahre zurück-
zu eng ist und die eine breitere Einführung in liegt, während Schriftsprache eine kulturelle
das Thema „Sprachpsychologie“ wünschen, Fertigkeit darstellt, deren Entwicklung vor ca.
empfehle ich den Text von Bender (2018). 5000 bis 10 000 Jahren begann (siehe Kapi-
In neuropsychologischen Untersuchungen tel 19, Bender, 2018). Anders als die Schrift-
der letzten Jahre stand primär das Verstehen sprachen dürften Lautsprachen als Fortset-
gesprochener, geschriebener und gebärdeter zung von ikonischen und später symbolischen
Sprache auf verschiedenen Ebenen (Laute, Formen der unmittelbaren dyadischen Kom-
Silben, Worte, Sätze) im Fokus. Ziel dieser munikation entstanden sein. In diesem Kapitel
Untersuchungen war es zum einen, das ge- liegt daher der Schwerpunkt auf neuropsycho-
samte Netzwerk im menschlichen Gehirn, das logischen Aspekten der Sprachen mit einem
mit sprachlichen Funktionen betraut ist, zu evolutionären Hintergrund, d. h. auf der Laut-
erfassen. Zum anderen zielte das Gros der und Gebärdensprache (18.7, 18.8). Insbeson-
Studien darauf ab, die spezifische Rolle dis- dere auf die Fragen, welche Hirnregionen das
tinkter Hirnregionen bei der Verarbeitung von sprachliche Netzwerk bilden und wie das
unterschiedlichen linguistischen und paralin- menschliche Gehirn Sprache(n) in Echtzeit
guistischen Ebenen der Sprache (Syntax, Se- versteht und produziert, werden in den Ab-
mantik, Phonologie, Prosodie) besser zu ver- schnitten 18.5 und 18.6 Antworten gegeben.
stehen, sofern dies überhaupt möglich ist. Eine Somit fließen in diesem Kapitel Erkenntnisse
besondere Schwierigkeit in diesem Kontext zu raumzeitlichen Aspekten der Sprache-Ge-

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556 18.  Sprache und Kommunikation

hirn Beziehung aus den letzten 20 Jahren For- 18.2. Was ist Sprache?
schung mit bildgebenden Verfahren (PET,
fMRT, sMRT, DTI, EEG, MEG) zusammen und Sprache ist ein komplexes Zeichensystem so-
ergänzen sich mit Resultaten aus Studien, die wie das wichtigste Mittel zum Austausch von
primär die neurokomputationale Ebene von Informationen unter Menschen. Menschen
Sprachfunktionen untersucht haben. In diesen benutzen Sprache primär beim Sprechen, Ge-
Studien steht also nicht die Frage nach dem bärden, Lesen, Schrei­ben und Texten. Des
„Wo im Gehirn“ (18.5), sondern nach dem Weiteren wird auch betont, dass beim Träu-
„Wie im Gehirn“ (18.6) im Vordergrund. Da- men oder Denken und natürlich in der Kunst
durch konnten zahlreiche Aussagen des klassi- die Sprache eine wichtige Rolle spielt (Bender,
schen neurologischen Models der Sprache als 2018). Daher gilt Sprache auch als die kom-
veraltet überführt werden. plexeste unter allen Kognitionen. Dem ein-
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Anders als z. B. lange Zeit geglaubt wurde, flussreichen Linguisten und Sprachwissen-
lassen sich sprachliche Funktionen nicht ein- schaftler Noam Chomsky zufolge ist allen
fach einem oder zwei „Sprachzentren“ im Ge- Sprachen trotz ihrer augenscheinlichen Diver-
hirn zuordnen. Die vielleicht wichtigste Er- sität eine minimalistische Universalgramma-
kenntnis im Kontext der Erforschung mensch- tik gemein, deren fundamentale Prinzipien im
licher Kognition mit bildgebenden Verfahren Gehirn eines jeden Menschen genetisch fest-
(Kap. 18.5.3., 18.5.4. und 18.5.5.) ist, dass gelegt sind. Der scheinbar mühelose Prozess
große Teile des Kortex an Sprachverarbeitung des Spracherwerbs in den ersten Lebensjahren
und -produktion beteiligt sind. Modalitäts- wäre durch die Annahme der Existenz einer
unabhängig ist Sprache bei den meisten Men- angeborenen „Sprachblaupause“ im Gehirn,
schen (95 % der Rechtshänder und knapp die den Erwerb von Sprache praktisch auto-
70 % der Linkshänder) – ähnlich wie Praxis – matisiert abspult, natürlich leichter erklärbar.
eine dominante Funktion der linken Hemi- Trotz der Plausibilität dieses Gedankens ist
sphäre, was v. a. mit der Anlage sprachartiku- Chomskys Idee einer Universalgrammatik bis
latorischer Mechanismen in dieser Hirn- heute umstritten, empirisch nicht bewiesen
hälfte zu erklären sein dürfte (Kap. 18.5.3. und widerspricht den fundamentalen Prinzi-
und Abb. 18-1). Das Kerngebiet der sprachrele- pien der Evolutionstheorie, die Sprache äqui-
vanten Areale befindet sich um die Sylvische valent einem wandelbaren Organismus an-
Fissur und erstreckt sich über mediale und la- sieht und nicht als ein modulares, in sich
terale Teile des Frontal-, des Temporal- und geschlossenes System versteht (Christiansen
des Parietallappens. Diese Zone wird dem- und Chater, 2008). Tatsächlich scheint beim
nach perisylvische Region genannt. Die rechte Spracherwerb das Erlernen der lautlichen
perisylvische Region zählt ebenfalls zum neu- Muster, aus der gesprochene Sprache besteht,
ronalen Netzwerk der Sprache (Kap. 18.5.). durch fortwährende Exposition während der
Zuerst aber einmal möchte ich die wichtigsten ersten neun Lebensmonate nach der Geburt
Merkmale von Sprache und ihre linguistischen bzw. zum Teil vorgeburtlich eine große Rolle
Beschreibungsebenen darlegen, auch wenn zu spielen (Kap. 18.4.5.). Ebenso spricht die
die Bedeutung dieser linguistischen Domänen hohe Diversität zwischen den Sprachen dieser
für die Realität des Gehirn zunehmend in- Welt gegen das vereinfachende Prinzip einer
frage gestellt wird. Universalgrammatik.
Aufgrund der Komplexität der Fragestel-
lung sollen eingangs einige vereinfachende
begriffliche Klärungen erfolgen. Sprache

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18.2.  Was ist Sprache? 557

primärer Motorkortex Planum


temporale (PT)
Sulcus frontalis
inferior (SFI) prämotorischer
Kortex Sulcus centralis
(Rolandische Fissur) Sulcus temporalis
superior (STS)
Broca-Areal

Pa
rie
ta
lla
pp
en
en
pp
lla
ta

40 39
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on
Fr

6 4
22
44
19

43 18
45 41 42 37 17

22
47

llappen
38 Okzipita
21
frontales
Operculum (FOP)
en
app
porall
Tem
Sulcus lateralis
(Sylvische Fissur)
primärer
auditorischer
Kortex
Planum
superior polare (PP)
(dorsal)
Gyrus frontalis inferior (GFI)
anterior posterior
(rostral) (kaudal)
Gyrus temporalis superior (GTS)

inferior
(ventral) Gyrus temporalis medius (GTM)

Abbildung 18-1: Die Abbildung zeigt die Lateralansicht einer linken Hemisphäre eines menschlichen
Gehirns. Die wichtigsten sprachrelevanten Kortexareale (GFI, GTS, GTM) grenzen entweder an die Sylvi-
sche Fissur oder nehmen den mittleren Teil des Temporallappens ein. Die Ziffern bezeichnen die Ord-
nungszahlen der zytoarchitektonischen Kartierung nach Korbinian Brodmann (1909). Visuelle (BA 17–
19) und auditorische Rindengebiete (BA 41, 42) gehören nicht zum Kern der sprachrelevanten Areale,
sondern werden in Abhängigkeit von der laut- oder schriftsprachlichen Modalität partiell zum Sprach-
netzwerk gezählt (nach Friederici, 2011).

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558 18.  Sprache und Kommunikation

kann je nach Kontext und wissenschaftlicher lexikalische Element „Tisch“ als ein Symbol
Disziplin verschiedene Bedeutungen haben. für das Konzept eines Tisches zu verstehen.
Bei der Beschreibung von Sprache sollte zwi- Dabei wird noch zwischen linguistischer und
schen ihrer Funktion als Kommunikations- konzeptueller Semantik unterschieden. Wäh-
system einerseits und der formalen Struktur rend es in der linguistischen Semantik nur eine
ihrer Bezugssysteme (Phonologie, Syntax, Entsprechung oder Definition für den Begriff
Semantik) andererseits unterschieden werden „Hund“ gibt, finden sich in der konzeptuell-
(Hauser et al., 2002; Kap. 18.7.). Sprache ist semantischen Register eines Menschen un-
allgemein ein symbolisches System, das aus zählige Einträge und persönliche Assoziatio-
willkürlichen Zeichen für bestimmte Kon- nen zu diesem Begriff, z. B. verbales und nicht
zepte besteht und die Übertragung konkreter verbales Wissen zu einzelnen Hunden, die
und abstrakter Inhalte zwischen einem Sen- man kennt, Hunderassen, Eigenschaften von
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der und einem (oder mehreren) Rezipienten Hunden, Hundephobien oder -allergien etc.
unabhängig von der Modalität gewährleistet. Ganz einfach ist die begriffliche Trennung
Die Beziehung dieser Zeichen wird (ebenfalls zwischen konzeptueller und linguistischer Se-
modalitätsunabhängig) durch ein syntakti- mantil allerdings nicht, da diese zum Teil auch
sches Regelwerk organisiert. Für eine ausführ- überlappen. Die Zuordnung von Symbol und
liche Einführung in diesen Gegenstand sei auf Bedeutung ist in den meisten Sprachen will-
Bender (2018) verwiesen. kürlich in dem Sinne, dass die Bedeutung nicht
Die Syntax ist ein Teil der Grammatik und aus dem (lautlichen) Zeichen ersichtlich ist.
als ein System von Verknüpfungsregeln zu ver- Auf der Ebene der Phonologie werden
stehen, mit dem vieldimensionale Wissens- Phoneme, Silben und lexikalische Elemente zu
strukturen in eine eindimensionale Repräsen- segmentalen und suprasegmentalen Einheiten
tation transformiert werden. Somit ist die geformt. Des Weiteren entscheidet sich so-
Syntax das System zur Produktion hierar- wohl in der Schrift- als auch in der Lautspra-
chischer Strukturen in der Sprache. Als ein che, wie lautsprachliche Muster, z.B. Pho-
Werkzeug der Syntax gilt beispielsweise die neme, ausgesprochen und betont werden. Ein
Hierarchisierung von Konstituenten, wel- Phonem gilt dabei als die kleinste bedeu-
che die Verschachtelung beliebig vieler Sätze tungsunterscheidende Einheit der Sprache.
ineinander ermöglicht und nach heutigem Silben einer Sprache bestehen aus Phonemen
Wissensstand die Komponente der Syntax ist, und die Unterscheidung zwischen zwei Wort-
die nur beim Menschen existiert. Somit be- bedeutungen (Wind/Kind/Rind) ist auf unter-
stimmt die Syntax, wie unabhängige Ele- schiedliche Phoneme zurückzuführen. Pho-
mente in größere Sequenzen gefügt werden, neme müssen nicht zwingend eine semanti-
und erlaubt es, aus einer begrenzten Anzahl sche Funktion haben. Der Unterscheid zwi-
von Einheiten unendlich viele Propositionen schen den Silben /da/ und /ta/ ist auch auf
zu produzieren, wobei jede eine unterscheid- unterschiedliche Phoneme zurückzuführen,
bare Bedeutung haben kann bzw. eine nach- aber für sich alleinstehend sind diese Silben
vollziehbare Bedeutung haben muss. ohne semantische Implikation. Nicht zu ver-
Unter Semantik oder Symbolismus wird wechseln ist der Begriff des Phonems daher
die Möglichkeit verstanden, Bedeutungen zu mit dem des Morphems. Morpheme sind in
encodieren und intentional zu kommunizie- der Sprache der Linguistik die kleinsten lautli-
ren. Symbolgebrauch bezeichnet die Fähig- chen oder grafischen semantischen Sprachein-
keit, Zeichen (Symbole oder Gesten) mit Kon- heiten mit einer spezifischen Bedeutung oder
zepten zu verbinden, beispielsweise das grammatischen Funktion.

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18.2.  Was ist Sprache? 559

Neben Phonemen zählen auch Prosodie und semantische Ebene bedeutungsvoll sein
oder Rhythmus einer sprachlichen Äußerung kann. So kann eine sprachliche Äußerung mit
zu den wichtigen paralinguistischen Parame- einem Absenken oder Anheben der Grund-
tern. Zum Beispiel kann eine bestimmte Proso- frequenz (F0) enden, wonach sich entscheidet,
die in der Aussprache einem Satz eine lautliche ob sie den Charakter einer Aussage oder Frage
Struktur geben, die auch für die syntaktische hat („Heute ist ein schöner Tag!“ vs. „Heute ist

a ‘b e ı ‘b ı j Ω
kæ n dr a ı v m a ı k a:
8
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Frequenz (kHz)

b ‘beı ‘bı j

kæn draıv maı ka:
Lautstärke

0-5 s
Abbildung 18-2: Unterschiedliche Zeitskalendarstellungen eines generischen akustischen Sprachsignals.
a: Spektrogramm des Signals, bei dem die schnellen akustischen Modulationen farblich hervorgehoben
sind. Spektrogramm-Darstellungen ermöglichen die Visualisierung von phonemischen Merkmalen in der
zeitlichen Dimension. Zum Beispiel werden Vokale durch ihre Formantmuster definiert (z. B. dunkle
Streifen definieren die Vokale). Konsonanten, wie /k/ durch akustisches Rauschen ohne strukturiertes
Frequenzmuster.
b: Das Oszillogramm zeigt ebenfalls den zeitlichen Verlauf des akustischen Signals. Die blaue Linie zeigt
die zeitliche Hüllkurve, die den Verlauf der Intonation darstellt. Obwohl die Hüllkurve – wie alle natürli-
chen Signale – nicht strikt periodisch ist, zeichnet sie sich durch gewisse zeitliche Regelmäßigkeiten aus.
Die Senken in der Hüllkurve, welche typischerweise Grenzen zwischen Silben (und nicht Wörtern) (durch
Pfeile angezeigt) markieren, zeigen ein regelmäßiges zeitliches Muster im Ablauf. (nachgezeichnet nach
Poeppel & Assaneo, 2020)

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560 18.  Sprache und Kommunikation

ein schöner Tag?“) bzw. auf welchem Satzteil In der Linguistik werden diese elementaren
der Satzakzent liegt („Der Mann küsst die Ebenen der Sprache zumeist als distinkt und
Frau.“ vs. „Der Mann küsst die Frau.“). Für die unabhängig voneinander beschrieben, was
linguistische Analyse und die endgültige Inter- erstmal keinen Bezug zur neurokognitiven Rea-
pretation eines Satzes oder (Wortes) kann da- lität von Sprachverarbeitung hat (Abb. 18-3). In
her die prosodische Markierung entscheidend
sein. Veränderungen der akustischen Muster
eines Sprachsignals über die Länge einer Silbe, auditive und visuelle
Sprachsignale
eines Konstituenten oder sogar eines Satzes
hinweg nennt man suprasegmental. Über die
Funktion dieser suprasegmentalen Modulatio-
nen für das Sprachverstehen und die Interpre- phonemische,
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tation sprachlicher Äußerungen, insbesondere prosodische und


graphemische Analyse
im Alter, bei Hörverlust und für den Sprach-
erwerb ist sich die Wissenschaft erst in den
letzten Jahren bewusst geworden (Meyer et
al., 2018). Lange Zeit subsummierte man syntaktische
lexikalische
neben Intonation auch Rhythmus und Metrik Analyse
Analyse
(Parsing)
unter den Oberbegriff Prosodie. Doch diese
Kategorisierung wird gerade infrage gestellt.
Poeppel und Assaneo (2020) argumentieren
Diskurs-
nun neu, dass Rhythmus und Metrik – anders Interpretation
und
als Prosodie – keine linguistischen Funktionen Kontext- einer sprachlichen
wissen Äußerung
haben, sondern lediglich der erleichterten Seg-
mentierung von gesprochener Sprache dienen
(Abb. 18-2). Sie stellen damit rhythmische und Abbildung 18-3: Die Abbildung zeigt den Ver-
arbeitungspfad sprachlicher Signale für Schrift-
metrische Modulationen des Sprachsignals als
und Lautsprache. Nach der Stufe der elementaren
eine Art strukturierenden Mechanismus dar,
Verarbeitung graphemischer Information in der
der seinen Ursprung im motorischen System
visuellen Modalität und phonemischer sowie pro-
hat. Da der auditorischen Modalität anders als sodischer Information in der auditiven Modalität
dem motorischen, dem visuellen und auch teils werden die Informationen auf höheren linguisti-
dem somatosensorischen System ein endo- schen Ebenen verarbeitet. Dabei werden während
gener Rhythmus fehlt, wurde die Lautsprache der lexikalischen Analyse Wortbedeutungen er-
zusätzlich mit dieser Eigenschaft ausgestattet, mittelt und während der syntaktischen Analyse
um dem Gehirn die initiale Verarbeitung der (Parsing) wird die Beziehung der einzelnen Kon-
Zeitbereichsmerkmale gesprochener Sprache stituenten einer sprachlichen Äußerung (Wer
zu erleichtern. Während also Prosodie eine in- macht was mit wem?) festgelegt. In einer ab-
schließenden Stufe der Satzverarbeitung wird die
härente Funktion ist, die für die Interpretation
endgültige Interpretation einer sprachlichen Äu-
sprachlicher Äußerungen wichtig ist, ist Rhyth-
ßerung bestimmt. Im Falle von lokal oder global
mus dem motorischen System entliehen und
ambigen Satzstrukturen („Die Studenten prüfen
hat keine Funktion auf den höheren Ebenen der die Professoren.“) wird auf Diskurs- und Kontext-
Sprachverarbeitung. Ob sich im Gehirn dis- wissen (in der Regel werden Studenten von Pro-
tinkte neurale System für Prosodie und Rhyth- fessoren geprüft) referiert, um zu einer möglichst
mus finden lassen, müssen nun die kommen- plausiblen und wahrscheinlichen Interpretation
den Jahre entscheiden. zu gelangen.

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18.4.  Produktion von Lauten und Sprache 561

der Psycho- oder Neurolinguistik werden dafür che (z. B. rekursive Grammatik), die es in die-
die Verarbeitung und Produktion sprachlicher ser Form in Tiersprachen nicht zu geben
Äußerungen im Kontext von anderen psycho- scheint. Mit einer endlichen Anzahl von Sym-
logischen oder neurologischen Einflussfak- bolen (Worte) und Regeln ist es möglich, eine
toren untersucht. Modulierende (individuell unendlich große Anzahl von Phrasen (Sätze)
variierende) Faktoren, wie z .B. das Arbeits- zu formen. Dass diese Sätze nicht über eine
gedächtnis, Hirnläsionen, Aufmerksamkeits- Bedeutung im engeren Sinn verfügen müssen
funktionen, Hör- und Sehvermögen, Lebens- („Farblose grüne Ideen schlafen wütend.“), ist
alter oder spezielle Expertise moderieren nach- ein wichtiger Aspekt. Sprache im Verständnis
weislich sprachliche Funktionen im Gehirn und der FLN ist von der eigentlichen Kommunika-
zeigen damit, dass Laut-, Gebärden- und auch tion abstrahiert und funktioniert nach einem
Schriftsprachen nicht unabhängig und abge- zweckfreien Regelsystem. Die biologischen
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trennt von anderen sensorischen und kogniti- Limitationen, die einen menschlichen Spre-
ven Systemen im Gehirn existieren. Eine aus- cher im Gebrauch der Lautsprache einschrän-
führliche Beschreibung dieser Sachverhalte ken (begrenztes Lungenvolumen, begrenztes
findet sich bei Bender (2018). Arbeitsgedächtnis, begrenzte sensomotori-
sche Kapazitäten für die Planung und Ausfüh-
rung einer Artikulation, Konzentration auf
18.3. Sprache der Tiere konkrete, kontextabhängige, kommunikative
und intentionale Inhalte), grenzen die FLB von
Immer wieder wird Sprache als die heraus- der FLN ab (Abb. 18-4).
ragende Fähigkeit betrachtet, die dem Men-
schen vorbehalten ist. Tiere besitzen ein bis-
weilen sehr spezifisches Signalinventar zur 18.4. Produktion von Lauten
Kommunikation untereinander (z. B. der Tanz und Sprache
der Honigbienen oder der Gesang von Walen,
die olfaktorischen Signale von Hunden), das Zur Entstehung von Lauten tragen viele Kör-
sich aber in vielen Aspekten von der mensch- perteile bei. Am Anfang der Lautproduktion
lichen Sprache unterscheidet. Zur Kommuni- steht ein Luftstrom, der aus den Lungen
kation nutzen Tiere nach heutigem Wissen durch die Luftröhre (Trachea) und die Stimm-
zumeist ein fixes Signalinventar, das kontext- lippen in den Kehlkopf (Larynx) gedrückt wird
abhängig verwendet wird und kaum symboli- (Abb. 18-5).
sche Referenzen erlaubt. Folglich wird die Die Stimmlippen werden durch den Luft-
Sprachfähigkeit im eigentlichen Sinn auf den strom in Bewegung gesetzt und beginnen mit
Menschen bezogen und damit eine kategori- einer Grundfrequenz (F0) zu schwingen. Die
sche Grenze zwischen menschlicher und tieri- Frequenz dieser Vibrationen ist abhängig von
scher Sprache gesetzt, sodass im Zusammen- den Muskeln, die den Tonus der Stimmlippen
hang mit der menschlichen Lautsprache auch kontrollieren. Die Grundfrequenz variiert ab-
von Faculty of language in a narrow sense (FLN; hängig von Geschlecht bzw. Körpergröße ei-
Hauser et al., 2002) gesprochen wird. Dieses nes Sprechers zwischen 100 und 400 Hz. Die
Verständnis von Sprache im engeren Sinn Stimmbänder bzw. der Kehlkopf (Larynx) fun-
grenzt sie explizit von jeder allgemeinen Form gieren dabei als eigentlicher Generator eines
tierischer und menschlicher Kommunikation Sprachlauts. Oberhalb der Stimmlippen wan-
(Faculty of language in a broad sense, FLB) ab dert der Luftstrom durch den Vokaltrakt (An-
und betont Eigenschaften menschlicher Spra- satzrohr) zu dem Pharynx sowie Mund- und

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562 18.  Sprache und Kommunikation

FLB
konzeptuelle-intentionale
Anteile

FLN
Rekursion
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Farblose grüne
Ideen
FLB
übrige
Anteile

schlafen
zornig.

FLB
sensomotorische
Anteile

Abbildung 18-4: Hypothetische Unterscheidung der Sprache in zwei Bereiche (Hauser et al., 2002). Die
FLB enthält dabei jene Kapazitäten, die Teile von Sprachen im Allgemeinen sind, teilweise unabhängig
davon, ob sie spezifisch für menschliche Sprache sind. Primär handelt es sich dabei um Bereiche (senso-
motorische Integration, intentionale und konzeptuelle Komponenten), die Teil von menschlichen und
tierischen Kommunikationssystemen sind. Die FLN hingegen umfasst Aspekte der menschlichen Spra-
che (z. B. rekursive Grammatik), die nicht Komponenten von Tiersprachen sind. (Nachgezeichnet nach
Hauser et al., 2002)

Nasenhöhle zählen und der wie der Körper ei- ren. Die Stellung der Artikulatoren zueinander
nes Instruments als Resonanzraum dient. Dort bestimmt schlussendlich die Form des Sprach-
wird der noch weitgehend konturlose Luft- lauts, indem die akustische Energie, die durch
strom endgültig zum Sprachlaut umgeformt. die Vibrationen der Stimmlippen produziert
Diese Umformung erfolgt durch die sogenann- wurde, weiter manipuliert wird. Somit wirken
ten Artikulatoren, zu denen u. a. die Zunge, die Artikulatoren ähnlich wie Filter, die die
die Lippen, der Gaumen und der Kiefer gehö- Formanten im laryngealen Schallsignal (Viel-

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18.4.  Produktion von Lauten und Sprache 563

zahlige der Grundfrequenz) manipulieren und stellt, die die Entstehung eines akustischen
somit unspezifische Vokalisationen in Sprach- Sprachsignals beschreibt. Doch was passiert
laute transformieren (Abb. 18-6). im Gehirn, bevor der Artikulationsapparat da-
In anschaulicher Form werden diese Zu- mit beginnt, Laute zu einer sprachlichen Äu-
sammenhänge im Quelle-Filter-Modell zu- ßerung zu formen? Wie entsteht die linguisti-
sammengefasst (Abb. 18-6), das jedoch nur den sche Struktur im kognitiven Apparat, die einen
letzten Teil einer Kaskade von Prozessen dar- Gedanken in das Gerüst eines Satzes transfor-

A) Filter: Vokaltrakt B) Quelle: Larynx


Velum
Nasenhöhle Epiglottis
Glottis
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Mundhöhle Epiglottis
Stimmlippen

Gaumen

Laut-
ausgabe
Pharynx
Zunge
Trachea Luftstrom
Trachea
aus der Lunge

Abbildung 18-5: Darstellung der Lautentstehung (Quelle-Filter-Modell). Kehlkopf (B) und Vokaltrakt (A)
übernehmen dabei unterschiedliche Funktionen. Der Luftstrom aus der Lunge durchströmt den Larynx.
Dessen Beschaffenheit bestimmt die Tonhöhe und die Stimmqualität (z. B. Flüstern) und damit die Ton-
lage eines Sprachlauts. Im Vokaltrakt (Ansatzrohr) bestimmt die Stellung der Artikulatoren (Zunge, Gau-
men, Kiefer etc.) wie ein Filter die genaue Beschaffenheit des Lauts. (Nachgezeichnet nach Fitch, 2010)

Abbildung 18-6: Der Luftstrom aus dem Larynx


(Quelle) wird durch die spezielle Stellung der Ar-
F1
F2 tikulatoren „gefiltert“ und bestimmt somit die
F3
Konzentration akustischer Energie in einem be-
stimmten Frequenzbereich. Diese Konzentratio-
F1 nen werden Formanten genannt. Auf diese Weise
F2
F3
entstehen Vielzahlige der Grundfrequenz, die
zusammen mit der Grundfrequenz die Phoneme
bilden. Die Quelle ist in dieser Abbildung als
„Lichtquelle“ dargestellt, deren „Strahlen“ analog
zu unmodulierten Schallwellen zu sehen sind. Die
„Fenster“ stellen die Formanten dar, die durch die
Stellung der Artikulatoren gefiltert, also moduliert
werden. Die „Leinwand“ entspricht dann der end-
gültigen Form der Formanten des Sprachsignals.
(Nachgestellt nach Fitch, 2000)

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564 18.  Sprache und Kommunikation

/a/ genwart gebräuchlich, wenn auch nur ein-

Intensität
geschränkt gültig ist.
Wernickes Vorstellungen vom Zusammen-
1 000 2 000 3 000 4 000
hang von Sprache und Gehirn gelten heute als
Frequenz (Hz) Vorläufer eines einflussreicheren Modells,
/i/ des Diskonnektionsparadigmas von Lud-
Intensität

wig Lichtheim. In diesem Modell übertrug


Lichtheim Wernickes Ideen in ein einfaches
1 000 2 000 3 000 4 000 Schaudiagramm, das zur Standardvorlage für
Frequenz (Hz) klinische Diagnosen wurde. Lichtheim fügte
/u/
seinem Diagramm jedoch hypothetische
Zentren und Verbindungen zwischen diesen
Intensität
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Zentren hinzu, für die es keine anatomi-


schen Entsprechungen gab (Weiller et al.,
1 000 2 000 3 000 4 000
Frequenz (Hz)
2011). Der Zweck dieses Schemas bestand
primär darin, ein theoretisches Modell zu ent-
Abbildung 18-7: Im Kontext von Lautsprache be- wickeln, das die beobachteten Sprachdefizite
stimmt die Lage der Formanten die Bedeutung
mit möglichst großer Annäherung erklären
von Lauten. Je nach Stellung der Artikulatoren
kann. Es war nicht Lichtheims Absicht, in
unterscheiden sich die Laute /a/, /i/ und /u/ in der
seinem Modell die neuroanatomische Archi-
Zusammensetzung der Formanten (nachgezeich-
net nach Moore, 1997). tektur des Gehirns abzubilden. Von eben die-
ser Annahme ausgehend wurde dem Modell
jedoch eine neuroanatomische Authentizität
miert? Wie wird ein motorischer Artikulati- zugeschrieben, die es niemals besessen hatte.
onsplan generiert, der passend zur linguisti- Ist das menschliche Gehirn also etwas Be-
schen Struktur die phonetischen Kombinatio- sonderes, da es uns als einziger Spezies Sprache
nen liefert? ermöglicht? Betrachtet man die Makro­anatomie
des menschlichen Gehirns im Vergleich zum
Gehirn unseres nächsten Anverwandten, dem
18.5. Funktionelle Neuro­ Schimpansen, stellt man fest, dass auf den
anatomie sprachlicher ersten Blick keine Unterschiede in der gro-
Äußerungen ben Architektur der Großhirnrinde bestehen
(Abb. 18-8). In Gehirnen von Menschen und
Seit den ersten Beobachtungen über den Menschenaffen finden sich dieselben Win-
Zusammenhang zwischen Sprache und Ge- dungen und Furchen in der perisylvischen
hirn im 19. Jahrhundert hat sich die Vor- Region.
stellung vom Zusammenwirken unterschiedli- In der makroanatomischen Struktur allein
cher Hirnregionen bei der Sprachwahrnehmung findet sich also kein neuroanatomisches Sub-
und -produktion stark verändert. Angefangen strat eines Sprachzentrums, das es in dieser
mit den Berichten Paul Brocas und Carl Werni- Form im Gehirn von Menschenaffen nicht
ckes über die Folgen von eng umschriebenen gibt. Natürlich ist das Gehirn des Schimpansen
Läsionen in Kortexarealen der linken Hemi- kleiner, aber nicht grundsätzlich verschieden
sphäre entstand in der zweiten Hälfte des von menschlichen Gehirnen. Umgekehrt kann
19. Jahrhunderts ein Modell der Lokalisation das menschliche Gehirn auch als ein überpro-
von Sprache im Gehirn, das bis in die Ge- portional aufgeblasenes Affenhirn betrachtet

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18.5.  Funktionelle Neuro­anatomie sprachlicher Äußerungen 565

A) Mensch B) Schimpanse
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Abbildung 18-8: Laterale Ansicht der linken Hemisphäre eines menschlichen Gehirns (A) und des Ge-
hirns eines Schimpansen (B). Der Vergleich veranschaulicht auf der einen Seite einen Größenunterschied
und zeigt auf der anderen Seite die vergleichbare Struktur der Windungs- und Furchenmuster im Gehirn
der beiden Spezies (nach Jürgens, 2003).

werden. Die Temporallappen, die für die Spra- pekte der Sprachverarbeitung, die bei den
che besonders relevant sind, sind beim Men- aktuellen Modellen im Vordergrund stehen.
schen im Vergleich zum Hominiden über- Die „Sprachzentren“ des klassischen Modells
proportional zum Gesamthirnvolumen ver- sind anatomisch schlecht definiert und die
größert (Abb. 18-9). Weitere entscheidende Beschreibungen stimmen nicht mit dem heu-
Unterschiede sind die mächtigen Fasertrakte, tigen neuroanatomischen Wissen überein.
die sprachrelevante Areale miteinander ver-
binden (Friederici, 2017) sowie zellarchitekto-
nische Besonderheiten dieser Areale, die es in 2.50

der Form bei nichtmenschlichen Primaten


Temporallappenvolumen in cm3

2.25
nicht gibt (Buxhoeveden et al., 2001).
Aber gibt es nun so etwas wie ein mensch- 2.00
liches Sprachzentrum? In einigen Lehrbüchern
1.75
wird zwar immer noch die Existenz eines an-
terioren (Broca-Areal) und eines posterioren 1.50
Sprachzentrums (Wernicke-Areal) in der lin-
ken Hemisphäre postuliert, Untersuchungen 1.25
Hominiden
aus den letzten Jahren haben jedoch immer Menschen
1.00
mehr Zweifel an diesem traditionellen Mo-
dell aufkommen lassen. Zum einen sind die 1.75 2.00 2.25 2.50 2.75 3.00 3.25
Gehirnvolumen in cm3
Aussagen des traditionellen Modells auf die
Wortebene beschränkt, sodass z. B. Syntax Abbildung 18-9: Das Diagramm zeigt das Verhält-
praktisch ausgeschlossen ist. Die mecha- nis zwischen Temporallappen- und Gesamthirn-
nische Sprachperformanz (Nachsprechen, Ar- volumen im Vergleich zwischen Menschen und
tikulation) wird höher gewertet als subtile As- Hominiden (nach Rilling, 2006).

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566 18.  Sprache und Kommunikation

Insbesondere die genaue Lage des Wernicke- dert? Mit der Etablierung bildgebender Ver-
Areals ist bis heute unbestimmt und es existie- fahren (Kap. 5.3., 5.4., 5.5.) in den letzten
ren viele, zum Teil einander widersprechende zwei Jahrzehnten wurde das Wissen um die
Definitionen (Tremblay & Dick, 2016; Binder, zerebrale Organisation der Sprache komplett
2017). Schließlich gereicht es dem traditio- neu geschrieben. Zwar bestätigten die zahl-
nellen Modell zum Nachteil, dass es aus- reichen Studien zu diesem Thema, dass
schließlich die linke Hemisphäre fokussiert Sprachproduktion und -verarbeitung bei der
und läsionsbasiert ist. Der britische Neurologe überwiegenden Mehrheit der Menschen in der
John Hughlings-Jackson kritisierte diesen linken Hemisphäre erfolgen, aber es wurden
Sachverhalt schon vor hundert Jahren mit dem auch überraschende Befunde im Hinblick auf
Verweis, dass Aussagen über die zerebrale die rechte Hemisphäre erbracht, wie in Abbil-
Organisation von Sprache auf der Basis von dung 18-10 dargestellt ist.
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Läsionsstudien irreführend sein könnten Die Einsicht, dass eine eindeutige Zuord-
(Catani & Mesulam, 2008). Demnach kann nung von linguistischen Operationen zu eng
für eine bestimmte Beeinträchtigung einer umschriebenen Hirnarealen nicht möglich ist,
sprachlichen Funktion eine Läsion einer be- sowie die Beobachtung, dass die rechte Hemi-
stimmten kortikalen Region oder aber eine sphäre ebenfalls einen erheblichen Beitrag zur
Schädigung der Verbindung zwischen zwei Sprachverarbeitung leistet, erforderten ein
oder mehr kortikalen Regionen ursächlich neues Herangehen an die Frage, wie Sprache
sein. Nichtsdestotrotz entstand auf der Basis im Gehirn repräsentiert ist. Allein mit der
der ersten systematischen Beobachtungen funktionellen Magnetresonanztomografie, die
von Paul Broca, Carl Wernicke und anderen über eine schlechte zeitliche Auflösung verfügt
Zeitgenossen ein großes Wissen über die un- und die Bedeutung lokaler neuraler Verarbei-
terschiedlichsten Formen von Schädigungen tung im Vergleich zur Bedeutung von weit dis-
der Sprachfunktionen, die heute als Aphasien tribuierten Netzwerken überbewertet, können
bezeichnet werden. die Fragen, die sich im Hinblick auf die funk-
Bis heute erfolgt in der klinischen Neuro- tionelle Neuroanatomie von Sprachfunktionen
psychologie die Klassifikationen von Aphasien stellen, nicht beantwortet werden. Um zu ei-
auf Grundlage des Wernicke-Lichtheim-Mo- nem umfassenden Bild zu gelangen, ist es not-
dells. Dabei ist zu beachten, dass auch heute wendig, räumliche und zeitliche Aspekte der
niemand mehr davon ausgeht, dass eine so- Verarbeitung und Produktion von Sprache mit
genannte Broca-Aphasie allein durch eine Lä- komplementären Methoden zu untersuchen.
sion des Broca-Areals ausgelöst wird. Vielmehr Nur durch die Kombination von funktioneller
dienen aphasische Diagnosetests der genauen und struktureller Magnetresonanztomografie
Charakterisierung sprachlicher Defizite, wo- sowie zeitlich hochauflösenden Elektroenze-
bei die Störungen der Sprachproduktion ge- phalografie kann ein Modell der Sprachreprä-
nauso beurteilt werden wie Defizite bei der sentation im Gehirn entstehen, das dem An-
Sprachwahrnehmung. Das Wissen um die spruch an eine vollständige Beschreibung der
exakte Lokalisation einer Läsion ist für die komplexen Realität genügt. Im Folgenden
Therapie in der klinischen Neuropsychologie wird das Modell der Leipziger Neuropsycho-
sekundär. Eine Abhandlung zum gegenwärti- login Angela Friederici dargestellt, das zeitli-
gen Stand der Aphasiologie findet sich bei che und räumliche Aspekte der Sprachver-
Weniger (2012). arbeitung integriert (Friederici, 2017).
Aber was hat sich seit der Zeit der Entste- Anders als das traditionelle Modell bezieht
hung des Wernicke-Lichtheim-Modells geän- das Modell von Friederici elementare und

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18.5.  Funktionelle Neuro­anatomie sprachlicher Äußerungen 567

y (mm)
z (mm) 60 40 20 00 –20 –40 –60 –80 –80 –60 – 40 –20 00 20 40 60

60 60

40 40

20 20

0 0

–20 –20

–40 –40

–60 –60
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60 40 20 0 –20 –40 –60 –80 –80 –60 – 40 –20 0 20 40 60

60 60

40 40

20 20

0 0

–20 –20

–40 –40

–60 –60
60 40 20 0 –20 –40 –60 –80 –80 –60 – 40 –20 00 20 40 60

60 60

40 40

20 20

0 0

–20 –20

–40 –40

–60 –60

linke Hemisphäre rechte Hemisphäre

Abbildung 18-10: Die Abbildung zeigt Daten zweier Metaanalysen (Vigneau et al., 2006; 2011). Über 150
bildgebende Studien zu verschiedenen Aspekten der Sprachverarbeitung wurden analysiert. Es zeigt
sich, dass über diese Studien hinweg die Aktivierung während der Sprachverarbeitung nicht auf ein oder
zwei Zentren beschränkt ist. Stattdessen sind große Teile der Großhirnrinde in einem Gebiet rund um die
Sylvische Fissur und den Sulcus praecentralis involviert. Dieses Gebiet wird auch perisylvischer Kortex
genannt. Diese sprachrelevanten Aktivierungsmuster finden sich in der linken und rechten Hirnhälfte.
In diese Metaanalyse waren Studien einbezogen, die phonologische (obere Reihe), lexikosemantische
(mittlere Reihe) und syntaktische bzw. unspezifische (Satz-)Verarbeitungen (untere Reihe) untersucht
hatten. Die Metaanalyse bestätigt eine relative linkswärtige Sprachlateralisation, aber zeigt auch deut-
lich, dass eine eindeutige Zuordnung von linguistischen Operationen zu eng umschriebenen Hirnarealen
nicht möglich ist (nach Vigneau et al., 2011).

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568 18.  Sprache und Kommunikation

höhere Ebenen linguistischer und paralinguis- der Verarbeitung und Integration linguisti-
tischer Aspekte lautsprachlicher Verarbeitung scher Ebenen. In einer ersten Phase wird auf-
auf Satzebene ein. Des Weiteren verzichtet es grund der eintreffenden sprachlichen Infor-
weitgehend auf die Integration von Daten aus mationen eine initiale Phrasenstruktur auf
Patientenstudien, da Hirnläsionen sich häufig Basis der Wortkategorieinformationen erstellt.
nicht auf eng umschriebene Areale eingrenzen In einer zweiten Phase beginnt die Analyse der
lassen und diffuse Wirkungen haben, die kei- semantischen und syntaktischen Informatio-
nen kausalen Rückschluss auf die Lokalisation nen. Sind diese lexikalischen und syntakti-
einer Sprachfunktion zulassen. schen Operationen abgeschlossen, erfolgt die
Dem Modell von Friederici zufolge lässt endgültige thematische Rollenzuweisung (wer
sich die Satzverarbeitung in Echtzeit in macht was mit wem) und damit die finale In-
mehrere Phasen unterteilen (Abb. 18-11 und terpretation einer sprachlichen Äußerung. Ist
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18-12). Einer initialen Phase der akustisch- nach dieser Analyse noch keine endgültige In-
phonologischen Analyse folgen drei Phasen terpretation möglich oder befinden sich im

räumlich-zeitliche Organisation der auditorischen Satzverarbeitung

1 000 INTERPRETATION

P600 Integration intentionale Akzentuierung


500 Phrase Fokus

N400 semantische grammatische


LAN Beziehung Beziehung

250

Verarbeitung der Verarbeitung der


ELAN
lokalen syntaktischen Struktur Prosodie

150

N100 AKUSTISCH-PHONETISCHER
PROZESSOR
0
Zeit in ms LH RH

Abbildung 18-11: Die Abbildung zeigt das Modell der auditiven Satzverarbeitung von Angela Friederici.
Die rechte Seite veranschaulicht die einzelnen sequenziellen und parallelen Schritte von der initialen
akustisch-phonetischen Analyse bis zur endgültigen Interpretation einer sprachlichen Äußerung. Dem
Modell zufolge findet die Verarbeitung semantischer und syntaktischer Informationen sowie die thema-
tische Integration dieser Teilprozesse präferiert in perisylvischen Regionen der linken Hemisphäre statt,
während die Verarbeitung der Prosodie eines Satzes bevorzugt in den kontralateralen Regionen der
rechten Hemisphäre geschieht. Links befindet sich die Zeitleiste des Verarbeitungsprozesses in Echtzeit
sowie die korrespondierenden Komponenten der ereigniskorrelierten Hirnpotenziale. (Nachgezeichnet
nach Friederici et al., 2011)

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18.5.  Funktionelle Neuro­anatomie sprachlicher Äußerungen 569

A) B) C)
–5 μV N400 –5 μV –5 μV
Cz ELAN F7 Pz

0 0 0

5 5 5
0 0.5 1 1.5 s 0 0.5 1 1.5 s 0 0.5 1 1.5 s
P600
Das Hemd wurde gebügelt. Das Hemd wurde gebügelt.
F7
Das Gewitter wurde gebügelt. Cz Die Bluse wurde am gebügelt.
Pz

Abbildung 18-12: Die Abbildung zeigt ereigniskorrelierte Hirnpotenziale während der auditorischen
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Satzverarbeitung. (A) Die N400-Komponente an der Elektrode Cz (gepunktete Linie) reflektiert eine In-
kongruenz, die durch die Präsentation eines unpassenden Wortes („gebügelt“) ausgelöst wurde. (B) Die
ELAN an der linksfrontalen Elektrode F7 (gestrichelte Linie) zeigt die Entdeckung der Verletzung der
initialen Phrasenstruktur unmittelbar nach dem Wort „gebügelt“. (C) Die P600-Komponente an der pa-
rietalen Elektrode Pz (gestrichelte Linie) spiegelt die Prozesse während der Phase der Revision einer
inkorrekten Phrasenstruktur wider. Die durchgezogeneninien stellen jeweils die EKP für die korrespon-
dierenden Worte in den korrekten Bedingungen dar. (Nachgezeichnet nach Friederici, 2002).

Satz ambige Strukturen, wird der Satz einer 18.5.1. Zeitliche Organisation der ­
erneuten Revision unterzogen, bei der Refe- auditiven Sprachverarbeitung
renz auf Kontext- und Diskurswissen genom-
men wird. In dem Satz „Die Touristen bedro- Eine lautsprachliche Äußerung ist ein Signal,
hen die Terroristen.“ kann nur eine solche das sich in der Zeit entfaltet. Sprachverstehen
kontext- und diskursgeleitete Revision des erfolgt daher in Echtzeit. Schon während die
Satzes eine plausible Interpretation liefern, da ersten Anteile des akustischen Signals über
die syntaktische und lexikosemantische Ana- das Ohr und die subkortikale Hörbahn in die
lyse aufgrund der ambigen Satzstruktur keine Hörrinde gelangen, beginnt das sprachver-
eindeutige Lesart ergibt. arbeitende System mit der Analyse dieser In-
Während der auditorischen Satzverarbei- formationen. Fast zeitgleich beginnt eine
tung interagieren diese Phasen mit der Ver- Reihe serieller und paralleler Analysen, die
arbeitung prosodischer Informationen. Pro- auf der höheren Ebene der Sprachverarbei-
sodische Markierungen in lautsprachlichen tung stattfinden. Aufgrund von Untersuchun-
Äußerungen signalisieren, ob es sich bei einem gen mit ereigniskorrelierten Hirnpotenzialen
Satz um eine Frage oder eine Feststellung han- (EKP; Kap. 18.5.4.) können aktuell Modula-
delt, legen die Position einer besonderen Beto- tionen bestimmter EKP-Komponenten mit
nung eines Elements (Satzakzent) oder die Prozessen während der einzelnen Phasen der
Grenzen von Intonationsphrasen zur besseren Satzverarbeitung assoziiert werden (Abb. 18-12
Phrasierung eines Satzes fest. und 18-13).
Die erste EKP-Komponente, welche die Ver-
arbeitung phonemischer Information reflek-
tiert, ist die N100-Komponente, eine Negati-

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570 18.  Sprache und Kommunikation

vierung mit einer maximalen Amplitudenlatenz Verbalphrase „gebügelt“ an einer Stelle, die
von ca. 100 ms nach Beginn eines Reizes. Die den Satz syntaktisch inkorrekt werden lässt.
N100-Komponente ist ein unspezifischer Bio- Im korrekten Fall wäre dem Hilfsverb „wurde“
marker für auditorische Verarbeitung, der eine komplette Präpositionalphrase (z. B. „am
nicht nur bei der Phonem- oder Silbenanalyse, Samstag“) nachgestellt. Ist diese unvollstän-
sondern auch im Zusammenhang mit der Ver- dig, ist die initiale Phrasenstruktur inkorrekt,
arbeitung von Tönen, Klängen, Musik oder was durch die Auslösung der ELAN indiziert
Stimmen beobachtet werden kann. Oftmals wird. Die ELAN zeigt ihre maximale Auslen-
tritt die N100-Komponente auch in einem kung bei Verletzungen der Wortkategoriein-
Komplex mit einer unmittelbar folgenden Po- formation während des Erstellens der initia-
sitivierung mit einer Gipfellatenz von 200 ms len Phrasenstruktur mit einer Gipfellatenz
nach Stimulusbeginn, der P200-Komponente, von ca. 120–200 ms. Nach dem Modell von
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auf. Beide Komponenten reflektieren linguisti- Friederici reflektiert die ELAN somit die erste
sche Eigenschaften eines sprachlichen Reizes Phase der Satzverarbeitung. Insofern erfolgt
(handelt es sich um ein reguläres Phonem der die Verarbeitung der Wortkategorien und der
jeweiligen Muttersprache), sind aber auch sen- initialen Phrasenstruktur noch vor der seman-
sitiv für Modulationen der Aufmerksamkeit. In tischen Verarbeitung. In Studien zur Quellen-
Studien zur Quellenschätzung der N100-Kom- schätzung der ELAN konnten übereinstim-
ponente konnte übereinstimmend der audito- mend das linke anteriore Planum supratempo-
rische Kortex als Generator und somit als erste rale als primärer Generator und das linke
kortikale Station der zentralen auditorischen frontale Operculum als sekundäre Quelle
Sprachverarbeitung identifiziert werden. Ob- identifiziert werden.
wohl diese initialen Schritte einer phonologi- Nach der Erstellung der initialen lokalen
schen Verarbeitung nachweislich bilateral in Phrasenstruktur werden während der Satzver-
den Gebieten der Hörrinde ablaufen, sind au- arbeitung die semantischen und syntaktischen
ditorische Regionen in der linken Hemisphäre Beziehungen der einzelnen Satzkonstituenten
bereits in diesem Stadium dominant, was das untereinander bestimmt. Um zu einer Inter-
besondere sprachsensitive Privileg der linken pretation, wer was mit wem macht, zu kom-
perisylvischen Region unterstreicht. men, müssen lexikosemantische und morpho-
Die erste EKP-Komponente auf Satzebene syntaktische Markierungen mit den anderen
ist die Early left anterior negativity (ELAN), Satzkonstituenten übereinstimmen. Beispiels-
die mit der Identifikation der syntaktischen weise müssen die vorhandenen grammati-
Wortkategorieinformation (Verb, Nomen, Prä- schen Objekte mit der Argumentstruktur eines
position) in Zusammenhang gebracht wird. Verbs kongruent sein oder es müssen mindes-
Ausgehend von der korrekten Identifikation tens ein Nomen und Verb numeruskongruent
der Wortkategorieinformation wird in Echtzeit sein, damit der Satz eine korrekte Struktur auf-
die lokale Phrasenstruktur eines Satzes be- weist. Dem Modell von Friederici zufolge ent-
stimmt. Der Aufbau dieser vorläufigen Satz- spricht diese Ebene der Analyse der Phase
struktur geschieht automatisch und ist nicht zwei. Zwei EKP-Komponenten lassen sich
von Modulationen der Aufmerksamkeit zu diesen Verarbeitungsschritten zuordnen. Eine
beeinflussen. Taucht während dieses Prozes- linksanteriore Komponente (LAN) reflektiert
ses plötzlich ein Element auf, das nicht in die Verletzungen der morphosyntaktischen Inte-
korrekte Phrasenstruktur passt, ist die Aus- gration. In Sätzen wie „Die Frau küssen der
lösung der ELAN zu beobachten. In dem Satz Mann.“ oder „Er brachte den Jungen den Va-
„Die Bluse wurde am gebügelt.“ erscheint die ter.“ findet sich jeweils eine lokale morphosyn-

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18.5.  Funktionelle Neuro­anatomie sprachlicher Äußerungen 571

taktische Verletzung, die im Vergleich mit der in der Nähe der auditorischen Rindengebiete
korrekten Variante des Satzes eine LAN aus- in den Temporallappen lokalisiert werden.
löst, auf die wiederum eine spätere Positivie- Dem Modell von Friederici zufolge existiert
rung folgt. eine dritte Phase der auditorischen Satzver-
Die zweite Komponente während dieser arbeitung. Während dieser Phase werden die
Phase der Satzverarbeitung ist die N400- in Echtzeit ermittelten Informationen inte-
Komponente, eine Negativierung mit einer griert, um zu einer finalen Interpretation zu
Gipfellatenz von ca. 400 ms und einer zen- kommen. Kommt es im Zuge dieser Integra-
troparietalen Skalpverteilung, die Verstöße tion zu Problemen aufgrund von lokalen Am-
gegen semantische Kongruenz anzeigt biguitäten („Das ist die Professorin, die die
(Abb. 18-12). Die N400-Komponente ist die Studentinnen gesucht haben.“) oder nicht
am meisten untersuchte sprachsensitive EKP- präferierten Wortstellungen („Er meinte, dass
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Komponente. Sie gilt als Komponente, die In- Lisa verursacht Ärger.“), kann unter Umstän-
kongruenzen bei der lexikosemantischen Ver- den eine syntaktische Reanalyse oder Revision
arbeitung signalisiert. Die Amplitude der der Satzstruktur erzwungen werden, die durch
N400-Komponente spiegelt eine Reihe von eine späte Positivierung mit einer Gipfellatenz
Verstößen gegen die semantische und lexika- von 600 ms und einer zentroparietalen Skalp-
lische Integration wider (für eine Übersicht sei verteilung charakterisiert ist (Abb. 18-13). In
auf Lau et al., 2008, verwiesen.). Die promi- anderen Fällen, in denen eine inkorrekte ini-
nenteste Funktion der N400-Komponente ist tiale Phrasenstruktur eine Umstellung im Sinne
die Indizierung von Inkongruenzen, die da- einer Reparatur erfordert, tritt mitunter auch
durch entstehen, dass ein Wort nicht in den eine P600-Komponente auf. Dabei deuten
Kontext eines Satzes passt („Das Gewitter topografische Analysen der beiden P600-Vari-
wurde gebügelt.“; Abb. 18-12). Insgesamt gilt anten an, dass es sich bei der Reanalyse und
die N400-Komponente als ein Biomarker für der Reparatur um unterschiedliche Prozesse
lexikalische und semantische Prozesse, Kon- handelt. Neuerdings wird die P600 als eine
textplausibilität, aber auch Plausibilität auf- Komponente betrachtet, die nicht nur syntak-
grund allgemeinen Wissens. Im Zusammen- tische, sondern auch semantische Integration
hang mit Prozessen, die ohne Kontext- und auf Satzebene anzeigen kann, z. B. während
Weltwissen auskommen, korreliert die N400- einer Plausibilitätsprüfung des Verbs und sei-
Komponente teilweise mit semantischen und ner Argumente. Studien zur Quellenschät-
syntaktischen Verarbeitungsschritten. Für die zung der P600-Komponente berichten, dass
korrekte Auflösung der Verb-Argument-Infor- die Generatoren für diese Komponente je nach
mation müssen die semantischen Eigenschaf- Funktion in den mittleren und hinteren Ab-
ten des verwendeten Nomens bekannt sein. schnitten der Schläfenlappen liegen.
Das Verb „töten“ verlangt ein belebtes No- Die auditorische Satzverarbeitung erfor-
men, z. B. „die Frau töten“. Eine Inkongruenz dert nicht nur die Integration syntaktischer
entsteht in der Kombination von „töten“ mit und semantischer Informationen, sondern
einem unbelebten Nomen, z. B. „den Ball tö- auch die Analyse prosodischer Strukturen.
ten“. Uneindeutige Kombinationen können in Eine Komponente des EKP, die prosodische
metaphorischen Zusammenhängen auftau- Verarbeitung auf Satzebene anzeigt, ist der
chen („die Liebe töten“) und werden von einer Closure positive shift (CPS; Abb. 18-14).
kleineren N400-Amplitude angezeigt. In Stu- Diese Komponente markiert die Position von
dien zur Quellenschätzung der N400-Kom- Intonationsphrasengrenzen in gesprochenen
ponente konnten überwiegend Generatoren Sätzen, die meist aus einer kurzen Unterbre-

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572 18.  Sprache und Kommunikation

A) P600 bei Reparatur B) P600 bei Reanalyse

inkorrekte versus korrekte Struktur komplexe versus einfache Struktur

+2.0
350–450 ms 350–450 ms
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µV

500–700 ms 500–700 ms
–2.0

800–1100 ms 800–1100 ms
LH RH LH RH

Abbildung 18-13: Die Abbildung zeigt die unterschiedlichen topografischen Skalpverteilungen für die
beiden unterschiedlichen Varianten der P600-Komponente. Die Topografien zeigen den Zeitverlauf der
Potenzialdifferenzen während der Satzverarbeitung für drei Zeitfenster. (A) Die Potenzialdifferenz für die
P600-Komponente infolge einer syntaktischen Reparatur weist ein zentroparietales Maximum im mitt-
leren und späteren Zeitbereich auf. (B) Die Potenzialdifferenz für die P600-Komponente, die eine syn-
taktische Reanalyse anzeigt, geht mit einer frontozentralen Verteilung des Amplitudenmaximums im
mittleren und späteren Zeitbereich einher. (Nachgezeichnet nach Friederici, 2011)

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18.5.  Funktionelle Neuro­anatomie sprachlicher Äußerungen 573

IPh1
IPh2
Peter verspricht Anna zu ARBEITEN
und das Büro zu putzen

IPB

–5 µV
Pz
CPS
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P200 CPS1 CPS2


5

IPB1 IPB2

Peter verspricht
ANNA zu entlasten
IPh1 und das Büro zu putzen
IPh2
IPh3

0 500 1 000 1 500 2 000 2 500 3 000 3 500 4 000 ms

Abbildung 18-14: Die Abbildung zeigt ein Spannungs- x Zeit-Diagramm (Elektrode PZ) des Verlaufs der
EKP während der Verarbeitung von deutschen Sätzen mit unterschiedlicher Anzahl und Position der
Intonationsphrasengrenzen. Die Gipfellatenz des CPS korrespondiert mit der Position der Intonations-
phrasengrenzen in den gesprochenen Sätzen. (Nachgezeichnet nach Friederici, 2011)

chung im flüssigen Verlauf der sprachlichen Sprachsignals für den Spracherwerb angese-
Äußerung bestehen. Prosodische Modulatio- hen werden. Offensichtlich müssen Kleinkin-
nen wie die Verlängerung der Silbendauer ge- der sich mit der prosodischen Struktur ihrer
hen meist unmittelbar einem solchen Unter- Muttersprache vertraut machen, bevor der
bruch voraus und sind als die eigentlichen Aufbau syntaktischer und semantischer Re-
Auslöser des CPS anzusehen. Es konnte ge- präsentationen erfolgt. In Studien zur Ver-
zeigt werden, dass Kinder im Alter von neun arbeitung visuell präsentierter Sätze zeigte
Monaten ebenfalls einen CPS als Reaktion auf sich, dass Kommata analog zu den auditori-
die Verarbeitung einer Intonationsphrasen- schen Intonationsphrasengrenzen einen CPS
grenze zeigen. Dieser Befund kann als Hin- auslösen (Abb. 18-14). Der CPS ist also eine
weis auf die besondere Relevanz prälexika- Komponente des ereigniskorrelierten Hirn-
lischer, prosodischer Modulationen des potenzials, die mit dem Auftreten von proso-

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574 18.  Sprache und Kommunikation

discher Phrasierung in gesprochenen und ge- kante des frontolateralen Operculums zur
schriebenen Sätzen korreliert. Obwohl der vorderen Inselrinde bildet. Das Broca-Areal
CPS als sprachrelevantes EKP unumstritten kann makroanatomisch in zwei Areale unter-
ist, gilt er nicht als eine der etablierten Kom- teilt werden, über deren funktionelle Implika-
ponenten, die mit den Stufen der auditori- tionen nach wie vor keine Einigkeit besteht.
schen Sprachverarbeitung in dem Modell von Den anterioren Anteil bildet der Pars triangu-
Friederici korrespondieren. laris, der rostral an den Pars orbitalis grenzt.
Der posteriore Anteil wird Pars opercularis
genannt und grenzt kaudal an den Sulcus
18.5.2. Neurale Signatur der laut- praecentralis. Beide Anteile werden nach dor-
sprachlichen Verarbeitung sal vom Sulcus frontalis inferior und nach
ventral von der Sylvischen Fissur begrenzt
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Wie oben ausgeführt, lässt sich die lautsprach- (Abb. 18-16). Der Begriff Broca-Areal wird
liche Verarbeitung nicht auf eng umschriebene ausschließlich im Zusammenhang mit der
Kortexareale eingrenzen. Stattdessen ist mitt- linken Hemisphäre verwendet. Das kontrala-
lerweile unumstritten, dass der gesamte peri- terale Areal wird als Broca-Homolog be-
sylvische Kortex, d. h. das bilaterale frontale zeichnet.
Operculum, das supratemporale Planum, die
laterale Konvexität des GTS, der Gyrus supra-
marginalis (GSM), das parietale und das Ro- Prämotorkortex

landische Operculum der rechten und linken Broca-Areal


Hemisphäre, zur lautsprachlichen Verarbei-
tung beiträgt. Partiell zu diesem Netzwerk BA 6

zählen die extralinguistischen Areale des STS


sowie des GTM. Neben den kortikalen Gebie- BA 44
ten sind die Stammganglien als relevante
BA

Struktur zu nennen (Kotz & Schwartze, 2010),


6

BA 45
die primär eine Rolle bei der Verarbeitung BA 47
temporaler Informationen im Sprachsignal BA 38
übernehmen. Nicht zuletzt durch die Etablie- frontales primärer
auditorischer Kortex
rung der diffusionsbasierten Traktografie hat Operculum (FOP)
Gyrus temporalis superior (GTS)
in den letzten Jahren die Kartierung der intra-
dorsaler Pfad I ventraler Pfad I
und interhemisphärischen Fasertrakte große pGTS zum Prämotorkortex GTS zum BA 45
Fortschritte gemacht. Neuere Erklärungs- via AF/SLF via EFCS

ansätze wie das Modell von Friederici integrie- dorsaler Pfad II ventraler Pfad II
pGTS zum BA 44 aGTS zum FOP
ren nun das anatomische Wissen um die Ar- via AF/SLF via UF
chitektur der Assoziationsbahnen, die die
Abbildung 18-15: Frontooperculare und superior
verschiedenen vorderen und hinteren Teile
temporale Abschnitte des perisylvischen Kortex
der perisylvischen Sprachareale verbinden
und die verbindenden intrahemisphärischen As-
(Friederici, 2017; Abb. 18-15).
soziationsbahnen. Diese Strukturen existieren
Die vordere perisylvische Sprachregion analog in der rechten und linken Hemisphäre und
wird primär aus dem frontalen Operculum bilden dorsale und ventrale Pfade. AF: Fasciculus
gebildet. Zu dieser Struktur zählen das Broca- arcuatus, SLF: Fasciculus longitudinalis superior,
Areal im GFI sowie das tiefe frontale Oper- EFCS: Capsula extrema, UF: Fasciculus uncinatus.
culum, das den Übergang von der Umschlag- (Nachgezeichnet nach Friederici, 2011)

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18.5.  Funktionelle Neuro­anatomie sprachlicher Äußerungen 575

(FA) mit dem posterioren superioren tempo-


ralen Kortex verbunden sind, besteht eine Ver-
bindung zwischen Pars triangularis und dem
ifj2 anterioren superioren temporalen Kortex über
ifj1
6v2 die Capsula extrema. Ein zweiter ventraler
ifj2 44d Pfad verläuft vom tiefen frontalen Operculum
ifj1 6v1 4 über den Fasciculus uncinatus zum GTS. Da
45p die gängigen diffusionsbasierten Messverfah-
44v
6r1
45a ren keine Aussage über die Direktionalität der
op6 op4 Faserverbindungen zulassen, ist es schwierig,
op9 op8
die genaue Funktion der intrasylvischen Pfade
zu bestimmen. Aufgrund von Tierstudien ist es
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LH aber wahrscheinlich, dass ein dorsaler Pfad


Signale vom periauditorischen Kortex zum
Prämotorkortex projiziert, während umge-
kehrt Signale vom Pars opercularis zum peri-
Abbildung 18-16: Laterale Ansicht des linken auditorischen Kortex laufen. Während der
frontolateralen Operculums und des inferioren erste Pfad Teil des artikulatorischen Systems
Gyrus praecentralis im menschlichen Gehirn. Auf- ist, könnte der zweite Pfad dem Modell von
grund neuer Untersuchungen, die auf Basis der Friederici zufolge höhere Ebenen der Top-
unterschiedlichen Rezeptordichte zu einer feine- down-Sprachverarbeitung unterstützen. Über
ren Einteilung distinkter Areale innerhalb dieser die Funktionen der ventralen Pfade ist weniger
Region kommen als die herkömmliche makro- und bekannt. Möglicherweise sind sie in die Inte-
zytoarchitektonische Aufteilung, ist die Existenz gration von phonemischen und semantischen
von diversen unterschiedlichen Abschnitten an
Informationen während der Sprachverarbei-
und unter der Oberfläche des lateralen frontalen
tung eingebunden. Dass die intra- und extra-
Operculums nachgewiesen. Der Pars triangularis
sylvischen Assoziationsbahnen für das Funk-
lässt sich nun in einen anterioren (45a) und in ei-
nen posterioren (45p) Anteil unterscheiden. Der tionieren des Sprachnetzwerks relevant sind,
Pars opercularis kann in einen dorsalen (44d) und ist bereits seit dem 19. Jahrhundert bekannt
in einen ventralen (44v) Abschnitt unterteilt wer- (Catani & Mesulam, 2008; Weiller et al.,
den. Weitere rezeptorarchitektonisch distinkte 2011). Vergleicht man die Stärke der intrasyl-
Subareale liegen im tiefen frontalen Operculum vischen Bahnen (SLF/AF) im Gehirn des
bzw. in den Rami und Sulci, die das laterale Broca- Menschen mit denen im Gehirn des Schim-
Areal begrenzen. Inwiefern diese rezeptorbasierte pansen bzw. Rhesusaffen, zeigt sich ein deut-
Unterteilung des frontalen Operculums funktio- licher Unterschied. Das intrasylvische Netz-
nelle Implikationen für das Verständnis von
werk aus weißer Substanz ist beim Menschen
Sprachfunktionen hat, ist derzeit noch völlig offen
ungleich dichter und weiter verzweigt als bei
(nach Friederici, 2011).
Affen (Abb. 18-17). Dieser neuroanatomische
Unterschied ist als einer der wichtigsten Fak-
Die Anteile des frontalen Operculums un- toren interpretiert worden, der die Sprach-
terscheiden sich auch hinsichtlich ihrer Kon- fähigkeit des Menschen erklärt (Rütsche &
nektivität (Friederici, 2017). Während der Meyer, 2010).
Pars opercularis und der angrenzende Prä- Die makroskopische Unterteilung der tem-
motorkortex über den Fasciculus longitudina- poralen perisylvischen Areale unterscheidet
lis superior (FLS) und den Fasciculus arcuatus den primären und sekundären auditorischen

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576 18.  Sprache und Kommunikation

a Neugeborene (Mensch) c Rhesusaffe

AS CS IPS
PS 7a
7b
6 22
45 44

STS

LH LH
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b Erwachsene (Mensch) d Mensch

CS
IPS
PrCS 40
46 9 39
10
IFS 44
45 6 22
47

STS 21 37

LH LH

Abbildung 18-17: Assoziationstrakte in menschlichen und im nichtmenschlichen Primatengehirn. Die


Abbildungen zeigen Evidenz für strukturelle Konnektivität bei neugeborenen Menschen, erwachsenen
Menschen und Rhesusaffen.
a und b: Resultate traktographischer Untersuchungen beim Menschen. Im erwachsenen Gehirn sind
zwei dorsale Bahnen nachweisbar: Eine verbindet den temporalen Kortex (über den bogenförmigen Fas-
ciculus Arcuatus und Fasciciulus longitudinalis superior) mit dem hinteren Teil des Broca-Areals (helles
Blau). Der andere Pfad verbindet den temporalen Kortex mit dem prämotorischen Kortex (dunkles Blau).
Bei Neugeborenen ist ein Teil des dorsalen Pfades noch nicht vorhanden. Dieser Trakt reift erst in den
ersten Lebensjahren aus und wird funktionell mit syntaktischer Kompetenz in Zusammenhang ge-
bracht.
c und d: Schematische Darstellung des Verlaufs von Fasertrakten und deren Projektionszonen in ante-
rioren und posterioren Terminationsgebieten im Gehirn eines Rhesusaffen (c) und dem eines Menschen
(d). Auf den ersten Blick ist ersichtlich, dass die strukturelle Konnektivität im menschlichen Gehirn we-
sentlich ausgeprägter ist. Dieser Unterschied gilt als einer der wichtigsten Gründe für die einzigartige
Sprachfähigkeit des Menschen im Vergleich zu nichtmenschlichen Primaten. (nachgezeichnet nach
Friederici 2017)

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18.5.  Funktionelle Neuro­anatomie sprachlicher Äußerungen 577

Kortex (BA 41, 42) von den angrenzenden au- Asymmetrie dieser sprachrelevanten Gebiete
ditorischen Assoziationsrindengebieten (vgl. hinweist und somit eine Hegemonie perisylvi-
Kap. 9). Rostral an den sekundären auditori- scher Regionen in der linken Hirnhälfte unter-
schen Kortex grenzt das Planum temporale streicht (Meyer et al. 2014). Ebenfalls weisen
(PT). Es erstreckt sich bis zum posterioren die großen perisylvischen Assoziationsbahnen,
Rand der Sylvischen Fissur und grenzt medial der SLF und der AF, signifikante linkswärtige
an den retroinsulären Kortex und lateral an die Asymmetrien auf.
Konvexität des GTS. Kaudal an den primären Die Verarbeitung lautsprachlicher Äuße-
auditorischen Kortex grenzt das Planum polare rungen beginnt mit der akustisch-phonolo-
(PPo). Es erstreckt sich über den gesamten vor- gischen Analyse der Sprachlaute (Abb. 18-
deren Anteil des supratemporalen Planums und 19). Diese Analyse erfolgt in den bilateralen
wird medial durch die Sylvische Fissur bzw. die periauditorischen Regionen. Während der
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anteriore Inselrinde und lateral durch die Kon- primäre auditorische Kortex auf jeden akusti-
vexität des GTS begrenzt. Sowohl das PT als schen Reiz reagiert, wird der lateral angren-
auch das PPo fallen in das BA 22, obwohl sie zende Teil des GTS bis in den ventral dazu
funktionell und neuroanatomisch deutlich von- gelegenen STS bei der Verarbeitung spektro-
einander zu unterscheiden sind. Dieser Um- temporaler Muster in nichtsprachlichen sowie
stand zeigt die Grenzen der zytoarchitektonisch in phonetischen Reizen aktiv. Demnach ist
basierten Kartierung von Korbinian Brodmann, diese Region nicht als sprachspezifisch, son-
die oftmals nicht mehr mit dem heutigen Wis- dern als sprachsensitiv anzusehen. Ähnlich
sen über das „Mapping“ von Struktur und Funk- verhält es sich mit dem PT in der linken Hemi-
tion übereinstimmt. Eine rezeptorarchitekto- sphäre. Auch diese Region reagiert auf be-
nische Unterteilung des oberen Schläfenlappens stimmte Informationen in sprachlichen und
liegt derzeit noch nicht vor. nichtsprachlichen Stimuli, v. a. auf zeitlich
Eine abschließende Antwort auf die Frage, schnell modulierte Wechsel im Bereich von
ob es für die signifikante linkswärtige Laterali- ca. 20 bis 50 ms, wie sie typisch für Formant-
sierung von Sprachfunktionen eine Entspre- übergänge und damit für die kategorielle Un-
chung in der strukturellen Asymmetrie gibt, terscheidung zwischen stimmhaften und
steht derzeit aus. Über viele Jahre hinweg wur- stimmlosen Phonemen sind. Das kontralate-
den Studien zur strukturellen Asymmetrie peri- rale PT präferiert dagegen langsame zeitliche
sylvischer Regionen anhand der Post-mortem- Modulationen im akustischen Signal, wie sie
und In-vivo-Morphometrie mit manuellen und typisch für melodische und rhythmische Ver-
automatischen Messverfahren durchgeführt. läufe sind (Meyer et al., 2018). Das PT ist
Als vorläufiges Fazit lässt sich festhalten, dass demnach auch keine sprachspezifische Re-
für das frontale Operculum offensichtlich gion, sondern kann als ein spektrotemporaler
keine systematische und stabile links- oder Prozessor für die Feinauflösung akustischer
rechtswärtige Asymmetrie existiert (Keller et Signale verstanden werden. Die linkswärtige
al., 2009). Für das PPo liegen derzeit keine Asymmetrie dieser Struktur könnte unmittel-
Daten vor, während der primäre und sekundäre bar mit der um den Faktor 10 höheren zeitli-
auditorische Kortex sowie das PT eine links- chen Auflösungsrate des linken im Vergleich
wärtige Asymmetrie auf der mikro- und ma- zum rechten PT assoziiert sein.
kroanatomischen Ebene aufweisen. Diese Diese Überlegungen werden von einem Mo-
manifestiert sich in der kortikalen Oberfläche dell aufgegriffen, das eine Arbeitsteilung der
anstatt in der kortikalen Dicke dieser Rinden- rechten und linken periauditorischen Regio-
gebiete, was auf eine genetisch angelegte nen bei der elementaren Sprachverarbeitung

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578 18.  Sprache und Kommunikation

vorschlägt. Der „Asymmetric-Sampling-in- Modulationen im Sprachsignal ideal sind.


Time“-Hypothese (Poeppel, 2001, 2003)­ Temporale Muster auf der subsyllabischen,
zufolge tasten neuronale Ensembles in der segmentalen Ebene der Sprachverarbeitung,
rechten und linken Hemisphäre die akusti- z. B. Formantübergänge in Phonemen, sind
schen Signale mit einer unterschiedlichen Fre- mit einer Länge des Abtastzeitfensters von ca.
quenz ab (Abb. 18-18). Die Hypothese lautet, 25 ms perfekt von vorhergehenden und nach-
dass alle sprachlichen und nichtsprachlichen folgenden Mustern im Sprachsignal zu unter-
akustischen Reize zunächst symmetrisch in scheiden. Dagegen lassen sich langsame su-
den primären auditorischen Rindengebieten prasegmentale Modulationen in Sprachsigna-
der linken und rechten Hemisphäre verarbei- len, z. B. Sprachmelodie und Sprachrhythmus,
tet werden, bevor sie  in die Assoziationsrin- ausgezeichnet mithilfe von größeren Zeitfens-
dengebiete, hauptsächlich das Planum tempo- tern im Bereich von ca. 250 ms identifizieren.
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rale, weitergeleitet werden. Im PT findet eine Die AST-Hypothese erlaubt es, die Verarbei-
asymmetrische Verarbeitung des Signals statt. tung von lautsprachlichen Signalen auf einer
Während im linken PT primär schnell wech- elementaren Ebene zu untersuchen. Die Gül-
selnde akustische Muster mit einer Abtastrate tigkeit der Hypothese konnte durch zahlreiche
von ca. 40 Hz verarbeitet werden, arbeitet Studien belegt werden. Tatsächlich zeigt das
das rechte PT mit einer deutlich langsameren Planum temporale in der linken Hemisphäre
Auflösung von ca. 4 Hz. Dies entspricht Zeit- eine Präferenz für akustische Signale, die pho-
fenstern, die für die Identifikation temporaler netisch relevante Informationen encodieren.

LH RH
Relative Amplitudenhöhe

der neuralen Aktivierung


als Funktion der Stärke

25 250 25 250
[40 Hz 4Hz] [40 Hz 4Hz]
Länge der Abtastfenster (ms) und assoziierte neurale Oszillationsfrequenz (Hz)

Abbildung 18-18: Schematische Ansicht der „Asymmetric-Sampling-in-time“-Hypothese (Poeppel


2003). Die durchgezogene Linie veranschaulicht den hypothetischen Verlauf der neuralen Aktivierung im
linken und rechten auditorischen Kortex während der Verarbeitung segmentaler akustischer Signale.
Die gestrichelte Linie zeigt, dass die Aktivierung im nicht primären rechten auditorischen Kortex für die
Verarbeitung suprasegmentaler akustischer Modulationen stärker ist. Die Abtastraten liegen in der
linken Hemisphäre bei ca. 40 Hz, was einer Länge des Abtastzeitfensters von ca. 25 ms entspricht. In der
rechten Hemisphäre ist die Abtastfrequenz um den Faktor 10 niedriger und liegt bei ca. 4 Hz, was einer
Länge des Abtastzeitfensters von ca. 250 ms entspricht. Die Abtastfrequenzen sind damit identisch mit
der Oszillationsfrequenz der spontanen neuralen Hirnaktivität in den linken (Gamma-Band) und rechten
(Theta-Band) periauditorischen Arealen. Dabei sind die Prozessoren in den beiden Hemisphären nicht
ausschließlich auf ihre jeweiligen Abtastraten festgelegt. Vielmehr existieren auch in der linken Hemi-
sphäre neurale Detektoren, die langsame akustische Modulationen abtasten können und umgekehrt
(nach Meyer, 2008).

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18.5.  Funktionelle Neuro­anatomie sprachlicher Äußerungen 579

Der Hypothese zufolge sollte das rechte Pla- die neurale Signatur der Verarbeitung
sprachlicher Äußerungen
num temporale dagegen besser geeignet sein,
suprasegmentale prosodische Muster zu ver-
arbeiten. Die Intonationskontur oder der
Rhythmus eines Satzes, der durch Modula- L R
tion der Grundfrequenz entweder als Aussage
(„Lisa spielt Fußball.“) oder als Frage („Lisa
spielt Fußball?“) markiert wird, kann von den
neuralen Prozessoren im rechten Planum tem- Broca-Areal
porale besser erkannt werden. Auch diese Ver- semantisch und syntaktisch
mutung konnte empirisch bestätigt werden syntaktisch auditorisch

(Meyer et al., 2018). Die Bedeutung der lang- semantisch prosodisch


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samen akustischen Modulationen für die


Abbildung 18-19: Modell der neuralen Signatur
Sprachverarbeitung wird in dem Moment er-
der Lautsprachverarbeitung nach Friederici
sichtlich, in dem phonetische Information in (2011). Dem Modell zufolge findet die elementare
kurzen Zeitfenstern durch akustische Signal- akustisch-phonetische Verarbeitung von Sprach-
manipulation unbrauchbar wird. Je mehr eine signalen in periauditorischen Arealen beider He-
sprachliche Äußerung segmentaler Informa- misphären statt. Die Verarbeitung supraseg-
tion entbehrt und auf suprasegmentale Infor- mentaler prosodischer Informationen wird von
mationen reduziert ist, desto mehr beobachtet anterioren und posterioren Arealen des supra-
man eine stärkere Beteiligung des rechten temporalen Planums, hauptsächlich dem PT, kon-
Planum temporale (Liem et al. 2014). Somit trolliert. Syntaktische und semantische Prozesse
sowie die Integration dieser einzelnen Schritte
haben die Studien zur AST-Hypothese erfolg-
werden von superioren temporalen Arealen der
reich zum Verständnis der lautsprachlichen
linken Hemisphäre gewährleistet. Das Broca-
Kompetenzen der rechten Hemisphäre beige-
Areal übt eine Vielzahl von übergeordneten Funk-
tragen und untermauern allgemein die Vor- tionen aus, etwa die Verarbeitung grammati-
stellung einer Arbeitsteilung zwischen linker scher Komplexität und die Kontrolle des verba-
und rechter Hemisphäre während der initialen len Arbeitsgedächtnisses. (Nachgezeichnet nach
Phase lautsprachlicher Verarbeitung (Flinker ­Friederici, 2011)
et al. 2019). Im Modell von Angela Friederici
(2017) wird diesen Befunden ebenfalls Rech-
nung getragen (Abb. 18-11 und 18-19). Nach-
dem das Sprachsignal den primären akusti- scher Informationen während der Phasen I–III
schen Prozessor durchlaufen hat, werden des Modells von Friederici unterstützen, er-
Areale im rechten supratemporalen Planum, brachte Hinweise auf eine starke Beteiligung
hauptsächlich im Planum temporale, aktiv. des linken perisylvischen Kortex. Der Aufbau
Diese Prozessoren decodieren die supraseg- einer initialen Phrasenstruktur eines Satzes
mentalen prosodischen Informationen (Into- geht demzufolge mit Aktivierungen im linken
nationskontur, Satzakzentuierung, Sprech- frontalen Operculum und im linken anteriorla-
rhythmus), bevor die Resultate dieser Analyse teralen Gyrus temporalis superior einher. Wie
mit den Ergebnissen der Analysen der syn- in Abbildung 18-15 veranschaulicht, sind diese
taktischen und semantischen Informationen beiden Regionen über den Fasciculus uncina-
abgeglichen werden. tus verbunden, was eine enge funktionale Ver-
Die Untersuchung, welche kortikalen Areale knüpfung während der Phase I der Satzver-
die Verarbeitung syntaktischer und semanti- arbeitung sehr wahrscheinlich sein lässt.

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580 18.  Sprache und Kommunikation

Während der Phasen II und III sind inferior zu beschreiben. Da diese Region nicht Teil des
frontale und temporale Areale aktiv. Aufgrund auditorischen Systems im engeren Sinn ist,
zahlreicher Studien mit bildgebenden Verfah- müssen ihre Funktionen auch im Hinblick auf
ren schlägt das Modell von Friederici (2017) die Aufgaben bei der visuellen Sprachverarbei-
eine Aufteilung der distinkten Areale für unter- tung, bei der Verarbeitung von Gebärdenspra-
schiedliche Funktionen vor. Der anteriore linke che und bei motorischen Funktionen beurteilt
Gyrus temporalis superior ist immer involviert, werden. Zudem lassen sich den einzelnen Sub-
wenn kombinatorische syntaktische Operatio- regionen des frontalen Operculums unter Um-
nen ablaufen. Semantische Verarbeitung auf ständen unterschiedliche Funktionen zuord-
der Satzebene kann ebenfalls unter bestimm- nen. Zunächst sind das Broca-Areal und das
ten Bedingungen den anterioren Temporallap- tiefe frontale Operculum gleichsam in die Ver-
pen aktivieren. Insgesamt ist davon auszuge- arbeitung und Produktion von Sprache ein-
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hen, dass sich im Bereich des anteriorlateralen gebunden. Im Hinblick auf die Rolle des Broca-
Gyrus temporalis superior mindestens zwei Areals bei der  Sprachverarbeitung müssen
unterschiedliche Systeme befinden, die jeweils unterschiedliche Funktionen in Betracht gezo-
die syntaktische und semantische Verarbei- gen werden. Zum einen scheint das Broca-
tung auf Satzebene unterstützen. Die anatomi- Areal das System der Spiegelneuronen im
sche Nähe zu den auditorischen Regionen er- menschlichen Gehirn zu beherbergen und da-
klärt zudem, warum der anteriorlaterale Gyrus mit eine wichtige Rolle bei Top-down-basier-
temporalis superior in Studien zur auditori- ten Prozessen während des Spracherwerbs und
schen Satzverarbeitung signifikant häufiger bei der auditorisch-motorischen Integration
beteiligt ist als bei vergleichbaren Studien zur sprachlicher Signale zu spielen. Zum anderen
visuellen Modalität. kommt dem Broca-Areal eine entscheidende
Der posteriore Gyrus temporalis superior Funktion bei der Verarbeitung besonders kom-
und der Sulcus temporalis superior sind dem plexer Sätze zu, die aus vielen Nebensätzen
Modell von Friederici (2017) zufolge ebenfalls bestehen (z. B.: „Das ist der Mann, der die Frau,
in die Verarbeitung syntaktischer und seman- die das Kind, das das Mädchen, das blonde
tischer Informationen einbezogen. Die wich- Haare hat, schlug, schimpfte, sah.“) bzw. eine
tigste Funktion in diesem Zusammenhang ist ungewöhnliche Wortstellung haben („Den
die Integration von syntaktischen Informatio- Geldschein hat dem Mädchen die Mutter gege-
nen über die Phrasenstruktur und Informatio- ben“). Bei diesen Satzstrukturen muss die hie-
nen über die Verb-Argument-Strukturen. Eine rarchische Organisation der Satzkonstituenten
andere Funktion des posterioren GTS/STS ist mit der eigentlich präferierten Lesart in Über-
die  Verarbeitung syntaktischer und semanti- einstimmung gebracht werden, was eine revi-
scher Ambiguitäten während der Satzverarbei- dierte Segmentierung bzw. Sequenzierung der
tung. Dabei spielt die Nähe dieser Region zu einzelnen Teile des Satzes erfordert. Daher gilt
den weiten semantischen Assoziationsarealen es als wahrscheinlich, dass das Broca-Areal
in den mittleren und inferioren Abschnitten zum Teil auch Aspekte des verbalen Arbeits-
der Temporallappen eine große Rolle, die über gedächtnisses kontrolliert, das notwendig ist,
Brücken weißer Substanz (plis des passages) um linguistische Operationen auf der Ebene
im STS mit den lautsprachlich relevanten solcher komplexen Satzstrukturen durchfüh-
Arealen im GTS verbunden sind. ren zu können. Auf einer rein linguistischen
Die Funktionen des Broca-Areals bzw. des Ebene konnten die distinkten Subregionen des
frontalen Operculums bei der Verarbeitung Broca-Areals unterschiedlichen Aspekten der
sprachlicher Äußerungen sind nicht eindeutig Sprachverarbeitung zugeordnet werden (Frie-

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18.5.  Funktionelle Neuro­anatomie sprachlicher Äußerungen 581

derici, 2017). Dazu zählen der Aufbau einer Kern dieses Modells ist die enge Verknüp-
syntaktischen Phrasenstruktur (opercularis), fung von sensorischen Netzwerken für die
die Zuweisung thematischer Rollen (opercula- Sprachverarbeitung und motorischen Netz-
ris/triangularis), syntaktisch bedingte Ver- werken für die Artikulation. Diese beiden Netz-
schiebungen (syntactic movement) von Satz- werke sind anatomisch miteinander verbunden
konstituenten (opercularis/triangularis) und und wirken interaktiv aufeinander ein. So gibt
das Erlernen syntaktischer Regeln während es Hinweise darauf, dass der posteriore periau-
des Erst- und Fremdspracherwerbs. Zusam- ditorische Kortex in der linken Hemisphäre
menfassend lässt sich festhalten, dass  auf- auch eine wichtige Rolle bei der Sprachproduk-
grund der aktuellen Datenlage nicht mit Be- tion spielt. Ein Beispiel für die Funktion des
stimmtheit gesagt werden kann, ob die dorsalen Pfads ist das vokale Imitieren, eine
Funktionen des  Broca-Areals eng an sprach- Eigenschaft, die einzig dem Menschen vor-
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liche Funktionen gebunden sind oder ob sie behalten ist und für den Spracherwerb eine
eher im Zusammenhang mit allgemeinen ko- wichtige Rolle spielt. Um ein vorgesprochenes
gnitiven und motorischen Sequenzierungs-, Wort korrekt nachzusprechen, muss die phono-
Segmentierungs- und Strukturierungsprozes- logische Repräsentation des Wortes korrekt an
sen zu sehen sind. Vieles spricht für die letzte den Artikulationsapparat weitergegeben wer-
Vermutung. Im Kontext sprachlicher Verarbei- den. Dies geschieht über den dorsalen Pfad.
tung deutet vieles auf eine enge Verknüpfung Das Modell von Hickok und Poeppel beschreibt
syntaktischer Operationen mit dem Pars oper- eine Area Spt im hinteren Segment der Sylvi-
cularis des Broca-Areals hin, während die an- schen Fissur an der Grenze zwischen Tempo-
grenzenden Areale (Pars triangularis und tiefes ral- und Parietallappen, die Ausgangspunkt der
frontales Operculum) funktionell weniger spe- audiomotorischen Integrationsschlaufe ist.
zifiziert sind. Diese Area ist nicht sprachspezifisch, sondern
unterstützt auch die Verarbeitung und Produk-
tion von nichtsprachlichen gesummten Melo-
dien. Die Area Spt ist wahrscheinlich trotz ihrer
18.5.3. Neuroanatomische Korrelate Position inmitten sensorischer Felder im Tem-
der Sprachartikulation porallappen eng an artikulatorische Funktio-
nen gekoppelt und gilt als Ausgangspunkt des
Ein anderes Modell zur Neurobiologie der dorsalen Pfads. Ein solches audiomotorisches
Sprachverarbeitung fokussiert stärker den As- Integrationssystem, das phonologische Reprä-
pekt der Sprachproduktion (Hickok & Poeppel, sentationen unmittelbar in artikulatorische
2007). Ebenfalls diskutiert dieses Modell die Programme überführen kann, ist eine notwen-
Rolle eines bilateralen ventralen und eines dige Voraussetzung für die vokale Imitation
unilateralen linken dorsalen Pfads. Während und den Erwerb neuer Worte auch beim Erler-
die beiden ventralen Pfade für die spektrotem- nen von Fremdsprachen. Ohne eine „Rückmel-
porale Analyse der akustischen Informatio- dung“ des sensomotorischen Systems an das
nen, die phonologische Verarbeitung sowie die Artikulationssystem ist eine Optimierung der
Übersetzung von phonologischen in lexika- Aussprache neu gelernter Worte nicht möglich.
lische Repräsentationen zuständig sind, unter- Des Weiteren ermöglicht die Funktionalität
stützt der dorsale Pfad die Übersetzung von des dorsalen audiomotorischen Integrations-
sensorischen in motorische Informationen so- systems einen automatisierten Artikulations-
wie die artikulatorischen Netzwerke in GFI und vorgang, der sich dem semantischen Zugriff
in prämotorischen Arealen (Abb. 18-20). entzieht. Kinder können beispielsweise ohne

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582 18.  Sprache und Kommunikation

A)

Sensomotorische
Artikulatorische Netzwerke Reize aus
Schnittstelle
pGFI, PM, anteriore Insula anderen
Parietal-temporal Spt
(links dominant) Dorsaler Pfad Sinnesmodalitäten
(links dominant)

Spektrotemporale Analyse Phonologisches Netzwerk


Konzeptuelles Netzwerk
Dorsaler GTS mittlerer-posteriorer GTS
weit distribuiert
(bilateral) (bilateral)
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Kombinatorisches Ventraler Pfad


Netzwerk Lexikalische Schnittstelle
aGTM, aSTI pGTM, pSTI
(links dominant?)

B)

Abbildung 18-20: Schematische Ansicht des Modells zur Sprachverarbeitung von Hickok und Poeppel
(2007). Dem Modell zufolge befinden sich die sprachrelevanten Areale in kortikalen Gebieten der rechten
und linken Hemisphäre. Diese Areale sind durch Assoziationsbahnen miteinander verknüpft, über die
die akustischen Signale von der Hörrinde auf zwei verschiedenen Pfaden in den inferioren frontalen
Kortex gelangen. Während das Modell die Existenz eines ventralen Pfads für beide Hemisphären postu-
liert, geht es nur für die linke Hemisphäre vom Vorhandensein eines dorsalen Pfads aus. Areale für die
Sprachverarbeitung sind primär über den Temporallappen verteilt. Der neurale Strang für die senso-
motorischen und artikulatorischen Funktionen verläuft nur in der linken Hemisphäre vom posterioren
GTS durch den GSM zum inferioren frontalen Kortex (nach Hickok & Poeppel, 2007). PM: Prämotorkortex,
pGFI: posteriorer Gyrus frontalis inferior,GTS: Gyrus superior, aGTM: anteriorer Gyrus temporalis medius,
pGTM: posteriorer Gyrus temporalis medius, pSTI: posteriorer Sulcus temporalis inferior, aSTI: anteriorer
Sulcus temporalis inferior.

Weiteres Lieder mit fremdsprachlichen Tex- kulation erklärt. Die zeitgenaue Ansteuerung
ten singen, ohne deren Inhalt zu verstehen. des Artikulationsapparats durch die Willkür-
Dass der dorsale Pfad nur in der linken Hemi- motorik erfordert eine außergewöhnliche
sphäre zu existieren scheint, wird von einigen Präzision, sodass ein Zusammenspiel der
Wissenschaftler*innen mit den besonderen beiden Hemisphären eher von Nach- als von
Umständen im Zusammenhang mit der Arti- Vorteil wäre. Minimale Abweichungen in den

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18.5.  Funktionelle Neuro­anatomie sprachlicher Äußerungen 583

artikulatorischen Repräsentationen der rech- Zusammenfassend lässt sich sagen, dass


ten und linken Hemisphäre würden eine dem Modell von Hickok und Poeppel zufolge
exakte Koordination der Artikulatoren un- die Verarbeitung und Artikulation von Laut-
möglich machen. sprache in überlappenden Arealen erfolgt,
Einige Forscher*innen sehen hierin den was auf eine enge Verknüpfung dieser beiden
Ausgangspunkt für die linkshemisphärische Funktionen zurückzuführen ist. In einem ven-
Dominanz der Sprache. Da die linke Hemi- tralen System, das superiore und mittlere bila-
sphäre in der Regel die Bewegungen der rech- terale Gebiete im Temporallappen umfasst,
ten Hand kontrolliert und die meisten Men- werden akustische Sprachsignale semantisch,
schen dominant rechtshändig sind, liegt es phonologisch und syntaktisch verarbeitet. Ein
nahe zu vermuten, dass die menschliche Spra- linkshemisphärischer dorsaler Pfad von der
che sich während der Evolution von einer ges- temporoparietalen Area Spt bis zum inferio-
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ten- zu einer lautbasierten Kommunikations- ren Frontalkortex überführt sensorisch-pho-


form in der Hemisphäre etabliert hat, die nologische Repräsentationen von lautsprach-
ohnehin die dominante Hand kontrollierte. lichen Signalen in artikulatorische Formen,

anterior LH sche posterior LH


motori
ortikale
transk Aphasie
alt
her Inh
antisc
alis ch-sem rache)
lexik nsp
(Sponta

9
Inha lt
cher )
ologis n
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44
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Rei

A1 37
Sprachausgabe

21
visu
elle
Rei
ze
s en s orische
ortikale ie
transk Ap s
h a

Abbildung 18-21: Schematische Ansicht der frontotemporalen Verarbeitungspfade nach Glasser und
Rilling (2008). Neben einem dorsalen Pfad für den Transfer sensorisch-phonologischer Repräsentatio-
nen in der linken Hemisphäre (obere Hälfte) existiert ein dorsaler Pfad für den Transfer sensorisch-pro-
sodischer Repräsentationen in der rechten Hemisphäre (untere Hälfte). (Nachgezeichnet nach Glasser
& Rilling, 2008)

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584 18.  Sprache und Kommunikation

die als Vorstufe für die Sprachproduktion an- schiedlichen Muster der Hirnaktivität in Fre-
zusehen sind. quenzbänder (δ < 4 Hz, θ 4–7 Hz, α 8–13 Hz,
Neben einem dorsalen Pfad für den Trans- β 13–30 Hz und γ > 30 Hz). Die Frequenz be-
fer sensorisch-phonologischer Repräsentatio- zeichnet demnach die Anzahl von Schwingun-
nen in der linken Hemisphäre existiert ein gen (Oszillationen) eines Verbands von Ner-
dorsaler Pfad für den Transfer von senso- venzellen innerhalb des Zeitraums einer
risch-prosodischen Repräsentationen in der Sekunde. Interessanterweise zeigte sich in den
rechten Hemisphäre. Dieser Pfad gewähr- letzten Jahren, dass es im Gehirn offensicht-
leistet die Bereitstellung der zur sprachlichen lich lokale, endogene „Oszillatoren“ gibt, die
Äußerung passenden suprasegmentalen In- auch im Ruhezustand des Gehirns mit relativ
tonationen und Rhythmen (Glasser & Rilling, konstanter Frequenz feuern, ohne dabei einer
2008, Sammler et al., 2018; Abb. 18-21). konkreten Aufgabe nachzugehen. In einer Stu-
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die konnte eine Forschergruppe nachweisen,


dass es im linken auditorischen Kortex endo-
18.6. Die Sprache des Gehirns gene Oszillatoren gibt, die mit ca. 40 Hz
schwingen, während es im rechten auditori-
Während es in den vorangegangenen Ab- schen Kortex Verbände von Nervenzellen gibt,
schnitten primär darum ging, die an der Spra- die konstant mit einer zehn Mal langsameren
che beteiligten Hirnregionen zu beschreiben, Frequenz von ca. 4 Hz oszillieren (Giraud et
soll im Folgenden noch eine andere Per- al., 2007).
spektive betrachtet werden. Bei all den karto- In Abschnitt 18.5 wurde bereits beschrie-
graphischen Versuchen, eng umschriebenen ben, dass es eine Art Arbeitsteilung zwischen
Hirnarealen eine mehr oder weniger spezifi- dem rechten und dem linken posterioren audi-
sche linguistische Funktion zuzuschreiben, ist torischen Kortex gibt. Demnach hat das linke
die Frage vernachlässigt worden, ob linguisti- PT eine Präferenz für subsyllabische Einheiten
sche Kategorien überhaupt im menschlichen (Phoneme), während das rechte PT besonders
Gehirn implementiert sind. Man könnte zu- aktiv bei der Verarbeitung suprasegmentaler
recht auch die Frage stellen, welche die Spra- Muster (Prosodie, Rhythmus) ist. Gesprochene
che des Gehirns ist und inwiefern diese mit Sprache entfaltet sich in der Zeit. Ein akusti-
unserer Sprache kompatibel ist. Eine Antwort sches Signal, das einen gesprochenen Satz re-
auf diese Frage gibt das Wissen, dass sich neu- präsentiert, lässt sich in einem Oszillogramm
ronale Netzwerke im Gehirn nicht nur räum- adäquat mittels eines Musters neuronaler Ak-
lich, sondern auch in der zeitlichen Dimension tivität als Modulation von akustischen Fre-
organisieren. Je nach Geschwindigkeit der quenzen beschreiben. Dabei ist zu beachten,
„Feuerrate“ können sich Netzwerke miteinan- dass eine sprachliche Äußerung überlappende
der abstimmen und austauschen. Nervenzel- akustische Modulationen auf mehreren Ebe-
len im menschlichen Gehirn können langsam nen hat. Schnelle Modulationen (Phoneme)
(ca. ein Mal pro Sekunde) oder schnell (ca. ereignen sich in Zeitfenstern von ca. 25 ms,
30–80 Mal pro Sekunde, maximal sogar 200 während sich langsame Modulationen (Proso-
Mal pro Sekunde) aktiv sein. Schon vor ca. die) in größeren Zeitfenstern (ca. 250 ms) ab-
90 Jahren entdeckte Hans Berger in Jena, dass spielen. Somit sind die akustischen Träger
diese unterschiedlichen Feuerraten nicht zu- sprachlicher Information offenbar genau so
fällig auftraten, sondern mit unterschiedlichen beschaffen, dass sie von den Oszillatoren auf
Aktivitätszuständen eines Menschen zusam- einer frühen, initialen Ebene der Sprachver-
menhängen können. Er unterteilte die unter- arbeitung aufgenommen und auf einer neuro-

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18.6.  Die Sprache des Gehirns 585

nalen Ebene abgebildet werden können. Die- plitude bei 4 Hz aufweist (Ding et al., 2017;
sen aktiven Vorgang nennt man „entrainment“ Abb 18-22). Dieser relativ langsamen Schwin-
(Meyer et al., 2019). In der Kakophonie, die gung im Signal scheint also eine besondere
alltäglich an unsere Ohren gelangt, muss das Bedeutung als universeller Grundrhythmus
Gehirn sprachliche Äußerungen als solche er- bei der Produktion und Perzeption von gespro-
kennen, indem es akustische Muster anhand chenen Sprachen zuzukommen. Auffällig ist
ihrer temporalen Charakteristik auf ihre Pas- die Entsprechung zur theta-Band-Oszillation
sung (Kohärenz) den eigenen endogenen im Gehirn, die eben im 4-Hz-Frequenzbereich
Oszillationen zuordnet. In diesem Moment liegt. Aufbauend auf diesem Gedanken schla-
nehmen die Oszillatoren die feingekörnte gen Ding et al. (2016) einen Ansatz zum Ver-
akustische Struktur auf, indem Phasen im ständnis der Sprache-Gehirn-Beziehung vor,
Sprachsignal und im neuronalen Signal mög- der einerseits komplexere Verarbeitung auf
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lichst deckungsgleich überlagert werden. Die- der Satzebene einschließt, aber ohne die klas-
ses „phase-locking“ ist die Voraussetzung da- sischen linguistischen Begriffe wie Syntax und
für, dass zu einem späteren Zeitpunkt noch die
syntaktischen und symbolischen Informatio- Sprach Modulations Spektrum
nen verarbeitet werden können. Gleichsam
1
einem Reiter, der neben einem gesattelten
Pferd her läuft, muss das Gehirn seinen Rhyth-
0.8
mus exakt dem des „Pferdes“ anpassen, um
normalisierte Amplitude

sich im richtigen Moment „in den Sattel zu


0.6
schwingen“. In dieser Metapher steht das
Pferd natürlich für einen bestimmten Anteil 0.4
des Sprachsignals, das entweder im Schritt,
im Trab oder im Galopp in das Gehirn hinein- 0.2
gelangt. Im Ernstfall ist es natürlich nicht ein
Pferd, sondern es handelt sich um eine ganze
0.25 0.5 1 2 4 8 16 32
Herde Pferde, die alle im gleichen Moment mit
Frequenz (Hz)
unterschiedlicher Geschwindigkeit auftau-
chen, sodass das Gehirn genügend Reiter be- Amerikanisches Englisch
reithalten muss, die es zum Aufsatteln schicken Chinesisch
Französisch
kann. Natürlich sind viele einzelne Fragen in
Deutsch
diesem Zusammenhang noch nicht geklärt, Britisch Englisch
aber die wenigen konkurrierenden Modelle Schwedisch
Holländisch
basieren alle auf derselben Annahme: Neuro-
Dänisch
nale Modulationen in unterschiedlichen Fre- Norwegisch
quenzbereichen sind die eigentliche Sprache
Abbildung 18-22: Das Modulationsspektrum für
des Gehirns (Friederici & Singer, 2015) und
gesprochene Sprache. Untersucht wurden die
alle gesprochenen Sprachen dieser Welt haben
akustischen Eigenschaften von natürlichen
ihre akustische Struktur einem universalen
sprachlichen Äußerungen auf der Satzebene für
Prinzip der Sprache des Gehirns angepasst. neun Sprachen. Als Quellen dienten Audiobücher
In diesem Zusammenhang konnte eine und Datenbanken. Die Darstellung legt ein inhä-
Untersuchung zeigen, dass das Sprachmodula- rentes und globales Intonationsmuster für alle
tionsspektrum über neun Sprachen hinweg untersuchten Sprache nahe (nachgezeichnet
äußerst konsistent ist und eine eindeutige Am- nach Ding et al. 2017).

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586 18.  Sprache und Kommunikation

Grammatik auskommt. Die grundliegende nen über semantische Konzepte und beruht
Idee geht bei diesem Ansatz davon aus, dass auf phonologischen Variationen. So entspre-
das Gehirn aktiv die Konstituenten, aus denen chen z. B. den Phonemen der gesprochenen
ein Satz besteht, erkennen und damit den Satz Sprache in der GS die spezifische Stellung der
in kleinere Einheiten zergliedern kann, die Handform, die Bewegung der Hände und die
sich im Bereich von 2 Hz (Konstituenten) und Verortung der Gebärde im Gebärdenraum un-
4 Hz (Wörter) abspielen (Abb. 18-23 a–c). Der mittelbar vor der gebärdenden Person. Auch
Prozess, bei dem das Gehirn die akustischen prosodische Markierungen gehören beim Ge-
Strukturen von Sätzen, Konstituenten und brauch von Gebärdensprachen zum Standard-
Wörtern erkennt und verarbeitet, wird „corti- ausdruck. Betonungen werden in der Gebär-
cal tracking“ genannt. Denkt man dieses Mo- densprache primär über die Mimik ausgedrückt
dell konsequent zu Ende, kommt man unwei- (frowning, mouthing). Nicht für alle Wörter
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gerlich zu dem Schluss, dass die akustische existieren eindeutig zugeordnete Gebärden.
Struktur von Sprachen genau so entstehen Viele Eigennamen oder komplexe Ausdrücke
musste, um den Verarbeitungsprinzipien des wie „funktionelle Magnetresonanztomogra-
Gehirns zu entsprechen. Die Verarbeitung der fie“ werden mithilfe eines Fingeralphabets in
akustischen Frequenzen von Wörtern, Kon- die geöffnete Handfläche buchstabiert. Viele
stituenten und Sätzen erfordert auf der Seite Nutzer der GS haben auch einen „Gebärden-
des Gehirns ebenfalls das Zusammenspiel namen“, d. h. eine Gebärde, die vergleichbar
von neuralen Schwingungen in den delta- und einem Spitznamen der eigenen Person zuge­
theta-Frequenzbändern („nesting“) (Giraud & ordnet wird.
Poeppel, 2012, Meyer et al., 2019). Momen- Die wesentlichen Unterschiede zwischen
tan wird in diesem Bereich der Sprache-Ge- Laut- und Gebärdensprache manifestieren
hirn-Beziehung intensiv geforscht, um zu ei- sich zunächst in der Modalität. Während Laut-
nem besseren Verständnis zu gelangen, wie sprache einen sequenziellen Charakter hat
das Gehirn hierarchische Strukturen in der und eindimensional als Schallereignis über-
Sprache durch eine Hierarchie von neuralen mittelt wird (Serien-Parallel-Wandlung), er-
Prozessen abbildet. eignet sich die visuell-gestisch basierte GS
simultan im Raum. Ähnlich wie bei den Laut-
sprachen wird nicht überall auf der Welt
18.7. Gebärdensprache dieselbe GS genutzt. Selbst innerhalb eines
Sprachraums variieren die Dialekte in den Ge-
Sprache kann auch über nichtakustische Ka- bärdensprachen viel stärker als in den Laut-
näle übertragen werden, z. B. bei der gesti- sprachen, was durch die geringere Mobilität
schen Kommunikation über visuelle oder der Gehörlosen in den vergangenen Jahrhun-
taktile Kanäle. Eine besondere Form der ge- derten erklärbar ist. Ein Gehörloser aus Zü-
stischen Kommunikation ist die Gebärden- rich kann sich also im Vergleich zu zwei Nut-
sprache (GS), mit der primär gehörlose Men- zern der Lautsprache aus denselben Städten
schen untereinander kommunizieren. Gebär- schlechter mit einem Gehörlosen aus Düssel-
densprachen stellen komplette, natürliche dorf austauschen, obwohl alle GS einen gewis-
sprachliche Systeme dar, die sich auf einer sen Grad der Bildhaftigkeit aufweisen.
formalen Beschreibungsebene nicht von der Untersuchungen an gehörlosen Patienten
Lautsprache unterscheiden. Auch die Gebär- mit Hirnverletzung oder einem Schlaganfall
densprache funktioniert nach syntaktischen weisen darauf hin, dass die GS ähnlich wie
Regeln, dient zum Austausch von Informatio- Lautsprachen eine linksdominante Funk-

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18.7. Gebärdensprache 587

a Satz Satz 1 Hz

N Ausdruck V Ausdruck N Ausdruck V Ausdruck 2Hz

4 Hz

Dry Fur Rubs Skin New Plans Gave Hope

250 ms

Spektrum für Stimulus Intensität


b
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20 dB
Intensität

1 HZ 2 HZ 3 HZ 4 HZ
Frequenzspektrum neuraler Schwingungen

c f f f
Satz Ausdruck Silbe
Power (dB)

Max

6 dB

1 HZ 2 HZ 3 HZ 4 HZ
Min
Frequenz

Abbildung 18-23: „Neural tracking“ für hierarchische Strukturen in gesprochenen Sätzen.


a: Sequenzen von monosyllabischen Worten in gleichförmigen englischen Sätzen, die hierarchisch in
unterschiedliche grosse Teile strukturiert werden können. Dabei bildet der Satz die höchste Ebene (1 Hz),
einzelne Ausdrücke (Nominalphrasen, Verbalphrasen) bilden die zweithöchste Ebene (2 Hz) und einzelne
Silben die dritte Ebene (4 Hz).
b: Das Spektrum der akustischen Fluktuation zeigt eine Gipfelintensität im Bereich von 4 Hz und kor-
respondiert somit mit dem Silbenrhythmus.
c: Das Spektrum der neurophysiologischen Aktivität zeigt Maxima, die mit den akustischen Strukturen
(Sätzen, Phrasen und Silben) synchron sind. Das Gehirn nimmt demnach die akustische Struktur von
gesprochenen Sätzen auf und zergliedert sie in hierarchisch feinere Einheiten (nachgezeichnet nach
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588 18.  Sprache und Kommunikation

tion ist. Unabhängig von der Modalität erlei- gangsbereich sowie in der primären und se-
den also auch Nutzer der GS nach Läsionen kundären Sehrinde, was durch die visuelle
der linken Hemisphäre signifikante Defizite Modalität der Gebärdensprache zu erklären
auf der linguistischen Ebene der Gebärden- ist. Interessanterweise machen sich Effekte
sprache. Die wenigen vorliegenden Berichte der Neuroplastizität auch insofern bemerkbar,
zeigen deutlich, dass höhere linguistische als Nutzer der GS Experten in der Gesichts-,
Funktionen modalitätsunabhängig im Gehirn Form- und Bewegungswahrnehmung sind.
repräsentiert sind. Evidenz für eine Betei- Den Status der GS als vollständige Sprache
ligung der rechten Hemisphäre an höheren bestätigen auch Studien, die die Verarbeitung
Prozessen der Verarbeitung von GS erbrachten von GS mit der Verarbeitung von pantomi-
diese Studien nicht. Mit der Etablierung bild- mischen Gesten verglichen und feststellten,
gebender Verfahren begann eine Reihe syste- dass sowohl hörende als auch gehörlose Nutzer
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matischer Untersuchungen zur Neurokogni- der GS selektiv Areale im linken posterioren


tion der GS, die einen präziseren Einblick perisylvischen Kortex aktivieren, wenn Sätze
ermöglichten (Campbell et al., 2008). in der Gebärdensprache im Vergleich zu nicht-
Zusammenfassend lässt sich festhalten, linguistischen pantomimischen Codes ver-
dass weite Teile des bilateralen perisylvischen arbeitet werden. Für diesen Status der GS
Kortex mit einer deutlichen Dominanz links- spricht auch, dass der „native“ Erwerb der GS
hemisphärischer Strukturen in die zerebrale dem Erwerb der Lautsprache vergleichbar ist.
Repräsentation der GS eingebunden sind. Gehörlose Kinder, die die Gebärdensprache als
Ähnlich wie bei der Lautsprache werden bei Erstsprache erwerben, durchlaufen vergleich-
der GS das frontale Operculum, der posteriore bare Stadien beim Aufbau phonologischer,
Gyrus temporalis superior, der Gyrus supra- grammatischer und semantischer Kompeten-
marginalis, der Gyrus angularis und der poste- zen (z. B. eine nichtlautliche Babbelphase) und
riore Sulcus temporalis superior genutzt. Da- machen dabei dieselben Fehler (z. B. das fal-
bei zeigen sich subtile Unterschiede abhängig sche Konjugieren von unregelmäßigen Verben,
von der Fertigkeit. Gehörlose weisen stärkere „er liegte“ statt „er lag“). Jedoch läuft der na-
Aktivierungen im linken inferioren Parietal- türliche Erwerb der Gebärdensprache nur sel-
lappen auf als hörende Nutzer der Gebärden- ten unter „optimalen“ Bedingungen ab. Nur
sprache. Anders als bei der Verarbeitung von 10 % aller gehörlosen Kinder haben gehörlose
Lautsprache bei Hörenden ist der assoziative Eltern, von denen sie die GS erlernen können.
auditorische Kortex im Gyrus temporalis su- Die übrigen 90 % lernen zuerst, von den Lip-
perior bei Gehörlosen weniger stark in die Ver- pen abzulesen, erhalten eventuell ein Coch-
arbeitung von Gebärdensprache eingebunden. lear-Implantat oder lernen die GS zu einem
Auch die Konnektivität innerhalb der auditori- späteren Zeitpunkt von anderen gehörlosen
schen Regionen ist bei Gehörlosen nachweis- Kindern. Ähnlich wie beim Erwerb der Laut-
lich schwächer ausgeprägt. Dieser Befund sprache wirken sich Verzögerungen beim Er-
kann als Hinweis auf die enorme Potenz der werb der GS primär nachteilig auf die ele-
Neuroplastizität gedeutet werden, denn die mentaren phonologischen Formen aus. Des
Hörrinde bleibt bei Gehörlosen trotz der audi- Weiteren unterscheidet sich die zerebrale Or-
torischen Deprivation nicht völlig ungenutzt. ganisation von GS abhängig davon, ob man
Ebenfalls anders als bei der Lautsprache zei- Personen anschaut, die die GS sehr früh als
gen die Aktivierungsbilder der Gehörlosen Erstsprache erworben haben, im Vergleich zu
eine massive Beteiligung des bilateralen extra- Personen, die diese erst später in ihrem Leben
striären Kortex im temporookzipitalen Über- erlernt haben. Erstere zeigen stärkere Aktivie-

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18.8.  Die Evolution der Sprache 589

rungen superior temporaler und inferior parie- hat, die wir heute kennen. Die Frage ist nicht,
taler Areale in der rechten Hemisphäre. warum dieser Entstehungsprozess unter ande-
Zusammenfassend lässt sich also sagen, rem eine rekursive Syntax hervorgebracht hat,
dass sich die Neurokognition der GS in moda- die in ihrer Komplexität über die Bedürfnisse
litätsunabhängigen Aspekten nicht von der eines bloßen Austauschs von Informationen
zerebralen Organisation der Lautsprache un- auf der Komplexitätsebene einer Finite State
terscheidet. Erste Befunde deuten darauf Grammatik (also einer endlosen Aneinander-
hin, dass bei der Verarbeitung von Gebärden- reihung von kurzen Hauptsätzen (ab)n) weit
sprache ähnliche „tracking“-Mechanismen hinausgeht.
zur Hierarchisierung der linguistischen Infor- In Anbetracht der oben erwähnten Tatsa-
mation durch neurale Oszillationen zur An- che, dass es praktisch keine unmittelbaren pa-
wendung gelangen (Brookshire et al., 2017). läontologischen Befunde für die Entstehung
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Unterschiede zeigen sich hingegen v. a. auf und Modifikation der Sprache über die Zeit-
der Modalitätsebene, da die GS im Gegensatz spanne der Menschheitsgeschichte gibt, ist der
zur akustisch-phonetischen Lautsprache ei- Ansatz der vergleichenden Neuroanatomie
nen visuell-gestischen Charakter hat. bzw. der vergleichenden Verhaltensforschung
noch am ergiebigsten, um den Spuren der
Sprachevolution nachzuspüren, da dieser An-
18.8. Die Evolution satz eine relativ gute empirische Datenbasis
der Sprache liefern kann. Natürlich ist es naheliegend bei
der Suche nach dem Ursprung der mensch-
Die Frage, wie der Mensch zur Sprache kam, lichen Sprache, zuerst einmal das Vokalisati-
wird sich sicher niemals abschließend beant- onsrepertoire unserer nächsten Anverwandten
worten lassen. Da Gehirne sowie kognitive Fä- mit unserer Lautsprache zu vergleichen. Dieser
higkeiten, anders als Knochen, nicht fossilisie- Vergleich ist aber aus mehreren Gründen irre-
ren, ist die Indizienlage dünn und jeder neue führend. Zum einen wurde bereits ausgeführt,
fossile Fund, wie der jüngst entdeckte Austra- dass Affen aufgrund der Anatomie ihres Vokal-
lopithecus ramidus, führen zu Revisionen der traktes nicht in der Lage sind, dieselbe Menge
gegenwärtigen Modelle. Wie bei jedem evolu- von komplexen Lauten zu produzieren wie
tionären Fortschreiten geschah auch die Ent- der Mensch, dessen abgesenkte Larynx die
wicklung der Sprache nicht aus purem Zufall, Produktion einer großen Zahl von Lauten, ins-
wenn auch gleichsam Sprache nicht als ein besondere Vokalen, ermöglicht. Ebenfalls
evolutionäres Ziel betrachtet werden darf. sind nur Menschen zur intentionalen vokalen
Lautsprache hat sich, den Gesetzen der Evolu- Imitation in der Lage sowie zur willkürmotori-
tion gehorchend, aus einem Satz von kogniti- schen Ansteuerung ihres Vokaltrakts, was
ven, motorischen, morphologischen, kulturel- eine entscheidende Bedeutung für den Laut-
len und physiologischen Gegebenheiten über spracherwerb hat. Dagegen scheint die gesti-
wahrscheinlich Millionen, zumindest aber sche Kommunikation der Menschenaffen der
Hunderttausenden von Jahren hin entwickelt. menschlichen Sprache viel ähnlicher zu sein,
In den folgenden Abschnitten wird daher ein als die vokale Kommunikation. Anders als Rufe
Szenario der Evolution der Sprache beschrie- nutzen Menschenaffen einen Großteil ihrer
ben, welches den kommunikativen Aspekt von Gesten dyadisch, also praktisch in einer dialog-
Sprache betont. Im Vordergrund steht also die ähnlichen Situation und teilweise sogar in ein-
Frage, warum die menschliche Lautsprache im deutig intentionaler Absicht in einer flexiblen
Laufe der Evolution die Form angenommen Kombination von brachiomanuellen Gesten.

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590 18.  Sprache und Kommunikation

Viele Wissenschaftler*innen sehen daher die neurone können sogar den Verlauf von Hand-
Gestensprache als die eigentliche Vorläufer- lungen antizipieren, denn sie feuern auch,
form der menschlichen Lautsprache an (Cor- wenn der letzte und entscheidende Teil einer
ballis, 2009, 2010). Noch heute begleiten Handlung nicht sichtbar ist und somit nur in
Menschen ihre verbalen Äußerungen in allen der Vorstellung des Beobachters beendet
Sprachen gleich häufig durch unterstreichende werden kann. Eine zentrale Eigenschaft von
Gesten. Die synchronisierte Art und Weise, in Spiegelneuronen liegt in der hohen Ähnlich-
der sie das tun, deutet auf ein einziges, zusam- keit oder Kongruenz der Reaktion bei bloßer
menhängendes System hin, welches sowohl Beobachtung und aktiver Ausführung einer
Lautsprache als auch Gesten integriert. Des Handlung. Aus diesem Grund wird spekuliert,
Weiteren wurde beobachtet, dass bei mensch- dass Spiegelneurone durch das Abgleichen der
lichen Kindern die gestische vor der vokalen Handlungsbeobachtung mit der Handlungs-
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Kommunikation auftritt. Die stärkste Evidenz ausführung ein Verständnis der beobachteten
für den gestischen Ursprung kommt jedoch Handlung ermöglichen. Beobachtete Hand-
daher, dass Sprache in rein gestischer Form, lungen erzeugen im Betrachter spontan eine
also als Gebärdensprache, ohne Verlust an Ex- interne motorische Repräsentation. Weil ihm
pressivität und Komplexität funktionieren die Konsequenzen dieser potenziellen Hand-
kann. Unsere moderne Sprache könnte sich lung also bekannt sind, kann er das Gesehene,
daher durchaus aus einer einfachen, aus Ges- das heißt die Intention der Handlung, verste-
ten und Gebärden bestehenden, Form der hen und so visuelle Information in Wissen um-
Kommunikation zwischen unseren Vorfahren wandeln. Sensorische Information hat also
entwickelt haben. Zugriff auf eine Art internen motorischen Wis-
Zusätzliche empirische Unterstützung er- sensspeicher. Ein Befund, welcher diese Hypo-
hält diese Überlegung durch die Entdeckung these unterstützt, besteht darin, dass Spiegel-
der sogenannten „Spiegelneurone“ (engl. neurone tatsächlich das Ziel einer Handlung
„mirror neurons“), die erstmals im ventralen kodieren und nicht nur auf visuelle Eigenschaf-
Prämotorkortex (Areal F5) von Rhesusaffen ten der beobachteten Handlung reagieren.
beschrieben wurden. Dieses Areal gilt als Auf die Ebene der Sprache übertragen,
neuroanatomisches Pendant zum Broca-Areal könnte dies bedeuten, dass Spiegelneurone
im menschlichen Gehirn. Ursprünglich wurde eine besondere Verbindung zwischen dem
die Funktion von Spiegelneuronen als maß- Sender und dem Empfänger einer kommuni-
geblich beim Durchführen und Beobachten kativen Geste ermöglichen. Im Gehirn des
motorischer Handlungen (Greifbewegungen) Empfängers wird bei der Rezeption der Geste
angesehen, also der Repräsentation brachio- der gleiche neuronale Schaltkreis aktiviert, der
manueller Bewegungen. Mittlerweile weiß die Motorrepräsentation der gleichen Geste im
man auch von der Existenz audiovisueller Spie- Gehirn des Senders enkodiert. Auf diese Weise
gelneurone im Affengehirn, die während der wird es dem Empfänger ermöglicht, die Geste
Beobachtung einer objektbezogenen Hand- zu verstehen und angemessen darauf zu ant-
lung (das Knacken einer Nuss) ebenso feuern, worten, womit überhaupt erst die Vorausset-
wie bei der Wahrnehmung eines Geräusches, zung für eine dyadische Kommunikation er-
welches beim Aufknacken einer Nuss entsteht. füllt wäre. Nichtsdestotrotz darf nicht aus den
Somit gilt das Konzept der Spiegelneurone Augen verloren werden, dass das Vorhanden-
momentan als fundamentales Prinzip für das sein von Spiegelneuronen nicht gleichbedeu-
imitatorische visuo-motorische und audio- tend mit Sprachbesitz ist. Bevor man eine
motorische Lernen durch Imitation. Spiegel- evolutionäre Abfolge von einem Spiegelneuro-

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18.8.  Die Evolution der Sprache 591

nen-System für Greifhandlungen bis hin zur bipedal bewegten, waren die späteren Homo
menschlichen Sprache aufstellen kann, muss obligatorisch bipedal. Dadurch konnten sie
vorher im nächsten Abschnitt geklärt werden, ihre Hände noch freier bewegen und noch
ob beim Menschen Spiegelneurone und ein komplexere Gesten produzieren. So wurde es
ähnliches Spiegelneuronen-System in dieser ihnen möglich, reale Ereignisse gestisch nach-
Form überhaupt vorhanden sind. zuahmen und zu kommunizieren. Über den
Auch beim Menschen wurde die Existenz Prozess der Konventionalisierung wurden
von Spiegelneuronen in einem begrenzten Um- diese pantomimischen Zeichen mit der Zeit
fang nachgewiesen. Im Broca-Areal befinden willkürlich in dem Sinne, dass sie dem dar-
sich offensichtlich die neuronalen Ensembles, gestellten Objekt zunehmend weniger glichen.
die neben der Repräsentation von sprachlichen Dies ermöglichte aufgrund des steigenden Vo-
Funktionen auch Motorrepräsentationen von kabulars eine schnellere und effizientere
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Handbewegungen enthalten. Im Gegensatz Kommunikation, wodurch die Gesten immer


zum Affen aber scheint das Spiegelneuronen- symbolischer wurden und so langsam ihren
System beim Menschen auch eine intransitive mimenden Aspekt verloren. Somit könnte eine
(nicht-objektbezogene) Form entwickelt zu ha- frühe Gebärdensprache (Proto-Gebärde) ent-
ben. Dies hat den Vorfahren des modernen standen sein, welche primitive kommunika-
Menschen unter Umständen erlaubt, auf Ob- tive Zwecke erfüllte. Doch sind Gebärden
jekte Bezug zu nehmen, die nicht unmittelbar nicht in allen Situation ideal. Bei Dunkelheit,
vorhanden sein mussten, und dadurch zusätz- verdeckter Sichtlinie und zu großen Entfer-
lich und zunehmend symbolische Handlungen nungen ist eine gebärdenbasierte Kommuni-
zu kommunizieren und zu verstehen. kation unmöglich. Des Weiteren verhindert
Wie könnte somit ein evolutionäres Szena- die Kommunikation via Gebärden das zeit-
rio der Sprachentwicklung von der gestischen gleiche Manipulieren von Gegenständen, den
zur vokalen Kommunikation aussehen? Mög- Werkzeuggebrauch oder die Brutpflege. All
licherweise erlangten orofaziale Gesten nach diese Gründe zusammen mögen dafür aus-
und nach Dominanz über die manuellen Ges- schlaggebend gewesen sein, dass ein evolutio-
ten, indem letztere zunehmend stimmhaft närer Druck entstand, der die Wandlung zu
und durch Bewegungen der Zunge sowie des einer neuen Modalität der Sprache anstelle
Vokaltrakts begleitet wurden. Diesem Szena- der gebärdenbasierten Sprache forcierte. Auf-
rio zufolge könnte sich die Evolution der Laut- grund der neuroanatomischen, engen Ver-
sprache also folgendermaßen abgespielt ha- knüpfung des motorischen und des auditiven
ben: In einer Zeit vor der Abspaltung der Systems ist es plausibel anzunehmen, dass
Frühmenschen von den übrigen Primaten ent- orofaziale Gesten nach und nach die Domi-
wickelten unsere Vorfahren das objektbezo- nanz über die manuellen Gesten erlangten,
gene Greifen, danach ein System zur dualen wobei erstere zunehmend stimmhaft und
Kontrolle von Ausführung sowie Beobachtung durch Bewegungen der Zunge sowie des Vo-
von Greifhandlungen und irgendwann, auf kaltrakts begleitet wurden. Im Laufe der Zeit
Basis der Spiegelneurone, ein System zur Imi- wurde also die Bedeutung brachiomanueller
tation von Greifbewegungen. Zu einem späte- Gesten allmählich auf orolaryngeale Gesten,
ren, unbestimmbaren Zeitpunkt der Mensch- das heißt auf Mund- und Kehlkopfgesten,
heitsgeschichte entwickelte sich ein System, transferiert. Eine Voraussetzung dafür wäre
welches es erlaubte, komplexe Gesten zu imi- aber das Vorhandensein einer willkürmotori-
tieren und auszudifferenzieren. Im Gegensatz schen Kontrolle über den Atmungsapparat,
zu den früheren Homininen, die sich fakultativ die frühestens mit dem Homo heidelbergensis

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592 18.  Sprache und Kommunikation

vor ca. 1 Million Jahren aufgetreten ist. Diese sant ist derzeit die Diskussion, inwiefern der
Entwicklung ging so weit, dass heute die Laut- Nachweis des Gens im Erbgut des Neander-
sprache das Hauptmedium der Sprache dar- talers einen Hinweis auf dessen Sprachkom-
stellt. Betrachtet man die Muster der Hirn- petenz geben könnte. Hier gehen die Meinun-
aktivierung während des Anschauens von gen auseinander. Zum einen lassen sich zwei
Dialogen in der Lautsprache und in der Ge- evolutionäre Veränderungen des FOXP2-Gens
bärdensprache, zeigt sich eine fast identische in der DNA des Neandertalers nachweisen,
Beteiligung perisylvischer Areale der linken wie sie ansonsten nur beim Homo sapiens cha-
und rechten Hemisphäre. Der Zeitpunkt, zu rakteristisch sind. Dies wäre ein starkes Indiz
dem die Lautsprache das Niveau der heutigen für die Annahme, dass auch der Neandertaler
Menschen erreichte, ist jedoch eher umstrit- über eine komplexe lautsprachliche Kom-
ten und kann nicht mit Bestimmtheit fest- petenz verfügte. Gegner dieser Annahme da-
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gesetzt werden. Zusätzlich zur zeitlich schwer tieren die letzte Mutation des Gens auf einen
festzumachenden Dominanz der Lautsprache Zeitpunkt vor ca. 42 000 Jahren. Zu dieser Zeit
ist möglicherweise auch eine komplexere, hatten sich die Entwicklungslinien von Homo
grammatikalische Form von Sprache durch sapiens und Homo neanderthalensis schon
die Evolution des episodischen Gedächtnisses lange getrennt. Ungeachtet dieser Debatte
entstanden. Dadurch konnten Episoden kom- findet sich derzeit kein überzeugender Hin-
muniziert werden, die sich zu anderen Zeiten weis auf die Bedeutung des FOXP2-Gens als
und an anderen Orten als in der Gegenwart er- ein Alleinstellungsmerkmal für die Integrität
eignet hatten. So könnten sich, parallel zur von Sprachfunktionen.
Konventionalisierung von Zeichen und zur
Einführung von Lauten in das Kommunikati-
onssystem, über die letzten 500 000 Jahre, seit 18.9. Zusammenfassung
dem Erscheinen der jüngsten Entwicklungs-
linien des Stammbaums der Hominiden, gra- • Zurzeit sind etwa 6 000–7 000 lebende
duell sowie kulturell auch grammatikalische Sprachen bekannt, nur etwa 200 aller Spra-
Strukturen entfaltet haben. chen haben eine Schrift.
In den letzten Jahren gab es außerdem ver- • Lautsprache ist ein Produkt der Evolution,
mehrt Versuche, das Auftreten einer komple- während Schriftsprache eine kulturelle
xen Lautsprache mit dem Vorhandensein des Errungenschaft ist. Die Entwicklung der
FOXP2-Gens beim Homo sapiens zu erklären. Lautsprache begann vor ca. 2 Millionen
Obwohl dieses Gen besonders für die Integri- Jahren; die Erfindung der Schriftsprache
tät von Hirnarealen eine wichtige Rolle spielt, dagegen ereignete sich vor vielleicht
welche für Sprachexpression wichtig sind, ist 5 000–10 000 Jahren.
es kein „Sprach-Gen“. Die viel beachteten Be- • Sprache ist bei den meisten Menschen
obachtungen von Sprechapraxie bei Betroffe- (95 % der Rechtshänder und knapp 70 %
nen, die eine Mutation des Gens aufweisen, der Linkshänder) eine dominante Funktion
unterstreichen einerseits die Bedeutung des der linken Hemisphäre.
Gens im Hinblick auf die orofaziale Kontrolle • Die Lautsprache ist eine Funktion sensori-
der Sprachexpression. Andererseits scheint scher, motorischer und assoziativer Netz-
das Gen auch für die Entwicklung und Funk- werke in der perisylvischen Region. Ob-
tion anderer Organe unverzichtbar zu sein, wohl die linke Hemisphäre dominant ist,
womit seine Rolle im Zusammenhang mit trägt auch die rechte Hemisphäre zur Ver-
Sprache weniger bedeutend erscheint. Interes- arbeitung von Sprache bei.

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18.9. Zusammenfassung 593

• Sprache ist ein symbolisches System, das dung zusammenwirken. Der Luftstrom aus
aus willkürlichen Zeichen für bestimmte den Lungen gelangt in den Kehlkopf (La-
Konzepte besteht und die Übertragung rynx), wo die Tonhöhe und das Stimmsignal
konkreter und abstrakter Inhalte zwischen bestimmt werden. Im Vokaltrakt (Ansatz-
einem Sender und einem (oder mehreren) rohr oder Pharynx) entstehen  – bestimmt
Rezipienten unabhängig von der Modalität durch die Stellung der Artikulatoren  – die
gewährleistet. Sprache ist jedoch keine mo- Laute (Vokale und Konsonanten).
nolithische Domäne. Im Zusammenhang • Lautsprache ist ein akustisches Signal, das
mit der Beschreibung von Sprache muss sich in der Zeit entfaltet und in Echtzeit ver-
prinzipiell zwischen ihrer Funktion als arbeitet wird. Auditorische Satzverarbei-
Kommunikationssystem einerseits und der tung erfolgt dem Modell von Angela Frie-
formalen Struktur ihrer Bezugssysteme derici zufolge in drei Phasen. In Phase I
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(Phonologie, Syntax, Prosodie, Pragmatik, wird die initiale syntaktische Phrasenstruk-


Semantik) andererseits unterschieden wer- tur erstellt. In Phase II werden die syntakti-
den. Viele linguistische Beschreibungsebe- schen und semantischen Informationen
nen und Modalitäten (Laut-, Gebärden-, der einzelnen Satzelemente (Phrasen) ver-
Schriftsprache) machen Sprache zu einem arbeitet und integriert. In der dritten Phase
komplexen Gegenstand. wird eine finale Reanalyse und ggf. eine Re-
• Der Mensch hat eine Sprache, die sich in paratur des Satzes durchgeführt, falls dies
ihrer Komplexität von den Kommunikati- durch ambige oder inkorrekte Strukturen
onssystemen der Tiere unterscheidet. Re- notwendig ist. Diesen Phasen sind spezifi-
kursive Grammatik und die Option, mit ei- sche Komponenten des ereigniskorrelier-
ner begrenzten Anzahl von Worten und ten Potenzials zugeordnet.
Regeln eine unbegrenzte Menge von Sät- • Sprache ist nicht nur eine Funktion der lin-
zen und Inhalten zu produzieren, sind die ken Hemisphäre. Sowohl das Modell von
wichtigsten Merkmale menschlicher Spra- Angela Friederici als auch die AST-Hypo-
che. Im Gegensatz dazu verfügen Tiere these von David Poeppel bringen Areale des
über ein wenig flexibles, angeborenes Sig- rechten perisylvischen Kortex mit der Ver-
nalinventar, das in der Regel zur kontext- arbeitung von Sprachmelodie und Sprach-
abhängigen Kommunikation affektiver In- rhythmus zusammen.
halte benutzt wird. • Neben den kortikalen perisylvischen Area-
• Im Gegensatz zu Menschenaffen verfügt len gehören die intrasylvischen Assoziati-
der Mensch aufgrund eines tieferliegenden onsbahnen aus weißer Substanz zum zere-
Kehlkopfs über eine größere Flexibilität der bralen Sprachnetzwerk. Die wichtigsten
Artikulatoren (Zunge, Gaumen, Kiefer), was Assoziationsbahnen sind der Fasciculus ar-
ihm mehr Freiheit bei der Lautbildung er- cuatus, der Fasciculus longitudinalis supe-
möglicht. Zusätzlich verfügt nur der Mensch rior, der Fasciculus uncinatus und die Cap-
über die willkürmotorische Ansteuerung sula extrema.
der perisylvischen Sprachareale. Diese bei- • Gemäß der AST-Hypothese von David
den Aspekte sind wahrscheinlich notwen- Poeppel besteht eine Arbeitsteilung zwi-
dige, wenn auch nicht hinreichende Voraus- schen periauditorischen Arealen der linken
setzungen für die Entstehung von Sprache. und rechten Hemisphäre. Neuronale En-
• Das Quelle-Filter-Modell der Produktion sembles in der linken Hemisphäre tasten
von Sprachlauten beschreibt, wie die Teile das Sprachsignal bevorzugt mit einer Fre-
des Artikulationsapparats bei der Lautbil- quenz von ca. 40 Hz ab. Somit sind sie be-

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594 18.  Sprache und Kommunikation

sonders gut geeignet, schnelle Wechsel in • Welche Hirnregionen werden zum laut-
Sprachsignalen, z. B. Formantübergänge, zu sprachlichen Netzwerk gezählt?
erkennen. Neuronale Gruppen in der rech- • Beschreiben Sie die wichtigsten intrasylvi-
ten Hemisphäre tasten das Sprachsignal schen Assoziationsbahnen. Wie heißen sie?
präferiert mit einer Frequenz von ca. 4 Hz Welche kortikalen Regionen verbinden sie?
ab. Daher identifizieren sie besonders gut Was ist ihre Funktion?
langsame Modulationen in Sprachsignalen, • Beschreiben Sie die Arbeitsteilung der lin-
z. B. Sprachmelodie und Sprachrhythmus. ken und der rechten Hemisphäre bei der
• Gebärdensprachen sind natürliche Sprach- Sprachverarbeitung nach David Poeppels
systeme, die über vollständige sprachliche AST-Hypothese.
Bezugssysteme (Phonologie, Semantik, • Welche neuroanatomischen Befunde stüt-
Syntax, Prosodie) verfügen. Mittels Gebär- zen diese Hypothese?

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densprachen kann alles gesagt werden, was Welche Rolle spielen neurale Oszillationen
man mit der Lautsprache auch sagen kann. bei der Verarbeitung von Sprache?
• Gebärdensprachen sind im Laufe der Evolu- • Welche Hirnregionen sind in die Repräsen-
tion vor der Lautsprache aufgetreten. Gesten tation von Gebärdensprachen einbezogen?
und Gebärden gelten als unmittelbare Vor- • Welche Rolle wird den Spiegelneuronen bei
läufer der Sprachlaute und als „Ursprache“ der Evolution der Sprache zugedacht?
der Menschen. Das System der Spiegelneu- • Gibt es ein Sprachzentrum im Gehirn?
rone gilt als Sprungbrett vom Greifen zur
Imitation von Greifen, vom Benutzen von
Gebärden zur Imitation von Gebärden hin
zur Entwicklung einer dyadischen, erst ges- 18.11. Weiterführende Literatur
ten-, dann lautbasierten Kommunikation.
Bender, A. (2018). Sprache. In H. Spada &  A.
Kiesel (Hrsg.), Lehrbuch Allgemeine Psycho-
logie (4. Aufl., pp. 272–336). Bern: Hogrefe.
18.10. Fragen und Aufgaben
DeWitt, I. & Rauschecker, J. (2013). Wernicke’s

• Nennen Sie die wichtigsten Unterschiede area revisited: parallel streams and word pro-
cessing. Brain and Language, 127, 181–191.
zwischen Laut- und Schriftsprache. Friederici, A. D. (2017). Language in our brain.
• Hat sich die Sprache bei ihrer Entstehung The origins of a uniquely human capacity.
an das Gehirn angepasst oder hat sich um- Cambridge, MA: MIT Press.
gekehrt das Gehirn bei seiner Entwicklung Friederici, A. D. & Singer, W. (2015). Grounding
an die Sprache angepasst? language processing on basic neurophysiolo-
• Warum wird die linke Hemisphäre als do- gical principles. Trends in Cognitive Science,
minant für Sprachfunktionen betrachtet? 19, 329–338.
• Nennen Sie die wichtigsten Unterschiede Giraud, A. L. & Poeppel, D. (2012). Cortical os-
cillations and speech processing: emerging
zwischen der menschlichen Sprache und
computational principles and operations. Na-
den Kommunikationssystemen von Tieren.
• Beschreiben Sie das Quelle-Filter-Modell.
ture Neuroscience, 15, 511–517.
Kaan, E. (2007). Event-related potentials and
• Welche Phasen der Satzverarbeitung wer- language processing: a brief overview.
den unterschieden? Language and Linguistics Compass, 1/6,
• Welche Komponenten des ereigniskorre- 571–591.
lierten Hirnpotenzials lassen sich diesen Meyer, L., Sun, Y. &  Martin, A. E. (2019). Syn-
Phasen zuordnen? chronous, but not entrained: exogenous and

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18.11.  Weiterführende Literatur 595

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language processing. Language, Cognition, terschied – Wie der Mensch zur Sprache kam.
and Neuroscience, https://doi.org/10.1080/ Zeitschrift für Neuropsychologie, 21, 109–
23273798.2019.1693050. 125.
Meyer, M., Keller, M. & Giroud, N. (2018). Supra- Tremblay, P. & Dick, A. S. (2016) Broca and Wer-
segmental speech prosody and the human nicke are dead, or moving past the classical
brain: The acoustic and vocal features and the model of language neurobiology. Brain and
evolutionary architecture of the brain. In S. Language 162, 60–71.
Frühholz & P. Belin (Eds.), The Oxford Hand- Weiller, C., Bormann, T., Saur, D., Musso, M.
book of Voice Perception (pp. 143–166). Ox- & Rijntjes, M. (2011). How the ventral path-
ford: Oxford University Press. way got lost  – and what its recovery might
Poeppel, D. (2012). The maps problem and the mean. Brain Lang., 118, 29–39.
mapping problem: Two challenges for a cogni- Weniger, D. (2012). Aphasien. In H.-O. Karnath
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Cognitive Neuropsychology., 29, 34–55. schaften (3.  Auflage, S.  447–461). Berlin:
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language. Current Opinion in Neurobiology, Tracking the signal, cracking the code: speech
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Poeppel, D., Emmorey, K., Hickok, G., Pylkka- human electroencephalography. Language,
nen, L. (2012). Towards a new neurobiology Cognition, and Neuroscience 32, 855–869.
of language. Journal of Neuroscience. Neu-
rosci., 32, 14125–14131.

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19. Lesen und Schreiben


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19.1.  Das Wesen des Lesens 599

Lesen ist eine relativ junge, jedoch sehr wich- deutig oder gelegentlich völlig verloren ge-
tige Fähigkeit des Menschen. Über die Schrift- gangen. Ein typisches Beispiel ist das /th/ im
sprache können Informationen über einen Englischen, wobei die einzelnen Buchstaben
langen Zeitraum hinweg festgehalten werden. anders ausgesprochen werden als die Silbe.
Des Weiteren entfällt beim Lesen der direkte Solche irregulären Beziehungen zwischen Gra-
Kontakt mit dem Kommunikationspartner. phemen und Phonemen machen das Lesen-
Mit dem Lesen hat sich der Mensch Freiheit lernen schwierig und haben zur Folge, dass in
und Vielfalt im Hinblick auf die Kommunika- irregulären Sprachen durchschnittlich mehr
tion erschlossen, die für die kulturelle Ent- Rechtschreibfehler gemacht werden.
wicklung von besonderer Bedeutung sind. Das
geschriebene Wort hat häufig auch zu kulturel-
len und politischen Revolutionen viele Jahre 19.1. Das Wesen des Lesens
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nach der Niederschrift geführt. Umberto Eco


hat die enorme Kraft des geschriebenen Wor- Beim Lesen erkennen wir Grapheme, Wörter
tes in seinem Buch Der Name der Rose verarbei- und Sätze und verstehen so den Inhalt des
tet. Grundthema dieses Werks ist, dass be- Textes, was dazu führt, dass wir simultan oder
stimmte kirchliche Würdenträger verhindern leicht zeitverzögert eine „mentale Abbildung“
wollen, dass eine alte Schrift von Aristoteles des gelesenen Textes erstellen. Solche menta-
bekannt wird, in der die Freuden des Lebens len Abbildungen sind individuell und von den
beschrieben werden. persönlichen Erfahrungen des Lesenden ge-
Über Jahrtausende haben sich viele ver- prägt. Je verzweigter und differenzierter das
schiedene Schriftsprachen entwickelt. Ver- semantische Netzwerk ist, desto vielfältiger
schiedene Kulturen sind dabei unterschiedli- und differenzierter können die mentalen Ab-
che Wege gegangen und haben verschiedene bildungen sein. Aber auch die Inhalte und die
Prinzipien genutzt, um ihre jeweilige Schrift- daraus abgeleiteten Interpretationen können
sprache zu entwickeln. Das Gemeinsame aller sehr unterschiedlich sein. Man denke an die
Schriftsprachen ist, dass ein Objekt oder Kon- unterschiedlichen Interpretationen von Bi-
zept nicht mehr als Bild gezeigt wird, son- beltexten, die von den unterschiedlichen Vari-
dern dass zur Objektbezeichnung Sprachele- anten des Christentums, den Angehörigen
mente wie Wörter, Phoneme und Morpheme anderer Glaubensgemeinschaften und auch
verwendet werden. Als Graphem wird die Atheisten vertreten werden.
kleinste bedeutungsunterscheidende Einheit Insofern ist es wichtig, dem Leser eine
der Schriftsprache bezeichnet. Phoneme sind möglichst präzise Beschreibung eines Sachver-
die kleinsten bedeutungsunterscheidenden halts anzubieten. Zum Beispiel sollte ein Fach-
Laute. Beim Lesen werden sehr häufig enge text möglichst wenig Interpretationsspielraum
Verbindungen zwischen Graphemen und Pho- bieten, damit die Informationen präzise und
nemen aufgebaut (Graphem-Phonem-Kor- eindeutig aufgenommen werden können. Ge-
respondenz). rade im Zusammenhang mit der Wissensver-
Unterschieden werden Sprachen mit regu- mittlung haben der Text und damit das Lesen
lärer und irregulärer Beziehung zwischen eine große Bedeutung in unserer Kultur. Mit-
Graphemen und Phonemen. In regulären tels geschriebener Texte fixieren und spei-
Sprachen (z. B. Italienisch) werden die Silben chern wir Wissen, das von Lernenden zu je-
und Wörter so geschrieben, wie man sie dem beliebigen Zeitpunkt gelesen und damit
spricht. In irregulären Sprachen (z. B. Eng- genutzt werden kann. Insofern ist in praktisch
lisch) ist diese Beziehung nicht immer ein- jeder modernen Kultur die Schriftsprache eine

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600 19.  Lesen und Schreiben

der wesentlichen Grundlagen der schulischen gebieten (apperzeptive Agnostiker) Schwierig-


Erziehung. Oft ist die Kenntnis der Schrift- keiten, Buchstaben zu erkennen.
sprache von entscheidender Bedeutung für Auf der nächsten Verarbeitungsstufe wer-
den Gesamterfolg schulischer und akademi- den die einfachen Muster zu einem überge-
scher Ausbildung, denn ein Großteil unseres ordneten Ganzen, den Buchstaben, zusam-
Wissens wird schriftlich festgehalten. So auch mengefasst (Buchstabenerkennung). Die
in diesem Lehrbuch, in dem die Grundzüge Buchstabenerkennung ist komplizierter, da
der kognitiven Neurowissenschaften für den Buchstaben in verschiedenen Handschriften
Studierenden festgehalten werden. geschrieben oder aus unterschiedlichen Typen
gesetzt unterschiedlich aussehen. Das Gehirn
kann diese unterschiedlichen Buchstaben je-
19.2. Wie lesen wir? doch erkennen, wenn die Schreibweisen nicht
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allzu stark von dem Prototyp des jeweiligen


Der Leseprozess gliedert sich in Teilschritte, Buchstabens abweichen (Abb. 19-2). Es fällt
die z. T. miteinander interagieren (Abb. 19-1). uns jedoch schwerer, ein in der Sütterlin- oder
Zunächst muss das visuelle System Muster er- Kurrentschrift geschriebenes /a/ als /a/ zu
kennen (Mustererkennung), d. h., es werden identifizieren (Abb. 19-3), da es von dem ge-
Striche, Kreise oder andere einfache Formen lernten Prototyp der aktuellen Schriftsprache
erkannt und verarbeitet. Dieser erste Muster- erheblich abweicht. Daran ist auch der Ein-
erkennungsprozess findet im primären und fluss der Erfahrung bzw. des Lernens zu er-
sekundären visuellen Kortex und dort in den kennen. Durch die häufige Konfrontation mit
Einfach- und Komplexzellen statt. Insofern Prototypen und den mit ihnen „verwandten“
haben Patienten mit Läsionen in diesen Hirn- Buchstaben lernen wir die vielfältigen Varian-
ten, einen Buchstaben zu schreiben und zu
erkennen.
Die Buchstabenerkennung ist ein Prozess,
Mustererkennung der von übergeordneten kognitiven Prozessen
beeinflusst wird, wie an dem sogenannten
Wortüberlegenheitseffekt ersichtlich ist.
Wir erkennen Buchstaben besser, wenn sie im
Kontext von Wörtern zu identifizieren sind
Buchstabenerkennung
(Abb. 19-4). Wenn Buchstaben in bedeutungs-
losen Wörtern erkannt werden sollen, brau-

Worterkennung

Erkennung von
Bedeutung

Abbildung 19-1: Vereinfachte schematische Dar- Abbildung 19-2: Unterschiedliche Schriften, in


stellung des Leseprozesses und der beteiligten denen ein groß- und kleingeschriebenes /a/ dar-
Teilprozesse. gestellt werden kann.

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19.2.  Wie lesen wir? 601

Obwohl der Wortüberlegenheitseffekt die


Sütterlin
grundsätzliche Existenz eines Top-down-Ein-
flusses (hier auf die Buchstabenerkennung)
belegt, ist derzeit unklar, wie weit sich im Le-
seprozess ähnliche Top-down-Prozesse aus-
Kurrent breiten bzw. entfalten können. Diskutiert wird
derzeit z. B., ob sie die Wortbedeutung oder
andere übergeordnete Phänomene der Buch-
Schulschrift stabenerkennung beeinflussen können.
Worterkennung wird in der kognitiven
Abbildung 19-3: /a/ und /A/ geschrieben in Süt- Psychologie häufig mittels lexikalischer Ent-
terlin, Kurrent und der FF Schulschrift AL 1. scheidungsaufgaben untersucht. Hierbei wer-
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den den Versuchspersonen Buchstabenkom-


binationen präsentiert und sie sollen erken-
nen, ob es sich bei der Buchstabenfolge um ein
READ
READ Wort oder ein Pseudowort handelt. Pseudo-
wörter, sofern sie sich hinsichtlich der verwen-
RFAD
deten Buchstabenkombinationen deutlich von
bedeutungstragenden Wörtern unterscheiden,
WORD werden sehr schnell als Pseudowörter erkannt.

WORD WORB
Schwerer wird es, wenn die Pseudowörter den
bedeutungstragenden Wörtern sehr ähnlich
sind. Die meisten Forscher gehen davon aus,
dass die dargebotenen Kombinationen mit
REAL Buchstabenkombinationen verglichen wer-
REAL den, die in einem speziellen Speichersystem,
RFAL dem visuellen Lexikon, gespeichert sind.
Gelegentlich wird vermutet, dass auch dieses
Speichersystem durch übergeordnete Prozesse
KORB beeinflusst wird (top down), wofür bislang je-
KORD KORD
doch keine Belege existieren.
Auf der Basis von Verhaltensexperimenten
Abbildung 19-4: Beispiele des Wortüberlegen- wurde das visuelle Lexikon als wichtiges
heitseffekts. Funktionsmodul für das Lesen postuliert. Mo-
derne bildgebende Untersuchungen haben
versucht, das visuelle Lexikon kortikal zu kar-
chen wir erheblich länger. Offenbar existiert tieren. Gezeigt werden konnte, dass ein be-
ein übergeordneter Speicher, in dem alle Wör- stimmtes Hirngebiet besonders stark auf Wör-
ter, die wir kennen, abgelegt sind. Werden ter und Buchstabenkombinationen mit einer
beim Lesen eines Wortes die ersten Buchsta- Steigerung der elektrischen Aktivität anspricht.
ben erkannt, kann das entsprechende Ver- Dieses Hirngebiet wird in der Fachsprache als
arbeitungszentrum die nächsten Buchstaben Wortformareal (visual word form area, WFA)
vorhersagen. Für Pseudowörter existiert kein bezeichnet und ist im linkshemisphärischen
spezieller Speicher, der solche Vorhersagen er- Gyrus fusiformis des unteren Temporallappens
möglichen könnte. lokalisiert. Einige Studien berichten, dass diese

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602 19.  Lesen und Schreiben

Hirnstruktur nur auf Buchstaben und Buch- Groß- und Kleinbuchstaben ausgelöst wer-
stabenkombinationen, aber nicht auf bedeu- den. Das heißt, werden vorher Großbuch-
tungslose visuelle Muster mit Aktivitätsstei- staben präsentiert, sind die Reaktionen auf
gerungen reagiert. Diese Hirnregion zeigt auch die folgenden Kleinbuchstaben verändert,
eine Zunahme der Aktivität, wenn Pseudo- sofern die Buchstaben die gleiche Bedeu-
wörter präsentiert werden, die hinsichtlich der tung haben (A – a oder e – E etc.).
Buchstabenzusammensetzung Ähnlichkeiten • Unterschwellige Darbietungen von Buch-
mit bedeutungstragenden Wörtern aufweisen. staben (z. B. im Rahmen von Maskierungs-
Die Aktivitäten sind in der Regel etwas gerin- oder tachistoskopischen Studien) lösen die
ger als bei der Präsentation von bedeutungs- gleichen Aktivierungen aus wie über-
tragenden Wörtern. Visuell präsentierte Ein- schwellige Präsentationen. Dies deutet da-
zelbuchstaben evozieren ebenfalls Aktivitäten rauf hin, dass auf das WFA automatisch
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in diesem Hirngebiet, die jedoch geringer sind zugegriffen wird.


als bei der Präsentation von Wörtern. • Elektrophysiologische Studien belegen,
Weitere Besonderheiten dieses Hirnge- dass die Reaktion im WFA ca. 130–200 ms
biets sind: nach Buchstabenpräsentation messbar ist.
• Das WFA reagiert auf bekannte und ge- Dies belegt die schnelle Reaktion auf die
lernte Buchstaben, während die Präsenta- Buchstaben und unterstützt die Befunde,
tion von unbekannten Buchstaben keine die eine automatische Verarbeitung von
Reaktionen auslöst. Buchstaben in diesem Areal nahelegen.
• Die Reaktion im WFA auf Buchstaben kann
durch Priming (d. h. vorherige kurzfristige Derzeit wird diskutiert, ob das WFA wirklich
Präsentation ähnlicher Reize) charakteris- ein Hirngebiet ist, das ausschließlich Wort-
tisch beeinflusst werden. Der Priming-Ef- formen bzw. zusammenhängende Buchsta-
fekt (Reaktionsveränderung durch einen bengruppen analysiert. Der Grund dafür ist
vorher dargebotenen Reiz) kann durch eine Reihe von widersprüchlichen Befunden.

A) B)
0.25

0.2
Signalintensität in %

0.15
2
L 0.1

0.05

Wortformareal 0
Wörter Buchstaben

rGF IGF

Abbildung 19-5: (A) Lokalisation des Wortformareals im linksseitigen Gyrus fusiformis. (B) Ungefähre
Aktivierungszunahmen bei Präsentation von Wörtern oder Buchstaben im Wortformareal, gemessen mit
fMRT (nach McCandliss et al., 2003)

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19.3.  Funktionelle Neuro­anatomie und Neuro­physiologie des Lesens 603

So wurde z. B. häufig gezeigt, dass das WFA


auch auf Buchstabenkombinationen reagiert,
L R
die zwar Wörtern ähnlich sind, die aber keine 5 4 4
3 3
Wörter sind (also Pseudowörter). Dies wird 2 1 1 2
von einigen Wissenschaftlern damit zu erklä-
ren versucht, dass das WFA in prälexikalische
Verarbeitungen von Buchstaben und Buchsta-
Abbildung 19-6: Hirngebiete, die beim Lesen stär-
benkombinationen eingebunden ist. Insofern
ker aktiv sind als im Ruhezustand. Insgesamt sind
wäre die Bedeutung eines Wortes nicht aus-
die Aktivierungen linksseitig stärker (außer für die
schlaggebend für die Prozessierung im WFA, striären und extrastriären Hirngebiete). 1: Striäre
sondern lediglich das Vorhandensein von und extrastriäre Areale, 2: Wortformareal im Gyrus
Buchstabenkombinationen, die für Wörter ty- fusiformis, 3: Gyrus temporalis superior, Sulcus
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pisch sind. temporalis superior und Teile des Gyrus tempo-


Der schwerwiegendste Einwand gegen die ralis medius, 4: dorsaler Teil des Gyrus frontalis
Existenz eines spezialisierten WFA ist, dass inferior, 5: ventraler Teil des Gyrus frontalis infe-
das vorgeschlagene Hirngebiet (Gyrus fusifor- rior (nach Price et al., 2003).
mis) auch in andere Prozesse eingebunden ist
(z. B. Objekterkennung, Gesichtserkennung,
beim Braille-Lesen). Deswegen vermuten ei-
nige Wissenschaftler, dass dieses Hirngebiet supramarginalis und Gyrus angularis) und im
an der Verknüpfung verschiedener Prozesse Gyrus frontalis inferior. Teilweise wurden
beteiligt ist (z. B. Sprechen mit Sehen oder Hö- auch Aktivierungen im Inselgebiet und im
ren mit Sehen). Gemäß dieser Interpretations- Temporalkortex gefunden (Tab. 19-1). Diese
richtung sollen lexikalische Entscheidungen Aktivierungen waren bis auf jene in den striä-
nicht über das WFA vermittelt bzw. kontrol- ren und extrastriären Hirngebieten auf der
liert werden, sondern durch andere Hirn- linken Hemisphäre stärker. Eine weitere Be-
gebiete, die in übergeordnete Analysen ein- sonderheit offenbarte sich für den Gyrus fron-
gebunden sind. talis inferior, dessen ventraler Teil, der in se-
mantische Analysen eingebunden ist, während
des Lesens nur auf der linken Hemisphäre ak-
19.3. Funktionelle Neuro­ tiv ist.
anatomie und Neuro­ In elektrophysiologischen Untersuchungen
physiologie des Lesens mittels Elektro- oder Magnetenzephalografie
wurde der zeitliche Ablauf des Lesens von
Arbeiten, in denen die Versuchspersonen Wörtern oder Buchstaben herausgearbeitet.
Texte bzw. Wörter lesen mussten, während Die einzelnen Komponenten des evozierten
gleichzeitig die Hirnaktivität mittels funktio- Potenzials können bestimmten Bearbeitungs-
neller Magnetresonanztomografie gemessen prozessen und Hirnregionen zugeordnet wer-
wurde, ergaben ein typisches Hirnaktivie- den (Dien, 2009). Anhand des in Tabelle 19-2
rungsmuster (Abb. 19-6). Es zeigten sich kon- dargestellten zeitlichen Ablaufs des Lesens
sistent Aktivierungen im striären und extra- sind der sequenzielle Ablauf, der bei ein-
striären Kortex, im Gyrus fusiformis, im Gyrus fachen Analysen beginnt und immer komple-
temporalis superior mit Übergriff auf den Sul- xer wird, und die hohe Geschwindigkeit, mit
cus temporalis superior, im Gyrus temporalis der diese Analysen durchgeführt werden, zu
inferior, im Gyrus parietalis inferior (Gyrus erkennen.

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604 19.  Lesen und Schreiben

Tabelle 19-1: Zusammenfassung der beim Lesen beteiligten Hirngebiete und der mit diesen Hirngebie-
ten verbundenen psychologischen Funktionen.

Leseprozess Hirnregion Brodmann-Areal


Orthografie • bilateraler Okzipitalkortex 18, 19, 37
• Gyrus fusiformis posterior 37
• linksseitiger Gyrus fusiformis 37
(medialer Teil) 37
• posteriorer Gyrus temporalis inferior
Phonologie • Sulcus temporalis superior 22
• Lobulus parietalis inferior 40, 39
• Gyrus frontalis inferior, anteriore Insel, 45, 6, 9
Prämotorkortex
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Semantik • Gyrus fusiformis anterior, Gyrus temporalis 37, 21


inferior, Gyrus temporalis medius
• anteriorer Gyrus frontalis inferior 44

Tabelle 19-2: Komponenten von evozierten Potenzialen inklusive ihrer Latenzen, wahrscheinlichen in-
trazerebralen Generatoren und den ihnen zugeordneten Funktionen (nach Dien, 2009).

Peak-Latenz ERP Anatomie Funktion


100 P100 extrastriäre visuelle Mustererkennung
Gebiete
150 P150-Cz inferiorer Wortformen, Buchstaben- und
Okzipitalkortex Wortlänge, Buchstabengröße
150–180 N170-PO7 visuelles Abstraktion von Wortform auf Wortbedeutung, ­
Wortformareal Erkennen von orthografischen Regeln
200 N2-P3 Gyrus fusiformis ­ lexikalischer Zugriff, auch aktiv beim
anterior (seman­ Erkennen von Bildern
tisches Areal)
250 Recognition ? lexikalische Selektion und orthografisch-­
potential phonologisches Mapping
250–350 MFN/N300/ ? phonologische Analyse
P2/PMN
300–350 N300-T3 Gyrus supra­ phonologischer Speicher
marginalis (links)

19.4. Leseprozess müssen. Bei Kindern, die mit dem Lesenler-


nen beginnen, ist zu beobachten, dass sie je-
In Abbildung 19-7 und Abbildung 19-9 ist der den Buchstaben mit den Lippen formen, so, als
Leseprozess detailliert dargestellt. Zunächst ob sie ihn aussprechen wollen. Dabei bilden sie
stellt sich die Frage, ob beim Lesen die Buch- zu jedem Graphem den entsprechenden Laut
staben und Wörter in Laute und ihre phonolo- und stellen eine Graphem-Phonem-Korres-
gischen Komponenten umgewandelt werden pondenz her (Buchstabieren). Über diesen

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19.4. Leseprozess 605

phonologische
direkter Zugriff Vermittlung

visuelle Verarbeitung visuelle Verarbeitung

visuelle Worterkennung visuelle Worterkennung

phonologischer Abruf semantisches Gedächtnis phonologischer Abruf


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semantisches Gedächtnis

Abbildung 19-7: Modell des direkten Zugriffs und der phonologischen Vermittlung.

Weg (auch sublexikalischer Weg) werden zu- den durch Befunde gestützt. Beim Lesenler-
nächst phonologische Informationen abge- nen scheint der Weg über die phonologische
rufen, die zum Abruf der Phoneme und des Vermittlung der typische zu sein, der beim
Wortklangs führen, die wiederum zu anderen Neulernen der Schriftsprache eingeschlagen
übergeordneten Modulen weitergeleitet wer- wird. Erst mit zunehmender Übung und Be-
den. Die Frage ist, ob dieser Weg auch vom herrschung der Schriftsprache gelingt auch der
geübten Leser ständig genutzt wird oder ob die Aufbau des lexikalischen Wegs. Des Weiteren
visuellen Informationen und die erkannten
Buchstaben und Worte direkt (lexikalischer schnell
Weg) über die phonologische Umwandlung in
das semantische Gedächtnis geleitet werden.
Wenn beide Wege parallel genutzt werden,
Lesegeschwindigkeit

wird vom Modell des direkten Zugriffs ge-


sprochen. Damit ist gemeint, dass die visuel-
len Informationen über Buchstaben und Gra-
pheme direkt in das semantische Gedächtnis
geleitet werden können. Der phonologische
Weg ist nicht zwingend notwendig, um das langsam
semantische Gedächtnis zu aktivieren. Beide
Wege können sich gegenseitig beeinflussen. niedrig hoch
kausale Zusammenhänge
Das andere Modell geht von einer zwingend
vorhandenen phonologischen Vermittlung Abbildung 19-8: Kausaler Zusammenhang der
aus. Hierbei ist der phonologische Abruf zwin- Sätze eines Textes und Lesegeschwindigkeit. Mit
gende Voraussetzung, um das semantische zunehmendem kausalen Satzzusammenhang
Gedächtnis zu aktivieren. Beide Modelle wer- nimmt die Lesegeschwindigkeit zu.

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606 19.  Lesen und Schreiben

werden auch selten im Sprachschatz vorkom- den. Bei zentralen Dyslexien funktionieren
mende Wörter eher über die phonologische übergeordnete Aspekte des Lesens defizitär.
Vermittlung analysiert (Seidenberg et al., Wortbedeutung und Phonologie sind nicht
1984). Mit zunehmender Lesekompetenz mehr nutzbar. Zentrale Dyslexien lassen sich
wird eher die Strategie des direkten Zugriffs gut mittels des Zwei-Wege-Modells beschrei-
gewählt, wobei der sublexikalische und lexika- ben (Abb. 19-9), das zwei Informationswege
lische Weg interagieren können. So konnte der Leseverarbeitung beinhaltet, den lexika-
z. B. gezeigt werden, dass Bilinguale den sub- lischen und den sublexikalischen Weg. Der
lexikalischen Weg beim Lesen einer Sprache sublexikalische Weg verläuft über die Gra-
nutzen und wahrscheinlich den lexika- phem-Phonem-Korrespondenz oder, wie ge-
lischen Weg hemmen, um Bearbeitungskon- nannt, über die phonologische Vermittlung.
flikte beim Lesen zu vermeiden (Rodriguez- Die visuellen Informationen werden in phono-
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Fornells et al., 2002). logische Muster umgewandelt (buchstabiert)


Mit zunehmender Geübtheit des Lesens und weiteren Informationsschritten zuge-
nimmt auch die Lesegeschwindigkeit zu. führt. Der lexikalische Weg umfasst die visuel-
Diese Zunahme hängt nicht nur von der Opti- len Analysen inklusive der Bearbeitung im
mierung des lexikalischen und des sublexi- Wortformareal, im visuellen Lexikon und im
kalischen Wegs ab, sondern auch vom zuneh- semantischen Gedächtnis.
menden semantischen Verständnis des gelese- Abhängig davon, welcher Informations-
nen Textes. Erkennt der Leser den Text, kann weg gestört ist, werden drei Formen der
er Worte oder Buchstaben antizipieren und zentralen Dyslexie unterschieden: die lexi-
muss nicht jeden einzelnen Buchstaben oder kalische (Oberflächendyslexie), die phonolo-
jedes einzelne Wort decodieren. Wenn Texte gische und die Tiefendyslexie. Bei der lexi-
gelesen werden, die einen unterschiedlichen kalischen Dyslexie ist der lexikalische Infor-
kausalen Zusammenhang aufweisen, der von mationsweg gestört, der sublexikalische Weg
hoch bis niedrig variiert, werden Texte mit jedoch funktionsfähig. Betroffene verwenden
hohem kausalen Zusammenhang schneller nur die nichtlexikalische Leseroute, also den
gelesen als Texte mit niedrigem kausalen Zu- Weg über die Graphem-Phonem-Korrespon-
sammenhang. Das bedeutet, dass Texte, die denz (Abb. 19-9). Alle anderen Routen sind
durch den hohen kausalen Satzzusammen- defekt, d. h., sie verstehen die Wörter nicht
hang verständlich werden, schneller gelesen und lesen sie deshalb nicht ganzheitlich-se-
werden. mantisch, sondern einzelheitlich, lautierend
und silbisch. Weil der sublexikalische Weg
funktionsfähig ist, lesen sie regelmäßige und
19.5. Lesestörungen häufig vorkommende Wörter deutlich besser
als unregelmäßige. Regelmäßige Wörter sind
Lesestörungen treten im Allgemeinen im Zu- Wörter, bei denen die Graphem-Phonem-Kor-
sammenhang mit den Aphasien auf, können respondenz nicht mehrdeutig ist. Diese Wör-
jedoch auch unabhängig von den Aphasien be- ter werden gesprochen, wie sie geschrieben
stehen. Unterschieden werden zentrale von sind. Bei unregelmäßigen Wörtern muss
peripheren Lesestörungen (Alexien oder Dys- die Graphem-Phonem-Korrespondenz durch
lexien). Eine besondere Form der Lesestörung Üben aufgebaut werden und kann schwerlich
ist die kongenitale bzw. entwicklungsbedingte regelhaft abgeleitet werden. Patienten mit
Dyslexie. Grundsätzlich wird zwischen zen- Oberflächendyslexie beherrschen diese Wör-
tralen und peripheren Dyslexien unterschie- ter, auch Pseudowörter bereiten ihnen keine

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19.5. Lesestörungen 607

visuelle Analyse

h Buchstabenerkennung
sc
ali
xik
ble
su

visuelles Lexikon

lexikalisch
Graphem-Phonem-
Korrespondenz
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semantisches Gedächtnis
su
ble
xik
ali
sc
h

phonologischer Ausgang

Sprachproduktion

Abbildung 19-9: Zwei-Wege-Modell mit dem sublexikalischen und lexikalischen Weg.

besonderen Schwierigkeiten, da bei diesen der anderen Störungsform eben nicht. Die
Wörtern die Semantik sowieso bedeutungslos Läsionen liegen meist im Wernicke-Areal oder
ist und sie grundsätzlich über den sublexika- allgemein in der perisylvischen Hirnregion.
lischen Weg verarbeitet werden müssen. Bei Meist treten diese Störungen zusammen mit
dieser Dyslexieform liegen Läsionen im links- Aphasien auf.
seitigen Temporallappen und im Gyrus angu- Bei der Tiefendyslexie sind sowohl der le-
laris vor. xikalische wie auch der sublexikalische Weg
Patienten, die unter einer phonologischen gestört.54 Diese Patienten produzieren beim
Dyslexie leiden, nutzen beim Lesen nahezu Lesen viele semantische Fehlleistungen, d. h.,
ausschließlich die lexikalische Bahn, die se- ein visueller Stimulus wie „König“ wird bedeu-
mantische Informationen vermittelt. Der sub- tungsmäßig erfasst, jedoch nicht lautlich ähn-
lexikalische Weg (Abb. 19-9) dagegen ist ge-
stört. Die Betroffenen lesen echte Wörter 54 In der Erstbeschreibung des Zwei-Wege-Mo-
besser als Pseudowörter, die eine sublexika- dells wurde die Tiefendyslexie als eine Dyslexie be-
lische Analyse erfordern; sie müssen buchsta- sprochen, in der der sublexikalische Weg, also die
biert und phonologisch erschlossen werden. Graphem-Konversion, gestört ist (Marshall &
Newcombe, 1973). Insofern sollten diese Patienten
Gelegentlich wird auch eine phonologische
nur den lexikalischen Weg nutzen. Neuere Unter-
Dyslexie mit und ohne starke semantische
suchungen zeigen jedoch, dass die semantischen
Problematik unterschieden. Bei der Störungs- Fehler zu auffällig sind, sodass heute angenommen
form mit semantischer Problematik können wird, dass auch dieser Weg gestört ist (Nolan & Ca-
semantische Fehler ausgemacht werden; bei ramazza, 1982).

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608 19.  Lesen und Schreiben

lich, sondern z. B. als „Fürst“ vorgelesen. An- werden. Interessant ist allerdings, dass Wörter
sonsten ähneln sie in ihren Fehlleistungen den im Kontext semantisch erfasst werden kön-
Patienten mit einer phonologischen Dyslexie. nen. Beim Lesen des Wortes „England“ sagen
Die reine Alexie ist eine periphere Lese- die Patienten dann „Queen“. Grundlage dieser
störung. Bei peripheren Lesestörungen sind Störung ist eine Entkopplung (Diskonnektion)
die Eingangsgrößen, die in das Lesesystem visueller Areale von den Spracharealen. Wahr-
eingespeist werden, defizitär. Ein Patient mit scheinlich ist das Wortformareal von den vi-
einer reinen Alexie kann Wörter oder Buch- suellen Arealen entkoppelt.
staben nicht erkennen und liest buchstabie- Eine weitere Gruppe von Alexien beruht
rend (jeden Buchstaben einzeln). Die Betroffe- auf Störungen des Aufmerksamkeitssystems.
nen versuchen jeden Buchstaben einzeln zu Aufmerksamkeitsalexie und Alexie beim Ne-
identifizieren, ohne die Graphemstruktur des glekt treten im Zusammenhang mit anderen
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Wortes (Wortform) zu beachten. Die Buchsta- neuropsychologischen Syndromen auf. Bei


benverarbeitung ist nur gering gestört, was beiden Formen der Alexie werden einzelne
bedeutet, dass Wörter buchstabiert werden Buchstaben eines Wortes nicht richtig er-
können, Diphthonge (ei, eu) oder Buchstaben- kannt oder vertauscht. Zum Beispiel kann das
kombinationen (sch) jedoch nicht erkannt Wort „Lastwagen“ als „Wastlagen“ gelesen
werden. Wenn Betroffene diese buchstabie- werden. Zugrunde liegen Störungen im fron-
ren sollen, buchstabieren sie jeden einzelnen toparietalen Aufmerksamkeitssystem. Eine
Buchstaben. Sie können jedoch nach Diktat besondere Form ist die Neglektalexie, bei der
gut schreiben. Buchstaben und demzufolge nur eine Seite des Wortes falsch gelesen wird.
Wörter können nicht graphemisch erkannt Bei rechtsseitigen Läsionen wird das links-

Tabelle 19-3: Zusammenfassung der erworbenen Dyslexien.

periphere Dyslexien zentrale Dyslexien


reine Alexie Oberflächendyslexie
• Buchstabe für Buchstabe, einzelheitliches ­ • reguläre Worte und Pseudowörter werden ­
Lesen besser gelesen als irreguläre Worte
• Lesen einzelner Buchstaben besser • der lexikalische Weg ist gestört, während
• Lesezeit hängt von Wortlänge ab der sublexikalische funktionsfähig ist
Aufmerksamkeitsdyslexie Tiefendyslexie
• visuell-räumliche Aufmerksamkeitsprobleme • Patienten lesen Wörter, aber keine
erschweren das Erkennen Pseudowörter
von aufeinanderfolgenden Buchstaben • Patienten machen häufig semantische
• Patienten vertauschen oft Buchstaben Fehler
eines Wortes • lexikalischer und sublexikalischer Weg
gestört
Neglektdyslexie phonologische Dyslexie
• visuell-räumliche Aufmerksamkeitsprobleme • Patienten lesen Wörter besser als
erschweren das Erkennen von aufeinander­ Pseudowörter
folgenden Buchstaben einer Seite • keine semantischen Fehler
• bei Läsionen in der rechter Hemisphäre • sublexikalischer Weg ist gestört
wird die linke Seite des Wortes oder des ­Buch­
stabens falsch erkannt

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19.6. Schreiben 609

seitige Gesichtsfeld vernachlässigt, sodass 19.6. Schreiben


der Wortanfang häufig nicht richtig gelesen
wird. Aus „Lastwagen“ könnte dann „Kastla- 1881 hat der Humanphysiologe Sigmund Ex-
gen“ werden. ner ein einflussreiches Buch publiziert, in dem
Neben den erworbenen Dyslexien und Dys- er u. a. anhand von vier klinischen Fällen pos-
grafien existiert die kongenitale oder ent- tulierte, dass ein bestimmtes Hirngebiet im
wicklungsbedingte Dyslexie. Als Synonyme Bereich des Gyrus frontalis medius spezifisch
werden häufig die Begriffe Legasthenie und im für das Schreiben bzw. die Kontrolle des Schrei-
Englischen developmental dyslexia gebraucht. bens sei. Die vier untersuchten Patienten litten
Häufig wird diese Störung auch als Lese- gemäß der von ihm beschriebenen Läsionen
Rechtschreib-Störung bezeichnet und als Teil- unter Agrafien. Seither wird über ein spezi-
leistungsschwäche einsortiert. Circa 10 % al- fisches Schreibareal im linksseitigen Frontal-
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ler Schulkinder in Deutschland sollen davon kortex im Bereich des Gyrus frontalis medius
betroffen sein (Rüsseler, 2006). Trotz vielfälti- spekuliert (Roux et al., 2010). Dieses postu-
ger Förderung bleibt diese Lese-Rechtschreib- lierte und nie nachgewiesene Areal wird auch
Störung bis ins Erwachsenenalter bestehen. als Exner-Areal bezeichnet. Ein Grundpro-
Die betroffenen Personen lesen langsam und blem dieser alten klinischen Fälle ist, dass die
machen überdurchschnittlich viele Recht- beschriebenen Patienten unterschiedliche
schreibfehler trotz normaler (manchmal sogar Formen der Agrafie aufweisen.
überdurchschnittlicher) Allgemeinintelligenz. Wenigstens drei Arten der Agrafie werden
Bis Anfang der 1970er Jahre wurde Legasthe- unterschieden. Die reine Agrafie ist eine reine
nie häufig mit Unterrichtsfehlern und see- Produktionsstörung. Den Patienten ist das
lischen Belastungen der betroffenen Kinder spontane Schreiben oder das Schreiben nach
oder der Eltern in Verbindung gebracht. Zu- Diktat unmöglich. Lautes Lesen gelingt besser
nehmend werden Reifungs- oder andere biolo- und die Buchstaben können gut kopiert wer-
gische Faktoren als verursachend diskutiert den. Die Patienten können jedoch die Gra-
sowie anatomische und hirnphysiologische pheme nicht in entsprechende motorische
Auffälligkeiten gesucht. Einigkeit besteht wei- Programme überführen. Die lexikalische
testgehend darüber, dass diese Personen unter Dysgrafie wird auch als semantische Agrafie
einem Defizit im phonologischen Bewusst- bzw. Tiefendysgrafie bezeichnet. Bedeutungs-
sein leiden. Damit ist gemeint, dass sie unter haltiges Material kann weder ausgesprochen
dem Problem leiden, Wörter in ihre konstituie- noch geschrieben werden. Beispielsweise wird
renden Sprachlaute zu zerlegen. Insbesondere statt „Uhr“ „Zeit“ geschrieben. Analog zur le-
beim Lernen der Schriftsprache muss die sich xikalischen Dyslexie ist der lexikalische Weg
ausbildende orthografische Repräsentation gestört und es muss der sublexikalische Weg
der Grapheme mit den bereits beherrschten gewählt werden. Das Schreiben wird dadurch
Phonemen in Beziehung gesetzt werden. Ge- langsam und entfernt sich vom Sinngehalt des
nau dies gelingt den Betroffenen nicht oder Geschriebenen. Bei der phonologischen Dys-
nur unvollkommen. Entsprechende Trainings grafie wird ausschließlich über die lexika-
des phonologischen Bewusstseins können die lische Bahn, die semantische Informationen
Symptomatik jedoch deutlich bessern (Castles vermittelt, geschrieben. Der sublexikalische
& Coltheart, 2004; Kast et al., 2009). Bild- Weg dagegen ist gestört. Die Patienten haben
gebende Verfahren konnten zeigen, dass bei Schwierigkeiten, Pseudo- oder unregelmäßige
diesem Personenkreis weite Teile des Lese- Wörter zu schreiben. Die Läsionen liegen
systems dysfunktional sind. meist im Wernicke-Areal oder allgemein in der

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610 19.  Lesen und Schreiben

perisylvischen Hirnregion. Häufig treten diese wurde, in der Nähe des General assembly de-
Störungen zusammen mit Aphasien auf. vices (GAD) liegt (Kap. 6). Dieses Hirngebiet
In modernen bildgebenden Studien wurde ist wesentlich für die Sequenzierung verschie-
versucht, das Exner-Areal zu identifizieren. dener Tätigkeiten und Schreiben ist eine typi-
Die Versuchspersonen müssen mit der rechten sche Tätigkeit, bei der sequenzielle Ordnun-
oder linken Hand schreiben und verschiedene gen notwendig sind.
Kontrolltätigkeiten durchführen. Die unter Grundsätzlich muss festgehalten werden,
diesen Bedingungen gemessenen Durchblu- dass Lesen und Schreiben oder Lesen und
tungsänderungen werden voneinander abge- Sprechen eng miteinander gekoppelt sind.
zogen und jene Aktivierungen herausgear- Wahrscheinlich interagieren motorische, per-
beitet, die typisch für das Schreiben sind zeptuelle und kognitive Hirngebiete während
(Abb. 19-10). Die neueste zu diesem Thema des Schreibens. Insofern ist es nicht verwun-
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publizierte Arbeit konnte ein frontoparietales derlich, dass eine intensive motorische Aus-
Netzwerk auf der linken Hemisphäre identifi- einandersetzung mit Wörtern auch deren Er-
zieren, das spezifisch in die Kontrolle des kennen verbessert. So konnte z. B. gezeigt
Schreibens eingebunden ist (Sugihara et al., werden, dass das Niederschreiben von Buch-
2006). Die frontalen Hirngebiete stimmen mit staben per Hand das Erkennen dieser Buch-
einigen der Läsionsorte überein, die bereits staben deutlich verbessert. Werden die Buch-
Exner als wesentlich für das Schreiben postu- staben in eine Computertastatur getippt, ist
liert hatte. Interessant ist, dass der frontale die Erkennensleistung deutlich schlechter
Hirnbereich, der in dieser Studie identifiziert (Longcamp et al., 2005).

19.7. Lesen in anderen


Sprachen
2
Aufgrund der Tatsache, dass unterschiedliche
1 Schriftsprachen unterschiedliche Graphem-
3 Phonem-Korrespondenzen, aber auch unter-
schiedliche Zeichensysteme umfassen, stellt
L
sich die Frage, ob beim Lesen in anderen Spra-
chen das gleiche System genutzt wird. Im Ita-
lienischen besteht eine hohe Übereinstim-
4 mung zwischen den Graphemen und der
Phonologie. Die einzelnen Grapheme werden
konstant, auch unabhängig vom Kontext, aus-
gesprochen. Im Englischen ist der Zusammen-
Abbildung 19-10: Schematische Darstellung der
hang zwischen Graphemen und Phonologie
Hirngebiete, die beim Schreiben mit der rechten
sehr unterschiedlich, im Deutschen ist er grö-
und linken Hand gleichermaßen aktiv sind. Es
ßer als im Englischen und im Französischen
ist ein linksseitiges frontoparietales Netzwerk. 1:
Hirngebiet im Bereich des Gyrus frontalis medius,
sind diese Zusammenhänge wieder geringer.
ungefähr dort, wo man auch das General assem- Die Arbeiten der letzten 40 Jahre haben er-
bly device (GAD) vermutet. 2: Lobulus parietalis geben, dass viele Sprachen sehr ähnlich ver-
superior, 3: Gyrus supramarginalis, 4: rechtsseiti- arbeitet werden, aber dennoch einige mar-
ges Kleinhirn (nach Sugihara et al., 2006). kante Unterschiede aufweisen.

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19.7.  Lesen in anderen Sprachen 611

Paulesu und Kollegen (2000) haben zeigen dass bei chinesischen Lesern die an der lexika-
können, dass Italiener und Engländer prin- lisch-semantischen Analyse beteiligten Hirn-
zipiell das gleiche Lesesystem nutzen. Aller- gebiete stärker aktiv sind (s. Tab. 19-1; Chee et
dings konnten markante sprachspezifische al., 2000). Anscheinend gebrauchen sie das
Unterschiede identifiziert werden (Abb. 19- lexikalisch-semantische System stärker. Diese
11). Italienisch sprechende Leser nutzen stär- Annahme wird durch kognitive Verhaltens-
ker die sublexikalische Route, wenn sie italie- untersuchungen gestützt, die zeigen konnten,
nische Texte lesen, was aus den stärkeren dass das Lesen logografischer Zeichen von der
Aktivierungen im linksseitigen sekundären Vorstellungsfähigkeit der Leser abhängt (Shi-
Hörkortex (insbesondere im Planum tempo- bahara et al., 2003). Die Vorstellungsfähigkeit
rale) abgeleitet wurde. Wenn Engländer da- hängt von der Fähigkeit ab, semantische Infor-
gegen englische Texte lesen, ist offenbar der mationen zu nutzen. Möglicherweise nutzen
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lexikalische Weg stärker aktiviert, was aus Leser der chinesischen Sprache das lexika-
den stärkeren Aktivierungen im Wortform- lische System stärker, weil sie diese Schriftzei-
areal und im Gyrus frontalis inferior (typisch chen eher mit konkreten Informationen in Ver-
für semantische Analysen) abgeleitet wird bindung bringen, was über die Semantik
(Abb. 19-11). erfolgt. Dies soll allerdings nicht bedeuten,
Werden die Hirnaktivierungen bei Chine- dass geübte Leser logografischer Sprachen den
sen oder Japanern untersucht, wenn sie ihre sublexikalischen Weg nicht zu nutzen brau-
logografische Sprache lesen, ist prinzipiell das chen oder gar nicht über ihn verfügen. Es
gleiche Lesesystem wie bei Europäern aktiv. konnte vielmehr gezeigt werden, dass Ober-
Ein wesentlicher Unterschied besteht darin, flächendyslexien auch bei monolingual japa-
nisch und chinesisch Sprechenden und Lesen-
den auftritt, was bedeutet, dass die Betroffenen
auf den noch vorhandenen sublexikalischen
Weg zurückgreifen können. Insofern muss da-
von ausgegangen werden, dass beide Wege
auch bei Sprechern bzw. Lesern logografischer
2 1 Sprachen existieren. Oberflächendyslexien
L
konnten auch für das Italienische berichtet
2 werden, was darauf hinweist, dass selbst bei
Sprachen, die offenbar sehr stark von der sub-
lexikalischen Analyse abhängen, der lexika-
lische Weg genutzt wird.
In diesem Zusammenhang soll auf die Stu-
die von Rodriguez-Fornells und Kollegen
Abbildung 19-11: Schematische Darstellung des (2002) hingewiesen werden, in der gezeigt
Experiments von Paulesu und Kollegen (2000). In
wurde, dass bilinguale Personen (katalanisch
(1) ist der Gyrus temporalis superior und das Pla-
und spanisch sprechend und lesend) beide
num temporale dargestellt, das bei Italienern
Wege nutzen, aber den lexikalisch-semanti-
beim Lesen von italienischen Texten besonders
stark aktiviert ist. In (2) erkennt man die beiden schen Weg offenbar hemmen, um vorwiegend
Hirngebiete, die bei Engländern beim Lesen von den sublexikalischen zu nutzen. Aufgrund
englischen Texten besonders stark aktiviert sind. dieses Befunds ist vorstellbar, dass beide Wege
Es sind dies der Gyrus fusiformis und der Gyrus strategie- und/oder expertiseabhängig von
frontalis inferior. Lesern genutzt werden können.

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612 19.  Lesen und Schreiben

19.8. Zusammenfassung Insel und der Prämotorkortex. Semantische


Analysen sollen v. a. im Gyrus fusiformis
• Die Schrift ist ein Kulturgut des Menschen, anterior, im Gyrus temporalis inferior, im
mit dem Informationen über einen langen Gyrus temporalis medius und im anterioren
Zeitraum konserviert werden können. Sie Gyrus frontalis inferior erfolgen.
ist eine recht junge „Erfindung“ des Men- • Elektrophysiologische Untersuchungen
schen und geht zurück auf die Keilschrift zeigten, dass die meisten für das Lesen
der Sumerer, die vor ca. 5 500 Jahren ent- wichtigen Analysen bereits in den ersten
wickelt wurde. 350 ms nach Präsentation des zu lesenden
• Allen Schriftsprachen ist gemeinsam, dass Wortes stattfinden. Nach Abschluss der ele-
sie Zeichensymbole nutzen, um Objekte, mentaren Mustererkennung werden nach
Silben oder Worte zu kennzeichnen. Die 150 ms Buchstaben und Wörter erkannt.
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frühen Sprachen sowie die japanische Orthografische Regeln werden bereits 150–
(Kanji) und chinesische Schriftsprache sind 180 ms nach Wort- und Buchstabenpräsen-
logografische Systeme, d. h., sie verwenden tation bearbeitet. Die lexikalisch-semanti-
für einen Begriff ein Wort. Andere Sprach- schen Analysen beginnen 200 ms nach
systeme beruhen auf dem Prinzip, dass Wortpräsentation.
Sprachlaute (Phoneme) bestimmten Sym- • Im Rahmen des Modells des direkten Zu-
bolen zugeordnet werden. griffs wird davon ausgegangen, dass die
• Grundsätzlich müssen beim Lesen nach- visuellen Informationen über Buchstaben
einander verschiedene Analysen durch- und Grapheme direkt und ohne Umweg
geführt werden: Zunächst erfolgen elemen- über das phonologische Codieren in das
tare visuelle Analysen, gefolgt von der semantische Gedächtnis geleitet werden.
Buchstaben- und Worterkennung und letzt- Der phonologische Weg ist damit nicht
lich der semantischen Analyse. Die einzel- zwingend notwendig, um das semantische
nen Stufen dieses sequenziellen Prozesses Gedächtnis zu aktivieren. Beide Wege kön-
interagieren. nen sich jedoch gegenseitig beeinflussen.
• Es wird davon ausgegangen, dass ein spezi- Ein anderes Modell geht von einer zwin-
fisches Hirngebiet existiert, in dem das vi- gend vorhandenen phonologischen Ver-
suelle Lexikon für Wörter lokalisiert ist. mittlung aus, bei welcher der phonologi-
Dies ist das Wortformareal, das sich links- sche Abruf eine zwingende Voraussetzung
hemisphärisch im Gyrus fusiformis be- ist, um das semantische Gedächtnis zu ak-
findet. tivieren. Beide Modelle werden durch Be-
• Untersuchungen zur funktionellen Neuro- funde gestützt.
anatomie des Lesesystems haben ergeben, • Semantische Kenntnisse können im Sinne
dass ein verteiltes, linksseitig dominieren- eines Top-down-Prozesses auf die Wort-
des Netzwerk beim Lesen beteiligt ist. Für und Buchstabenerkennung einwirken.
die orthografischen Analysen werden fol- • Unterschieden werden erworbene von an-
gende Hirngebiete genannt: bilateraler Ok- geborenen Lesestörungen. Bei den erwor-
zipitalkortex, Gyrus fusiformis posterior, benen werden des Weiteren zentrale von
linksseitiger Gyrus fusiformis (medialer peripheren Dyslexien abgegrenzt. Zu den
Teil), posteriorer Gyrus temporalis inferior. zentralen Dyslexien werden die Tiefendys-
Für die Phonologie sind es die Hirngebiete lexie, die Oberflächendyslexie und die
Sulcus temporalis superior, Lobulus parieta- reine Alexie gezählt. Die zugrunde liegende
lis inferior, Gyrus frontalis inferior, anteriore Störung ist anhand des Zwei-Wege-Modells

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19.10.  Weiterführende Literatur 613

erklärbar. Bei der Oberflächendyslexie ist 19.9. Fragen und Aufgaben


der lexikalische Weg gestört. Bei der pho-
nologischen Dyslexie ist der sublexika- • Was ist das Besondere der Schriftsprache?
lische Weg beeinträchtigt, während bei der • Wann hat sich die Schriftsprache ungefähr
Tiefendyslexie sowohl der sublexikalische entwickelt?
wie auch der lexikalische Weg beeinträch- • Welche grundsätzlichen psychischen Pro-
tigt sind. zesse sind beim Lesen beteiligt?
• Infolge der Publikation von Sigmund Exner • Was ist das Wortformareal und wo ist es
wird seit Langem die Existenz eines separa- lokalisiert?
ten Schreibareals vermutet. Moderne bild- • Welche Hirngebiete werden zum Lesesys-
gebende Untersuchungen haben gezeigt, tem gezählt?
dass ein linkshemisphärisches frontoparie- • Beschreiben Sie den Ablauf des Leseprozes-
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tales Netzwerk existiert, das insbesondere ses anhand der markanten neurophysiolo-
in die Kontrolle des Schreibens eingebun- gischen Signale, die mittels EEG und/oder
den ist. MEG gemessen werden können.
• Drei Arten der Agrafie werden unterschie- • Beschreiben Sie das Zwei-Wege-Modell des
den. Die reine Agrafie ist eine reine Produk- Leseprozesses und unterscheiden Sie daran
tionsstörung. Den Patienten ist das spon- die zentralen Lesestörungen.
tane Schreiben oder das Schreiben nach • Was ist das Exner-Areal?
Diktat unmöglich. Die lexikalische Dysgra- • Finden sich in modernen bildgebenden Ar-
fie wird auch als semantische bzw. Tiefen- beiten Anzeichen für eine funktionelle Spe-
dysgrafie bezeichnet. Bedeutungshaltiges zialisierung für das Schreiben? Wenn ja,
Material kann weder ausgesprochen noch wo?
geschrieben werden. Bei der phonologi- • Diskutieren Sie die funktionelle Neuroana-
schen Dysgrafie wird ausschließlich über tomie des Lesens in anderen Sprachen.
die lexikalische Bahn, die semantische In-
formationen vermittelt, geschrieben. Der
sublexikalische Weg dagegen ist gestört. 19.10. Weiterführende Literatur
• Leser von logografischen Sprachen nutzen
prinzipiell das gleiche Lesesystem wie Le- Melby-Lervag, M., Lyster, S. A., Hulme, C.
ser anderer Sprachen. Es gibt jedoch spezi- (2012). Phonological skills and their role in
fische Unterschiede. So nutzen z. B. Italie- learning to read: a meta-analytic review. Psy-
ner beim Lesen des Italienischen etwas chol Bull, 138(2), 322–352.
Price, C. J. (2012). A review and synthesis of the
stärker die sublexikalische Route, während
first 20 years of PET and fMRI studies of
Engländer beim Lesen von englischen Tex-
heard speech, spoken language and reading.
ten stärker die lexikalisch-semantische
Neuroimage 62(2), 575–1324.
Route nutzen. Auch Chinesen und Japaner Rüsseler, J. (2006). Neurobiologische Grund-
scheinen beim Lesen von chinesischen und lagen der Lese-Rechtschreibschwäche. Zeit-
japanischen Texten vermehrt die lexika- schrift für Neuropsychologie, 17(2), 101–111.
lisch-semantische Route zu nutzen.
• Studien mit Bilingualen haben gezeigt, dass
die sublexikalische und die lexikalische
Route miteinander interagieren können
und dass eine Route zugunsten der anderen
gehemmt werden kann.

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615

20. Emotion und Motivation

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Trauer

Verachtung
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Überraschung
Überras
Ü berraschung
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20.2.  Emotion und Motivation – was ist das? 617

20.1. Einleitung der aktuellen Verhaltensbereitschaft verbun-


den. Einigkeit besteht darüber, dass Emotio-
Motivation und Emotion sind im Alltag häufig nen sowohl bei Menschen wie auch bei Tieren
genutzte Begriffe. In ihnen schwingen Bedeu- auftreten.
tungen mit, die zumindest im Alltagsgebrauch Jede Emotion ist ein komplexer Prozess, der
nicht eindeutig voneinander trennbar sind. So auf verschiedenen Ebenen abläuft. Eine Ebene
denkt man im Zusammenhang mit Emotionen ist die subjektive Ebene, die auch als Erste-
an Gefühle, Affekte oder Stimmungen, ohne Person-Perspektive bezeichnet wird. Bei ei-
genau zu wissen, wie und ob diese voneinander ner bestimmten Emotion empfinden wir ein
zu trennen sind. Ähnlich verhält es sich mit den Gefühl. Gefühle kennzeichnen das subjektive
Begriffen Motivation und Motivieren. Fußball- Erleben, z. B. Liebe, Trauer, Ärger oder Freude.
trainer müssen offenbar ihre Spieler motivie- In der Psychologie werden die Gefühle und
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ren; wenn es ihnen nicht gelingt, dann sind sie damit die Erste-Person-Perspektive mit Fra-
nicht erfolgreich. Im Berufsleben leiden viele gebögen oder durch andere Formen der Selbst-
Menschen unter Motivationsproblemen und beschreibung erschlossen. Die anderen beiden
benötigen Motivationstrainings, um sich für Ebenen unterscheiden sich von dieser da-
die kommenden Aufgaben zu motivieren. durch, dass Kennwerte gemessen werden kön-
Je nach Disziplin und Blickwinkel werden nen, mit denen ihr Zustand objektiv beschrie-
die Begriffe unterschiedlich definiert. Bislang ben werden kann. Die Person wird quasi von
ist es nicht gelungen, die verschiedenen De- außen betrachtet und es wird gemessen, in-
finitionen zusammenzuführen und durch für dem eine objektive Position eingenommen
alle Disziplinen gültige Befunde zu bestätigen. wird. Sie wird also aus der Dritte-Person-Per-
In diesem Kapitel wird deshalb versucht, auf spektive betrachtet.
der Basis von Arbeitsdefinitionen Emotion Eine dieser beiden Ebenen ist die physiolo-
und Motivation aus dem Blickwinkel der Neu- gische mit den verschiedenen physiologischen
ropsychologie bzw. der kognitiven Neurowis- Reaktionen, z. B. Veränderungen der Herzfre-
senschaften zu beschreiben. quenz, der Hautdurchblutung, der Schweiß-
drüsen- oder der Hirnaktivität. Die andere
Ebene ist die Verhaltensebene. Wenn wir uns
20.2. Emotion und Motiva- fürchten, entfernen wir uns von der Furcht-
tion – was ist das? quelle, wenn wir uns in Gegenwart eines ande-
ren Menschen wohlfühlen, dann lachen wir.
Eine in der Psychologie weit verbreitete Ar- Diese Verhaltensänderungen sind ebenfalls
beitsdefinition fasst die Emotion als einen objektiv messbar und der emotionale Prozess
psychophysiologischen Prozess auf, der durch wird aus der Dritte-Person-Perspektive be-
bewusste und/oder unbewusste Prozesse trachtet. Obwohl Erste- und Dritte-Person-
(meist Wahrnehmungen, aber auch kognitive Perspektive gemessen werden können, ist der
Interpretationen von Situationen oder Objek- Zusammenhang zwischen diesen beiden Ebe-
ten) ausgelöst wird. Anders ausgedrückt ist die nen derzeit noch nicht geklärt. Zum Beispiel
Emotion eine Reaktion auf Reize, weshalb können aus den objektiv ermittelten Kenn-
auch von emotionalen Reaktionen gespro- werten der Dritte-Person-Perspektive keine
chen wird, wenn emotionale Prozesse gemeint eindeutigen Rückschlüsse auf die Erste-Per-
sind. Jede spezifische Emotion ist mit Ver- son-Perspektive gezogen werden. Das liegt
änderungen der physiologischen Erregung, u. a. daran, dass die physiologischen Reaktio-
der Kognition, des empfundenen Gefühls und nen nicht eindeutig bestimmten subjektiven

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618 20.  Emotion und Motivation

Zuständen zugeordnet werden können. Je- ger). Daraus entwickelt sich die Motivation,
mand kann z. B. aufgrund unkontrollierbarer d. h. das Streben des Organismus nach Reduk-
Freude weinen; wir weinen allerdings auch, tion der Regelabweichung (Motivation = Stre-
wenn wir trauern. Die Herzfrequenz steigert ben nach Zielen). Diese Reduktion der Regel-
sich unter freudiger Erregung, aber auch bei abweichung kann auf zwei Arten realisiert
Angst. Ähnlich unpräzise Zuordnungen zwi- werden: indem der Ist-Wert erhöht oder indem
schen objektiven und subjektiven Kennwerten der Soll-Wert erniedrigt wird. Im Fall des Hun-
von Emotionen bestehen für Hirnaktivierun- gers wird der Organismus bestrebt sein, den
gen bei bestimmten Emotionen. So ist z. B. das Ist-Wert zu erhöhen, indem der fehlende Roh-
Inselgebiet, das in die Verarbeitung von Emo- stoff einverleibt, also glukose-, fett- oder vita-
tionen eingebunden ist, bei verschiedenen minhaltige Nahrung gegessen wird. Anhand
Emotionen aktiv (und auch bei der Sprachver- dieses Beispiels ist zu erkennen, wie Emotion
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arbeitung). Auch die Amygdala ist bei vielen und Motivation miteinander verzahnt sind. Die
negativen Emotionen aktiv, anhand der Amyg- Emotion ist die Reaktion auf die Regelabwei-
dala-Aktivität kann jedoch nicht zwischen chung (man könnte sie auch mit der Regel-
Angst, Ärger oder Depressionen unterschie- abweichung gleichsetzen) und leitet motivier-
den werden. Da die Erste- und Dritte-Person- tes Verhalten ein.
Perspektive nicht deckungsgleich sind und Dass Emotion und Motivation als Bestand-
bestenfalls miteinander korrelieren, werden teile eines Regelkreises aufzufassen sind, hat
beide Ebenen komplementär registriert und Konsequenzen für den Ablauf und die Dy-
interpretiert (Fahrenberg, 1979). namik von Emotionen. Regelkreise können
Emotionen sind für die Verhaltenssteue- insbesondere bei Parameterveränderungen
rung sehr wichtig. Sie üben dabei folgende instabil werden, selbst wenn die einzelnen Be-
Funktionen aus: standteile stabil bleiben. Parameterverände-
1. Regulierung organismischer Zustände rungen können in unserem Modell z. B. Ver-
2. Herstellung von Handlungsbereitschaft stärkungsfaktoren sein. Dies kann eine zu
3. Vorbereitung unserer Handlungen starke oder stärker als notwendige Kompensa-
4. signalisieren den Sozialpartnern unsere tion der Regelabweichung sein. Bei einem be-
Verhaltensintentionen. sonders ängstlichen Menschen kann eine
Angstemotion viel zu starke Korrekturmecha-
Stellen Sie sich vor, eine Person leidet unter nismen (Motivationen) auslösen. Aber auch
dem Mangel eines bestimmten Rohstoffs (z. B. natürliche Schwankungen der Messsensoren
Zucker). Dieser Mangelzustand würde von ent- für Ist- und Soll-Werte und Schwankungen der
sprechenden Messsensoren im Körper ent- Kompensationsmechanismen resultieren in
deckt und mit der für die Aufrechterhaltung
der Lebensfunktionen notwendigen Menge an Regelkreismodell der Motivation
Rohstoffen verglichen. Im Sinne der System- falls ungleich

analyse würde der Ist-Wert mit dem Soll-Wert Emotion


verglichen und die sich ergebende Regelabwei- Soll-Wert Vergleich
chung müsste vom Organismus ausgeglichen
Handlungen
werden. Dieses Regelkreismodell kann zur
Erklärung von Emotion und Motivation heran- Ist-Wert
gezogen werden (Abb. 20-1). Die Regelabwei-
chung (Soll-Ist-Wert-Differenz) macht sich als Abbildung 20-1: Regelkreismodell der Motivation
Emotion bemerkbar (in diesem Fall als Hun- und Emotion.

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20.2.  Emotion und Motivation – was ist das? 619

Oszillationen. Auch Verzögerungen, die sich noch eine kurze Zeit aktiv, bis sie durch eine
durch Signalverarbeitungen und Systemträg- andere Ausgleichsemotion kontrolliert wer-
heiten ergeben können, tragen dazu bei, dass den. In den kurzen Zeitperioden, in denen die
der Ist-Wert nie perfekt mit dem Soll-Wert vormaligen Ausgleichsemotionen unkontrol-
übereinstimmt; er „hinkt“ immer ein bisschen liert aktiv sind, entstehen starke, manchmal
hinterher. paradox wirkende emotionale Reaktionen.
In der Psychologie sind Oszillationen von Beim Fallschirmspringen z. B. haben v. a. Neu-
Emotionen häufig beschrieben worden und linge Angst. Bei der erfolgreichen Landung ist
haben zu einer Emotionstheorie geführt, die Ausgleichsemotion Freude (zu landen)
der Opponent-process-Theorie von R. L. noch aktiv. Diese Emotion hat schon vor der
Solomon (1980; Abb. 20-2). Im Wesentlichen Landung eingesetzt und kann sich nach der
geht diese Theorie davon aus, dass eine emo- Landung für eine kurze Zeit ohne starke Ge-
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tionale Reaktion durch eine gegensätzliche genregulation entfalten. Die Personen emp-
(die Ausgleichsemotion) kontrolliert wird. finden dann nicht nur Freude, sondern sind
Die Grundidee ist, dass die Ausgleichsemotion sogar euphorisch.
wie ein „Gummiband“ funktioniert, um die Bei der Vorbereitung und Durchführung
auszugleichende Emotion nicht zu stark wer- des Verhaltens entstehen Signale, die von Sozi-
den zu lassen. Ausgleichsemotionen helfen, alpartnern erkannt werden. Beim Hunger sind
die auszugleichende Emotion zu beenden die Signale möglicherweise nicht so eindeutig,
und/oder abzuschwächen. So kann z. B. Trauer bei anderen Motiven und Emotionen ist dies
durch Freude ausgeglichen bzw. kontrolliert jedoch anders. Wenn sich z. B. jemand fürch-
werden. Dabei wird angenommen, dass die tet, wird Fluchtverhalten eingeleitet, das dazu
Ausgleichsemotionen später einsetzen als die dient, aus dem Einflussbereich der angstgene-
auszugleichenden Emotionen, jedoch genauso rierenden Reize zu gelangen. Die Einleitung
lange andauern. Dadurch sind die Ausgleichs- der Flucht ist mit typischen Signalen (z. B. ei-
emotionen auch nach der Gegenregulation nem ängstlichen Gesicht) gekoppelt, die von
den Sozialpartnern schnell und präzise er-
kannt werden.
Wie oben dargestellt, ist das Gefühl nicht
mit der Emotion gleichzusetzen, sondern der
Freude/Glück
subjektiv empfundene Anteil der Emotion.
Unglück Emotionen sind kurz und intensiv. Davon ab-
zugrenzen sind Stimmungen, die andauernd
Stimulus und in der Regel schwach sind. Stimmungen
Zeit
Freude/Glück können lange unbemerkt bleiben, während bei
Emotionen die Auslöser und die verschie-
denen Reaktionskomponenten in der Regel
Unglück nicht unbemerkt bleiben. Gelegentlich werden
Stimmungen und Emotionen anhand der Ge-
richtetheit abgegrenzt. Emotionen sind auf
etwas gerichtet, während Stimmungen eher
Stimulus diffus sind; sie richten sich nicht auf ein be-
Zeit
stimmtes Objekt und nicht zwingend auf eine
Abbildung 20-2: Opponent-process- Theorie der Bedürfnisbefriedigung. Man kann „guter
Emotionen. Laune“ sein oder sich „erschöpft“ fühlen. Von

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620 20.  Emotion und Motivation

Affekten wird gesprochen, wenn die Emotio- Reiz wirken, der letztlich weitere emotionale
nen Handlungen auslösen, die in der Regel Reaktionen und v. a. die Gefühle auslöst
nicht oder nur schwer kontrollierbar sind. Af- (Abb. 20-3). Auf eine kurze Formel gebracht
fekte sind demzufolge kurz andauernde Emo- bedeutet dies: „Wir haben Angst, weil wir zit-
tionen mit einer Handlungskomponente. tern, aber wir zittern nicht, weil wir Angst ha-
Emotionsauslösende Reize können vielfäl- ben.“ Die wahrgenommenen Gefühle sind die
tig sein. Auch für den Menschen existieren Reaktionen auf Veränderungen in den Ein-
biologisch vorbereitete Reize, auf die der Or- geweiden und im motorischen System, die ih-
ganismus automatisch emotional reagiert. So rerseits von den entsprechenden Reizen aus-
können bestimmte Reizkonstellationen Angst gelöst worden sind, und nicht umgekehrt.
(Tiefeninformationen oder sich schnell nä- Nach heutiger Kenntnis der Neuroanatomie
hernde Reize), Zuwendung (Kindchenschema, würden die emotionalen Reize zunächst über
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erotische Reize) oder Ekel auslösen. Solche den Kortex vermittelt werden (1 in Abb. 20-3),
Reize will man meiden oder sich ihnen aus- was zu körperlichen Reaktionen führt (2 in
setzen. In beiden Fällen führt dies in unserem Abb. 20-3), die zum Kortex (insbesondere zum
Regelkreismodell zu Regelabweichungen und sensorischen Kortex) zurückgemeldet (3 in
den entsprechenden Verhaltensweisen. Auch Abb. 20-3) und erst dann zu Gefühlen umco-
kognitive Motive (z. B. die Leistungsmotiva- diert und als solche interpretiert werden (4 in
tion) können über das Regelkreismodell er- Abb. 20-3).
klärt werden. Beim Menschen muss berück- Etwa 40 Jahre nach James und Lange ent-
sichtigt werden, dass er seine Umwelt und wickelten die US-amerikanischen Neurophy-
seine Empfindungen interpretieren und um- siologen Cannon und Bard eine neue Emo­
deuten kann. So kann z. B. derselbe Reiz bei
verschiedenen Personen zu unterschiedlichen Gefühle
Emotionen führen. Emotionen kann man sich
auch vorstellen oder im Traum erleben. Sie 4
können von verbalen Äußerungen begleitet
zerebraler Kortex
sein, es ist aber auch möglich, dass sie nicht in
sensorischer Motor-
Worte gefasst werden. Emotionen sind beim Kortex kortex
Menschen erheblich von der individuellen 1 2

Lernerfahrung beeinflusst.
3 körperliche
emotionale Reaktion
Stimuli

20.3. Emotionstheorien
Abbildung 20-3: Schematische Darstellung der
Der US-amerikanische Psychologe William James-Lange-Theorie. Die in dieser Abbildung
James und der dänische Psychologe Carl Lange aufgeführten Zahlen kennzeichnen die postulier-
ten Informationswege. 1: Emotionale Stimuli wer-
entwickelten zeitgleich eine der ältesten Emo-
den in den sensorischen Kortexgebieten verarbei-
tionstheorien, die auch nach ihnen benannt
tet. 2:  Über unbewusste Mechanismen werden
wurde: die James-Lange-Theorie. Sie gingen
dann körperliche Reaktionen ausgelöst. 3: Die mit
davon aus, dass gewisse Reize über das auto- diesen körperlichen Reaktionen assoziierten phy-
nome Nervensystem Reaktionen in den Ein- siologischen Signale werden zum Kortex zurück-
geweiden und im motorischen System hervor- gemeldet. 4: Im Kortex werden dann anhand der
rufen. Das Zusammentreffen dieser beiden Interpretation dieser Signale die Gefühle er-
Arten von Reaktionen sollte seinerseits als schlossen.

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20.3. Emotionstheorien 621

tionstheorie, die im Wesentlichen aus der Gefühle


Kritik an der James-Lange-Theorie entstanden
ist. Sie wandten gegen die James-Lange-Theo- 4
rie ein, dass verschiedene emotionale Zu- 2b zerebraler Kortex 3b
stände wie z. B. Ärger und Furcht die gleichen
Thalamus Hypothalamus
Reaktionen des autonomen Nervensystems
2a 3a
hervorrufen und daher auf dieser Basis nicht 1
unterscheidbar seien. Ein weiterer Kritikpunkt
körperliche
lautete, dass nichtemotionale Zustände (bei- emotionale Reaktion
Stimuli
spielsweise die Folgen physischer Anstren-
gung und hoher Außentemperatur) zu den
gleichen Reaktionen des autonomen Nerven- Abbildung 20-4: Schematische Darstellung der
Cannon-Bard-Theorie. Die in dieser Abbildung auf-
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systems führen wie bestimmte emotionale Zu-


geführten Zahlen kennzeichnen die postulierten
stände. Kritisch angemerkt wurde auch, dass
Informationswege. 1: Emotionale Stimuli werden
Veränderungen im Eingeweidesystem dem
über den Thalamus geleitet und zwei parallel ver-
Hirn zu spät gemeldet werden, um als Quelle
laufenden Informationswegen zugeführt, 2a: zum
von Emotionen infrage zu kommen. In der Hypothalamus und 2b: zum Kortex. 3a: Der Hypo-
Folge konnte gezeigt werden, dass bei Patien- thalamus löst körperliche Reaktionen aus, kann
ten, denen die Hinterhörner im Rückenmark aber auch über 3b den Kortex informieren. 4: Der
durchtrennt wurden, gleichwohl emotionale Kortex generiert dann die Gefühle.
Reaktionen auftreten. Demzufolge ist für das
Empfinden von Gefühlen und das Auslösen Der Enthemmungstheorie von Cannon und
von emotionalen Reaktionen die Rückmel- Bard stellte Lindsley eine Aktivierungstheo-
dung aus den Eingeweiden nicht zwingend rie der Emotion entgegen, in der er verschie-
notwendig. Cannon und Bard nahmen an, dass dene Aktivierungskaskaden annimmt. Eine
der Hypothalamus eine zentrale Hirnregion zentrale Struktur ist die Formatio reticularis,
für die Generierung und Kontrolle von Emo- über die Impulse zum Kortex, zum vegetativen
tionen sei. Im Hypothalamus soll eine Reihe Nervensystem und zur Skelettmuskulatur ge-
von Verhaltensmustern vorprogrammiert sein, leitet werden. Dadurch entstehen drei Arten
die aber nicht in Aktion treten, solange sie emotionaler Reaktionen (kortikal, viszeral und
vom Kortex gehemmt werden. In außer- somatomotorisch). Die peripheren Reaktionen
gewöhnlichen Reizsituationen lässt diese aus den Eingeweiden und der Skelettmuskula-
Hemmung nach und die vorprogrammierten tur werden zum Kortex zurückgemeldet und
emotionalen Verhaltensmuster können sich dort erneut verarbeitet. Die Gefühlsempfin-
entfalten. Diese Verhaltensmuster werden dung kann moduliert (gesteigert oder abge-
dem Kortex gemeldet und dort so umcodiert, schwächt) werden, indem zur Bewertung der
dass sie als Gefühle empfunden werden. Im äußerlichen Reize die Bewertung der eigenen
weiteren Verlauf werden die vorprogrammier- dadurch ausgelösten körperlichen Empfin-
ten Reaktionsmuster an die Organe des Kör- dungen hinzukommt.
pers zur Ausführung weitergeleitet (Abb. 20-4). In der Aktivierungstheorie kommen stärker
Anders ausgedrückt, „die Emotionen sind als bei James und Lange und auch als bei Can-
immer präsent; sie stehen jedoch unter korti- non und Bard die kognitiven Anteile der Emo-
kaler Kontrolle“. Die Cannon-Bard-Theorie tion zum Tragen. Besonders intensiv wurden
wird daher als Enthemmungs- oder Hypo- in den 1970er Jahren diese kognitiven Anteile
thalamustheorie bezeichnet. der Emotionen erforscht, was in den kogniti-

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622 20.  Emotion und Motivation

ven Emotionstheorien resultierte (Schachter Emotionen empfindet und dass Erfahrungen


und Singer sowie Lazarus). Gemäß diesen (im Kortex außerhalb des limbischen Systems
Theorien ergeben sich die Emotionserfahrun- gespeichert) auf das limbische System einwir-
gen aus dem Zusammenwirken physiologi- ken können. Viele der späteren physiologisch
scher Erregung und kognitiver Bewertung. Die und neuroanatomisch orientierten Emotions-
Reize wie auch die physiologischen Erregun- forscher haben auf diese Überlegungen zu-
gen werden gleichzeitig anhand von situativen rückgegriffen. Prinzipiell hat dieses Modell
Hinweisreizen und Kontexterfahrungen ko- noch heute seine Gültigkeit, es ist jedoch er-
gnitiv bewertet. Die Erfahrung einer Emotion weitert worden (s. u.).
ergibt sich dann aus der Interaktion des Erre- Eine neurobiologische Theorie der Emo-
gungsniveaus und der Art der Bewertung. So tion, die auf Untersuchungen an Ratten be-
kann z. B. ein Aktivierungszustand abhängig ruht, ist die Emotionstheorie von LeDoux
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von den kognitiven Aspekten in einer Situation (1994). Bemerkenswert ist, dass LeDoux in
als Freude, Ärger usw. interpretiert werden. seinen theoretischen Arbeiten allgemein über
Eine bestimmte Aktivierung ist jedoch immer Emotionen spricht, er sich in seinen wissen-
notwendig, damit Emotionen entstehen. Wel- schaftlichen Arbeiten allerdings ausschließ-
che Emotion letztendlich entsteht, hängt von lich auf die Emotion Angst konzentriert. Für
den Hinweisreizen und den daraus resultie- LeDoux ist die Amygdala die zentrale Struktur
renden kognitiven Interpretationen ab.
Die Cannon-Bard-Theorie griff explizit auf
die zu dieser Zeit diskutierten neuroanato- Erinnerung
mischen Befunde zum limbischen System zu- Gefühl
rück. Unter dem limbischen System werden
seit Broca die inferomedialen Anteile beider sensorischer
Kortex
Gedanken
Neokortex
Hemisphären zusammengefasst (grand lobe
limbique), die zu den phylogenetisch älteren
Teilen des Gehirns zählen. Broca unterschied Cingulum
einen äußeren und einen inneren Ringbezirk.
Der äußere Ring besteht aus dem entorhina- thalomo-
Cingulum
kortikale
len, retrosplenialen, periamygdalärem und Verbindungen
cingulärem Kortex. Zum inneren Teil zählen anteriorer Hippo-
Hippocampus, Amygdala, Hypothalamus und Thalamus campus

Septum. Der Neuroanatom Papez hat 1937 mamillo- Fornix


thalamischer
die bis dahin gültigen anatomischen Befunde Trakt
zum limbischen System zusammengefasst und
Hypo-
den nach ihm benannten Schaltkreis vor- Thalamus Gefühle thalamus
geschlagen (Papez-Schaltkreis; Abb. 20-5). Mammiliarkör.
Amygdala
Papez ging davon aus, dass das Erfahren von
Emotionen im Wechselspiel zwischen den Sensorik körperliche
Reaktion
Impulsen aus dem Hypothalamus und den im Hirnstamm
Kortex gespeicherten Erfahrungen entsteht.
Hierbei soll das Cingulum (Gyrus cinguli) mit Nucleus
accumbens
seinen bidirektionalen Verbindungen zwi-
schen dem Kortex und dem limbischen System Abbildung 20-5: Schematische Darstellung des
die Voraussetzung dafür sein, dass der Mensch Papez-Schaltkreises und des limbischen Systems.

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20.3. Emotionstheorien 623

im Emotionsschaltkreis. Seiner Ansicht nach visueller


Kortex
wird die Amygdala auf zwei Wegen stimuliert,
visueller
entweder direkt über den Thalamus oder indi- Thalamus
rekt vom Kortex. Über den direkten Weg er-
kennt die Amygdala bereits (schemenhaft) die
emotionale Bedeutung und steuert über ihre
Verbindungen zu spezifischen Kernen des
Hirnstamms autonome und viszerale Reaktio-
nen, die wiederum schnelle motorische Re-
aktionen ermöglichen. Damit impliziert Le- Amygdala
Doux, dass die Amygdala sensorische Reize
aus der Umwelt bewertet, bevor die primären
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und sekundären Assoziationsareale diese Ein-


gangssignale analysiert haben. Dadurch sollen
schnelle emotionale Reaktionen möglich sein,
die keine kortikal vermittelte Bewertung er-
fordern (Abb. 20-6). Über den zweiten, kortika-
Blutdruck Muskeln
len Weg erfolgt dann die kognitive Bewertung,
auf die die autonomen und viszeralen Reaktio-
nen folgen. Wichtig ist, dass die Amygdala in
beide Schaltkreise eingebunden ist; sie nimmt Herzrate
die erste schnelle Bewertung selbst vor, be-
Abbildung 20-6: Schematische Darstellung des
zieht später die zweite mit ein und initiiert die
Reaktionsablaufs bei der Angstreaktion (nach
körperlichen Prozesse. Die meisten Abläufe
LeDoux, 1994). Für LeDoux ist die Amygdala die
sollen gemäß LeDoux ohne bewusstes Erleben zentrale Schaltstelle für die Entstehung (zumin-
erfolgen. dest) der Angstemotion.
Nach LeDoux ist beim Menschen das sub-
jektive Erleben einer Emotion vom Bewusst-
sein und damit vom Arbeitsgedächtnis abhän- In der Tat reagieren Patienten mit bilatera-
gig. Angstbezogene Reize lösen eine Erregung len Läsionen der Amygdala nicht oder erheb-
der Amygdala aus. Diese Erregung sowie die lich schwächer auf Angst auslösende Reize. Sie
abgespeicherten Gedächtnisinhalte über lernen auch sehr schlecht oder überhaupt
angstbezogene Reize, bereits erlebte Ängste nicht, Angst mit bestimmten Reizen zu kop-
und hilfreiche Gegenreaktionen gelangen zu- peln (Kap. 20.7.), können sozial relevante In-
sammen mit den sensorischen Reizen ins Ar- formationen nicht mehr gut wahrnehmen und
beitsgedächtnis und werden dort integriert ihnen gelingt es nicht mehr, die Vertrauens-
bzw. miteinander verglichen. Diese Integra- würdigkeit von Gesichtern wie Gesunde zu be-
tion soll die Basis für das subjektive Angst- werten (Adolphs, 2010). Bei allen gestörten
erleben sein. Die zentrale Informationsinter- Funktionen müssen implizit für Angst rele-
pretation erfolgt jedoch in der Amygdala. Mit vante Informationen verarbeitet werden.
anderen Worten: Die Repräsentation der Die Amygdala ist jedoch nicht nur in die
Amygdala-Aktivität im Arbeitsgedächtnis ist Generierung von Angst eingebunden. Unter-
die wesentliche Grundlage für das Empfinden suchungen haben gezeigt, dass sie auch bei
von Angst. Demzufolge dürfte man ohne anderen negativen Emotionen aktiv ist, z. B.
Amygdala keine Angst empfinden. bei depressiven Patienten, bei denen die

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624 20.  Emotion und Motivation

3
Konzept aufgegriffen und in seine Emotions-
Amygdala
theorie (neurokulturelle Theorie der Emo-
2.5
tionen) einfließen lassen (Ekman, 1993).
Aktivierung der Amygdala

2
Ekman betrachtet die Emotionen im Wesent-
1.5
lichen aus dem Blickwinkel des emotionalen
1
Ausdrucks und insbesondere der Mimik. Aus
0.5 seiner Sicht sind am Zustandekommen des
0 emotionalen Ausdrucks verschiedene Kom-
–0.5 ponenten beteiligt:
–1 • Auslöser
–1.5 • Affektprogramme für Basisemotionen
2.5 3 3.5 4 4.5 5 • Darbietungsregeln
Arousal-Bewertung

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Bewältigungsregeln.
Abbildung 20-7: Abhängigkeit der Amygdala-­
Aktivierung vom Ausmaß der subjektiv empfun- Auslöser sind bestimmte Reizkonstellationen,
denen Erregung beim Hören von Musik (nach die die Affektprogramme auslösen können.
Baumgartner et al., 2006). Dies können Gesichtsausdrücke anderer Per-
sonen oder soziale Konstellationen sein. Die
Amygdala bereits tonisch voraktiviert ist und Affektprogramme sind vererbte Programme,
bei denen neutrale und auch positive Reize zu die mimische und vegetative Reaktionen und
einer Zunahme der Amygdala-Aktivierung bestimmte Verhaltensweisen kontrollieren.
führen. Die Amygdala ist bei starker emotiona- Ekman nimmt distinkte Affektprogramme an,
ler Erregung (arousal) aktiv, auch wenn keine die spezielle Basisemotionen kontrollieren,
Angst ausgelöst wurde, z. B. beim Hören von die durch typische mimische Ausdrücke cha-
aktivierender Musik (Baumgartner et al., 2006; rakterisiert sind. Darbietungsregeln sind er-
Abb. 20-7). Auch Musik, die man nicht mag, lernte kulturelle Regeln, die auf den emotiona-
evoziert Aktivierungen der Amygdala. Insofern len Ausdruck (Mimik und Gestik) einwirken.
müssen zumindest im Zusammenhang mit der Sie können dazu führen, dass der emotionale
Erforschung von Emotionen beim Menschen Ausdruck gehemmt oder gefördert wird. Ty-
und der Einbindung der Amygdala die Befunde pisch ist dies für das Lachen; in den USA ist das
differenziert eingeordnet werden. In Tierver- Lachen weit weniger gehemmt als z. B. in asia-
suchen ist die Amygdala bislang viel deutlicher tischen Kulturen. Letztlich sollen Bewälti-
als beim Menschen mit der Angst in Verbin- gungsregeln die Gefühle insgesamt regeln
dung gebracht worden. können. Mit diesen gelernten Bewältigungs-
regeln können Gefühle abgeschwächt, hinaus-
gezögert oder verstärkt werden. Zentral für
20.4. Konzept der Basis­ diese Theorie sind die Basisemotionen, die
emotionen – von Darwin zwar auch in anderen Emotionstheorien the-
zu Ekman matisiert werden, aber bei Ekman mit be-
stimmten mimischen Ausdrücken in Verbin-
Mit seinem 1872 erschienenen epochalen dung gebracht werden. Ekman definiert
Werk The expression of emotions in man and folgende Basisemotionen anhand der mi-
animals übt Charles Darwin einen bis heute mischen Ausdrücke:
währenden Einfluss auf die Emotionspsycho- • Furcht
logie aus. Vor allem Paul Ekman hat dieses • Wut

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20.5.  Theorie von Panksepp – die Rolle von Emotionssystemen 625

• Freude untersucht worden. Hierbei zeigte sich, dass


• Trauer Hirngebiete im Orbitofrontalkortex und das
• Überraschung ventrale Striatum (Nucleus accumbens) ab-
• Neugierde hängig von der Ausprägung der Valenz un-
• Ekel terschiedlich stark durchblutet sind. Je ange-
• Verachtung. nehmer die bearbeiteten Reize, desto stärker
sind diese Hirngebiete durchblutet. Unan­
Die Theorie der Basisemotionen wird von ver- genehme Reize sind v. a. mit Aktivierungen
schiedenen Forschern kritisiert. Ein Kritik- der Amygdala assoziiert, die abhängig vom
punkt ist, dass nicht immer die gleichen Basis- Arousal unterschiedlich stark aktiviert ist. Je
emotionen und nicht die gleiche Anzahl von stärker Arousal empfunden wird, desto stär-
Basisemotionen angeboten werden. Auch die ker ist die Amygdala aktiviert (Lewis et al.,
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Benennung der jeweiligen Basisemotionen ist 2006).


nicht immer einheitlich. Problematisch ist fer-
ner, dass schon der Begriff Basisemotion eine
Distinktheit von Emotionen andeutet. Das be-
20.5. Theorie von Panksepp –
deutet, dass implizit davon ausgegangen wird, die Rolle von Emotions-
dass zu einem bestimmten Zeitpunkt eine systemen
Basisemotion zumindest prinzipiell in reiner
Form vorliegen könne. Aus Sicht der Verhal- Eine umfangreiche und gerade für die Neuro-
tensbiologie ist diese Annahme nicht haltbar, psychologie und die kognitiven Neurowissen-
denn Emotionen treten in der Regel in Misch- schaften ergiebige Emotionstheorie hat der
formen auf; möglicherweise wird eine einzelne Psychobiologe Jaak Panksepp (2003; 2011)
Emotion nie in reiner Form vorliegen. Insofern vorgelegt. Eine zentrale Rolle für die Kon-
lässt sich fragen, warum es sinnvoll sein soll, in trolle der Emotionen soll ähnlich wie bei der­
der Natur nie auftretende Basisemotionen zu Cannon-Bard-Theorie der Hypothalamus aus-
unterscheiden. Aus der Sicht der Verhaltens- üben. Die verschiedenen Emotionssysteme
biologie sind Verhaltenstendenzen (z. B. Annä- sollen genetisch bedingt sein und das Ver-
herung und Vermeidung) relevanter. halten v. a. in Bezug auf Annäherung und
Im Gegensatz zu den oben dargestellten Hemmung beeinflussen. Panksepp postuliert
kategorialen Emotionstheorien stehen die di- Feedback-Schleifen, welche die Sensitivität
mensionalen Emotionstheorien. Im Rah- sensorischer Systeme beeinflussen sollen, so-
men dieser Theorien wird angenommen, dass wie vier Emotionssysteme (Tab. 20-1):
die Emotion das Resultat einer Ausprägung • Erwartungssystem
auf mehreren bestimmten Dimensionen ist. • Wutsystem
Welche Dimensionen anzunehmen sind, darü- • Angstsystem
ber besteht allerdings noch Uneinigkeit. Seit • Paniksystem.
Wilhelm Wundt werden jedoch häufig drei
Dimensionen thematisiert: Des Weiteren schlägt er Sekundärsysteme vor:
• Lust – Unlust (Valenz) Lust/Sexualität, Spiel/Freude und Fürsorge/
• Erregung – Beruhigung (Arousal) Pflege.
• Spannung – Lösung (Dominanz). Über das Erwartungssystem wird Annä-
herung und Vermeidung vermittelt. Wir lernen
Die Dimensionen Valenz und Arousal sind unangenehme Situationen zu vermeiden und
in neurowissenschaftlichen Studien häufig uns angenehmen zu nähern. Damit ist v. a. das

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626 20.  Emotion und Motivation

Tabelle 20-1: Emotionssysteme nach Panksepp mit den beteiligten Hirnregionen und Neurotrans­
mittern.

Basisemotionen Hirnregionen Neuromodulatoren


vier Emotionssysteme
generelle Motivation/ Nucleus accumbens, VTA, DA (+), zahlreiche Neuropeptide,
Erwartung mesolimbischer, mesokortikaler Opioide (+), Neurotensin
Output, lateraler Hypothalamus,
PAG
Wut mediale Amygdala, NST, medialer Substanz P (+), ACh (+),
und perifrontaler Hypothalamus, Glutamat (+)
dorsales PAG
Angst zentrale und laterale Amygdala, Glutamat (+), zahlreiche Neuropeptide,
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medialer Hypothalamus und BBI, CRF, CCK, Alpha-MSH, NPY


dorsales PAG
Spiel/Freude dorsomediales Diencephalon, pa- Opioide (+/–), Glutamat (+), ACh (+)
rafasciculäres Areal, ventrales PAG
drei Sekundärsysteme
Lust/Sexualität kortikomediale Amygdala, NST, Stereoide (+), Vasopressin und Oxytocin,
präoptischer und ventromedialer LH-RH, CCK
Hypothalamus, laterales und
ventrales PAG
Fürsorge/Pflege anteriorer Gyrus cinguli, NST, Oxytocin (+), Prolaktin (+)

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