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Lehrbuch Kognitive Neurowissenschaften
UZH Hauptbibliothek / Zentralbibliothek Zürich / 130.60.206.40 (2023-02-02 11:26)
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Aus Lutz Jäncke: „Lehrbuch Kognitive Neurowissenschaften“ (9783456861173) © 2021 Hogrefe Verlag, Bern.
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Lutz Jäncke
Lehrbuch
Kognitive Neuro
wissenschaften
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Prof. Dr. rer. nat. Lutz Jäncke
Universität Zürich
Psychologisches Institut
Lehrstuhl für Neuropsychologie
Binzmühlestrasse 14/25
8050 Zürich
Schweiz
E-Mail: lutz.jaencke@uzh.ch
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(E-Book-ISBN_PDF 978-3-456-96117-0)
(E-Book-ISBN_EPUB 978-3-456-76117-6)
ISBN 978-3-456-86117-3
http://doi.org/10.1024/86117-000
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Inhaltsverzeichnis 7
6. Hemisphärenasymmetrie 151
6.1. Allgemeines 153
6.2. Funktionelle Links-rechts-Asymmetrien 153
6.2.1. Sprachlateralisierung 153
6.2.2. Händigkeit 154
6.2.3. Experimentalpsychologische Verfahren 158
6.2.4. Neurophysiologische Asymmetrien 163
6.2.5. Zusammenfassung der funktionellen Asymmetrien 167
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14 Inhaltsverzeichnis
Literatur 699
Index 726
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Mit dieser 3. Auflage haben wir die Gelegen- und Bewusstsein ist eigentlich zu breit und
heit genutzt, um Ergänzungen und Verbes- wenig fokussiert, um es in einem Lehrbuch
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„Kognitive Neurowissenschaft“ ist ein Sam- hirns dargestellt habe. Ein großer Teil der
melbegriff, unter dem verschiedene Wissen- aktuellen neurowissenschaftlichen Arbeiten
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schaftsdisziplinen, die sich alle mit dem Zu- konzentriert sich auf die neurophysiologi-
sammenhang zwischen Gehirn und Verhalten schen Grundlagen und Begleiterscheinungen
auseinandersetzen, zusammengefasst wer- dieses Zustandes, da er viele interessante In-
den. Jede dieser Disziplinen (z. B. Neuroanato- formationen über die Arbeitsweise und Orga-
mie, Neurophysiologie, Bildgebung, Kognitive nisation des Gehirns liefert.
Psychologie etc.) hat sich in den letzten 10 Jah- Natürlich haben wir uns auch bemüht,
ren enorm entwickelt. Viele dieser Disziplinen Fehler zu identifizieren und sie zu eliminie-
erleben methodische, technische und inhalt- ren. Trotz aller Mühe schleichen sich immer
liche Weiterentwicklungen, welche außer in wieder Rechtschreib-, Interpunktions- oder
den Ingenieur- und Computerwissenschaften Grammatikfehler ein, die nicht gerne gefun-
in kaum einer anderen Wissenschaftsdisziplin den werden wollen, insbesondere nicht vom
anzutreffen sind. Im Zuge dieser Entwicklung Autor. Wir haben allerdings einige entdeckt,
werden ständig neue Befunde berichtet, an- die wir entsprechend korrigiert haben. Auch
dere werden bestätigt oder gar verworfen. In- einige Abbildungen sind angepasst, verbessert
sofern ist eine enorme Dynamik in dieser For- und korrigiert worden. Hierfür danke ich ins-
schungsdisziplin zu vermerken. besondere meinen Studierenden in Zürich, die
In der vorliegenden 2. Auflage sind des- immer wieder Ungereimtheiten und Fehler
halb einige neue Befunde aufgenommen wor- entdecken.
den, um dieser rasanten Entwicklung Rech- Ich hoffe, dass mit der 2. Auflage ein inte-
nung zu tragen. Da vor allem die EEG- ressantes und für den Studierenden hilfreiches
Technologie einen enormen Fortschritt und Werk vorliegt, mit dem man einen Einstieg in
Aufschwung erfahren hat, habe ich insbeson- die faszinierende Welt der Kognitiven Neuro-
dere neue Informationen aus diesem Me- wissenschaften findet.
thodenbereich aufgenommen. Des Weiteren
wurde ein neues Kapitel eingefügt, in dem ich Lutz Jäncke
die Bedeutung des „Ruhezustandes“ des Ge- Zürich, im April 2017
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Dieses Lehrbuch beruht auf den Einführungs- Lehrbücher und insbesondere Einfüh-
vorlesungen zur kognitiven Neurowissen- rungsbücher „leben“ von den Befunden, die
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schaft, die ich an der Universität Zürich und an viele Wissenschaftler der Gemeinschaft zur
der ETH Zürich in den Jahren 2002 bis 2012 Verfügung gestellt haben. Nicht alle konnten
gehalten habe. Der Leser sollte berücksichti- berücksichtigt werden und ich habe die aus
gen, dass dies ein Einführungsbuch ist. Ich be- meiner Sicht wichtigen dargestellt. Dies ist
tone das, weil sich die kognitiven Neurowis- keine Wertung, sondern nur dem selektiven
senschaften in den letzten 25 Jahren enorm Blick geschuldet, den man bei der Flut der
entwickelt und viele Zweige eingeschlagen und vielen Befunde einnehmen muss. Insofern
verfolgt haben, die meines Erachtens nicht zu- entschuldige ich mich bereits an dieser Stelle
sammengefasst in einem Lehrbuch dargestellt bei den Kollegen, deren Arbeiten ich in diesem
werden können. In diesem Lehrbuch habe ich Lehrbuch nicht angemessen würdigen konnte,
mich v. a. auf die kognitive Neurowissenschaft aber eigentlich hätte aufnehmen müssen.
aus dem Blickwinkel des Menschen konzen- Für die Durchsicht bestimmter Kapitel
triert. Tierversuche und Ergebnisse daraus bedanke ich mich bei Klaus Oberauer (Ar-
wurden weitgehend ausgeklammert und nur beitsgedächtnis), Renate Drechsler (Exekutive
jene ausgewählt, die für das Verständnis der Funktionen) und Kai Lutz (Motorik). Ebenso
kognitiven Neurowissenschaften des Men- bedanke ich mich bei Frau Susanne Richli, die
schen wichtig sind. Viele interessante Bereiche viele Kapitel gelesen hat, um diese aus Sicht
der modernen kognitiven Neurowissenschaf- eines Studierenden zu beurteilen. Mein be-
ten konnten aus Platzgründen, aber auch aus sonderer Dank gilt Frau Edelmann, die die Ab-
Gründen der Didaktik nicht dargestellt wer- bildungen entweder völlig neu gezeichnet oder
den. Dazu gehören die kognitive Psychophar- anhand von Vorlagen modifiziert und nach-
makologie, die Genetik, die vielen Befunde aus gezeichnet hat. In einigen Abbildungen habe
der Molekularbiologie und v. a. aus dem sich ich ein Standardgehirn aus dem Programm
derzeit schnell entwickelnden Gebiet der ma- MriCro von Chris Rorden genutzt. Ich danke
thematisch orientierten kognitiven Neurowis- Chris für seine Zustimmung hierzu.
senschaften. Ich habe auch vermieden, die kli- Für Hinweise auf etwaige Fehler, Miss- und
nische Neuropsychologie und Neurologie zu Unverständlichkeiten bin ich dankbar.
stark zu betonen, sondern mich v. a. auf die
normale Funktion des Gehirns konzentriert. Lutz Jäncke
Trotz allem oder vielleicht gerade deswegen Zürich, im Juni 2013
denke ich, dass der Leser einen Überblick über
das neue Gebiet der kognitiven Neurowissen-
schaften erhält.
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1. Kognitive Neurowissenschaft –
Was ist das?
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1.1. Einführung 23
1980er Jahren entwickelt. Die kognitive Psy- gie und klinisch-medizinische Fächer, die sich
chologie untersucht seit Ende der 1960er Jahre mit den Fehlfunktionen des Gehirns befassen
die internen psychischen Vorgänge, die im Zu- (Tab. 1-1).
sammenhang mit den kognitiven Funktionen Insbesondere durch die Entwicklung der
wirksam sind. Herauszufinden, wie Denken, bildgebenden Verfahren (z. B. funktionelle
Lernen, Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Wahr- Magnetresonanztomografie, fMRT; Kap. 5) zu
nehmung, Motorik, mentale Repräsentation, Beginn der 1990er Jahre ist der Zusammen-
Sprache, Emotion und Motivation beim Men- schluss von kognitiver Psychologie und Neuro-
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24 1. Kognitive Neurowissenschaft – Was ist das?
klinisch-medizinische Disziplinen • beschäftigen sich mit der Pathogenese, Diagnose und Thera-
pie der Gehirnerkrankungen beim Menschen
• Teildisziplinen sind Neurologie, Neuropathologie, Neurochi-
rurgie, Neuroradiologie, biologische Psychiatrie und klinische
Neuropsychologie
Neuropsychologie • Teildisziplin der Psychologie und der Neurowissenschaften
• Ziel ist es, Verhalten und Erleben aufgrund physiologischer
Prozesse zu beschreiben und zu erklären
• arbeitet am Menschen und mit Tiermodellen
• Methoden sind Läsions- und Interventionsstudien (Arznei-
mittel, TMS etc.), Registrierung von Hirnaktivitäten während
des Durchführens von psychischen Tätigkeiten
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1.2. Geschichte der kognitiven Neurowissenschaften 25
Abbildung 1-3: Historische Hirn- und Schädelzeichnungen von Vesalius, Hundt und Reisch. Die Bilder
sind dem Buch von Walsh (1978) entnommen und leicht modifiziert worden.
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26 1. Kognitive Neurowissenschaft – Was ist das?
die Mönche Gregor Reisch (1504) und Mag- ßen und diese anatomischen Eigenarten mit
nus Hundt (1501) erstellt (Abb. 1-3). So wird bestimmten psychischen Funktionen in Bezie-
z. B. dem ersten Ventrikel (der nicht gleich- hung zu setzen. Mittels dieser Methode wur-
zusetzen ist mit dem heute als 1. Ventrikel be- den detaillierte Karten zur Lokalisation psy-
zeichneten Hohlkörper) die Fähigkeit zu- chischer Funktionen erstellt (Abb. 1-4). Aus
geschrieben, Fantasie und Imagination zu heutiger Sicht hat sich dieser Ansatz als Irr-
kontrollieren. Der zweite Ventrikel ist dem- weg erwiesen. Anhand der Schädelverfor-
nach für das Denken und der dritte für das mung kann nicht zweifelsfrei auf die Größe
Gedächtnis zuständig. Somit war das Gehirn des darunterliegenden Hirngewebes geschlos-
als möglicher „Sitz“ wichtiger psychischer sen werden. Des Weiteren haben die Phreno-
Funktionen aus dem Blick der zeitgenössi- logen mit psychischen Funktionen und Cha-
schen Intellektuellen geraten. Ein Umstand, raktereigenschaften gearbeitet, die schwer bis
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der auch durch den Einfluss der christlichen gar nicht operationalisierbar sind; typische
Kirche gefördert wurde. Beispiele sind: Spiritualität, Idealismus oder
Eine (allerdings falsche) Reorientierung auf Hang zum Geld (Abb. 1-4).
das Gehirn als zentrales Organ für die Kon- Aus der Phrenologie ist die Kraniometrie
trolle psychischer Funktionen, zumindest in („Lehre von der Schädelvermessung“) hervor-
populärwissenschaftlichen Kreisen, erfolgte gegangen, die als Werkzeug der Rassenkunde
durch die Phrenologie. Die beiden Hauptver- pervertiert wurde. Sie wurde Anfang des
treter dieser Richtung, Franz Josef Gall und 20. Jahrhunderts, v. a. im Zusammenhang mit
sein Schüler Johann Spurzheim, versuchten rassistischen Theorien, populär. Kraniometri-
aus den Unebenheiten der Schädeloberfläche sche Vermessungen waren in der Anthropolo-
(Beulen; engl. = bumps) auf die Beschaffenheit gie und Ethnologie weit verbreitet. Heutzutage
des darunterliegenden Hirngewebes zu schlie- werden sie, außer bei der Beurteilung von tie-
rischen Schädelknochen, nur noch in der Ar-
chäologie eingesetzt, um Erkenntnisse über
die Evolution der menschlichen Spezies zu
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Spuren hinterlassen und äußert sich in dem
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it Wernicke. Beide belegten erstmalig, dass be-
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n stimmte Hirnfunktionen (Sprachexekution,
Sprachwahrnehmung) an die Intaktheit be-
stimmter Hirngebiete gebunden sind. Sie be-
gründeten damit die Tradition der präzisen
neurologisch-neuropsychologischen Fallbe-
Abbildung 1-4: Beispiel für phrenologische Loka- schreibungen, die insbesondere zu Beginn
lisationen von bestimmten Charaktereigenschaf- des 20. Jahrhunderts von Neurologen wie
ten. Nachgezeichnet nach Bilz (1894). z. B. Karl Kleist (ein Schüler Wernickes) wei-
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1.2. Geschichte der kognitiven Neurowissenschaften 27
terverfolgt wurden. Kleist wurde nach Aus- seinen Rattenexperimenten zeigen, dass die
bruch des Ersten Weltkriegs 1914 Militärarzt Größe der induzierten Hirnläsionen den
und konnte während seiner Tätigkeit wich- Schweregrad der Verhaltensbeeinträchtigung
tige Erfahrungen mit Hirnverletzten sam- bestimmt. Je größer die Hirnläsion, desto
meln. Im Zusammenhang mit der Analyse stärker ist das Verhalten beeinträchtigt. Er
von Schussverletzungen entwickelte er die bezeichnete diesen Zusammenhang, der ins-
nach ihm benannten Gehirnkarten, in denen besondere für den Erwerb neuer Verhaltens-
er im Sinne der Phrenologie bestimmten weisen hoch war, als das Gesetz der Massen-
Hirngebieten bestimmte psychische Funk- aktion. Lashley beschrieb des Weiteren die
tionen zuordnete (Abb. 1-5). individuellen Unterschiede der Versuchstiere
Diese eher lokalisationstheoretischen An- und die Bedeutung der prämorbiden Lern-
sätze wurden von dem Neuropsychologen geschichte für das Verständnis des Verhaltens
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3a Schmerzempfindung
einschließlich
3b Temperaturempfindung perzeptive und
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(Wortverständnis)
nungsmäß Ton elodi nis)
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Au auer 21
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sd ständnis
11 (M tänd
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erkennen 18
Horchbewegungen 37 19
38 Akustische Aufmerksamkeit
20
Sinnverständnis für
Geräusche und Musik
Abbildung 1-5: Kortikale Lokalisation von Hirnfunktionen. Dargestellt ist die linke Hemisphäre. (Diese
Karte basiert auf den Arbeiten von Kleist und ist auf der Grundlage der Abbildung 8-16 in Duus 2001
nachgezeichnet worden.)
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28 1. Kognitive Neurowissenschaft – Was ist das?
nismus, bei läsionsbedingt reduzierter Ge- dieser Methoden besteht darin, dass indivi-
hirnleistung ein neues biologisches Gleichge- duelle Gehirne während bestimmter psy-
wicht zu finden. Ein weiterer wichtiger Beitrag chischer Tätigkeiten untersucht werden kön-
Goldsteins ist die Betonung des Netzwerk- nen und dies auf Hirnbildern festgehalten wer-
charakters des Gehirns. Hierbei wird das Ge- den kann. Weitere wichtige Neuentwicklun-
hirn als dynamisches Netzwerk aufgefasst, gen sind die Magnetenzephalografie (MEG),
wobei verschiedene Hirngebiete interagieren, moderne EEG-Technologien sowie die trans-
um bestimmte psychische Funktionen zu kon- kranielle Magnet- (TMS) und die transkra-
trollieren. Diese Sichtweise war durch die da- nielle Gleichstromstimulation (tDCS), mit de-
mals moderne Gestaltpsychologie motiviert nen von außen das Gehirn erregt oder ge-
(„Das Ganze ist mehr als die Summe der Ein- hemmt werden kann. Eine neue Methoden-
zelteile.“). variante der Neuropsychologie sind Verfahren,
Dieser holistische Ansatz wird durch eine die einen direkten Dialog zwischen Mensch
Arbeit des kanadischen Psychologen Donald und Maschine ermöglichen (sogenannte
O. Hebb mit dem Titel What Psychology is about Brain-Computer-Interface-Techniken, BCI).
unterstützt (Hebb, 1974). Bekannt geworden Hierzu wird in der Regel die elektrische Hirn-
ist Hebb durch seine Arbeiten zu Zellverbän- aktivität in Form des Elektroenzephalo-
den (cell assemblies) und deren durch Lernen gramms (EEG) genutzt und diese Signale wer-
bedingten Aufbau (Hebb-Synapse). Er hat da- den nach entsprechender Vorverarbeitung
rüber hinaus die Aufgabe der Psychologie wieder zurück zum Generator der Aktivität
definiert, die er in der Entwicklung eines ob- (dem Menschen) übermittelt, der mittels die-
jektiven Verständnisses psychischer Prozesse ser Signale entweder sein Gehirn regulieren
als eine integrative Leistung des Gehirns sieht. oder andere Maschinen oder Steuereinrich-
Hebb hielt fest, dass die Neuropsychologie tungen manipulieren soll.
nicht in der Lage sei, Menschen in schwierigen Mit dem Fortschreiten der kognitiven Neu-
psychischen Situationen zu helfen, und eher rowissenschaft hat sich auch ein zunehmen-
ungeeignet, um den Menschen zu verstehen. des Interesse an einem Kernproblem der
Für die Klärung existenzieller menschlicher Philosophie des Geistes entwickelt, dem Leib-
Fragen sind laut Hebb die Geisteswissenschaf- Seele-Problem. Aus diesem Grund finden sich
ten (Literatur und Kunst) wichtig. Hebbs, mittlerweile sehr häufig Beiträge von Neuro-
Lashleys und Goldsteins Denkansätze sind wissenschaftlern zu Themen, die das Be-
wichtige Beiträge zu modernen Konzepten in wusstsein und den freien Willen betreffen.
den Neurowissenschaften, die das Gehirn als
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1.3. Beziehung zwischen Psychologie und Hirnforschung 29
logie braucht oder umgekehrt. Einige deutsch- strichwissenschaften“ entwickelt, deren theo-
sprachige Neurowissenschaftler haben 2004 retische Fundierung und Ziele vielen Fach-
ein sogenanntes Manifest über die Zukunft der leuten verschlossen bleibt. Typische Bei-
Hirnforschung verfasst, in dem sie bemerkens- spiele sind Neuro-Marketing, Neuro-Päda-
werte Zukunftsszenarien aus dem Blickwinkel gogik, Neuro-Jura, Neuro-Theologie und
der Neurowissenschaften zeichnen (Meyer et Neuro-Philosophie, um nur einige zu nen-
al., 2004). In diesem Zusammenhang könnte nen. Eine besonders kreative Neuschöpfung
der Eindruck entstehen, dass die Psychologie ist Neuro-Didaktik.
zunehmend randständig wird. Dieser Eindruck Ein grundsätzliches Problem der kogniti-
wird durch die enorme Medienpräsenz der ko- ven Neurowissenschaft besteht darin, dass
gnitiven Neurowissenschaft verstärkt, die of- diese Wissenschaftsdisziplin nicht nur das
fenbar durch die faszinierenden Hirnbilder Gehirn verstehen und erklären will, sondern
und Aktivierungskarten motiviert ist. Die Neu- darüber zum Verständnis psychologischer
rowissenschaft, insbesondere die kognitive Phänomene auf der Basis neurowissenschaft-
Neurowissenschaft, ist die Modewissenschaft licher Befunde beitragen soll. Geht das über-
der letzten 15 Jahre. Zu bemerken ist jedoch, haupt? Die Expertenmeinungen zu dieser
dass mittlerweile vieles, was aus diesem For- Frage tendieren aktuell auf eine Antwort: So-
schungsbereich als „Ergebnisse“ berichtet fern neurowissenschaftliche Ergebnisse he-
wird, insbesondere vom Laienpublikum unre- rangezogen werden sollen, um psychologische
flektiert als „wahr“ angenommen wird. Phänomene zu erklären, müssen diese Ergeb-
Weisberg et al. (2008) haben drei Gruppen nisse in ein theoretisches Gebäude eingeord-
von Versuchspersonen Erklärungen für psy- net werden können. Das kann z. B. eine psy-
chologische Phänomene präsentiert (Laien, chologische Theorie oder eine Theorie der
Studenten, die in einem neurowissenschaftli- Gehirnfunktionen sein. Aus diesem Blickwin-
chen Seminar arbeiteten, und erfahrenen Neu- kel betrachtet sind die Ergebnisse aus neuro-
rowissenschaftlern). Die Erklärungen waren wissenschaftlichen Untersuchungen nur ein
entweder gut (logisch und in sich schlüssig) Teil der Datenmenge, die in die Theorien ein-
oder schlecht (nicht logisch und nicht nach- geordnet werden kann, andere Datenquellen
vollziehbar). Den Versuchspersonen wurden haben gleichwertige Bedeutung (z. B. Reakti-
einige dieser Erklärungen für die psychologi- onszeiten, Trefferraten, Daten aus Verhal-
schen Phänomene im Zusammenhang mit tensbeobachtungen, Introspektion oder an-
Phrasen wie „Bildgebungsstudien haben ge- dere physiologische Befunde). Das Gesamtbild
zeigt, dass …“ präsentiert oder es wurde in den der psychologischen Theorie setzt sich dem-
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30 1. Kognitive Neurowissenschaft – Was ist das?
zufolge aus den vielen Mosaiksteinen zusam- dass wir dessen gewahr werden, konnten im
men, die durch unterschiedliche Datenquel- Zusammenhang mit dem unbewussten Ler-
len geliefert werden (Abb. 1-6). nen von Gesichtsbildern erhoben werden. Das
Vor diesem Hintergrund kommt der Pla- bedeutet auch, dass diese Informationen prin-
nung von kognitiv-neurowissenschaftlichen zipiell für weitere Verarbeitungsschritte zur
Experimenten eine immer größere Bedeutung Verfügung stehen. Wahrscheinlich werden
zu. Der Harvard-Psychologe Steven Kosslyn viele Denktätigkeiten durch unbewusst auf-
(1999) hat dies in einer Arbeit auf den Punkt genommene emotionale Informationen be-
gebracht, indem er formulierte: „If brain ima- einflusst. Mittlerweile ist auch belegt, dass
ging is the answer what is the question?“ beim Lernen von Bild- und Sprachmaterial
Neurowissenschaftliche Untersuchungen und unbewusste Lernprozesse ablaufen, die zur
die darin erhobenen Daten können neue For- Aktivierung von Hirnstrukturen führen, die an
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1.3. Beziehung zwischen Psychologie und Hirnforschung 31
Bemerkenswerte Befunde hat die Neuro- Seit einigen Jahren arbeiten verschiedene
psychologie hinsichtlich der Plastizität des Ge- Forschungsgruppen an Methoden, die einen
hirns beigetragen. Noch vor ca. 20 Jahren war direkten Dialog zwischen Mensch und Ma-
es praktisch undenkbar, dass das erwachsene schine ermöglichen sollen. Dieser Dialog
menschliche Gehirn durch erfahrungsbedingte zwischen Gehirn und Computer wird mittels
Einflüsse strukturell bzw. anatomisch modifi- spezifischer Techniken realisiert (Brain-
ziert werden könnte. Mit den neuen bildgeben- Computer-Interface-Techniken, BCI), die
den Verfahren wurde jedoch gezeigt, dass ko- es ermöglichen, dass der Nutzer seine eigene
gnitive und motorische Lernerfahrungen nicht Hirnaktivität manipuliert oder mit seiner
nur zu Verhaltensänderungen, sondern auch zu Hirnaktivität externe Maschinen steuert. Das
markanten strukturellen (anatomischen) Ver- Funktionsprinzip beruht darauf, dass be-
änderungen des Gehirns führen. Professionelle stimmte Gedanken mit spezifischen Hirn-
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Musiker zeichnen sich z. B. durch vergrößerte aktivitätsmustern gekoppelt sind. Sofern der
sensorische und motorische Areale aus, wobei Rechner diese Aktivitätsmuster korrekt er-
das Ausmaß der strukturellen Veränderung mit kennt, kann er sie in spezifische Signale um-
der Dauer und Intensität des Musiktrainings wandeln. Bislang konnte dies insbesondere im
zusammenhängt. Das posteriore Hippocam- Zusammenhang mit Hirnaktivitäten während
pusareal, das in räumliches Lernen eingebun- der Bewegungsvorstellung realisiert werden.
den ist, ist bei Londoner Taxifahrern deutlich Wenn eine Versuchsperson z. B. daran denkt,
größer, wobei die Größe mit der Dauer des Ta- die rechte Hand zu einer Faust zu ballen (ohne
xifahrens korreliert (je länger das Training, es auch wirklich zu tun), ist diese Vorstellung
desto mehr graue Substanz im Hippocampus). mit einer spezifischen Hirnaktivität verbun-
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch den. Eine andere Bewegungsvorstellung (z. B.
ein neuerer Befund, wonach dreimonatiges Heben des Beins) führt ebenfalls zu einem be-
Jongliertraining zu einer Zunahme der Dichte stimmten Hirnaktivierungsmuster. Diese un-
der grauen Substanz im Bewegungswahrneh- terschiedlichen Hirnaktivierungsmuster wer-
mungsareal MT führt. den vom Computer erkannt und in Steuersig-
Neben diesen Erkenntnissen zu erfahrungs- nale umgewandelt, die für die Kontrolle von
bedingten Hirnveränderungen sind neue Ein- externen Maschinen oder künstlichen Gelen-
blicke in die Reifung des menschlichen Ge- ken genutzt werden können.
hirns gewonnen worden. So konnte gezeigt Diese Technologie eröffnet neue Möglich-
werden, dass sich insbesondere das Stirnhirn keiten der neurologischen Rehabilitation, wie
(Frontalkortex), in dem wichtige Kontrollfunk- in einer Publikation gezeigt werden konnte:
tionen (sogenannte exekutive Funktionen) lo- Die Wissenschaftler um den Neurophysiolo-
kalisiert sind, in den ersten zwei Lebensdeka- gen John Donoghue haben einem quer-
den massiv anatomisch verändert. Dies ist schnittsgelähmten Patienten 96 Minielektro-
umso bemerkenswerter, als auch bekannt ist, den in das Handmotorareal eingesetzt, mit
dass gerade pubertierende Jugendliche enorme denen sie die Aktivität der Nervenzellen in
Probleme haben, ihre exekutiven Funktionen diesem Hirngebiet kontinuierlich registrierten
zu beherrschen. Ihnen gelingt es vergleichs- (Hochberg et al., 2006). Der Patient lernte das
weise schlecht, sich zu disziplinieren, zu moti- Aktivitätsmuster dieses Hirngebiets durch
vieren, sich in andere hineinzuversetzen oder seine Gedanken zu kontrollieren und unter-
ihr Handeln zu planen, was möglicherweise schiedliche Signalmuster zu generieren. Ein
mit dem noch nicht voll ausgereiften Stirnhirn Computer erkannte diese Signale und wan-
zusammenhängt. delte sie in Steuersignale um. Mit dieser Tech-
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32 1. Kognitive Neurowissenschaft – Was ist das?
nik lernte der Patient, anhand seiner eigenen schiedene Forschungsebenen, die hinsicht-
gedanklichen Tätigkeit einen Computer zu lich genutzter Methoden, Theorien und
bedienen, seine E-Mails abzurufen, einen Ro- Interpretationsstrategien höchst unterschied-
boterarm oder ein künstliches Gelenk zu be- lich sind, müssen miteinander verbunden
tätigen. Andere Versuche bestätigen, dass werden (Abb. 1-7). Einige dieser Forschungs-
nicht zwangsläufig Elektroden in das Gehirn ebenen sind uns noch verborgen, während
implantiert werden müssen, sondern die elek- andere bereits gut bekannt sind. Diese Ebe-
trische Hirnaktivität mittels Elektroenzepha- nen zu einem Bild zusammenzutragen, wird
logramm an der Schädeloberfläche kontinuier- die zukünftige Aufgabe der kognitiven Neuro-
lich gemessen werden kann und bestimmte wissenschaften sein.
Aktivierungsmuster vom Computer erkannt
werden können. Auch so konnten Patienten
1.4. Zusammenfassung
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1.6. Weiterführende Literatur 33
könne. Er ist jedoch ein wissenschaftlicher sind. Beispiele sind unbewusste Wahrneh-
Irrtum. mungsprozesse sowie Illusionen und Hallu-
• In der Folge haben Neurologen wie Paul zinationen. Darüber hinaus eröffnen sich
Broca und Carl Wernicke anhand von Läsi- neue Forschungsbereiche (z. B. Hirnplas-
onsstudien wichtige Beiträge zur Lokalisa- tizität und Hirnreifung und deren Einflüsse
tion von Hirnfunktionen erbracht (Lokali- auf das Verhalten).
sationshypothesen).
• Karl Kleist hat nach dem Ersten Weltkrieg
„Gehirnkarten“ auf der Basis seiner Unter- 1.5. Fragen und Aufgaben
suchungen von Schussverletzungen erstellt.
• Der Neurologe und Neuropsychologe Kurt • Was wird unter kognitiver Neurowissen-
Goldstein betonte den Netzwerkcharak- schaft verstanden und wie lässt sie sich von
anderen Disziplinen abgrenzen?
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34 1. Kognitive Neurowissenschaft – Was ist das?
Hagner, M. (2006). Der Geist bei der Arbeit. His- Prigatano,G. P. (2004). Zu den historischen
torische Untersuchungen zur Hirnforschung. Wurzeln der Prinzipien neuropsychologischer
Göttingen: Wallstein. Rehabilitation. In G. P. Prigatano (Ed.), Neuro-
Hagner, M. (2007). Geniale Gehirne. Zur Ge- psychologische Rehabilitation. Berlin, Heidel-
schichte der Elitegehirnforschung. München: berg, New York: Springer-Verlag.
Dtv. Rösler, F. (2011). Psychophysiologie der Kogni-
Janich, P. (2009). Kein neues Menschenbild: Zur tion: Eine Einführung in die kognitive Neuro-
Sprache der Hirnforschung. Frankfurt am wissenschaft. Heidelberg: Spektrum Aka-
Main: Suhrkamp. demischer Verlag.
Meyer, H., Rösler, F., Roth, G., Scheich, H., Schleim, S. (2010). Die Neurogesellschaft: Wie
Singer, W., Elger, C. E. et al. (2004). Das Mani- die Hirnforschung Recht und Moral heraus-
fest. Gehirn und Geist, 6, 30–32. fordert. Hannover: Heise.
Nunn, F. F. (1996) Ancient Egyptian Medicine.
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2.1. Orientierung im Gehirn 37
Menschen zu einer Abknickung des Neural- „nach unten, zur Hirnbasis gelegen“ bedeutet.
rohrs, wodurch die Achse des Rückenmarks Insofern sind bei der Forel-Achse die Be-
annähernd senkrecht (Meynert-Achse) ver- griffe basal, inferior und ventral gleichzusetzen
läuft, die des Vorderhirns horizontal (Forel- (Abb. 2-2; Tab. 2-1).
Achse; Abb. 2-1). An diesen Achsen orientieren
sich wesentliche Lagebezeichnungen für die
Hirnstrukturen. Orientiert man sich an der
Forel-Achse, die horizontal durch das Gehirn Meynert-Achse
verläuft, dann wird oben als superior und unten
(also Richtung Hirnstamm) als inferior be-
zeichnet. Für diese Achse gilt aufgrund der Ab-
knickung der Achsen, dass inferior = ventral
und superior = dorsal ist. Für die Orientierung
nach vorne entlang der Forel-Achse gilt ante-
rior = oral und posterior = caudal. Für den Hirn-
stamm gilt die Meynert-Achse, somit ist im
Hirnstamm inferior = kaudal, superior = oral,
Forel-Achse
posterior = dorsal und anterior = ventral.
Die Sagittalebene erstreckt sich in der
Körperlängsachse vom Rücken zum Bauch
(Abb. 2-2, Abb. 2-3). Man schaut dabei seitlich
auf oder in den Körper. Sagittal bedeutet ent-
sprechend „von vorne nach hinten verlaufend“.
Sagittalebenen können von lateral nach medial
„bewegt“ werden. Der Sagittalschnitt, der ge-
nau in der Mitte liegt, ist ein Medianschnitt.
Als Frontalebene (auch Koronalebene)
wird die bei einer Vorderansicht des Menschen
sichtbare Ebene bezeichnet (Abb. 2-2). Die
Frontalebene teilt den Körper in vorn und hin-
ten. Bewegungen in dieser Vorn-hinten-Ebene Abbildung 2-1: Schematische Darstellung der
erfolgen also von vorne nach hinten. In diesem Meynert- und der Forel-Achse. (Nachgezeichnet
Zusammenhang wird von anterior (vorn) und nach Abbildung B auf S. 5 in Kahle et al., 1986)
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38 2. Das menschliche Gehirn: Eine kurze Einführung
Schnittebenen
r
rio
ste
po
r anterior posterior
terio
an
later
al m
edial
later
al
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inferior
B)
Sagittalschnitt Frontalschnitt Horizontalschnitt obliquer Schnitt
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2.1. Orientierung im Gehirn 39
Tabelle 2-1: Zusammenfassung der Orientierungsebenen im Gehirn und die dazugehörigen ergänzen-
den Begriffe.
posterior hinten
prä- vor
post- hinter
oral mundwärts, schnabelwärts
rostral beide Lagerungen werden oft gleichsinnig benutzt
kaudal hinten, schwanzwärts
Horizontalebene
superior oben
inferior unten
dorsal oben
vor allem für die Forel-Achse!
ventral unten
vor allem für die Forel-Achse!
kaudal unten
vor allem für die Meynert-Achse!
basal nach unten, zur Hirnbasis gelegen
vor allem für die Forel-Achse!
supra- über, oberhalb von
infra- unter, unterhalb von
sub- unter
hypo- unter
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40 2. Das menschliche Gehirn: Eine kurze Einführung
Die oblique Schnittebene bezeichnet eine sonders groß sind und sich in den Hemisphä-
leicht aus der Horizontalebene abgewinkelte ren befinden, der dritte Ventrikel zwischen
Schichtführung. den beiden Thalami und der vierte Ventrikel,
der am hinteren Teil des Hirnstamms liegt
(Abb. 2-5).
2.2. Grobe Einteilung des Die graue Substanz macht ca. 55 %, die
menschlichen Gehirns weiße Substanz ca. 27 % und die Zerebro-
spinalflüssigkeit 18 % der gesamten Hirn-
2.2.1. Graue Substanz, weiße masse aus.
Substanz und das Ventrikel- Die weiße Substanz besteht aus Axonen,
system die sich zu größeren Fasersystemen, auch Fa-
serbündeln, zusammenschließen und ver-
In Gehirnpräparaten Verstorbener wie auch
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graue Substanz
Corpus
callosum
Seitenventrikel
Sulcus
lateralis
Temporallappen
Abbildung 2-4: Graue und weiße Substanz. Links ist die Position des Frontalschnitts angegeben. Rechts
erkennt man den Frontalschnitt. Die graue Substanz ist im Frontalschnitt grau dargestellt. (Nach-
gezeichnet nach der Abbildung 2-8 aus Kolb & Whishaw, 2001)
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2.2. Grobe Einteilung des menschlichen Gehirns 41
Seitenventrikel
3. Ventrikel
Aquäductus
cerebri
4. Ventrikel
Foramen
interventrikulare
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Abbildung 2-5: Das Ventrikelsystem ist in das Gehirn hinein platziert. Links und rechts neben dem Gehirn
ist das Ventrikelsystem von vorne (links) und von der Seite (rechts) erkennbar.
Striae
terminatus
Fasciculus
longitudinalis
inferior
Cingulum
Corpus callosum
Fibrae arcuatae Fasciculus
cerebri longitudinalis Fasciculus
superior longitudinalis
superior
Fasciculus
occipitalis
verticalis
Fasciculus Commissura
Fasciculus
Fasciculus frontotemporalis longitudinalis anterior
uncinatus
et Fasciculus arcuatus inferior
Abbildung 2-6: Assoziationsbahnen, Kommissuren und das Corpus callosum. (Nachgezeichnet nach der
Abbildung 8-15 aus Duus, 2001)
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42 2. Das menschliche Gehirn: Eine kurze Einführung
rostral
Corpus callosum
linke rechte
Hemisphäre Hemisphäre
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dorsal
Abbildung 2-7: Das Corpus callosum. Links erkennt man schematisch die Fasern des Corpus callosum;
rechts sind die beiden Hemisphären und das sie verbindende Corpus callosum dargestellt.
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2.2. Grobe Einteilung des menschlichen Gehirns 43
Der Kortex ist ca. 3 mm dick und besteht • Gyri orbitalis
aus mehreren Schichten, die jedoch nur in ent- • Gyrus rectus.
sprechenden Präparaten unter dem Mikroskop
zu erkennen sind. In den unterschiedlichen Der Gyrus praecentralis liegt vor dem Sulcus
Kortexschichten finden sich verschiedene centralis und verläuft parallel zu ihm. Vor dem
Gruppierungen von Nervenzellen und Axo- Gyrus praecentralis verlaufen die drei großen
nen. Der größte Teil des Kortex, der auch als Gyri des Frontallappens: Gyrus frontalis supe-
Neokortex bezeichnet wird, besteht aus sechs rior, Gyrus frontalis medius, Gyrus frontalis
kortikalen Schichten. Weitere kortikale Regio- inferior. Der Gyrus frontalis inferior wird wei-
nen sind der Mesokortex (mit dem Gyrus cin- ter in (von anterior nach posterior) pars orbita-
guli, dem Gyrus parahippocampalis und der lis, pars triangularis und pars opercularis un-
Insel) und der Allokortex (zu dem der Hippo- terteilt. Der untere Teil des Gyrus frontalis
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campus, das Subiculum und der Gyrus denta- inferior, der wie ein „Deckel“ die dahinter lie-
tus gehören). Diese Hirnbereiche weisen an- gende Insel abdeckt, wird auch als „Opercu-
dere Schichtstrukturen auf als der Neokortex. lum“ (Deckelchen) bezeichnet. Dieses Oper-
Die laterale Oberfläche des Kortex beider culum zieht sich vom Frontalcortex bis zum
Hemisphären ist in vier Lobi (Singular: Lobus Parietallappen. Das vordere Operculum wird
= Lappen) unterteilt: Frontal-, Parietal-, Tem- auch als Operculum frontale bezeichnet. Das
poral- und der Okzipitallappen. Die Lobi sind hintere, in den Parietallappen ragende, wird
anhand anatomischer Landmarken zu unter- als Operculum frontoparietale bezeichnet.
scheiden. In der Lateralansicht des Temporallap-
In der Lateralansicht kann der Frontallap- pens finden sich folgende Gyri (von superior
pen vom Temporallappen anhand zweier Fur- nach inferior angeordnet):
chen unterschieden werden (Abb. 2-8). Vor • Gyrus temporalis superior
dem Sulcus centralis und oberhalb der Syl • Gyrus temporalis medius
vischen Fissur (auch Sulcus Lateralis genannt) • Gyrus temporalis inferior.
liegt der Frontallappen; unterhalb der Syl-
In der Lateralansicht des Parietallappens
vischen Fissur befindet sich der Temporal
können folgende Gyri unterschieden werden:
lappen. Der Parietallappen liegt hinter dem
• Gyrus postcentralis
Sulcus centralis. Er ist in der Lateralansicht
• Lobulus parietalis superior
vom Okzipitallappen nicht eindeutig anhand
• Lobulus parietalis inferior
anatomischer Landmarken abzugrenzen. In
• Gyrus supramarginalis
der Medianansicht können diese beiden Lobi
jedoch anhand des Sulcus parietooccipitalis
• Gyrus angularis.
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44 2. Das menschliche Gehirn: Eine kurze Einführung
Sulcus centralis
Frontallappen
Parietallappen
Lateralansicht
Sulcus centralis
Frontallappen
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Parietallappen
Medianansicht
Okzipitallappen
Temporallappen
Kleinhirn Hirnstamm
Sulcus centralis
Okzipitallappen
Dorsalansicht
Frontallappen
Parietallappen
Kleinhirn Hirnnerven
Hirnstamm
Basalansicht
Frontallappen
Temporallappen
Abbildung 2-8: Einteilung des Gehirns in Lobi. Oben ist die Lateralansicht dargestellt, darunter die Me-
dianansicht, dann die Dorsalansicht; ganz unten die Basalansicht. (Diese Abbildung ist der Abbildung 2-6
aus Kolb & Whishaw, 2001, nachempfunden. Die schematischen Hirnbilder sind neu gezeichnet worden.)
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2.2. Grobe Einteilung des menschlichen Gehirns 45
lis
sp
lis
tra
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or
tra
en
ri Lo eta
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pe lis
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lus su
su
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s
ru r
Gy perio
oralis su
s temp
Gyru
ius
med
mp oralis
Operculum Gyrus te
ior
infer
frontale
m poralis
s te
Gyru
Operculum
frontoparietale Incisura praeoccipitalis
Abbildung 2-9: Lateralansicht der linken Gehirnhemisphäre. Eingetragen sind die wesentlichen Gyri und
Sulci, die in der Lateralansicht erkennbar sind. (Nachgezeichnet nach Abbildung 8-9 aus Duus, 2001)
erkennen. Etwas dorsal zum Gyrus rectus un- palis, weiter ventral der Gyrus occipitotempo-
terhalb des Rostrums des Corpus callosum ralis medialis und der Gyrus occipitotempo-
liegt die Area subcallosa, die u. a. für Geruchs- ralis lateralis zu erkennen. Am posterioren
funktionen wichtig ist. Dorsal findet sich der Ende des Gyrus parahippocampalis befindet
Gyrus paracentralis, der so bezeichnet wird, sich der Gyrus lingualis. Anterior am Gyrus
weil er um den Sulcus centralis herum liegt. parahippocampalis leicht dorsal findet sich
Ferner ist ein kleiner Teil des Gyrus praecen- der Uncus.
tralis zu erkennen. Am ventralen Boden liegt In der Mitte liegt auch der anteriore Teil des
der Gyrus rectus, der in der Basalansicht des Gyrus cinguli, der gelegentlich abgekürzt als
Gehirns besser zu erkennen ist. Im Parietal- Cingulum bezeichnet wird. Das Cingulum
lappen ist der Praekuneus zu erkennen. Nach umgibt das Corpus callosum bogenartig. Der
ventral wird dieser durch den Sulcus parie- vordere Teil des Corpus callosum wird als
tooccipitalis vom Cuneus getrennt, der wiede- Rostrum und der geknickte Teil als Genu be-
rum nach unten vom Sulcus calcarinus be- zeichnet. Hinter dem Genu liegt der Truncus
grenzt wird. Im Sulcus calcarinus liegt der (Stamm) des Corpus callosum. Das posteriore
primäre visuelle Kortex. In der Medianansicht Ende des Corpus callosum wird als Splenium
sind darüber hinaus der Gyrus parahippocam- bezeichnet.
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46 2. Das menschliche Gehirn: Eine kurze Einführung
Gyrus praecentralis
Sulcus cinguli Sulcus centralis
Sulcus Sulcus
corporis callosi parietooccipitalis
s
d iali Lob
me u
par lus
lis
nta ace
fro ntra
us lis
Gyr
Corp
us ca
llosu
m
Genu tum
Sep cidum
p ll u e-
Ros
trum
e Spl i
m los
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niu s cal
ri
po
cor
Cuneus
Abbildung 2-10: Medianansicht des Gehirns. Eingetragen sind die wesentlichen Gyri und Sulci, die in
der Medianansicht erkennbar sind. (Nachgezeichnet nach Abbildung 8-5 aus Duus, 2001)
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2.2. Grobe Einteilung des menschlichen Gehirns 47
Fissura
Gyrus rectus
longitudinalis
cerebri
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Gyri orbitales
Sulci orbitales
Sulcus calcarinius
Abbildung 2-11: Basalansicht des Gehirns. Eingetragen sind die wesentlichen Gyri und Sulci, die in der
Basalansicht erkennbar sind. (Nachgezeichnet nach Abbildung 8-8 aus Duus, 2001)
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48 2. Das menschliche Gehirn: Eine kurze Einführung
Struktur, in die sich medial der Globus pallidus nisse (angezeigt durch Emotionen) mit der
einfügt. Zwischen dem Nucleus caudatus und gegenwärtigen, vergangenen und zukünftigen
dem Putamen befinden sich Nervenzellbrü- Umwelt in Einklang zu bringen. Zum limbi-
cken, die diesem Komplex ein streifenförmi- schen System, in dem einige Strukturen kreis-
ges Aussehen geben. förmig angeordnet sind, gehören folgende
Hirngebiete (Abb. 2-14):
Putamen
Schweifkörper
m
gu l u
C in
Fornix
Riechkolben
Tractus olfactorius
Kortex
Mamilliarkörper
Amygdala Amygdala
Hippocampus
Hippocampus
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2.2. Grobe Einteilung des menschlichen Gehirns 49
präfrontaler Assoziationskortex (hier be- Das Zwischenhirn setzt sich aus zwei Haupt-
sonders der Orbitofrontalkortex und der strukturen, dem Thalamus und dem Hypo-
ventromediale Präfrontalkortex). thalamus, zusammen (Abb. 2-15).
Der Thalamus besteht aus zwei miteinan-
Die mesolimbischen Bahnen bestehen aus der verbundenen eiförmigen Strukturen, die
dopaminergen Faserprojektionen (Neurotrans- beidseitig in der Mitte des Gehirns liegen. Er
Hypothalamus und
Hirnanhangdrüse
Nucleus dorsomedialis
(Verbindung zum
Frontalkortex)
Corpus geniculatum
laterale
Corpus geniculatum
mediale
Sehnerv
Auditorischer Nerv
Hirnanhangdrüse
Abbildung 2-15: Links ist der Hypothalamus, rechts der Thalamus dargestellt. Beim Hypothalamus
erkennt man auch die Hirnanhangdrüse. Beim Thalamus sind der Nucleus dorsomedialis, das Corpus
geniculatum laterale und das Corpus geniculatum mediale ebenfalls dargestellt. (Nachgezeichnet nach
Abbildung 2-19 aus Kolb & Whishaw, 2001)
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50 2. Das menschliche Gehirn: Eine kurze Einführung
ist die wichtigste Umschaltstation für die sen- Hirngebiet können zu schwerwiegenden Ess-
sorischen Eingänge aus dem Körper und ver- und Trinkstörungen führen, aber auch Wachs-
bindet das Sensorium mit dem Kortex. Alle tumsstörungen und Beeinträchtigungen der
sensorischen Informationen (außer dem Ge- Sexualfunktionen hervorrufen.
ruch) werden im Thalamus umgeschaltet
(„Der Thalamus heißt Thalamus, weil alles
durch den Thalamus muss“). Vom Thalamus 2.2.7. Hirnstamm
laufen Projektionen zum Kortex und zu den
Basalganglien. Am hinteren unteren Ende des Der Hirnstamm besteht aus vielen kleineren
Thalamus befinden sich die Kniehöcker (Cor- Strukturen. Unterschieden wird zunächst das
pus geniculatum laterale und mediale). Das Mittelhirn (Mesencephalon) vom Rautenhirn
Corpus geniculatum laterale (CGL) ist die tha- (Rhombencephalon) und Nachhirn (Medulla
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lamische Umschaltstation des Sehnervs, wäh- oblongata oder Myelencephalon). Das Rauten-
rend das Corpus geniculatum mediale (CGM) hirn besteht aus der Brücke (Pons), dem Klein-
die Umschaltstation für den Hörnerv ist. hirn (Cerebellum) und dem Myelencephalon
Der Hypothalamus liegt unterhalb des (auch verlängertes Rückenmark genannt).
Thalamus und besteht aus Kerngebieten, die Pons und Cerebellum werden auch als Me-
für verschiedene Funktionen spezialisiert tencephalon zusammengefasst.
sind. Typische Funktionen, in deren Kontrolle Im Mittelhirn befindet sich posterior
der Hypothalamus eingebunden ist, sind die die Vierhügelplatte, auch Tectum genannt
Regulation der Körpertemperatur, des Hun- (Abb. 2-16), die aus vier kleinen Hügeln besteht,
gers und Durstes, des Sexualverhaltens sowie die Colliculi genannt werden. Das obere Pär-
endokriner Funktionen. Tumore in diesem chen wird als Colliculi superior, das untere als
Tectum
Colliculi superior
(visuell)
Colliculi inferior
(auditorisch)
Tegmentum
Kleinhirn
Abbildung 2-16: Darstellung des Mittelhirns mit der Vierhügelplatte (Tectum) und dem Tegmentum. An-
sicht von hinten, sodass das Kleinhirn gut zu erkennen ist. Über dem Mittelhirn befindet sich beidseitig
der Thalamus. (Nachgezeichnet nach Abbildung 2-18 aus Kolb & Whishaw, 2001)
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2.2. Grobe Einteilung des menschlichen Gehirns 51
Colliculi inferior bezeichnet. Die Colliculi su- tion der Bewegungsdurchführung im Vorder-
perior sind wichtige Umschaltstationen für das grund. Charakteristisch bei Läsionen der
Sehsystem, während die Colliculi inferior Um- medianen Zone ist ein unsicherer, wankender
schaltstationen für das auditorische System Stand und Gang (Stand- und Gangapraxie)
darstellen. Colliculi superior und inferior sind wie beim Betrunkenen. Bei Läsionen interme-
Bestandteile evolutionär alter Informations- diärer oder paravermaler Kleinhirnbereiche
pfade, die alternative Informationswege zum sind mangelnde Kontrolle und Koordination
Kortex bzw. zu den primären visuellen und au- der Bewegungsdurchführung zu beobachten.
ditorischen Kortexgebieten darstellen, die für Diese Auffälligkeiten äußern sich durch Stö-
schnelle Anpassungsprozesse wichtig sind (z. B. rungen der Zielmotorik (Hypermetrie und
für Orientierungsreaktionen). Diese beiden Dysmetrie: über das Ziel hinaus- bzw. am Ziel
Kerngebiete sind auch in die Kontrolle von Auf- vorbeischießende Bewegungen), einen In-
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52 2. Das menschliche Gehirn: Eine kurze Einführung
fläche treten (Kap. 9). Der Bereich zwischen sich von der Medulla oblongata bis zum Mittel-
dem Kleinhirn und dem Unterrand des ventral hirn erstreckt: die Formatio reticularis (von
davorliegenden Pons wird als Kleinhirnbrü- lateinisch formatio = „Gestaltung“, „Bildung“
ckenwinkel bezeichnet. Dort treten nach und reticularis = „netzartig“); Abb. 2-17. Sie
schräg ventral die beiden Hirnnerven Nervus setzt sich nach vorn in das mediale Vorderhirn-
facialis und Nervus vestibulocochlearis aus. bündel fort. Neben der diffusen Anordnung
Im Kleinhirnbrückenwinkel können Kleinhirn- der Neurone können abgrenzbare Kerngrup-
brückenwinkeltumore (Akustikusneurinome) pen unterschieden werden: die Raphékerne
entstehen. An der Seite der Brücke tritt beid- und der Locus coeruleus. Die aus der For-
seitig der V. Hirnnerv, der Trigeminus, aus. matio reticularis aufsteigenden Afferenzen
Überwiegend im Pons lokalisiert ist ein aus- haben sensorische, die absteigenden Efferen-
gedehntes, diffuses Neuronennetzwerk, das zen motorische Funktionen. Die wichtigste
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Zwischenhirn
Mittelhirn
Hirnstamm
Pons
Kleinhirn
Formatio reticularis
Medula oblangata
Abbildung 2-17: Der Hirnstamm und die Formatio reticularis. Ansicht von vorne auf den Hirnstamm. Die
Formatio reticularis befindet sich im Inneren des Hirnstamms. (Nachgezeichnet nach Abbildung 2-16
aus Kolb & Whishaw, 2001)
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2.2. Grobe Einteilung des menschlichen Gehirns 53
Funktion dieses Netzwerks ist jedoch die un- den sind (z. B. Atmung, Schlucken, Herzfre-
spezifische Aktivitätskontrolle des Gehirns, quenzkontrolle und Schlaf-wach-Rhythmus).
die durch ein in die Formatio reticularis ein-
gebettetes System, das aufsteigende retiku-
läre aktivierende System (ARAS), ausgeübt 2.2.8. Hirnnerven
wird. Über dieses Netzwerk werden der Thala-
mus und der Kortex aktiviert und funktional Als Hirnnerven werden die Nerven bezeichnet,
die Aufmerksamkeit, Wachheit und das Be- die aus Hirnnervenkernen im Gehirn entsprin-
wusstsein moduliert. gen (Tab. 2-2). Die meisten Hirnnervenkerne
Die Medulla oblongata (auch verlängertes liegen im Hirnstamm. Andere Nerven ent-
Rückenmark genannt) liegt unter der Brücke springen aus dem Rückenmark. Eine Aus-
und geht in das Rückenmark über. Diese Hirn- nahme bildet der Nervus accessorius (s. u.): Er
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struktur beinhaltet Nervenzellen, die in die gilt als Hirnnerv, obwohl er z. T. dem Rücken-
Regulation von vitalen Funktionen eingebun- mark entspringt. Die ersten beiden Hirnnerven
3 4
1
6
12 3 2
11 4
7
8 5
5
6
7 8
9
10
5
10
12
8 11
Abbildung 2-18: Die Lage der Hirnnerven ist links im Bild bezogen auf die Basalansicht des Gehirns dar-
gestellt. Im rechten Bildteil ist nur ein Ausschnitt des Hirnstamms (von dorsal) abgebildet. Die einzelnen
Hirnnerven sind mit ihren zugehörigen Nummern versehen. (Nachgezeichnet nach Abbildung 2-14 aus
Kolb & Whishaw, 2001)
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54 2. Das menschliche Gehirn: Eine kurze Einführung
(Riech- und Sehnerv) sind keine peripheren rische, somatosensible und vegetative Fasern.
Nerven, sondern Teile des Gehirns, sie werden Die Hirnnerven versorgen den Kopfbereich,
aufgrund der traditionellen Sicht dennoch wei- den Hals und über parasympathische Fasern
terhin als Hirnnerven bezeichnet. Ein Hirnnerv auch die Organe im Rumpfbereich.
kann alle Faserqualitäten führen: somatomoto-
II Nervus opticus (Sehnerv) leitet die Signale der Netzhaut zum Gehirn
III Nervus oculomotorius steuert Augen- und Lidbewegung sowie die Regenbogen-
(Augenbewegungsnerv) haut (Iris)
IV Nervus trochlearis steuert den schrägen oberen Augenmuskel
(Augenrollnerv)
V Nervus trigeminus leitet sensible Informationen aus dem ganzen Gesichts-
(Drillingsnerv) bereich zum Gehirn und innerviert die Kaumuskulatur;
besteht aus:
1. Augennerv
2. Oberkiefernerv
3. Unterkiefernerv
VI Nervus abducens innerviert den lateralen Augenmuskel
(Augenabziehnerv)
VII Nervus facialis (Gesichtsnerv) • mimische Muskulatur
• Geschmackswahrnehmung in den vorderen zwei
Dritteln der Zunge
• Innervation aller Kopfdrüsen außer der Ohrspeichel-
drüse
VIII Nervus vestibulocochlearis (Hör- Weiterleitung der Informationen aus der Gehörschnecke
und Gleichgewichtsnerv) und dem Gleichgewichtsorgan
IX Nervus glossopharyngeus • Weiterleitung von Signalen aus dem hinteren Zungen-
(Zungen-Rachen-Nerv) abschnitt zum Gehirn
• Innervation der Muskeln des Rachens
(Kontrolle des Schluckaktes)
• innerviert auch die Ohrspeicheldrüse
X Nervus vagus • Hauptnerv des Parasympathikus
(„umherschweifender“ Nerv) • an der Regulation der Tätigkeit vieler innerer Organe
beteiligt
XI Nervus accessorius • versorgt motorisch die Nackenmuskulatur (Musculus
(„zusätzlicher“ Nerv) trapezius, Musculus sternocleidomastoideus)
• entspringt aus dem Rückenmark, wird aber zu den
Hirnnerven gezählt
XII Nervus hypoglossus kontrolliert die Zungenbewegung
(Unterzungennerv)
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2.4. Zusammenfassung 55
ter encephali (Spinnhaut). Eng um den Kortex weise an den Schnittebenen und an den
schmiegt sich die Pia mater. Zwischen der Achsen orientieren. Das Vorderende der
Arachnoidea und der Pia mater befindet sich Forel- und der Meynert-Achse wird als oral
der Subarachnoidalraum, in dem zahlreiche oder rostral (mundwärts) und das Hinter-
Blutgefäße verlaufen. Ausgefüllt ist dieser ende als kaudal (schwanzwärts) bezeichnet.
Raum mit Rückenmarksflüssigkeit (Liquor Damit gelten für das Vorderhirn anterior
cerebrospinalis, Zerebrospinalflüssigkeit), er = oral, posterior = kaudal, inferior = ventral
wird auch als äußerer Liquorraum bezeichnet. und posterior = dorsal. Für den Hirnstamm
gilt die Meynert-Achse. Somit ist im Hirn-
stamm inferior = kaudal, superior = oral,
posterior = dorsal und anterior = ventral.
• Die graue Substanz umfasst im Wesentli-
chen die Zellkörper der Nervenzellen, wäh-
Schädel
Dura mater
Meningen
Arachnoidea
Pia mater
Subarachnoidal-
raum (gefüllt mit
CSF)
Abbildung 2-19: Dargestellt sind die drei Hirnhäute Dura mater, Arachnoidea und die Pia mater. Zwi-
schen Pia mater und Arachnoidea befindet sich der Subarachnoidalraum, der die Zerebrospinalflüssig-
keit (CSF) enthält. (Nachgezeichnet nach der Abbildung 2-5 aus Kolb & Whishaw, 2001)
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56 2. Das menschliche Gehirn: Eine kurze Einführung
rend die weiße Substanz aus Axonen und • Das limbische System besteht aus der
Gliazellen besteht. Amygdala, dem Hippocampus, der Fornix,
• Zwei große Kabelsysteme werden unter- dem Cingulum (Gyrus cinguli), den Cor-
schieden: Die Assoziationsfasern verbinden pora mamillare, dem Septum und dem Bul-
Hirngebiete innerhalb einer Hemisphäre. bus olfactorius.
Die Kommissuren verbinden Hirngebiete • Zum mesolimbischen System werden
zwischen den beiden Hemisphären. Die Nucleus accumbens und präfrontaler Asso-
größte Kommissur ist das Corpus callosum, ziationskortex (hier besonders der Orbito-
das ca. 2–3 % aller kortikalen Nervenzellen frontalkortex und der ventromediale Prä-
beider Hemisphären miteinander verbin- frontalkortex) gezählt.
det. Als kleinere Kommissuren sind die • Das Zwischenhirn besteht aus dem Thala-
Commissura anterior und die Habenulae mus und dem Hypothalamus.
•
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2.6. Weiterführende Literatur 57
• Beschreiben Sie die Forel- und die Meynert- • Welche Hirngebiete gehören zum limbi-
Achse und die Konsequenzen für die Ori- schen System?
entierung im Gehirn. • Beschreiben Sie das Zwischenhirn und er-
• Erläutern Sie, was graue und weiße Sub- läutern Sie, welche Gebiete dazugehören.
stanz ist. • Was gehört zum Hirnstamm?
• Was sind Kommissuren und Assoziations- • Warum ist die Formatio reticularis so inte-
fasern? ressant?
• Wie wird das Gehirn eingeteilt? • Wie viele Hirnnerven werden unterschie-
• Welche Lobi können unterschieden wer- den? Welche Funktionen haben die einzel-
den? Erklären Sie die wesentlichen Land- nen Hirnnerven?
marken zur Einteilung.
• Beschreiben Sie die wesentlichen Gyri und
2.6. Weiterführende Literatur
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3.2. Enzephalisationsquotient 61
Tabelle 3-1: Geschätzte Volumina der Gehirne von Hominiden. Angegeben ist auch der Zeitraum, in dem
diese Hominiden gelebt haben.
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62 3. Nervenzellen, Module, Kabel und Netzwerke
relativ kleiner wird.2 Das bedeutet, dass kleine onsfaktor für die Schätzung des Hirngewichts
Tiere mit einem geringen Körpergewicht rela- aufgrund des Körpergewichts genutzt. Der
tiv große Gehirne haben. Große Tiere mit ei- Cephalisationsfaktor (C) kann für jede Art
nem hohen Körpergewicht haben dagegen ein berechnet und auch für die Berechnung des
relativ kleines Gehirn mit einem niedrigen Ge- EQ verwendet werden. Der Cephalisationsfak-
hirngewicht. Diese mathematische Beziehung tor einer Art wird mit dem einer repräsentati-
ist anhand eines Diagramms sehr gut zu er- ven (meist „durchschnittlichen“) Art für die
kennen, in dem Gehirngewichte und Körper- Vergleichsstichprobe verglichen. Wenn bei-
gewichte verschiedener Spezies dargestellt spielsweise der Cephalisationsfaktor für eine
sind (Abb. 3-1). Das Gehirngewicht (in g) wird bestimmte Säugetierart berechnet werden
auf der Ordinate und das Körpergewicht (in g) soll, muss demzufolge der Cephalisationsfak-
auf der Abszisse dargestellt. Diese Punktwolke tor (C) des interessierenden Säugers mit dem
kann mathematisch mittels einer exponentiel- Cephalisationsfaktor (C’) des „durchschnitt-
len Funktion beschrieben werden, sodass das lichen“ Säugers verglichen werden:
Gehirngewicht (G) anhand des Körpergewichts
(5) EQ = C/C’
(K) vorhergesagt werden kann. Die Arbeiten
von Jerison und anderen Wissenschaftlern Für Säuger wird in diesem Zusammenhang
haben ergeben, dass diese Funktion in der meist auf den Cephalisationsfaktor der Katze
Regel einen Exponenten von 2/3 (also 0.666) zurückgegriffen, die über ein durchschnitt-
aufweist. Dieser Exponent ist typisch für allo- liches Hirn- und Körpergewicht verfügt, wes-
halb sie einen EQ von 1 hat. Für Reptilien be-
trägt der Cephalisationsfaktor 0.007 und für
1 „Erwartet“ bedeutet in diesem Zusammenhang,
dass die Hirnmasse aufgrund einer statistischen
Dinosaurier wird er mit 0.005 angenommen.
Vorannahme berechnet wurde. Für die Schätzung Für Säugetiere wird der Cephalisationsfaktor
der „erwarteten“ Hirnmasse werden die bekannten auf 0.13 (manchmal auch auf 0.12) festgelegt.
Körpergrößen und Hirnmassen vieler Spezies ge- Für Vögel hat man sich auf einen C von 0.10
nutzt. geeinigt. Unter Verwendung dieser Cephalisa-
2 Mit zunehmendem Körpergewicht nimmt zwar tionsfaktoren können bei Kenntnis der Körper-
das Hirngewicht zu, die Zunahme erfolgt jedoch
gewichte unter Verwendung von Formel (4) die
nicht proportional, sondern unterproportional. Dies
Hirngewichte für verschiedene Arten recht gut
kann man ausdrücken, indem man das Verhältnis
von Gehirngewicht und Körpergewicht in Abhängig- geschätzt werden.
keit vom Körpergewicht skaliert. Mit zunehmendem In Abbildung 3-1 ist der Zusammenhang
Körpergewicht wird dieses Verhältnis kleiner. zwischen Körper- und Hirngewicht für 18 Ar-
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3.2. Enzephalisationsquotient 63
10 000 Afrikanischer Elefant Pottwal werden. Deshalb kann für die Schätzung des
Schwarzdelfin
Mensch EQ auch das Verhältnis zwischen tatsäch-
1 000 Blauwal
Schimpanse
Pferd
Nilpferd lichem (G) und erwartetem Hirngewicht (G’)
100 Rhesusaffe Schwein verwendet werden:
Katze Hund
Hirngewicht (g)
10 Eichhörnchen
Igel/Stachelschwein (6) EQ = G/G’
1 Spitz- Ratte
Maus Wie oben dargestellt, repräsentiert der EQ
maus
0.1
Fledermaus also das Verhältnis von tatsächlichem zu er-
0.0001 0.01 1 100 10 000 1 000 000
Körpergewicht (kg)
wartetem Hirnvolumen. Grafisch ist dies an-
hand der Position des jeweiligen empirisch
Abbildung 3-1: Zusammenhang zwischen Hirn- ermittelten Datenpunkts in Bezug zum durch
gewicht und Körpergewicht. Die Werte sind loga- die Körpergröße bestimmten Punkt auf der
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rithmiert, um eine lineare Beziehung zu erhalten. Regressionsgeraden erkennbar. Die Maus, das
Die Regressionsgerade ist nach Formel 3 berech-
Pferd und der Hund liegen genau auf der Ge-
net worden. Für die Maus sind zwei Werte angege-
raden, was bedeutet, dass sie jeweils ein Ge-
ben. (Nachgezeichnet nach Roth & Dicke, 2005)
hirngewicht aufweisen, das so groß wie er-
wartet ist. Beim Blauwal ist das tatsächlich
gemessene Gehirngewicht kleiner als aus dem
ten dargestellt. Hirngewicht und Körperge- Körpergewicht geschätzt.
wicht sind logarithmiert worden, sodass der In Tabelle 3-2 sind Gehirn- und Körper-
Zusammenhang jetzt nicht mehr exponentiell, gewichte, berechnete Cephalisationsfaktoren
sondern linear ist. Die Steigung des linearen und geschätzte EQ für verschiedene Tierarten
Zusammenhangs ist gleich dem Exponenten aufgeführt. Für alle Tierarten wurde der Ce-
0.666 (oder 2/3 in der exponentiellen Glei- phalisationsfaktor der Katze als Bezugspunkt
chung, die hier nicht dargestellt ist). verwendet. Zu erkennen ist, dass der Mensch
Grafisch kann der EQ auch als Abweichung über den größten Cephalisationsfaktor ver-
des gemessenen vom geschätzten Gehirnge- fügt. Setzt man den Cephalisationsfaktor des
wicht (aus der Formel 2 oder 3) aufgefasst Menschen mit dem der Katze in Beziehung,
werden. Anhand der Formel 3 kann aus dem erhält man den EQ für den Menschen (EQMensch
Körpergewicht das jeweilige Hirngewicht ab- = 0.91/0.13 = 7.03).
gleitet werden. Das geschätzte Hirngewicht Jerison diskutiert den EQ als Ausdruck der
läge dann auf der Regressionsgeraden kor- „Möglichkeit“ zu intelligentem Verhalten. Das
respondierend zum zugeordneten Körper- bedeutet, dass ein großer EQ die Vorausset-
gewicht. Das geschätzte Hirngewicht für den zung für intelligentes Verhalten darstellt, da
Menschen findet man, indem ein plausibles das Gehirn offenbar größer als grundsätzlich
Körpergewicht identifiziert wird (hier z. B. nötig ist. Das „zusätzliche“ Hirnvolumen er-
90 kg). Von dort zieht man eine Senkrechte möglicht, dass mehr Nervenzellen „unter-
nach oben zur Regressionsgeraden. Würde gebracht“ werden können. Durch die größere
man von dort eine horizontale Linie zur Or- Anzahl von Nervenzellen soll das Gehirn dann
dinate ziehen, käme man zum geschätzten mehr Berechnungen durchführen können, was
Hirngewicht von ca. 160 g. Das tatsächliche mit besseren kognitiven Leistungen einher-
Hirngewicht (ca. 1 200 g) des Menschen ist gehen soll.
jedoch ca. 7-mal größer als das geschätzte. In der Tabelle 3-2 ist zu erkennen, dass der
Insofern kann die Abweichung von dieser Mensch über den größten EQ verfügt. Aller-
Geraden als ein Maß für den EQ aufgefasst dings kann für den Delfin auch ein großer EQ
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64 3. Nervenzellen, Module, Kabel und Netzwerke
Tabelle 3-2: Gehirngewichte (in g), Körpergewichte (in g), berechnete Cephalisationsfaktoren und ge-
schätzte EQ für die aufgeführten Tierarten. Für alle Tierarten wurde der Cephalisationsfaktor der Katze
als Bezugspunkt verwendet. Die Gehirngewichte wurden teilweise aus der Arbeit von Roth & Dicke
(2005) entnommen. Sofern in der Arbeit von Roth und Dicke Bereiche von Gehirngewichten angegeben
wurden, wurde ein geschätzter Mittelwert verwendet. Einige Arten sind zusätzlich aufgenommen wor-
den (Baboon, Blauwal, Pottwal). Die Körpergewichte wurden anhand verschiedener Quellen geschätzt
und sind deshalb als Annäherungen aufzufassen. Der Cephalisationsfaktor wurde mit der Formel 4
berechnet; der EQ anhand von Formel 5.
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3.3. Neurone und Gliazellen 65
von 4.44 berechnet werden. Der Elefant mit Primaten. Bei Nagern ist sie erheblich geringer
seinem großen Gehirn kommt auf einen EQ und liegt für den Nager-Kortex bei ca. 1000
von 1.85. Kapuzineraffen und Schimpansen Nervenzellen/mg und für das Nager-Kleinhirn
verfügen bereits über EQ, die größer als 2 sind, bei ca. 64 000 Nervenzellen/mg. Auch für an-
was bedeutet, dass ihre Gehirne deutlich grö- dere Tiergattungen können geringere Pa-
ßer als erwartet sind. ckungsdichten der Nervenzellen identifiziert
werden. Hohe Packungsdichten der Nerven-
zellen ermöglichen es, dass viele Nervenzellen
3.3. Neurone und Gliazellen auf relativ kleinem Raum Platz finden. Die
größere Packungsdichte der Nervenzellen
Die These, dass der EQ eine Grundlage für das beim Menschen und den Primaten ist wahr-
intelligente Verhalten des Menschen ist, wird scheinlich der evolutionär bedingte Vorteil,
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derzeit diskutiert und infrage gestellt. Aktuell den beide gegenüber anderen Tiergattungen
wird eher die absolute Anzahl der Neurone als erworben haben.
wesentliche Grundlage der Intelligenz auf- Wenn die Packungsdichte der Nervenzellen
gefasst: Je mehr Neurone, desto mehr Poten- im Gehirn bei Primaten und Menschen in etwa
zial für intelligentes Verhalten wird dem Orga- gleich groß ist, dann bedeutet das, dass das
nismus zugesprochen. menschliche Gehirn eine größere Variante ei-
Der Mensch verfügt nach neueren Schät- nes Primatengehirns ist. Damit würde sich
zungen über ca. 86 Milliarden Nervenzellen das Menschengehirn (außer in der absoluten
und in etwa über die gleiche Anzahl von Nicht- Größe) nicht grundsätzlich vom Primaten-
nervenzellen (z. B. Gliazellen; Herculano-Hou- gehirn unterscheiden. Der einzige, aber wahr-
zel, 2009; Roth & Dicke, 2005). Diese Schät- scheinlich wesentliche Unterschied zwischen
zungen weichen deutlich von jenen ab, die in dem Primaten- und Menschengehirn bestünde
vielen Lehrbüchern berichtet werden (z. B. dann darin, dass der Mensch insgesamt über
100–150 Milliarden Nervenzellen und 10-mal mehr Nervenzellen verfügt als jedes Primaten-
mehr Gliazellen). Allerdings verteilen sich die gehirn. Insofern ist die absolute Anzahl der
Nervenzellen auf Kortex und Cerebellum un- Neurone der wesentliche Faktor.
terschiedlich. Obwohl der Kortex ca. 82 % der Weiterhin wird angenommen, dass jedes
gesamten Hirnmasse ausmacht, finden sich Neuron ca. 29 000 Synapsen aufweist und der
dort lediglich 19 % aller Nervenzellen (also ca. Dendritenbaum eines Neurons mit 100 000
16 Milliarden3). Die meisten Nervenzellen – bis 200 000 Nervenfasern in Verbindung tre-
ca. 81 % – befinden sich im Kleinhirn (ins- ten kann. Vermutlich ist eine Nervenzelle im
gesamt ca. 69 Milliarden), das lediglich ca. Durchschnitt mit 10 000 anderen Nervenzel-
10 % des gesamten Hirnvolumens ausmacht. len verbunden. Insgesamt belegen diese Zah-
Die Dichte der Nervenzellen beträgt für den len, dass das menschliche Gehirn ein giganti-
menschlichen Kortex 30–80 000 Neurone/ sches Netzwerk ist (Tab. 3-3). Allein die Anzahl
mg. Im Kleinhirn ist die Nervenzelldichte er- der Neurone (86 Milliarden im Gehirn und 16
heblich größer und variiert von 400 000 bis Milliarden im Kortex) liegt in der Größenord-
600 000 Neurone/mg. nung einer mittelgroßen Galaxie. Die Milch-
Die Dichte der Nervenzellen im mensch- straße, die als sehr große Galaxie gilt, umfasst
lichen Gehirn ist in etwa gleich hoch wie bei ca. 300 Milliarden Sterne (Tab. 3-4).
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66 3. Nervenzellen, Module, Kabel und Netzwerke
Tabelle 3-3: Gehirnmasse und geschätzte Anzahl der Neurone in den Gehirnen u
nterschiedlicher Arten
(nach Roth & Dicke, 2005).
Tabelle 3-4: Kortexoberfläche (in cm2), Anzahl der Neurone pro Flächeneinheit (in Millionen Neurone/
cm2) und Anzahl der Neurone pro Gewichtseinheit (in Millionen Neurone/g). Die Oberflächen wurden
anhand der in Tabelle 3-3 dargestellten Hirngewichte mit der F ormel zur Berechnung der Oberflächen
von Jerison (1991) berechnet (Formel 1, S. 39; S = 3.749 * E 0.913; S = Oberfläche, E = Hirngewicht). Diese
Daten sind der Tabelle von Roth und Dicke (2005) entlehnt. Da es sich hier um Schätzungen handelt,
korrespondieren diese Daten nicht mit den Schätzungen von Herculano-Houzel (2009).
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3.4. Brodmann-Areale 67
dem Akronym BA versehen und von 1 bis 52 wurde. Mittlerweile ist jedoch bekannt, dass
durchnummeriert sind (Abb. 3-2).4 Die zytoar- die Brodmann-Areale hinsichtlich Größe und
chitektonischen Besonderheiten sind an eini- Form nicht bei jedem Gehirn gleich sind.
gen Arealen eindrücklich darstellbar. Der pri- Aktuell wird versucht, dieser Variabilität mit-
märe Motorkortex z. B. ist durch eine große tels sogenannter Wahrscheinlichkeitskar-
Schicht von Purkinje-Zellen in den Schichten 3 ten gerecht zu werden (Abb. 3-3). Hierbei wer-
und 5 charakterisiert. Im visuellen Kortex im den die entsprechenden Areale auf individuel-
Okzipitallappen finden sich v. a. in der Schicht len Post-mortem-Gehirnen kartiert und im
4 viele Zellen, die auf die Weiterverarbeitung nächsten Schritt mit den entsprechenden
von afferenten Informationen spezialisiert Arealen stereotaktisch normalisiert. Das be-
sind. Die Schichten 3 und 5, die typischerweise deutet, dass die unterschiedlichen Gehirne
für die Efferenzen wichtig sind, sind hier eher hinsichtlich ihrer Außenmaße angeglichen
spärlich besetzt. Die Brodmann-Areale können werden; alle anderen inividuellen Unter-
3 2
5 4 1
4 7 5
6
8 6
9 1 8 7
40 23 31
39 9 24
26 19
10 18 33 29 30
41
45 44 22
19 10
32 18
42 17 27 17
19
47 35
37 12 18
11 21 25 34 37
36
38 11
28
20 38 20
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68 3. Nervenzellen, Module, Kabel und Netzwerke
Gyrus supramarginalis 39
Gyrus angularis 40
primärer Hörkortex, Heschlscher Gyrus 41
sekundärer Hörkortex, lateraler Teil des Heschlschen Gyrus, 22
Gyrus temporalis superior
Abbildung 3-3: Schematische Darstellung der Be- 3.5. Von der Phrenologie
rechnung von Wahrscheinlichkeitskarten. Dar- zu Netzwerken
gestellt sind fünf Horizontalschnitte durch den
Hörkortex. Jeder Schnitt stammt von einer ande- Zu Zeiten der Phrenologie und auch noch, als
ren Person. Für jede Person ist der Hörkortex auf
die Kleist-Gehirnkarten (s. Abb. 1-5) populär
dem Horizontalschnitt markiert. Die so markierten
waren, war die Neurologie bzw. Neuropsycho-
Hörkortexbereiche werden übereinandergelegt.
logie darauf eingestellt, spezifische Hirn-
Man kann dann für jeden Punkt im Hörkortex be-
rechnen, bei wie viel Personen an diesem Punkt
gebiete zu identifizieren, die für bestimmte
auch ein Hörkortex vorliegt. So kann man für jeden Funktionen spezialisiert sind (Lokalisation).
Punkt des Hörkortex die Wahrscheinlichkeit be- Die Gegenbewegungen haben sich auf das Zu-
stimmen, dass in einer Population an genau die- sammenwirken verschiedener Hirngebiete zur
sem Punkt ein Hörkortexbereich vorliegt. Funktionskontrolle spezialisiert.
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3.5. Von der Phrenologie zu Netzwerken 69
Aktuell hat sich die Sichtweise nach einer Gamma-Band (30–80 Hz). Inzwischen liegen
fast schon phrenologischen Phase zu Beginn zahlreiche Befunde vor, die diese Überlegung
der Bildgebung in den 1990er Jahren zu einer bestätigen (Herrmann et al., 2010). Die
netzwerkorientierten Sicht der Hirnfunktionen Gamma-Band-Aktivität tritt nicht nur bei
verlagert. Diese Verlagerung wird bereits seit einfachen Wahrnehmungen (wie in unserem
den 1950er Jahren diskutiert. Meilensteine Beispiel) auf, sondern auch bei komplexen
sind in diesem Zusammenhang die Arbeiten Wahrnehmungen, Gedächtnisprozessen, beim
der Neuropsychologen Karl S. Lashley (1929) Denken und auch, wenn uns verschiedene
und Donald O. Hebb (1949). Beide haben da- Aspekte bewusst werden. Die mit diesen Pro-
rauf hingewiesen, dass die einzelnen Hirn- zessen assoziierte Gamma-Band-Aktivität tritt
gebiete miteinander interagieren müssen, um nicht nur lokal (also in ganz bestimmten Hirn-
die verschiedenen psychischen Funktionen zu gebieten), sondern verteilt über das ganze
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kontrollieren. In den 1970er Jahren erhielt der Hirn auf. Das Gehirn scheint bei diesen Pro-
„Netzwerkgedanke“ neue Unterstützung ins- zessen verteilt (also viele Hirngebiete ein-
besondere durch die Überlegungen zum Bin- schließend) in die Gamma-Band-Aktivität
ding, das als neurophysiologisches Grundprin- überzugehen. Das bedeutet aber auch, dass
zip für das Zusammenschalten verschiedener zumindest die oben aufgeführten psychischen
Hirngebiete zu einer funktionalen Einheit vor- Funktionen von der gemeinsamen (wahr-
geschlagen wurde (Engel et al., 2001). Unter scheinlich synchronisierten) Aktivität ver-
dem Begriff Binding wird je nach Sichtweise ein schiedener Hirngebiete abhängen.
psychologisches oder neurophysiologisches Aufgrund der sich verfestigenden Erkennt-
Phänomen verstanden (s. a. Kap. 7). nis, dass das Gehirn als Netzwerk agiert, wer-
Aus der Sicht der Psychologie bedeutet es, den aktuell verschiedene Forschungsansätze
dass zwei oder mehrere psychische Funktio- verfolgt, um die Netzwerkarchitektur des
nen zusammengeschaltet werden, um eine Gehirns zu charakterisieren. Ein Ansatz besteht
kohärente Wahrnehmung zu ermöglichen. darin, die elektrischen oder magnetischen Ak-
Dies passiert z. B. bei der Wahrnehmung eines tivitäten mittels Sensoren (Elektroden oder
roten Kreises, bei der die Farbe Rot mit dem Magnetsensoren) an der Schädeloberfläche
Objekt Kreis verbunden werden muss. Ein- abzuleiten und anschließend die Kohärenz (ein
drücklich erfolgt dieser Bindungsprozess bei ähnliches Maß wie die Korrelation) zwischen
der Farbsynästhesie. Ein Graphem-Farb-Syn- den mit diesen Sensoren gemessenen Hirn-
ästhet sieht bestimmte Buchstaben immer in aktivitäten zu bestimmen. Diese Form der
bestimmten Farben; er verbindet automatisch Netzwerkanalyse hat Einblicke in die funktio-
und nicht unterdrückbar Grapheme und Far- nelle Netzwerkarchitektur des Gehirns in Ruhe
ben miteinander. Physiologisch setzt dieses oder während des Durchführens bestimm-
„psychologische Binding“ das Zusammen- ter Aufgaben ermöglicht (Abb. 3-4; Kap. 16).
schalten der beteiligten Hirngebiete voraus. Neuere Varianten arbeiten nicht mehr mit den
Bei der Wahrnehmung eines farbigen Kreises Informationen, die an der Kortexoberfläche
muss das Farbwahrnehmungsareal (präziser: gemessen werden, sondern mit den geschätz-
die neuronalen Netze zur Analyse von Farben) ten intrazerebralen Quellen dieser Oberflä-
mit den Objektwahrnehmungszentren (also chenaktivität5 (Lehmann et al., 2006). An-
den entsprechenden neuronalen Netzwerken)
funktional zusammengeführt werden. Es wird 5 Bei dieser Methode werden die elektrischen Ak-
vermutet, dass diese Synchronisation in einem tivitäten im Inneren des Gehirns unter Nutzung von
bestimmten Frequenzbereich erfolgt, dem komplexen mathematischen Verfahren auf der Basis
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70 3. Nervenzellen, Module, Kabel und Netzwerke
1 2
Theta-Band 6
5
3 4
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hand dieser Daten werden Konnektivitäts- und Eine Variante sind Zeitreihenanalysen,
Netzwerkanalysen berechnet. Mit diesen Ana- insbesondere die sogenannten Granger-Ana-
lysen kann auch überprüft werden, inwieweit lysen. Mittels dieser Analysen können gerich-
sich lernabhängige Veränderungen einstellen tete Hypothesen untersucht und es kann über-
(Abb. 3-5; Blum et al., 2007). prüft werden, ob ein Hirngebiet ein anderes
statistisch beeinflusst (Abb. 3-6). In einem Ex-
periment wurden Stromdichten im Prämotor-
kortex und im auditorischen Kortex anhand
der Verteilung der elektrischen Aktivität am Schädel
geschätzt (s. a. Kap. 5).
6 Unter Kohärenz versteht man grob ausgedrückt schiedenen Sensoren oder in verschiedenen Hirn-
die Ähnlichkeit von EEG-Oszillationen, die an ver- gebieten gemessen werden.
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3.5. Von der Phrenologie zu Netzwerken 71
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72 3. Nervenzellen, Module, Kabel und Netzwerke
kortikospinaler
nahmen verändern. In Abbildung 3-8 ist ein
Trakt
funktionelles Netzwerk dargestellt, das an-
hand eines hochauflösenden EEG berechnet
wurde. Dieses Netzwerk hat sich während ei-
nes Arbeitsgedächtnistrainings hinsichtlich
der Eigenschaften der Hubs und der Verbin-
Abbildung 3-7: Beispiel für die Modellierung des
dungen zwischen den Hubs verändert. Auch
kortikospinalen Trakts anhand von DTI-Aufnah-
men. Zu erkennen ist der senkrecht im Inneren des interindividuelle Unterschiede in diesen Netz-
Gehirns verlaufende Kortikospinaltrakt, der den werken lassen sich herausarbeiten. Ein Bei-
Motorkortex mit dem Rückenmark verbindet. spiel hierfür sind unterschiedliche funktionelle
Netzwerke im Ruhezustand des Gehirns bei
Synästheten und Nichtsynästheten (Abb. 3-9;
Jancke & Langer, 2011). Auch für anatomische
Neuerdings werden anatomische und funk- Kennwerte sind interindividuelle Unter-
tionale Netzwerke mittels grafentheoretischer schiede aufgedeckt worden (Abb. 3-10).
Modelle analysiert und beschrieben. Eines
dieser Modelle ist das Small-world-Modell
(Watts & Strogatz, 1998), das einer Hypothese 3.6. Zusammenfassung
entlehnt ist, die der Sozialpsychologe Stanley
Milgram zur Beschreibung der sozialen Ver- • Angenommen wird, dass der besondere
netzung von Menschen vorgeschlagen hat Aufbau des menschlichen Gehirns die
(1967). Er nahm an, dass jeder Mensch auf Grundlage der menschlichen Intelligenz ist.
der Welt mit jedem anderen über eine Kette • Dabei wird der Enzephalisationsquotient
von wenigen Bekanntschaftsbeziehungen ver- (EQ) von vielen Theoretikern angeführt.
bunden ist. Diese Vernetzungsüberlegung Der EQ gibt an, wie stark die Gehirngröße
wurde auch auf andere, insbesondere biologi- einer Art von der erwarteten Gehirngröße
sche Netzwerke wie das Gehirn übertragen abweicht. Zwar gibt es verschiedene Zu-
(Bullmore & Sporns, 2009). Interessant an gänge, den EQ zu parametrisieren, aber
diesem Modell für die Neurowissenschaft ist, prinzipiell kann der EQ als Verhältnis von
dass auf dessen Basis bestimmte Kennwerte tatsächlicher zu erwarteter Gehirngröße
berechnet und genutzt werden können, mit aufgefasst werden.
denen die Eigenschaften der jeweiligen neuro- • Der Mensch verfügt über einen besonders
anatomischen und -physiologischen Netz- großen EQ von 7. Delfine verfügen über
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3.6. Zusammenfassung 73
Abbildung 3-8: Dargestellt ist ein funktionelles Netzwerk, das sich im Verlauf eines 14-tägigen Arbeits-
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gedächtnistrainings verändert. Die Kreise kennzeichnen Knoten (Hubs), wobei große Kreise Hubs dar-
stellen, die viele Verbindungen zu Nachbar-Hubs aufweisen. Dunkle Kreise sind Hubs, die nach dem Trai-
ning eine geringere Verbindung mit Nachbar-Hubs zeigen, helle dagegen repräsentieren Hubs mit
zunehmenden Verbindungen nach dem Training. Grundlage dieses Netzwerkes sind intrazerebrale Strom-
quellen, die anhand von hochauflösenden EEG-Ableitungen berechnet wurden. (Nach Langer et al., 2013)
theta alpha 1
alpha 2 beta
Abbildung 3-9: Dargestellt sind die wichtigsten Hubs, wo Synästheten eine stärkere Vernetzung mit
Nachbar-Hubs aufweisen. Die jeweiligen Netzwerke sind anhand des Ruhe-EEG für verschiedene EEG-
Frequenzbänder geschätzt worden (Jäncke & Langer, 2011).
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74 3. Nervenzellen, Module, Kabel und Netzwerke
A) B)
Abbildung 3-10: Netzwerke, die anhand des anatomischen Kennwerts kortikale Dicke bestimmt wurden.
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Links oben (A) ist das Netzwerk für absolut hörende Musiker; in (B) ist ein Netzwerk für relativ hörende
Musiker dargestellt. (Nach Jäncke et al., 2012)
einen EQ von 5. Die meisten Affen weisen • Die Packungsdichte der Neurone im Kortex
einen EQ von ca. 2 auf. Bei der Katze ist der des Menschen beträgt ca. 30–80 000 Neu-
EQ gleich 1. rone/mg.
• Die Berechnung des EQ ist immer von der • Die Packungsdichte der Neurone im Klein-
Anzahl und der Zusammensetzung der in hirn des Menschen beträgt ca. 400–600 000
die Berechnung einbezogenen Arten ab- Neurone/mg.
hängig. • Ein Neuron des Menschengehirns verfügt
• In aktuellen Arbeiten wird nicht mehr der im Durchschnitt über 29 000 Synapsen.
EQ als Indikator für die besondere Form • Über die Dendriten können die Neurone
der menschlichen Intelligenz aufgefasst, mit bis zu 200 000 Nervenfasern in Ver-
sondern vielmehr die Anzahl der Neurone, bindung treten.
die im Gehirn lokalisiert sind. • Es wird vermutet, dass jedes Neuron im
• Der Mensch verfügt nach neuesten Schät- Menschengehirn durchschnittlich mit ca.
zungen über ca. 86 Milliarden Nervenzel- 10 000 anderen Neuronen verbunden ist.
len und in etwa genauso viele Gliazellen Damit ist das Gehirn ein ungemein stark
(ca. 85 Millionen). vernetztes System.
• Der größte Teil der Neurone befindet sich • Nager und andere Arten verfügen über
im Kleinhirn (ca. 82 % = 69 Milliarden). Im deutlich geringere Packungsdichten im
Kortex finden sich nur 18 % der Neurone Kortex und Kleinhirn.
(16 Milliarden). • Im Menschengehirn können auch dickere
• Obwohl die meisten Neurone im Kleinhirn Fasern festgestellt werden, was mit schnel-
lokalisiert sind, macht es nur ca. 10 % der leren Übertragungszeiten innerhalb des
Hirnmasse aus. Gehirns einhergeht.
• Das menschliche Gehirn weist eine beson- • Der Neuroanatom und Psychiater Korbinian
ders hohe Packungsdichte der Neurone Brodmann hat ein Postmortem-Gehirn
auf, die in etwa so groß ist wie bei den Pri- zytoarchitektonisch untersucht und das
maten. Deshalb wird vermutet, dass das Gehirn in zytoarchitektonische Felder,
menschliche Gehirn eigentlich ein hoch- die sogenannten Brodmann-Areale, ein-
skaliertes Affengehirn ist. geteilt.
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3.8. Weiterführende Literatur 75
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77
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4.1. Allgemeines zur Reifung und Entwicklung des Gehirns 79
schung der anatomischen und neurophysiolo- scher Bewegungen, die ein Mindestausmaß an
gischen Grundlagen der Gehirnreifung wird Myelinisierung der Kabelsysteme erfordern.
immer wieder die Frage aufgeworfen, welche Auch die während und vor der Pubertät zu be-
der Reifungsprozesse durch Umwelt oder obachtenden Verhaltensweisen hängen mit
Genetik kontrolliert werden. Grob lässt sich der Reifung, insbesondere des Frontalkortex,
feststellen, dass in den frühen Entwicklungs- zusammen.
phasen genetische Einflüsse am stärksten Aus der Sicht der biologisch orientierten
sind. Mit zunehmendem Alter nimmt der ge- Psychologie und der modernen Plastizitäts-
netische Einfluss immer mehr ab und der Ein- forschung sind psychologische Einflüsse auf
fluss der Umwelt bzw. der Erfahrung wird das Gehirn (Lernen oder psychische Trau-
wichtiger (s. a. Kap. 17). Zu den Umwelterfah- mata) als ebenso stark einzustufen wie bio-
rungen werden auch biologische Einflüsse logische und genetische Faktoren. Insofern
gezählt, die nicht zwingend der Genetik zu- beeinflussen immer, selbst während der Em-
zuordnen sind, z. B. können Veränderungen bryonalentwicklung, Interaktionen zwischen
des biologischen Milieus während der em- Anlage und Umwelt die Gehirnreifung. Rei-
bryonalen Entwicklung massive Reifungsstö- fung ist eine faszinierende biologische „Leis-
Synaptogenese Konkurrenz/Elimination
programmierter Zelltod
Myelinisierung
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80 4. Reifung des Gehirns
tung“, da letztlich aus einem kleinen Zellhau- • Synaptogenese (Bildung von Synapsen)
fen das wahrscheinlich komplexeste biologi- • programmierter Zelltod (Eliminierung zu
sche Organ entsteht. viel gebildeter Neuronen)
• Myelinisierung (Bildung der Myelinschich-
ten um die Axone).
4.2. Embryonalentwicklung
Embroyonal-
scheibe
Neuralrinne
Neuralrohr
Abbildung 4-2: Von der Morula zum Neuralrohr. Tag 1–23 der Embryonalentwicklung. Nach der Befruch-
tung (Tag 1; Zygote) beginnt sich die Zygote zu teilen. Am 15. Tag hat sich bereits die Embryonalplatte
gebildet. Am 21. Tag beginnt sich die Neuralrinne zu bilden, die sich am 23. Tag zum Neuralrohr schließt.
(Nachgezeichnet und modifiziert nach der Abbildung 7-5 aus Kolb & Whishaw, 2001)
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4.2. Embryonalentwicklung 81
das übrige Nervensystem entwickeln sich aus Ab ca. dem 35. Tag vergrößert sich v. a. das
dem Ektoderm, der äußeren Schicht. Etwa am vordere Bläschen. Vom 2. Monat an differen-
20. Tag der Embryogenese beginnt die Diffe- ziert sich das Gehirn zu fünf Bläschen aus
renzierung des Ektoderms, die sogenannte (Fünf-Bläschen-Stadium). In dieser Phase
Neurulation. In dieser Phase entwickelt das entstehen die Anlagen für das Zwischenhirn.
Ektoderm eine Neuralplatte, die sich schließ- Die Hirnstammanlagen differenzieren sich in
lich in der Mitte zur Neuralrinne faltet, die das verlängerte Rückenmark (Myelencepha-
sich im weiteren Entwicklungsverlauf zu ei- lon) und das Hinterhirn (Metencephalon).
nem geschlossenen Rohr, dem Neuralrohr, Diese Phase ist durch eine hohe Zellteilungs-
ausformt (Abb. 4-2 und Abb. 4-3). Aus diesem rate gekennzeichnet (Bildung von bis zu
Neuralrohr entwickeln sich das Gehirn und das 250 000 Zellen/Minute). Nach 100 Tagen ist
Rückenmark. Der vordere (rostrale) Teil des das Vorderhirn bereits sehr groß, weist aber
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Neuralrohrs bildet drei Bläschen (auch Vesikel noch keine Faltung auf. Etwa ab dem 5.–6.
genannt) aus, aus denen letztlich Kortex, Mit- Monat bildet sich die Sylvische Fissur, um die
telhirn und Hirnstamm entstehen (Drei-Bläs- herum (perisylvisch) für die Sprache und an-
chen-Stadium). In diesem Stadium (bereits dere psychische Funktionen wichtige neuro-
ab dem 28. Tag) sind die Anlagen für das Vor- nale Zellgruppierungen liegen. Nach dieser
der-, Mittel- und das Rautenhirn zu erkennen ersten Einfaltung des Kortex nimmt die Fal-
(Abb. 4-4). tung ebenso wie das Volumen des Gehirns zu.
Neuralplatte Neuralrinne
Neuralrohr Ventrikel
Entwicklung
Frontalhirn
Entwicklung
Herz
Neuralrohr
Abbildung 4-3: Detaillierte Darstellung der Entwicklung des Nervensystems vom 18. bis zum 24. Tag.
(Nachgezeichnet und modifiziert nach der Abbildung 7-6 aus Kolb & Whishaw, 2001)
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82 4. Reifung des Gehirns
Kopf
4.2.2. Neurogenese
Körper
undifferenziert und werden als neuronale
Stammzellen bezeichnet. Sie sind teilungs-
fähig und können sich zu Glia- oder Nerven-
zellen entwickeln. Aus diesen neuronalen
Stammzellen entstehen Vorläuferzellen, aus
denen im weiteren Verlauf die spezialisierten
Neuralrohr Neuro- und Glioblasten hervorgehen (Abb. 4-6).
(formt Rückgrat) Aus ihnen entwickeln sich im menschlichen
Abbildung 4-4: Drei-Bläschen-Stadium des Em-
Gehirn bis zu 100 Milliarden Nervenzellen
bryonalgehirns nach 28 Tagen. Man erkennt die (Kap. 2) und eine vielfache Anzahl Gliazellen.
Anlage für das Vorderhirn (Prosencephalon), Mit- Die meisten dieser Zellen werden in der 6.–
telhirn und den Hirnstamm. Der hintere Teil des 8. Woche gebildet, was bedeutet, dass beinahe
Neuralrohrs formt sich zum Rückenmark. alle Zellen, die im späteren Leben Denken und
Abbildung 4-5: Entwicklung des menschlichen Gehirns bis zur Geburt. (Nachgezeichnet und modifiziert
nach der Abbildung 7-8 aus Kolb & Whishaw, 2001)
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4.2. Embryonalentwicklung 83
Progenitorzellen (Vorläuferzellen)
Neuro- und
Glioblasten
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Neurone Gliazellen
Abbildung 4-6: Entwicklungsverlauf der Nerven- und Gliazellen. Die neuronalen Stammzellen sind
Zellen, die noch teilungsfähig sind und aus denen sich Nervenzellen oder Gliazellen entwickeln können.
Aus den Stammzellen entwickeln sich die Neuroblasten oder Gliablasten. Neurotrophe Faktoren ent-
scheiden, ob sich aus einer Vorläuferzelle Neuro- oder Gliablasten entwickeln. Bei Vorhandensein des
entsprechenden neurotrophen Faktors kann sich jeder Neuroblast zu spezifischen Nervenzellen ent-
wickeln. (Nachgezeichnet nach der Abbildung 7-10 aus Kolb & Whishaw, 2001)
Handeln bestimmen, bereits in den ersten acht toren8, greifen in die Differenzierung der neu-
Wochen entstehen. ronalen Stammzellen sowie der Neuro- und
Einige der Neuroblasten spalten sich ab und Glioblasten ein. Sie bestimmen, ob aus einer
bilden später das autonome Nervensystem.
Aus den Glioblasten entwickeln sich die Glia-
8 Typische neurotrophe Faktoren sind der Nerve
zellen. Wichtige Glioblasten sind die Oligo- growth factor (NGF), der Brain-derived neurotro-
dendroglia und die Astrozyten. Chemische phic factor (BDNF), Neurotrophin-3, -4 und -5
Substanzen, sogenannte neurotrophe Fak- (NT-3 bis -5).
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84 4. Reifung des Gehirns
Stammzelle eine Nerven- oder Gliazelle, ob Entwicklung zu ihrem Zielort „wandern“ (Mi-
aus einem Neuroblasten ein Interneuron oder gration), wo sich die Nerven- und Gliazellen
eine Pyramidenzelle wird (Abb. 4-6). Sind die differenzieren und anpassen (Differenzierung)
Nervenzellen gebildet, verlieren sie ihre Tei- sowie Axone, Dendriten und Synapsen aus-
lungsfähigkeit. bilden (Synaptogenese).
Die Zellmigration setzt unmittelbar nach
dem Beginn der Neurogenese ein und dauert
4.2.3. Migration ca. 6 Wochen. Sie beginnt an der wie ein pri-
mitiver Kortex organisierten ventrikulären
Das menschliche Gehirn besteht aus bis zu Zone, die der um die Ventrikel liegende Teil
100 Milliarden Nervenzellen (nach neueren des Neuralrohrs ist. Von dort bewegen sich
Schätzungen 86 Milliarden; s. Kap. 3) und ei- die jungen Neurone in die äußeren Schich-
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ner vielfachen Anzahl Gliazellen. Um diese ten (marginale Zone), um sich in den Emp-
große Zellmenge zu produzieren, werden ca. fangsgebieten zu spezialisierten Neuronen
250 000 Nervenzellen pro Minute neu gebil- zu entwickeln. Dabei werden sie von Glia-
det. Diese Neurogenese ist nach 20–24 Wo- zellen unterstützt (Radialglia), an denen sich
chen abgeschlossen, danach werden nur noch diese Neurone quasi „nach oben schlängeln“
wenige Nervenzellen gebildet. Ab diesem Zeit- (Abb. 4-7). Die zurückgelegte Entfernung kann
punkt haben auch Frühgeborene eine Über- bis zu 1000-mal länger als der Durchmesser
lebenschance (etwa ab dem 5. Monat). Neu- des wandernden Neurons sein. Nervenzellen,
gebildete Nervenzellen müssen vom Ort ihrer die sich früh entwickeln, bleiben in den unte-
Gehirnoberfläche
Bewegungs-
primitiver Kortex
richtung
radiale Gliazelle
Neuron bei
Migration
Neuron bei
nicht radialer
Migration
radiale
Neuron bei Migration Gliazelle
Ventrikel
ventrikuläre Zone Zellkern der
radialen Gliazelle
ventrikuläre Zone
Abbildung 4-7: Migration der Neurone in den primitiven Kortex. (Nachgezeichnet und modifiziert nach
der Abbildung 7-12 aus Kolb & Whishaw, 2001)
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4.2. Embryonalentwicklung 85
übernehmen. Diese Differenzierung ist mit nen und Dendriten sind wichtig, denn die
genetischen Prozessen verbunden, wobei be- schneller wachsenden Axone können an ihren
stimmte Gene ab- und andere angeschaltet Zielzellen Kontakte knüpfen, bevor die Neu-
werden. Sie äußert sich in den Transmittern, rone ihre komplette Dendritisierung erreicht
welche die jeweilige Zelle bildet, den Rezep- haben. Die Dendriten entwickeln sich aus
tortypen und in der Art, wie Aktionspotenziale dem Zellkörper und verzweigen sich zuneh-
generiert werden. Ist ein Neuron einmal zu mend. Diese Verzweigung wird immer kom-
seinem Bestimmungsort gewandert, folgen plexer und nimmt die Gestalt von „Bäumen“
oft andere Zellen, wodurch strukturelle und an. Man spricht deshalb auch von einer Arbo-
vermutlich auch funktionelle Einheiten gebil- risierung der Dendriten.
det werden. Die Mechanismen, die der dazu Unter mechanischer und chemischer Füh-
notwendigen Zellerkennung zugrunde liegen, rung beginnt dann die Vernetzung der Neu-
sind noch nicht vollständig bekannt. Ein sol- rone. Eine besondere Rolle spielen hierbei
cher Vorgang erfordert jedoch, dass die jewei- die sogenannten Wachstumskegel, d. h. die
ligen Zellen ihre gegenseitige Zugehörigkeit Spitze der sich entwickelnden Axone und
erkennen bzw. unterscheiden können. Spezi- Dendriten. Die Axonspitze ist mit Filopodien
elle Moleküle scheinen für solche Erkennungs- (Füßchen) zur Exploration der unmittelbaren
aufgaben spezialisiert zu sein. Eines dieser Umgebung ausgestattet (Abb. 4-9). Derzeit ist
Moleküle ist das „Neural-cell-adhesion-Mole- nicht geklärt, wie der Wachstumskegel seine
kül“ (NCA-Molekül), das etwa wie ein Magnet unmittelbare Umgebung erkennt und wodurch
wirkt, der Zellen aneinander bindet. Ein ande- er weiß, in welche Richtung er sein Wachstum
rer biochemischer Nervenwachstumsfaktor ist lenken soll.
der Nerve growth factor (NGF). Bislang sind einige chemische Substanzen
Während der Wanderung der Neurone bil- entdeckt worden, die diese Wachstumsorien-
det sich auch die typische Schichtung des tierung modulieren und unterstützen können;
Kortex aus. Zellen in den unteren Kortex- es handelt sich dabei v. a. um Neurotropine.
schichten werden zu anderen Neuronen aus- Unterschieden werden annäherungsinduzie-
gebildet als Zellen, die in den oberen Schich- rende und annäherungshemmende Substan-
ten angelangt sind. Man spricht in diesem zen oder Moleküle.9 Aus der Kombination
Zusammenhang auch vom Inside-out-Gra-
dienten. Chemische Erkennungsmechanis- 9 Insgesamt sind dies neurotrope Faktoren. Sie
men und zeitlich-räumliche Faktoren (z. B. dienen zur „Wegfindung“ und „locken“ Axone an die
Geburtstag und -ort einer Zelle) sind für diese richtigen Orte. Neurotrope Faktoren (z. B. Neurotro-
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86 4. Reifung des Gehirns
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0 1 3 6 15 24
Alter in Monaten
Abbildung 4-8: Differenzierung der Dendriten im Verlauf der postnatalen Entwicklung. Mit zunehmen-
dem Alter nimmt die Dendritisierung immer mehr zu. Diese Beispiele sind aus Gewebeproben des Broca-
Areals gewonnen. (Nachgezeichnet nach Lenneberg, 1967)
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4.2. Embryonalentwicklung 87
entsteht vielmehr aus der Interaktion zwischen häufig genutzt werden (fire together wire to-
Anlage- und Umwelteinflüssen. Einfache sy- gether; s. a. Kap. 13). Werden Synapsen selten
naptische Kontakte existieren beim Menschen genutzt, verstärken sie ihre Verbindungen
bereits im 5. Schwangerschaftsmonat und ver- nicht und sterben schließlich. Dass auch Neu-
mehren sich bis zur Geburt erheblich. Nach rone absterben, könnte darin begründet sein,
der Geburt nimmt die Anzahl der Synapsen dass Neurone, die Synapsen bilden, auch von
drastisch und schnell bis zum 1. Lebensjahr ihren Kontakten zu anderen Neuronen abhän-
zu. Diese Phase der Überproduktion wird gig werden. Sterben die Verbindungen zu den
Blooming genannt. Darauf folgt die Phase der anderen Neuronen ab, ist es möglich, dass die
selektiven Elimination der überschüssigen Neurone, ihrer Verbindung beraubt, ebenfalls
Synapsen, ein Vorgang, der als Pruning be- absterben. Möglich ist auch, dass viele Neu-
zeichnet wird (Abb. 4-10). Diese Abnahme von rone um eine begrenzte Anzahl von neurotro-
synaptischen Verbindungen geht mit dem phen Faktoren konkurrieren: Die wenigen
Zelltod von Nervenzellen einher. Offenbar Neurone, denen es gelingt, neurotrophe Fak-
toren an sich zu binden, überleben. Der Zell-
tod von Neuronen aufgrund des Mangels an
pränatal 1. Lebensjahr Folgejahre neurotrophen Faktoren muss vom Zelltod un-
24
terschieden werden, der durch Krankheiten
20 oder Verletzungen ausgelöst wird. Möglich ist,
Anzahl der Synapsen (x 1011)
4 4.2.6. Myelinisierung
0
2 4 6 81012 2 5 10 20 30 50 70 Parallel zur Differenzierung der Nervenzellen
Geburt Monate Jahre
beginnt die Differenzierung der Gliazellen.
Abbildung 4-10: Anzahl der Synapsen im visuel- Eine wichtige Gruppe sind die Oligodendro-
len Kortex des Menschen über einen weiten Al- gliazellen, die zur Myelinisierung der Nerven-
tersbereich. (Nachgezeichnet nach der Abbildung fasern beitragen. Sie bilden die Fettummante-
7-16 aus Kolb & Whishaw, 2001) lung der Nervenfasern, die dazu führt, dass die
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88 4. Reifung des Gehirns
elektrische Signalleitung schneller wird (salta- geburtlich, bleibt aber ein Leben lang aktiv.
torische Erregungsleitung). Die Myelinisie- Die Synaptogenese verläuft in verschiedenen
rung beginnt ca. am 12. Tag und erstreckt sich Hirngebieten unterschiedlich schnell und be-
bis in das hohe Erwachsenenalter. ginnt zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Im
sensomotorischen Kortex beginnt sie sehr früh
und erreicht bis kurz vor der Geburt ihr Maxi-
4.2.7. Zusammenfassung der wich- mum. Das Pruning dauert im sensomotori-
tigsten Entwicklungsschritte schen Kortex bis etwa zum 4. Lebensjahr. Im
in der Embryonalphase Parietallappen erreicht die Synaptogenese ihr
Maximum ca. im 8. Schwangerschaftsmonat
In Abbildung 4-11 sind die wichtigsten Ent- und das Pruning dauert bis zum 8. Lebensjahr
wicklungsabläufe zusammengefasst. In der an. Im Präfrontalkortex wird das Maximum
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Embryonalphase findet die Neurulation mit der Synaptogenese ca. im 4. Lebensjahr er-
der Entwicklung des Neuralrohrs statt. Daran reicht; das Pruning zieht sich bis zum 16. Le-
schließen sich die Proliferation und die Mi- bensjahr hin (Abb. 4-11; Casey et al., 2005).
gration der Neurone an. Die folgende Synap- Die Myelinisierung beginnt ebenfalls bereits in
togenese (mit Blooming und Pruning) und der Embryonalphase, erstreckt sich aber bis in
Dendritisierung beginnt teilweise schon vor- das späte Erwachsenenalter.
he
und Migration
rK
or
Neurulation
te
x
Zeugung
Myelinisierung
0 –8 –6 –4 –2 2 4 6 8 10 12 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20
Geburt
Monate Jahre
Abbildung 4-11: Zeitlicher Ablauf der wesentlichen reifungsbedingten Veränderungen des mensch-
lichen Gehirns. In der embryonalen Phase erfolgen die Neurulation, die Zellproliferation und die Mi-
gration. Vor der Geburt beginnen auch die Synaptogenese und die Myelinisierung. Der Verlauf der Sy-
naptogenese ist für verschiedene Gebiete unterschiedlich. Dargestellt sind die Verläufe für den
sensomotorischen Kortex, für den parietalen Assoziations- und den Präfrontalkortex, der sehr spät den
Höhepunkt der Synaptogenese erreicht. Alle Hirngebiete weisen allerdings nach dem Höhepunkt der
Synaptogenese deutliche Reduktionen der Synapsendichte auf (Pruning; nachgezeichent nach Casey
et al., 2005).
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4.3. Gehirnentwicklung in den ersten Lebensjahren bis zur Adoleszenz 89
hier referierten Daten entstammen älteren der Lage sind, koordinierte Bewegungen
Arbeiten, in denen ausschließlich Gehirne durchzuführen. Je besser die Myelinisierung,
Verstorbener analysiert wurden. Bei der Ana- desto besser sind auch die sensomotorischen
lyse von Post-mortem-Daten muss berück- Leistungen.
sichtigt werden, dass es sich meist um Gehirne In einer Studie wurden 13 gesunde Ver-
von erkrankten Personen handelt, sodass suchspersonen vom 5. bis zum 20. Lebensjahr
nicht auszuschließen ist, dass diese Gehirn- untersucht. Das Gehirn jeder Versuchsperson
größenschätzungen nicht den typischen und wurde alle zwei Jahre mittels Magnetresonanz-
gesunden Wachstumsverlauf des Gehirns tomografie vermessen (Gogtay et al., 2004).
wiedergeben. Nach stereotaktischer Normalisierung der Ge-
Moderne Untersuchungen nutzen die Mag- hirne haben die Autoren den Reifungsverlauf
netresonanztomografie (MRT) und messen
die Gehirngrößen von gesunden Kindern und
Jugendlichen im Längsschnitt oder kom- 1. Monat
biniert im Längs- und Querschnitt. Mittels der
MRT ist es auch möglich, detailliertere Ana-
lysen durchzuführen, z. B. die getrennte Ana-
7. Monat
1400
1200
Gehirngewicht (in g)
1000
800
>9. Monat
600
400 Männer
Frauen
200
0 1 3 5 10 20 30 40 50 60 70 80 90
Jahre
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90 4. Reifung des Gehirns
der Dichte der grauen und weißen Substanz und für fast die gesamte perisylvische Hirn-
analysiert und grafisch dargestellt (Abb. 4-14). region keine nennenswerte Reduktion des re-
In der Abbildung 4-14 ist zu erkennen, dass lativen Volumens der grauen Substanz aus-
mit zunehmendem Alter das Gehirn immer zumachen ist. Auch im 18. Lebensjahr (viertes
dunkler wird. Je dunkler die Grautönung, Gehirnbild in der Zeitreihe) sind diese Hirn-
desto geringer ist der Anteil der grauen Sub- gebiete noch nicht gänzlich ausgereift. Obwohl
stanz. Damit einhergehend nimmt das relative die Reifung des lateralen Frontalkortex bereits
Volumen der weißen Substanz zu. Die einzel- recht weit vorangeschritten ist, sind immer
nen Hirngebiete reifen jedoch unterschiedlich noch Teilgebiete zu erkennen, die nicht den
schnell. Der Motorkortex, Teile des Parietal- adulten Zustand erreicht haben. Selbst im
lappens, der primäre visuelle Kortex und der 20. Lebensjahr (fünftes Gehirnbild in der Zeit-
Frontalpol weisen schon recht früh einen Ver- reihe) sind Teilbereiche der perisylvischen
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lust des relativen Volumens der grauen Sub- Hirnregion noch nicht vollständig ausgereift.
stanz auf. Bei anderen Hirngebieten dagegen Die spät reifenden Hirngebiete (die perisylvi-
stellt sich der relative Verlust der grauen Sub- sche Hirnregion und der laterale Frontalkor-
stanz erst später ein, typischerweise im latera- tex) sind in die Kontrolle komplexer psy-
len Frontalkortex und in den perisylvischen chischer Funktionen eingebunden, die auch
Hirngebieten. Betrachtet man den in Abbil- sehr viel Übung erfordern.
dung 4-14 dargestellten zeitlichen Ablauf ge- Der weitere Verlauf der Hirnentwicklung
nauer, erkennt man auch, dass noch im 15. Le- konnte durch Längsschnitt- und kombinierte
bensjahr (drittes Gehirnbild in der Zeitreihe) Längs- und Querschnittuntersuchungen he-
für fast den gesamten lateralen Frontalkortex rausgearbeitet werden (NIH-Studie: Giedd et
Abbildung 4-14: Reifungsverlauf der grauen Substanz vom 5. bis zum 20. Lebensjahr. Je dunkler die
Hirngebiete markiert sind, desto geringer ist das relative Volumen der grauen Substanz. Alle Gehirne sind
stereotaktisch normalisiert (also künstlich in einen Standardraum transponiert worden). Das bedeutet,
dass mit größer werdendem Gehirn der Anteil der grauen Substanz abnimmt. Das Volumen der weißen
Substanz nimmt dagegen zu. Es ist zu beachten, dass die Hirngebiete nicht gleichsinnig reifen, sondern
einige früher und andere später. Auffällig ist, dass die perisylvische Hirnregion und Teile des lateralen
Frontalkortex sehr spät reifen. Das Volumen der grauen Substanz ist in arbiträren Werten angegeben.
(Nachgezeichnet nach Gogtay et al., 2004)
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4.3. Gehirnentwicklung in den ersten Lebensjahren bis zur Adoleszenz 91
210
200 tex, wo das Volumen der grauen Substanz bei
190
Jungen bis zum Alter von 12,5 und bei Mäd-
180
170 chen bis zum Alter von 11,5 Jahren deutlich
160
Frontalkortex graue Masse zunimmt, um dann wieder abzunehmen. Die
150 Abnahme der grauen Substanz nach diesen
4 6 8 10 12 14 16 18 20 22
Alter in Jahren
„Wendepunkten“ ist wahrscheinlich auf eine
140 Reduktion der synaptischen Verbindungen
zurückzuführen, möglicherweise bauen sich
130
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160
ein Vorgang aufgefasst, bei dem ein Organ
oder auch eine (angeborene) Verhaltensweise
140 sich praktisch ohne Übung vervollkommnet.
120 Temporalkortex graue Masse Diese Annahme ist in den modernen Neuro-
100
wissenschaften jedoch nicht mehr haltbar.
4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 Vielmehr muss davon ausgegangen werden,
Alter in Jahren dass Reifung im klassischen Sinn mit den
450
durch Erfahrung induzierten Veränderungen
(Hirnplastizität) interagiert. Dies ist anhand
400
der oben erläuterten Befunde gut erklärbar:
Volumen in cm3
300
weiße Masse
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92 4. Reifung des Gehirns
talkortex und im perisylvischen Hirngebiet den, dass die Dendritisierung der Neurone von
verantwortlich ist, ist der „Gebrauch“ bzw. der Komplexität der Umwelterfahrung ab-
„Nichtgebrauch“ bestimmter Synapsen. Wahr- hängt. Werden Mäuse in „anregenden“ Käfi-
scheinlich baut das Gehirn mehr graue Sub- gen aufgezogen, in denen viele Betätigungs-
stanz auf, als letztlich benötigt wird. Die nicht möglichkeiten für die Tiere vorliegen, verfügen
benötigten synaptischen Verbindungen wer- ihre Neurone über eine reichhaltigere Dendri-
den nicht durch einen aktiven „Beschneidungs- tisierung als die von Mäusen, die in „kargen“
prozess“ durchtrennt, sondern es muss viel- Käfigen aufwachsen (Abb. 4-16).
mehr davon ausgegangen werden, dass sie sich Angesichts dieser Befunde liegt es nahe,
mit der Zeit abbauen. Andererseits ist bekannt, dass die reifungsbedingten anatomischen Ver-
dass mit zunehmender Beanspruchung eines änderungen im lateralen Frontalkortex und in
neuronalen Netzes die Anzahl und die Stärke den perisylvischen Hirnregionen (jene Hirn-
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der synaptischen Kontakte zunehmen. In Tier- regionen, die sehr spät reifen) nicht allein
versuchen konnte darüber hinaus gezeigt wer- durch einen genetisch determinierten Prozess
kontrolliert werden. Es ist vielmehr davon aus-
zugehen, dass auch erfahrungsbedingte und
andere Einflüsse die Reifung dieser Hirn-
gebiete unterstützen – eben der „Gebrauch“
und „Nichtgebrauch“ von synaptischen Ver-
bindungen.
4.4. Gehirnentwicklung
in der Adoleszenz
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4.4. Gehirnentwicklung in der Adoleszenz 93
5 t-Wert 20
Abbildung 4-17: Lineare Alterseffekte für das Volumen der grauen Substanz (lineare Abnahme des
Volumens der grauen Substanz). Die unterschiedlichen Graustufen indizieren unterschiedlich hohe
Korrelationen. Je dunkler die Graustufe, desto größer ist der negative lineare Alterseffekt (nach Ziegler
et al., 2011).
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vorhanden sind sie in weiten Teilen des Tem- gestellt sind. Zu erkennen ist, dass der Hippo-
poral- und Okzipitallappens. Zusätzlich zu campus-Amygdala-Komplex etwa bis zum
diesen Effekten haben die Autoren nicht- 50. Lebensjahr keine Volumenänderung auf-
lineare Volumenabnahmen identifiziert, die in weist und danach erhebliche Volumenabnah-
Abbildung 4-18 für einige Hirngebiete dar- men erfährt. Eine ähnliche nichtlineare Volu-
menabnahme zeigen das Kleinhirn und das
Striatum. Der gesamte Neokortex weist da-
gegen nur eine schwache nichtlineare Volu-
100
GMV in % (relativ zum 20. Lebensjahr)
menabnahme auf.
In Tabelle 4-1 sind die nichtlinearen Volu-
90
menabnahmen für verschiedene Hirngebiete
dargestellt. Das maximale Volumen der grauen
80 Hippocampus-Amygdala-
Komplex (1846 Voxel)
Substanz wird in den verschiedenen Hirn-
Cerebellum (4112 Voxel) gebieten zwischen dem 23. (parietales Oper-
70 Striatum (358 Voxel) culum) und dem 41. Lebensjahr (Hippocam-
Neokortex (32 427 Voxel)
Neokortex (Mittelwert) pus-Amygdala-Komplex) erreicht. Im Klein-
60 Dorsaler Strang – Area 7 hirn werden die maximalen Volumina kurz
Ventraler Strang – Gyrus fusiformis
nach dem 30. Lebensjahr erreicht. Interessant
20 30 40 50 60 70 80 ist v. a. der Altersbereich, in dem die maxi-
Alter
male Volumenänderung (genauer: die maxi-
Abbildung 4-18: Prozentuale Verringerung des male Volumenabnahme) erfolgt; dieser Be-
Volumens der grauen Substanz über das Alter für reich liegt für alle Hirngebiete zwischen dem
verschiedene Hirngebiete. Die Volumina sind 50. und 59. Lebensjahr.
auf das mittlere Volumen im Alter von 20 Jahren Die Autoren haben den Hippocampus-
(= 100 %) bezogen. Die Schattierung zwischen den
Amygdala-Komplex detaillierter untersucht,
Kurven für den dorsalen Strang mit BA 7 (aus-
da dieser Hirnbereich besonders wichtig für
schließlich linearer Verlauf) und dem ventralen
explizite Gedächtnisfunktionen ist. Hierzu
Strang mit dem Gyrus fusiformis soll die Spann-
weite der Entwicklungsverläufe der neokortikalen
haben sie den Hippocampus-Amygdala-Kom-
Regionen darstellen. Eingezeichnet ist auch der plex in wichtige Teilkomponenten aufgeteilt:
mittlere nichtlineare Verlauf aller neokortikalen Cornu ammonis (CA), entorhinaler Kortex
Hirnstrukturen. GMV: Volumen der grauen Sub- (EC), Gyrus dentatus (GD), Subiculum (SUB)
stanz. (Nachgezeichnet nach Ziegler et al., 2011) und Amygdala (AMG). Für alle Teilgebiete bis
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94 4. Reifung des Gehirns
Tabelle 4-1: Hirngebiete mit nichtlinearer Abnahme des Volumens der grauen Substanz über das Alter.
Dargestellt ist die durch Nichtlinearität zusätzlich zum „linearen Alterseffekt“ erklärte Varianz (3. Spalte).
In den beiden letzten Spalten findet sich noch das Lebensalter, in dem das maximale Volumen der
grauen Substanz gemessen werden konnte, und das Lebensalter, in dem die maximale Volumenabnahme
der grauen Substanz auftritt (nach Ziegler et al., 2011).
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4.5. Entwicklung des Gehirns und neurophysiologische Aktivität 95
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96
A)
B)
frontal
parietal
0,5
1,0
1,5
2,0
2,5
3,0
0,2
0,4
0,6
0,8
1,0
1
2
3
4
5
6
2
4
6
8
18 – 19 18 – 19 18 – 19 18 – 19
20 – 21 20 – 21 20 – 21 20 – 21
22 – 23 22 – 23 22 – 23 22 – 23
Delta
Alpha
Alpha
36 – 40 36 – 40 36 – 40 36 – 40
41 – 45 41 – 45 41 – 45 41 – 45
46 – 50 46 – 50 46 – 50 46 – 50
51 – 55 51 – 55 51 – 55 51 – 55
56 – 60 56 – 60 56 – 60 56 – 60
61 – 65 61 – 65 61 – 65 61 – 65
66 – 70 66 – 70 66 – 70 66 – 70
71 – 80 71 – 80 71 – 80 71 – 80
81 – 89 81 – 89 81 – 89 81 – 89
0,5
1,0
1,5
2,0
2,5
3,0
2
4
6
8
10
12
14
0,5
1,0
1,5
2,0
0,5
1,0
1,5
2,0
7–9 7–9 7–9 7–9
10 – 11 10 – 11 10 – 11 10 – 11
12 – 13 12 – 13 12 – 13 12 – 13
14 – 15 14 – 15 14 – 15 14 – 15
16 – 17 16 – 17 16 – 17 16 – 17
18 – 19 18 – 19 18 – 19 18 – 19
20 – 21 20 – 21 20 – 21 20 – 21
22 – 23 22 – 23 22 – 23 22 – 23
24 – 25 24 – 25 24 – 25 24 – 25
26 – 30 26 – 30 26 – 30 26 – 30
Beta
31 – 35 31 – 35 31 – 35 31 – 35
Beta
Theta
Theta
36 – 40 36 – 40 36 – 40 36 – 40
41 – 45 41 – 45 41 – 45 41 – 45
46 – 50 46 – 50 46 – 50 46 – 50
51 – 55 51 – 55 51 – 55 51 – 55
56 – 60 56 – 60 56 – 60 56 – 60
61 – 65 61 – 65 61 – 65 61 – 65
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66 – 70 66 – 70 66 – 70 66 – 70
71 – 80 71 – 80 71 – 80 71 – 80
81 – 89 81 – 89 81 – 89 81 – 89
wurden anhand der Arbeit von Tereshenko und Kollegen (2010) berechnet. Man erkennt die mit dem
schätzt. Diese ICA ergab Schwerpunkte für die Powerwerte an bestimmten Elektrodenpositionen. Dar-
Die Powerwerte wurden nach der Berechnung mit einer ICA (independent component analysis) ge-
gestellt sind Powerwerte für (a) die parietale Elektrode Pz und (b) die frontale Elektrode Fz. Die Daten
Alter geringer werdende Power in allen Frequenzbändern. Lediglich im sehr hohen Alter nimmt die Power
Abbildung 4-20: Power in den Frequenzbändern Delta, Theta, Alpha und Beta über die Lebensspanne.
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4.6. Hirnentwicklung und Verhalten 97
rietale und frontale Elektrodenpositionen dar- änderungen der corticalen Dicke (Shaw et al.,
gestellt. Man erkennt hier, dass die Power in 2006) oder der Hirndurchblutung (Chugani,
allen Frequenzbändern in früher Kindheit sehr 1998; Taki et al., 2011).
groß ist und mit zunehmendem Alter prinzi- Reifungsbedingte Veränderungen findet
piell abnimmt (siehe Abb. 4-20). man auch bei bestimmten Aspekten des
Die Ursachen für die abnehmende Energie Schlafes. Der Anteil des REM-Schlafes ist bei
über das Alter in allen Frequenzbändern sind jungen Kindern besonders hoch und nimmt
noch nicht gänzlich geklärt. Die meisten Wis- mit zunehmendem Alter ab. Der NREM-
senschaftler, die sich mit diesem Thema aus- Schlaf, also jene Schlafstadien, in denen keine
einandersetzen, gehen aber davon aus, dass typischen Kennzeichen des REM-Schlafes zu
diese Powerabnahme mit dem synaptischen finden sind, bleibt bis zirka zur dritten Le-
Pruning zusammenhängt, das sich während bensdekade mehr oder weniger konstant, um
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der frühen Kindheit und Jugend im Cortex dann rapide abzunehmen (Roffwarg, Muzio,
entfaltet. Diese Hypothese wird unter ande- & Dement, 1966). Die Folge dieser Entwick-
rem auch durch aktuelle Studien belegt, die lungen ist, dass wir mit zunehmendem Alter
einen statistischen Zusammenhang zwischen immer länger wach bleiben. Die Ursachen
der Volumenabnahme der corticalen grauen dieser Veränderungen sind bislang noch nicht
Substanz und der Power in den Frequenzbän- eindeutig geklärt. Möglicherweise hängt diese
dern feststellen konnten (Whitford et al., Entwicklung auch mit dem synaptischen Pru-
2007). Eine Volumenabnahme der grauen ning in der Kindheit und der Adoleszenz zu-
Substanz wird mit Volumenverringerungen sammen.
der Neurone, einer Verringerung des Neuro-
pils und vor allem mit einer Verringerung der
synaptischen Kontakte in Verbindung ge- 4.6. Hirnentwicklung
bracht. Diese alterskorrelierten Veränderun- und Verhalten
gen passen recht gut zu alterskorrelierten Ver-
Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die
Dauer der Schlafstadien Hirnentwicklung in jedem Alter nicht nur von
24 genetischen oder biologischen Einflüssen,
NREM-Schlaf sondern auch von der Erfahrung beeinflusst
18 wird. Wie eine französische Arbeitsgruppe vor
Stunden Schlaf
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98 4. Reifung des Gehirns
Tabelle 4-2: Kennwerte des nichtlinearen Volumenabbaus der grauen Substanz im Hippocampus-
Amygdala-Komplex (nach Ziegler et al., 2011).
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4.6. Hirnentwicklung und Verhalten 99
Phonemdiskrimination +
Prosodie Semantik Syntax
Betonungsmuster
Diskrimi- semant.
Phonem-
nation von Sensitivität für semant. Verb- Satz- Morpho-
diskrimi- Bedeu-
Betonungs- Satz-Prosodie Form auswahl struktur logie
nation tung
muster
2 4 5 6 8 9 12 14 18 24 30 32 36
ERP-Korrelation
Abbildung 4-23: Schematische Darstellung der Entwicklungsstadien beim Erwerb der Sprachwahrneh-
mung. Unterhalb der Zeitachse sind typische EEG-Kennwerte dargestellt, mit denen sich die jeweils er-
worbenen Sprachwahrnehmungsfertigkeiten erkennen lassen: MMN: Mismatch negativity, CPS: Closure
positive shift, N400, ELAN: Early late anterior negativity, P600. Nachgezeichnet nach Friederici (2005)
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100 4. Reifung des Gehirns
Kinder Erwachsene
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Abbildung 4-24: Schematische Darstellung der beiden Faserbahnen, die das Wernicke-Areal im hin-
teren Teil des Temporallappens mit dem frontalen Sprachareal (Broca-Areal) verbinden. Bei Kindern im
Alter von 7 Jahren sind diese beiden Faserwege noch vorhanden, während bei Erwachsenen nur noch
der dorsale Weg über den Fasciculus arcuatus besteht. (Nachgezeichnet nach Brauer et al., 2011)
gemessen und diesen anatomischen Kennwert senden oder jungen Erwachsenen waren, desto
mit der psychometrischen Intelligenz in Ver- größer war die kortikale Dicke, insbesondere
bindung gesetzt. Die kortikale Dicke beträgt je im lateralen Frontalkortex und im unteren
nach Messmethode 2–4 mm und ist von der Temporallappen.
Anzahl der Neurone und Interneurone sowie Von der frühen bis späten Kindheit scheint
von den kurzen Faserverbindungen zu kortika- sich intelligenzabhängig die kortikale Dicke
len Nachbargebieten abhängig. Die psycho- massiv zu verändern. Dies haben die Auto-
metrische Intelligenz wurde mit der Lang- ren näher untersucht, indem sie die Verände-
oder Kurzform des Wechsler-Intelligenztests rungen der kortikalen Dicke für exemplari-
gemessen. Es zeigte sich, dass in der frühen sche Hirnregionen in Abhängigkeit von der
Kindheit (3,8–8,4 Jahre) die psychometrische Intelligenz über den gesamten Altersbereich
Intelligenz negativ mit der kortikalen Dicke berechnet haben. Hierzu wurden die Ver-
korrelierte – v. a. mit der kortikalen Dicke im suchspersonen in drei Gruppen eingeteilt: (1)
Frontalkortex und im unteren Teil des Tempo- überragende Intelligenz (IQ 121–149), (2)
rallappens (Abb. 4-25). Das bedeutet, je intel- hohe Intelligenz (IQ 109–120) und (3) durch-
ligenter die Kinder waren, desto dünner ist der schnittliche Intelligenz (IQ 83–108), und ge-
Kortex in diesen Hirngebieten. Bei den etwas trennt für diese Gruppen der Entwicklungs-
älteren Kindern (8,6–11,7 Jahre) kehrte sich verlauf der kortikalen Dicke berechnet. Dieser
die Korrelation zwischen kortikaler Dicke und Entwicklungsverlauf zeichnete sich bei den
Intelligenz um. Je intelligenter die Kinder wa- sehr intelligenten Personen dadurch aus, dass
ren, desto dicker war der Kortex. Die positive in der frühen Kindheit die kortikale Dicke be-
Korrelation zwischen IQ und kortikaler Dicke sonders gering war und bis zum Alter von
bleibt dann für die gleichen Hirngebiete bis 11 Jahren deutlich zunahm. Nach dem 11. Le-
zum frühen Erwachsenenalter erhalten. Je in- bensjahr nahm sie in dieser Gruppe kon-
telligenter also die älteren Kinder, Heranwach- tinuierlich bis zum 20. Lebensjahr ab. Test-
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4.6. Hirnentwicklung und Verhalten 101
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Abbildung 4-25: Korrelation zwischen psychometrischer Intelligenz und kortikaler Dicke, getrennt für
die vier unterschiedlichen Gruppen von Testpersonen. Bei sehr jungen Kindern im Alter von 3,8 bis
8,4 Jahren korrelierte die psychometrische Intelligenz negativ mit der kortikalen Dicke. Das bedeutet,
dass hohe Intelligenz mit geringer kortikaler Dicke korreliert. Diese negative Korrelation ist insbesondere
im Frontalkortex und im Temporallappen zu beobachten. In der späten Kindheit kehrt sich die Korrela-
tion zwischen psychometrischer Intelligenz und kortikaler Dicke um. Das bedeutet, dass hohe Intelligenz
mit einer hohen kortikalen Dicke korreliert. Dieser positive Zusammenhang bleibt bis zum frühen Er-
wachsenenalter (17–29 Jahre) erhalten. Die Hirngebiete, für welche die Korrelationen besonders stark
ausfallen, sind insbesondere der laterale Frontalkortex und der untere Temporallappen. (Nachgezeich-
net nach Shaw et al., 2006)
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102 4. Reifung des Gehirns
0.15
Veränderungsrate (mm yr–1)
durchschnittlich Intelligente
0.10
0.05
0
Abnahme
–0.05
–0.10
–0.15
6 10 Alter in Jahren 14 18
Abbildung 4-27: Veränderungsrate der kortikalen Dicke (Millimeter pro Jahr) über den Altersbereich von
6 bis 20 Jahren, getrennt für die drei unterschiedlichen Intelligenzgruppen. Man erkennt, dass die über-
ragend intelligenten Testpersonen über eine hohe Veränderungsrate der kortikalen Dicke im Alters-
bereich von 6 bis ca. 12 Jahren verfügen. (Nachgezeichnet nach Shaw et al., 2006)
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4.6. Hirnentwicklung und Verhalten 103
Veränderung in % GMD
Veränderung in % GMD
Veränderung in % GMD
2 2 2 2
0 0
0 0
–2 –2
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–4 –4
–2 –2
–6 –6
–20 0 20 –20 0 20 –20 0 20 –20 0 20
Veränderung Veränderung Veränderung Veränderung
in VIQ in PIQ in VIQ in PIQ
Abbildung 4-28: Darstellung der Befunde von Ramsden et al. (2011). Jugendliche, die eine Verbesserung
des Verbal-IQ (VIQ) innerhalb eines Zeitraums von dreieinhalb Jahren zeigten, zeigten auch eine Zu-
nahme der Dichte der grauen Substanz in einem Hirngebiet, das typischerweise in die Kontrolle moto-
rischer Sprachfunktionen eingebunden ist (Gyrus praecentralis). Kinder, die eine Verbesserung des
Handlungs-IQ (PIQ) über diesen Zeitraum zeigten, fielen durch eine Zunahme der Dichte der grauen
Substanz, v. a. im Kleinhirn, auf. GMD: Dichte der grauen Substanz. (Nachgezeichnet und modifiziert nach
Ramsden et al., 2011)
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104 4. Reifung des Gehirns
wickelt sich mit zunehmendem Alter, wobei den NoGo-Bedingungen bei Kindern im Alter
diese Funktionen in der Kindheit und frühen von 7–12 Jahren bedeutend länger ausfallen als
Adoleszenz noch nicht voll ausgereift sind. bei Jugendlichen im Alter von 15–19 Jahren.
Typische Aufgaben zum Untersuchen dieser Kinder im Alter von 7 Jahren benötigen un-
exekutiven Funktionen sind Go-/No-go-Auf- gefähr 700 ms, um in der No-go-Situation zu
gaben. Im Prinzip bestehen diese Aufgaben reagieren, während Jugendliche im Alter von
aus Reizen, auf welche die Versuchspersonen 16 Jahren in der gleichen Situation lediglich
reagieren müssen (sogenannte Go-Reize) und 400 ms benötigen. Erst im Alter von 17 und
solchen, auf die sie eine Reaktion unterlassen 18 Jahren werden Reaktionszeiten erreicht, die
sollen (sogenannte No-go-Reaktionen). Solche denen der Erwachsenen ähnlich sind.
Aufgaben können mitunter so gestaltet wer- Solche Aufgaben werden auch sehr häufig
den, dass in der No-go-Situation kognitive im Zusammenhang mit EEG-Untersuchun-
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Konflikte ausgelöst werden, so dass die Re gen durchgeführt. Dabei kann man bei inkor-
aktionszeiten in der No-go-Situation teilweise rekten Reaktionen ein evoziertes Potential
erheblich ansteigen. Wir werden solche Auf- registrieren, welches man als „Fehlerbezo-
gaben noch in Kapitel 11 näher kennenlernen. gene Negativität“ bezeichnet (im Englischen
Im Prinzip geht es bei diesen Aufgaben darum, Error-Related-Negativity: ERN). Diese ERN ist
vorbereite Reaktionen zu Gunsten anderer Re- ein negatives Potential, das zirka 80 ms nach
aktionen zu hemmen. Wendet man solche Auf- der Fehlreaktion und zirka 220 ms nach dem
gaben bei Personen unterschiedlichen Alters Stimulus auftritt. Die Amplitude dieses Po-
an, stellt man fest, dass die Reaktionszeiten in tentials (bezogen auf die vorangehende P3)
25 ERN
Mikro-Volt
20
Tastendruck
15
10
Alter
Abbildung 4-29: Abhängigkeit der ERN-Amplituden vom Alter der Versuchspersonen. Man erkennt, dass
mit zunehmendem Alter die Amplituden immer grösser werden (Die Abbildung ist anhand der Daten von
Davies, Segalowitz & Gavin (2004) neu gestaltet worden).
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4.7. Kritische Phasen 105
nimmt mit zunehmendem Alter zu (siehe Ab- repräsentiert kritische Phasen. Treten in die-
bildung 4-28). Weiterführende Untersuchun- sen Reifungsphasen Störungen auf, können
gen haben gezeigt, dass diese neurophysiologi- erhebliche Folgen für die weitere Entwicklung
sche Reaktion vor allem über das vordere des Gehirns resultieren. Wenn sich z. B. wäh-
Cingulum und den angrenzenden Frontalkor- rend der Neurulation das Neuralrohr nicht
texstrukturen generiert wird. Offenbar hängt vollständig schließt, können Fehlbildungen
die Stärke dieser Reaktion vom aktuellen Rei- des Rückens entstehen. Bei der Spina bifida
fungszustand des Frontalkortex ab. (Wirbelspalt, Spaltwirbel oder „offener Rü-
cken“) beispielsweise handelt es sich um eine
Neuralrohrfehlbildung, die unterschiedlich
4.7. Kritische Phasen ausgeprägt sein kann und deren Schweregrad
entsprechend variiert. Die Migration der Neu-
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Ethologen haben das Konzept der Prägung in rone an ihre Bestimmungsorte kann durch
die Biologie eingeführt. Sie verstanden darun- verschiedene Einflüsse gestört werden, so-
ter einen irreversiblen Lernvorgang, der in be- dass irreversible Folgen eintreten können. Ein
stimmten „kritischen“ Phasen stattfindet. Ein typisches Beispiel ist die Lissenzephalie.
typisches Beispiel ist die Prägung eines Grau- Diese Fehlbildung des Gehirns tritt in ver-
ganskükens auf das erste Objekt, das sich nach schiedenen Formen auf: als Agyrie (völliges
dem Schlüpfen aus dem Ei von ihm fortbewegt. Fehlen der Gyrierung), Mikrogyrie (Verkleine-
In der Regel ist das das Muttertier, das das Ei rung der Hirnwindungen), Makrogyrie (Ver-
ausbrütet, bis das Küken schlüpft. Konrad Lo- größerung der Hirnwindungen) und Pachygyrie
renz hat in seinen Experimenten die Mutter (reduzierte Gyrierung mit verdickten und ver-
durch verschiedene Objekte oder den Men- gröberten Hirnwindungen). Als Folge haben
schen ersetzt. Bewegte sich ein Ball nach dem diese Gehirne eine relativ glatte Oberfläche.
Schlüpfen des Kükens von ihm fort, folgte das Diese Entwicklungsstörungen sind nicht mehr
Küken diesem Ball ein Leben lang – es war also kompensierbar. Ein anderes Beispiel für eine
auf den Ball geprägt. Berühmt wurde Konrad Migrationsstörung ist die Heterotopie. Sie ist
Lorenz mit Versuchen, in denen er sich selbst dadurch gekennzeichnet, dass einige Neurone
als Prägungsobjekt anbot. Bewegte er sich bei der Migration nicht ihr Zielgebiet erreichen
nach dem Schlüpfen vom Nest fort, waren die und praktisch „auf halber Strecke stecken blei-
Küken entweder auf sein Gesicht oder (je nach ben“. Heterotopien im perisylvischen Hirn-
Versuchsanordnung) auf seine Gummistiefel bereich werden als mögliche Ursachen der Dys-
geprägt. Prägung erfolgt nur zu einem be- lexie diskutiert (Galaburda & Kemper, 1979).
stimmten Zeitpunkt und ist danach nicht mehr Das Gehirn ist insbesondere während der
möglich; sie ist auch nicht mehr umkehrbar. frühen Entwicklungsphasen sehr verletzlich
Offenbar kann das Gehirn der Graugansküken und v. a. durch toxische Substanzen und Infek-
zu einer bestimmten Entwicklungszeit sehr tionen gefährdet. Erkrankung der Mutter an
schnell und irreversibel auf bestimmte Objekte Syphilis und Röteln, Mangel an Jod in der
oder Lebewesen geprägt werden. Es existiert Ernährung und v. a. Alkoholismus der Mutter
eine kritische Phase für diese besondere Form während der Schwangerschaft sind Risikofak-
der Organisation des Nervensystems. toren für die Hirnentwicklung des Fötus. Al-
Kritische Phasen können zu verschiedenen koholkonsum der Mutter kann beim Fötus und
Zeitpunkten auch bei der Entwicklung des dem geborenen Kind zum fetalen Alkohol-
menschlichen Gehirns ausgemacht werden. syndrom führen. Die Neugeborenen leiden je
Jede der oben besprochenen Reifungsphasen nach Schweregrad unter Hyperaktivität, ver-
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106 4. Reifung des Gehirns
tens- und Kognitionsänderungen, die in früher driten und der Verzweigungen an den
Kindheit auftreten, sind recht gut kompensier- Axonen), (5) Synaptogenese (Bildung von
bar, da das kindliche Gehirn noch sehr plas- Synapsen), (6) programmierter Zelltod (Eli-
tisch ist. Leidet z. B. ein 5- bis 10-jähriges Kind minierung zu viel gebildeter Neuronen), (7)
an einer Aphasie, ist die Prognose sehr gut, Myelinisierung (Bildung der Myelinschich-
denn die nicht befallenen Hirngebiete über- ten um die Axone).
nehmen recht flexibel Sprachfunktionen. Auch • Am 20. Tag nach der Befruchtung beginnt
Läsionen in motorischen Arealen (z. B. im die Differenzierung des Ektoderms. Es ent-
Kleinhirn) können viel besser als bei Erwach- wickelt sich die Neuralrinne und später das
senen kompensiert werden. Neuralrohr. Aus dem vorderen Teil des
In späteren Entwicklungsphasen vermin- Neuralrohrs bilden sich am 28. Tag drei
dert sich die anfängliche enorme Plastizität Bläschen (Drei-Bläschen-Stadium) mit
des Gehirns. Das bedeutet nicht, dass im Alter den Anlagen für das Vorderhirn, das Mittel-
keine plastischen Prozesse mehr möglich sind, hirn und das Rautenhirn.
aber sie sind deutlich eingeschränkter. So • Während der Neurogenese werden in den
nimmt mit zunehmendem Alter des Gehirns ersten acht Wochen fast alle Neurone ge-
die Fähigkeit zum Axonenwachstum ab. Je bildet. Ausgangspunkt der Neurogenese
besser die neuronalen Netze mittels synapti- sind neuronale Stammzellen, aus denen
scher Kontakte geknüpft worden sind, desto sich Neuro- und Glioblasten entwickeln.
schwieriger wird es, diese Netzwerke zu ver- Aus den Glioblasten entwickeln sich Glia-
ändern. zellen und aus den Neuroblasten Nerven-
zellen. Ob eine neuronale Stammzelle sich
zu einem Neuron oder einer Gliazelle ent-
4.8. Zusammenfassung wickelt, wird durch neurotrophe Faktoren
bestimmt.
• Das Gehirn befindet sich ständig in einem • Die neu entstandenen Nervenzellen müs-
Umbauprozess, der sich bis in das Erwach- sen vom Ort ihrer Entwicklung zu ihrem
senenalter erstreckt. Insofern „entwickelt“ Zielort „wandern“. Dieser Vorgang wird als
sich das Gehirn ständig. Migration bezeichnet. Am jeweiligen Ziel-
• Die ersten Entwicklungsschritte vollziehen ort müssen sich die Nerven- und Gliazellen
sich noch fast vollständig unter genetischer differenzieren und dem Zielort anpassen
Kontrolle, wobei zusätzlich weitere biologi- (Differenzierung). Die Nervenzellen bilden
sche Faktoren wirksam werden können dann Axone, Dendriten und Synapsen aus
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4.8. Zusammenfassung 107
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108 4. Reifung des Gehirns
Dauer des REM-Schlafes nimmt über das Hirngebieten. Bei etwas älteren Kindern
Alter ab. Damit verbunden ist auch eine al- und Jugendlichen (8,6–20 Jahre) kehrt sich
tersbedingte Zunahme des Wachstadiums. die Korrelation zwischen kortikaler Dicke
• Babys im Alter von 3 Monaten können of- und Intelligenz um. Je intelligenter die Kin-
fenbar bereits Sprachsignale verarbeiten. der, desto dicker der Kortex. Wird die Ver-
Spielt man ihnen Sprache vorwärts (also änderungsrate der kortikalen Dicke berech-
normal) vor, dann sind das Planum tempo- net (Millimeter pro Jahr), fallen die beson-
rale, der rechtsseitige Frontalkortex und ders intelligenten Testpersonen durch eine
der Okzipitotemporalkortex stärker durch- bemerkenswert hohe Veränderungsrate der
blutet. Bei rückwärts dargebotener Sprache kortikalen Dicke bis zum Alter von 6 bis ca.
ist der Sulcus temporalis superior stärker 12 Jahren auf.
durchblutet. • Wenn Kinder im Alter von ca. 8 Jahren 15
• Bei Kindern im Alter von 7 Jahren ist das Monate lang ca. eine Stunde pro Woche In-
Wernicke-Sprachareal über zwei Faserbah- strumentalunterricht erhalten, verformen
nen mit frontalen Hirngebieten (Broca- sich anatomisch jene Hirngebiete, die in die
Areal) verbunden: dem oberhalb der Sylvi- Kontrolle des Musizierens eingebunden
schen Fissur angeordneten Fasciculus sind: primärer Hörkortex, primärer Motor-
arcuatus und einem ventralen Faserweg, kortex und das Corpus callosum.
der über die Capsula extrema verläuft. Bei • Im Teenageralter verändert sich die psy-
Erwachsenen und Jugendlichen ist der ven- chometrische Intelligenz. Die Verände-
trale Weg nicht mehr so stark ausgeprägt. rung der verbalen Intelligenz korreliert mit
• Kinder erwerben bereits ab dem 6. Monat anatomischen Veränderungen im motori-
die Fähigkeit, sprachspezifische Aspekte schen Sprachareal, während die Verände-
aus dem Sprachstrom herauszufiltern. Mit rung der Handlungsintelligenz mit ana-
dem 8. Monat können auch sprachspezi- tomischen Veränderungen im Kleinhirn
fische Betonungsmuster erkannt werden. zusammenhängt.
Ab dem 9. Monat werden sprachspezifische • Insbesondere in den frühen Phasen der
Lautmuster diskriminiert und im 11. Monat Entwicklung ist das Gehirn sehr anfällig für
erkennt das Baby typische Phoneme für die nicht mehr kompensierbare Beeinträchti-
Sprache, die das Kind häufig hört. Neben gungen. Sind diese ersten Entwicklungs-
der Sprachwahrnehmung entwickelt sich phasen überwunden, zeichnet sich das
auch die Fähigkeit zu sprechen. Bereits im kindliche Gehirn durch ein hohes Maß an
3. Monat produzieren Babys Vokale und im Plastizität aus. Durch Hirnläsionen aus-
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4.10. Weiterführende Literatur 109
gelöste Verhaltens- oder Kognitionsbeein- Sprache bei 3 Monate alten Babys? Was
trächtigungen können viel besser als bei kann man aus diesen Befunden ableiten?
Erwachsenen kompensiert werden. • Welche „Meilensteine“ der Sprachentwick-
• Die Reaktionszeiten bei Go-/No-go-Auf- lung in den ersten Lebensjahren kennen
gaben hängen vom Alter der Versuchsper- Sie?
sonen ab. Je jünger die Versuchspersonen, • Wie hängt die Entwicklung der psycho-
desto länger sind die Reaktionszeiten. metrischen Intelligenz mit der Entwicklung
• Die ERN-Amplituden werden mit zuneh- spezifischer Merkmale der Hirnanatomie
mendem Alter immer größer. zusammen?
• In welchem Zusammenhang steht die Ent-
wicklung der kortikalen Dicke mit der psy-
4.9. Fragen und Aufgaben chometrischen Intelligenz?
•
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5.2. Klassische Methoden aus der kognitiven Psychologie 113
MEG, TMS, tDCS, NIRS), die in diesem Kapi- z. B. Fahrsimulatoren für die verkehrspsycho-
tel dargestellt werden, werden nicht nur in logische Forschung (Abb. 5-1). Mit Szenarien
den kognitiven Neurowissenschaften ein- aus der virtuellen Realität kann das menschli-
gesetzt, sondern insbesondere in der medizi- che Verhalten in Extremsituationen studiert,
nischen Forschung, aber auch im medizini- aber auch trainiert werden. Weiterhin zählen
schen Alltag. Verhaltensbeobachtungen zum Methodenin-
Bewusst wird im Folgenden auf die Dar- ventar der kognitiven Neurowissenschaften.
stellung der neurowissenschaftlichen Metho- Da diese Methoden ausführlich in anderen,
den verzichtet, die in Tierexperimenten ein- eher kognitionspsychologischen Lehrbüchern
gesetzt werden. beschrieben werden, werden sie in diesem
Lehrbuch nicht näher dargestellt.
Nicht außer Acht gelassen werden darf, dass
5.2. Klassische Methoden mit den eher klassischen Methoden der kogni-
aus der kognitiven tiven Psychologie Theorien entwickelt wurden,
Psychologie die für die Gestaltung und Interpretation von
Experimenten der kognitiven Neurowissen-
In der kognitiven Psychologie und den kogni- schaften bedeutsam sind. Wichtig ist auch,
tiven Neurowissenschaften geht es v. a. da- dass viele Methoden aus der kognitiven Psy-
rum, die kognitiven Prozesse des Menschen chologie für die Anwendung mit den modernen
zu verstehen. Trotz der technischen Fort- neurowissenschaftlichen Methoden nutzbar
schritte, die im Zusammenhang mit der Er- gemacht werden. Ein weiterer, noch zu wenig
forschung des menschlichen Gehirns erreicht betriebener Forschungsbereich ist die Model-
wurden, muss immer wieder auf die Theorien lierung von Verhalten und Neuronensystemen.
und Methoden der kognitiven Psychologie In diesem Forschungsbereich werden mithilfe
zurückgegriffen werden. Insofern zählen auch von mathematischen Methoden Simulationen
die Methoden der kognitiven Psychologie zum durchgeführt, die auch für die kognitiven Neu-
Methodeninventar der kognitiven Neurowis- rowissenschaften wichtig sind; Beispiele sind
senschaften. Arbeiten zu künstlichen und realen neurona-
Im Wesentlichen werden in der kognitiven len Netzen und zur Modellierung mensch-
Psychologie Methoden zur Registrierung des lichen Verhaltens (Bischof, 1998; Dörner,
menschlichen Verhaltens eingesetzt. Hierzu 2003; Kalveram, 1998).
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114 5. Methoden der kognitiven Neurowissenschaften
A) B)
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Augenbewegungskamera
C) D)
Ausgabeschicht
Zwischenschicht
Fahrsimulator Eingabeschicht
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5.3. Bildgebung 115
• Computertomografie (CT, Messung der nen. Des Weiteren ist festzustellen, dass durch
Röntgen-Absorption), die verbesserten Registrier- und Analyse-
• Szintigrafie (Aktivität eines Tracers), methoden das EEG immer interessanter für
• Positronen-Emissions-Tomografie (PET, die kognitiven Neurowissenschaften wird.
Messung der Tracerkonzentration), In den Verhaltenswissenschaften kommt
• Spektroskopie, der funktionellen und der strukturellen Mag-
• optische Bildgebung mittels Nahinfrarot- netresonanztomografie (fMRT und sMRT)
spektroskopie (NIRS). eine bedeutende Rolle zu, einerseits, weil sie
zur Entwicklung der Psychologie in den letzten
Ein wichtiges Prinzip der Bildgebung ist die Jahren einen wesentlichen Beitrag geleistet
Rekonstruktion der anatomischen Strukturen haben, andererseits, weil durch sie in der Zu-
anhand bestimmter Messwerte, sodass im- kunft ein bedeutsamer Erkenntnisgewinn zu
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mer ein mehr oder weniger komplexer Trans- erwarten ist. Die PET-Technologie hat den
formationsprozess zwischen den zwei- und bildgebenden Verfahren in den Verhaltens-
dreidimensionalen Bildern und den Messwer- wissenschaften zwar zum Durchbruch ver-
ten vorgenommen werden muss. Methoden, holfen, nimmt aber derzeit eher eine (aller-
die es erlauben, bestimmte physiologische dings zweifellos wichtige) Randstellung ein.
Vorgänge zu visualisieren, ohne dass ein di- Die neurowissenschaftliche Bildgebung kann
rekter bzw. präziser Bezug zu anatomischen grundsätzlich in zwei Teilbereiche unterschie-
Strukturen hergestellt wird, werden traditio- den werden: (1) die strukturelle und (2) die
nell nicht zu den bildgebenden Verfahren ge- funktionelle Bildgebung. Das Grundprinzip
rechnet. Typische Beispiele solcher Metho- dieser beiden Ansätze soll im Folgenden näher
den sind das Elektromyogramm (EMG), das erläutert werden.
Elektroenzephalogramm (EEG) und die Mag-
netenzephalografie (MEG). Diese Verfahren
erlauben zwar eine zeitlich hochaufgelöste Vi- 5.3.1. Magnetresonanztomografie –
sualisierung neurophysiologischer Vorgänge, das Grundprinzip
sie liefern jedoch keine genauen Informatio-
nen bezüglich der anatomischen Strukturen, Die meisten Magnetresonanztomografen kön-
die den neurophysiologischen Vorgängen zu- nen nicht nur zum Messen der Hirnanatomie,
grunde liegen. sondern auch zur Untersuchung anderer Or-
Insbesondere für die EEG- und MEG- gane eingesetzt werden. Neuerdings werden
Technologie werden derzeit mathematische auch sogenannte Kopftomografen angeboten,
Modelle entwickelt, die es erlauben, die ge- die nur für die Messung des Kopfes vorgesehen
messenen neurophysiologischen Vorgäng0e sind. Prinzipiell besteht ein Magnetresonanz-
auf die jeweiligen anatomischen Strukturen zu tomograf aus einer Röhre, die von einem Mag-
beziehen, die an der Generierung der physio- netfeld mit hoher Feldstärke (1–7 Tesla) umge-
logischen Aktivität beteiligt sind. Die hierzu ben ist. Der Proband wird auf einer Liege in
verwendeten Modelle sind teilweise komplex diese Röhre hineingeschoben, sodass er sich in
und bergen eine Reihe von Problemen. Die dem Magnetfeld befindet. Der Kopf ist in einer
mathematischen Weiterentwicklungen zur Spule fixiert, um Kopfbewegungen zu vermei-
(annähernden) Lösung dieser Probleme sind den bzw. zu minimieren (Abb. 5-2). Da die Mes-
derzeit so weit fortgeschritten, dass die EEG- sungen in einer magnetischen Umgebung er-
und die MEG-Technologie zunehmend zu den folgen, müssen die im MR-Scanner nutzbaren
bildgebenden Verfahren gezählt werden kön- Geräte wie Reaktionstasten, Kopfhörer, Brillen
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5.3. Bildgebung 117
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118 5. Methoden der kognitiven Neurowissenschaften
Energie zugeführt, wird dieses System gestört. dem Hochfrequenzimpuls bewegen sich die
Die „eingestrahlte“ elektromagnetische Welle Spins wieder in die Ausgangslage zur Längs-
wird durch einen sehr starken Radiosender er- magnetisierung zurück: Dieser Vorgang wird
zeugt und mit einer geeigneten Spule auf das Relaxation genannt.
Gehirn fokussiert. Die Rotation der Spins in der Horizontal-
Durch diese Energiezufuhr werden die ebene (Mxy) schwächt sich zunehmend ab und
Spins quasi „umgeklappt“ bzw. „gekippt“. Die- die Spins kehren wieder zum Ausgangszustand
ser Vorgang wird auch als Anregung des Spin- (Mz) zurück. Zwei Vorgänge sind an diesem
Spin-Systems bezeichnet. Durch die Wahl ge- „Rückbildungsprozess“ beteiligt: die Spin-Git-
eigneter Hochfrequenzimpulse (Dauer und ter-Wechselwirkung und die Spin-Spin-Wech-
Leistung sind wichtige Parameter) kann die selwirkung. Die Spin-Gitter-Wechselwirkung
„Kippart“ sehr präzise beeinflusst werden. Ei- wird auch als T1-Relaxation (Längsrelaxation)
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5.3. Bildgebung 119
Tabelle 5-1: Relaxationszeiten (in ms) für bestimmte Hirnkompartimente bei 1 Tesla (T)
(aus Jäncke, 2005).
dargestellt werden. Während in den Anfän- weißen Substanz zuzuordnen sind, werden
gen der strukturellen Bildgebung einzelne voneinander getrennt);
•
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120 5. Methoden der kognitiven Neurowissenschaften
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Abbildung 5-7: Voxel auf Horizontalschnitten. Eingezeichnet sind auch noch Voxel mit besonderen
Eigenschaften.
Die VBM-Methode beinhaltet verschiedene der anatomische Datensatz mit einer räumli-
Schritte. Zunächst müssen die digitalen Ge- chen Auflösung von 1 mm3 gemessen wurde,
hirne in einen stereotaktischen Standardraum dann folgen daraus mehr als 1 Million (!) t-
transformiert werden. Anschließend erfolgt Tests, da mehr als 1 Million Voxel mit einem
die statistische Analyse getrennt für jeden ein- Volumen von 1 mm3 in diesem Volumendaten-
zelnen Voxel, wobei statistische Probleme auf- satz enthalten sind. Wird ein räumlicher Glät-
treten: Für jeden Voxel der grauen und weißen tungsfaktor von 8 mm3 verwendet, gehen in
Substanz ist ein Grauwert codiert. Will man die Berechnung eines geglätteten Voxels 381
zwei Personengruppen miteinander verglei- Voxel ein. Durch die „räumliche Glättung“ re-
chen, wird jeder Voxel der einen Gruppe mit duziert sich die Anzahl der unabhängigen
dem korrespondierenden Voxel der anderen „Voxel“ in Abhängigkeit des Glättungsfaktors.
Gruppe mittels eines t-Tests verglichen. Wenn Diese so neu berechneten unabhängigen Voxel
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5.3. Bildgebung 121
werten, Kennwerten der Iso- bzw. der Aniso- Weiß die kortikalen Assoziationsbahnen und
tropie, der kortikalen Dicke und von Deforma- Kommissuren. Rechts ist die Diffusivität dar-
tionskennwerten an der Kortexoberfläche be- gestellt. Dieser Kennwert repräsentiert das Aus-
rechnet. Hervorzuheben sind die anatomischen maß der Diffusion in einem Kompartiment. Man
Kennwerte „Anisotropie“ und „kortikale Di- erkennt, dass die Diffusivität in den Ventrikeln am
cke“, die in jüngster Zeit sehr erfolgreich zur größten ist (starke Weißfärbung).
Vermessung anatomischer Besonderheiten ein-
gesetzt worden sind (Imfeld et al., 2009). Die
kortikale Dicke und die kortikale Fläche sind neter MR-Sequenzen, die für die Diffusion
sehr wahrscheinlich Marker für unterschiedli- sensitiv sind, können diese Unterschiede ge-
che Phänomene. Während die kortikale Fläche nutzt werden, um Signalunterschiede in der
durch die Faltung des Kortex bereits in der feta- Bildgebung zu erzeugen. Quantifiziert wird v. a.
len Entwicklung (ab dem 5. Monat) beeinflusst, die „Anisotropie“15, d. h. der Grad der Ein-
wenn nicht gar festgelegt wird, kann sich die schränkung der Diffusion. Sie ist in den Kabel-
kortikale Dicke im Laufe eines Lebens teilweise systemen des Gehirns am größten und in den
erheblich verändern. Wichtige Einflussgrößen Ventrikeln am geringsten (Abb. 5-8). Mit neuen
für die kortikale Dicke sind neben der Reifung, mathematischen Methoden kann anhand der
Lernen und Erfahrung aber auch krankheits- Grauwertverteilung der gemessenen anatomi-
bedingte Einflüsse. schen Bilder die kortikale Dicke berechnet
Bei der diffusionsgewichteten MRT (Diffu- werden. Anhand dieses Parameters wurden
sion Tensor Imaging, DTI) werden Unter- bemerkenswerte Funktionszusammenhänge
schiede in der Diffusion der Wassermoleküle aufgedeckt (Shaw et al., 2006).
innerhalb des Zentralnervensystems gemes- Die strukturelle Bildgebung hat immense
sen. Die Diffusion repräsentiert die zufällige Fortschritte gemacht und bemerkenswerte
thermische Bewegung der Moleküle, die auch Befunde erbracht, die für die Psychologie und
als Brownsche Molekularbewegung bekannt die kognitiven Neurowissenschaften von gro-
ist. Die Diffusion innerhalb des Zentralnerven- ßer Bedeutung sind. Besonders erwähnens-
systems ist durch eine Vielzahl von Faktoren wert sind Ergebnisse, welche die anatomische
einschließlich der Architektur der Mikroumge-
bung determiniert. Sie ist z. B. innerhalb des
15 Isotrop bedeutet, dass die Diffusion mehr oder
Liquors weniger eingeschränkt als die Diffu- weniger gleichmäßig in alle Richtungen verläuft.
sion der Moleküle innerhalb des Intra- und In- Anisotrop bezeichnet dagegen eine Diffusion nur in
terzellularraums. Durch Verwendung geeig- eine oder einige Richtungen.
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122 5. Methoden der kognitiven Neurowissenschaften
Plastizität nach kurz- und langfristigem Lernen an die Umgebung abgegeben hat. Wenn in ei-
verschiedener Inhalte belegen. Des Weiteren nem lokalen Gewebeteil vermehrt leicht mag-
konnten bislang anatomische Reifungsver- netisches Deoxyhämoglobin vorhanden ist,
läufe, strukturelle Veränderungen bei psychia- stört dies das MR-Signal. Für die MRT bedeu-
trischen und psychischen Störungen sowie ana- tet dies konkret, dass die MR-Signalstärke ab-
tomische Besonderheiten bei herausragenden nimmt, wenn im Gewebe die Konzentration
Musikern herausgearbeitet werden (Jäncke, des Deoxyhämoglobins zunimmt, umgekehrt
2009; May, 2011). nimmt die Signalstärke zu, wenn die Konzen-
tration des Deoxyhämoglobins abnimmt.
Dieser Reaktionsablauf (blood oxygenation
Funktionelle Bildgebung
level dependent, BOLD) ist die Grundlage
Funktionelle Magnetresonanztomografie der meisten fMRT-Messungen in den kogniti-
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5.3. Bildgebung 123
den, denn letztlich wird eine Durchblutungs- lyse wieder stark reduziert wird, denn in der
veränderung gemessen. Im Übrigen ist der Regel werden sogenannte räumliche Filter von
Zusammenhang zwischen dieser hämodyna- 4 bis 16 mm3 eingesetzt, um Artefakte zu ver-
mischen Reaktion und der zugrunde liegenden mindern, was die räumliche Auflösung erheb-
neuronalen Aktivität nicht perfekt. Neue Un- lich einschränkt.
tersuchungen zeigen, dass die hämodyna- In kognitionswissenschaftlichen Experi-
mischen Reaktionen bereits vor der durch äu- menten werden prinzipiell zwei unterschied-
ßere Reize evozierten neuronalen Aktivität liche fMRT-Paradigmen angewendet: das
beginnen können und dass die Korrelationen „Block-Design“ und das „Event-related-De-
zwischen diesen und den zugrunde liegenden sign“. Bei einem „Block-Design“ wird eine
neuronalen Aktivitäten nur im Bereich von Serie von fMRT-Bildern aufgenommen, bei
r = 0.5–0.7 liegen. Insofern ist bei der Inter- der die experimentelle Bedingung nicht reali-
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124 5. Methoden der kognitiven Neurowissenschaften
lich muss auch bei der Auswertung von fMRT- die radioaktiv markierten Substanzen in die-
Daten berücksichtigt werden, dass simultan sen Hirngebieten mit höherer Konzentration
sehr viele Voxel statistisch analysiert werden. vorliegen. Radioaktive Marker werden dem
Aus diesem Grund ist wie bei der VBM-Ana- Organismus von außen über die Blutbahn als
lyse eine Korrektur der Wahrscheinlichkeiten organische Moleküle zugeführt, die Atome
anhand der Anzahl der durchgeführten statis- beinhalten, die Isotope ihrer natürlichen Ur-
tischen Tests zwingend notwendig. Derzeit sprungsform sind. Solche Isotope senden
zeichnen sich Weiterentwicklungen in der (emittieren) positiv geladene Teilchen (Posi-
tronen), die mit negativ geladenen Teilchen
(Elektronen) interagieren und dabei Photo-
nen produzieren (Abb. 5-10). Diese Photonen
Detektor werden mit entsprechenden Sensoren ge-
messen, die um den Kopf des Probanden
herum angeordnet sind. Der Proband liegt
Photon
wie im Magnetresonanztomografen in einer
Positron Elektron
Annihilation
Photon
Detektor
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5.4. Elektrophysiologie 125
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126 5. Methoden der kognitiven Neurowissenschaften
B)
A) Nasion
10 %
Vertex
Pg Pg
20 % 1 2
Fz Cz
20 % F p1 F p2 20 %
20 %
20 %
C3 F3 Fz F4
F3 Pz F7 F8
Fz 20 %
20 % P3
20 %
F7 A1 A2
10 % T3 C3 Cz C4 T4
T3
T5
O1
Nasion 10 %
10 % 20 %
T5
UZH Hauptbibliothek / Zentralbibliothek Zürich / 130.60.206.40 (2023-02-02 11:26)
P3 P4 T6
A1 Pz
präaurikulärer
Inion
Pg 1 Punkt O2
O1
20 %
C) NZ
10 %
Inion
Fpz
Fp1 Fp2
AF AF
7 AF AF AF 8
F 3 z 4
9 F10
F F
7 F F F F F F F6 8
5 3 1 z 2 4
FT 9 FT
FT FC5 FT 8 10
7 FC FC FC 2 FC 4 FC 6
3 1 FC z
A2 T9 T C5 C3 C1 Cz C2 C4 C8 T A2
7 8 T 10
CP CP CP CP CP
TP CP 3 1 z 2 4 CP TP
TP 7 5 6 8 TP
9 10
P3 P1 Pz P2 P4
P5 P6
P P
P9 7 8 P
PO 10
3 PO PO
PO z 4 PO
7 8
O1 O2
Oz
Iz
Abbildung 5-12: Im oberen Bildteil ist ein 10-20-Montage dargestellt. Im unteren Teil erkennt man eine
10-10-Montage für 64 Elektroden.
troden ungerade und den über der rechten Eine 10-20-Montage beinhaltet 19 EEG-
Hemisphäre lokalisierten Elektroden gerade Elektroden, die in der Regel durch 2 zusätzli-
Zahlen zugeordnet werden. Die auf der Zen- che EOG-Elektroden zur Aufzeichnung von
trallinie platzierten Elektroden erhalten das Augenbewegungen komplettiert werden. Er-
Suffix z (Fz, Cz, Pz). weiterte EEG-Systeme verwenden 128 oder
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5.4. Elektrophysiologie 127
µV
wickelt worden, die den Vorgang erheblich er-
–20
leichtern. Alpha 8–13 Hz
Die Analyse des EEG kann unterschiedlich 20
µV
tuden- und frequenzbezogenen Analysen so- –20
wie der Analyse von ereigniskorrelierten 20
Theta 4–8 Hz
µV
selten durchgeführten amplitudenbezogenen
–20
Analysen werden durchschnittliche Amplitu- Delta 0.5–4 Hz
denwerte für EEG-Sequenzen berechnet. So 20
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µV
die folgenden zwei Sekunden das EEG regis- –20
0 1 2 3 4 5
triert werden. Über diese zwei Sekunden Zeit (s)
könnte dann die mittlere Amplitude berechnet
Abbildung 5-13: Typische Frequenzbänder des
werden. Für die gängigen Fragestellungen in-
EEG.
nerhalb der kognitiven Neurowissenschaften
hat sich diese Analyse allerdings nicht durch-
gesetzt. Gebräuchlicher sind frequenzbezo-
gene sowie EKP-Analysen. Verteilung auf der Schädeloberfläche und
dem zeitlichen Verlauf mit unterschiedli-
chen psychologischen Zuständen in Ver-
5.4.1. Frequenzbezogene Analysen bindung gebracht. (1) Die weit verteilte und
an vielen Elektroden zu messende Theta-
Hierzu werden für interessierende EEG-Ab- Band-Aktivität tritt vor allen Dingen dann
schnitte Spektralanalysen anhand der Fourier- auf, wenn die Müdigkeit zunimmt, was zum
Analyse berechnet. In der Regel wird die Ener- Beispiel bei Schlafentzug auftreten kann.
gie für bestimmte Frequenzbänder berechnet (2) Die vorwiegend frontal in der Mittellinie
(Abb. 5-13): zu messende Theta-Band-Aktivität (fron-
• Delta-Rhythmus (δ-Rhythmus): Der lang- tale Mittellinienaktivität: Fm-Theta) tritt
same Delta-Rhythmus (unter 4 Hz) tritt v. a. vor allem dann auf, wenn Aufgaben be-
in tiefen Schlafstadien auf, wobei der Anteil arbeitet werden, die Konzentration erfor-
des Delta-Rhythmus mit zunehmendem dern (Gevins, Smith, McEvoy & Yu, 1997).
Alter abnimmt. Die Amplituden sind von So kann man zum Beispiel starke Fm-Theta-
variabler Größe. Sind Delta-Wellen auch im Aktivitäten während des Bearbeitens von
wachen Zustand zu beobachten, indizieren Arbeitsgedächtnisaufgaben, beim Rechnen
sie häufig pathologische Prozesse. Es sind und Lernen, während der Verarbeitung von
allerdings auch Arbeiten publiziert worden, Fehlern und während der Meditation mes-
die diesen EEG-Rhythmus mit bestimmten sen. Oft wird die Fm-Theta-Aktivität auch
Kognitionen in Verbindung bringen. als objektiver Indikator der subjektiven Ar-
• Theta-Rhythmus (τ-Rhythmus): Theta- beitsbelastung herangezogen. (3) Verände-
Wellen sind langsam (4–8 Hz) und weisen rungen der Theta-Band-Aktivität treten
hohe Amplituden auf. Starke Theta-Band- auch im Zusammenhang mit Gedächtnis-
Aktivitäten werden je nach der räumlichen prozessen auf (Sauseng et al., 2006). (4) Vor
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128 5. Methoden der kognitiven Neurowissenschaften
allem frontale Theta-Band-Aktivitäten sind rechnet. (4) Die Aktivität in vielen Hirn-
auch während positiver Emotionen gemes- gebieten (zum Beispiel gemessen anhand
sen worden (Sammler, Grigutsch, Fritz der BOLD-Reaktion) korreliert negativ mit
& Koelsch, 2007). Übermäßig starke Theta- der Power im Alpha-Band (Laufs et al.,
Aktivität in der Kindheit und Adoleszenz 2003; Sadaghiani et al., 2010). (5) Positiv
wird oft mit einer Reifungsverzögerung des korreliert die Alpha-Band-Aktivität (vor
Gehirns in Verbindung gebracht (Gasser, allem an posterioren Elektroden) mit der
Rousson & Schreiter Gasser, 2003). Aktivität des tonischen Alertness-Netz-
• Alpha-Rhythmus (α-Rhythmus): Der fast werkes (anteriores Cingulum, anteriore
gleichmäßige, nicht immer sinusoidale Insel, anteriorer Präfrontalcortex und Tha-
Rhythmus ist schon für das bloße Auge gut lamus) (Sadaghiani et al., 2010). (6) Gene-
zu erkennen. Er tritt insbesondere im rell wird der Alpha-Aktivität eine eher hem-
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5.4. Elektrophysiologie 129
eine wichtige Rolle, vor allem im Zusam- analysen berechnet, bei denen statistische Zu-
menhang mit der Erforschung des Bewusst- sammenhänge zwischen den EEG-Signalen
seins und der Wahrnehmung (Herrmann verschiedener Elektrodenpositionen ermittelt
& Kaiser, 2011). werden. Meist sind diese Zusammenhänge li-
nearer Natur, derzeit wird jedoch auch an
Im Rahmen dieses Lehrbuchs wird an ver- nichtlinearen Modellen gearbeitet. Eine hohe
schiedenen Stellen auf die einzelnen Fre- Korrelation zwischen zwei Elektroden bedeu-
quenzbänder und deren Bedeutung für spezi- tet, dass die EEG-Signale an beiden Elektro-
fische psychische Funktionen eingegangen. den hinsichtlich der Frequenz sehr ähnlich
Typischerweise werden bestimmte Frequenz- sind. Kohärenzanalysen sind insbesondere
bänder während des Durchführens bestimm- hilfreich, wenn die Analyse der funktionellen
ter Tätigkeiten und während Ruhe (als Kon- Koppelung zwischen den Hemisphären oder
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130 5. Methoden der kognitiven Neurowissenschaften
20 –3µV N1
0
µV
–20
20
0
µV
–20
20 N2
0
µV
–20
20 +3µV P1
0 P2
µV
–20
20
0
µV
–20
20
0
µV
–20 P3
20
0
µV
–20
20 0 100 200 300 400 500
0
µV
20
0
µV
–20
5
Latenz bezogen auf den sie auslösenden Reiz.
0 EKP-Komponenten werden anhand ihrer Po-
larität und des Zeitpunktes ihres Auftretens
µV
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5.4. Elektrophysiologie 131
flusst die exogenen Komponenten. So konnte genannt) und die N400. Auf die einzelnen
z. B. gezeigt werden, dass bei Musikern die Komponenten wird im Rahmen dieses Lehr-
frühen Verarbeitungsstufen anders ablaufen, buches in den entsprechenden inhaltlichen
was sich in unterschiedlichen exogenen Kom- Kapiteln näher eingegangen.
ponenten niederschlägt (Ott et al., 2011). Eine gewisse Sonderstellung nimmt die
Typische exogene Komponenten sind die au- Mismatch Negativity (MMN) ein. Die MMN
ditorischen Hirnstammpotenziale, Kom- ist eine EKP-Komponente, die im Zusammen-
ponenten mit mittlerer (10–50 ms nach Reiz- hang mit Orientierungsreaktionen, dem Ge-
präsentation: N0, P0, Na, Pa, Nb) und mit dächtnisaufbau und dem sensorischen Ge-
langer Latenz (ca. 70–300 ms nach Reizprä- dächtnis auftritt. Sie wird durch eine Diskre-
sentation: P1, N1, P2). panz zwischen einer gerade aufgebauten
Endogene Komponenten dagegen werden Gedächtnisspur und einem neuen, unerwarte-
im Rahmen komplexer Prozesse evoziert und ten Reiz (auch beim Ausbleiben eines Reizes)
verlangen deshalb besondere Aufmerksamkeit ausgelöst (Abb. 5-17). Das Bemerkenswerte an
und Mitarbeit der Versuchsperson. Deshalb
benötigen sie zur Evozierung höhere kognitive
Prozesse wie Aufmerksamkeit, Gedächtnis N1
Antwort auf
bekannte Töne
100 ms P1 Antwort auf
VII abweichende Töne
I II
VI
III Abbildung 5-17: Typische MMN. In einem typi-
IV V schen MMN-Experiment werden häufig Stan-
0 2 4 6 8 10 12 ms
dardreize (standards) und selten Vergleichsreize
(deviants) präsentiert. Für jeden dieser Reize wird
Abbildung 5-16: Beispiel für Hirnstammpoten- ein EKP berechnet. Diese beiden EKP werden von-
ziale. Jede einzelne „Welle“ kennzeichnet eine Um- einander abgezogen und die Differenzwelle weist
schaltung im Hirnstamm innerhalb der Hörbahn um 100–150 ms eine deutliche Negativierung auf.
(s. auch Kap. 9). Dies ist die MMN.
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132 5. Methoden der kognitiven Neurowissenschaften
der MMN ist, dass sie offenbar automatisch dargebotenen Reiz verglichen wird. Interes-
auftritt und keine aufmerksame und kontrol- sant ist, dass individuelle Unterschiede hin-
lierte Zuwendung zu den Reizen von der Ver- sichtlich der Fähigkeit zur Ausbildung solcher
suchsperson erfordert. Deshalb wird ver- neuronalen Modelle bestehen.
mutet, dass die MMN einen präattentiven Des Weiteren können noch langsame Po-
Vergleichsprozess reflektiert, in dem ein neu- tenziale vor bestimmten Reizen oder Reaktio-
ronales Gedächtnismodell mit dem gerade nen unterschieden werden. Ein typisches Po-
tenzial dieser Gruppe ist die CNV (Contingent
Negative Variation; Abb. 5-18). Sie tritt typi-
A) scherweise in einer Warteperiode zwischen
CNV einem Warnreiz (S1) und einem imperativen
Stimulus (S2, auch Go-Reiz genannt) auf. Ty-
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5.5. Dipolanalysen und elektrische Tomografie 133
nach oben. Diese Dendriten werden daher durch IPSP an oberflächlichen Schichten und
auch als apikale Dendriten bezeichnet (apex umgekehrt (Abb. 5-19).
= Spitze, auf die Spitze bezogen). An diesen Durch die vertikale Lage der Pyramiden-
Dendriten enden Afferenzen vom Thalamus zellen im Neokortex und die dort herrschenden
und anderen kortikalen Bereichen. Werden elektrischen Widerstandsverhältnisse kommt
über diese Afferenzen die apikalen Dendriten es zu einer Phasenverschiebung zwischen Zell-
erregt, tritt Na+ in die Dendriten ein. Der ex- körper und den apikalen Dendriten. Man kann
trazelluläre Raum um diese Dendriten wird sich dieses System wie eine dynamische Batte-
dann negativ (negatives Feldpotenzial), es ent- rie vorstellen, die je nach aktueller Ladungs-
steht ein exzitatorisches postsynaptisches Po- verteilung an der Spitze positiv und am unteren
tenzial (EPSP). Über diese Afferenzen können Ende negativ geladen ist. Die Ladungsvertei-
die Dendriten auch gehemmt werden. In die- lung kann sich aber auch umorientieren, so-
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sem Fall treten aus dem Inneren der Dendri- dass die Spitze negativ geladen ist, während
ten Cl–-Ionen aus und K+-Ionen diffundieren der untere Teil positiv geladen ist. Von dieser
ins Zellinnere, sodass der Extrazellulärraum Potenzialverteilung leitet sich die Bezeichnung
positiv wird (positives Feldpotenzial) und ein Dipol ab. Die beschriebenen Ionenbewegun-
inhibitorisches postsynaptisches Potenzial gen generieren Feldpotenziale, die auch von
(IPSP) entsteht. Das EPSP und das IPSP brei- weiter entfernt liegenden Elektroden aufgefan-
ten sich elektrotonisch entlang der Dendriten gen werden können. Wichtig zum Verständnis
aus und führen zu Potenzialschwankungen ist, dass v. a. die extrazellulären Ströme we-
an der Kortexoberfläche. Positive Potenzial- sentlich zum EEG beitragen.
schwankungen entstehen durch positive Ak-
tivitäten (EPSP) in tieferen Schichten oder
5.5. Dipolanalysen und
elektrische Tomografie
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134 5. Methoden der kognitiven Neurowissenschaften
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5.6. Magnetenzephalografie (MEG) 135
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Abbildung 5-21: Dargestellt ist eine prinzipielle Anordnung eines Magnetenzephalografen. Rechts ist
schematisch die Anordnung der Magnetometer (der Sensoren) über dem Schädel dargestellt.
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136 5. Methoden der kognitiven Neurowissenschaften
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5.7. Nahinfrarotspektroskopie 137
A) B)
reflektiertes Licht
transmittiertes
Licht
Lichtquelle
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C) D)
Abbildung 5-23: Messanordnung für NIRS. Schematische Darstellung der Anordnung von Laserdioden
(Lichtquelle) und Detektoren an der Schädeloberfläche. In A) sind die beiden Prinzipien der NIS-Messung
dargestellt. Die eine Methode beruht auf der Messung des vom Gehirngewebe reflektierten Lichts, wäh-
rend die andere Methode auf der Messung des durch das Gehirngewebe durchgetretenen Lichts beruht
(transmittiertes Licht). In B) ist eine Anordnung der Lichtquellen und Detektoren in Form eines Rechtecks
dargestellt. Zu sehen sind 18 Kanäle, die 9 Lichtquellen und 9 Detektoren enthalten können. In C) und D)
sind andere Anordnungen zu sehen, die prinzipiell möglich sind.
abgebrochen werden, sie kann allerdings nach deln von Erwachsenen ist die Registrierung
kurzer Unterbrechung weitergeführt werden. v. a. wegen der dicken Kopfhaut und der Haare
NIRS können am besten bei Babys und Klein- meist problematisch.
kindern durchgeführt werden. An den Schä-
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138 5. Methoden der kognitiven Neurowissenschaften
Verfahren werden als Neurofeedbackverfah- großer Energie hoch. Der Proband hat die
ren bezeichnet. In jüngster Zeit werden die so Aufgabe, die Alpha-Band-Energie in einem
gemessenen Hirnsignale auch genutzt, um bestimmten Bereich zu halten. Der zu errei-
externe Geräte zu steuern. Dieser Ansatz chende Energiebereich wird vom Therapeu-
wird in Abgrenzung zum Neurofeedback als ten aufgrund bestimmter theoretischer Über-
Brain-Computer-Interface-Technik (BCI) legungen vorher festgelegt. Der Proband
bezeichnet. muss also trainieren, seine Hirnaktivität der-
EEG-Verstärker
EEG-Brause
1 2 3 4 5 6
PC mit AD-Karte
Notebook
für Feedback
Patient
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5.8. Biofeedback von kortikaler Aktivität 139
art zu beeinflussen, dass er die angestrebte trainieren kann. In neueren Arbeiten wird mit
Alpha-Band-Energie erreicht. In der Praxis mehr Elektroden gearbeitet, um ein differen-
werden verschiedene EEG-Kennwerte in Ab- zierteres Aktivierungsbild des Gehirns zurück-
hängigkeit vom Trainingsziel verwendet. Trai- zumelden und trainieren zu lassen.
niert werden unter anderem Verhältnisse Bei den BCI-Techniken werden die gemes-
zwischen verschiedenen Frequenzbändern senen Hirnsignale genutzt, um externe Geräte
(Alpha/Theta), das Beta-Band oder bestimmte anzusteuern. So ist gezeigt worden, dass mit
EKP-Komponenten (z. B. die P300). EEG-Signalen Avatare in virtuellen Welten ge-
Diese Art des Neurofeedbacks ist mittler- steuert werden können. Therapeutisch inte-
weile sehr weit verbreitet und wird für ver- ressant sind Arbeiten, in denen neurologische
schiedene Therapien eingesetzt. Je nach ge- Patienten über solche BCI-Techniken ihre ge-
nutzter Elektrodenanordnung und trainierten lähmten Arme wieder ansteuern können der
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MRI-Scanner
Projektor für
Feedback-Screen MR-Signale
Elektrodenposition
Transformation
zu einem Rück-
meldungssignal
Abbildung 5-25: Versuchsanordnung aus dem Feedbacksignal
Versuch von Hochberg et al. (Nachgezeichnet
nach Hochberg et al., 2006) Abbildung 5-26: Anordnung für Echtzeit-fMRT.
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140 5. Methoden der kognitiven Neurowissenschaften
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5.10. Läsionsstudien 141
kurzzeitige Hemmung des primären Motor- Das Hauptproblem dieser Techniken be-
kortex, sodass die von diesem Hirnbereich steht darin, dass sie nicht bei Personen an-
kontrollierten Fingerbewegungen etwas lang- wendbar sind, die zu epileptischen Anfällen
samer sind als im unbeeinflussten Zustand neigen. Mitunter können die TMS-Impulse
(Jäncke et al., 2004). auch schmerzhaft sein, v. a. dann, wenn sie
2. Das Hirngewebe kann auch erregt bzw. über den lateralen Hirngebieten appliziert
aktiviert werden. Dazu werden die TMS-Im- werden, da gleichzeitig die Gesichtsmuskeln
pulse für eine kurze Periode (2–20 s) hochfre- stimuliert werden, was zu Muskelzuckungen
quent (2–40 Hz) auf die interessierende Hirn- führt. Ein weiterer ungünstiger Aspekt, v. a. im
region appliziert. Eindrücklich wurde der Zusammenhang mit experimentellen Unter-
aktivierende Einfluss von Klimesch und Kolle- suchungen, ist die Tatsache, dass die Proban-
gen (Klimesch et al., 2003) nachgewiesen. Die den die TMS-Applikation praktisch immer
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Stromquelle
5.10. Läsionsstudien
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142 5. Methoden der kognitiven Neurowissenschaften
Häufig wird nach dem Prinzip der ein- die Durchführung der jeweiligen Aufgabe
fachen Dissoziation vorgegangen. Hierbei wirklich kausal wichtig sind.
wird die Läsion direkt mit dem Verhaltens-
ausfall oder der kognitiven Beeinträchtigung
in Verbindung gebracht. Wenn z. B. ein Patient 5.11. Weiterführende
eine Läsion im Gyrus fusiformis aufweist, ist er Methoden
in der Regel nicht mehr in der Lage, Gesichter
zu erkennen. Er leidet unter einer Prosopa- Die Methodenentwicklung in den kognitiven
gnosie. Es ist allerdings nicht zweifelsfrei si- Neurowissenschaften hat in den letzten Jahren
cher, dass der Gyrus fusiformis wirklich für die eine rasante Geschwindigkeit angenommen.
Gesichtswahrnehmung verantwortlich ist. Insbesondere die Weiterentwicklung mathe-
Daher müsste jetzt ein Patient oder eine Pa- matischer und statistischer Algorithmen zur
tientengruppe gefunden werden, die unter ei- Auswertung der doch recht großen Datenmen-
ner anderen Läsion und damit unter einem gen, die bei der Bildgebung und den neurophy-
anderen psychischen Ausfall leidet. Man siologischen Verfahren anfallen, hat enorme
spricht dann von einer doppelten Dissozia- Fortschritte gemacht. Dies ist auch durch die
tion. Liegt eine solche doppelte Dissoziation technischen Fortschritte der Computertech-
vor, lässt sich die Unabhängigkeit von zwei nologie bedingt. Während noch vor 25 Jahren
verschiedenen Dissoziationen nachweisen. äußerst teure Workstations notwendig waren,
Der eine Patient zeigt Beeinträchtigungen bei um die großen Datenmengen sinnvoll aus-
der Aufgabe A, aber nicht bei Aufgabe B. Der zuwerten, sind heute schon durchschnittlich
andere Patient oder die andere Gruppe zeigt ausgestattete Computer oder Laptops in der
Beeinträchtigungen bei der Aufgabe B, kann Lage, die komplexen Analysen durchzuführen.
aber Aufgabe A problemlos bewältigen. Wenn Besonders iterative Analysen, die zeit- und
eine solche Konstellation vorliegt, wird belegt, speicherintensiv sind, werden zunehmend ver-
dass die beiden Aufgaben von zwei voneinan- wendet. Eine mittlerweile sehr gebräuchliche
der unabhängig funktionierenden Prozessen Technik ist die Independent-Component-Ana-
verarbeitet werden und in unterschiedlichen lyse (ICA). Die ICA ist ein iteratives Verfahren,
Hirnarealen ablaufen. Ist die Lokalisation der das ähnlich wie die Hauptkomponentenana-
Läsionen bekannt, kann auf den Ort der Ver- lyse mehrdimensionale Datensätze in von-
arbeitung zurückgeschlossen werden. einander unabhängige Komponenten zerlegt.
Das Prinzip der doppelten Dissoziation ist Dies ist für die Auswertung von EEG- und
auf die Befunde der funktionellen Bildgebung MEG-Daten, aber auch für die Auswertung von
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5.11. Weiterführende Methoden 143
fMRT-Daten außerordentlich nützlich, denn die doch recht großen Datenmengen bringen.
man kann nicht nur recht elegant Artefakte, Auch die verschiedenen Maschinenlernalgo-
sondern auch raumzeitliche Aktivierungsmus- rithmen, die für verschiedene Klassifizierungs-
ter erkennen. aufgaben entwickelt wurden, werden zuneh-
Die Abbildung 5-29 zeigt ein typisches Bei- mend in der modernen Bildgebung eingesetzt.
spiel einer ICA-Analyse eines EEG-Datensat- Für Aufsehen sorgte eine neue Arbeit, in der
zes. Hier wurden kontinuierlich aufgenom- es den Forschern gelang, auf der Basis korti-
mene EEGs während der Ruhe, des Hörens kaler Aktivierungsmuster zu erkennen, wel-
und des Spielens von Musik berechnet. Man che auditorischen Sprachreize diese speziel-
erkennt raumzeitliche Aktivierungsmuster für len Aktivierungsmuster hervorgerufen hatten.
die Powerwerte in den verschiedenen Fre- Dazu hatten sie Patienten, die für neurochi-
quenzbändern. Sie reflektieren unterschiedli- rurgische Operationen vorbereitet wurden,
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che Hirnaktivierungsmuster, die bei diesen Elektroden auf die Kortexoberfläche platziert
drei Bedingungen beteiligt sind. Solche Ana- und damit die neurophysiologischen Aktivie-
lysen sind gerade für komplexe Daten höchst rungsmuster gemessen, die beim Präsentieren
nützlich, denn mit ihnen kann man Ordnung in von Sätzen hervorgerufen wurden. In anderen
Abbildung 5-29: Ergebnisse einer ICA-Analyse von EEG-Daten. Die EEGs wurden in drei Bedingungen
registriert: Ruhe, Hören von Musik und Spielen des gehörten Musikstückes (Scale) auf dem Klavier. Dar-
gestellt sind fünf unterschiedliche ICs, die jeweils unterschiedliche Anteile der Gesamtvarianz reprä-
sentieren. Die unterschiedlichen Graustufen repräsentieren gegensätzliche Aktivierungen (hellgrau:
Aktivitätszunahme, dunkelgrau: Aktivitätsabnahme). Die Hirngebiete, welche in gleicher Graustufe dar-
gestellt sind, sind kohärent, also gleichsinnig aktiviert (nach Jäncke & Alahmadi, 2016b).
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144 5. Methoden der kognitiven Neurowissenschaften
Worten: Sie konnten anhand der Hirnaktivie- sind EEG und MEG unerreicht gut (Abb. 5-30).
rungen erkennen, welche akustischen Sprach- Mit diesen Methoden ist eine zeitliche Auf-
reize das Gehirn gerade verarbeitet (Makin et lösung im Millisekundenbereich möglich,
al., 2020). Die Präzision dieses Brain-Readings was insbesondere für physiologische Prozesse
war mit circa 40 % Treffergenauigkeit bemer- entscheidend ist, die in die Kontrolle psy-
kenswert hoch und lässt vermuten, welche chischer Funktionen eingebunden sind. Die
Möglichkeiten sich mit diesen Methoden in funktionelle Magnetresonanztomografie hat
Zukunft anbieten. Ähnliche mathematische hinsichtlich der zeitlichen Auflösung gegen-
Methoden sind auch verwendet worden, um über EEG und MEG einen erheblichen Nach-
anhand von EEG-Aktivierungen und hirnana- teil, denn die BOLD-Reaktion entfaltet sich
tomischen Besonderheiten einzelne Personen im Sekundenbereich mit einem Reaktions-
(Valizadeh et al., 2018, 2019) oder das bio- maximum von ca. 4–8 s nach Reizpräsenta-
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logische Alter zu identifizieren (Valizadeh et tion. Der Vorteil der fMRT liegt in der räum-
al., 2017). Die Verwendung solcher Methoden lichen Auflösung, die 4–16 mm3 erreicht. Bei
lassen für die Zukunft interessante Ansätze für EEG und MEG ist die räumliche Auflösung
die Entwicklung von Biomarkern zur Diagnose etwas weniger gut, es wird eine Genauigkeit
psychischer Erkrankungen und für die präzi- von ca. 10–20 mm3 erreicht. Mit der PET-
sere Justierung von psychopharmakologischen Technik sind ähnliche räumliche Auflösun-
Interventionen vermuten. gen wie bei der funktionellen Magnetreso-
Interessante Neuentwicklungen deuten sich nanztomografie möglich. Hinsichtlich der
auch im Bereich der EEG-Technologie an. So zeitlichen Auflösung ist die PET allerdings
wird derzeit an der Entwicklung von Trocken- ungenau und liegt lediglich im Minuten-
elektroden gearbeitet, mit denen die Elek- bereich, was für psychologische Prozesse
troden schneller und wahrscheinlich auch eher unbefriedigend ist.
weniger belastend für die Probanden auf der PET und die elektrokortikalen Ableitungen
Kopfoberfläche angebracht werden können. Es setzen erhebliche Eingriffe in den Organismus
werden auch Methoden getestet, mit denen des Probanden voraus. Auch die TMS- und
man mit wenig Elektroden möglichst viel In- tDCS-Technik sind invasiv, sie sind bei sachge-
formationen über die neurophysiologische Ak- mäßer Anwendung und bei Einhaltung der
tivität des Gehirns gewinnen kann (https:// Sicherheitskriterien allerdings sichere Verfah-
www.neurovigil.com). Solche Techniken könn- ren ohne nennenswerte gesundheitliche Risi-
ten dann die mobile Nutzung des EEGs voran- ken. Die Methoden unterscheiden sich auch
treiben und damit auch für die Diagnostik und hinsichtlich ihres Investitions- und Betreu-
Therapie von neurologischen und psychiatri- ungsaufwands. MRT und PET sind die teuers-
schen Störungen nutzbar werden. ten und aufwendigsten Verfahren. Ein recht
günstiges Verfahren ist das EEG, mit dem un-
ter Ausnutzung der zur Verfügung stehenden
5.12. Übersicht über die sehr guten Analysetechniken hervorragende
Methoden der kognitiven Resultate erzielt werden können.
Neurowissenschaften
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5.13. Zusammenfassung 145
3
Gehirn MEG & ERP fMRI
2
PET natürliche
Optical
Läsionen
Map imaging
1 TMS
induzierte Läsionen
Kolumne 0
Log Größe (mm)
Neuron Lichtmikroskop
Single unit
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–2
Dendrit
Patch clamp
–3
Synapse
–4
–3 –2 –1 0 1 2 3 4 5 6 7
Millisekunde Sekunde Minute Stunde Tag
Log Zeit (s)
Abbildung 5-30: Räumliche (Ordinate) und zeitliche Auflösung (Abszisse) der einzelnen bildgebenden
Verfahren. Die klassischen bildgebenden Verfahren sind in dunkler Schattierung dargestellt. EEG, MEG
und ERP sind in heller Schattierung dargestellt, da diese Verfahren nicht eindeutig als bildgebende Ver-
fahren aufgefasst werden können. Neben den klassischen bildgebenden Verfahren sind zur Orientierung
auch noch die räumlich-zeitlichen Auflösungen von Läsionen und anderen neurophysiologischen Me-
thoden dargestellt (z. B. Patch-clamp, Einzelzellableitungen). TMS = transkranielle Magnetstimulation,
die als Ergänzung zu den bildgebenden Verfahren aufgefasst wird. (Nachgezeichnet und modifiziert
nach Abbildung 4-36 aus Gazzaniga et al., 2002)
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146 5. Methoden der kognitiven Neurowissenschaften
konstruktion anatomischer Strukturen (in • Für anatomische Messungen sind die Rela-
den Neurowissenschaften die Rekonstruk- xationszeiten entscheidend. Jeder Gewebe-
tion des Gehirns) erlauben. Dazu gezählt typ verfügt über typische Relaxationszei-
werden auch Methoden, die neurophysiolo- ten, anhand derer berechnet wird, welcher
gische Prozesse (z. B. Durchblutungsver- Gewebetyp (graue oder weiße Substanz)
änderungen oder neurophysiologische Ak- „angeregt“ wurde. Der jeweils angeregte
tivierungen) auf anatomische Strukturen Gewebetyp wird als Graustufe in den digi-
beziehen. talen Bildern dargestellt.
• Typische bildgebende Verfahren sind • Unter dem Begriff „strukturelle Bild-
Magnetresonanztomografie (MRT), Diffu- gebung“ wird die Analyse von neuroanato-
sion Tensor Imaging (DTI), Sonografie mischen Daten verstanden, die mittels Mag-
(Messung von Schallreflexionen), Com- netresonanztomografie erhoben wurden.
•
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putertomografie (CT, Messung der Rönt- Die Analyse struktureller Daten kann fol-
gen-Absorption), Szintigrafie (Aktivität ei- gendermaßen durchgeführt werden: (1)
nes Tracers), Positronen-Emissions-Tomo- stereotaktische Normalisierung des gemes-
grafie (PET, Messung der Tracerkonzen- senen Gehirns in einen „Standardraum“;
tration), Spektroskopie und die optische (2) Segmentierung der grauen und weißen
Bildgebung mittels Nahinfrarotspektrosko- Substanz; (3) Modellierung von lokalen und
pie (NIRS). EEG und MEG werden zuneh- globalen Formaspekten des Gehirns; (4)
mend im Sinne von bildgebenden Verfahren Modellierung der Form und des Verlaufs
genutzt. von markanten Sulci; (5) Schätzung der
• Die Magnetresonanztomografie ist das Kortexdicke oder der Gyrifizierung (Fal-
bildgebende Verfahren, das in den letzten tungsgrad). Grundlage dieser Analysen ist
Jahren die kognitiven Neurowissenschaften die „Zerlegung“ des Gehirns in viele kleine
am meisten beeinflusst hat. Ein Magnet- digitale Voxel.
resonanztomograf besteht im Prinzip aus • Bei der Diffusion-Tensor-Imaging-Tech-
einem starken Magneten (von 1–7 Tesla), in nik (DTI) werden Unterschiede in der Dif-
dem der Proband platziert wird. fusion der Wassermoleküle innerhalb des
• Für die Magnetresonanztomografie ist der Zentralnervensystems gemessen, v. a. die
Spin des Protons wesentlich. Die Drehung „Anisotropie“, d. h. der Grad der Einschrän-
des Protons (Spin) erzeugt ein schwaches kung der Diffusion. Isotrop bedeutet, dass
Magnetfeld, sodass sich das Proton wie ein die Diffusion mehr oder weniger gleich-
kleiner Stabmagnet verhält, der durch ein mäßig in alle Richtungen verläuft. Aniso-
äußeres Magnetfeld beeinflusst werden trop bezeichnet dagegen eine Diffusion nur
kann. Die Bewegung des Protons erzeugt in eine oder einige Richtungen.
letztlich ein messbares Signal. Die Spins • Grundlage der funktionalen Magnet-
richten sich in einem starken äußeren Mag- resonanztomografie ist der BOLD-Ef-
netfeld längs des Magnetfeldes aus (Längs- fekt. Im Wesentlichen wird er durch einen
magnetisierung). Durch Applikation eines vorübergehenden und lokalen Überschuss
hochfrequenten Impulses können die Spins an sauerstoffreichem Blut bedingt. Aus-
zum „Umklappen“ in die Horizontale be- gelöst wird dieser Überschuss an oxy-
wegt werden (Quermagnetisierung). Nach geniertem Blut durch die lokale neuronale
dem Hochfrequenzimpuls bewegen sich die Erregung. Vor diesem Überschuss an oxy-
Spins wieder in die Ausgangslage zur Längs- geniertem Blut entsteht zunächst mehr
magnetisierung zurück (Relaxation). deoxygeniertes Blut, da Sauerstoff zur
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5.13. Zusammenfassung 147
muss sehr sorgfältig durchgeführt werden. präsentation: P1, N1, P2). Die Mismatch
In diesem Zusammenhang ist die Korrektur negativity (MMN) kann ebenfalls dazu ge-
für multiple statistische Tests sehr wichtig, rechnet werden. Zu den endogenen Kom-
da bei der statistischen Analyse dieser Da- ponenten werden die Processing-negativity
ten in der Regel sehr viele statistische Tests (PN), die P3 (oder auch P300 genannt) und
durchgeführt werden müssen. die N400 gezählt. Auch die langsamen
• Mit der PET-Methode werden lokale Kon- Gleichspannungsverschiebungen vor moto-
zentrationen von radioaktiv markierten rischen Reaktionen wie die Contingent ne-
Substanzen in bestimmten Hirngebieten gative Variation (CNV) und das Bereit-
gemessen. Ist ein bestimmtes Hirngebiet schaftspotenzial gehören zu den endogenen
neuronal erregt, nimmt lokal die Durch- Komponenten.
blutung zu. Dies hat zur Folge, dass die ra- • Die an der Schädeloberfläche gemessenen
dioaktiv markierten Substanzen in diesen Signale entstehen an den Dendriten und
Hirngebieten mit höherer Konzentration Synapsen der kortikalen Neurone. Nega-
vorliegen. Diese Technik ist für die kogniti- tive Feldpotenziale in der Nähe der Kort-
ven Neurowissenschaften heutzutage eher exoberfläche bedingen negative EEG-Po-
von randständiger Bedeutung. tenziale. Positive Feldpotenziale an der
• Das EEG ist die am häufigsten genutzte Kortexoberfläche resultieren dagegen in
Methode in den kognitiven Neurowissen- positiven EEG-Potenzialen. Die an der
schaften. Gemessen wird die elektrische Schädeloberfläche gemessenen EEG-Po-
Aktivität des Gehirns, vorrangig an der tenziale sind Summenpotenziale vieler
Schädeloberfläche. Seltener genutzte Vari- kortikaler Neurone.
anten messen die elektrische Aktivität mit- • Der Rückschluss von der Verteilung der
tels Elektroden, die direkt in das Hirnge- elektrischen Aktivität an der Schädelober-
webe eingeführt werden. fläche auf die intrazerebralen Quellen ist
• Zur Analyse können die Frequenzbänder ein prinzipiell unlösbares Problem (das in-
oder die ereigniskorrelierten Potenziale verse Problem). Aktuell werden Schätz-
ausgewertet werden. Typische Frequenz- methoden genutzt, mit denen unter der
bänder sind (1) der Delta-Rhythmus Annahme bestimmter Randbedingungen
(< 4 Hz), (2) der Theta-Rhythmus (4–7 Hz), gute Ergebnisse hinsichtlich der Schätzung
(3) der Alpha-Rhythmus (8–12 Hz), (4) der intrazerebraler Quellen erzielt werden. Die
Beta-Rhythmus (13–30 Hz), (5) der intrazerebralen Quellen werden als Dipole
Gamma-Rhythmus (> 30 Hz) und (6) der aufgefasst. Die räumliche Auflösung, die
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148 5. Methoden der kognitiven Neurowissenschaften
mit diesen Methoden erzielt wird, hängt ab kation (2–20 s mit 2–40 Hz) zur funktiona-
von der Anzahl der genutzten Elektroden len Erregung und die kurze Präsentation
(je mehr, desto besser), vom Hirngebiet, für von Einzelimpulsen zur kurzen Störung
das die Schätzung vorgenommen wird, und neurophysiologischer Prozesse.
von der Qualität der EEG-Daten. Es werden • Bei der transkraniellen Gleichstromstimu-
räumliche Auflösungen von ca. 10–20 mm3 lation (Transcranial Direct Current Sti-
erreicht. mulation, tDCS) werden zwei großflächige
• Mit der Magnetenzephalografie (MEG) Schwammelektroden (ca. 20 cm2) verwen-
werden die vom Gehirn generierten schwa- det, über die schwache Gleichströme (ca.
chen Magnetfelder gemessen. Die im MEG 1–2 mA) geleitet werden. Hirngewebe un-
gemessenen Magnetfelder liegen unterhalb ter der Anode wird erregt (anodale Sti-
eines pT (pico Tesla), ihre Stärke beläuft mulation), während das unter der Kathode
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sich damit auf weniger als den hundertmil- liegende Hirngewebe gehemmt wird (ka-
lionsten Teil der Stärke der durch das Erd- thodale Stimulation).
feld hervorgerufenen Magnetfelder. Sie • Läsionsstudien sind die klassischen Me-
werden ausschließlich durch die intrazel- thoden, um die Bedeutung einzelner Hirn-
lulären Ströme generiert. gebiete für die Kontrolle und Generierung
• Die Nahinfrarotspektroskopie (NIRS) ar- von psychischen Funktionen nachzuwei-
beitet mit Lichtstrahlen im Bereich von 650 sen. Bei einer einfachen Dissoziation wird
bis 950 nm, die auf das Gehirn projiziert versucht, die Läsion eines Patienten mit
werden. Das vom Gehirngewebe reflek- dem Verhaltensausfall in Verbindung zu
tierte Licht wird gemessen. Anhand der bringen. Bei einer doppelten Dissoziation
spektroskopischen Analyse ist es dann werden Patienten gesucht, die bei einer be-
möglich, auf die Konzentration von oxy- stimmten Läsion A immer einen bestimm-
geniertem und deoxygeniertem Blut zu ten Verhaltensausfall A’ zeigen, ohne dass
schließen. Des Weiteren erlaubt dieses Ver- ein anderes Verhalten B’ beeinträchtigt
fahren auch die Messung des zerebralen wird. Diese Patienten werden von Patienten
Blutflusses (CBV). Die Messung ist aber ins- mit Läsionen in einem anderen Hirngebiet
besondere bei Erwachsenen noch proble- B unterschieden, die einen bestimmten
matisch; bei Babys dagegen wird sie erfolg- Verhaltensausfall B’ zeigen, ohne dass das
reich eingesetzt. Verhalten A’ beeinträchtigt wird.
• In jüngster Zeit werden Neurofeedback, • Die dargestellten Verfahren unterscheiden
Brain-Computer-Interface und Echtzeit- sich hinsichtlich der zeitlichen und räumli-
fMRT für therapeutische Anwendungen chen Auflösung und im Hinblick auf ihre
interessant. Invasivität. EEG und MEG können physio-
• Die Hirnaktivität kann von außen mittels logische Prozesse im Millisekundenbereich
der transkraniellen Magnetstimulation auflösen. Die räumliche Auflösung für die
(TMS) und der transkraniellen Gleichstrom- geschätzten intrazerebralen Quellen vari-
stimulation (tDCS) beeinflusst werden. iert zwischen 10 und 20 mm3. fMRT und
• Bei der TMS-Technik werden im Wesent- PET weisen eine sehr gute räumliche Auf-
lichen drei Varianten unterschieden: die lösung von 4–16 mm3 auf. Die zeitliche
niederfrequente wiederholte TMS-Applika- Auflösung ist bei diesen Verfahren aller-
tion (Slow Repetitive TMS, srTMS) zur dings mäßig, wobei die fMRT im Sekun-
funktionalen Hemmung des Hirngewebes, denbereich und PET im Minutenbereich
die hochfrequente kurzfristige TMS-Appli- auflöst.
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5.15. Weiterführende Literatur 149
• Aktuell arbeiten verschiedene Forscher- • Erläutern Sie das Grundprinzip der Mag-
gruppen an neuen Methoden, um die neu- netenzephalografie.
rophysiologischen und neuroanatomischen • Erläutern Sie das Grundprinzip der Nah-
Analysen zu verbessern. Zu nennen sind infrarotspektroskopie.
hier neue Techniken wie die ICA, die Nut- • Was ist Neurofeedback?
zung von Maschinenlernalgorithmen oder • Beschreiben Sie das Prinzip der Brain-Com-
die Entwicklung von mobilen EEG-Regis- puter-Interface-Technik.
triertechniken. • Was versteht man unter Echtzeit-fMRT?
Kommentieren Sie diese Anwendung.
• Beschreiben Sie das Grundprinzip des TMS.
5.14. Fragen und Aufgaben • Welche Varianten des TMS kennen Sie?
• Beschreiben Sie das Grundprinzip des
• Nennen Sie die wichtigsten Methoden, die
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tDCS.
in den kognitiven Neurowissenschaften ge- • Was versteht man unter einer doppelten
nutzt werden. Dissoziation?
• Welche Bedeutung haben die klassischen • Was versteht man unter ICA (Independent-
Methoden der kognitiven Psychologie für Component-Analyse)?
die kognitiven Neurowissenschaften?
• Welche Methoden werden zu den bild-
gebenden Verfahren gerechnet?
• Erläutern Sie das Grundprinzip der Magnet- 5.15. Weiterführende Literatur
resonanztomografie.
• Wie werden anhand der MRT-Daten die Hüsing, B., Jäncke, L., Tag, B. (2006). Impact
Assessment of Neuroimaging: Final Report.
einzelnen Gewebekompartimente ge-
Zürich: Vdf Hochschulverlag.
schätzt (z. B. graue und weiße Substanz)?
• Was versteht man unter der voxelbasierten
Jäncke, L. (2005). Methoden der Bildgebung in
der Psychologie und den kognitiven Neuro-
Morphometrie? wissenschaften. Stuttgart: Kohlhammer.
• Erklären Sie die BOLD-Reaktion. Michel, C. M., Koenig, T., Brandeis, D., Gianotti,
• Erläutern Sie das Grundprinzip der Positro- L. R . R ., Wackermann, J. (2009). Electrical
nen-Emissions-Tomografie (PET). Neuroimaging. Cambridge: University Press.
• Erläutern Sie, wie EEG-Elektroden auf der Nitsche, M. A., Paulus, W. (2011). Transcranial
Schädeloberfläche angebracht werden. direct current stimulation – update 2011. Res-
• Welche EEG-Rhythmen (oder Frequenz- tor Neurol Neurosci, 29(6), 463–492.
bänder) kennen Sie? Ridding, M. C., Rothwell, J. C. (2007). Is there a
• Was sind ereigniskorrelierte Potenziale future for therapeutic use of transcranial mag-
netic stimulation? Nat Rev Neurosci, 8(7),
(EKP)?
• Beschreiben Sie ein typisches EKP.
559–567.
Rösler, F. (2011). Psychophysiologie der Kogni-
• Was sind Hirnstammpotenziale? tion: Eine Einführung in die kognitive Neuro-
• Worin unterscheiden sich endogene von wissenschaft. Heidelberg: Spektrum Aka-
exogenen EKP? demischer Verlag.
• Erläutern Sie die elektrophysiologischen Seifert, J. (2005). Ereigniskorrelierte EEG-Aktivi-
Grundlagen des EEG und der EKP. tät. Oberhaching: Dustri.
• Was sind Dipole und wie kann man sie
schätzen?
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151
6. Hemisphärenasymmetrie
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6.2. Funktionelle Links-rechts-Asymmetrien 153
hinsichtlich der Anzahl und des Volumens von Hemisphäre aphasische Symptome, kann da-
Neuronen und Gliazellen sowie des Ausmaßes von ausgegangen werden, dass der Patient
der intrahemisphärischen Verkabelung fest- deutlich linkshemisphärisch sprachdominant
gestellt werden. Unter funktionaler Laterali- ist. An neurologisch gesunden, aber endogen
sierung wird verstanden, dass homotope Hirn- depressiven Patienten wurden während der
areale der linken und rechten Hemisphäre Elektrokrampftherapie Befunde erhoben, die
entweder gänzlich andere Funktionen aus- ebenfalls Rückschlüsse auf die Sprachlatera-
üben oder bestimmte Funktionen in beiden lisierung erlauben. Den Patienten wurden
Hemisphären unterschiedlich effizient ablau- unilateral Elektroschocks an der linken und
fen. Eng verbunden mit der anatomischen und rechten Kopfhälfte appliziert und nachfol-
funktionalen Lateralisierung ist der interhemi- gende Dysphasien (Sprachstörungen) regis-
sphärische Informationsaustausch über das triert. Zusammengefasst konnte in all diesen
Corpus callosum. Studien zur Sprachlateralisierung festgestellt
werden, dass fast alle Rechtshänder über eine
linkshemisphärische Sprachdominanz verfü-
6.2. Funktionelle Links- gen. Hinsichtlich der Sprachlateralisierung
rechts-Asymmetrien von Linkshändern sind die Befunde hetero-
gen. Die Schätzungen für linkshemisphäri-
6.2.1. Sprachlateralisierung sche Sprachdominanz bei Linkshändern
schwanken zwischen 23 und 78 %, während
Sprachlateralisierung bedeutet, dass perzep- eine bihemisphärische Sprachorganisation
tive und expressive Sprachfunktionen bevor- nur bei 9–66 % und eine rechtshemisphäri-
zugt oder effizienter von einer Hemisphäre sche Sprachorganisation bei 11–19 % der
verarbeitet werden. Die für die Verarbeitung Linkshänder festgestellt wird. Mit der nicht-
der Sprachfunktionen effizientere Hemi- invasiven transkraniellen Dopplersonogra-
sphäre wird allgemein auch als „sprachdomi- phie hat eine Forschungsgruppe aus Münster
nante“ Hemisphäre bezeichnet. Im Rahmen bei einer großen Gruppe von gesunden Per-
umfangreicher neurologischer Studien konnte sonen (n = 326) den Zusammenhang zwi-
die linkshemisphärische Verarbeitungs- bzw. schen Händigkeit und Sprachdominanz ele-
Kontrolldominanz für Sprachmaterial diffe- gant untersuchen können (Knecht et al.,
renziert belegt werden. So wurde z. B. die 2000). Dabei kamen sie zu dem Ergebnis,
Prävalenz der Aphasie bei Vorliegen von dass nur sehr wenige Rechtshänder über reine
rechts- und linkshemisphärischer Läsion in rechtshemisphärische Sprachdominanz ver-
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154 6. Hemisphärenasymmetrie
Tabelle 6-1: Zusammenhang zwischen Händigkeit und kortikaler Sprachdominanz. (Die Daten sind aus
der Publikation von Knecht et al., 2000, entnommen.)
fügen (4–6 %). Bei den Linkshändern dagegen nur nach der vorwiegend genutzten Schreib-
sind es bereits 27 %, die rechtshemisphärisch hand gefragt, sondern auch die Stärke der
sprachdominant sind. Diese Befunde sind be- Rechtshändigkeitspräferenz angeben lassen.
sonders aussagekräftig, da hier ausschließlich Durchschnittlich ca. 10 % der Frauen und ca.
neurologisch gesunde Personen untersucht 11–12 % der Männer gaben an, mit der linken
worden sind, so dass krankheitsbedingte Ver- Hand zu schreiben. Auffallend ist auch, dass
änderungen der Asymmetrie ausgeschlossen in der älteren Arbeit die älteren Personen
werden können (Tab. 6-1). seltener angaben, mit der linken Hand zu
schreiben. In der neuen Arbeit dagegen
nimmt die Linkshändigkeitspräferenz weni-
6.2.2. Händigkeit ger stark mit zunehmendem Alter ab. Die al-
tersabhängige Reduktion der Linkshändig-
Die Händigkeit ist die am häufigsten unter- keitsprävalenz wird mit zwei Aspekten in
suchte und offensichtlichste funktionale Verbindung gebracht: (i) einem in der Vergan-
Asymmetrie. Die Mehrzahl aller Menschen genheit vorhandenen stärkeren sozialen
gebraucht vorwiegend die rechte Hand für all- Druck, die rechte Hand für alltägliche Tätig-
tägliche Verrichtungen. Lediglich ein kleiner keiten zu benutzen, obwohl eine Veranlagung
Prozentsatz benutzt mehrheitlich die linke zur Linkshändigkeit bestand, und (ii) einer ver-
Hand oder beide Hände gleich gut bzw. häufig. meintlich höheren Mortalitätsrate von Links-
Verlässliche Schätzungen der Händig- händern (Halpern & Loren, 1988; Loren &
keitsprävalenz liefern zwei große Studien. Halpern, 1991). Schulkinder wurden noch bis
Eine Arbeit bezieht sich auf eine Umfrage der zum vorigen Jahrzehnt v. a. in Europa und den
Zeitschrift National Geographic, bei der ca. 1,2 USA zur Rechtshändigkeit umerzogen, auch
Millionen US-Amerikaner nach der bevorzug- wenn eine Veranlagung zur Linkshändigkeit
ten Schreib- und Wurfhand befragt wurden bestand. Die leicht erhöhte Sterberate von
(Gilbert & Wysocki, 1992). Eine neuere Arbeit Linkshändern wird mit verschiedenen Ge-
hat im Rahmen einer von der BBC organisier- sundheitsrisiken (z. B. Immunerkrankungen,
ten Internetumfrage ca. 255 000 Personen be- Brustkrebs, Alkoholismus, mentale Retardie-
züglich der genutzten Hand untersucht (Peters rung, Hyperaktivität und Geburtskomplika-
et al., 2006; Tab. 6-2). Die Autoren haben nicht tionen) und einem erhöhten Unfallrisiko in
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6.2. Funktionelle Links-rechts-Asymmetrien 155
Tabelle 6-2: Händigkeitsprävalenz (in %) für das Benutzen der linken Hand zum Schreiben, geschätzt
aus zwei Arbeiten. Die Prävalenz zum Benutzen der rechten Hand ist die Komplementärsumme. In der
Studie von Gilbert & Wysocki (1992) wurden 1,2 Millionen US-Amerikaner hinsichtlich ihrer bevorzugten
Schreib- und Wurfhand befragt. Angegeben ist auch die Prävalenz der Subgruppe von Personen, die mit
der rechten Hand schreiben, aber mit der linken Hand werfen. Der in den rechten Spalten angegebene
Datensatz (Peters et al., 2006) gibt die Linkshändigkeitsprävalenz für Männer und Frauen an.
Verbindung gebracht. Das höhere Unfallrisiko überprüfen, mit welcher Hand vorwiegend ge-
kann damit zusammenhängen, dass sich schrieben, geworfen, eine Zahnbürste gehal-
Linkshänder in der Regel in einer für Rechts- ten oder eine Schere benutzt wird. Häufig ver-
händer konzipierten Welt zurechtfinden müs- wendet wird das Edinburgh Handedness
sen, was gelegentlich zu Problemen führen Inventory (Tab. 6-3). Zur Auswertung wird die
kann, die mit einem erhöhten Unfallrisiko ver- Beantwortung jedes Items gleichwertig auf-
bunden sind. Diese Auffassung ist allerdings summiert und zu einem Gesamthändigkeits-
nicht unwidersprochen geblieben und stimu- index verrechnet. Zu kritisieren ist hieran, dass
liert derzeit Diskussionen (Harris, 1993). nicht jede unimanuale Tätigkeit gleichwertig
Des Weiteren haben beide Studien fest- zur „Gesamthändigkeit“ beiträgt. Gelegent-
gestellt, dass Männer etwas häufiger links- lich werden auch Tätigkeiten abgefragt, die
händig sind als Frauen. Dieser Befund wurde von den befragten Personen nie oder nur
bereits häufiger berichtet. Auffallend ist je- höchst selten durchgeführt werden (z. B. eine
doch, dass diese Geschlechtsunterschiede in Schere halten). Aus diesem Grund schlägt
anderen ethnischen Gruppen stärker oder Marian Annett vor, zur Händigkeitspräferenz-
auch schwächer ausfallen. Insofern ist es mög- messung die Items unterschiedlich zu gewich-
lich, dass kulturelle Faktoren modulierend ten (Annett, 1970). Die wichtigsten sind die
wirksam geworden sind. ersten 5 bzw. 6 Items. Darüber hinaus sind die
Die Händigkeitspräferenz wird in der Regel Versuchspersonen aufgefordert, die erfragten
anhand diverser Fragebogen getestet, die Tätigkeiten dem Versuchsleiter vorzuführen
Fragen bezüglich bestimmter Tätigkeiten nut- (Tab. 6-4), wodurch die kognitive Belastung re-
zen. Alle Fragebogen beinhalten Items, die duziert wird. Annett schlägt vor, die Personen
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156 6. Hemisphärenasymmetrie
Tabelle 6-3: Deutsche Version des Edinburgh Handedness Inventory (nach Oldfield, 1971).
in konsistent Rechts- und Linkshändige sowie rechtshändig eingestuft (analog „links“). Dies
Gemischthändige einzuteilen. Wenn z. B. alle hat sich in der neuropsychologischen For-
wichtigen ersten 6 Items (manchmal auch nur schung als sehr fruchtbar erwiesen.
die ersten 5) mit „rechts“ beantwortet werden, Ein grundsätzliches Problem dieser Hän-
wird die betreffende Person als konsistent digkeitsfragebogen besteht darin, dass die
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6.2. Funktionelle Links-rechts-Asymmetrien 157
Probanden aufgefordert sind, sich vorzustel- ferenz oder „Füßigkeit“ bezeichnet. Leider
len, mit welcher Hand sie die Tätigkeiten aus- existieren zu diesem Phänomen vergleichs-
führen würden, was gewisse Fähigkeiten und weise wenige Studien (Peters, 1988). Den-
den Willen zur Visualisierung erfordert. Es noch lässt sich festhalten, dass Rechtshänder
darf auch nicht außer Acht gelassen werden, eine deutliche Präferenz für den rechten Fuß
dass v. a. bezahlte Probanden geneigt sein beim Treten (einen Ball forttreten) aufweisen,
könnten, die Fragebogen im Sinne einer ver- während für Linkshänder als Gruppe keine
muteten sozialen Erwünschtheit auszufüllen. deutliche Fußpräferenz festzustellen ist (Fuß-
Gerade diese unerwünschten Einflussgrö- präferenz für den rechten Fuß bei Rechtshän-
ßen führten zur Etablierung objektiverer Test- dern: 96–100 %, bei Linkshändern: 16–59 %).
verfahren, v. a. Geschicklichkeitstests (auch Neben der Fußpräferenz fällt eine Leistungs-
Leistungstests genannt), bei denen die Pro- dominanz der Augen hinsichtlich der Seh-
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banden aufgefordert werden, verschiedene schärfe und/oder der Dominanz z. B. beim
Tätigkeiten mit der rechten und linken Hand Anvisieren von entfernten Objekten und beim
durchzuführen. Zur Berechnung der Händig- Zeigen auf ein entferntes Objekt auf. Etwa
keit wird die Leistung der linken Hand von der 70 % aller Menschen bevorzugen das rechte
Leistung der rechten Hand abgezogen, wobei Auge, wobei auch bei dieser funktionalen
diese Differenz auch häufig an der Gesamtleis- Asymmetrie ein Zusammenhang mit der Hän-
tung normiert wird. Der so ermittelte Kenn- digkeit festgestellt werden kann (Bourassa et
wert wird als Lateralisierungskoeffizient be- al., 1996).
zeichnet. Diese Handleistungstests sind aus Eine Befragung, an der mehr als 170 000
verschiedenen Gründen sehr gut zur Messung Personen teilnahmen, ergab, dass das Verhält-
der Händigkeit geeignet: nis der Länge des Indexfingers (2. Finger) zum
• Sie sind objektiv und erlauben die Händig- Ringfinger (4. Finger) mit der Händigkeit zu-
keitsmessung auf einer kontinuierlichen sammenhängt (Manning & Peters, 2009). Das
Skala. Verhältnis von Index- zu Ringfinger ist für die
• Sie sind robuster gegenüber sozialen Ein- dominante und subdominante Hand unter-
flussfaktoren. schiedlich. Bei der dominanten Hand sind
• Sie erfordern keine besondere Vorstellungs- beide Finger annähernd gleich lang, was zu
fähigkeit von Tätigkeiten, die selten durch- einem Verhältnis zwischen Index- und Ring-
geführt werden. finger führt, das nahe 1 ist. Für die subdomi-
• Sie erlauben die Untersuchung von Per- nante Hand ist der Ringfinger in der Regel
sonengruppen, die den Händigkeitspräfe- deutlich länger als der Indexfinger, was zu ei-
renzfragen intellektuell nicht folgen kön- nem kleineren Verhältnis von Index- zu Ring-
nen (z. B. Kinder). finger als bei der dominanten Hand führt
• Trainingseinflüsse auf die Handleistung (Abb. 6-1). Bei Frauen sind diese Verhältnisse
können beurteilt werden (z. B. nach neuro- grundsätzlich größer, da beide Finger sich
logischen Schädigungen). hinsichtlich der Länge mehr ähneln als bei
Männern. Aufgrund des Geschlechtseinflus-
Neben der Händigkeit fällt bei den meisten ses wird angenommen, dass frühgeburtliche
Menschen auch eine Bevorzugung eines Fu- Schwankungen von Geschlechtshormonen
ßes auf (z. B., wenn man einen Ball schießt, (z. B. Testosteron) ursächlich sind.
einen Gegenstand mit den Zehen greift oder
mit dem Fuß etwas zertritt). Dieses Phäno-
men wird analog zur Händigkeit als Fußprä-
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158 6. Hemisphärenasymmetrie
Ring-
finger
Index-
(4D)
finger
(2D)
3
4
4 3 2
2
5 5
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1 1
Linkshänder Rechtshänder
Abbildung 6-1: Beispiel für die Längenverhältnisse zwischen Index- (2. Finger) und Ringfinger (4. Finger)
der rechten Hand getrennt für Rechts- und Linkshänder. Bei Rechtshändern sind beide Finger der rech-
ten (dominanten) Hand in etwa gleich lang. Dadurch resultiert ein Verhältnis nahe 1. Bei Linkshändern
ist die rechte Hand die subdominante Hand. Der Ringfinger ist im Mittel etwas länger als der Indexfinger,
sodass das Längenverhältnis zwischen beiden Fingern kleiner ist und weiter von 1 abweicht als bei den
Rechtshändern.
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6.2. Funktionelle Links-rechts-Asymmetrien 159
linkes Auge B
B
T
äre
isph
Hem
linke
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B
T
rechtes Auge
B
e
är
T ph
is
m
He
te
ch
re
Augenbewegungen das jeweils andere Ge- Kortex (Areal 17, 18 nach Brodmann) geleitet
sichtsfeld reizen. werden. Temporale Retinabereiche des rech-
Dass durch dieses Verfahren eine spezifi- ten Auges und nasale Retinabereiche des lin-
sche Reizung einer der beiden Hemisphären ken Auges projizieren in den rechten primä-
möglich ist, ist auf die Verschaltung der Seh- ren visuellen Kortex. Werden Wörter oder
nerven zurückzuführen. Das rechte Gesichts- Buchstaben im rechten Gesichtsfeld präsen-
feld ist mit der linken und das linke Gesichts- tiert, werden diese schneller und besser er-
feld mit der rechten Hemisphäre direkt kannt, als wenn sie im linken Gesichtsfeld
verbunden. Bezogen auf beide Augen bedeu- präsentiert werden. Präsentiert man nichtver-
tet dies, dass die Nerven aus dem nasalen bale Reize im linken Gesichtsfeld, werden
Retinabereich des rechten Auges und die diese schneller und präziser erkannt, als
Nerven aus dem temporalen Bereich des lin- wenn sie dem rechten Gesichtsfeld präsen-
ken Auges in den linken primären visuellen tiert werden.
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160 6. Hemisphärenasymmetrie
A)
rGF
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L R
B) C)
IGF IGF
L R
L R
Abbildung 6-3: Schematische Darstellung der Annahmen des Modells des direkten Zugriffs (direct ac-
cess model) und des Weiterleitungsmodells (callosal transfer model). Angenommen wird eine verbale
Stimulation des rechten (rGF) und linken Gesichtsfeldes (lGF). Bei tachistoskopischer Darbietung des
verbalen Reizes im rechten Gesichtsfeld (A) wird dieser Reiz der linken und damit sprachdominanten
Hemisphäre zugeleitet. Die Informationsverarbeitung vollzieht sich dann überwiegend in der linken
sprachdominanten Hemisphäre. (B) Bei tachistoskopischer Darbietung des verbalen Reizes im linken
Gesichtsfeld (lGF) soll gemäß des Weiterleitungsmodells die Information über das Corpus callosum zur
sprachdominanten Hemisphäre weitergeleitet werden. (C) Gemäß dem Modell des direkten Zugriffs
sollen die der subdominanten Hemisphäre zugeleiteten Informationen direkt in der subdominanten
Hemisphäre verarbeitet werden. Ein Übertritt der Informationen auf die sprachdominante Hemisphäre
kann dabei später erfolgen.
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6.2. Funktionelle Links-rechts-Asymmetrien 161
gen, dass die Verarbeitung bestimmter Infor- vorteil (ROV) bezeichnet. Personen, die be-
mationen immer (oder vorrangig) durch die züglich der Sprachverarbeitung rechtshemi-
spezialisierte Hemisphäre erfolgt. Werden die sphärisch dominant sind, reproduzieren
Informationen mittels der gesichtsfeldabhän- verbales Material akkurater, wenn es dem
gigen Reizung in die nicht spezialisierte Hemi- linken Ohr dargeboten wird. Das heißt, es ist
sphäre übermittelt, werden diese Informatio- ein Rechtsohrvorteil (ROV) für die Verarbei-
nen gemäß dieser Modellvorstellung über tung von sprachlichem Material in der Regel
die Kommissuren in die spezialisierte Hemi- nur bei kortikal linksdominanten Personen
sphäre übertragen. Durch diesen interhemi- und ein Linksohrvorteil (LOV) bei kortikal
sphärischen Informationsaustausch soll ein rechtsdominanten Personen zu beobachten.
Informationsverlust oder auch die Abnahme Diese Ohrvorteilseffekte treten in der Regel
des Signal-Rausch-Verhältnisses erfolgen, das nur bei dichotischen, aber nicht bei monau-
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den Nachteil der dem subdominanten Ge- ralen Testsituationen auf. Daher wird ver-
sichtsfeld angeschlossenen neuronalen Struk- mutet, dass bei der dichotischen Stimulation
turen bedingen soll. bereits subkortikal Selektionsprozesse aus-
Dass dem interhemisphärischen Informa- gelöst werden, die letztlich die Ohrvorteils-
tionsaustausch eine wichtige Bedeutung bei effekte bedingen.
der gesichtsfeldabhängigen tachistoskopi- Die physiologischen Ursachen der Ohr-
schen Reizung zukommt, konnte Roger Sperry vorteilseffekte sind allerdings bis heute noch
(1974) an Patienten mit durchtrenntem Cor- nicht eindeutig geklärt; diskutiert werden
pus callosum nachweisen. Allerdings zeigen unterschiedliche physiologische Modelle
Untersuchungen unter Verwendung der ta- (Hugdahl, 1995). Wahrscheinlich ist eine
chistoskopischen Darbietungstechnik bei Pa- Wechselwirkung zwischen Bottom-up- und
tienten mit einer Corpus-callosum-Agenesie, Top-down-Mechanismen für das Zustande-
dass diese Patienten „gleich verschieden“ Ur- kommen dieser Ohrvorteile verantwortlich.
teile treffen können, wenn sie aufgefordert Der Bottom-up-Mechanismus basiert auf
werden, die in die beiden Hemisphären über- spezialisierten neuronalen Netzwerken, die
mittelten Informationen miteinander zu ver- bestimmte Reize bevorzugt in einer Hemi-
gleichen. Solche Befunde gaben Anlass zu sphäre verarbeiten. Als Top-down-Mechanis-
der Vermutung, dass bei diesen Patienten mus könnten Aufmerksamkeitseffekte wirk-
auch extracallosale Informationswege (über sam werden, wobei untergeordnete Verarbei-
die vordere Kommissur) zum interhemisphäri- tungszentren durch übergeordnete vorbereitet
schen Informationsaustausch genutzt werden. werden. So ist z. B. vorstellbar, dass die auf
Der dichotische Hörtest ist ein sehr ge- dem linken Gyrus temporalis superior lokali-
bräuchliches Verfahren, mit dem funktionale sierten und für die Sprachverarbeitung spe-
auditorische Asymmetrien untersucht wer- zialisierten neuronalen Netzwerke bei der
den. Das Prinzip dieser Methode besteht da- Sprachverarbeitung stärker aktiviert sind.
rin, den Versuchspersonen auf beiden Ohren Diese stärkere Aktivierung könnte dann zur
gleichzeitig unterschiedliche akustische Reize Top-down-Aktivierung der kontralateralen
darzubieten (Abb. 6-4). Bezüglich der Sprach- Hörbahn führen, die dann für die Verarbeitung
verarbeitung linkshemisphärisch dominante von Sprachreizen vorbereitet (gebahnt) wäre.
Personen reproduzieren bei der dichotischen Obwohl dieses Modell plausibel erscheint und
Darbietung von Sprache diejenigen akus- mit älteren Verhaltensexperimenten überein-
tischen Reize präziser, die dem rechten Ohr stimmt, muss eine endgültige Bestätigung
zugeleitet werden. Dies wird als Rechtsohr- noch erbracht werden.
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162 6. Hemisphärenasymmetrie
Sprachareal
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ga ba
Abbildung 6-4: Schematische Darstellung des Prinzips der dichotischen Hörtestung und der neurona-
len Verschaltung der beim dichotischen Hören beteiligten Hirnstrukturen. Die dem rechten Ohr dar-
gebotenen Reize werden vorrangig im linksseitigen Sprachareal verarbeitet. Das führt zum Rechtsohr-
vorteil (ROV).
Die mit den dichotischen und tachisto- 5 % der Rechts- und maximal 15 % der Links-
skopischen Tests ermittelten Befunde zur händer. Diese Befunde bestätigen teilweise
Sprachlateralisierung können wie folgt zusam- die bereits dargestellten Befunde, die anhand
mengefasst werden (Tab. 6-5): 85–94 % der von Läsionsstudien und Wada-Tests gewon-
Rechtshänder und 70–80 % der Linkshänder nen wurden. Die Studien an gesunden Pro-
haben einen linkshemisphärischen Vorteil bei banden lassen jedoch vermuten, dass mehr
der Verarbeitung von verbalem Material. Ei- Linkshänder über eine „typische“ linkshemi-
nen signifikanten Linksohrvorteil und/oder sphärische Sprachdominanz verfügen, als äl-
einen signifikanten Vorteil der linken Ge- tere neurologische Studien nahelegen (siehe
sichtsfeldhälfte für Verbales zeigen lediglich dazu auch Tabelle 6-1).
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6.2. Funktionelle Links-rechts-Asymmetrien 163
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164 6. Hemisphärenasymmetrie
messen wurde, zeigte beispielsweise eine Welche dieser beiden Hypothesen zur
deutliche Asymmetrie hinsichtlich der Größe Erklärung asymmetrischer (oder auch sym-
des aktivierten Motorkortex (Volkmann et al., metrischer) Aktivierungsmuster herangezo-
1998). Bei Rechtshändern ist das aktivierte gen wird, hängt vom theoretischen Hinter-
Volumen im linksseitigen Motorkortex bei grund und von der jeweiligen experimentellen
Bewegungen mit rechts (rechte Hand oder Anordnung ab. Trotzdem bleibt die Interpreta-
rechter Arm) deutlich größer als das aktivierte tion asymmetrischer Aktivierungsmuster, ge-
Volumen im rechtsseitigen Motorkortex bei messen mit fMRT, EEG und MEG, immer
linksseitigen Bewegungen. Bei Linkshändern problematisch. Am besten interpretierbar sind
ergab sich ein umgekehrtes Bild mit grund- asymmetrische Aktivierungsmuster, bei denen
sätzlich stärkerer Aktivierung im rechtsseiti- eine Hemisphäre im Vergleich zur anderen gar
gen im Vergleich zum linksseitigen Motor- nicht oder kaum aktiviert ist.
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kortex. Obwohl die Bewegungen mit der Ein typisches stark asymmetrisches Akti-
dominanten Hand oder dem dominanten Arm vierungsmuster, bei dem eine Hemisphäre
effizienter ausgeführt werden, sind die neuro- großflächig aktiviert ist, während die andere
physiologischen Aktivitäten im dominanten kaum Aktivierungen aufweist, lässt sich mit
Motorkortex stärker. Diese Aktivitätsdomi- den sogenannten Wortgenerierungsauf-
nanz wird einem differenzierteren dominan- gaben erzielen. Bei diesen Aufgaben müs-
ten Motorkortex zugeschrieben, der selbst bei sen die Versuchspersonen viele verschiedene
einfachen Bewegungen grundsätzlich mehr Wörter nacheinander mit dem gleichen An-
aufeinander abgestimmte Erregungen und fangsbuchstaben oder aus der gleichen se-
Hemmungen miteinander synchronisieren mantischen Kategorie produzieren. Während
muss. Das bedeutet, dass die stärkere neuro- dieser Wortgenerierungen können in der
physiologische Aktivität eine differenziertere sprachdominanten Hemisphäre verstärkte
neurophysiologische Kontrolle repräsentiert Durchblutungen gemessen werden. Die Hirn-
(Differenzierungshypothese). areale, die besonders stark aktiviert werden,
Andere Befunde unterstützen eine andere sind der linksseitige Frontalkortex (insbeson-
Interpretationslinie: dass die zunehmende dere der Gyrus frontalis inferior), der links-
neurophysiologische Aktivität einen größeren seitige Gyrus temporalis superior (Teil des
Kontrollaufwand repräsentiert, der insbeson- sogenannten Wernicke-Areals), der Gyrus
dere bei der Kontrolle der subdominanten temporalis medius und der linksseitige Tem-
Hand oder Glieder offensichtlich werden soll. poralpol (Abb. 6-5). Auch im Zusammenhang
Dies zeigt sich insbesondere dann, wenn kom- mit dem Lösen von Aufmerksamkeitsauf-
plexere Bewegungen durchgeführt werden, gaben sind insbesondere im rechtsseitigen
dann nimmt v. a. die Aktivität in den Motor- parietofrontalen Netzwerk starke Durchblu-
arealen zu, die v. a. die dominanten Glieder tungszunahmen zu messen (Jäncke et al.,
kontrollieren. Werden Bewegungen mit der 2003; Sturm et al., 2004).
subdominanten linken Hand gefordert, neh- Auch mittels EEG konnten asymmetrische
men die Aktivierungen im rechtsseitigen Mo- Hirnaktivierungsmuster objektiviert werden.
torkortex stark zu. Diese starke Aktivität in Besonders auffällig sind die asymmetrischen
subdominanten Motorarealen wird in diesem Aktivierungsmuster im Zusammenhang mit
Zusammenhang einem größeren Kontrollauf- Annäherungs- und Vermeidungsverhalten.
wand zugeschrieben, der bei der Bewegung Während der Annäherung nimmt die neuro-
der subdominanten Hand nötig ist (Kontrol- physiologische Aktivität des linksseitigen Fron-
laufwandshypothese). talkortex zu (Reduktion der Amplitude des Al-
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6.2. Funktionelle Links-rechts-Asymmetrien 165
A)
R L
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B)
R L
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166 6. Hemisphärenasymmetrie
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6.2. Funktionelle Links-rechts-Asymmetrien 167
ner Informationen und die Kontrolle uni- und hemisphärischer Läsion Störungen in der Ver-
bimanualer Bewegungen klare funktionale arbeitung von raumbezogenen Informatio-
Tabelle 6-6: Zusammenfassung der Reizklassen, für die lateralisierte Verarbeitungen festgestellt wur-
den. Aufgeführt sind auch Reizklassen, die im Text keine Erwähnung fanden.
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168 6. Hemisphärenasymmetrie
nen aufwiesen (Bryden et al., 1983). Störungen delt es sich um die Unfähigkeit, Gesichter zu
in der Verarbeitung von raumbezogenen In- erkennen bzw. zu unterscheiden. Unabhängig
formationen wurden in dieser Studie definiert von der Prosopagnosie können weitere Agno-
anhand des Auftretens von „räumlicher Agno- sien bei rechtshemisphärischen Läsionen auf-
sie“, „räumlicher Dysgrafie“, „Verlust des treten: Agnosie für Zeichnungen (Defizite
topografischen Gedächtnisses“ und „Kon- im Erkennen und Interpretieren von Zeich-
struktions- und Ankleideapraxie“. Nur 55 % nungen und geometrischen Objekten; Läsio-
der Linkshänder zeigten das gleiche Symp- nen in den Brodmann-Areale 18, 19, 20 und
tommuster bei rechtshemisphärischer Läsion. 21), Farbagnosie (Unfähigkeit, Farbe zu er-
Die meisten dieser rechtshemisphärischen kennen; Läsionen in den Brodmann-Areale 18
Läsionen betrafen posterior parietale Hirn- und 19), Anosognosie (Unfähigkeit, ein Be-
areale, was die Bedeutung dieser Hirnbereiche wusstsein für Krankheiten zu entwickeln; Lä-
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für nonverbale Funktionen hervorhebt. Ältere sionen in den Brodmann-Arealen 7 und 40)
Daten zeigten allerdings, dass offenbar nicht und visuell-räumliche Agnosie (Defizite im
alle nonverbalen raumbezogenen Informati- stereoskopischen Sehen und in der Entwick-
onsverarbeitungsprozesse in gleicher Weise lung topografischer Konzepte; Läsionen in den
durch rechtshemisphärische Läsionen gestört Brodmann-Arealen 18, 19 und 37). Läsionen
zu sein scheinen. So fiel es Patienten mit im rechten Temporallappen (Brodmannareale
rechtshemisphärischen Parietallappenläsio- 42 und 22) resultieren in unterschiedlichen
nen v. a. schwer, Würfel zu identifizieren (90 % Ausfällen bzw. Defiziten. Seltener werden Ge-
der Patienten) oder zweidimensionale Muster räusch-, Ton- und/oder Klangagnosien be-
aus Papier mit einer Schere anzufertigen (86 % obachtet, häufiger allerdings Ausfälle bzw.
der Patienten). Ankleideapraxien und Halb- Defizite im musikalischen Bereich (Amusie).
seitenvernachlässigungen der linken Körper- Die musikalischen Ausfälle umfassen unter
hälfte und des linken Gesichtsfeldes waren nur anderem die Unfähigkeit, Melodien zu erken-
bei ca. zwei Drittel dieser Patienten festzustel- nen und musikalische Rhythmen oder Tempi
len. Nur die Hälfte aller Patienten fiel durch auseinanderzuhalten. Diskutiert wird derzeit,
den Verlust der topografischen Diskriminati- ob sich bei professionellen Musikern ein ande-
onsfähigkeit auf (McFie, 1960). res Lateralisierungsmuster ergibt.
Neben den Defiziten in der Verarbeitung
raumbezogener Informationen fallen bei den
Patienten mit rechtsseitigen parietalen Läsio-
6.3. Corpus callosum und
nen auch Aufmerksamkeitsdefizite auf, die interhemisphärischer
meistens mit der Verarbeitung der raumbe- Informationsaustausch
zogenen Informationen zusammenhängen. So
zeigen z. B. einige Patienten einen sogenann- 6.3.1. Split brain
ten „Halbseitenneglekt“ (Hemineglekt), was
einer Unaufmerksamkeit gegenüber einer Das Corpus callosum (auch Balken genannt)
Hälfte ihrer räumlichen Umgebung entspricht. ist indirekt mit funktionellen Hemisphärena-
Hierbei werden Objekte auf der linken Seite symmetrien assoziiert, denn über dieses „Ka-
oder Ereignisse, die links von den Patienten belsystem“ verlaufen die Fasern, die beide
stattfinden, nicht wahrgenommen. Eine be- Hemisphären miteinander verbinden. Die
eindruckende Folge rechtsseitiger Läsionen Bedeutung des Corpus callosum beim Men-
im Temporallappen (Brodmann-Areale 20 und schen konnte erstmalig durch Untersuchun-
21) stellt die Prosopagnosie dar. Hierbei han- gen an Split-brain-Patienten verdeutlicht wer-
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6.3. Corpus callosum und interhemisphärischer Informationsaustausch 169
den. Bei diesen Patienten wurde das Corpus Wichtige Eigenschaften des Corpus callo-
callosum neurochirurgisch vollständig durch- sum (CC) sind:
trennt, um die Ausbreitung epileptischer An- • das CC besteht aus ca. 200–350 × 106
fälle von einer auf die andere Hemisphäre zu Axonen
unterbinden. Es zeigte sich, dass dieser opera- • ca. 2–3 % aller kortikalen Neurone werden
tive Eingriff in der Tat zur Abmilderung der über das CC miteinander verbunden
epileptischen Symptomatik beitrug. Folgende • überwiegend werden homologe Hirnareale
neuropsychologische Untersuchungen unter miteinander verbunden
Einsatz experimentalpsychologischer Tech- • die Größe der Mittsaggitalfläche korreliert
niken (s. o.) legten nahe, dass die beiden Hemi- mit der Anzahl der (größeren) Axone, die
sphären dieser Patienten nahezu unabhängig das CC ausmachen (r = 0.88)
voneinander arbeitet, wobei jede Hemisphäre • ca. 40–60 % aller Axone des CC sind sehr
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170 6. Hemisphärenasymmetrie
Tabelle 6-7: Größen der Axone des Corpus callosum und die geschätzten interhemisphärischen Trans-
ferzeiten bei einer angenommenen Distanz zwischen den Hemisphären von 10 bis 13 cm. Der korrigierte
Axondurchmesser berücksichtigt, dass bei Post-mortem-Gehirnen durch F lüssigkeitsverlust die Zell-
kompartimente und damit auch die Axone etwas kleiner werden (nach Aboitiz et al., 1992).
5 µm 7,7 67 1,5–1,9
zu veranschlagen. Bei den dickeren Fasern, losum und dem Gehirnvolumen. Große Ge-
die v. a. im Splenium und im vorderen Truncus hirne sind durch relativ kleine Corpus-callo-
zu finden sind, können Transferzeiten von sum-Flächen (Corpus callosum in Relation
1,5 bis ca. 2 ms angenommen werden. Diese zum Gehirnvolumen) gekennzeichnet, wäh-
schnellen Transfers sind funktional auch not- rend kleine Gehirne erstaunlicherweise relativ
wendig, um die visuellen und motorischen große Corpus-callosum-Areale aufweisen.
Informationen zwischen beiden Hemisphären Daraus kann man schließen, dass große Ge-
auszutauschen. Allerdings muss berücksich- hirne verglichen mit kleinen über eine relativ
tigt werden, dass ca. 40–60 % aller Axone des reduzierte interhemisphärische Kommunika-
Corpus callosum dünn und unmyelinisiert tion verfügen. Diese Vermutung wird durch
sind, was bedeutet, dass sie für den schnellen Simulationsrechnungen gestützt, die belegen,
Informationsaustausch ungeeignet sind. Mög- dass mit zunehmender Hirngröße die interhe-
licherweise werden diese Axone zur Aktivie- misphärischen Distanzen zu groß werden, um
rungskontrolle oder zur gegenseitigen Hem- in angemessener Zeit überbrückt zu werden
mung genutzt, denn für diese Prozesse ist (Ringo et al., 1994). Um z. B. bei einem großen
eine hohe Übertragungsgeschwindigkeit nicht Gehirn die interhemisphärische Transmis-
zwingend notwendig. sionszeit in etwa der Größenordnung konstant
Diskutiert wird aktuell, ob ein größeres zu halten, wie sie für kleinere Gehirne zu ver-
Corpus callosum einen ausgeprägteren inter- anschlagen ist, müsste das Corpus callosum
hemisphärischen Informationsaustausch er- infolge starker Myelinisierung überproportio-
möglicht. Das würde bedeuten, dass Personen nal groß werden. Das würde bedeuten, dass bei
mit einem großen Corpus callosum über einen großen Gehirnen überproportional große Cor-
ausgeprägteren und möglicherweise effizien- pus-callosum-Areale feststellbar sein müssten.
teren Informationsaustausch verfügen. Sie Dies ist allerdings bislang nicht berichtet wor-
müssten demzufolge funktional weniger late- den; im Gegenteil, je größer die Gehirne wer-
ralisiert sein als Personen mit einem kleinen den, desto mehr nimmt die relative Größe des
Corpus callosum. Die bislang hierzu berichte- Corpus callosum ab (Jancke et al., 1997).
ten Befunde sind allerdings widersprüchlich. Hieraus kann abgeleitet werden, dass die
Es zeigt sich jedoch ein Zusammenhang funktionale Lateralisierung unter anderem
zwischen der relativen Größe des Corpus cal- (vielleicht sogar im Wesentlichen) eine Funk-
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6.4. Anatomische Asymmetrien 171
tion der Hirngröße ist, wobei die funktionale Bei kleinen Gehirnen ist der Informationsaus-
Lateralisierung sich infolge der Notwendigkeit tausch ohne nennenswerten Zeitverlust auch
zur schnellen Kommunikation innerhalb funk- über das Corpus callosum noch möglich. Bei
tionsverwandter neuronaler Netzwerke ergibt. großen Gehirnen dagegen wird der Informati-
onsaustausch über das Corpus callosum zu
A) zeitraubend. Deshalb wird eher die Strategie
der intrahemisphärischen Kommunikation
gewählt. Das bedeutet, dass mehr innerhalb
einer Hemisphäre und weniger zwischen den
Hemisphären kommuniziert wird – je größer
also die Gehirne, desto mehr Lateralisierung.
In einer neueren Arbeit konnte der nega-
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6.4. Anatomische
Asymmetrien
1/3 1/3 1/3
AC–PC
Lange Zeit war nicht klar, ob hirnanatomische
Links-rechts-Asymmetrien systematisch auf-
Abbildung 6-6: (A) Schematische Darstellung ei- treten und funktionell bedeutsam sind. Erst
nes Mittsagittalschnitts des Corpus callosum. (B) seit der Arbeit von Geschwind und Levitsky, in
Darstellung der Axone, die durch das Corpus cal- der bei 100 post mortem untersuchten Gehir-
losum kreuzen und sich dann in die Hemisphären
nen ein volumetrisches Linksüberwiegen des
verteilen. (C) Angegeben sind die üblichen Eintei-
Planum temporale festgestellt wurde, werden
lungen des Corpus callosum in ein vorderes Drit-
anatomische Asymmetrien v. a. in perisylvi-
tel (1: Rostrum und Genu), ein mittleres Drittel
(2: Truncus) und ein hinteres Drittel, das den
schen Hirnbereichen mit funktionellen Asym-
Isthmus (3) und das Splenium (4) beinhaltet. Die metrien in Verbindung gebracht. In weiteren
Einteilung wird anhand einer gedachten Linie Arbeiten zur In-vivo-Morphometrie konnten
vorgenommen, welche die anteriore (AC) und pos- auch Volumenasymmetrien hinsichtlich fron-
teriore (PC) Kommissur miteinander verbindet. taler, okzipitaler und parietaler Hirnbereiche,
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172 6. Hemisphärenasymmetrie
des hinteren Hippocampus, des Sulcus cen- Hemisphären asymmetrisch. Vor allem die
tralis und des Kleinhirns nachgewiesen wer- starke Volumenzunahme des parietalen und
den. Mittlerweile ist ein sehr dynamisches For- temporalen Operculums beeinflusst die Form
schungsgebiet entstanden, das Struktur-Funk- der Sylvischen Fissur. Hierbei weist das links-
tions-Zusammenhänge untersucht. seitige parietale Operculum eine stärkere Vo-
lumenzunahme auf als das rechtsseitige. Auf
der linksseitigen Hemisphäre ist die Sylvische
6.4.1. Sylvische Fissur Fissur durch einen langen horizontalen Teil
mit gleichzeitig kurzem vertikalen Teil ge-
Die Fissura lateralis, auch Sylvische Fissur ge- kennzeichnet. Auf der rechten Hemisphäre fällt
nannt, ist eine der auffälligsten Furchen des dagegen ein kurzer horizontaler Teil mit einem
Primatenhirns. Diese Fissur entsteht im We- relativ langen vertikalen Teil auf (Abb. 6-7).
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sentlichen aufgrund eines im Vergleich zum Diese Form der Sylvischen Fissur wird bei ca.
Wachstum innerer kortikaler Strukturen stär- zwei Drittel aller erwachsenen Gehirne ge-
keren Wachstums äußerer Kortexteile. Dieses funden. Die charakteristische Formasym-
Wachstum verläuft interindividuell sehr unter- metrie der Sylvischen Fissur tritt bei Föten ab
schiedlich und ist auch zwischen den beiden dem 5.–6. Monat auf. Es ist also zu vermuten,
L R
L R
Abbildung 6-7: Schematische Darstellung der inter- und intrahemisphärischen Verbindungen bei gro-
ßen und kleinen Gehirnen. Die Dicke der Pfeile repräsentiert die Anzahl der rekonstruierten Verbindun-
gen. Diese Abbildung ist den Befunden aus der Arbeit von Hänggi et al. (2014) nachempfunden. Links
erkennt man ein großes Gehirn mit einer „geringen“ interhemisphärischen Kommunikation (dargestellt
durch den dünnen Pfeil, der beide Hemisphären miteinander verbindet). Rechts erkennt man ein kleines
Gehirn mit einem dicken Pfeil, der beide Hemisphären miteinander verbindet. Der dicke Pfeil repräsen-
tiert eine „intensive“ interhemisphärische Kommunikation.
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6.4. Anatomische Asymmetrien 173
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174 6. Hemisphärenasymmetrie
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6.4. Anatomische Asymmetrien 175
Asymmetrie20
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176 6. Hemisphärenasymmetrie
.4
Handmotorkortex kontrolliert wird. Mögli-
.2
cherweise ist das Handmotorareal bei Rechts-
0.0
händern auf der dominanten linken Hemi-
–.2
sphäre deshalb größer, weil mehr oder grö-
–.4 ßere, mit einem ausgedehnteren Neuropil
–.6 versehene oder verbundene Neurone dort lo-
Männer Frauen Männer Frauen
kalisiert sind. Insgesamt kann davon aus-
Rechtshänder Linkshänder gegangen werden, dass ein größeres Areal
auch ein größeres neuronales Netz mit mehr
Abbildung 6-11: (A) Schematische Darstellung
Speicher- und Kontrollmöglichkeiten reprä-
der Lage des Planum temporale (PT) und des Pla-
sentiert. Dies könnte auch der Grund dafür
num parietale (PP). (B) Anatomische Asymmetrien
(ausgedrückt als Asymmetriekoeffizient; R-L/ sein, dass Rechtshänder geschickter ihre do-
R+L) für Rechtshänder (dunkle Balken) und Links- minante rechte Hand nutzen können. Bei
händer (helle Balken). Linkshändern ergibt sich ein etwas unklareres
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6.4. Anatomische Asymmetrien 177
A) B)
rechte Hemisphäre
linke Hemisphäre
40
Sulcus centralis
39
38
37
35
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34
33
32
31
L R
30
posterior Musiker Nichtmusiker
Bild, weil sie hinsichtlich ihrer Hemisphäre- kontrolliert, besonders groß ist. Genau dieses
nasymmetrie nicht zwingend spiegelbildlich Muster anatomischer Auffälligkeiten konnte
zu den Rechtshändern organisiert sind. Wie bei Profimusikern festgestellt werden. Die SC-
oben bereits erwähnt, sind ca. 70 % der Links- Tiefen sind bei ihnen besonders groß und auf-
händer etwa so wie Rechtshänder laterali- grund der überproportionalen rechtsseitigen
siert. Nur 15 % der Linkshänder weisen eine SC-Tiefe deutlich symmetrischer (Amunts et
Rechtslateralisierung auf, während die ver- al., 1997; Abb. 6-12). Bemerkenswert ist auch,
bleibenden 15 % bilateral organisiert sind. dass die SC-Tiefen bei Musikern, die früh mit
Insgesamt ist demzufolge die im Mittel redu- dem musikalischen Training begonnen ha-
zierte Linksasymmetrie bei Linkshändern ben, besonders groß sind. Aufgrund dieser
durch die Heterogenität der Lateralisierung in Befunde ist zu vermuten, dass der frühe Be-
dieser Gruppe erklärbar. ginn des motorischen (musikalischen) Trai-
Profipianisten und -streicher, die jahrelang nings zu makroanatomisch feststellbaren
geübt haben, um ihre Fingerfertigkeit zu opti- Veränderungen im handmotorischen Areal
mieren, müssten – vorausgesetzt, die Hand- geführt hat. Diese Befunde korrelieren auch
motorareale passen sich entsprechend an – mit Resultaten, wonach Streicher über ein ver-
über größere Handmotorareale verfügen als größertes sensomotorisches Areal verfügen
Nichtmusiker. Da Pianisten und Streicher ins- (Elbert et al., 1995).
besondere die linke Hand trainieren, wäre Eine weitere anatomische Asymmetrie ist
auch zu erwarten, dass der rechtsseitige Mo- die Links-rechts-Volumenasymmetrie des
torkortex, der die subdominante linke Hand Kleinhirns, die bei Rechtshändern ausgepräg-
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178 6. Hemisphärenasymmetrie
ter ist. Für den Gyrus frontalis inferior und ins- ist allerdings noch ungeklärt, inwieweit die
besondere für den Pars triangularis und oper- anatomischen Asymmetrien für psychologi-
cularis ist eine Links-rechts-Volumenasym- sche Funktionen relevant sind.
metrie berichtet worden. Bei Rechtshändern Kürzlich wurde eine Studie publiziert, bei
soll diese Asymmetrie stärker als bei Links- der hirnanatomische Asymmetrien bei über
händern sein. Es wird vermutet, dass dies eine 17 000 Personen im Rahmen einer Multicen-
anatomische Grundlage der funktionellen ter-Studie untersucht wurden (Kong et al.,
Sprachlateralisierung ist, da diese Areale mit 2018). Zum Einsatz kam in dieser Studie die
dem Broca-Areal überlappen. Häufig werden Software Freesurfer, mit der die kortikale Dicke
auch Links-rechts-Volumenasymmetrien für und Fläche von vielen Hirngebieten anhand
den Hippocampus berichtet. Londoner Taxi- von MRT-Aufnahmen recht präzise gemessen
fahrer mit langjähriger Erfahrung in diesem werden kann. Diese Arbeit offenbarte, dass die
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Beruf weisen besonders große rechtsseitige kortikale Dicke und die kortikale Fläche je
posteriore Hippocampusareale auf. Insgesamt nach Hirngebiet unterschiedlich lateralisiert
Kortikale Dicke
L>R
Gyrus präzentralis
Gyrus frontalis (rostral)
Gyri orbitalis (lateral)
Gyrus postzentralis
Cingulum (isthmus)
Cingulum (posterior)
Gyrus frontalis superior
Insula
Gyrus frontal inferior (pars orbitalis)
Lobulus parietalis superior
Cingulum (rostral anterior)
Gyrus parahippokampalis
Gyrus frontalis medius
Frontalpol
Gyri orbitalis medialer Teil
Gyrus supramarginalis
Gyrius frontalis inferior (pars triangularis)
Sulcus calcarinus (pericalcarin) R>L
Gyrus frontal inferior (pars opercularis)
Gyrus fusiformis
Gyrus temporalis medius
Gyrus temporalis inferior
Gyrus temporalis superior
Heschischer Gyrus
Gyrus paracentralis
Precuneus
Lobulus parietalis inferior
Cuneus
Temporalpol
Gyrus lingualis
Gyrus entorhinalis
Sulcus temporalis superior
Gyri occipitalis (lateral)
–0.6 –0.45 –0.3 –0.15 0 0.15 0.3 0.45
Asymmetrie-Index
Abbildung 6-13: Kortikale Dicken für verschiedene Hirngebiete aus der Arbeit von Kong et al. (2018). Man
erkennt, dass einige Hirngebiete deutlich links- und andere rechtslateralisiert sind.
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6.4. Anatomische Asymmetrien 179
sind. In Abbildung 6-13 sind die Asymmetrien kortikalen Dicke deutlich linkslateralisiert ist,
verschiedener Hirngebiete für die kortikale ist das Flächenmaß für diese Hirnstruktur
Dicke dargestellt. Man erkennt in dieser Ab- praktisch symmetrisch (mit einer leichten Ten-
bildung auch, dass einige Hirngebiete hin- denz zur Rechtsasymmetrie). Für den Gyrus
sichtlich dieses anatomischen Maßes deutlich temporalis superior findet sich eine deutliche
nach links und andere deutlich nach rechts la- Linksasymmetrie für die kortikale Dicke und
teralisiert sind. In Abbildung 6-14 sind die ana- eine Rechtsasymmetrie für die kortikale Flä-
tomischen Asymmetrien für die kortikale Flä- che. Diese Befunde legen nahe, dass die ge-
che dargestellt. Hier erkennt man ebenfalls, messenen anatomischen Asymmetriemaße
dass einige Hirngebiete nach links und andere stark von den jeweils genutzten anatomischen
nach rechts lateralisiert sind. Auffallend ist al- Kennwerten abhängen. Dies konnte auch im
lerdings, dass die Asymmetrien der kortikalen Zusammenhang mit detaillierteren Analysen
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Dicke und Fläche nicht miteinander korrelie- der stark lateralisierten auditorischen Hirn-
ren. Während der Gyrus präzentralis bei der gebiete (Heschlscher Gyrus, Planum tempo-
Kortikale Fläche
L>R
Gyrus frontalis inferior (pars opercularis)
Cingulum (rostral anterior)
Temporalpol
Gyrus entorhinalis
Gyrus temporalis superior
Sulcus temporalis superior
Gyrus frontalis medius
Gyrus temporalis inferior
Gyrus postzentralis
Cingulum (isthmus)
Gyrus frontalis superior
Gyrus supramarginalis
Gyurs fusiformis
Gyrus parahippokampalis
Gyri occipitalis (lateral)
Gyri orbitalis lateral
Gyri orbitalis medialer Teil
Lobulus parietalis superior
Gyris lingualis R>L
Gyrus präzentralis
Cingulum (posterior)
Insula
Cuneus
Gyrus frontalis medius
Precunues
Cingulum (caudal anterior)
Sulcus calcarinus (pericalcarin)
Gyrus frontalis inferior (pars triangularis)
Gyrus paracentralis
Gyrius temporalis medius
Lobulus parientalis inferior
Frontalpol
Gyrus frontal inferior (pars orbitalis)
Abbildung 6-14: Kortikale Flächen für verschiedene Hirngebiete aus der Arbeit von Kong et al. (2018).
Man erkennt, dass einige Hirngebiete deutlich links- und andere rechtslateralisiert sind.
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180 6. Hemisphärenasymmetrie
rale und Planum polare) gezeigt werden nalen Aktivität, insofern ist eine depressive
(Meyer et al., 2014). Es wird vermutet, dass Verstimmung mit einer Aktivierung des rechts-
kortikale Dicke und Fläche unterschiedliche seitigen Frontalkortex verbunden. Aus ande-
Marker für Entwicklung und Plastizität des Ge- ren Untersuchungen ist bekannt, dass der
hirns repräsentieren. Während sich die korti- rechtsseitige Frontalkortex in die Kontrolle
kale Dicke im Laufe des Lebens durch Erfah- von Abwehr- und Vermeidungsreaktionen ein-
rung und Training ändern kann, wird die gebunden ist, während der linksseitige Fron-
kortikale Fläche vorrangig während der feta- talkortex an der Kontrolle von Annäherungs-
len Reifung durch die zunehmende kortikale verhalten und positiven Emotionen beteiligt
Faltung ab dem 5. Monat festgelegt. ist (Kap. 20).
In diesem Zusammenhang sind auch Be-
funde interessant, die nahelegen, dass Per-
6.5. Verhaltensauffällig
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6.6. Dynamik der Asymmetrien 181
ständen möglich, aber nicht der Regelfall, verarbeiten hatten (Meyer et al., 2006). Wäh-
denn beide Hemisphären interagieren in der rend dieser Wahrnehmungsaufgaben wurde
Regel intensiv miteinander. die elektrische Hirnaktivität mittels EEG regis-
triert und anhand des Oberflächen-EEG die
intrazerebralen Quellen berechnet. 100 ms
6.6.1. Asymmetriewechsel bei nach Reizpräsentation war eine deutliche
auditorischer Wahrnehmung Rechtslateralisierung im auditorischen Kortex
festzustellen, die nach 200 ms zu einer Links-
Interhemisphärische Interaktionen treten be- lateralisierung wechselte (Abb. 6-15). Offenbar
reits bei einfachen Wahrnehmungsprozessen werden diese akustischen Reize nicht nur von
auf. Dies haben z. B. Martin Meyer und Kolle- einer Hemisphäre verarbeitet, sondern in In-
gen im Rahmen eines auditorischen Experi- teraktion mit der anderen Hemisphäre. Dabei
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ments zeigen können, bei dem die Versuchs- kann die Asymmetrie der Aktivierung von der
personen Töne und komplexe Klänge zu einen zur anderen Seite wechseln.
100 ms R L
200 ms R L
Abbildung 6-15: Schematische Darstellung des Ergebnisses aus dem Experiment von Meyer et al.
(2006). 100 ms nach der Präsentation der Töne und Klänge ist die Aktivität im rechten auditorischen
Kortex deutlich stärker und räumlich ausgedehnter als im linken auditorischen Kortex. Nach 200 ms
ändert sich die Asymmetrie und der linke auditorische Kortex ist stärker aktiviert als der rechte.
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182 6. Hemisphärenasymmetrie
Hand wird vom linksseitigen und die sub- anfällen mit Läsionen in den Motorarealen.
dominante linke Hand vom rechtsseitigen Diese Läsionen resultieren in einseitigen Läh-
Motorkortex kontrolliert. Wenn also die domi- mungen oder Beeinträchtigungen der Hände
nante rechte Hand trainiert wird, ist der links- oder Beine. Ist z. B. der dominante linksseitige
seitige Motorkortex aktiv und arbeitet mit Motorkortex im Bereich des Handareals durch
zunehmendem Training immer effizienter. den Schlaganfall beeinträchtigt, treten Läh-
Analog nimmt die Kontrolleffizienz des rechts- mungserscheinungen der dominanten rechten
seitigen Motorkortex beim Training der sub- Hand auf. Durch die Läsion des linksseitigen
dominanten linken Hand zu. Der linksseitige Motorkortex entfällt auch die Hemmung des
A) B)
205 mm 4
3
Ø 6 mm
Ø 1.5 mm
Lerneffekt
2
Ø 3 mm
Bew
egu
ngs
dist
anz 1
Startposition
Ø 12 mm
0
140 mm
Leistungsverbesserung der linken Hand nach Training mit der rechten Hand
Leistungsverbesserung der rechten Hand nach Training mit der linken Hand
Abbildung 6-16: (A) Pegboard-Brett, mit dem das Geschicklichkeitstraining durchgeführt wurde (nach-
gezeichnet nach Schulze et al., 2002). (B) Trainingseffekte der rechten und linken Hand nach dem Trai-
ning mit der jeweils anderen Hand.
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6.6. Dynamik der Asymmetrien 183
homotopen rechtsseitigen Motorkortex, der tigen Motorkortex nicht mehr optimal entfalten
deshalb den bereits lädierten linksseitigen Mo- können. Aus diesem Grund wird heute die
torkortex stärker hemmt (Abb. 6-17). Wird wäh- transkranielle Magnetstimulation oder Gleich-
rend der Rehabilitation die betroffene rechte stromapplikation genutzt, um das nicht betrof-
Hand trainiert, werden mögliche Trainings- fene Motorareal zu hemmen oder die funk-
effekte behindert, weil sich die noch funktions- tionsfähigen Nervenzellen im und um den
fähigen Nervenzellen im und um den linkssei- betroffenen Motorkortex zu erregen. Diese
A) B)
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L R L R
C) D)
L R L R
erregen hemmen
Abbildung 6-17: (A) Schematische Darstellung der gegenseitigen Hemmung beider Motorareale im ge-
sunden Zustand. (B) Bei Läsion des linksseitigen Motorkortex kann dieser nicht mehr genug Hemmung
gegenüber dem rechten Motorkortex aufbauen. Der rechte Motorkortex ist nun ungehemmt und entfaltet
mehr Hemmkraft, um den linken Motorkortex zu hemmen. Die gesunden Nervenzellen des linken Motor-
kortex können dann nicht mehr optimal auf die Trainingsstimulationen reagieren, sofern mit der rechten
Hand trainiert wird. (C) Durch Erregung (z. B. mit TMS) des gesunden Gewebes um und in der Läsion auf
dem linken Motorkortex kann die starke Hemmung durch den rechten Motorkortex ausgeglichen werden.
(D) Gleiches erreicht man durch Hemmung des rechten Motorkortex.
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184 6. Hemisphärenasymmetrie
Maßnahmen führen zu einem effizienteren gungen mit der dominanten Hand. Während
Training der betroffenen Hand. ältere fMRT-Studien vermuten ließen, dass bei
Diese funktionale Interaktion beider Motor- der Bewegung der dominanten rechten Hand
areale zeigt sich auch bei unimanualen Bewe- nur der linksseitige Motorkortex aktiv ist, zei-
gen neuere Arbeiten, dass beide Motorareale
immer funktional gekoppelt sind. Konkret wer-
A)
den in diesen Arbeiten mittels EEG die elektri-
schen Oszillationen über oder in den Motor-
arealen beider Hemisphären gemessen und es
wird überprüft, ob sie kohärent (also gleichsin-
nig) in Phase schwingen. Je ähnlicher diese Os-
zillationen, desto höher bzw. kohärenter sind
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6.6. Dynamik der Asymmetrien 185
sphärische Kohärenz, insbesondere wenn uni- ren, ist während des Lernens und Optimierens
manuale Bewegungen mit der subdominanten der Aufgabe die Durchblutung in verschiede-
linken Hand oder bimanuale Bewegungen nen Hirngebieten der rechten Hemisphäre
durchgeführt werden (Serrien & Spapé, 2009). reduziert, während vorrangig auf der linken
Beim motorischen Lernen können auch Hemisphäre die Durchblutung zunimmt.
Veränderungen der Hemisphärenasym- Diese Verschiebung der Asymmetrie wird mit
metrie festgestellt werden. Lernen Versuchs- Veränderungen der genutzten kognitiven Stra-
personen eine bimanuale Aufgabe zu optimie- tegien in Verbindung gebracht. Während des
A) Durchblutungsabnahmen B) Durchblutungszunahmen
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2
3 1
2 2
L R L R
R M
Abbildung 6-19: (A) Durchblutungsabnahme beim Lernen einer bimanualen Bewegung vorrangig auf der
rechten Hemisphäre. Hirngebiete, die lernbedingte Durchblutungsabnahmen zeigen, sind: (1) Lobulus
parietalis superior rechts, (2) dorsolateraler Präfronalkortex rechts, (3) ventraler Prämotorkortex rechts.
Durchblutungsabnahmen finden sich auch im linksseitigen Kleinhirn (hier nicht gezeigt). (B) Durchblu-
tungszunahmen während des Lernens der gleichen bimanualen Aufgabe. Hirngebiete, die lernbedingte
Durchblutungszunahmen zeigen, sind: (1) dorsaler Prämotorkortex rechts, (2) bilateral der sensomoto-
rische Kortex mit M1 und S1, (3) cingulärer Motorkortex, (4) Basalganglien, (5) Kleinhirn (Nucleus den-
tatus) (nach Debaere et al., 2004). R: rechts, L: links, M: mesial.
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186 6. Hemisphärenasymmetrie
Lernens etabliert sich zunehmend eine in- damit verbundenen Magnetfelder) millise-
terne Bewegungskontrolle, die auf interne Re- kundengenau gemessen werden. Selbst im
präsentationen motorischer Kommandos zu- Ruhezustand, wenn keine offensichtlichen
rückgreift (Debaere et al., 2004). Interne kognitiven Aufgaben zu bewältigen sind, ist
Kontrollprozesse sollen vorrangig von der lin- ein ständig wechselndes Aktivierungsmuster
ken Hemisphäre gesteuert werden. Zu Beginn mit Aktivierungswellen, die zwischen den
des Lernens werden vermehrt Kontrollpro- Hirnhemisphären hin und her wechseln, zu
zesse genutzt, die auf externe Reize zurück- erkennen.
greifen. Mit zunehmendem Lernen werden
diese extern geleiteten Prozesse jedoch immer
unwichtiger, weshalb auch die Aktivierung in 6.7. Ursachen der
den Hirngebieten der rechten Hemisphäre ab- Asymmetrien
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6.8. Geschlechtsunterschiede bei Asymmetrien 187
eineiigen Zwillinge sind in Bezug zur Händig- che), sind nicht plausibel. Aufgrund dieser In-
keit diskordant (ein Zwilling rechts- und der konsistenzen in der Modellbildung werden
andere linkshändig). Solche Diskordanzen zunehmend Lern- und Sozialisationsein-
sind im Rahmen „strenger“ genetischer Mo- flüsse als bestimmende Faktoren vorgeschla-
delle nicht erklärbar, denn die Zwillinge soll- gen. Ein interessantes (aber nicht bewiesenes
ten aufgrund ihres gleichen Genmaterials Modell) ist von dem US-amerikanischen Neu-
auch die gleiche Hemisphärenasymmetrie rowissenschaftler Fred Previc (1991) vor-
und Händigkeitspräferenz aufweisen. Das et- geschlagen worden. Er vermutet, dass funk-
was moderatere genetische Modell von Marian tionelle Asymmetrien durch die Lage des
Annett (1970) kann dieses Problem durch die Fötus im Mutterleib determiniert oder zumin-
Annahme eines „Zufallsfaktors“ lösen, der bei dest entscheidend beeinflusst werden. Im
Fehlen eines „Händigkeitsgens“ Richtung und letzten Trimester der fetalen Entwicklung lie-
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Ausmaß der Asymmetrie zufällig bestimmen gen zwei Drittel aller menschlichen Föten mit
soll. Dieser Zufallsfaktor soll auch bei Vorlie- dem Kopf nach unten und dem rechten Ohr
gen eines die Händigkeit determimierenden nach außen im Mutterleib. Diese Lage soll
Gens wirksam werden, indem er sich dem ge- asymmetrische morphologische Entwicklun-
netischen Einfluss additiv überlagert. Insofern gen (z. B. das Wachstum bestimmter Gesichts-
ist die jeweilige Ausprägung der Händigkeit als bereiche), aber auch die Entwicklung des au-
Summe von genetischem und Zufallseinfluss ditiven Systems und des Vestibularapparats
aufzufassen. Trotz der teilweise einleuchten- entscheidend beeinflussen. Diese Theorie er-
den Resultate der Modellrechnungen darf wartet noch wissenschaftliche Bestätigung.
nicht außer Acht gelassen werden, dass bis
heute keine eindeutige empirische Evidenz für
genetische Ursachen von funktionellen Asym-
6.8. Geschlechts
metrien vorliegt. So erbrachten Zwillingsstu- unterschiede bei
dien bis dato keinerlei Hinweise auf eine Kon- Asymmetrien
kordanz bei eineiigen Zwillingen hinsichtlich
funktioneller Asymmetrien. Häufig werden geschlechtsspezifische funk-
Nicht nur die mangelnde empirische Evi- tionelle Asymmetrien thematisiert. So wird
denz, sondern auch theoretische Überlegun- in älteren Arbeiten eine ca. 2–3,5 % größere
gen schwächen die Erklärungskraft der geneti- Linkshändigkeitsprävalenz bei Männern im
schen Modelle der Lateralisierungsgenese. Vergleich zu Frauen konstatiert. Auch für an-
Zum Beispiel ist unklar, welche Funktionen dere psychische Funktionen werden gelegent-
und/oder anatomischen Merkmale hinsicht- lich geschlechtsspezifische Asymmetrien be-
lich ihrer Asymmetrie genetisch beeinflusst richtet. Die Metaanalyse von Voyer (1996) legt
werden. Ist es die Händigkeit, die Sprachlate- nahe, dass Frauen in einigen Bereichen redu-
ralisierung oder sind es gar die raumbezoge- zierte funktionelle Asymmetrien aufwiesen
nen Verarbeitungsprozesse? Sind ein, zwei (Tab. 6-8), z. B. bei nonverbalen visuellen Auf-
oder mehrere Gene verantwortlich? Determi- gaben. Auditorisch dargebotene verbale und
nieren die einzelnen Gene Richtung und/oder nonverbale Stimuli evozierten schwache Late-
Ausmaß von Asymmetrien? Worin liegt der ralisierungsunterschiede zwischen den Ge-
evolutionäre Vorteil der Ausbildung von Asym- schlechtern. Hinsichtlich taktil dargebotener
metrien? Auch Annahmen, die eine Koppelung Reize ergaben sich zwar numerisch größere
zwischen verschiedenen Funktionen ver- Geschlechtsunterschiede, diese blieben je-
muten (z. B. zwischen Händigkeit und Spra- doch infolge der relativ geringen Anzahl von
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188 6. Hemisphärenasymmetrie
Varianzvergrößerungen hinsichtlich der ge- Bei Frauen muss vielmehr die zyklus-
messenen Lateralisierungsparameter. Dieser abhängige Veränderung der kognitiven Leis-
Umstand macht deutlich, dass Geschlechts- tung und Hirnaktivität berücksichtigt werden.
unterschiede nur mit relativ großen Stichpro- So ist bekannt, dass in der Zyklusphase, in der
ben konsistent nachzuweisen sind. Mögli- der Östrogenspiegel im Blut hoch ist (Follikel-
cherweise ist dies der Grund, weshalb häufig phase), die Hirnaktivität bei der Bearbeitung
widersprüchliche Befunde auf diesem For- von kognitiven Aufgaben stärker und räumlich
schungsgebiet berichtet werden. Als Beispiel ausgedehnter ist als in den Phasen, in denen
für dieses statistische Problem mögen neuere weniger Östrogen vorhanden ist (Dietrich et
kernspintomografische Studien dienen, in al., 2001). Des Weiteren haben Markus Haus-
denen Hirndurchblutungskorrelate bei der mann und Onur Güntürkün (2000) gezeigt,
Beurteilung von Reimen gemessen wurden. dass die funktionelle Lateralisierung in der
In einer Studie zeigten Frauen symmetrische progesteronreichen Phase nach dem Eisprung
Tabelle 6-8: Ergebnisse der Metaanalyse von Voyer (1996) hinsichtlich der Geschlechtsunterschiede von
funktionellen Asymmetrien. Dargestellt sind hier die Effektgrößen für die Geschlechtsunterschiede der
Asymmetriekennwerte. Effektgrößen größer null indizieren eine bei Frauen geringere funktionelle Asym-
metrie. Man erkennt die geringen Effektgrößen, die zeigen, dass die Geschlechtsunterschiede sehr klein
sind. Die mit einem Stern versehenen Effektgrößen kennzeichnen signifikante Geschlechtsunterschiede,
die allerdings mit der großen Zahl der Studien zu erklären sind, die dazu führt, dass selbst kleine E
ffekte
statistisch signifikant werden können.
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6.8. Geschlechtsunterschiede bei Asymmetrien 189
truation oder nach dem Eisprung in der präsentierten den Versuchspersonen Wörter in
Lutealphase, in der die Progesteronkonzen- der rechten und linken Gesichtsfeldhälfte. An-
tration sehr hoch ist. Typischerweise zeigt schließend forderten sie die Probanden auf,
sich bei diesen Aufgaben, dass während der zu entscheiden, ob das gerade dargebotene
Menstruation noch deutliche funktionelle Wort mit dem vorher dargebotenen Wort über-
Hemisphärenasymmetrien vorliegen, die aber einstimmte (lexikalische Entscheidungsauf-
während der Lutealphase verschwinden. Die gabe). Während dieser Präsentationen maßen
Autoren formulierten auf der Basis dieser Be- sie zusätzlich die hämodynamischen Reaktio-
funde die These, dass das in der Lutealphase nen mittels funktioneller Magnetresonanzto-
vermehrt vorhandene Progesteron die inter- mografie zu zwei verschiedenen Zeitpunkten
hemisphärische Interaktion hemmt. Dies soll des Menstruationszyklus: während der Mens-
Menstruation Lutealphase
wenig Progesteron viel Progesteron
intensive
interhemisphärische
interhemisphärische
Entkoppelung
Interaktion
L R L R
Abbildung 6-20: Schematische Darstellung der Progesteronhypothese von Markus Hausmann und Onur
Güntürkün (2000). Während der Lutealphase, in der die Progesteronkonzentration hoch ist, ist die trans-
callosale Erregung reduziert. Dies soll zu einer Entkoppelung beider Hemisphären führen.
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190 6. Hemisphärenasymmetrie
6.9. Zusammenfassung
Abbildung 6-21: Schematische Darstellung der
• Unter funktionellen Asymmetrien wer- Ergebnisse von Weis et al. (2008). Die Autoren ha-
ben eine lexikalische Entscheidungsaufgabe ge-
den Leistungsunterschiede zwischen den
nutzt und die damit verbundenen Hirnaktivierun-
Hirnhemisphären in der Wahrnehmung,
gen gemessen. In der Follikelphase, wenn die
der Kognition sowie der motorischen Kon-
Östrogenkonzentration im Blut hoch ist, scheint
trolle zusammengefasst. Diese Leistungs- der linksseitige inferiore Frontalkortex das homo-
unterschiede konnten durch Läsionsstu- tope Areal auf der rechten Hemisphäre zu hem-
dien sowie durch experimentalpsychologi- men. Der inferiore Frontalkortex ist typischerweise
sche und bildgebende Studien an gesunden in die Kontrolle von lexikalischen Entscheidungen
Probanden herausgearbeitet werden. eingebunden.
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6.9. Zusammenfassung 191
besteht derzeit kein Konsens. Diskutiert tikale Fläche sind unterschiedlich, teilweise
werden in diesem Zusammenhang ver- sogar gegensätzlich lateralisiert. Wichtig ist
schiedene Einflussfaktoren. Das derzeit er- auch, dass unterschiedliche Hirngebiete in
folgreichste Modell zur Erklärung von funk- Abhängigkeit des genutzten anatomischen
tionellen Asymmetrien geht von einer Kennwertes sehr unterschiedlich ausfallen
Interaktion zwischen genetischen und Zu- können.
fallsfaktoren aus (Annett-Modell). Dieses • Bei einigen psychiatrischen Erkrankungen
Modell erklärt auch die bei Zwillingen sind darüber hinaus Abweichungen vom
häufige Konstellation von diskordanten normalen Asymmetriemuster festzustellen.
Händigkeitspräferenzen bzw. funktionellen • Im engen Zusammenhang mit diesen ana-
Hirnasymmetrien. Ungeklärt bleibt jedoch, tomischen Asymmetrien sind auch ana-
inwieweit aus diesen funktionellen Asym- tomische Kennwerte der interhemisphäri-
metrien Evolutionsvorteile entstanden sind. schen Verkabelung zu sehen. Hierbei
• Anatomische Asymmetrien sind schon scheint sich anzudeuten, dass die Median-
früh beschrieben worden und wurden ins- fläche des Corpus callosum in Abhängigkeit
besondere für das Volumen und die Form von der Gehirngröße variiert. Diese Fläche
perisylvischer Hirnbereiche, aber auch nimmt mit zunehmendem Hirnvolumen
für die globale Kopfformmasse berichtet. lediglich unterproportional zu, was da-
Neuere In-vivo-Morphometriemethoden durch zu erklären ist, dass die interhemi-
konnten diese älteren Befunde teilweise be- sphärische Kommunikation mit zunehmen-
stätigen und komplettieren. Hierbei zeigt dem Hirnvolumen immer weniger effizient
sich, dass insbesondere das Planum tempo- wird (insbesondere wegen der größeren
rale bei Rechtshändern ein größeres Volu- Zeitverzögerungen), sodass mehr auf intra-
men auf der linken Hemisphäre aufweist als hemisphärische Assoziationsbahnen zu-
auf der rechten Hemisphäre. rückgegriffen wird.
• Das volumetrische Linksüberwiegen des • Große Gehirne sind im Vergleich zu kleinen
Planum temporale korreliert auch mit der Gehirnen intrahemisphärisch stärker, aber
asymmetrischen Form der Sylvischen Fis- interhemisphärisch weniger stark ver-
sur mit einem längeren horizontalen Ab- kabelt. Kleine Gehirne sind im Vergleich zu
schnitt auf der linken Hemisphäre und ei- großen Gehirnen interhemisphärisch stär-
nem längeren vertikalen Teil auf der ker, aber intrahemisphärisch weniger stark
rechten Hemisphäre. verkabelt.
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192 6. Hemisphärenasymmetrie
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193
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7.2. Was ist Wahrnehmung? 195
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196 7. Allgemeines zur Wahrnehmung
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7.3. Ablauf der Wahrnehmung 197
Ablauf der Wahrnehmung zesse). Zum Beispiel sind die Rezeptoren des
Hörsystems nur für einen kleinen Ausschnitt
Reiz der Schwingungen empfindlich. Auch die Re-
tinazellen des Auges lassen sich nur durch
einen kleinen Teil von elektromagnetischen
Schwingungen erregen. Das bedeutet, dass be-
Transduktion
reits auf den ersten Verarbeitungsstufen die zu
bearbeitenden physikalischen Reize gefiltert
werden (Filterung). Durch die Verschaltung
Vorverarbeitung der Rezeptoren miteinander beeinflussen sich
die Rezeptoren gegenseitig (z. B. durch die la-
terale Hemmung), was zur Kontrastschärfung
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sensomotorischer Kreislauf
bewusste
Wahrnehmung vieler Rezeptoren und einiger weniger Ner-
venzellen (z. B. bei den Stäbchen der Retina)
können schwache Signale verstärkt werden
(Integration). Aus diesem Grund sind die
Wiedererkennung Stäbchen der Retina gerade für die visuelle
und Verständnis
Wahrnehmung unter schlechten Lichtver-
hältnissen (z. B. bei Nacht) besser geeignet als
die Zapfen.
Handeln
4. Bewusste Wahrnehmung. Der nächste
Schritt der Wahrnehmung ist die Bewusstwer-
Abbildung 7-1: Ablauf der Wahrnehmung vom dung der verarbeiteten Reize. Dies geschieht
Reiz zur Handlung. Die Rückmeldung von der mithilfe von Erfahrung und Interpretatio-
Handlung zum Reiz schließt den sensomotori- nen (Kognition) unter Zuhilfenahme von Ge-
schen Kreislauf. Die Handlungen werden vom Or- dächtnisinformationen. Das Resultat ist ein
ganismus genutzt, um neue Wahrnehmungen Perzept, also die Bewusstwerdung der Reize.
herzustellen. Wahrnehmung unterscheidet sich in dieser
Hinsicht erheblich von der sensorischen Ver-
arbeitung und der Sinnesphysiologie, die sich
16 000 Hz. Sinnesorgane reagieren nicht nur ausschließlich mit den neurophysiologischen
auf adäquate Reize; alle Sinnesorgane können Verarbeitungen auf der Ebene der Rezeptoren
z. B. auch durch elektrischen Strom, Druck- und der sensorischen kortikalen Gebiete be-
änderungen oder Veränderungen des che- fasst. Interpretation und Kognition sind nicht
mischen Milieus erregt werden. Diese unspe- Gegenstand der Sinnesphysiologie. Die Wahr-
zifischen Reize werden als nichtadäquate nehmungspsychologie beschäftigt sich mit der
Reize bezeichnet. Frage, wie aus Schallwellen Geräusche, Töne,
3. Vorverarbeitung. Viele Sinnesorgane be- Klänge oder Musikstücke werden.
stehen aus zahlreichen Rezeptoren und ande- 5. Wiedererkennung und Verständnis.
ren Zellen (z. B. Interneuronen). In diesen Durch das Erinnern, Assoziieren, Beurteilen
sensorischen Systemen finden Vorverarbei- und Interpretieren verstehen wir das Wahr-
tungen der empfangenen Signale statt (Filte- genommene und leiten daraus die Entschei-
rung, Hemmung, Konvergenz, Integration, dungen für Reaktionen darauf ab. Dieser Pro-
Summation und zahlreiche Top-down-Pro- zess muss nicht zwangsläufig zu einem klar
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198 7. Allgemeines zur Wahrnehmung
abgrenzbaren Gedanken oder mentalen Bild baren Reizen und den damit verbundenen psy-
führen, es können auch diffuse Bilder, Gedan- chischen Prozessen. Eine der Hauptinteressen
ken oder sogar Stimmungen entstehen. Gerade in den Anfängen der Psychophysik war die Be-
die Erklärung dieses Wahrnehmungsschritts ist stimmung von Wahrnehmungsschwellen. In
immer noch Gegenstand vieler heftiger wis- anderen Worten: Man war daran interessiert,
senschaftlicher Diskussionen. Manche Pro- die Minimalmenge physikalischer Energie zu
tagonisten gehen davon aus, dass die Neuro- bestimmen, die notwendig ist, um einen Reiz
wissenschaften nicht erklären könnten, wie zu bemerken. Die Energiemenge, die notwen-
durch einen physikalisch eindeutig beschreib- dig ist, um einen Reiz überhaupt „wahrnehm-
baren Reiz ein Verstehensprozess ausgelöst bar“ zu machen, wird als absolute Schwelle
wird und wie dieser Verstehensprozess kortikal bezeichnet. Der Minimalunterschied an physi-
repräsentiert ist. Aus Sicht der Neurowissen- kalischer Energie zwischen zwei Reizen (der
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schaften wird dieser Kritik entgegengehalten, gleichen Modalität), der notwendig ist, um
dass auch dieser Verstehensprozess neuronal diese beiden Reize zu unterscheiden, wird als
repräsentiert sein muss, denn unser gesamtes Unterschiedsschwelle oder als gerade merk-
psychisches Geschehen wird von Neuronen licher Unterschied (Just Noticeable Diffe-
und Neuronengruppen determiniert (Jäncke, rence, JND) bezeichnet.
2015). Insofern ist der Verstehensprozess aus Ein Problem bei der Bestimmung dieser
Sicht der Neurowissenschaften als Produkt ei- Schwellen besteht darin, dass es keine abso-
nes bestimmten neurophysiologischen Prozes- lute Energie- oder Änderungsmenge gibt, die
ses aufzufassen. Allerdings muss eingeräumt in allen Fällen bemerkt wird. Die Reaktions-
werden, dass dieser komplexe neurophysiolo- bereitschaft auf einen gegebenen Reiz zu ei-
gische Prozess vom Reiz zum Verstehen derzeit nem gegebenen Zeitpunkt hängt von dem je-
noch nicht gänzlich verstanden wird. weiligen Zustand der beteiligten Rezeptoren
6. Handeln. Aufgrund unserer Wahrneh- und Nervenzellen ab, die abhängig von vorhe-
mung werden in der Regel Handlungen aus- rigen und aktuellen Aktivierungen unter-
gelöst. Handlungen werden wiederum durch- schiedlich bereit sind, auf neue Reize zu rea-
geführt, um Wahrnehmungen zu verändern. gieren. Insofern trifft der physikalische Reiz
Insofern kann von einem Handlungs-Wahr- aus der Umwelt auf Nervenzellen, deren An-
nehmungs-Zyklus gesprochen werden. Letzt- zahl und deren Ausmaß an Feuerbereitschaft
endliches Ergebnis der Wahrnehmung ist so- festlegen, ob und wie stark ein bestimmter
mit die Reaktion auf die Umwelt. Demzufolge Reiz eine neurophysiologische Reaktion her-
kann Wahrnehmung nicht isoliert von Hand- vorruft. Insofern kann keine eindeutige Reiz-
lungen betrachtet werden, denn der Mensch intensität als Schwelle angegeben werden,
ist ein sensomotorisches Wesen, das ständig sondern nur für jede Reizintensität eine Wahr-
aufgrund bestimmter Wahrnehmungen auf scheinlichkeit, mit der diese Reizintensität
die Umwelt einwirkt. bemerkt wirkt. Die Beziehung zwischen der
Reizintensität und der Wahrscheinlichkeit, ei-
nen Reiz wahrzunehmen, wird als psycho-
7.4. Psychophysik metrische Funktion bezeichnet. Da an-
genommen wird, dass bei einer Vielzahl der
Die Psychophysik entstand aus dem Bestre- Neurone die Feuerraten normalverteilt sind,
ben, das Leib-Seele-Problem zu lösen. Heute wird in der klassischen Psychophysik die ku-
beschäftigt sich die Psychophysik mit dem Zu- mulierte Normalverteilung als psychometri-
sammenhang zwischen physikalisch definier- sche Funktion verwendet.
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7.4. Psychophysik 199
Empirisch wird die psychometrische Funk- finiert als der mittlere Abstand zwischen den
tion ermittelt, indem den Versuchspersonen beiden Punkten auf dem Reizkontinuum, bei
die Reize mit Reizintensitäten um die Schwelle denen der Vergleichsreiz mit einer Wahr-
herum präsentiert werden, also im Schwellen- scheinlichkeit von 0.75 und 0.25 als größer
bereich getestet wird. Bei der Grenzmethode als der Standardreiz bewertet wurde. Der
steigert der Versuchsleiter die Reizintensität Punkt, an dem Standard- und Vergleichsreiz
langsam von deutlich nicht wahrnehmbar, bis als gleich groß wahrgenommen werden, ist der
die Versuchsperson den Reiz bemerkt (auf- Punkt subjektiver Gleichheit und der liegt
steigendes Verfahren). Dann beginnt der Ver- bei der Wahrscheinlichkeit von 0.50, den Ver-
suchsleiter mit deutlich überschwelligen Rei- gleichsreiz als größer als den Standardreiz
zen und reduziert die Reizintensität langsam wahrzunehmen.
und schrittweise, bis die Versuchsperson an- Ernst Heinrich Weber hat einen systemati-
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gibt, den Reiz nicht mehr zu erkennen (abstei- schen Zusammenhang zwischen Reizstärke
gendes Verfahren). Bei der Konstanzmethode und Unterschiedsschwelle festgestellt. Er fand
werden viele Reize randomisiert um den ver- heraus, dass die Unterschiedsschwelle (dS) in
muteten Schwellenbereich dargeboten. Bei
der Herstellungsmethode ändert die Ver-
suchsperson die Reizstärke selbst und stellt sie
1.00
so ein, dass sie den Reiz gerade nicht mehr
Vergleichsreiz
Standardreiz
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200 7. Allgemeines zur Wahrnehmung
jeweiligen Sinnessystems aus. Je kleiner k, reicht werden, wäre etwa das Zehnfache der
desto empfindlicher ist die jeweilige Sinnes- Reizstärke im Vergleich zum Ausgangsreiz
modalität. notwendig.
Gustav Theodor Fechner hat versucht, auf Während die Weber-Fechner-Formel die
der Basis des Weber-Gesetzes eine allgemeine Beziehung zwischen Empfindung und Reiz-
Beziehung zwischen Reizstärke und subjekti- stärke für einen mittleren Reizbereich und im
ver Empfindung abzuleiten, und hat dabei die adaptierten Zustand recht gut beschreiben
psychophysische Funktion entwickelt. Aus- kann, ist insbesondere in den Extremberei-
gangspunkt seiner Überlegungen war, dass die chen der Reize und im nichtadaptierten Zu-
Unterschiedsschwelle bzw. die Weber-Kon- stand diese Formel nicht mehr so gut dafür
stante subjektiv als gleich große Empfindungs- geeignet, diese Zusammenhänge zu be-
einheiten aufzufassen sind. In der Weber-For- schreiben. Unter anderem deshalb schlug der
mel hat er die Unterschiedsschwelle (dS) mit Physiologe Stevens die Potenzfunktion (die
der Unterschiedsempfindungseinheit (dE) auch als Stevens-Potenzfunktion bezeich-
gleichgesetzt. Durch mathematische Umfor- net wird) vor, mit der der Zusammenhang
mung entsteht die folgende Formel, die als zwischen der Empfindungsstärke (E) und der
Fechnersches Gesetz oder Maßformel be- Reizstärke (S) ebenfalls recht gut beschrieben
kannt ist: werden kann (Tab. 7-3):
E = k * Sn
(E: Empfindungsstärke,
S: Reizintensität,
Tabelle 7-2: Weber-Konstante für verschiedene
n: Exponent, der für die jeweilige Modalität
Sinnesmodalitäten
typisch ist,
Modalität Weber-Konstante k: absolute Schwelle für die jeweilige
Tonhöhe 0.003 Reizkategorie)
Helligkeit 0.016 Der Exponent n kann als Maß für die Sinnes-
Gewicht (gehoben) 0.019 empfindlichkeit interpretiert werden. Expo-
Lautstärke 0.088 nenten zwischen 0 und < 1 bedeuten abneh-
Druck auf Haut 0.140 mende Steigung und damit abnehmende
Empfindlichkeit mit zunehmender Reizstärke.
Geschmacksintensität 0.250
Ein Exponent > 1 indiziert zunehmende Emp-
Geruchsintensität 0.350
findlichkeit mit zunehmender Reizintensität.
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7.4. Psychophysik 201
Tabelle 7-3: Exponenten der Stevens-Potenzfunktion für verschiedene Reize. (Die Exponenten sind aus
der Tabelle auf S. 43 des Lehrbuches von Martin & Foley, 1997, entnommen.)
80 e 30
hläge
ng Aktionspotenzialfrequenz
mV
Lä
Empfindung (arbiträre Einheiten)
70 e Sensorpotenzial
en
che Sc
n = 3.5
m 15
60 m n = 1.0
no
Impulse/Sekunde
ge 20
elektris
50 r
ah eit
w Helligk
40 n = .33 10
30 10
20 5
10
0 0
0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 1.0 1.1 1.2 1.3 1.4
Reizstärke (arbiträre Einheiten) Muskellänge
Abbildung 7-3: Potenzfunktion für elektrische Abbildung 7-4: Zusammenhang zwischen Akti-
Schläge, wahrgenommene Länge und Helligkeit. onspotenzialfrequenz (Impulse/Sekunde) sowie
Eingetragen sind auch die jeweiligen Exponenten der Stärke des Sensorpotenzials (in mV) und der
(n) der Potenzfunktionen. Länge eines Muskels beim Krebs (Abszisse).
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202 7. Allgemeines zur Wahrnehmung
neuronale Potenzfunktion mehr oder weniger metern nicht einfach herzustellen. Der Grund
dafür ist, dass mit diesen Methoden nur eine
beschränkte räumliche Auflösung möglich ist,
Aktionspotenzialfrequenz
Sensorpotenzial
sodass die Aktivität vieler Neurone gemessen
50 wird. Des Weiteren muss berücksichtigt wer-
den, dass auf kortikaler Ebene unterschiedli-
Impulse/Sekunde
40 mV
Schwelle
30
Frequenz der Aktionspotenziale
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7.5. Bottom-up- und Top-down-Verarbeitung 203
A) B)
2.5
µV schizophrene Patienten
gesunde Kontrollgruppe
tangentialen Dipole
0
100 2
90
5
80
70 Cz
60
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0 100 200 ms
Zeit
1.5
60 70 80 90 100
Stimulusintensität (dB)
Abbildung 7-7: N1-Amplituden nach akustischer Stimulation mit unterschiedlicher Schallintensität. (A)
Vertexpotenzial nach akustischer Stimulation mit unterschiedlicher Schallintensität (60, 70, 80, 90 und
100 dB) (nach Hagenmuller et al., 2008). (B) N1-P2-Amplituden, gemessen am Vertex nach Stimulation
mit akustischen Reizen unterschiedlicher Intensität (60–100 dB). Die dunkelblaue Linie repräsentiert
die N1-P2-Amplituden für gesunde Kontrollpersonen, während die hellblaueLinie die Amplituden für
schizophrene Patienten darstellt (nach Juckel et al., 2008).
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204 7. Allgemeines zur Wahrnehmung
A) B)
120 BA 41/42
400
100
*
*
Anzahl Voxel
60 200
40
20
0
0 LH RH
verbal nonverbal
LH75 RH75 48 dB
LH85 RH85 72 dB
LH95 RH95 96 dB
Abbildung 7-8: Stärker durchblutetes Volumen im auditorischen Kortex nach Stimulation mit akus-
tischen Reizen unterschiedlicher Intensität. A) Ergebnisse nach Jäncke et al. (1998) mit Schallintensi-
täten von 75 bis 95 dB. B) Ergebnisse nach Brechmann et al. (2002) mit Schallintensitäten von 48 bis 98
dB. LH: linke Hemisphäre, RH: rechte Hemisphäre.
«übergeordnete»
Areale
bottom-up
top-down
«untergeordnete»
Areale
Abbildung 7-9: Schematische Darstellung der Bottom-up- und Top-down-Verarbeitung bei der Wahr-
nehmung
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7.6. Beziehung zwischen Top-down- und Bottom-up-Verarbeitung 205
höheren Ebene dienen. Wichtig ist allerdings, werden. Auf diesen Informationsweg wird im
dass auf jeder Verarbeitungsebene parallele Zusammenhang mit der Aufmerksamkeit und
Verarbeitungsschritte hinzukommen. den exekutiven Funktionen noch einmal ein-
Anhand der auditorischen Wahrnehmung gegangen. Auch bei der Top-down-Verarbei-
kann der Bottom-up-Weg sehr gut beschrie- tung werden auf jeder Verarbeitungsebene
ben werden: Die Schallwellen treffen auf das parallele Verarbeitungen wirksam, um den
Ohr und führen zu einer elektrischen Erre- Informationsfluss innerhalb des Gehirns zu
gung im Hörnerv (Nucleus cochlearis). Die optimieren und möglichst viele Informations-
elektrischen Erregungen werden über die quellen in die Informationsverarbeitung ein-
Hörbahn in den Hirnstamm, zum Thalamus zubinden.
(Corpus geniculatum mediale) und von dort
zum primären Hörkortex geleitet. Nach den
7.6. Beziehung zwischen
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206 7. Allgemeines zur Wahrnehmung
Wahrnehmung
Wahrnehmung
Person anschauen und nach einem Blickwech-
komplexe
einfache
Features
Basis
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7.7. Bindungsproblem und dynamische Kopplung 207
zusammengeschaltet und synchronisiert wer- werden. Sie ist etwas geringer, wenn sich zwei
den. Eines der ersten überzeugenden Experi- kleine Streifen simultan über die rezeptiven
mente, das diese These stützt, haben Andreas Felder bewegen, und gleich null, wenn sich die
Engel und Wolf Singer publiziert (Engel et al., kleinen Streifen gegensinnig über die beiden
2001). In einem typischen Experiment mit ei- rezeptiven Felder bewegen.
nem Affen wurde gleichzeitig die Aktivität von Die durch die hohen Korrelationen aus-
zwei Neuronen (Abstand 7 mm) mittels kleiner gedrückten Synchronizitäten zwischen bei-
Elektroden gemessen. Die Nervenzellen, in den Neuronen repräsentieren offenbar ein
denen die Elektroden platziert waren, befan- „Zusammenschalten“ beider Neurone. Wahr-
den sich in der Area striata des primären Seh- scheinlich werden damit beide Neurone zu ei-
zentrums des Affen. Beide Neurone verfügen ner Einheit zusammengefügt und unterstützen
über charakteristische rezeptive Felder, wobei oder generieren eine Wahrnehmung, in die-
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jedes Neuron besonders stark reagiert, wenn sem Fall die Wahrnehmung eines langen Strei-
sich ein Streifenmuster über das jeweilige re- fens und nicht von zwei einzelnen.
zeptive Feld bewegt. Die Forscher haben drei In Humanexperimenten kann man natür-
Versuchsbedingungen realisiert: (1) In der lich keine Elektroden in Nervenzellen einfüh-
ersten Bedingung nutzten sie einen langen ren. Um das Bindungsproblem beim Men-
Streifen, der so groß war, dass er beide rezep- schen zu studieren, werden häufig EEG- und/
tive Felder abdeckte, und bewegten diesen oder MEG-Untersuchungen durchgeführt.
über beide rezeptive Felder. (2) In der zweiten Hierbei wird versucht, anhand der Oszillati-
Bedingung nutzten sie zwei kleine Streifen, die onsmuster des EEG oder MEG zu überprüfen,
sich synchron über beide rezeptive Felder be- ob sich bestimmte Gehirngebiete während der
wegten. Im Unterschied zur ersten Bedingung Wahrnehmung von Objekten synchronisieren,
wurden zwei unterschiedliche Streifen ge- also in einen gleichen Rhythmus fallen. Das
nutzt. Insofern hat der Affe wahrscheinlich Grundprinzip dieser Experimente besteht da-
auch zwei Streifen und nicht wie bei Bedin- rin, dass den Versuchspersonen etwas schwie-
gung 1 einen Streifen gesehen. (3) In Bedin- rigere Wahrnehmungsaufgaben gestellt wer-
gung 3 bewegten sich die beiden kleineren den, die sie nicht auf Anhieb lösen können.
Streifen in entgegengesetzter Richtung über Typische Reize sind sogenannte Kippfiguren
die beiden rezeptiven Felder. Jedes Neuron oder Figuren, die nicht sofort erkennbar sind,
zeigte ein oszillatorisches Entladungsmuster
(abwechselnd starke und schwache Nerven-
zellaktivität) über die Zeit. Die Forscher haben
die Oszillationen für jedes Neuron registriert,
Korrelationen zwischen diesen Oszillationen
berechnet und Folgendes herausgefunden:
Werden beide rezeptive Felder mit einem
langen Streifen, der sich über beide rezeptive
Abbildung 7-11: Dargestellt sind zwei Hirn-
Felder bewegt, simultan stimuliert, dann sind
gebiete, die beim Wahrnehmen eines farbigen
die Entladungsmuster beider Nervenzellen
Buchstabens besonders aktiviert sind. Ein Areal
sehr ähnlich. Die Ähnlichkeit dieser Oszillatio- ist spezialisiert für Farbwahrnehmung, das an-
nen wurde mittels Kreuzkorrelogrammen be- dere für Graphemwahrnehmung. Bei der Wahr-
rechnet. Die Korrelation zwischen den Oszilla- nehmung eines farbigen Graphems synchronisie-
tionen ist besonders groß, wenn beide rezepti- ren sich beide Hirngebiete (wahrscheinlich in der
ven Felder durch den langen Streifen stimuliert Gamma-Band-Frequenz).
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208 7. Allgemeines zur Wahrnehmung
weil wichtige Teile fehlen oder weil sie nur un- bestimmten Reizes oder einer Reizklasse auf-
zureichend abgebildet sind. In dem Moment, treten können. In gewisser Weise sind dies
in dem die Versuchspersonen die „verborgene“ ähnliche Doppelwahrnehmungen wie bei den
Figur erkennen, ist ein typischer Wechsel der Synästhesien, der große Unterschied liegt al-
Hirnaktivität feststellbar, meist eine Zunahme lerdings darin, dass die assoziativen Wahrneh-
im hochfrequenten EEG-Bereich (Gamma- mungen ausschließlich durch Erfahrung er-
Band, 30–200 Hz). Aus diesem Grund wird worben sind, dass sie bewusst werden und dass
dem Gamma-Band eine besondere Bedeu- sie bis zu einem bestimmten Grad unterdrück-
tung beim Zusammenschalten von Nerven- bar und verlernbar sind. Außerdem kann in
zellgruppen beigemessen (Herrmann et al., experimentellen Studien gezeigt werden, dass
2010; Uhlhaas et al., 2010). die durch Auslöser hervorgerufenen assoziati-
ven Wahrnehmungen langsamer ausgelöst
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7.8. Synästhesie 209
• Ton à Geschmack
• Ton à Temperatur
Bindungsareal
• Ton à Berührung
• Geschmack à Ton
• Geschmack à Temperatur
• Geschmack à Berührung
• Temperatur à Ton
• Berührung à Geruch
• Berührung à Ton
• Berührung à Geschmack
• Berührung à Temperatur Farbareal
• Persönlichkeit à Geschmack
Graphemareal
• Tonintervall à Geschmack
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210 7. Allgemeines zur Wahrnehmung
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7.9. Zusammenfassung 211
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212 7. Allgemeines zur Wahrnehmung
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213
8. Visuelle Wahrnehmung
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Visueller Kortex
Videokamera
kortikales
Implantat
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8.1. Vom Auge zum Gehirn 215
8.1. Vom Auge zum Gehirn zu einem kohärenten, sinnvollen Bild. Den
Rezeptoren der Retina ist ein Geflecht von
8.1.1. Retina Zellen vorgelagert (Abb. 8-1). Die Rezeptoren
sind über Horizontalzellen miteinander hori-
Die Retina des menschlichen Auges besteht zontal verbunden. Die Amakrinzellen verbin-
aus ca. 130 Millionen Rezeptoren. Etwa 6 Mil- den die Rezeptoren mit den Ganglienzellen
lionen dieser Rezeptoren sind Zapfen, die für der Retina, deren Afferenzen den Nervus op-
die Farbwahrnehmung spezialisiert sind; den ticus bilden.
Rest machen die Stäbchen aus. Die Zapfen Bereits auf der Retina werden Farbinforma-
sind fast ausschließlich im Bereich der Fovea tionen codiert. Drei Zapfentypen werden
centralis lokalisiert, die perfekt den hinteren unterschieden, von denen jeder für einen un-
Abschluss der optischen Achse beim Gerade- terschiedlichen Wellenlängenbereich maxi-
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ausblick repräsentiert. Die Stäbchen befinden mal empfindlich ist. Ein Zapfentyp reagiert
sich in der Peripherie der Retina. Elektromag- maximal auf Licht im Wellenlängenbereich
netische Schwingungen in einem eng um- von 430 nm (blau), einer im Wellenlängen-
schriebenen Frequenzbereich (400–750 nm) bereich von 530 nm (grün) und der dritte im
können die Rezeptoren erregen und lösen den Wellenlängenbereich von 560 nm (rot). Die
Transduktionsprozess aus. Die dabei entste- Empfindlichkeit eines Zapfentyps ist jedoch
henden elektrischen Erregungen werden über immer relativ. Das bedeutet, dass ein Zapfen-
Nervenfasern zum Gehirn geleitet. Diese Ner- typ, der z. B. auf Licht im Wellenlängenbereich
venfasern sind anatomisch so organisiert, dass von 530 nm (also auf die Farbe Grün) reagiert,
sie an einer bestimmten Stelle der Retina ge- nicht ausschließlich, sondern lediglich auf
bündelt als Nervus opticus austreten. Da sich diesen spezifischen Wellenlängenbereich be-
an dieser Stelle nur die Nervenfasern und sonders gut anspricht (Abb. 8-2). Bei Licht im
keine Rezeptoren befinden, wird sie als blin- Wellenlängenbereich von 500 nm reagiert er
der Fleck bezeichnet. Dennoch „sehen“ wir in auch, jedoch erheblich schwächer. Im Rahmen
unserem Gesichtsfeld keinen Fleck, sondern der Gegenfarbentheorie (opponent process
unser Gehirn vervollständigt diese „Lücke“ theory) werden antagonistische neuronale
entsprechend den betrachteten Informationen Prozesse in den Ganglienzellen angenommen,
Retina
t
Lich Licht
Abbildung 8-1: Aufbau der Retina mit den unterschiedlichen Zellschichten. (Nachgezeichnet und modi-
fiziert nach Abbildung 8-9 aus Kolb & Wishhaw, 2001)
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216 8. Visuelle Wahrnehmung
Relative Absorption
430 530 560
Dunkel-
adaptation
Abbildung 8-2: Relative Absorption unterschiedlicher Wellenlängenbereiche des Lichts für die drei Zap-
fentypen mit den jeweiligen Empfindlichkeiten von 430 nm (blau), 530 nm (grün), 560 nm (rot). Die Farbe
Gelb ergibt sich aus der gleichmäßigen Stimulation der Grün- und Rot-Zapfen. In den Ganglienzellen
werden die drei Zapfentypen durch laterale Hemmung so verschaltet, dass Gegenfarben entstehen. Auch
der Kontrast zwischen hell und dunkel sowie Schwarz und Weiß wird über einen lateralen Hemmungs-
mechanismus verstärkt.
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8.1. Vom Auge zum Gehirn 217
durchgeführt worden.
Neben diesem klassischen Weg vom Auge
Abbildung 8-3: Schematische Darstellung der zum visuellen Kortex sind bislang neun wei-
Verbindungen vom Auge zum Gehirn.
tere Informationswege beschrieben worden.
Allerdings verfügt nur der geniculostriäre Weg
mit der oben beschriebenen Umschaltstation
Chiasma opticum eine Umorganisation (keine im CGL über direkten Zugang zur Sehrinde,
Umschaltung!) des Nervus opticus, die dazu für die anderen Wege konnten bislang nur in-
führt, dass die Informationen der nasalen direkte Zugänge zur primären Sehrinde be-
Teile der Retina des linken Auges und die tem- schrieben werden. Einer dieser Wege ist der
poralen Anteile der Retina des rechten Auges tectopulvinäre Weg von den Colliculi superior
in die rechtsseitige Sehrinde projizieren. Um- zum Pulvinar und von dort zur sekundären
gekehrt projizieren die nasalen Retinaanteile Sehrinde (Abb. 8-4). Andere Umschaltstatio-
des rechten Auges und die temporalen Retina- nen befinden sich im unteren Teil des Pulvi-
bereiche des linken Auges in die linksseitige nars, im Nucleus suprachiasmaticus, im ven-
Sehrinde. Bei dieser Umorganisation ordnet tralen Teil des CGL (der dorsale Teil des CGL
sich der Gesamtstrang des Nervus opticus, der ist Teil des geniculostriären Wegs, s. o.), im
aus vielen einzelnen Fasern besteht, quasi neu Tectum, im Nucleus des optischen Trakts und
und die einzelnen Fasern gliedern sich an den im Nucleus accessorius. Die meisten Um-
anderen Tractus an. schaltstationen sind entwicklungsgeschicht-
Gehirn
geniculostriäres System
Sehnerv Corpus weitere
striärer
geniculatum visuelle
Kortex
laterale kortikale
Areale
visuelle
Information tectopulvinäres System
Auge Colliculi
Pulvinar
superior
Abbildung 8-4: Geniculostriärer und tectopulvinärer Weg. (Nachgezeichnet nach Abbildung 8-12 aus
Kolb & Whishaw, 2001)
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218 8. Visuelle Wahrnehmung
lich ältere Neurone und nicht direkt oder gar des Off-Feldes nimmt sie ab (Abb. 8-6). Die An-
nicht in die visuelle Wahrnehmung eingebun- ordnung der On-off-Felder ist je nach Kom-
den. Diese Informationswege sind jedoch in plexitätsgrad und Verarbeitungsstufe unter-
andere wichtige Funktionsabläufe involviert, schiedlich. Die einfachsten rezeptiven Felder
z. B. ist der Nucleus suprachiasmaticus im Hy- bestehen aus konzentrisch angeordneten On-
pothalamus in die Kontrolle des Tag-Nacht- off-Feldern, wobei das On-Feld innen liegen
Rhythmus eingebunden. Die Colliculi superior kann, während das Off-Feld sich kreisförmig
und das Pulvinar sind an der Kontrolle der Auf- um das On-Feld anlagert. Auch umgekehrte
merksamkeit und der Orientierungsreaktio- Anordnungen sind möglich.
nen beteiligt (Kap. 10). In V1 können drei Neuronentypen unter-
schieden werden: Einfachzellen, Komplex-
zellen und endinhibierte oder Hyperkom-
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8.2. Visueller Kortex 219
A) B) C)
rezeptives Feld rezeptives Feld rezeptives Feld
einer retinalen Ganglienzelle einer Zelle im CGL in VI
Abbildung 8-5: Hierarchische Organisation von rezeptiven Feldern. (A) Rezeptive Felder von Ganglien-
zellen in der Retina. (B) Kombination von rezeptiven Feldern aus den retinalen Ganglienzellen im Corpus
geniculatum laterale (CGL). (C) Kombination von rezeptiven Feldern aus den Zellen im Corpus genicula-
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ON-Zentrum Zelle
A)
Lichtstimulus
in einem Teil des
visuellen Feldes
0 1 Erregung 2 3
OFF
B) Zeit in Sekunden
rezeptives Feld
der Ganglienzelle
OFF 0 1 Hemmung 2 3
Zeit in Sekunden
Abbildung 8-6: Rezeptives Feld einer retinalen Ganglienzelle mit On-Zentrum und Off-Peripherie. (A)
Trifft ein Lichtreiz auf das On-Zentrum, nimmt die Aktivität in der nachgeschalteten Ganglienzelle zu. (B)
Wird die Off-Peripherie beleuchtet, nimmt die Aktivität im nachgeschalteten Ganglion ab.
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220 8. Visuelle Wahrnehmung
rezeptives Feld
der Einfachzelle
OFF
Aktivität des Neurons in Ruhe
kein Reiz
ON
OFF
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OFF
starke Reaktion des Neurons
Licht
ON
OFF
OFF
keine Reaktion
ON
O
OFF
t
ch
Li
Abbildung 8-7: Rezeptives Feld einer Einfachzelle im primären visuellen Kortex. Bei Beleuchtung des
rechteckigen On-Zentrums ist die Aktivität des Neurons im visuellen Kortex maximal. Werden On- und
Off-Bereiche simultan beleuchtet, dann ist die Aktivität des Neurons im visuellen Kortex minimal.
Brodmann). In letzter Zeit werden auch an- liegen. BA 17 ist der primäre visuelle Kortex,
hand von dezidierten Bildgebungsstudien die der im Sulcus calcarinus liegt. Der primäre
visuellen Areale im menschlichen Gehirn be- visuelle Kortex fällt durch eine besonders
schrieben (Wilms et al., 2010). Alle Unter- große vierte Schicht auf, in der die Afferen-
suchungen haben zahlreiche visuelle Areale zen aus dem CGL des Thalamus enden. Auf
erbracht; bis zu 200 sind bislang für das Prima- Hirnschnitten ist mit bloßem Auge ein
tengehirn beschrieben worden. schmaler weißer Streifen – der Gennari- oder
Auf der Basis der zytoarchitektonischen Vicq-d’Azyr-Streifen – zu erkennen. Er be-
Analyse des Neuroanatomen Brodmann wird steht aus stark myelinisierten Axonen und die
der visuelle Kortex im Wesentlichen in drei Bezeichnung Area striata (auch: striärer Kor-
große Bereiche eingeteilt: die Brodmann- tex) für dieses Hirngebiet ist auf seine ana-
Areale 17, 18 und 19, die im Okzipitalkortex tomische Besonderheit zurückzuführen. Alle
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8.2. Visueller Kortex 221
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222 8. Visuelle Wahrnehmung
V1 V2 V3 V5 STS
V4
Abbildung 8-11: Teilgebiete, die den ventralen und dorsalen Informationsweg ausmachen. Die wichtigen
Verbindungen sind durch Linien gekennzeichnet. AIT: anteriorer inferiorer Temporalkortex, CIT: zentraler
anteriorer inferiorer Temporalkortex, PIT: posteriorer inferiorer Temporalkortex, IPS: intraparietaler Sul-
cus, LPS: Lobulus parietalis superior, LOC: lateraler Okzipitalkortex, STS: Sulcus temporalis superior.
V1 – V5 visuelle Areale.
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8.2. Visueller Kortex 223
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224 8. Visuelle Wahrnehmung
ipsilaterales Auge
Corpus 4 6 3 5 4 6 parvozellulär
geniculatum
laterale
1 2 1 magnozellulär
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II
III
Visueller Kortex
IVCα
IVCβ
VI
L R L
Abbildung 8-13: Sechs Schichten des primären visuellen Kortex inklusive der Kolumnen für das linke
und das rechte Auge. Schicht IVCα erhält Afferenzen von den magnozellulären Neuronen der Schichten
1 und 2 des CGL. Schicht IVCβ des visuellen Kortex erhält Afferenzen aus den parvozellulären Schichten
3–6 des CGL.
und linken Auges stammen. Eine Säule im vi- 1,5–2 mm) und weist eine für den Kortex typi-
suellen Kortex besteht aus Afferenzen aller sche Aufteilung in sechs Schichten auf (I–VI).
drei Schichten und erhält somit Eingänge aus Die primäre Sehrinde verfügt über eine beson-
P- und M-Zellen. Jeweils eine aus Afferenzen ders dicke Schicht IV (innere Körnerschicht), in
des linken und rechten Auges bestehende An- der viele afferente Fasern der Neurone des
sammlung von Zellen im visuellen Kortex wird CGL enden. Schicht IV wird weiter unterteilt in
als Hyperkolumne bezeichnet (Abb. 8-15). die Unterschichten A, B, C, wobei Schicht C
Die Sehrinde ist verglichen mit anderen noch einmal in die Schichten α und β unterteilt
kortikalen Arealen recht dünn (beim Menschen wird. Schicht IVCα empfängt die Axone der
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8.2. Visueller Kortex 225
II & III
IV
VI
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R
L
R
L
Abbildung 8-14: Säulenorganisation in V1. Die Neurone einer Säule zeigen eine bestimmte Präferenz für
die Orientierung eines Lichtbalkens, der auf die Retina trifft. Es gibt Säulenfür das linke und das rechte
Auge. Säulen mit gleicher Präferenz für das rechte und das linke Auge werden als Hyperkolumne bezeich-
net. (Nachgezeichnet und modifiziert nach der Abbildung 8-34 aus Kolb & Whishaw, 2001)
magnozellulären Neurone aus den Schichten Jenseits von V1, in den extrastriären Hirn-
1 und 2 des CGL. Schicht IVCβ erhält Afferen- gebieten, verändern sich die Säulen und wei-
zen aus den parvozellulären Neuronen der sen Präferenzen für komplexere Reizkonstel-
Schichten 3–6 des CGL. lationen auf. In Abbildung 8-16 sind Kolumnen
Der visuelle Kortex ist in Säulen (Kolum- des Temporallappens dargestellt, die für Ge-
nen) organisiert. Jede Säule umfasst die sechs sichter und Objekte spezialisiert sind.
kortikalen Schichten und bildet eine funktio-
nelle Einheit. Neurone innerhalb einer Säule in
V1 zeigen die gleiche Präferenz für die Orien- 8.2.3. Retinotopie
tierung von Lichtbalken, die auf die Retina
treffen. Es existieren Säulen für das rechte und Bis zum visuellen Kortex bleibt die Topologie
das linke Auge (Abb. 8-14). der Retina erhalten. Das bedeutet, dass die
Farbinformationen werden bereits in V1 benachbarten Gebiete der Retina (bzw. ihre
verarbeitet. Die entsprechenden Neurone sind Erregungsmuster) auf benachbarten Neuro-
ebenfalls säulenartig angeordnet und in die nen des CGL und des visuellen Kortex ab-
Säulen eingebettet. Diese farbsensiblen Neu- gebildet werden. Dies wird als Retinotopie
ronensäulen werden als Blobs bezeichnet. Die bezeichnet. Es bedeutet ferner, dass jedes
Neurone werden von den farbsensiblen Zellen Neuron im CGL die Aktivität eines bestimm-
der Ganglienzellen der Retina über das CGL ten Retinaortes verarbeitet und jeder Retina-
versorgt. In Abbildung 8-15 ist ein komplettes bereich von bestimmten Neuronen im visuel-
Verarbeitungsmodul in V1 mit Säulen, okulä- len Kortex verarbeitet wird.
ren Dominanzsäulen, Hyperkolumnen und Die Retinotopie im visuellen Kortex kann
Blobs dargestellt mittels fMRT untersucht werden (Abb. 8-17).
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226 8. Visuelle Wahrnehmung
Blobs
Hyperkolumnen
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Orie R
ntie
run L n
gsko ule
lum sä
nen R z
in an
L D om
re
ulä
ok
Abbildung 8-15: Darstellung eines Verarbeitungsmoduls in V1. Man erkennt die Säulen, die okulären
Dominanzsäulen, die Hyperkolumnen und die Blobs für die Farbverarbeitung. (Nachgezeichnet und
modifiziert nach der Abbildung 8-38 aus Kolb & Whishaw, 2001)
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8.2. Visueller Kortex 227
A) B)
linkes visuelles Feld
rechter visueller Kortex
Projektion zum rechten
visuellen Kortex
Peripherie
Fovea
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Sulcus
calcarinus
Abbildung 8-17: Retinotopie im visuellen Kortex. (A) Gesichtsfeld des Probanden mit Fixationskreuz in
der Mitte. (B) Visueller Kortex um den Sulcus calcarinus. Der Proband fixiert das Kreuz in der Mitte des
Bildes. Informationen, die unmittelbar links oberhalb des Fixationskreuzes präsentiert werden, werden
rechts unterhalb des Sulcus calcarinus abgebildet. Weiter in der Peripherie liegende Informationen des
linken oberen Gesichtsfeldquadranten werden weiter hinten im rechtsseitigen unteren Sulcus calcari-
nus abgebildet.
calcarinus. Es liegt also eine doppelte Kreu- dann liegt eine Läsion oder Durchblutungs-
zung (von oben nach unten und von rechts störung links unterhalb des Sulcus calcarinus
nach links) vor. Die Retinotopie bleibt im ven- vor. Sieht der Patient im unteren rechten Ge-
tralen Informationsstrang noch recht lange sichtsfeldquadranten nichts mehr, dann liegt
erhalten, während sie im dorsalen Strang im eine Läsion oder Durchblutungsproblematik
Parietallappen in ein körperbezogenes Refe- links oberhalb des Sulcus calcarinus vor. Bei
renzsystem umcodiert wird, damit visuelle einer Hemianopsie ist eine Seite eines Ge-
Informationen auch für die motorische Kon- sichtsfeldes (links oder rechts) vollständig
trolle genutzt werden können. ausgefallen (Abb. 8-18). Bei einer rechtsseiti-
Die Retinotopie äußert sich auch bei Sko- gen Hemianopsie ist der linksseitige visuelle
tomen und den Anopsien, d. h. Gesichtsfeld- Kortex ober- und unterhalb des Sulcus calca-
ausfällen, die durch Läsionen oder Durch- rinus betroffen. Skotome sind kleinere und
blutungsprobleme im visuellen Kortex ver- umschriebene Ausfälle. Die mit ihnen assozi-
ursacht werden. Unterschieden werden ierten Läsionen sind kleiner als bei den Qua-
Quadranten- und Hemianopsien. Bei einer dranten- und den Hemianopsien, die Zuord-
Quadrantenanopsie liegt ein Ausfall eines nung zwischen dem Ort des Gesichtsfeldaus-
Gesichtsfeldquadranten (rechts oben oder falls und dem Ort der Läsion bleibt jedoch
unten) vor. Sieht der Patient im oberen rech- immer gleich und folgt dem Prinzip der dop-
ten Gesichtsfeldquadranten nichts mehr, pelten Kreuzung.
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228 8. Visuelle Wahrnehmung
A) Hemianopsie
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Verletzung
B) Quadrantenanopsie
Verletzung
C) Skotom
Verletzung
Abbildung 8-18: Gesichtsfeldausfälle als Folgen von Läsionen im visuellen Kortex. (A) Hemianopsie im
linksseitigen Gesichtsfeld. Zugrunde liegt eine Läsion im rechtsseitigen visuellen Kortex ober- und un-
terhalb des Sulcus calcarinus. (B) Quadrantenanopsie im oberen rechten Gesichtsfeldquadranten. Ur-
sache ist eine umschriebene Läsion im linksseitigen visuellen Kortex unterhalb des Sulcus calcarinus.
(C) Skotom im rechtsseitigen oberen Gesichtsfeldquadranten. Ursache ist eine Läsion im linksseitigen
visuellen Kortex unterhalb des Sulcus calcarinus.
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8.4. Einfache und grundlegende Wahrnehmungsleistungen 229
Blindsicht. Beim Typ 1 erkennen die Betroffe- ner Stimulation führen. Auch Reflexionen auf
nen keinen visuellen Reiz bewusst, sie können dem Gesicht (z. B. der Nase) könnten das ge-
jedoch in bestimmten Testsituationen über- sunde Gesichtsfeld stimulieren. Insofern ist
zufällig oft bestimmte Aspekte der dargebote- größte Sorgfalt bei der Gestaltung der experi-
nen visuellen Reize „erraten“ und auf sie rea- mentellen Anordnungen zur Untersuchung
gieren. Manche dieser Personen können die der Blindsicht geboten.
Position und die Bewegungsrichtung des dar- Ein wichtiger Untersuchungsansatz besteht
gebotenen visuellen Reizes erkennen oder in der Arbeit mit Modellen (zum Beispiel, in-
auch die Bewegungsbahnen sich bewegender dem man mit Primaten oder geeigneten Pa-
visueller Reize nutzen, um zukünftige Positio- tienten arbeitet). Stoerig und Cowey (2007)
nen dieses Reizes vorherzusagen. Diese Leis- z. B. gehen aufgrund von Studien davon aus,
tungen nimmt der Untersucher nur wahr, dass auch Primaten Blindsicht entwickeln kön-
wenn er experimentelle Versuche gestaltet, bei nen. Im Rahmen eines anderen Versuchs-
denen die Versuchspersonen zum Raten „ge- ansatzes werden Patienten mit Hemianopsie
zwungen“ werden. untersucht, um zu überprüfen, wie sie visuelle
Beim Typ 2 sind noch Ansätze bewusster Informationen verarbeiten, die dem blinden
Wahrnehmung vorhanden. Diese Patienten Gesichtsfeld dargeboten werden. Insgesamt
geben an, dass sie visuelle Bewegungsreize im mehren sich die Befunde, dass es eine unbe-
blinden Gesichtsfeld erkennen. Sie können wusste Verarbeitung jenseits des geniculos-
jedoch nicht angeben, welches Objekt sich in triären Informationswegs gibt.
ihrem blinden Gesichtsfeldbereich bewegt.
Manchmal scheinen sie ihre Augenbewegun-
gen beim Verfolgen der bewegten Reize zu
8.4. Einfache und grund-
bemerken. legende Wahrnehmungs-
Bezüglich der Frage, wie ein kortikal Blin- leistungen
der unbewusst visuelle Reize erkennen kann,
werden aktuell mehrere Möglichkeiten dis- 8.4.1. Tiefenwahrnehmung
kutiert (Stoerig & Cowey, 2007). Eine besteht
darin, dass bei diesen Patienten indirekte Bei der Tiefenwahrnehmung werden binoku-
Wege zum visuellen Kortex genutzt werden. lare und monokulare Mechanismen unter-
So ist es z. B. möglich, dass visuelle Informatio- schieden. Wir wenden uns zunächst den bino-
nen unter Umgehung von V1 in die extrastriä- kularen Mechanismen zu. Beim Fixieren
ren Areale gelangen, beispielweise über den wird das Objekt auf „korrespondierenden“
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230 8. Visuelle Wahrnehmung
Netzhautstellen beider Augen, d. h. Retinaor- punkten beider Augen abgebildet (Abb. 8-20).
ten, die an identischen Stellen der jeweiligen Als korrespondierend gelten Netzhautstellen,
Retina lokalisiert sind, abgebildet. Die Objekte die aufeinanderlägen, wenn man die beiden
werden dann als an der gleichen Stelle des Netzhäute so übereinanderlegen würde, dass
Raums liegend wahrgenommen. Wenn das Ob- ihre vertikalen und horizontalen Achsen über-
jekt fixiert wird, wird es auf den Foveae beider einstimmten. Man kann sich das ungefähr so
Augen abgebildet, was auch als bifoveale Kon- vorstellen, dass durch das Aufeinanderlegen
vergenz bezeichnet wird. Für jedes Auge lässt eine gemeinsame Repräsentation der beiden
sich eine (virtuelle) optische Achse von der Fo- Netzhauthälften entstehen würde. Diese Re-
vea zum fixierten Objekt ziehen. Die optischen präsentation wird gelegentlich auch als Zyklo-
Achsen beider Augen verlaufen nahezu parallel penauge bezeichnet. Für unser Beispiel bedeu-
bei Objekten, die in der Ferne lokalisiert sind. tet das, dass die rechtsseitige vertikale Kante
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Je näher das fixierte Objekt ist, desto mehr kon- im linken Auge an einer anderen Stelle abge-
vergieren die optischen Achsen und beide Seh- bildet wird als im rechten. Auch die vorderen
achsen bilden miteinander einen bestimmten
Winkel, der als Konvergenzwinkel bezeichnet
wird. Dieser Konvergenzwinkel dient der Seh-
rinde als Kennwert für die Entfernungs-
berechnung. Die Lichtstrahlen, die von einem
nahen Gegenstand auf die Retina treffen, bil-
den einen größeren Winkel als die Lichtstrah-
len, die von einem entfernteren Gegenstand
stammen. Dadurch entstehen unterschiedliche
Projektionen auf der Netzhaut: Die Abbildun-
gen naher Gegenstände liegen auf der Netz-
haut weiter außen als die Abbildungen ent-
fernter Gegenstände (Abb. 8-19).
Wird ein dreidimensionales Objekt, z. B. ein
Würfel (oder ein Haus), betrachtet und dessen
leicht gedrehte vordere Kante fixiert, wird
diese auf korrespondierenden Netzhaut-
6,5 cm
A
B
A B
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8.4. Einfache und grundlegende Wahrnehmungsleistungen 231
und hinteren horizontalen Kanten werden auf Neben diesem binokularen Mechanismus
unterschiedlichen und nicht korrespondieren- existieren auch monokulare Mechanismen,
den Netzhautbereichen abgebildet. Diese Ab- die zur Entfernungs- und Tiefenwahrnehmung
weichung von der „Korrespondenz“ wird als beitragen. Wie die Bezeichnung bereits be-
Querdisparation bezeichnet. Anders aus- sagt, wird hierbei nur ein Auge benötigt.
gedrückt bedeutet dies, dass beide Augen den Wichtige monokulare Tiefenreize sind:
gleichen Würfel unterschiedlich abbilden. 1. Perspektive (Parallelen laufen in einem
Der Fixationspunkt wird immer auf korres- Fluchtpunkt zusammen)
pondierenden Netzhautbereichen abgebildet. 2. relative Größe (weiter hinten stehende Ob-
Es lässt sich zeigen, dass auf korrespondieren- jekte wirken kleiner)
den Netzhautbereichen nur solche Punkte ab- 3. relative Klarheit (weiter hinten stehende
gebildet werden, die auf einem gedachten Objekte erscheinen weniger klar und ver-
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232 8. Visuelle Wahrnehmung
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8.4. Einfache und grundlegende Wahrnehmungsleistungen 233
A) B)
Vorderansicht
Umgebung (12°)
V3a
V5
LOC V1
V4
Zentrum (5°)
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C)
V1 V5 V4 LOC V3a
20 20 20 20 20
15 15 15 15 15
10 10 10 10 10
5 5 5 5 5
1 64 1 64 1 64 1 64 1 64
Abbildung 8-23: (A) Versuchsanordnung des Experiments von Cottereau et al. (2011). Eine innere und
äußere Scheibe konnten getrennt oder korreliert miteinander Disparität erzeugen. (B) Hirngebiete, in
denen die neurophysiologische Aktivität anhand des Oberflächen-EEG geschätzt wurde. (C) Disparitäts-
kurven für die einzelnen Hirngebiete, die in die Analyse der Disparität eingebunden sind. Man erkennt,
dass die Hirngebiete für bestimmte Disparitäten besonders sensibel sind.
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234 8. Visuelle Wahrnehmung
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8.4. Einfache und grundlegende Wahrnehmungsleistungen 235
gungsreize reagieren. Bilaterale Läsionen in Mann, einer Frau oder einem Kind stammen.
diesem Gebiet führen beim Menschen zu einer Es hat sich gezeigt, dass diese Informationen
Bewegungswahrnehmungsstörung, die als auch von Patienten erkannt werden, die unter
Akinetopsie bezeichnet wird. Patienten mit einer Akinetopsie (aufgrund einer Läsion in
Akinetopsie sind nicht nur unfähig, bewegte V5) leiden.
Objekte wahrzunehmen, sie können sich auch Bildgebende Studien haben ergeben, dass
nicht vorstellen, bewegte Objekte zu sehen. „biologisch relevante“ Bewegungsreize in ei-
Eine Arbeitsgruppe um den Neuropsycho- nem weit verteilten neuronalen Netzwerk
logen Zihl hat als erste eine Patientin beschrie- analysiert werden. Eine zentrale Bedeutung in
ben, die unter einer Akinetopsie aufgrund von diesem Netzwerk haben Gebiete in und um
bilateralen Läsionen in V5 litt (Zihl et al., den Sulcus temporalis superior (STS;
1983). Ihr Wahrnehmungseindruck bei Kon- Abb. 8-26). Dieses Hirngebiet gehört zu den
frontation mit sich bewegenden Reizen war, polymodalen Hirngebieten, die „Zufluss“ aus
dass sie Serien von Standbildern statt kon- vielen Sinnesmodalitäten erhalten, was darauf
tinuierlicher Bewegungsabläufe sah. hinweist, dass dieses Gebiet in die Integration
Das Areal MT/V5 scheint allerdings nur für verschiedener Datenquellen eingebunden ist.
die Verarbeitung von sich bewegenden Ob- Insbesondere der hintere Teil des STS ist in-
jekten spezialisiert zu sein. Visuell analysierte
n
nge
wegu e n
be im e
per tom ung
V5 Kör Pan eweg
ndb
Ha
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236 8. Visuelle Wahrnehmung
tensiv in die Analyse biologischer Bewegun- heute ist es trotz großer wissenschaftlicher An-
gen eingebunden. Allerdings erhält der ge- strengungen nicht gelungen, eine künstliche
samte STS Informationen aus dem dorsalen „Objekterkennung“ auf dem gleichen Leis-
und ventralen Informationsweg und aus dem tungsniveau wie beim Menschen nach-
Kleinhirn (Vaina et al., 2001). Offenbar erfor- zubauen. Unser Gehirn hat diesbezüglich im-
dert die Analyse von „biologischen“ Bewe- mer noch einen enormen Leistungsvorsprung.
gungsreizen viele Informationsquellen, was
ein Hinweis auf die Bedeutung von Erfah-
rungseinflüssen sein könnte. 8.5.2. Theoretische Konzepte
Viele der „biologisch relevanten“ Bewegun- zur Erklärung der Objekt-
gen, die im Bereich des STS verarbeitet wer- wahrnehmung
den, sind für die soziale Kommunikation ent-
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scheidend. Typische Beispiele sind Mund- Um 1930 hat der Gestaltpsychologe Werthei-
bewegungen, Gesichtsbewegungen (Mimik), mer grundlegende Wahrnehmungsprinzipien
Körperbewegungen (Pantomime), Augen- beschrieben, nach denen wir bestimmte Reiz-
bewegungen und verschiedene Handbewegun- anordnungen gruppieren und wahrnehmen.
gen. Auch beim Lippenlesen ist der STS akti- Im Folgenden sind die wichtigsten Gestaltge-
viert. Die durch solche Bewegungsreize aus- setze aufgeführt (Abb. 8-27):
gelösten Aktivierungen treten jedoch nie im • Das Gesetz der Nähe besagt, dass Elemente
STS isoliert auf, sondern sind immer mit Akti- mit geringen Abständen zueinander als zu-
vierungen in anderen Hirngebieten verbunden. sammengehörig wahrgenommen werden.
Mittlerweile hat sich gezeigt, dass Bewe- • Mit dem Gesetz der Ähnlichkeit wird aus-
gungsinformationen, die über andere Sinnes- gedrückt, dass einander ähnliche Elemente
modalitäten vermittelt werden, nicht zwin- eher als zusammengehörig erlebt werden
gend auf die „Mitwirkung“ des Areals MT/V5 als einander unähnliche.
angewiesen sind. MT/V5 ist demzufolge ein • Das Gesetz der Kontinuität gibt an, dass
Hirngebiet, das insbesondere für die Analyse die Reize, die eine Fortsetzung vorangegan-
von visuell wahrgenommenen Bewegungen gener Reize zu sein scheinen, als zusam-
spezialisiert ist. mengehörig angesehen werden.
• Das Gesetz der gemeinsamen Bewegung
besagt, dass zwei oder mehr sich gleichzei-
8.5. Objektwahrnehmung tig in eine Richtung bewegende Elemente
als eine Einheit oder Gestalt wahrgenom-
8.5.1. Das Problem der Objekt men werden.
wahrnehmung • Mit dem Gesetz der fortgesetzt durch-
gehenden Linie wird zum Ausdruck ge-
Betrachten wir die Umwelt, dann erkennen wir bracht, dass Linien immer so gesehen wer-
Gegenstände, Personen und Tiere. Diese „Ob- den, als folgten sie dem einfachsten Weg.
jekte“ erkennen wir auch, wenn wir sie aus Kreuzen sich z. B. zwei Linien, gehen wir
anderen Perspektiven betrachten, nur einen nicht davon aus, dass die Linien an dieser
Teil von ihnen sehen oder die Beleuchtungs- Stelle einen Knick machen oder unterbro-
bedingungen (z. B. in der Dämmerung und in chen sind.
der Nacht) schlecht sind. Diese bemerkens- • Das Gesetz der Prägnanz beschreibt, dass
werte Fähigkeit, die uns ganz normal er- Gestalten wahrgenommen werden, die sich
scheint, ist ein Wunderwerk der Natur. Bis von ihrer Umgebung durch ein bestimmtes
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8.5. Objektwahrnehmung 237
Gesetz der Ähnlichkeit Gesetz der Nähe Gesetz der guten Gestalt Gesetz der Kontinuität
Merkmal abheben (Prägnanztendenz). dergrund steht dabei die Frage, wie die Ein-
Hierbei kann eine Tendenz zur Bildung gangsdaten letztlich zu den Ausgangsdaten
möglichst einfacher Gestalten festgestellt transformiert werden.
werden (= „gute Gestalt“). • Die dritte Ebene wird von Marr als tech-
nische Ebene (implementation level) be-
Der britische Psychologe David Marr (1982) zeichnet. Hier stellt sich die Frage, wie der
hat ein Modell der visuellen Wahrnehmung Algorithmus zur Transformation der Ein-
vorgeschlagen, das noch immer intensiv dis- gangs- zu den Ausgangsdaten physikalisch
kutiert wird. Angewendet wird das Modell ins- bzw. physiologisch realisiert wird.
besondere bei der Konstruktion neuronaler
Netzwerke im Rahmen der künstlichen Nach- In diesem Zusammenhang schlägt Marr einen
bildung menschlicher visueller Wahrneh- vier Stufen umfassenden Prozess vor, der
mung. Für Marr ist die visuelle Wahrneh- zur visuellen Wahrnehmung führt:
mung ein Informationsverarbeitungsprozess, • Zunächst wird ein retinales Bild erstellt, das
bei dem nicht mit Bildern operiert wird, die ja eine Projektion der Außenwelt auf der Re-
bereits auf der zweidimensionalen Netzhaut tina ist.
in elektrische Aktivitätsmuster umgewandelt • Auf der nächsten Ebene folgt ein erster Ent-
werden. Diese elektrischen Aktivitätsmuster wurf (sketch, Skizze), indem Kanten, zu-
repräsentieren die Außenwelt und werden in sammenhängende Flächen und Oberflä-
den visuellen Zentren und im Assoziations- chentexturen nach Art einer Strichzeich-
kortex zu einem Perzept kombiniert. Wir neh- nung erkannt werden. Für diese Skizze
men also das wahr, was unser Gehirn aus den werden Helligkeitsänderungen auf der Re-
elektrischen Entladungen des visuellen Sys- tina analysiert und zur Berechnung heran-
tems interpretiert. Für Marr müssen Fragen gezogen.
auf drei Ebenen geklärt werden, um diesen • Danach wird der 2½25-D-Entwurf erstellt,
Wahrnehmungsprozess zu verstehen: in dem die retinalen Informationen zusam-
• Welchen Zweck hat das Sehen? Was soll es mengefasst werden. Des Weiteren werden
leisten? Diese Ebene bezeichnet Marr als die räumliche Orientierung und die grobe
die Rechenebene (computational level). Tiefe von Oberflächen bestimmt, sodass
• Auf der nächsten Ebene, die Marr als al-
gorithmische Ebene (algorithmic level)
bezeichnet, geht es um die Frage, wie die 25 Mit dieser Zahl soll zum Ausdruck gebracht wer-
Rechenebene erreicht werden soll. Im Vor- den, dass das 3D-Modell noch nicht vollständig ist.
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238 8. Visuelle Wahrnehmung
ein erstes grobes Bild von der dreidimensio- In diesen Hirngebieten werden wahrschein-
nalen Welt entsteht. lich Berechnungen durchgeführt, die zur Kon-
• Abschließend wird das 3-D-Modell berech- stanz der Objektwahrnehmung beitragen.
net. Aufgrund der Querdisparation (berech- Diese Wahrnehmungskonstanz ist ein bemer-
net aus den beiden retinalen Bildern) erhält kenswert effizienter Mechanismus, dessen
man genaue Informationen über die Tiefe, neurophysiologische Grundlagen bislang nicht
sodass die Wahrnehmung trotz aller Augen- eindeutig geklärt sind. Durch diesen Konstanz-
und Körperbewegungen stabil bleibt. mechanismus gelingt es uns, Objekte zu er-
kennen und wahrzunehmen, auch wenn sich
die Beleuchtungsverhältnisse oder die Blick-
8.5.3. Kortikale Repräsentation positionen verändern. Ein Auto bleibt ein Auto,
der Objektwahrnehmung auch wenn es im Dunkeln wahrgenommen
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8.5. Objektwahrnehmung 239
nen anspricht, während das Neuron 450 nur Mensch in der Lage ist wahrzunehmen, für
auf Orangen reagiert. Dieser extreme Fall, jedes Objekt spezifische Neurone existieren.
dass nur jeweils ein Neuron auf ein spezi- Bei der Interpretation dieser Arbeiten muss
fisches Objekt reagiert, wird oft mit der Meta- zunächst berücksichtigt werden, dass nur eine
pher der „Großmutterzelle“ beschrieben. Ge- begrenzte Anzahl von Neuronen in den jewei-
mäß dieser Metapher soll im ventralen Strang ligen Studien simultan untersucht werden
ein Neuron lokalisiert sein, das darauf spezia- konnte, sodass die Forscher nur einen be-
lisiert ist, das Bild der Großmutter zu erken- schränkten Einblick in die neurophysiologi-
nen. Vorstellbar ist auch eine abgeschwächte schen Aktivitätsmuster erhielten. Des Weite-
Version dieses Modells: Eine Gruppe von Neu- ren muss bedacht werden, dass in diesen Un-
ronen reagiert spezifisch oder vorrangig auf tersuchungen nur relativ wenige Objekte
ganz bestimmte Reizkategorien. In diesem präsentiert werden konnten, sodass es durch-
Sinn würden die Neurone 900–1000 nur auf aus möglich ist, dass die spezifische Auswahl
Birnen und die Neurone 450–500 nur auf der Bilder zu Zufallsbefunden geführt hat.
Orangen ansprechen. Eine neuere Arbeit hat allerdings gezeigt, dass
Eine Reihe von Einzelzellableitungen an die Aktivität einiger Neurone im inferioren
Affen sowie Arbeiten mit intrakortikalen Ab- Temporallappen für das Erkennen bestimm-
leitungen bei Patienten lassen vermuten, dass ter Objekte essenziell ist (Afraz et al., 2006).
tatsächlich Zellen existieren, die spezifisch auf Die Autoren haben gezeigt, dass die externe
bestimmte Reizkategorien reagieren. So sind Stimulation bestimmter Neurone, die für die
z. B. bei Experimenten mit Affen Neurone im Codierung von Gesichtern zuständig sind, bei
IT identifiziert worden, die spezifisch auf der Präsentation von ambigen Bildern dazu
Hände, Gesichter und Objekte reagieren führt, dass die Probanden diese mehrdeutigen
(Gross et al., 1969, 1972). Eine spektakuläre Bilder eher als Gesichter wahrnehmen.
neuere Arbeit hat mit intrakortikalen Elektro- Eine Alternative zur Einzelneuronkodie-
den bei epileptischen Patienten gearbeitet rung ist die Populationscodierung. Das Prin-
(Quiroga, 2012). In dieser Arbeit konnten die zip besteht darin, dass das spezifische Aktivi-
Forscher unter anderem Zellen identifizieren, tätsmuster einer großen Gruppe von Neuronen
die nur auf Bilder reagierten, auf denen die die einzelnen Objekte codiert. Angenommen,
Schauspielerin Jennifer Aniston zu sehen war, der IT und LOC bestünden aus 1 Million Neu-
und zwar unabhängig davon, wie groß das Bild rone, dann würde das spezifische Aktivitäts-
war und von welchem Blickwinkel aus auf das muster in diesen Neuronen jedes spezifische
Gesicht geschaut wurde. Objekt der Außenwelt codieren. Dies eröffnet
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240 8. Visuelle Wahrnehmung
die für bestimmte Objekte sensibel sind. Mög- Eine andere vielfach untersuchte Frage
licherweise werden innerhalb dieser speziali- lautet, wie es dem Wahrnehmungssystem ge-
sierten Module die Neurone im Sinne einer lingt, Objekte unabhängig vom Blickwinkel
Populationscodierung organisiert. Diese Mo- wahrzunehmen. Im Prinzip werden zwei Er-
dule könnten mit anderen Modulen über Bün- klärungen vorgeschlagen: die blickwinkelinva-
del von intrakortikalen Verbindungen kom- riante und die blickwinkelabhängige Reprä-
munizieren. sentation. Bei der blickwinkelinvarianten
Repräsentation erfolgt die neuronale Ver-
arbeitung unabhängig vom aktuellen Blick-
Wahrnehmungskonstanz
winkel. Diese Überlegung basiert auf dem
Die Wahrnehmungskonstanz ist eine bemer- Modell David Marrs (1982), der annahm, dass
kenswerte Fähigkeit des Wahrnehmungssys- das visuelle System aus dem dreidimensiona-
tems: Objekte werden unabhängig davon er- len Bild zunächst eine grundlegende Skizze
kannt, unter welchen Beleuchtungsbedingun- (primal sketch) generiert, die im Wesentlichen
gen und Blickwinkeln sie gesehen werden. die Graustufen und Kontraste herausarbeitet,
Auch die Position auf der Retina, auf der das und anhand dieser Informationen sowie unter
Objekt zunächst abgebildet wird, ist letztlich Nutzung der Gestaltgesetze eine einfache Ob-
unerheblich für die Objektwahrnehmung. Wie jekterkennung ermöglicht. Im weiteren Ver-
diese Wahrnehmungsleistung neurophysiolo- lauf soll dann eine vollständige dreidimensio-
gisch erfolgt, ist noch nicht eindeutig geklärt. nale Repräsentation (3-D representation) des
Ein häufig in diesem Zusammenhang genutz- Objekts erschlossen werden, die unabhängig
ter Untersuchungsansatz ist die Adaptations- vom Blickwinkel sein soll. Das kann man sich
technik. Dieser Technik liegt die Erkenntnis so vorstellen, dass durch diesen Transformati-
zugrunde, dass bei wiederholter Darbietung onsprozess die Objekte unabhängig von Be-
desselben Objekts die an der Objektverarbei- leuchtungsbedingungen, Größe und Blick-
tung beteiligten Neurone ihre Aktivität ver- winkel in eine bestimmte 3-D-Repräsentation
ringern. Dies ist die Adaptation. Werden die überführt werden, was offenbar in Neuronen-
gleichen Objekte wiederholt in unterschiedli- gruppen im LOC erfolgt.
chen Größen, Beleuchtungsbedingungen und Es existieren jedoch auch Befunde, die mit
aus unterschiedlichen Perspektiven präsen- dieser Vorstellung nicht kompatibel sind und
tiert, adaptieren einige der in die Wahrneh- eine blickwinkelabhängige Repräsenta-
mung dieser Objekte eingebundenen Neu- tion unterstützen. Eine Reihe von Verhaltens-
rone. Die adaptierenden Neurone könnten in untersuchungen hat gezeigt, dass Objekte am
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8.5. Objektwahrnehmung 241
schnellsten und besten erkannt werden, wenn üblichen Perspektiven präsentiert wurden. Bei
sie in der üblichen Position präsentiert wer- diesen Patienten ist offenbar die räumliche
den. Die Reaktionszeiten und Trefferraten Analyse und die damit verbundene Entschlüs-
können durch Übung und häufige Präsenta- selung der räumlichen Zuordnung von Raum-
tion verbessert werden. Bildgebende Studien achsen gestört (Agnosie für ungewöhnliche
haben gezeigt, dass einige Gebiete im IT Perspektiven). Werden Objekte in üblichen
bei Adaptationsversuchen eher im Sinne der Perspektiven präsentiert, dann können diese
blickwinkelinvarianten oder -abhängigen Re- Patienten die Objektwahrnehmungsanalysen
präsentation reagieren. Viele Gebiete des des ventralen Strangs nutzen und erkennen die
ventralen Strangs im IT reagieren im Sinne Objekte problemlos.
der blickwinkelabhängigen Modelle. Am
schwächsten war die Blickwinkelabhängigkeit
Konfigurale vs. merkmalsbezogene
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242 8. Visuelle Wahrnehmung
HHHH OOOO SSSS ter, sondern auch für andere Reize festgestellt
H H O O S S
H O S worden. Der Inversionseffekt hängt davon ab,
H O S ob die Testpersonen Erfahrungen mit den
HHHH OOOO SSSS
H O S Testreizen haben. Je mehr Erfahrung sie mit
H O S
HH OO SS den Reizen haben, desto stärker sind die In-
HHHH OOOO SSSS
versionseffekte, wie für Hundebilder und
Abbildung 8-28: Beispiel für Reize, mit denen die Fingerabdrücke gezeigt werden konnte (Bu-
Verarbeitung von lokalen und globalen Informa- sey & Vanderkolk, 2005). Kinder scheinen zu
tionen untersucht werden kann. Der große Buch- Beginn ihrer Entwicklung eher konfigurale
stabe, der aus vielen kleinen zusammengesetzt Strategien zu nutzen. Je ausgeprägter ihre Er-
ist, repräsentiert die globale Information, die vie-
fahrungen in der Erkennung von Gesichtern
len kleinen Buchstaben die lokale Information. Die
sind, desto schwächer werden die Aktivierun-
lokale Information wird eher im linksseitigen
gen im rechtsseitigen Gyrus fusiformis bei
ventralen Strang verarbeitet und die globale im
rechtsseitigen ventralen Strang.
der Präsentation von invertierten Gesichtern
(Passarotti et al., 2007).
Fassen wir zusammen: Wir nutzen so-
globalen visuellen Informationen eingebun- wohl konfigurale wie auch merkmalsbezo-
den ist. gene Strategien bei der Objektwahrnehmung.
Die konfigurale Verarbeitung wird ins- Konfigurale Strategien werden v. a. bei Reizen
besondere für Objekte genutzt, mit denen wir angewendet, mit denen bereits Erfahrungen
besonders vertraut sind. Dies lässt sich ein- gemacht wurden. Konfigurale Informationen
drücklich mit dem Inversionseffekt darstel- werden vorrangig im rechten ventralen Strang,
len. Wird ein Bild invertiert präsentiert, ist die merkmalsbezogene Informationen im links-
konfigurale Anordnung der Einzelelemente seitigen ventralen Strang verarbeitet.
verändert, während die lokale Information
unbeeinträchtigt ist. Werden z. B. Gesichtsbil-
Kategoriespezifische Wahrnehmung
der invertiert dargeboten, sind die Gesichter
schlechter zu erkennen. Häuser oder Autos Derzeit wird intensiv diskutiert, ob die Objekt-
werden invertiert immer noch gut erkannt. wahrnehmung kategoriespezifisch organi-
Gesichter werden demzufolge eher konfigural siert ist. Damit ist gemeint, dass bestimmte
und Häuser und Autos eher lokal merkmals- Objektkategorien von spezialisierten Modulen
bezogen verarbeitet. Auch hier ist ein funktio- analysiert werden. In der strengen Definition
neller Hemisphärenunterschied festzustellen. soll ein bestimmtes Wahrnehmungsmodul
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8.5. Objektwahrnehmung 243
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244 8. Visuelle Wahrnehmung
Studien lassen vermuten, dass dieses Hirn- Potenzial – die sogenannte N170-Komponente –
gebiet insbesondere an der Detailanalyse von mit einer Dominanz über rechtsseitigen parie-
Gesichtern, z. B. beim Erkennen der Nase, der tookzipitalen Elektroden (Bentin et al., 2006).
Ohren und des Mundes, beteiligt ist. Es wird Bei Patienten mit einer kongenitalen Prosopa-
auch vermutet, dass das OFA auf der ersten gnosie sind die N170-Komponenten nach Prä-
hierarchischen Stufe – noch vor dem FFA – in sentation von Gesichtern und Objekten iden-
die Gesichtsverarbeitung eingreift. Demnach tisch, während sie bei gesunden Probanden
sollen zunächst Gesichtsteile im OFA erkannt nach der Präsentation von Gesichtsbildern
werden, bevor sie zu einem Gesamtbild zu- deutlich vergrößert sind (Abb. 8-30; Kress &
sammengefasst werden. Daum, 2003).
Untersuchungen an gesunden Probanden Neurochirurgischen Patienten wurden Elek-
mittels bildgebender und elektrophysiologi- troden in den links- und rechtsseitigen Gyrus
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scher Verfahren haben weitere Einblicke in die fusiformis eingeführt, um die Aktivität dieser
kortikale Organisation der Gesichtswahrneh- Hirngebiete nach der Präsentation unter-
mung erbracht. Eingehend wurden evozierte schiedlicher Reize zu messen (Allison et al.,
Potenziale nach Präsentation von Gesichtsbil- 1994). Präsentiert wurden Bilder von Gesich-
dern gemessen. Typischerweise zeigt sich ca. tern und Autos in normaler Orientierung oder
160–200 ms (in der Regel nach 170 ms) nach invertiert. Circa 200 ms nach der Präsenta-
der Präsentation von Gesichtern ein typisches tion konnten große negative ereignisbezogene
A) B) C)
junge Kontrollpersonen Patient SO
(µV) (µV)
–10 –10
14
300 12
Differenz N170-Amplitude (µV)
(ms) (ms)
10
Gesichter bzw. Häuser
8
6
10 10 4
2
ältere Kontrollpersonen Patient GH 0
(µV) (µV) –2
–10 –10 –4
T5
–6 T6
–8
(ms) (ms) BS HN SL SH FB BK AS HA GH SO
Kontrollpersonen Patienten
Gesichter
10 10
Objekte
Abbildung 8-30: N170-Potenziale (gemessen an der temporalen Elektrode T6 über der rechten Hemi-
sphäre) bei gesunden Kontrollpersonen und zwei Patienten (SO und GH) mit einer kongenitalen Proso-
pagnosie. (A) Die N170-Komponenten nach Präsentation von Gesichtern sind bei gesunden Probanden
deutlich größer (durchgezogene Linie) als nach der Präsentation von Objekten (gestrichelte Linie). (B) Bei
den beiden Patienten unterscheiden sich die N170-Komponenten für Gesichter und Objekte nicht. (C) Der
Unterschied der N170-Amplituden für Gesichter und Objekte ist bei allen gesunden Probanden deutlich
und auf der rechten Hemisphäre größer (dunkle Balken). Bei den beiden Patienten ist die N170-Kom-
ponente untypisch für Objekte größer als für Gesichter (Patient GH) oder es ist kein Unterschied fest-
stellbar (Patient SO; nachgezeichnet nach Kress & Daum, 2003).
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8.5. Objektwahrnehmung 245
intrakortikale Potenziale gemessen werden von Gesichtern und Autos konfigural verarbei-
(N200-Komponente). Die N200 nach Präsenta- tet, wobei die Verarbeitung von Gesichtern
tion von Gesichtsbildern war für den rechts- eher rechtshemisphärisch erfolgt.
seitigen Gyrus fusiformis deutlich vergrößert, Die Lokalisation der N170-Komponente er-
während Bilder von Gesichtern und Autos im gibt konsistent Quellen im Gyrus fusiformis
linksseitigen gyrus fusiformis N200-Komponen- oder im LOC. Bildgebende Arbeiten unter Ver-
ten evozierten, die in etwa gleich groß waren. wendung der PET- und fMRT-Technik zeigen,
Die invertierten Präsentationen evozierten auf dass insbesondere der rechtsseitige Gyrus fu-
beiden Hemisphären schwache oder keine siformis in die Gesichtswahrnehmung ein-
N200-Komponenten. Offenbar werden Bilder gebunden ist. Die Aktivierungen im linksseiti-
Gyrus fusiformis
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2
1
Amplitude (μV)
N200
Gesichter
+ Autos
Gesichter (invertiert)
N200 50 μV Autos (invertiert)
0 400 800
Zeit in Millisekunden
Abbildung 8-31: N200-Reaktionen im (1) linksseitigen und (2) rechtsseitigen Gyrus fusiformis
nach Präsentation von Gesichtsbildern und Autobildern. Diese Bilder wurden in der normalen Orien-
tierung oder invertiert präsentiert. Man erkennt nur nach der Präsentation der Bilder in der normalen
Orientierung deutliche N200-Komponenten. Für die invertiert präsentierten Bilder sind kaum messbare
N200-Komponenten festzustellen. Im rechtsseitigen Gyrus fusiformis (2) ist die N200-Komponente bei
Bildern von Gesichtern deutlich größer als nach Präsentation von Autobildern (nachgezeichnet nach
Allison et al., 1994).
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246 8. Visuelle Wahrnehmung
gen Gyrus fusiformis sind hingegen deutlich typischerweise beteiligt sind, müssen wir den
schwächer. In großen Gruppenstudien, bei Einfluss der Expertise kontrollieren.
denen die Aktivitäten über viele Versuchsper- Das ist in einer Reihe von Untersuchungen
sonen gemittelt werden, sind auch auf der lin- durchgeführt worden. Autoexperten (Auto-
ken Hemisphäre Aktivierungen im Gyrus fusi- verkäufer) und Vogelexperten (Ornithologen)
formis zu erkennen. Grundsätzlich ist jedoch wurden Bilder von Autos, Vögeln und Gesich-
der rechtsseitige Gyrus fusiformis stärker in tern präsentiert, während mittels fMRT die
die Gesichtswahrnehmung eingebunden. Durchblutung im Gyrus fusiformis gemessen
Auch Untersuchungen mit gesunden Pro- wurde. Die Autoexperten zeigten bei der Prä-
banden gehen der Frage nach, ob die N170- sentation von Autobildern starke Durchblu-
Komponente, die intrakortikale N200-Kom- tungen im Gyrus fusiformis, während die Vo-
ponente und die Aktivierungen des Gyrus gelexperten bei der Präsentation von Vogelbil-
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8.5. Objektwahrnehmung 247
Sulcus intraparietalis
räumlich gerichtete Aufmerksamkeit
Kernsystem – visuelle Analysen
auditorischer Kortex
Sulcus temporalis superior prelexikalische Sprachwahrnehmung
Bewegungen im Gesicht
Gyrioccipitalis Augenblinzeln, Lippenbewegung
inferior Amygdala, Insel, limbisches
frühe Wahrnehmung System
lateraler Gyrus fusiformis Emotionen
der Mimik unveränderliche Aspekte
des Gesichts, Einzigartigkeit
anteriorer Temporalpol
okzipitales Gesichtsareal persönliche Identität, Name,
biografische Informationen
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Limbisches System
Abbildung 8-32: Unterschiedliche Hirngebiete, die an der visuellen Analyse von Gesichtern beteiligt sind
(nach Haxby et al., 2000).
okzipitale Gesichtsregion (occipital face area, Generierung von Mimik auftreten. Das kann
OFA) und den Sulcus temporalis superior z. B. das Hochziehen der Lippen zu einem Lä-
(STS). Zum erweiterten System werden der in- cheln, das Schließen der Augen, das Rümpfen
traparietale Sulcus (IPS), der auditorische Kor- der Nase, aber auch das Formen von Sprach-
tex, das limbische System und der anteriore lauten sein. Auch die Analyse der Augenbewe-
Temporallappen mit Temporalpol gezählt. gungen kann zu dieser Merkmalsgruppe ge-
Der inferiore Okzipitallappen ist mit den zählt werden. Diese Analysen finden im Sulcus
frühen Verarbeitungsschritten betraut und ana- temporalis superior statt. Im erweiterten Sys-
lysiert elementare Merkmale, die für die Ge- tem werden die im Kernsystem analysierten
sichtswahrnehmung von Bedeutung sind (z. B. Gesichtsinformationen mit den Emotionen
Kreise, Striche, Balken und die Orientierung (über das limbische System), mit räumlichen
von Balken). Im nächsten Schritt erfolgt (wahr- Analysen (IPS), mit den Sprachzentren (audito-
scheinlich parallel) die Analyse der invarianten rischer Kortex) und mit Personeninformatio-
und der sich ändernden Gesichtsmerkmale. nen (Temporalpol) in Verbindung gebracht.
Die invarianten Merkmale werden im Gyrus
fusiformis analysiert. Es handelt sich um die Objektwahrnehmung
Merkmale, die ein Gesicht grundsätzlich aus- Nicht nur Bilder von Gesichtern werden in
machen (z. B., dass senkrecht unter zwei Augen spezialisierten Hirngebieten verarbeitet, son-
eine Nase angeordnet ist). Sich ändernde Merk- dern auch Bilder von Landschafts- und Stadt-
male sind jene, die im Zusammenhang mit der szenen, von menschlichen Körpern, Tieren,
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248 8. Visuelle Wahrnehmung
von Häusern oder Werkzeugen. Ein Beispiel Landschafts- und Stadtszenen werden eher
wurde von der Arbeitsgruppe um James Haxby im Gyrus parahippocampalis verarbeitet,
publiziert (Chao et al., 1999). Sie zeigten, dass einem Hirngebiet, das auch als Parahippo-
der laterale Bereich des Gyrus fusiformis campal place area (PPA) bezeichnet wird
Bilder von Gesichtern und Tieren verarbeitet, (Abb. 8-29). Im PPA werden insbesondere die
während der mesiale Teil eher in die Analyse räumlichen Zusammenhänge einer Szene ana-
von Bildern von Häusern eingebunden ist. lysiert. Hierbei wird die Szene wie ein einheit-
Hervorzuheben ist, dass der laterale Gyrus liches Objekt behandelt, die Einzelinformatio-
Fusiformis Bilder von Tieren mit und ohne nen (z. B. die einzelnen Objekte, die in der
Gesichter verarbeitet, was darauf hinweist, Szene dargestellt sind) stehen bei der Analyse
dass dieser Hirnbereich nicht nur in die Ver- nicht im Vordergrund (Epstein, 2008). Diese
arbeitung von Gesichtsbildern eingebunden lokalen Einzelmerkmale werden im mesialen
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8.5. Objektwahrnehmung 249
1.5 PPA
veränderung (in %)
1
MRI-Signal-
0.5
-0.5
1.5 RSC
veränderung (in %)
1
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MRI-Signal-
0.5
-0.5
Abbildung 8-34: Aktivierung im PPA und RSC beim Betrachten verschiedener visueller Reize. Man er-
kennt, dass im PPA und RSC die Aktivierungen insbesondere beim Betrachten von Szenen (Landschafts-
und Stadtszenen) stark ausgeprägt sind. Andere Objekte wie Gesichter, Körper und Werkzeuge stimulie-
ren diese Hirngebiete nicht (nachgezeichnet nach Epstein, 2008).
lichen Körpern oder Körperteilen speziell ver- ren Kortex stärker auf Bilder von mensch-
arbeitet werden (Abb. 8-35). Werden inver- lichen Körpern reagieren als auf Bilder von
tierte Bilder von Körpern präsentiert, nimmt Gesichtern, Tieren und Werkzeugen (Pourtois
die Erkennensleistung ähnlich wie bei der et al., 2007). Die Neurone, die besonders auf
Präsentation von invertierten Gesichtsbildern Körperbilder ansprachen, ordneten die Auto-
ab. Offenbar werden Körperbilder auch kon- ren einem Hirngebiet zu, das in bildgebenden
figural analysiert. Untersuchungen als extrastriäres Körper-
Eine neurophysiologische Studie an einem areal (extrastriate body area, EBA) identifi-
Patienten, dem präoperativ Elektroden in den ziert wurde. Neben dem EBA konnte noch ein
Okzipitallappen eingeführt wurden, bestätigt weiteres Hirngebiet identifiziert werden, das
die Vermutung, dass Körperbilder spezifisch ebenfalls auf Körperbilder ansprach: das fu-
verarbeitet werden. Die Genfer Arbeitsgruppe siforme Körperareal (fusiform body area,
um Patrick Vuilleumier hat zeigen können, FBA). Das EBA ist im posterioren lateralen
dass Neuronengruppen im lateralen extrastriä- Okzipitalkortex lokalisiert, während das FBA
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250 8. Visuelle Wahrnehmung
1 FFA
4 2 OFA 4
3
2 2
1 1 3
3 FBA
4 EBA
mes Gesichtsareal (FFA), 2: okzipitales Gesichtsareal (OFA), 3: fusiformes Körperareal (FBA), 4: extra-
striäres Körperareal (EBA), 5: Hirngebiete, bei deren Läsion massive Beeinträchtigungen der Wahrneh-
mung von Körperbildern oder von Körperteilbildern festgestellt wurden (nach Moro et al., 2008).
im Gyrus fusiformis vorrangig auf der rechten kortex überprüft wurde, ob sie Körperbewe-
Hemisphäre zu finden ist. Das FBA überlappt gungen richtig erkennen und zuordnen können
teilweise mit dem FFA, kann allerdings an- (Moro et al., 2008). Bei diesen Patienten konn-
hand des Aktivierungsmusters der aktivierten ten erhebliche Defizite in der Analyse von
Voxel vom FFA unterschieden werden (Peelen Körperbewegungen identifiziert werden, das
et al., 2009). Erkennen von Körperformen war dagegen un-
Zur perzeptuellen Analyse von Körperbewe- gestört. Bei Läsionen in extrastriären Hirn-
gungen ist v. a. der ventrale Prämotorkortex gebieten mit Einschluss des EBA und FBA
notwendig. Dies zeigte eine Arbeit, in der bei konnten dagegen Körperformen nicht mehr
Patienten mit Läsionen im ventralen Prämotor- adäquat wahrgenommen werden (Abb. 8-36).
1
1 2 2
2
Abbildung 8-36: Hirngebiete, die für die Wahrnehmung von Körperformen und Körperhandlungen be-
sonders wichtig sind. Diese Befunde wurden anhand von Läsionsdaten gewonnen. Personen mit Läsio-
nen im ventralen Prämotorkortex hatten Schwierigkeiten, Körperbewegungen korrekt zu identifizieren.
Personen mit Läsionen in den extrastriären Hirngebieten (unter Einschluss des EBA und FBA) konnten
Körperformen nicht mehr korrekt wahrnehmen (nach Moro et al., 2008).
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8.5. Objektwahrnehmung 251
Wenn wir mit diesen Objekten hantieren wol- riorer IPS, AIP). In diesem Hirngebiet wird
len, müssen wir uns auch vorstellen können, z. B. die Handstellung und -öffnung bei Greif-
wie sie von einem Ort zum anderen bewegt bewegungen kontrolliert. Der in der Mitte des
werden können. Manchmal betrachten wir IPS liegende Teil wird auch als lateraler IPS
Objekte, die anders angeordnet sind, als wir es (LIP) bezeichnet. Dieser Teilbereich ist be-
gewohnt sind. Wenn wir z. B. mit einer Berg- sonders stark in die Kontrolle von Augen-
bahn einen Berg hinauffahren, sind in unse- bewegungen eingebunden, z. B. die Analyse
rem Blickwinkel die seitlich befindlichen Ob- der Blickrichtung des Gesichts eines Kom-
jekte um einen bestimmten Grad verdreht munikationspartners. Der hintere Teil des
angeordnet. Trotzdem erkennen wir sie, denn IPS, auch kaudaler IPS genannt (CIP), ist in die
wir können diese Objekte mental so drehen, visuelle Tiefenwahrnehmung eingebunden.
dass wir sie sehen, wie wir es gewohnt sind. Der IPS ist auch bei verschiedenen kognitiven
Auch wenn wir uns auf Landkarten oder in be- Tätigkeiten wesentlich beteiligt, z. B. bei der
stimmten Umgebungen orientieren müssen,
greifen wir immer auf eine bestimmte Wahr-
AIP LIP LPs
nehmungsleistung zurück, die als Raumwahr-
nehmung bezeichnet wird. Anhand der oben
aufgeführten Beispiele wird jedoch deutlich,
IPS
dass bei vielen Raumwahrnehmungsleistun-
gen auch kognitive Leistungen gefordert sind, CIP
die weit über einfache Wahrnehmungsleis-
tungen hinausgehen. Im Folgenden werden
LPi
deshalb nur die elementaren Raumwahrneh-
mungsleistungen besprochen. Die kognitiven
Aspekte der Raumwahrnehmung werden im
Zusammenhang mit den jeweiligen Kognitio-
nen behandelt.
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252 8. Visuelle Wahrnehmung
den Gyrus supramarginalis (der den hinteren Diese verschiedenen Referenzrahmen müssen
Teil der Sylvischen Fissur umgibt) und den bei der Raumwahrnehmung miteinander ver-
Gyrus angularis (der weiter ventral liegt und rechnet werden, damit ein konstantes Raum-
den Sulcus temporalis umklammert). Die dort wahrnehmungsergebnis erzielt wird. Einzel-
lokalisierten Neuronengruppen sind in vielfäl- zellableitungen im intraparietalen Sulcus (IPS)
tige Funktionen eingebunden, z. B. Sprach- bei Affen haben ergeben, dass viele Zellen im
funktionen (auf der linken Hemisphäre), Kör- IPS auf körper-, kopf- oder augenbezogene
perwissen (vorrangig rechts), mathematische räumliche Informationen reagieren. Es wird
Fertigkeiten und die Integration verschiede- vermutet, dass im IPS diese verschiedenen
ner sensorischer Modalitäten. Zum dorsalen Informationen integriert werden.
Strang werden auch die Hirngebiete im Über- Eine andere Art der räumlichen Orientie-
gangsbereich zum Temporallappen gezählt, rung und Codierung stellt das allozentrische
die u. a. in die visuelle Analyse sich bewegen- Koordinatensystem dar. Hierbei werden die
der Objekte eingebunden sind. Objekte des Raums in Bezug zueinander, also
ein Objekt als neben einem anderen Objekt an-
geordnet wahrgenommen. Die Position des
Räumliche Referenzrahmen
eigenen Körpers ist unerheblich.
Bei der Raumorientierung werden zwei Koor- Bei der allozentrischen Wahrnehmung sind
dinatensysteme unterschieden: das egozen- der LPs, Teile des ventralen Informations-
trische und das allozentrische Koordinaten- strangs (V1, V2, V3, V5, LOC, PIT, CIT und
system. Diese Koordinatensysteme werden AIT; Abb. 8-11) und das mesiotemporale Ge-
auch als Referenzrahmen aufgefasst, nach dächtnissystem mit dem Hippocampus und
denen bestimmte Objekte im Raum angeord- dem Gyrus parahippocampalis beteiligt. Das
net werden. Gedächtnissystem liefert wahrscheinlich In-
Im egozentrischen Koordinatensystem formationen über die bekannten Positionen
erfolgt die Raumwahrnehmung in Bezug zum und Formen der wahrgenommenen Objekte.
eigenen Körper. Der Körperbezug kann aller- In verschiedenen Experimenten wurden
dings unterschiedlich sein, je nachdem, ob die Versuchspersonen veranlasst, entweder allo-
räumlichen Bezüge zum Gesamtkörper, zum zentrische oder egozentrische Wahrnehmungs-
Kopf oder zu den Augen erfolgen. Typische strategien zu verwenden. Wurde eine allozen-
Beispiele für räumliche Bezüge zum eigenen trische Strategie angewendet, dann nutzten
Körper sind links, rechts, über, unter oder hin- die Versuchspersonen den ventralen Informa-
ter dem Körper. Diese räumlichen Bezüge tionsstrang sowie den Hippocampus und den
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8.5. Objektwahrnehmung 253
Gyrus parahippocampalis (Jordan et al., feld „geschoben“ wird. Wird dieser Test mit
2004). Sobald allerdings eine egozentrische Patienten durchgeführt, die Läsionen im
Strategie verwendet wurde, war der dorsale rechtsseitigen Parietallappen aufweisen, mar-
Strang von größerer Bedeutung; dann „grif- kieren die Probanden ihre subjektive Mitte
fen“ der IPS, andere Bereiche des Parietallap- rechts von der tatsächlichen Mitte. Da der
pens (z. B. der Lobulus parietalis superior) und rechtsseitige Parietallappen ausgefallen ist,
der Prämotorkortex in die Raumwahrneh- entfällt die „Verschiebung“ der Aufmerksam-
mung ein (Gramann et al., 2006). keit nach links.
Viele ältere Arbeiten, die Wahrnehmungs-
asymmetrien untersucht haben, kamen auch
Lokalisation von Punkten im Raum
zu dem Ergebnis, dass die rechte Hemisphäre
Zahlreiche Studien mit Patienten, die v. a. un- (und der rechtsseitige Parietallappen) intensiv
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254 8. Visuelle Wahrnehmung
penschüssel und neben dem Pfefferstreuer zu von Läsionen in V1. Läsionen im Farbkomplex
finden ist. Sie könnten Ihrem Tischpartner V4 führen zur Achromatopsie, also einer korti-
auch mitteilen, dass der Salzstreuer sich unge- kalen Blindheit, während bilaterale Läsionen
fähr einen halben Meter vor ihm befindet. Dies in V5 eine Akinematopsie, d. h. die Unfähig-
wäre ein Beispiel für eine metrisch-räumliche keit, bewegte Objekte wahrzunehmen, aus-
Relation. Hierbei wird die Distanz zwischen lösen. Wie oben ausgeführt, helfen diese Aus-
zwei Objekten (dem Tischpartner und dem fälle, die Bedeutung einzelner Hirngebiete
Salzstreuer) angegeben. besser zu verstehen.
Eine Überlegung ist, dass metrische und Diese bereits beschriebenen Störungen re-
kategoriale Informationen unabhängig von- präsentieren jedoch nur einen kleinen Teil der
einander sind und dass sie in unterschiedli- bekannten Wahrnehmungsstörungen. Kortikal
chen Hemisphären verarbeitet werden. Kate- bedingte Wahrnehmungsstörungen werden als
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goriale Informationen werden von der linken Agnosien bezeichnet. Je nach Schweregrad und
und metrische Informationen von der rechten Art der Agnosie werden verschiedene Varian-
Hemisphäre verarbeitet (Laeng & Peters, ten unterschieden. Bei der visuellen Agnosie
1995). Bei epileptischen Patienten wurde se- werden die apperzeptive und die assoziative
lektiv die rechte oder linke Hemisphäre mittels Form unterschieden. Bei der apperzeptiven
Sodium Amobarbital gehemmt und fest- Agnosie werden lokale Details und globale
gestellt, dass bei Hemmung der rechten Hemi- Umrisse der Objekte nicht erkannt und die cha-
sphäre die visuell-metrischen Relationen nicht rakteristischen Merkmale nicht extrahiert. Das
mehr effizient erkannt werden. Bei Hemmung führt dazu, dass reale Objekte besser erkannt
der linken Hemisphäre wurden die kategoria- werden als Zeichnungen und prototypische
len Relationen nicht mehr adäquat erkannt Darstellungen besser als Ansichten aus un-
(Slotnick et al., 2001). gewöhnlichen Perspektiven. Das Abzeichnen
Andere Arbeiten haben gezeigt, dass auch von unerkannten Bildern gelingt den Patienten
der Frontalkortex beteiligt ist, v. a. dann, wenn zwar recht gut, erfolgt aber Stück für Stück
die kategorialen und metrischen Urteile aus (peacemeal) und ohne Verständnis. Bekannte
dem Gedächtnis heraus erfolgen müssen. Objekte können sie allerdings gut aus dem Ge-
Wenn kategoriale Urteile beim Gedächtnis- dächtnis zeichnen. Die assoziative Agnosie ist
abruf durchzuführen waren, war v. a. der links- eine Störung der semantischen Zuordnung.
seitige Präfrontalkortex aktiviert. Beim Abruf Die Patienten können Objekte nicht mehr mit
von metrischen Informationen war dagegen ihrem semantischen Wissen in Verbindung
der rechtsseitige Präfrontalkortex aktiv (Slot- bringen. Sie können Objekte auch nicht mehr
nick & Moo, 2006). aus dem Gedächtnis zeichnen, während es ih-
nen gelingt, Objekte nachzuzeichnen. Beim
Nachzeichnen wirken sie etwas ungeschickt,
8.6. Störungen der visuellen da sie jedes Merkmal des nachzuzeichnenden
Wahrnehmung Objekts kopieren müssen und es nicht aus dem
Gedächtnis vervollständigen können. In Ab-
Verschiedene visuelle Wahrnehmungsstörun- bildung 8-38 ist der Ablauf der visuellen Objekt-
gen sind bereits beschrieben worden: Bei der erkennung vereinfacht dargestellt. In diesem
Hemianopsie und dem Skotom handelt es sich Modell sind auch die Phasen der visuellen Ob-
um Ausfälle in einem Gesichtsfeld (entweder jekterkennung dargestellt, die typischerweise
ein kompletter Ausfall oder nur der Ausfall ei- bei der apperzeptiven und bei der assoziativen
nes kleinen Teils des Gesichtsfeldes) aufgrund Agnosie gestört sind.
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8.6. Störungen der visuellen Wahrnehmung 255
Objekt
apperzeptive Agnosie
Merkmalsgruppierung
Gestaltgesetze
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Normalisierung
der Orientierung
assoziative Agnosie
Strukturelle Beschreibung
Semantisches System
Benennung
Abbildung 8-38: Einfaches Modell der visuellen Objekterkennung (nach Riddoch & Humphreys, 2001).
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256 8. Visuelle Wahrnehmung
Abbildung 8-39: Typische Läsionsorte, die zu apperzeptiven und assoziativen Agnosien führen. Bei ap-
perzeptiven Agnosien (A) sind v. a. striäre und angrenzende Hirngebiete lädiert. Bei der assoziativen
Agnosie (B) sind visuelle Assoziationsgebiete lädiert.
Neben den Agnosien sind weitere visuell- chen werden. Beide neuropsychologischen
räumliche Wahrnehmungsstörungen bekannt, Störungen sind typische Beispiele für Syn-
die hier nicht alle dargestellt werden können.27 drome, bei denen visuelle Wahrnehmungs-
An dieser Stelle sollen mit dem Bálint-Holmes- störungen vorliegen und ggf. dominieren, aber
Syndrom und dem visuellen Neglekt zwei pro- auch andere psychische Funktionsbereiche
minente Wahrnehmungsstörungen bespro- (z. B. Aufmerksamkeit und motorische Steue-
rung) beeinträchtigt sind.
27 Weiterführend: Kerkhoff, 2000; Niedeggen &
Jörgens, 2005.
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8.6. Störungen der visuellen Wahrnehmung 257
Patienten mit dem Bálint-Holmes-Syn- die notwendige Position ein, um eine Hand-
drom28 leiden unter vier Kardinalsymptomen: lung erfolgreich zu vollenden. Ein typisches
1. Simultanagnosie Beispiel sind die Probleme dieser Patienten,
2. Blickbewegungsstörung einen Brief in einen Briefkasten einzuwerfen.
3. Störung der räumlichen Orientierung Sie müssen die Position des Briefs eher durch
4. optische Ataxie. Versuch und Irrtum herausfinden.
Bálint-Holmes-Patienten leiden unter bila-
Die Simultanagnosie ist eine Wahrneh- teralen Läsionen in parietookzipitalen Hirn-
mungsbeeinträchtigung, bei der die Patienten gebieten, also unter einer Beeinträchtigung
Probleme haben, mehrere Objekte gleichzei- des dorsalen Informationsstrangs. Die Seh-
tig zu erkennen; sie können sich demzufolge rinde (primärer und sekundärer visueller Kor-
nur auf ein Objekt konzentrieren. Meistens tex) ist nicht betroffen. Allerdings sind immer
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konzentrieren sie sich auf die lokalen Aspekte Teile des Lobulus parietalis inferior (Gyrus
von komplexen Bildern und vernachlässigen supramarginalis und Gyrus angularis) invol-
die globalen Informationen. Dies lässt sich viert. Anhand dieses Syndroms ist gut zu er-
gut anhand von Navon-Figuren herausarbei- kennen, wie Wahrnehmungsfunktionen mit
ten (Abb. 8-28). Bei den anderen Symptomen anderen psychischen Funktionen (z. B. Auf-
sind zwar visuelle Wahrnehmungsaspekte merksamkeit und Motorik) interagieren.
enthalten, aber es treten andere Störungsbe- Beim visuellen Neglekt handelt es sich
reiche in den Vordergrund, z. B. Blickbewe- um eine Vernachlässigung einer Raum- bzw.
gungsstörungen. Die Patienten können Ob- Körperhälfte. Einige Patienten vernachlässi-
jekte nicht mehr präzise fixieren oder sich gen Objekthälften, was daran zu erkennen ist,
bewegenden Objekten nicht mehr korrekt mit dass sie beim Nachzeichnen nur eine Hälfte
ihrem Blick folgen. des Objekts wiedergeben. Sofern die Patienten
Die von diesen Patienten demonstrierten eine Raum- oder Körperhälfte vernachlässi-
Raumorientierungsstörungen gehen weit gen, ist die egozentrische Wahrnehmung ge-
über rein visuelle Wahrnehmungsstörungen stört, bei Vernachlässigung von Objekthälften
hinaus, da hier auch kognitive Anteile (z. B. das ist die allozentrische Wahrnehmung betroffen.
Wissen über räumliche Anordnungen und die Bei Neglektpatienten ohne Sehfeldverlust
Fähigkeit, mit Rauminformationen kognitiv ist das visuelle System einschließlich der op-
umzugehen) gestört sind. Die optische Ataxie tischen Bahnen und der Sehrinde nicht ge-
ist durch die Unfähigkeit gekennzeichnet, schädigt. Geschädigt ist hingegen der Parie-
Greifbewegungen anhand visueller Informa- tallappen. Die meisten Patienten leiden unter
tionen auszuführen. Die Patienten greifen ne- einer rechtsseitigen Parietallappenläsion mit
ben die Objekte oder die Hand nimmt nicht einem linksseitigen Neglekt. Das linksseitige
Gesichtsfeld wird von der rechten Hemi-
28 Das Bálint-Holmes-Syndrom wurde nach dem sphäre kontrolliert, sodass eine Schädigung
Erstbeschreiber Rezsö Bálint (1874–1929), einem des rechtsseitigen Parietallappens zu Wahr-
ungarischen Neurologen, und dem britischen Neu- nehmungsbeeinflussungen des linksseitigen
rologen Holmes benannt. Bálint beschrieb 1909 ei- Gesichtsfelds führt. Eine Erklärung für den
nen Patienten, den er bis zu dessen Tod intensiv
Neglekt ist, dass die auf der rechten Hemi-
untersuchte und bei dem er Symptome identifizie-
sphäre lokalisierten Netzwerke stärker in die
ren konnte. Der britische Neurologe Holmes be-
schrieb 10 Jahre später mehrere neurologische Pa- Kontrolle der Aufmerksamkeit eingebunden
tienten, die nach Schussverletzungen ähnliche sind. Allerdings ist neben der Aufmerksamkeit
Symptome aufwiesen. auch die Objekt- und/oder Raumrepräsenta-
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258 8. Visuelle Wahrnehmung
tion gestört. Dies ist eindrücklich in einem Ex- al., 2002). Mit der PET-Technik sind solch
periment von Bisiach und Luzzatti (1978) dar- schnelle Prozesse nicht auflösbar. Insofern
gestellt worden: Neglektpatienten wurden muss davon ausgegangen werden, dass die Ak-
gebeten, den Domplatz von Mailand aus ihrer tivierung im primären visuellen Kortex, die
Erinnerung aus einer bestimmten Perspektive Kosslyn mit PET festgestellt hat, das Resultat
zu beschreiben. Die Beschreibungen des Ge- einer Rückprojektion aus den sekundären
sichtsfelds kontralateral zur Hirnläsion waren Hirngebieten ist.
ungenauer als die des Gesichtsfelds ipsilateral Neuere Arbeiten haben bestätigt, dass beim
zur Hirnläsion. Offenbar ist auch die mentale Vorstellen und beim Wahrnehmen physika-
Repräsentation der Außenwelt bei diesen Pa- lisch präsenter Objekte die gleichen Hirn-
tienten gestört. gebiete aktiv sind. Es waren allerdings mar-
kante Unterschiede feststellbar. Zunächst
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8.8. Zusammenfassung 259
fischen Zapfen auf der Retina durch Lichtwel- wird als Sehbahn bezeichnet. Wichtige Be-
len im Bereich von 560 nm stimuliert werden. standteile der Sehbahn sind der Nervus
Nun wird die rote Tafel ausgeschaltet und Sie opticus, das Corpus geniculatum laterale
schauen auf eine weiße Tafel. Was sehen Sie (CGL), die Radiatio optica, das Chiasma
dann? Sie werden unmittelbar nach dem Um- opticum und die primäre Sehrinde (V1) als
schalten auf die weiße Tafel eine grüne Tafel erste kortikale Umschaltstation. Neben der
wahrnehmen, denn grün ist die Gegenfarbe Sehbahn ist der tectopulvinäre Weg von den
von rot. Die Grünganglienzellen, die während Colliculi superior zum Pulvinar und von
des Betrachtens der roten Tafel gehemmt wur- dort zur sekundären (nicht primären!) Seh-
den, feuern nun entsprechend heftiger, des- rinde wichtig. Es existieren weitere Wege
halb nehmen sie eine grüne Tafel wahr. In die- vom Auge zum visuellen Kortex.
ser Situation ist auch das Farbareal V4 aktiv. • Ein rezeptives Feld ist der Bereich des Ge-
Die Grünwahrnehmung verblasst mit der Zeit sichtsfelds, der die Aktivität eines nach-
und damit auch die Aktivität im Areal V4. Das geschalteten Neurons beeinflusst. Rezep-
bedeutet, dass die Wahrnehmung der Farbe tive Felder können für fast alle Neurone der
Grün davon abhängt, dass das Areal V4 aktiv Sehbahn nachgewiesen werden. Je höher in
ist. Ist es nicht aktiv, wird keine Farbe wahr- der Verarbeitungsebene das jeweilige Neu-
genommen. Welche Farbe wahrgenommen ron angeordnet ist, desto komplexer und
wird, hängt von der Erregungskonstellation in größer sind die rezeptiven Felder. Unter-
den Ganglienzellen und dem Stimulations- schieden werden Einfach-, Komplex- und
muster auf der Retina ab. Für dieses Kapitel ist endinhibierte oder Hyperkomplexzellen.
aber wichtig nachzuvollziehen, dass eine Farb- • Der visuelle Kortex (auch Sehrinde ge-
wahrnehmung entstehen kann, obwohl die nannt) besteht aus verschiedenen Subarea-
Retinazellen nicht entsprechend stimuliert len. Eine klassische Einteilung unterschei-
wurden, das Areal V4 jedoch aktiv war. Würde det die Sehrinde in die Gebiete V1, V2, V3,
man in V4 eine Elektrode einführen und das V4 und V5. Der primäre visuelle Kortex
Areal stimulieren, dann würden Farbeindrücke (V1) wird auch als striärer Kortex bezeich-
allein durch die Aktivität des Areals V4 hervor- net. Alle anderen Sehrindenanteile (V2–
gerufen, obwohl sie in der Realität so gar nicht V5) werden als extrastriärer Kortex be-
vorliegen. Für den hier besprochenen Farbein- zeichnet. Nach Brodmann wird der primäre
druck sind bestimmte Verschaltungsmecha- visuelle Kortex als BA 17 und die extra-
nismen in den Ganglienzellen verantwortlich, striären Areale werden als BA 18 und 19
die das nachgeschaltete Areal V4 beeinflussen. kategorisiert.
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260 8. Visuelle Wahrnehmung
• Vom primären visuellen Kortex werden die folgt. Neuere Untersuchungen konnten je-
übrigen kortikalen Bereiche über zwei In- doch zeigen, dass Neurone in V2 Form und
formationswege, den ventralen und dorsa- Bewegung auch bei Reizen wahrnehmen
len Strang, versorgt. Der ventrale Strang ist können, die ausschließlich durch Farbe de-
vorwiegend in die Objektwahrnehmung finiert sind. Die nachgeschalteten Neurone
(Was-Strang) eingebunden, während der des Areals V4 reagieren in ihrer Mehrzahl
dorsale Strang in die räumliche Orientie- selektiv auf Farbreize. Sie sind jedoch auch
rung und Handlungskontrolle (Wo-Strang) in die Form- und Bewegungswahrnehmung
involviert ist. eingebunden. Läsionen in V4 führen zu ei-
• Der visuelle Kortex ist säulenförmig organi- ner kortikalen Farbwahrnehmungsstörung
siert. Unterschieden werden okuläre Domi- (Achromatopsie).
nanzsäulen und Hyperkolumnen. • Werden bewegte visuelle Reize präsentiert,
•
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Bis zum visuellen Kortex bleibt die Topolo- nimmt die Durchblutung und die neuro-
gie der Retina erhalten, was als Retinoto- nale Aktivität im Areal MT (auch V5 ge-
pie bezeichnet wird. Das bedeutet, dass die nannt) zu. Bilaterale Läsionen in V5 füh-
benachbarten Gebiete der Retina (bzw. ihre ren zu einer Bewegungswahrnehmungs-
Erregungsmuster) auf benachbarten Neu- störung (Akinetopsie).
ronen des CGL und des visuellen Kortex • Wichtige theoretische Konzepte der Ob-
abgebildet werden. jektwahrnehmung sind von der Gestalt-
• Blindsicht ist ein Phänomen, das gele- psychologie entwickelt worden. Der briti-
gentlich bei Patienten beobachtet wird, die sche Psychologe David Marr fasst die
aufgrund von Läsionen in den Sehzentren Wahrnehmung als einen vier Stufen um-
(V1 und V2) vollständig oder in bestimm- fassenden Prozess auf: (1) Abbildung der
ten Gesichtsfeldbereichen blind sind. Außenwelt auf der Retina; (2) Entwicklung
Diese Personen reagieren zwar auf visuelle des ersten Entwurfs (sketch, Skizze), indem
Reize, die in den „blinden“ Gesichtsfeld- eine Art „Strichzeichnung“ erstellt wird; (3)
bereichen dargeboten werden, sie können 2½-D-Entwurf, in dem die retinalen Infor-
sie allerdings nicht bewusst und qualita- mationen zusammengefasst werden; (4)
tiv erkennen. Berechnung des 3-D-Modells.
• Es werden binokulare und monokulare Me- • Im Temporallappen können Hirngebiete
chanismen der Tiefenwahrnehmung unter- unterschieden werden, die in die Verarbei-
schieden. Die binokularen Tiefeninfor- tung spezifischer Objektkategorien ein-
mationen werden in V1, V2, V3, V3A, V5 gebunden sind. In bildgebenden Unter-
und V7 verarbeitet. Auch Hirngebiete im suchungen beim Menschen hat sich ins-
mesialen Temporallappen, und hier insbe- besondere der laterale Okzipitalkortex
sondere der perirhinale Kortex, der Hippo- (LOC) als wichtiges Hirngebiet für die Ob-
campus und Teile des parahippocampalen jektwahrnehmung erwiesen. In den daran
Gyru sind an der Tiefenwahrnehmung be- anschließenden Gebieten des inferioren
teiligt. Monokulare Tiefeninformationen Temporallappens (IT) werden grob drei
werden durch die Objektwahrnehmungs- Teilgebiete unterschieden: posterior-infe-
zentren im ventralen Strang bearbeitet. riorer Temporallappen (PIT); central-infe-
• Traditionelle Theorien gehen davon aus, riorer Temporallappen (CIT); anterior-infe-
dass die Verarbeitung von Farbe, Form und riorer Temporallappen (AIT). In diesen drei
Bewegung in den Arealen V1 und V2 paral- Subarealen nimmt nach anterior die Kom-
lel und in unterschiedlichen Neuronen er- plexität der Objektwahrnehmung zu.
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8.8. Zusammenfassung 261
• Vier wichtige Fragen müssen im Zusam- sondern auch auf Bilder, für die Experten-
menhang mit der Objektwahrnehmung be- wissen angeeignet wurde.
antwortet werden: (1) Einzelneuron- vs. • Im Zusammenhang mit der Gesichtswahr-
Populationscodierung? (2) Wie wird das nehmung wird ein Kernsystem (core sys-
Konstanzproblem gelöst? (3) Erfolgt die tem) von einem erweiterten System (exten-
Objektwahrnehmung merkmalsbezogen ded system) unterschieden. Das Kernsystem
oder holistisch? (4) Existieren kategoriespe- umfasst den inferioren Okzipitalkortex,
zifische Verarbeitungszentren im ventralen den Gyrus fusiformis, die okzipitale Ge-
Informationsstrom? sichtsregion und den Sulcus temporalis su-
• Derzeit wird diskutiert, ob die Objektwahr- perior (STS). Zum erweiterten System wer-
nehmung kategoriespezifisch organisiert den der intraparietale Sulcus (IPS), der
ist. Damit ist gemeint, dass bestimmte Ob- auditorische Kortex, das limbische System
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262 8. Visuelle Wahrnehmung
wahrgenommenen Objekte. Wird das ego- Okzipitalkortex stärker aktiv als die überge-
zentrische Koordinatensystem genutzt, ist ordneten Gebiete im Temporallappen (pos-
der dorsale Strang mit dem IPS, dem supe- terior-anteriorer Gradient).
rioren Parietallappen und dem Prämotor-
kortex in die Raumwahrnehmung ein-
gebunden. 8.9. Fragen und Aufgaben
• Kategorial-räumliche Relationen ergeben
sich, wenn Objekte in Relation zu anderen • Beschreiben Sie den Aufbau der Retina.
Objekten wahrgenommen und angeordnet • Beschreiben Sie die Sehbahn.
werden. Diese Relationen werden in links- • Was sind rezeptive Felder?
seitigen Parietallappenbereichen verarbei- • Beschreiben Sie den Aufbau des visuellen
tet. Metrisch-räumliche Relationen sind Kortex.
• Welche visuellen Areale kennen Sie?
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8.10. Weiterführende Literatur 263
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265
9. Auditorische Wahrnehmung
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9.2. Akustische Signale 267
wie Verkehrs- oder Baulärm oder Gemurmel möglich. Die Druckschwankungen in der Luft
der Menschenmassen, die sich auf den Bür- sind Verdichtungen und Verdünnungen inner-
gersteigen durch die Straßen zwängen, nicht halb einer bestimmten Zeiteinheit, die auf das
entziehen. Daneben erscheinen die natürli- Ohr treffen. Sie werden auch als Schall be-
chen akustischen Reize wie Vogelgesang, das zeichnet. Luftdruckschwankungen können
Wehen des Windes in den Bäumen und das durch schwingende Körper (Lautsprecher-
Plätschern des Regens eher als Nebengeräu- membran, Gitarren- oder Geigenboden) und
sche, die wir kaum noch wahrnehmen. Je Brechungen von Luftströmen an Kanten er-
nach Aufmerksamkeitslage können wir je- zeugt werden. Diese Druckschwankungen
doch die eine oder andere Schallquelle wahr- breiten sich wellenförmig aus. Es entstehen
nehmen oder unterdrücken. Wir können die Zonen, in denen die Moleküle dichter gepackt,
Schallquellen orten, ihnen Bedeutung bei- und solche, in denen sie weniger dicht an-
messen und auf sie motorisch oder intellek- geordnet sind. Diese unterschiedlichen Dich-
tuell reagieren. ten werden an die benachbarten Orte weiter-
Etwas Besonderes ist die Sprachwahrneh- gegeben. Die Ausbreitung der Schallwellen ist
mung. Wir können Gesprächen folgen, hören von der Dichte und Temperatur des Mediums
die Nachrichten im Radio und sind in der Lage, abhängig, in dem die Ausbreitung erfolgt. In
einer Vorlesung zu folgen, und können daraus der Luft beträgt die Ausbreitungsgeschwindig-
sogar einen Lerngewinn erzielen. Dies alles er- keit bei 0 °C 331 m/s. Bei 20 °C nimmt sie
fordert einen psychischen Prozess, der als au- leicht zu und liegt bei 343 m/s. Im Wasser be-
ditorische Wahrnehmung bezeichnet wird. trägt sie 1400 m/s und in Stahl 6100 m/s.
Hierbei wird ein akustischer Reiz, der letzt- Schallwellen sind physikalisch durch Fre-
lich eine physikalisch definierbare Schall- quenz, Amplitude und Komplexität der sich
druckschwankung ist, vom Hörsystem in elek- überlagernden Schallwellen definiert (physi-
trische Erregungen umgewandelt. Damit wird kalische Dimension; Abb. 9-1). Diese drei
der akustische zu einem vom auditorischen Aspekte sind mit bestimmten psychischen Er-
System verarbeiteten Reiz. Die damit verbun- lebnissen bzw. Wahrnehmungen gekoppelt
denen elektrischen Erregungen werden im (psychische bzw. perzeptuelle Dimension).
Hörsystem an bestimmte Stellen geleitet, wo Die unterschiedlichen Frequenzen des Schalls
spezifische Analysen durchgeführt werden, (Schwingungen pro Zeiteinheit) werden als
die letztlich dazu beitragen, dass eine auditori- Tonhöhen erlebt: schnelle Frequenzen als
sche Wahrnehmung erzeugt wird. In diesem hohe Töne und langsame Frequenzen als tiefe
Kapitel werden die neurophysiologischen und Töne. Schallwellen mit hohen Amplituden
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268 9. Auditorische Wahrnehmung
werden als laut und Schallwellen mit niedrigen Wenn alltagssprachlich von Geräusch ge-
Amplituden als leise wahrgenommen. sprochen wird, sind Schallereignisse gemeint,
Wenn ein Schallreiz nur durch eine einzige die als regelloses Gemisch von Teilschwingun-
Frequenz definiert ist, wird er als (reiner) Ton gen auftreten.
bezeichnet. Die meisten Schallreize, die wir Die Töne der Tonleiter der westlichen Mu-
hören, sind durch Frequenzmischungen de- sik sind durch bestimmte Frequenzverhält-
finiert. Sie bestehen aus Grund- und Ober- nisse bestimmt: die kleine Sekunde durch ein
tönen und werden als Klänge bezeichnet. Frequenzverhältnis von 15 : 16, große Se-
Klänge haben meistens eine oder mehrere do- kunde 8 : 9, kleine Terz 5 : 6, große Terz 4 : 5,
minierende Frequenzen, die für die Wahr- Quarte 3 : 4, Quinte 2 : 3 und Oktave 1 : 2.
nehmung der Tonhöhe wesentlich sind. Diese Diese sogenannte reine Stimmung wird je-
Frequenzmischungen können zu vielfältigen doch unbrauchbar, wenn ein Tonleitersystem
Klängen führen, abhängig davon, welche Fre- aufgebaut werden soll. Deshalb wurde die
quenzen vermischt werden und welche Be- temperierte Stimmung eingeführt, bei der
deutung einzelne Frequenzbereiche haben.
Auch dynamische Aspekte der einzelnen Fre-
quenzbereiche können den Charakter der
Frequenzmischung beeinflussen, z. B., wann
sich ein Frequenzbereich im Vergleich zu den
anderen entfaltet.
Die Art der Mischung macht die Klang-
farbe aus, die auch als Timbre bezeichnet wird.
Typische Beispiele sind unterschiedliche Mu-
sikinstrumente, die charakteristische Klang-
farben aufweisen, auch wenn mit ihnen die Wellenform eines
gleichen Noten gespielt werden. Mathematisch Klangs einer
Klarinette
sind Frequenzgemische mit unterschiedlichen
addierte Sinuswellen
Klangfarben leicht herstellbar. In Abbildung 9-2 erzeugen den Klang
einer Klarinette
ist dies schematisch am Beispiel eines Klarinet-
tenklangs dargestellt. Durch Summation ver- Abbildung 9-2: Beispiel für die Summation unter-
schiedener Sinuswellen entsteht ein Klang, der schiedlicher Sinuswellen mit unterschiedlichen
typischerweise durch eine Klarinette erzeugt Frequenzen zu einem Frequenzgemisch, das in
wird. Ähnlich ließen sich durch Nutzung ande- diesem Fall den Klang einer Klarinette darstellt.
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9.3. Lautstärke und Isophone 269
sich jeder Halbton von dem vorangehenden p(0) = 2 × 10–11 dyn/cm2 = 0.0002 μbar
Halbton um den Faktor 1.06 unterscheidet
oder anders formuliert:
2 12 2 p(0) = 2 × 10–5 N/m2 = 20 μPascal.
1
1 .
Anhand dieses Bezugspunktes wird dann als
Maß für eine bestimmte Reizstärke p(x) fol-
Die Unterschiedsschwelle für Tonhöhen be-
gende Formel angewandt:
trägt bei 1000 Hz etwa 3 Hz, was einer Weber-
Konstante von k = 0.003 entspricht. Allerdings L(p(x)) = 20 × log p(x)/p(0) db.
kann die Unterschiedsschwelle durch Üben
Es ergibt sich ein Wertebereich zwischen 0
herabgesetzt werden. Eine besondere Form
und etwa 140 zwischen Hör- und Schmerz-
des Tonhörens ist das absolute Gehör. Per-
schwelle. Statt über den Schalldruck p(x) kann
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270 9. Auditorische Wahrnehmung
dB
140 phon
130
130
120
110 100
100
100
90
80 80
80
Lautstärkepegel
Schalldruckpegel
70
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60
60 60
50
40
40
40
20
30
20
20 4
Hörschwelle
10
4
0
phon
Abbildung 9-3: Kurven gleicher Lautheit (Isophone). Links ist der Schalldruck in Dezibel und rechts die
subjektive Lautheit in Phon angegeben.
stellt. Die untere gestrichelte Linie gibt die Die Ohrmuschel wirkt als Schalltrichter, durch
absolute Schwelle bei verschiedenen Fre- den der Schall gebündelt in das Ohr geleitet
quenzen an. Ein 1000-Hz-Ton mit 60 dB wird wird. Der Gehörgang ist durch das Trommel-
als genauso laut empfunden wie ein 60-Hz- fell, eine etwa 1/10 mm runde Bindegewebs-
Ton mit 40 dB. membran, verschlossen. Hinter dem Trom-
melfell beginnt das Mittelohr, das über die
Eustachische Röhre mit dem Rachenraum ver-
bunden ist. Von dort erfolgt ein Druckaus-
9.4. Auditorisches System
gleich gegenüber dem Außenraum bei jeder
Schluckbewegung. Das Mittelohr ist ein luft-
9.4.1. Ohr
gefüllter Hohlraum, der auch als Paukenhöhle
bezeichnet wird. In der Paukenhöhle befinden
Aufbau des Ohrs
sich die drei Gehörknöchelchen Hammer, Am-
Das menschliche Ohr wird in ein äußeres, boss und Steigbügel. Dieses System wirkt als
mittleres und inneres Ohr unterschieden Verstärker der Druckenergie, die durch die
(Abb. 9-4). Das äußere Ohr besteht aus der Schallwellen auf das Trommelfell übertragen
Ohrmuschel und dem äußeren Gehörgang. wird. Der Druck, der auf die relativ große Flä-
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9.4. Auditorisches System 271
Steigbügel (Stapes)
Ossicula
Amboss (Incus) (Knöchelchen des
Hammer (Malleus) Mittelohres)
Knochen ovales
Fenster
Hörnerv
Cochlea
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Innenohr
che des Trommelfells von etwa 55 mm2 trifft, stärkung der Druckenergie und versetzt die
wird über das Hammer-Amboss-Steigbügel- flüssigkeitsgefüllten Räume des Innenohrs in
System auf eine Fläche von nur 3 mm2 über- Schwingung (Abb. 9-5).
tragen und damit zusammengepresst. Damit Zum Innenohr zählt neben dem eigentli-
wird die Druckenergie am Trommelfell zu ei- chen Hörorgan (Cochlea) das Gleichgewichts-
nem hammerartigen Schlag am Steigbügel. organ. Das Hörorgan liegt in einem schnecken-
Insgesamt führt dies zu einer 20-fachen Ver- förmigen, zweieinhalbmal gewundenen Gang.
Es ist ca. 10 mm breit und 5 mm hoch; aus-
einanderstreckt ist es ca. 35 mm lang. In die-
komprimiert sem Organ liegen mehrere parallel angeord-
nete Hautschläuche: die Scala vestibuli, die
Scala media und die Scala tympani. Die Scale
vestibuli und die Scala tympani stehen am äu-
Klangwellen
ßeren Ende (dem Helicotrema) miteinander in
Verbindung. Sie sind im Gegensatz zur Scala
media mit Perilymphe29 gefüllt. Die Scala me-
verdünnt (negativer Druck) Trommelfell
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272 9. Auditorische Wahrnehmung
Steigbügel (Stapes)
Amboss (Incus)
ovales
Hammer (Malleus)
Fenster
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Schallwellen
Basilarmembran
Trommelfell rundes
Fenster
Abbildung 9-6: Darstellung der Cochlea, wobei die Cochlea (obere Reihe) auseinandergezogen wurde,
um die Länge zu demonstrieren. In der Cochlea befindet sich die Basilarmembran. Das ovale und das
runde Fenster sind ebenfalls zu erkennen.
dia ist mit Endolymphe30 gefüllt. Zwischen nen sich lediglich 3500 auf der Basilarmem-
der Scala media und der Scala tympani befin- bran befinden, werden einzeln von afferenten
det sich die Basilarmembran, die das eigentli- Fasern innerviert. Circa 90 % aller Fasern, die
che Sinnesorgan, das Corti-Organ, trägt. Das zum Nucleus cochlearis im Hirnstamm ziehen,
Corti-Organ enthält die Rezeptoren, die auch sind mit den inneren Haarzellen verbunden.
als Haarzellen bezeichnet werden, weil sie Die restlichen 10 % der Fasern werden von
haarförmige Fortsätze an ihrer Spitze tragen, den 12 000 äußeren Haarzellen versorgt. Drei
die sogenannten Stereozilien. Diese Zilien sind Reihen äußerer Haarzellen steht eine Reihe
untereinander durch dünne Fäden verbunden, innerer Haarzellen gegenüber.
die als Tip-Links bezeichnet werden. Die Haarzellen ragen in die Scala media
Unterschieden werden innere und äußere und dort in die Endolymphe hinein. Seitlich
Haarzellen. Die inneren Haarzellen, von de- ragt ferner die Tektorialmembran in die Scala
media. Die Zilien der äußeren Haarzellen sind
mit der Tektorialmembran verwachsen, wäh-
30 Endolymphe ist eine Flüssigkeit, die Kalium-
Ionen und wenige Natrium-Ionen enthält. Sie ent- rend die Zilien der inneren Haarzellen in die
spricht im Wesentlichen der Zusammensetzung der Endolymphe hineinragen und die Tektorial-
Flüssigkeit im Inneren der Körperzellen. membran nicht berühren.
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9.4. Auditorisches System 273
A) C)
Zilien einer
Tektorialmembran Haarzelle
(Vibrationen bewirken ein Biegen
der Zilien von Haarzellen) innere
Haarzelle
äußere
Haarzellen
B)
Scala
media
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Scala
vestibuli
Basilarmembran Axone des Hörnervs
Corti-Organ
Hörnerv
Scala
tympani Ganglion spirale
Knochen
Abbildung 9-7: (A) Hörorgan (Cochlea) und Vestibularapparat. (B) Querschnitt durch die Cochlea. Zu
erkennen sind die drei Schläuche: Scala vestibuli, Scala media und Scala tympani. (C) Schnitt durch die
Basilarmembran mit den Haarzellen und der darüber angeordneten Tektorialmembran.
Neurophysiologische Codierung
Abhängig von der Schallfrequenz entsteht
des Schalls im Innenohr
eine charakteristische Wanderwelle entlang
Der Steigbügel des Innenohrs befindet sich am der Basilarmembran (Abb. 9-8). Man kann sie
ovalen Fenster der Scala vestibuli. Die durch sich wie eine Welle vorstellen, wie sie ent-
die Schallwellen verursachte Bewegung des steht, wenn am Ende eines Seils eine Schwenk-
Steigbügels wird auf das ovale Fenster und da- bewegung erfolgt. Aufgrund der mecha-
mit auf die Scala vestibuli übertragen. Da die nischen Eigenschaften der Basilarmembran
Scala vestibuli über das Helicotrema mit der bilden sich für jede Schallfrequenz charakte-
Scala tympani verbunden ist, werden die Be- ristische Schwingungsmaxima und -minima
wegungen auch auf diese übertragen. Der entlang der Basilarmembran aus. Bei Beschal-
Druckausgleich erfolgt über das runde Fens- lung mit hohen Frequenzen liegen die Schwin-
ter. Die vom ovalen Fenster ausgelösten gungsmaxima in der Steigbügelregion und
Druckwellen bringen auch die Scala media bei Beschallung mit tiefen Frequenzen in der
und v. a. die Basilarmembran in Schwingung. Nähe des Helicotremas (Abb. 9-9). Das be-
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274 9. Auditorische Wahrnehmung
Wanderwelle liegt ca. 22 mm entfernt vom Steig- eine minimale Auslenkung oder Verbiegung
bügel. der Zilien. Werden die Stereozilien in Rich-
tung der Erregung gebogen, werden die Tip-
Links gespannt (Abb. 9-10). Als Folge davon
Basis Apex strömen K+ und Ca2+ in den Rezeptor und be-
wirken eine Depolarisation. Eine Auslenkung
25Hz in die andere Richtung bewirkt eine Erhöhung
des Membranpotenzials der Haarzelle und da-
mit eine Hyperpolarisation. Die elektrischen
50 Hz Erregungen können am Nucleus cochlearis
gemessen werden, der die Erregungen der
Haarzellen sammelt und zentral weiterleitet.
100 Hz Bei Verbiegung der Haarzellen in die Erre-
gungsrichtung nimmt die Aktionspotenzial-
frequenz im Nucleus cochlearis zu und bei
relative Amplitude
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9.4. Auditorisches System 275
A) Tip-Link
Zilien
Druck Druck
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B)
geringe Mengen von große Mengen von
K+ und Ca2+ strömen K+ und Ca2+ strömen
in den Ionenkanal in den Ionenkanal
Tip-Link
C)
Öffnungswahrschein- Öffnungswahrschein- Öffnungswahrschein-
lichkeit = 0 Prozent lichkeit = 10 Prozent lichkeit = 100 Prozent
Abbildung 9-10: (A) Stereozilien an einer Haarzelle. Die einzelnen Stereozilien sind über Fäden (so-
genannte Tip-Links) miteinander verbunden. Führt die Schallwelle zu einer Auslenkung in Richtung der
größeren Stereozilien (Erregungsrichtung) depolarisiert die Haarzelle und erzeugt eine Zunahme der
Aktionspotenzialfrequenz über das Ruheniveau hinaus. (B) Vergrößerte Darstellung von zwei Stereo-
zilien, die durch Tip-Links verbunden sind. Verbiegung der beiden Stereozilien in die Erregungsrichtung
führt zu einer Öffnung der Ionenkanäle und damit zu einer Erregung. Die Ionenkanäle können auch voll-
ständig geschlossen werden, wenn die Stereozilien in die andere Richtung verbogen werden. (C) Dar-
stellung der Öffnungswahrscheinlichkeit der Ionenkanäle in Abhängigkeit von der Verbiegungsrichtung
der Stereozilien.
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276 9. Auditorische Wahrnehmung
Empfindlichkeit kann mit den sogenannten Begrenzung ist die Refraktärzeit der Haarzelle.
Tuningkurven dargestellt werden. Zur Mes- Die Codierung höherer Frequenzen erfolgt
sung der Tuningkurven werden Elektroden nach dem Salvenprinzip. Benachbarte Haar-
in die Haarzellen (von Testtieren) eingeführt zellen, die prinzipiell auf den gleichen Ton
und das Tier mit Sinustönen unterschiedlicher oder Klang reagieren, arbeiten zusammen,
Frequenz beschallt. Jede Haarzelle und jeder indem sie mit der gleichen Phasenlage ant-
Hörnerv reagiert spezifisch auf eine bestimmte worten. Das hat zur Folge, dass mit jeder
Frequenz der Schallwelle (Abb. 9-11). Haarzelle, die sich an der Codierung beteiligt,
Enthält ein akustisches Signal mehrere Fre- die hörbare Frequenz um 800 Hz erhöht wird.
quenzanteile, werden entsprechend viele Hör- In Abbildung 9-12 sind fünf Nervenfasern dar-
nervenfasern an den jeweiligen Orten der Ba- gestellt, die auf den Schallreiz mit einer hohen
silarmembran und in ihrer Nachbarschaft Frequenz zwar in Phase, aber zu unterschied-
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erregt. Dadurch wird der Schall in seine Fre- lichen Zeitpunkten reagieren. Die erste Ner-
quenzkomponenten zerlegt, wobei sich die venfaser reagiert auf den Schallreiz und „pau-
Intensität der einzelnen Frequenzkomponen- siert“ dann eine bestimmte Zeit, bis sie sich
ten in der Entladungsrate der Hörnervenfa- wieder erholt hat (Refraktärzeit). Die zweite
sern widerspiegelt. Nervenfaser reagiert in der Erholungsphase
Jede Haarzelle kann nur eine bestimmte der ersten und „pausiert“ danach. Die ande-
Frequenz von Aktionspotenzialen erreichen, ren Nervenfasern „verhalten“ sich ähnlich,
die in etwa bei 800 Entladungen pro Sekunde sodass letztlich die Gesamtaktivität die hohe
liegt (also etwa 800 Hz). Der Grund für diese Frequenz abbildet.
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9.4. Auditorisches System 277
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
Schallsignal
Nervenfaser 1
Nervenfaser 2
Nervenfaser 3
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Nervenfaser 4
Nervenfaser 5
Gesamtantwort
Abbildung 9-12: Schematische Darstellung der Zusammenarbeit von fünf Nervenfasern nach dem
Salvenprinzip. Die Gesamtantwort repräsentiert das Schallsignal. Die einzelnen Nervenfasern reagieren
zwar in Phase, allerdings zu unterschiedlichen Zeitpunkten.
Olivenkomplex der gleichen und der gegen- Hörbahn besteht aus mindestens 5–6 Neuro-
überliegenden Seite. Bereits auf dieser Um- nen. Durch die bilaterale Verschaltung im Oli-
schaltebene können die Informationen beider venkomplex und in den Colliculi inferior
Ohren zusammengeführt werden. Vom Oli- (Commissura colliculi inferiores) kann die An-
venkomplex gelangen die Informationen auf zahl der Neurone auch größer werden. Wichtig
beiden Seiten zu den lateralen Schleifenker- ist, dass schon früh Informationen eines Ohrs
nen. Diese aufsteigenden Bahnen werden auf beide Seiten verteilt werden. Die kontrala-
Lemnisci lateralis genannt (Singular: Lemnis- teralen Verschaltungen sind jedoch häufiger
cus lateralis). und effizienter, was u. a. anhand monauraler
Von dort führt die Hörbahn zu den Colliculi Stimulationen und den damit zusammenhän-
inferior im Mittelhirn, wo eine weitere Um- genden Aktivierungen im Hörkortex zu erken-
schaltung erfolgt und die Informationen zum nen ist. Werden akustische Reize nur dem
medialen Kniehöcker (Corpus geniculatum rechten Ohr präsentiert, ist die Aktivität im
mediale) des Thalamus übertragen werden. linksseitigen Hörkortex trotz Informations-
Über den medialen Kniehöcker werden die übertragung auf beide Hemisphären stärker als
auditorischen Informationen zum primären im rechtsseitigen. Umgekehrte Aktivierungs-
Hörkortex (Heschl-Querwindung) auf dem verhältnisse entstehen, wenn nur das linke Ohr
Gyrus temporalis superior weitergeleitet. Diese beschallt wird (Jäncke & Shah, 2002).
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278 9. Auditorische Wahrnehmung
Sulcus
Vorderhirn
lateralis
Thalamus primärer
Nucleus Nucleus auditorischer
geniculatus geniculatus Kortex
medialis medialis
Corpus geniculatum
Mittelhirn
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mediale (Thalamus)
Colliculus Colliculus
inferior inferior
Colliculus inferior
Mittelhirn
(Tectum)
Rauten-
hirn
Nucleus Nucleus Lemniscus
lemniscus lemniscus lateralis
lateralis lateralis
Oliven- Oliven-
komplex komplex
Nuclei
cochleares
Rautenhirn
Nucleus Nucleus
corporis tra- corporis tra-
pezoidei pezoidei
Nucleus Nucleus
cochlearis cochlearis
ventralis ventralis
Abbildung 9-13: Schematische Darstellung der Hörbahn. Dargestellt sind die Kerngebiete des Rhom-
bencephalons, Mesencephalons, Thalamus und der primäre Hörkortex. Dargestellt ist die Verschaltung
aus der „Sicht“ des linken Ohrs.
Hörkortex
freiliegt (Abb. 9-14). So sind quer verlaufende
Der Hörkortex besteht aus verschiedenen Teil- Gyri zu erkennen, die auch als Querwindun-
gebieten mit unterschiedlichem zytoarchitek- gen bezeichnet werden; dies sind die Heschl-
tonischen Aufbau. Der primäre Hörkortex liegt Querwindungen. Bei ca. zwei Drittel aller
auf dem Gyrus temporalis superior. Er kann Gehirne können auf der rechten Hemisphäre
gut darstellt werden, wenn die Sylvische Fissur zwei und auf der linken nur eine Querwindung
mit einer Zange hochgeklappt wird, sodass die festgestellt werden. Auf den Heschl-Quer-
plane Fläche des Gyrus temporalis superior windungen (auch als Heschl-Gyrus bezeich-
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9.4. Auditorisches System 279
A) B) anterior
Heschl- Heschl-
Querwindung Querwindung
Heschl-
Querwindung links rechts
Sylvische
Fissur
Planum Planum
temporale temporale
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posterior
sekundärer Hörkortex
sekundärer
Hörkortex
Wernicke-Areal
Abbildung 9-14: (A) Blick auf den lateralen Teil des Gehirns und Andeutung eines Horizontalschnitts
durch die perisylvische Hirnregion. Dargestellt ist auch eine Zange, mit der die Sylvische Fissur abge-
hoben werden kann, sodass man den primären und sekundären Hörkortex freilegen und von außen be-
trachten kann. (B) Horizontalschnitt durch die Sylvische Fissur mit Hervorhebung der Heschl-Quer-
windungen und des Planum temporale. Zu erkennen sind rechts zwei Heschl-Querwindungen. Das
Planum temporale liegt hinter den Heschl-Querwindungen und ist in der Regel links größer als rechts.
net) liegt der primäre Hörkortex. Er besteht des Planum temporale sind mit einem stark
aus drei Subarealen,31 die einen ähnlichen granulären Kortex ausgestattet, dessen zy-
zytoarchitektonischen Aufbau zeigen, der sich toarchitektonischer Aufbau dem des Assozia-
allerdings vom benachbarten sekundären tionskortex ähnelt. Dieser Kortextyp unter-
Hörkortex deutlich unterscheidet: kleine gra- scheidet sich deutlich vom Kortex der primä-
nuläre Zellen, kleine Pyramidenzellen in ren Hörrinde und deutet an, dass Bereiche des
Schicht IIIc, eine große Schicht IV und eine Planum temporale in die sekundäre und ter-
kleine Schicht V. tiäre Verarbeitung auditorischer Informatio-
Hinter dem primären Hörkortex liegt auf nen involviert sind. Auffallend ist v. a., dass
dem Gyrus temporalis superior das Planum das Planum temporale stark asymmetrisch ist.
temporale. Es wird gelegentlich auch als Bei den meisten Menschen ist es links deut-
„Dach“ des Wernicke-Areals bezeichnet lich größer als auf der rechten Seite. Bei
(Jäncke & Steinmetz, 2003). Weite Bereiche Rechtshändern ist diese Links-rechts-Asym-
metrie stärker ausgeprägt als bei Linkshän-
31 Areal Te1.2, Te1.0 und Te1.1. dern (s. Kap. 6; Abb. 9-14).
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280 9. Auditorische Wahrnehmung
B) Mensch
und als Teil des Wernicke-Areals bezeichnet
wird (Abb. 9-15).
Auf der Basis von Affenuntersuchungen
wird davon ausgegangen, dass sich die unter-
WA schiedlichen Hirngebiete, die für die auditori-
PT
HG TS sche Wahrnehmung verantwortlich sind, wie
PP S
„Gürtel“ aneinanderlagern. Um den primären
GTm
s Hörkortex sind demnach die sekundären und
GT
tertiären Hirngebiete gürtelförmig angeordnet.
Bei Makaken spricht man von einem „Kernhör-
kortex“, dem primären Hörkortex (A1). Vor A1
liegen mindestens zwei rostrale Teile von A1
(R und RT). Um A1 herum ist der sekundäre
Abbildung 9-15: Schematische Darstellung der
auditorische Kortex wie ein „Gürtel“ (belt) an-
Hörkortexbereiche beim (A) Makaken und (B)
geordnet. Um diesen „Gürtel“ findet sich ein
Menschen. (A) Man erkennt den primären Hörkor-
größerer „Gürtel“, der im Englischen als para-
tex (A1) und die rostral angelagerten Bereiche des
primären Hörkortex (R und RT). Um den primären
belt bezeichnet wird (Abb. 9-15).
Hörkortex ist ein erster „Gürtel“ (belt) von sekun- Eine weitere anatomische Besonderheit
därem auditorischen Kortex angeordnet (in dun- besteht darin, dass der linksseitige Hörkortex
kelgrau gekennzeichnet). Um diesen lagert sich über mehr Volumen weißer Substanz verfügt.
ein weiterer „Gürtel“ an, der parabelt. Diese se- Die Myelinisierung des Planum temporale ist
kundären auditorischen Areale liegen alle auf dem auf der linken Hemisphäre stärker als auf der
Gyrus temporalis superior (GTs). (B) Man erkennt rechten. Aufgrund dessen wird vermutet, dass
den Heschl-Gyrus (HG) auf dem der primäre Hör- der linksseitige Hörkortex schnellere Ana-
kortex liegt. Hinter dem Heschl-Gyrus ist das lysen als der rechtsseitige durchführen kann
Planum temporale und davor das Planum polare.
(Abb. 9-16; Zatorre et al., 2002).
Die Neurone im Sulcus temporalis superior (STS),
im Gyrus temporalis superior und medius sind
auch in auditorische Analysen eingebunden. Ein- Funktionelle Neuroanatomie
gezeichnet ist auch noch ein Teil des Wernicke- des Hörkortex
Areals (WA), das sich bis in den Parietallappen
erstreckt. Alle Hirngebiete um die Sylvische Fissur Der auditorische Kortex ist anatomisch anders
werden auch als perisylvische Hirngebiete be- aufgebaut als der visuelle Kortex: Bereits auf
zeichnet und sind mit einer Box gekennzeichnet. unterster Verarbeitungsebene werden die In-
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9.4. Auditorisches System 281
A) Heschl- B) posteriorer
Querwindung Temporallappen
3000 10 000
2500 8000
mm3
2000
6000
1500
mm3
4000
1000 weiße Substanz
0 0
links rechts links rechts
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Abbildung 9-16: Schematische Darstellung der Volumenunterschiede für die graue und weiße Sub-
stanz im Heschl-Gyrus und im posterioren Temporallappen. (Nachgezeichnet und modifiziert nach
Zatorre et al., 2002).
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282 9. Auditorische Wahrnehmung
Zange
Hz
16000
Hz
Hz
Hz
8000
4000
2000
Hz
1000
0
50
Hz
primärer
auditorischer
Kortex (A1)
entspricht dem entspricht der
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Abbildung 9-17: Typische Tonotopie im Hörkortex des Affen. Tiefe Töne werden vorrangig anterolateral
und hohe Töne posteromedial verarbeitet. Links ist ein typisches menschliches Gehirn dargestellt, da oft
die Tonotopie des Affengehirns für das Menschengehirn aus didaktischen Gründen übernommen wird.
chen Lehrbüchern auch auf den menschlichen (1,1–2 kHz) spezialisiert ist. Weiter medial
Hörkortex übertragen. Untersuchungen am finden sich Neurone, die besonders auf nied-
Menschen mittels moderner bildgebender rige Frequenzen (0,5–0,3 kHz) reagieren, wäh-
Verfahren konnten diese Art der Tonotopie rend sich medial wieder Neuronengruppen an-
allerdings nicht belegen. Eine der ersten Un- schließen, die besonders auf hohe Frequenzen
tersuchungen, die zu einem anderen Ergebnis (bis 3 kHz) ansprechen. Ein weiteres Band, das
kam, ist die von Mühlnickel und Kollegen sich lateral an das erste mediale angliedert, ist
(1998). Sie hatten die Tonotopie mittels Mag- nach vorne ausgedehnt, wo die Neurone für die
netenzephalografie untersucht und eine von hohen Frequenzen sehr weit anterolateral zu
lateral nach medial angeordnete Tonotopie finden sind. Weiter mesial liegende Neurone
festgestellt, wobei die tiefen Töne von latera- zeigen ein umgekehrtes Muster mit anterioren
len und die hohen von medial angeordneten Neuronengruppen, die besonders stark auf
Neuronen verarbeitet werden (Abb. 9-18). Eine Töne mit hohen Frequenzen ansprechen, und
anterior-posteriore Anordnung, wie in den posterioren Neuronengruppen, die auf Töne
meisten Untersuchungen an Affen, konnten niedriger Frequenz reagieren. Zusammen-
die Autoren nicht feststellen. gefasst ist festzuhalten, dass die Tonotopie im
Eine andere Arbeitsgruppe nutzte die auditorischen Kortex des Menschen komplexer
funktionelle Magnetresonanztomografie und als bei Primaten ist.
konnte ein komplexes Muster der Tonotopie im Die auditorische Wahrnehmung ist ein
auditorischen Kortex des Menschen feststellen hierarchischer Prozess, auf dessen unters-
(Formisano et al., 2003). Gemäß ihrer Ergeb- ter Ebene elementare auditorische Analysen
nisse existieren mehrere Streifen von Neuro- durchgeführt werden (Abb. 9-19). Die Ergeb-
nengruppen, auf denen sich von anterolateral nisse werden den nächsthöheren Verarbei-
bis posteromedial die Frequenzsensibilitäten tungsmodulen zugeführt (Bottom-up-Weg,
ändern (Abb. 9-18). So konnte ein medial gele- Kap. 7). Im primären Hörkortex werden die
gener Streifen identifiziert werden, bei dem ersten Frequenzanalysen vorgenommen, die
der anterolaterale Teil für hohe Frequenzen Intensitäten der akustischen Reize codiert
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9.4. Auditorisches System 283
A) B)
medial ch
L R ho posterior
ch
ho rig
rig ed
ed ni
ni rig
ed
T4 ni
1000 Hz ch rig
2000 Hz ho ed
ni ch
4000 Hz ho
8000 Hz
23 mm ch
ho
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lateral
anterior
Abbildung 9-18: (A) Tonotopie im primären auditorischen Kortex des Menschen. Diese Tonotopie wurde
mittels Magnetenzephalografie erschlossen. (B) Tonotopie, die anhand von Arbeiten mit der funktionel-
len Magnetresonanztomografie beim Menschen berechnet wurde.
A) B)
Kombination der
elementaren Planum temporale
Analyseergebnisse und
Szenenanalyse Planum polare
auditorische Objekte
(Silben, Töne)
Abbildung 9-19: Schematische Darstellung der hierarchischen Organisation des auditorischen Systems.
(A) Hierarchische Organisation der Verarbeitung im auditorischen System. (B) Zuordnung der Hirngebiete
zu den Verarbeitungsebenen.
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284 9. Auditorische Wahrnehmung
und erste zeitliche Analysen durchgeführt. nalen Netzwerken des Sulcus temporalis su-
Auf der nächsthöheren Ebene werden die Er- perior. Der Gyrus temporalis medius wird
gebnisse dieser elementaren Analysen zu- v. a. bei Sprachanalysen aktiviert, wenn die
sammengeführt. Als wesentliche Hirnstruktur auditorisch dargebotenen Wörter und Sätze
für diesen Bearbeitungsschritt wird das Pla- hinsichtlich grammatikalischer Aspekte ana-
num temporale diskutiert, das gelegentlich lysiert werden.
auch als Computational Hub bezeichnet wird Generell scheinen auf den untersten Ver-
(Griffiths & Warren, 2002), um zum Ausdruck arbeitungsebenen keine ausgeprägten funk-
zu bringen, dass in diesem Hirngebiet kom- tionellen Hemisphärenasymmetrien in den
plexe Berechnungen stattfinden, die weit über auditorischen Modulen vorzuliegen. Erst auf
die im primären auditorischen Kortex hinaus- den höheren Verarbeitungsstufen, auf denen
gehen. Arbeiten mit bildgebenden Verfahren komplexere Analysen durchgeführt werden,
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haben jedoch auch gezeigt, dass das Planum finden sich funktionelle Hemisphärenasym-
polare, das vor dem Heschl-Gyrus liegt, in metrien. So zeigt sich im Planum temporale
ähnlicher Weise in komplexe Analysen ein- eine Linksasymmetrie der Durchblutung,
gebunden ist. Das Erkennen von sinntragen- wenn die Versuchspersonen Konsonant-Vo-
den auditorischen Elementen erfolgt jedoch kal-Silben (und insbesondere kurze Stimm-
erst in späteren Verarbeitungsschritten im einsatzzeiten) analysieren. Für die Analyse
Gyrus temporalis superior und in den neuro- von Vokalen offenbaren sich symmetrische
Durchblutungsmuster. Wie oben erwähnt, ist
der linksseitige Hörkortex besser myelinisiert,
wodurch die Informationen dort wahrschein-
lich schneller innerhalb der Netzwerke trans-
feriert werden können.
R L
Dieser schnellere Informationsaustausch
könnte auch der Grund dafür sein, dass der
linksseitige Hörkortex für Zeitanalysen kurzer
zeitlich vs. spektral spektral vs. zeitlich Ereignisse (< 100 ms) besser geeignet ist als
der rechtsseitige. Da viele Sprachreize durch
Durchblutungs-
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9.4. Auditorisches System 285
seitige in spektrale Analysen eingebunden ist che“ Aktivierung im primären und sekundären
(Zatorre et al., 2002). Hörkortex bei komplexen Klängen deutlich
Die Intensität akustischer Reize wird in erkennbar (Menon, 2002; Abb. 9-21). Ähnliche
den Haarzellen durch die Aktionspotenzial- Aktivitätszunahmen im Hörkortex finden sich
frequenz codiert. Je lauter der Reiz, desto hö- letztlich bei allen komplexen Klängen, Geräu-
her ist die Aktionspotenzialfrequenz im jewei- schen oder sonstigen akustischen Reizen. Je
ligen Nervus cochlearis. Diese Intensitätsco- mehr Teilanalysen durchzuführen sind, desto
dierung gelingt allerdings nur bis zu einer stärker bzw. desto räumlich ausgedehnter ist
Schallintensität von ca. 55–60 dB, darüber die Aktivierung.
hinaus kann die Schallintensität nicht mehr Dass der Mensch zwei Ohren hat, ermög-
über die Zunahme der Aktionspotenzialfre- licht ihm das Richtungshören, denn die Schall-
quenz codiert werden. Da aber die meisten wellen von Quellen, die nicht genau mittig vor
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auditorischen Reize in unserer Umwelt eine oder hinter uns liegen, kommen an dem näher
größere Intensität als 60 dB aufweisen, stellt zur Quelle liegenden Ohr um einen Sekunden-
sich die Frage, wie das auditorische System bruchteil früher an, was als interaurale Zeit-
höhere Schallintensitäten codiert. Jenseits differenz bezeichnet wird. Nicht nur die Lauf-
dieser Schallintensitäten werden benachbarte zeiten der Schallwellen zu den beiden Ohren
Neurone im Hörkortex rekrutiert. Dies führt unterscheiden sich, sondern auch die Intensi-
dazu, dass das aktivierte Volumen im primären täten, mit denen die Schallwellen die Ohren
und sekundären Hörkortex zunimmt, je lauter erreichen. Diese interaurale Pegeldifferenz
die akustischen Reize werden (s. Abb. 7-8). entsteht dadurch, dass der Kopf einen „Schat-
Je komplexer ein akustischer Reiz wird, ten“ wirft, der die Intensität der Schallwellen
desto mehr Neuronengruppen sind an der Ver- vermindert, die auf das weiter von der Schall-
arbeitung beteiligt. Dies zeigt sich in bild- quelle entfernte Ohr treffen. Diese Abschwä-
gebenden Arbeiten in einer Ausbreitung der chung betrifft v. a. hochfrequente Töne, da
Aktivierung im auditorischen Kortex. Subtra- diese im Verhältnis zur Kopfgröße kurze Wel-
hiert man die Hirnaktivität, die sich nach Prä- lenlängen haben und daher vom Kopf leichter
sentation einfacher akustischer Reize (z. B. reflektiert werden. Tieffrequente Töne haben
Töne) zeigt, von den Aktivierungen nach Prä- dagegen lange Wellenlängen, sodass sie vom
sentation von Klängen (die über ein reiches Kopf nicht beeinträchtigt werden. Bei Affen
Obertonrepertoire verfügen), ist die „zusätzli- konnten im Olivenkomplex Neurone identifi-
ziert werden, die spezifisch auf interaurale
Zeitdifferenzen ansprechen.
Beim Menschen werden zwar wie beim
Affen bereits auf Hirnstammebene interaurale
Differenzen berechnet, wichtig sind jedoch
L R auch die kortikalen Mechanismen der Raum-
wahrnehmung. Raumwahrnehmung beim
Menschen basiert sehr stark auf Erfahrung
und deshalb auf im Gedächtnis gespeicherten
Abbildung 9-21: Die durch Klänge im Vergleich zu
einfachen Tönen evozierte Durchblutungszu-
Informationen. Um sich im Raum zurecht-
nahme im primären und sekundären Hörkortex. zufinden, werden auch Informationen aus
Der kleine Kreis indiziert die Hirnaktivierung bei anderen Modalitäten genutzt. Man muss sich
einfachen Tönen und der große Kreis die Hirnakti- nur vorstellen, wie unterschiedlich die Um-
vierung bei komplexen Klängen. welten sind, die sich der Mensch selbst ge-
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286 9. Auditorische Wahrnehmung
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9.4. Auditorisches System 287
Diese Hirngebiete können auch aktiv sein, charakteristisches Geräusch. Auch wenn der
ohne dass die akustischen Reize präsent sind. Hammer zu Boden fällt und wir die Flugbahn
Bei professionellen Pianisten kann dieses des Hammers visuell verfolgen, erwarten wir
Phänomen eindrücklich beobachtet werden, im Moment des Aufschlags ein typisches Ge-
wenn sie auf einem elektrischen Piano spielen räusch. Dies sind typische Episoden, die mit
und kurzfristig der Lautsprecher abgestellt charakteristischen auditorischen Perzepten
wird. Wird dann die Hirnaktivität mittels gekoppelt sind. In einem Experiment, in dem
funktioneller Magnetresonanztomografie ge- diese visuell-auditorischen Kopplungen korti-
messen, zeigt sich, dass der Hörkortex (in der kal kartiert wurden, wurden den Probanden in
Regel der sekundäre) beim Spielen aktiv ist, einer Versuchsbedingung Videoclips dargebo-
ohne dass der Pianist sein eigenes Spiel hören ten, in denen der Ton abgeschaltet war. In den
kann. Offenbar stimulieren die motorischen Kontrollbedingungen wurden diese Videoclips
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Programme zum Ansteuern der Fingerbewe- mit Ton dargeboten. Es zeigte sich, dass in
gungen gleichzeitig auch das auditorische Sys- der Anordnung ohne Ton auch der sekundäre
tem, um die auditorischen Perzepte abzurufen, Hörkortex aktiv war, so, als würden die Ver-
die mit den spezifischen Fingerbewegungen suchspersonen das „fehlende“ Geräusch auto-
gekoppelt sind (Baumann et al., 2007). Diese matisch in die visuelle Szene „hineinassoziie-
besondere Kopplung zwischen dem motori- ren“ (Bunzeck et al., 2005).
schen und dem auditorischen System ist durch Derartige visuoauditorische Assoziatio-
häufiges Pianospielen aufgebaut worden. nen können durch Lernen aufgebaut werden.
Auch ohne exzeptionelle Expertise finden Ein entsprechendes Experiment wird in Kapi-
sich Kopplungen zwischen dem auditorischen tel 17 (Plastizität) besprochen. Werden für ei-
und anderen sensorischen Systemen. Viele vi- nige Minuten gleichzeitig visuelle und audito-
suelle Episoden sind in unserem Gedächtnis rische Reize präsentiert, ist es möglich, allein
mit typischen auditorischen Perzepten gekop- durch die Präsentation der visuellen Reize
pelt. Sieht man z. B. einen Hammer, der auf den sekundären Hörkortex zu aktivieren (s. a.
einen Nagel geschlagen wird, erwartet man im Abb. 17-9). Obwohl visuoauditorische Assozia-
Moment des Auftreffens auf den Nagel ein tionen durch Lernen etabliert werden und ob-
wohl sie eine normale Variante des Lernens
und der Hirnplastizität sind, können die mit
diesen Experimenten erzielten Befunde dazu
beitragen, pathologische visuoauditorische
L R Kopplungen besser zu verstehen.
Ein interessantes pathologisches Problem
sind Musikhalluzinationen bei Personen,
die infolge von Erkrankungen des peripheren
Abbildung 9-24: Schematische Darstellung der Hörsystems ertaubt sind. Im Zustand vollstän-
Aktivierungen, die in der Studie von Bunzek et al.
diger Taubheit entwickeln einige dieser Per-
(2006) gefunden wurden. Die markierten Hirn-
sonen Musikhalluzinationen. Das bedeutet,
gebiete waren bei Präsentation von Videoclips
dass sie, ohne dies unterdrücken zu können,
aktiv, bei denen der Ton abgeschaltet war. Diese
Filmsequenzen waren allerdings mit typischen
Musikstücke oder Fragmente von Musikstü-
auditorischen Wahrnehmungen gekoppelt. Offen- cken „hören“. Diese Musikstücke sind physi-
bar evozieren die visuellen Stimuli auditorische kalisch nicht präsent, sondern entstehen über
Perzepte, die über den sekundären auditorischen einen Top-down-Prozess im Hörkortex. Dies
Kortex abgerufen werden. konnte Timothy Griffiths (2000) in einem be-
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288 9. Auditorische Wahrnehmung
rühmten Experiment eindrücklich belegen. akustischen Reizen ist. Diese Reize müssen
Er untersuchte die Hirndurchblutung mittels nacheinander analysiert werden, um einen Be-
Positronen-Emissions-Tomografie bei diesen griff oder ein Perzept auszulösen. Bei Sprach-
Patienten und korrelierte die Durchblutungs- signalen setzt sich eine Serie von Phonemen zu
kennwerte mit der subjektiven Stärke der Mu- Silben und letztlich zu Wörtern zusammen.
sikhalluzinationen. Dabei stellte er fest, dass Auch auf der nächsthöheren Ebene müssen
die Durchblutungsstärke im sekundären audi- die Wörter zu Satzfragmenten, Sätzen oder
torischen Kortex mit der Stärke der Musikhal- ganzen Sinneinheiten zusammengefügt wer-
luzinationen korrelierte. Offenbar induziert den. Bei Musikreizen ist dies genauso: Meh-
der sekundäre auditorische Kortex die Wahr- rere nacheinander dargebotene Töne (Klänge)
nehmung der Musik. machen eine Melodie aus. Die visuelle Wahr-
nehmung ist mehr durch parallele Verarbei-
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9.4. Auditorisches System 289
nach Reizeinsatz am Vertex zu messen ist. Die Parietallappens (Meyer et al., 2006). Da sich
neuronalen Generatoren sind v. a. im primären akustische Reize über die Zeit entfalten, ist
Hörkortex geortet worden. Zu diesen Hirn- der Reiz präsent, während sich das evozierte
gebieten gehören der Hippocampus, das Pla- Potenzial entfaltet.
num temporale, laterale Temporalkortexan- Am Ende des akustischen Reizes ist ein ab-
teile und wahrscheinlich auch Hirnstammkerne geschwächter P1-N1-P2-Komplex zu be-
(Martin et al., 2008). An diesen verteilten Ge- obachten. Der erste P1-N1-P2-Komplex tritt
neratoren ist zu erkennen, dass bereits auf ei- nach Reizeinsatz auf und wird als On-Reak-
ner frühen Stufe der auditorischen Informati- tion bezeichnet, während der zweite P1-N1-
onsverarbeitung der primäre Hörkortex mit P2-Komplex nach Reizende auftritt und als
anderen Hirngebieten interagiert. Off-Reaktion bezeichnet wird (Abb. 9-25).
–1
–2
N1 N1
–3
–4
–5
0 200 400 600 800 1000 1200 1400 1600 1800 2000 2200
Zeit in ms
Tonbeginn Tonende
Abbildung 9-25: Typischer P1-N1-P2-Komplex nach Tondarbietung. Nach Toneinsatz istdie On-Reaktion
und nach Tonende die Off-Reaktion erkennbar.
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290 9. Auditorische Wahrnehmung
Solche On-Off-Reaktionen treten praktisch bei Mittelteil und die Off-Reaktion. Auch beim
allen akustischen Reizen auf, die länger als Wechsel innerhalb eines Lauts (z. B. bei dem
400 ms dauern. Diphthong /ue/ in „Gruezi“) kann man beim
Bei kurzen Reizen sind die Off-Reaktionen Wechsel von den Formanten, die typisch sind
nicht mehr erkennbar, da sie in der On-Re- für das /u/, zu den Formanten, die typisch sind
aktion verborgen sind. Der physiologische für das /e/, eine On-Reaktion feststellen, vo-
Prozess des Verarbeitens des Reizendes findet rausgesetzt, der Diphthong wird mindestens
jedoch statt, auch wenn er nicht mehr eindeu- 400 ms lang ausgesprochen (Martin et al.,
tig erkennbar ist. Werden lange Reize (die z. B. 2008). Diese zweite On-Reaktion wird auch
2 s lang sind) verwendet, dann lässt sich der Acoustic Change Complex (ACC) genannt
tonische Mittelteil der neurophysiologischen (Abb. 9-26). Sie wird in der Phonetik und der
Reaktion sehr gut separieren (Abb. 9-25). Bei Klinischen Linguistik häufig genutzt, um zu
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kurzen Reizen sind diese Teile ebenfalls vor- überprüfen, ob die Testpersonen in der Lage
handen, nur meistens in die Komponenten- sind, Formantwechsel zu verarbeiten.
abfolge der On-Reaktion eingebettet. Anhand Dieser P1-N1-P2-Komplex kann auch ge-
dieses Beispiels ist zu erkennen, dass die audi- messen werden, wenn die akustischen Reize
torische Analyse ein sequenzieller Prozess ist, nicht physikalisch präsent sind, sondern von
bei dem Reizbeginn und -ende sowie der to- den Versuchspersonen nach einem Hinweis-
nische Mittelteil des Reizes separat verarbei- reiz vorgestellt werden (Martin et al., 2008).
tet werden. Die auditorische Analyse ist, wie oben dar-
Diese und ähnliche Aufeinanderfolgen von gestellt, ein schneller sequenzieller Prozess.
neurophysiologischen Reaktionen sind bei der Um zu verdeutlichen, wie schnell die beteilig-
sequenziellen Tondarbietung und bei der Prä- ten neurophysiologischen Prozesse sich wäh-
sentation von Sprachlauten zu erkennen. Bei rend des Verarbeitens von auditorischen Rei-
der sequenziellen Darbietung von Tönen (z. B. zen verändern, können die während der
bei der Präsentation eines Musikstücks) löst Reizverarbeitung gemessenen Hirnaktivitäten
jeder Ton drei neurophysiologische Reaktio- statistisch gruppiert werden. Gemessen wird
nen aus: die On-Reaktion, einen tonischen die Hirnaktivität während der Reizdarbietung,
z. B. mit einem hochauflösenden EEG (z. B.
128 Elektroden). Anschließend werden die
4 Elektrode Cz evozierten Potenziale auf diese Reize und die
P2
3 Verteilung derselben ermittelt, um für jede
P2
2
P1 Millisekunde eine Verteilung der elektrischen
1
P1 Aktivität an der Schädeloberfläche zu erhal-
0
ten. Nun kann über die Zeit berechnet werden,
Amplitude (µV)
–1
–2 wie lange die Verteilung der elektrischen Ak-
N1
–3 N1 tivität konstant bleibt bzw. wann sie wechselt.
–4 Die stabilen Zustände elektrischer Aktivität
Formantwechsel
–5
0 200 400 600 800 1 000 1 200 1 400 werden Microstates genannt. Diese Microsta-
Zeit in ms tes können als Aktivierungszustände des Ge-
Abbildung 9-26: Acoustic Change Complex (ACC) hirns interpretiert werden, in denen das Ge-
bei der Wahrnehmung eines Diphthongs. Die hirn (und in diesem Fall insbesondere das
zweite On-Reaktion indiziert den Formantwechsel auditorische System) konstant aktiv ist. Typi-
von /u/ nach /e/ des Diphthongs /ue/ (nach Martin scherweise sind sie 40–150 ms lang. Vermutet
et al., 2008). wird, dass während eines Microstates ein psy-
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9.4. Auditorisches System 291
chologischer Prozess abläuft. Wird die Abfolge Ereignissen lässt sich auch anhand charakte-
von Microstates während der Präsentation von ristischer Hirnreaktionen ablesen (Bendixen
Tönen und Geräuschen berechnet, ist erkenn- et al., 2012). Schon nach wenigen Präsentatio-
bar, dass während der ersten 400 ms nach nen von akustischen Reizen hat das auditori-
Reizpräsentation sich 6–7 Microstates ab- sche System eine Gedächtnisspur für diese
wechseln, dabei können sich einige mehrfach Reize gebildet und erwartet entsprechend die
wiederholen (Abb. 9-27). In den ersten 200 ms nächsten Reize.
ereignen sich 4–5 Microstate-Wechsel. Das Entsprechen diese Reize der Erwartung,
bedeutet, dass schon auf einer frühen audito- generiert das auditorische System eine Re-
rischen Verarbeitungsstufe 4–5 verschiedene aktion in Form eines evozierten Potenzials, das
psychologische Prozesse ablaufen, die sich als Repetition Positivity bezeichnet wird. Es
rasch abwechseln (Ott et al., 2011). ist ein positives Potenzial, das über frontozen-
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Das auditorische System ist nicht nur ein tralen Elektroden auftritt und dessen Ampli-
schneller sequenzieller Analysator, sondern tude mit der Sicherheit der Erwartung zu-
auch ein System mit hervorragenden Vorher- nimmt. Dieses Potenzial ist nach nur wenigen
sagefähigkeiten. Schon wenige Töne einer Wiederholungen des gleichen Tons noch recht
Melodie reichen aus, um den Fortgang der klein und wird mit zunehmender Anzahl der
Tonfolge zu antizipieren. Auch bei der Sprach- Wiederholungen größer. Je häufiger ein Reiz
wahrnehmung sind die prädiktiven Fähigkei- wiederholt wird, desto sicherer ist das System,
ten wichtig für das Sprachverständnis. Die Fä- dass demnächst wieder der gleiche Reiz auf-
higkeit zur Vorhersage von auditorischen tritt. Die Repetition Positivity tritt in einem
Zeitbereich von 80 bis 250 ms auf.
Wenn der präsentierte Ton nicht der Erwar-
tung entspricht, generiert das System eine
N1
P2 Geräusch 1
P1 Mismatch-Reaktion, die als Mismatch-Nega-
tivity bekannt ist (s. a. Kap. 5). Diese Mis-
3 4 3 6 8 9 11 match-Negativity hat ihr Maximum über zen-
N1 tralen Elektrodenpositionen und tritt in einem
P2 Geräusch 2
P1 Intervall von 100 bis 200 ms auf. Sie wird
umso größer, je deutlicher der Unterschied
3 4 3 6 8 7 9 zwischen dem häufig (standard) und dem sel-
ten (deviant) auftretenden Reiz ist. Die N1-
(ms) 100 200 300 400
Amplitude ist verringert, wenn das auditori-
Abbildung 9-27: Abfolge von Microstates bei der sche System den sie auslösenden Reiz gut
Wahrnehmung von Geräuschen (nach Ott et al., vorhersagen kann. Auch wenn der akustische
2011). Jedes einzelne Segment indiziert einen Reiz durch einen Tastendruck selbst ausgelöst
neurophysiologischen Aktivierungszustand des wird, ist die N1-Amplitude etwas verringert,
Gehirns während der Verarbeitung von akusti-
offenbar, weil das auditorische System den
schen Reizen. In den mit Pfeilen gekennzeichne-
Ton anhand der motorischen Aktion vorhersa-
ten Segmenten sind die typischen Komponen-
gen kann.
ten des auditorisch evozierten Potenzials ver-
borgen. Die Microstates sind an Übergängen der Die frühen neurophysiologischen Reaktio-
Global Field Power (GFP) dargestellt. Die GFP ist nen des auditorischen Systems codieren auch
die für jede Millisekunde berechnete Variabilität die Intensität des auditorischen Reizes. Dies
der an allen Elektroden gemessenen evozierten ist gut an der Amplitude der N1-Komponente
Potenziale. zu erkennen, die mit zunehmender Intensität
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292 9. Auditorische Wahrnehmung
des auditorischen Reizes größer wird. Letzt- Auslösung (Regelverletzung) wird vermutet,
lich konnte gezeigt werden, dass auch die dass ähnliche Prozesse bei der Verarbeitung
evozierte Gamma-Band-Reaktion (evoked von Musik- und Sprachsyntax beteiligt sind
gamma-band response)33 in Abhängigkeit (Sammler et al., 2009).
von der Schallintensität variiert. Je intensiver Der linke und rechte Hörkortex oszillieren
ein Reiz, desto größer ist die Amplitude der bereits im Ruhezustand in unterschiedlichen
Gamma-Band-Reaktion (Schadow et al., Frequenzen. Der linksseitige auditorische
2007). Im Übrigen korreliert die intensitäts- Kortex oszilliert vorrangig im Gamma-Fre-
abhängige Amplitude der Gamma-Band-Re- quenzbereich (28–40 Hz), während der rechts-
aktion mit der BOLD-Reaktion des auditori- seitige im Theta-Frequenzbereich oszilliert
schen Kortex. (4–8 Hz). Diese Oszillationen korrelieren auch
Eine weitere Komponente des auditorisch mit den Fluktuationen der Hämodynamik im
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evozierten Potenzials, die ungefähr 200 ms Ruhezustand. Die Entdecker dieser Oszillatio-
nach Reizeinsatz auftritt, ist die Early right nen vermuten (Giraud & Poeppel, 2012), dass
anterior negativity (ERAN). Diese Negati- mittels der jeweiligen Oszillationen zeitliche
vierung des auditorisch evozierten Potenzials Rahmen erstellt werden, die bestimmte audi-
(mit leichter rechtshemisphärischer Domi- torische Analysen determinieren. Die schnel-
nanz) tritt auf, wenn die dargebotenen akus- len Gamma-Oszillationen im linksseitigen
tischen Reize eine Regel brechen. Solche Re- Hörkortex sollen schnelle auditorische Ana-
gelbrüche können sehr gut mit Akkord-Se- lysen ermöglichen, wie sie z. B. für Phonem-
quenzen aus sechs Akkorden getestet werden. analysen notwendig sind. Die langsameren
Präsentiert man die Akkorde Dominante, – Oszillationen des rechtsseitigen Hörkortex
Tonika, – Subdominante, – Subdominante und sollen einen günstigen Rahmen für lang-
Dominante, dann erwartet der Hörer nach samere Analysen bieten, sodass z. B. die Ana-
diesen fünf Akkorden implizit eine Tonika. lyse und Segmentierung von Silben im rechts-
Folgt ein unerwarteter (irregulärer) Akkord, seitigen Hörkortex optimaler verläuft.
wird die ERAN ausgelöst. Ihre Generatoren
befinden sich bilateral im Gyrus temporalis su- evozierte Gamma-Band-Reaktion
perior und im linksseitigen Gyrus frontalis in- 0.4
ferior (Sammler et al., 2009).
Eine ähnliche EEG-Reaktion tritt bei Ver-
µV
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9.4. Auditorisches System 293
Theta-Band Gamma-Band
20 20
15 15
10 10
5 5
0 0
5 5
0 0
–15 –15
–20 –20
Zeit in ms Zeit in ms
R L
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Abbildung 9-29: Darstellung der präferierten Oszillationen für den links- und rechtsseitigen Hörkortex.
Im linksseitigen Hörkortex wird die schnelle Gamma-Band-Oszillation (25–60 Hz) präferiert, während
im rechtsseitigen Hörkortex die langsamere Theta-Band-Oszillation (4–7 Hz) dominiert (nach Giraud &
Poeppel, 2012).
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294 9. Auditorische Wahrnehmung
• evozierte Gamma-Band-Reaktion ca. tät gemessen werden. Viele dieser später auf-
50–60 ms nach Reizeinsatz tretenden Hirnaktivierungen wie auch die Os-
• N1-Amplitude des evozierten Poten- zillationen sind nicht zwingend typisch für die
zials ca. 100 ms nach Reizeinsatz auditorische Informationsverarbeitung, son-
• sekundärer Hörkortex dern sie treten in ähnlicher Form auch bei an-
• N1-Amplitude des evozierten Poten- deren Reizen aus anderen Modalitäten auf.
zials ca. 100 ms nach Reizeinsatz Ein typisches Beispiel für eine verteilte Ver-
• teilweise auch P2-Komponente des arbeitung unter Einschluss mehrerer Hirn-
evozierten Potenzials ca. 180 ms gebiete ist die ELAN/ERAN (s. o.), denn diese
nach Reizeinsatz EEG-Komponenten indizieren eine synchrone
• ELAN und ERAN ca. 200 ms nach Verarbeitung im Gyrus temporalis superior
Reizeinsatz und im Gyrus frontalis inferior. Vermutlich
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9.5. Zusammenfassung 295
Akustische Analyse
Phonologisches
Emotionen Musiklexikon
Lexikon
motorische motorische
Assoziatives
Programme – Programme –
Gedächtnis
Stimme Hände
Abbildung 9-30: Schematische Darstellung der Komplexität der Musikwahrnehmung (aus Jäncke, 2008).
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296 9. Auditorische Wahrnehmung
Assoziationskortex
Objekt-Kategorisierung
Multimodaler
Kortex
crossmodale Analysen
Abstraktion
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sensorisches Gedächtnis
Hörkortex
Erkennen von Invarianzen
HIerarchische Analysen
Vorhersagen
Musteranalyse
spektrotemporale Analysen
Hörbahn
binaurale Fusion
Raumwahrnehmung
Encodierung
Transduktion
Cochlea
Abbildung 9-31: Schematische Darstellung des hierarchischen Ablaufs der auditorischen Wahrneh-
mung (nach Griffiths & Warren, 2004).
len definiert (physikalische Dimension). einigung zu einem Klang erleben wir als
Jeder dieser physikalischen Aspekte ist mit Klangfarbe (Timbre).
bestimmten psychischen Erlebnissen bzw. • Isophone sind Kurven gleicher Lautheit
Wahrnehmungen gekoppelt (psychische und berücksichtigen die frequenzabhän-
bzw. perzeptuelle Dimension). Die unter- gige subjektive Empfindlichkeit für Laut-
schiedlichen Frequenzen des Schalls heit. Gemessen wird die Lautheit mit der
(Schwingungen pro Zeiteinheit) werden als Sone- und/oder der Phon-Skala.
Tonhöhen erlebt: schnelle Frequenzen als • Das menschliche Ohr wird in ein äußeres,
hohe Töne und langsame Frequenzen als mittleres und inneres Ohr unterschieden.
tiefe Töne. Schallwellen mit hohen Ampli- • Auf der Basilarmembran befindet sich das
tuden werden als laut und Schallwellen mit eigentliche Sinnesorgan, das Corti-Organ,
niedrigen Amplituden als leise wahrge- das die Rezeptoren (Haarzellen) trägt. Sie
nommen. Die Anzahl und Art der sich haben an ihrer Spitze haarförmige Fort-
überlagernden Schallwellen und ihre Ver- sätze, die Stereozilien genannt werden.
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9.5. Zusammenfassung 297
Diese Zilien sind untereinander durch Der hintere Teil der perisylvischen Hirn-
dünne Fäden verbunden, die als Tip-Links region wird auch als Wernicke-Areal be-
bezeichnet werden. Unterschieden wird zeichnet.
zwischen inneren und äußeren Haarzellen. • Der primäre und der sekundäre Hörkortex
• Die Druckschwankungen werden in das sind anatomisch asymmetrisch aufgebaut,
Innenohr weitergeleitet und übertragen mit mehr weißer Substanz links als rechts.
sich auf die Basilarmembran. Auf der Ba- Das Planum temporale weist eine Links-
silarmembran wird eine Wanderwelle mit rechts-Volumenasymmetrie auf.
einem frequenzabhängigen Schwingungs- • Der Hörkortex des Menschen weist eine
maximum erzeugt. Tiefe Frequenzen füh- andere Tonotopie als das Affengehirn auf.
ren zu einem Schwingungsmaximum nahe Grundsätzlich ist die Tonotopie im mensch-
am Steigbügel, während hohe Frequenzen lichen Gehirn komplexer als im Affen-
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298 9. Auditorische Wahrnehmung
tenziale liegen im primären und sekundä- Was versteht man unter dem Orts- und Sal-
ren auditorischen Kortex. Jedoch konnten venprinzip?
auch Generatoren außerhalb des Hörkortex • Beschreiben Sie die Hörbahn.
gefunden werden, was darauf hinweist, • Welche Hirngebiete werden zum Hörkor-
dass bereits auf den frühen Verarbeitungs- tex gezählt?
stufen Interaktionen mit anderen Hirn- • Welche anatomischen Besonderheiten
gebieten außerhalb des Hörkortex erfolgen. kann man für den Hörkortex bzw. die ver-
• Das auditorische System ist mit Mechanis- schiedenen Hörkortexareale feststellen?
men zur Vorhersage zukünftiger auditori- • Welche funktionellen Besonderheiten kön-
scher Ereignisse ausgestattet. Diese Vor- nen Sie für den Hörkortex festhalten? Wo
hersagefähigkeit ist anhand spezifischer und wie werden Intensität, Verständlich-
Parameter der evozierten auditorischen keit, Komplexität, Timbre und Raumwahr-
Potenziale zu erkennen. nehmung im Hörkortex verarbeitet?
• Die Latenzen des P1-N1-P2-Komplexes • Beschreiben Sie den sequenziellen Ablauf
entwickeln sich innerhalb der ersten der auditorischen Informationsverarbei-
200 ms nach Reizeinsatz. Nach diesen tung anhand der typischen Komponenten
200 ms werden zunehmend mehr nicht- der Hirnstammpotenziale und der kortika-
auditorische psychische Funktionen und len auditorischen Potenziale.
Hirngebiete außerhalb des Hörkortex mit • Was ist die evozierte Gamma-Band-Re-
in die Analyse einbezogen. Die Hirnaktivi- aktion?
tät dieser eher „späten“ Verarbeitungspro- • Welche Prozesse finden nach den ersten
zesse kann anhand der kohärenten kortika- 200 ms nach dem Einsatz auditorischer
len Aktivität in verteilten Hirngebieten Reize statt?
festgestellt werden.
• Insgesamt ist die auditorische Wahrneh-
mung als ein hierarchischer und sequenziel-
ler Prozess aufzufassen, der nach der Ver-
9.7. Weiterführende Literatur
arbeitung im Hörkortex zu einer Einbindung
multimodaler Hirngebiete führt. Letztlich Griffiths, T. D., Warren, J. D. (2004). What is an
werden die multimodalen Informationen auditory object? Nat Rev Neurosci, 5 (11),
im Assoziationskortex mit Begriffen und 887–892.
Konzepten assoziiert, was schließlich zu ei- Griffiths, T. D., Warren, J. D., Scott, S. K., Nelken,
ner Objektwahrnehmung führt. I., King, A. J. (2004). Cortical processing of
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9.7. Weiterführende Literatur 299
complex sound: a way forward? Trends Neu- King, A. J., Nelken, I. (2009). Unraveling the prin-
rosci, 27(4), 181–185. ciples of auditory cortikal processing: can we
Harris, K. D., Bartho, P., Chadderton, P., Curto, learn from the visual system? Nat Neurosci,
C., de la Rocha, J., Hollender, L., Sakata, S. 12(6), 698–701.
(2011). How do neurons work together? Les- Sharpee, T. O., Atencio, C. A., Schreiner, C. E.
sons from auditory cortex. Hear Res, 271(1– (2011). Hierarchical representations in the
2), 37–53. auditory cortex. Curr Opin Neurobiol, 21 (5),
761–767.
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301
10. Aufmerksamkeit
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10.1. Das Wesen der Aufmerksamkeit 303
10.1. Das Wesen der liegt, und ohne welches kein anderes verbessert
werden kan.“
Aufmerksamkeit
„Jeder weiß, was Aufmerksamkeit ist“ („Every- Schon Meiers hat erkannt, dass die Aufmerk-
one knows what attention is“), begann der samkeit eine wichtige Kernfunktion fast aller
theoretische Psychologe William James (1890) Kognitionen ist. Auch aus heutiger Sicht ste-
seine Ausführungen über die menschliche hen alle psychischen Funktionen mit Auf-
Aufmerksamkeit. Tatsächlich verfügen wir merksamkeitsprozessen in Verbindung (s. a.
noch nicht über ein kohärentes Verständnis Kap. 11). Im Folgenden wird mangels einer
der Aufmerksamkeit. Keines der vielen Mo- allgemein akzeptierten Aufmerksamkeits-
delle kann das psychische Konstrukt Aufmerk- theorie der derzeitige Kenntnisstand bezüg-
samkeit vollständig erklären. Mittlerweile lich der Aufmerksamkeit aus dem Blickwinkel
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setzt sich die Erkenntnis durch, dass der „Auf- der Neuropsychologie bzw. der Neurowissen-
merksamkeit“ kein einheitlicher Mechanis- schaften zusammenfassend dargestellt. Hier-
mus und damit auch keine einzelne definierte bei wird auf viele Detailmodelle und spezielle
anatomische Struktur zugrunde liegt. Ferner Vorstellungen (insbesondere aus der kogniti-
wird diskutiert, ob ein wissenschaftliches Kon- ven Psychologie) aus Platzgründen verzichtet.
strukt der Aufmerksamkeit überhaupt not- William James (1890) legte eine deskriptive
wendig sei oder ob „Aufmerksamkeit“ viel- Beschreibung der Aufmerksamkeit vor, die
mehr als deskriptiver Begriff diene. Insofern auch für dieses Kapitel als Einstieg dienen soll:
ist es nicht erstaunlich, dass in manchen Lehr-
büchern der kognitiven Psychologie und der „Attention is the taking possession of the mind, in
Neuropsychologie der Begriff und das Kon- clear and vivid form, of one out of what seem se-
strukt „Aufmerksamkeit“ nicht ausführlich veral simultaneously possible objects or trains of
behandelt werden. Die klinische Neuropsy- thought … It implies withdrawal from some things
chologie und die modernen kognitiven Neuro- in order to deal effectively with others.“
wissenschaften haben jedoch gezeigt, dass die
Aufmerksamkeit ein wesentliches Element Aus heutiger Sicht kann diese Definition wie
aller kognitiven Funktionen ist. folgt paraphrasiert werden: Durch die Auf-
Diese Erkenntnis wurde bereits 1755 von merksamkeit gelingt es uns, aktiv einen kleinen
dem Philosophen Georg Friedrich Meiers in Teil der Informationsmengen zu verarbeiten,
seinem Werk Anfangsgründe aller schönen Wis- die auf unser Sensorium einprasseln, die unse-
senschaften publiziert (Meiers, 1755). Im Kapi- rem Gedächtnis zur Verfügung stehen und die
tel über die Aufmerksamkeit schreibt er: Gegenstand vieler Denkprozesse sind. Diese
Definition beinhaltet drei wesentliche Aspekte:
„Wir werden aus dem folgenden gewahr werden, (1) Es wird davon ausgegangen, dass be-
daß alle übrige untere Erkenntnisvermögen, aus- grenzte Kapazitäten (für die Aufmerksamkeit
ser der Abstraktion, nichts anders sind, als be- und das Denken im Allgemeinen) vorliegen,
sondere Arten der Aufmerksamkeit; alle Regeln (2) dass infolge der begrenzten Kapazitäten
demnach, die man bey der Ausbesserung der Auf- eine Auswahl der zu bearbeitenden Infor-
merksamkeit beobachten muß, die muß man auch mationen vorgenommen werden muss und
ausüben, wenn man alle übrige Erkenntnisver- letztlich
mögen verbessern will. Wir wollen also der Natur (3) dass sich die Aufmerksamkeit nicht nur
folgen, und dasjenige Vermögen zuerst unter- auf die Wahrnehmung beschränkt, sondern
suchen, welches bey allen übrigen zum Grunde praktisch alle Denktätigkeiten betrifft.
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304 10. Aufmerksamkeit
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10.2. Bewusstsein – Aufmerksamkeit 305
beinhaltet drei Rubriken, für die jeweils Arten der neuronalen Verarbeitung im Zu-
Punkte vergeben werden: sammenhang mit dem Bewusstsein unter-
• Augenöffnung scheiden:
• beste sprachliche Antwort auf Ansprache 1) Bei einer einfachen (flachen) Feedfor-
• beste motorische (Bewegungs-)Reaktion. ward-Verarbeitung wird nur eine be-
grenzte Anzahl von Neuronen bzw. Neuro-
Die maximale Punktzahl ist 15 (bei vollem nengruppen aktiviert. Diese Aktivierungen
Bewusstsein), die minimale 3 (Tod oder tiefes sind räumlich begrenzt und können daher
Koma). Bei 8 oder weniger Punkten ist von ei- das Verhalten weder direkt noch indirekt
ner sehr schweren Funktionsstörung des Ge- beeinflussen oder erzeugen. Sie führen auch
hirns auszugehen und es besteht die Gefahr nicht zu kognitiven Prozessen, die es dem
von lebensbedrohlichen Atmungsstörungen. Menschen ermöglichen, über die Empfin-
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Die GCS wird z. B. bei der Einschätzung der dungen, Wahrnehmungen und Gedanken
Schwere eines Schädel-Hirn-Traumas, aber Auskunft zu geben. Man könnte sich dieses
auch allgemein in der Neurologie verwendet. neurophysiologische Aktivierungsmuster
Die GCS orientiert sich an einer recht ein- wie eine Art Einbahnstraße vorstellen, auf
fachen, aber medizinisch hilfreichen Defini- der sich die neuronale Aktivierung in eine
tion des Bewusstseins. Hierbei wird Bewusst- Richtung ausbreitet und dann mit der Zeit
sein als ein Wachzustand definiert, in dem wir verschwindet. Diese Verarbeitung wird
Erfahrungen machen, über die wir aus freien demzufolge nicht von bewusstwerdenden
Stücken oder auf Wunsch berichten können. Phänomenen begleitet.
Die neuronalen Grundlagen dieses Zustandes 2) Bei einer komplexeren (tiefen) Feedfor-
zu entdecken und besser zu verstehen, ist eine ward-Verarbeitung breitet sich die Akti-
der wichtigen Aufgaben der Neurowissen- vierung über weiter verteilte Hirngebiete
schaften. Bis heute ist es allerdings noch nicht und neuronale Module aus und kann auch
gelungen, ein grundsätzliches und von allen motorische Regionen und den präfrontalen
akzeptiertes Grundverständnis der neurona- Kortex erreichen. Diese neuronale Aktivie-
len Grundlagen des Bewusstseins zu ent- rung verfügt somit über das Potenzial, di-
wickeln. Es existieren allerdings einige inte- rekt eine motorische Reaktion zu erzeugen
ressante Ansätze, die an dieser Stelle kurz (oder zu hemmen) oder das Verhalten auf
thematisiert werden sollen. Wichtige Aspekte andere Weise zu beeinflussen (z. B. Pri-
der neuronalen Grundlagen des Bewusstseins ming). Potenzielle motorische Programme
sind die Prozessierungstiefe (was wiederum werden durch sie aktiviert und nicht not-
mit der Aufmerksamkeit zusammenhängt) wendigerweise ausgeführt. Da diese Akti-
und ob die neuronale Verarbeitung in einem vierungsausbreitung nur in eine Richtung
Vorwärtsmodus (Feedforward) oder auch re- (also feedforward) verläuft, bleiben die
kurrent (also wiederholt und rückwirkend) neuronalen Aktivierungen unbewusst. Stel-
erfolgt. Die Feedforward-Verarbeitung kann len Sie es sich als einen kortikalen Reflex
tief oder flach sein, und ebenso kann die wie- vor, wie wenn Sie eine Weinflasche grei-
derkehrende Verarbeitung flach und auf eine fen, die versehentlich vom Tisch fällt, oder
kleine Gruppe von neuronalen Modulen be- wenn ein Tennisprofi einen Aufschlag er-
schränkt sein oder weit verbreitet sein und widern muss, der mit 140 mph geschlagen
einen großen Teil des Gehirns, einschließlich wurde. Dies sind komplexe Aktionen, die
der „exekutiven“ Bereiche im Frontalkortex, komplexe (und wahrscheinlich kortikale)
einbeziehen. Prinzipiell kann man ggfs. vier Berechnungen erfordern. Zum Zeitpunkt
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306 10. Aufmerksamkeit
der Einleitung dieser Handlungen gibt es tive Operationen zugänglich und stehen un-
jedoch noch keine bewusste Erfahrung. ter aufmerksamer und bewusster Kontrolle.
3) Bewusste Verarbeitungen und Empfindun- Über diese Erfahrungen und Wahrnehmun-
gen entstehen erst dann, wenn die neuro- gen kann man sich dann sprachlich und mo-
nalen Aktivitäten größere neuronale Netze torisch mitteilen. Treten solche weit verteil-
aktivieren und die Aktivierungen auch re- ten Aktivierungen im Zusammenhang mit
kurrent (also wiederkehrend) erfolgen. Die externen Stimulationen auf, kann nur eine
Aktivierungen verlaufen also nicht in eine begrenzte Anzahl von Stimuli verarbeitet
Richtung, sondern kehren quasi zurück und werden (Flaschenhals der Aufmerksamkeit).
kreisen zwischen den verschiedenen neuro-
nalen Modulen. Ein Beispiel wäre, wenn der
primäre visuelle Kortex aktiviert wird und 10.3. Kontrollierte und auto-
matische Prozesse
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10.3. Kontrollierte und automatische Prozesse 307
wird auch keine Aufmerksamkeit auf die Tätig- kontrollierte Prozesse notwendig. Allerdings
keit verwendet, was ebenfalls sehr gut beim kann durch Üben auch eine schwierige Auf-
Autofahren zu erkennen ist. Gelegentlich fah- gabe subjektiv leicht und damit automatisiert
ren wir bekannte Strecken ab, ohne Einzelhei- werden. Ein Beispiel hierfür ist das Lesen, dass
ten oder gar bestimmte Gegebenheiten dieser zu Beginn des Lesenlernens ungeheuer schwer
Strecken zu erinnern. Das Beispiel des Auto- ist und kontrolliert mit viel Aufmerksamkeit
fahrens zeigt sehr eindrücklich, dass vormals durchgeführt wird. Mit größerer Übung wird
kontrollierte Prozesse durch intensives und selbst das schwierige Lesen zu einem auto-
langjähriges Üben zu automatisierten Prozes- matisierten Prozess, der uns sehr einfach er-
sen werden können. scheint. Kinder, die wenig lesen, werden dem-
Wie kontrollierte Prozesse zu automati- nach das Lesen immer als schwierig und
sierten Prozessen werden, ist nicht genau be- ressourcenraubend empfinden, weil sie durch
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kannt. Derzeit wird davon ausgegangen, dass zu wenig Üben keine Automatisierung erfah-
die Verarbeitung auf den einzelnen Stufen ren haben. Obwohl die automatisierte Tätig-
effizienter wird, z. B. durch das Zusammen- keit keiner bewussten Kontrolle bedarf, kann
fassen von Kontrollschritten. Bezogen auf das sie durch bewusste Prozesse gestartet und ge-
Autofahren könnte das bedeuten, dass das stoppt werden.
Einlegen eines Gangs durch einen einzigen Automatisierung wird häufig angestrebt,
Befehl eingeleitet wird. Dieser Befehl würde um Gefahren zu vermeiden. Zum Beispiel
dann das entsprechende Programm starten, müssen Piloten vor jedem Flug eine immer
das ohne entsprechende Rückmeldungen und wiederkehrende Prozedur durchführen, um
weitere Kontrollen abläuft. Anschließend die Sicherheit und Flugfähigkeit des Flugzeugs
würden die Armbewegungen zum Auswählen zu kontrollieren. Dies kann hilfreich sein, da
der Schalterposition, die Fußbewegungen durch die Automatisierung Tätigkeiten abge-
zum Niederdrücken der Kupplung und zur rufen werden können, die selbst in erregenden
Kontrolle der Geschwindigkeit quasi auto- Situationen erfolgreich ablaufen können. An-
matisch und koordiniert allein durch einen dererseits können Fehler auftreten, wenn au-
einzigen Befehl ausgelöst werden. Bei einer tomatisierte Prozesse für die aktuelle Situation
weniger automatisierten Kontrolle müsste je- nicht angemessen sind.
der einzelne Teilschritt durch einen Befehl ini- Solche Fehler treten leider immer wieder
tiiert und ggf. kontrolliert werden. bei Flugunfällen auf, wie in einem Fall, als Pilot
Es ist schon lange bekannt, dass durch in- und Copilot ihre Checkliste abarbeiteten und
tensives Üben kontrollierte Prozesse in auto- nicht feststellten, dass das Antigefriersystem
matisierte überführt werden können. Der ausgeschaltet war. Diese Einstellung war für
Trainingseffekt folgt allerdings einer negativ die allermeisten Flugbedingungen korrekt, nur
beschleunigten Kurve. Das bedeutet, dass er nicht zu diesem Zeitpunkt, denn es drohte ein
anfangs sehr groß ist und die Trainings- Unwetter mit Vereisungsproblemen. Weil die
gewinne mit zunehmender Trainingsdauer beiden Piloten völlig automatisiert die Check-
immer geringer werden. Ab einem bestimm- liste abarbeiteten, haben sie ihre bewussten
ten Zeitpunkt ist kein nennenswerter Trai- Kontrollmechanismen nicht genutzt, um das
ningseffekt mehr feststellbar. Antigefriersystem diesmal ausnahmsweise an-
Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass zuschalten, denn den Wetterbericht kannten
einfache Tätigkeiten schneller durch auto- sie ja. Hieran ist sehr eindrücklich zu erkennen,
matisierte Prozesse kontrolliert werden. Je dass in solchen Situationen ein ständiger
schwieriger eine Aufgabe ist, desto eher sind Wechsel zwischen bewussten und unbewuss-
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308 10. Aufmerksamkeit
von Metaphern bzw. von Metaphern der Auf- 10.4.2. Die „Spotlight“-Metapher
merksamkeit gesprochen. Eine Metapher ist in
der Psychologie eine konzeptuelle Zuord- Die „Spotlight“-Metapher wurde im Gegen-
nung von Eigenschaften, Strukturen und Be- satz zur „Filter“-Metapher überwiegend durch
ziehungen bezüglich eines bestimmten As- Experimente am visuellen System entwickelt.
pekts. Eine Metapher definiert oder konstru- Im Rahmen dieser Vorstellung wird die Auf-
iert ein bestimmtes theoretisches Konzept der merksamkeit als Scheinwerfer (Spotlight) auf-
Aufmerksamkeit. Gemäß diesem Konzept gefasst, von dem ein bestimmter Bereich in
wird festgelegt, welche Aspekte der Aufmerk- der Außenwelt angestrahlt wird, der somit im
samkeit wichtig sind. Aufmerksamkeitsmeta- Fokus der Aufmerksamkeit steht. Diese Meta-
phern sind meist wie Bilder definiert und be- pher thematisiert allerdings nicht die Anzahl
stimmen maßgeblich die Forschungsparadig- möglicher Scheinwerfer, wie sie kontrolliert
men, mit denen Aufmerksamkeitsphänomene werden, wie groß und wie homogen sie sind.
untersucht werden. Derzeit werden folgende
Aufmerksamkeitsmetaphern verwendet:
• „Filter“-Metapher 10.4.3. Die „Spotlight-in-the-brain“-
• „Spotlight“-Metapher Metapher
• „Spotlight-in-the-brain“-Metapher
• „Attention-as-vision“-Metapher. Diese Metapher ist eine Uminterpretation der
ursprünglichen „Spotlight“-Metapher. Mit ihr
wird hervorgehoben, dass Aufmerksamkeits-
10.4.1. Die „Filter“-Metapher prozesse an die Aktivität bestimmter Hirn-
gebiete gebunden sind. Während bei der ur-
Die „Filter“-Metapher wurde insbesondere sprünglichen „Spotlight“-Metapher sich der
im Zusammenhang mit der selektiven Auf- Scheinwerfer (und damit der Fokus der Auf-
merksamkeit gewählt. Hierbei geht es im We- merksamkeit) auf Objekte im visuellen oder
sentlichen um das Herausfiltern bzw. Ab- auditorischen Feld oder auf Gedanken rich-
schwächen von bestimmten Informationen, ten soll, wird im Rahmen der „Spotlight-in-
um andere Informationen bevorzugt zu ver- the-brain“-Metapher von einem „neuronalen
arbeiten. Im Rahmen der „Filter“-Metapher Scheinwerfer“ ausgegangen, der auf bestimmte
wird die Aufmerksamkeit eher als Struktur Hirngebiete „strahlt“ und damit die Aktivität in
und nicht als Prozess betrachtet. Alle frühen diesen Gebieten verstärkt, während die Aktivi-
Theorien der Aufmerksamkeit haben mit der tät in den nicht „bestrahlten“ Gebieten geringer
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10.4. Aufmerksamkeitsmetaphern und Aufmerksamkeitsinstanzen 309
wird. Unklar ist allerdings, wer bzw. welche Informationsverarbeitung hat. Allerdings
Funktion diesen neuronalen Scheinwerfer be- bleibt ungeklärt, welche Instanz diese Kon-
dient und entscheidet, welche Hirnregion „be- trolle durchführt.
strahlt“ wird. Diese Metapher ist mit aktuellen
Befunden kompatibel, die mit bildgebenden
Verfahren gewonnen wurden, die zeigten, dass 10.4.6. Bottom-up-Ansätze
die jeweiligen Hirngebiete ihre neuronale Akti-
vität steigern, wenn sie Informationen mit er- Im Rahmen dieser Modelle wird davon aus-
höhter Aufmerksamkeit verarbeiten. gegangen, dass kein ursächlicher Aufmerk-
samkeitsmechanismus vorliegt, der von „oben
herab“ die Informationsverarbeitung modu-
10.4.4. Die „Attention-as-vision“- liert. Aufmerksamkeit wird vielmehr als Be-
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310 10. Aufmerksamkeit
In der Neuropsychologie und den kognitiven In der Neuropsychologie hat sich eine Taxono-
Neurowissenschaften haben sich mehrdimen- mie von Aufmerksamkeitsfunktionen durch-
sionale Konzepte der Aufmerksamkeit durch- gesetzt, mittels derer die Aufmerksamkeit in
gesetzt. Diese Konzepte berücksichtigen mo- zwei größere Funktionsbereiche, Intensität
derne Ergebnisse aus der kognitiven Psycho- und Selektivität, eingeteilt wird. Diese Funk-
logie, der klinischen Neuropsychologie und tionsbereiche werden gelegentlich auch als
greifen auch Überlegungen älterer Theorien Dimensionen der Aufmerksamkeit aufge-
auf. Im Folgenden werden die weithin ge- fasst. Der Aufmerksamkeitsdimension Inten-
bräuchliche Taxonomie der Aufmerksamkeit sität werden die Unterfunktionen Alertness,
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10.5. Neuropsychologie der Aufmerksamkeit 311
ness vorgenommen. Während die tonische samkeit fallen. Hierunter werden „längerfris-
Aufmerksamkeitsaktivierung (tonische Alert- tige Aufmerksamkeitszuwendungen“ zusam-
ness) durch den physiologischen Zustand des mengefasst. Vigilanzleistungen werden de-
Organismus bestimmt wird, wird mit der pha- finiert als Aufmerksamkeitsleistungen, die in
sischen Alertness die plötzliche Zunahme der der Entdeckung relevanter Stimuli über lange
Aktivierung unmittelbar nach einem Warnreiz Zeitperioden (oft über Stunden) bestehen,
ausgedrückt. wobei die entscheidenden Reize typischer-
Die intrinsische Alertness beschreibt die weise nur sehr selten und in unregelmäßigen
interne und kognitive Kontrolle des Erregungs- Intervallen zwischen zahlreichen irrelevanten
• tonische Alertness: tonische Aufmerksam- rung, bei der nach bemerktem Erregungs-
keitsaktivierung, die durch den physiologi- abfall reaktiv, teilweise willentlich, die An-
schen Zustand des Organismus unter ande- spannung gesteigert wird.
rem in Abhängigkeit von der Tageszeit be-
• Vigilanz: Aufmerksamkeitsleistung, die im
stimmt ist. Die tonische Alertness umfasst
Zusammenhang mit der Entdeckung relevan-
auch die Aufmerksamkeitsaktivierung vom
ter Stimuli über lange Zeitperioden (oft über
Koma bis zur Wachheit. In der Medizin wird
Stunden) notwendig ist. Typischerweise er-
häufig (fälschlicherweise) der Begriff „Be-
scheinen die entscheidenden Reize nur sehr
wusstsein“ verwendet. Bewusstsein erfordert
selten und in unregelmäßigen Intervallen
allerdings mehr als reine tonische Alertness.
zwischen zahlreichen irrelevanten Stimuli.
• phasische Alertness: plötzliche Zunahme der Zum Beispiel monotone Fließbandarbeit kann
Aktivierung und Aufmerksamkeit unmittelbar Vigilanz erfordern.
nach einem Warnreiz. Genauer ist zwischen
• Daueraufmerksamkeit: Aufmerksamkeits-
externer oder, um mit der nächsten Alertness
leistung, die im Zusammenhang mit der Ent-
kategorie konsistent zu bleiben, von extrinsi-
deckung relevanter Stimuli über lange Zeit-
scher Alertness zu sprechen.
perioden (oft über Stunden) notwendig ist.
• intrinsische Alertness: beschreibt die interne Typischerweise erscheinen die entscheiden-
und kognitive Kontrolle des Erregungsniveaus den Reize sehr häufig und in regelmäßigen
zu einem bestimmten Messzeitpunkt. Ein Intervallen zwischen zahlreichen irrelevanten
Beispiel ist die reaktive Anspannungssteige- Stimuli.
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312 10. Aufmerksamkeit
Stimuli auftreten. Klassische Vigilanzaufga- triert man sich auf zwei mehr oder weniger
ben im Alltag sind beispielsweise die Fehler- schwere Aufgaben gleichzeitig, dann muss die
kontrolle am Fließband oder das Autofahren Aufmerksamkeit entweder alternierend zwi-
auf einer wenig befahrenen Autobahn. Wenn schen den beiden Kontrollprozessen hin- und
dagegen die Aufmerksamkeit über längere herschalten oder auf die beiden Aufgaben ver-
Zeit hinweg auf eine oder mehrere Informati- teilt werden. Muss hin- und hergeschaltet wer-
onsquellen gerichtet werden muss, wobei die den, kommt hinzu, dass man sich von der Reiz-
relevanten Stimuli in hoher zeitlicher Dichte quelle, auf die die Aufmerksamkeit aktuell ge-
aufeinanderfolgen, spricht man von Dauerauf- lenkt wird, quasi „losreißen“ muss, um sich der
merksamkeit. neuen zuzuwenden.
Mehrfachtätigkeiten erfordern in der Regel
(2) Selektivität der Aufmerksamkeit ein hohes Maß an Kontrollaufwand.
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10.5. Neuropsychologie der Aufmerksamkeit 313
gerufene Aktivität durch die gleichzeitige bzw. unterdrückt. Es findet also ein gewisses
Präsentation des Reizes B vermindert wird. Maß an Wettbewerb bereits auf der Ebene des
Man könnte auch sagen, dass Reiz B die Re- rezeptiven Feldes und der angeschlossenen
aktion des Neurons auf Reiz A vermindert Neurone statt (Abb. 10-1).
sehr effizient mit Wahlreaktionsaufgaben Wir schauen geradeaus und richten „verdeckt“
untersucht werden. Hierbei muss auf einen unsere Aufmerksamkeit nach rechts auf den
Reiz reagiert werden, während bei anderen Bürgersteig, um eventuelle Passanten zu ent-
Reizen nicht reagiert werden soll. Dies kann decken. Kurz danach richten wir die Aufmerk-
experimentell erschwert werden, indem Stör- samkeit auf die andere Seite, um vorbeifah-
reize präsentiert werden, die den Reizen, auf rende Fahrzeuge ggf. besser zu erkennen.
die reagiert werden soll, sehr ähnlich sind.
• auditorisch-räumliche selektive Aufmerk-
• visuell-räumliche selektive Aufmerksam- samkeit: Dieser Aufmerksamkeitsbereich
keit: Bei dieser Variante der selektiven Auf- beschreibt die Aufmerksamkeitsverlagerung
merksamkeit wird die Aufmerksamkeit auf von einem Ohr auf das andere. Wenn z. B. das
eine bestimmte räumliche Position gelenkt. Handy an ein Ohr gehalten wird, kann die
Dieser Aufmerksamkeitsbereich wird in der Aufmerksamkeit auf dieses Ohr verlagert
Regel mittels des Posner-Paradigmas34 reali- werden. Das andere Ohr nimmt weniger gut
siert, mit dem die Aufmerksamkeit auch ver- akustische Reize wahr. Getestet wird dieser
deckt (covert), d. h. ohne Augenbewegung auf Aufmerksamkeitsbereich mit dem dichoti-
eine bestimmte räumliche Position, fixiert schen Hörtest35, bei dem beiden Ohren simul-
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314 10. Aufmerksamkeit
tan unterschiedliche Reize präsentiert wer- onsquellen. Dies ist typischerweise der Fall
den. Die Aufgabe der Testperson besteht bei Mehrfach- bzw. Doppeltätigkeitsaufgaben.
darin, nur Informationen eines Ohrs zu er- Aufgaben zur kognitiven Flexibilität können zur
kennen und auf die Reize des anderen Ohrs Untersuchung der geteilten Aufmerksamkeit
nicht zu achten, was auch als fokussierte eingesetzt werden. Im Unterschied zur selekti-
auditorische Aufmerksamkeit (focussed at- ven Aufmerksamkeit wird bei der geteilten Auf-
tention right, focussed attention left) be- merksamkeit der Aufmerksamkeitsfokus von
zeichnet wird. Auch hier kann die Fähigkeit einer Aufgabe auf die andere verlagert oder auf
zum Wechsel von einem Ohr zum anderen verschiedene Aufgaben verteilt. Eine beson-
geprüft werden. dere Variante der geteilten Aufmerksamkeit ist
die Verteilung der Aufmerksamkeit auf beide
• geteilte Aufmerksamkeit: Dieser Aufmerk- Ohren beim dichotischen Hörtest und nicht nur
samkeitsbereich beschreibt die Verteilung auf ein Ohr wie beim dichotischen Hörtest mit
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10.5. Neuropsychologie der Aufmerksamkeit 315
20
15
10
0
Reiz A Reiz B Reiz A + B
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316 10. Aufmerksamkeit
Dieses System besteht aus eng miteinander kungen sein (Meningitis, Hirnstammtumore,
verbundenen Nervenzellen, die in der Medulla epileptische Anfälle, Hämorrhagien oder Schä-
oblongata (verlängertes Rückenmark) und im del-Hirn-Trauma). Andere mögliche Ursachen
Hirnstamm lokalisiert sind. Dieses Netzwerk sind metabolische Störungen (z. B. Kohlenmo-
projiziert über den Thalamus in den Kortex noxidvergiftungen), Vitaminmangel (z. B. Thia-
und moduliert die Aktivität des gesamten Ge- min) oder Vergiftungen (z. B. Alkohol). Bei eini-
hirns (Abb. 10-2). Das ARAS ist verantwortlich gen Komapatienten können sich die Funktio-
für die Herstellung und Aufrechterhaltung des nen des ARAS wieder verbessern und sie
allgemeinen Aktivitäts- bzw. Alertnessniveaus können in einen chronischen vegetativen Zu-
und wesentlich in die Regulation des Schlaf- stand (chronic vegetative state) übergehen. In
Wach-Rhythmus und die Kontrolle des all- diesem Fall sind einige ARAS-Funktionen noch
gemeinen Wachheitszustands eingebunden. intakt, sodass wichtige Körperfunktionen pro-
Schäden in diesem Hirnbereich oder eine Un- blemlos ablaufen. Patienten im chronisch vege-
terbrechung der Aktivitätsmodulation zum tativen Zustand zeigen einen Schlaf-Wach-
Rhythmus, erhaltene Atemfunktionen und ein
funktionierendes autonomes Nervensystem.
aufsteigendes retikuläres Sie zeigen jedoch keine Wahrnehmung für
aktivierendes System (ARAS)
Reize aus der externen Welt und nehmen des-
Kortex
halb nicht wahr, was um sie herum passiert. Sie
verfügen auch über keine Wahrnehmung ihrer
inneren Bedürfnisse, können Bewegungen
nicht bewusst beginnen oder mit der Umwelt
kommunizieren. Bei optimaler medizinischer
Versorgung können diese Patienten mehrere
Jahre lang in diesem Zustand verharren und
Kleinhirn
überleben.
Retikulärformation Einige Patienten gehen vom Koma in den
Hirnstamm
Medulla oblongata sogenannten Stupor über. Solche Übergänge
aufsteigende absteigende treten in der Regel in der Rückbildungsphase
sensorische Bahnen motorische Bahnen
von metabolisch bedingten Komazuständen
Abbildung 10-2: Das aufsteigende retikuläre Ak- auf. Auf ihrem Weg der Besserung reagieren
tivierungssystem (ARAS) mit den angeschlos- diese Patienten auf lautes Zurufen ihres Na-
senen Hirngebieten. mens oder wenn sie geschüttelt werden. Aller-
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10.5. Neuropsychologie der Aufmerksamkeit 317
dings gelingt es den Patienten nicht, zu spre- wird. Auf der nächsten Ebene der Aufmerk-
chen oder willentlich Bewegungen zu initiieren, samkeitssteuerung muss die Aufmerksamkeit
ferner fallen sie schnell wieder in einen Zu- auf ein bestimmtes Objekt oder eine be-
stand minderer Bewusstheit zurück. Grund- stimmte räumliche Position gelenkt werden.
sätzlich gilt die Regel, dass je länger die Patien- Um die Aufmerksamkeit flexibel zwischen
ten im Koma verharren, desto schlechter ist die Orten und Objekten hin und her zu schwen-
Prognose für eine spätere Heilung und voll- ken, benötigen wir die Colliculi superiores,
ständige Wiederherstellung der vollen Funk- Kerngebiete im dorsalen Teil des Mittelhirns.
tionsfähigkeit. Während früher davon aus- Gemeinsam mit den Colliculi inferiores, die
gegangen wurde, dass Komapatienten keine Teil des auditorischen Systems sind, bilden sie
Wahrnehmung haben, belegen neue bild- die Vierhügelplatte.
gebende Studien, dass sie über unbewusste Die Colliculi sind in die Kontrolle der Au-
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318 10. Aufmerksamkeit
Colliculi superiores gekennzeichnet. Die Pa- Hirngebiet wird insbesondere eine Filterfunk-
tienten, die unter dieser Erkrankung leiden, tion zugeschrieben. Patienten, die unter Läsio-
verhalten sich wie Blinde. Ihnen gelingt es nen im Pulvinar leiden, haben Probleme bei
nicht, Blickkontakt mit einem Gesprächspart- der Bindung der Aufmerksamkeit an eine be-
ner aufrechtzuerhalten, und sie können sich stimmte Position. Gleichzeitig gelingt es ihnen
nicht demjenigen zuwenden, der ihnen ent- auch weniger gut, Informationen an anderen
gegenkommt. Selbst beim Essen gleitet ihr Positionen zu filtern. In Untersuchungen an
Blick von ihrem Teller fort. Das wesentliche Primaten konnte die Funktion des Pulvinars
Problem dieser Patienten besteht darin, dass sehr gut herausgearbeitet werden. Injiziert
sie ihren Blick nicht von einem Ort zum nächs- man eine chemische Substanz (Muscimol; ein
ten lenken können. GABA-Agonist, der die Aktivität hemmt) in das
Bislang wurden nur die Colliculi superiores Pulvinar, so erkennen die Affen an dem Ort, an
als wichtige Kontrollstation für die gerichtete dem sie eine visuelle Information erwarten,
Aufmerksamkeit thematisiert. Die Colliculi die präsentierten Objekte wesentlich schlech-
inferiores sind ebenfalls in die Aufmerksam- ter als im unbehandelten Zustand. Das bedeu-
keitskontrolle eingebunden, allerdings mehr
im Zusammenhang mit der Aufmerksam-
keitsausrichtung bei auditorischen Reizen. intralaminare Kerne
mediodorsale Kerne
Sehr wahrscheinlich wird die räumliche Aus- anteriore Kerne
Thalamus retikuläre
Kerne
Pulvinar
Von den vielen Kerngebieten des Thalamus
sind in die Aufmerksamkeitskontrolle ins-
centromediane Kerne
besondere die intralaminaren Kerne, das me- Corpus Corpus
diodorsale Kerngebiet, die retikulären Kerne geniculatum geniculatum
laterale mediale
und das Pulvinar eingebunden (Abb. 10-3). Bis
auf das Pulvinar sind diese Kerngebiete an der Abbildung 10-3: Der Thalamus mit den Kern-
Kontrolle des Schlaf-Wach-Rhythmus beteiligt gebieten, die für die Aufmerksamkeitskontrolle
und arbeiten demzufolge eng mit dem ARAS wesentlich sind.
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10.5. Neuropsychologie der Aufmerksamkeit 319
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320 10. Aufmerksamkeit
• Bei Läsion dieses Gebietes kann die P300- Wort zu benennen. Insofern muss die Ver-
Komponente nicht mehr evoziert werden. suchsperson das Lesen des Wortes „blau“ un-
Je mehr Aufmerksamkeit eine Person einer terdrücken und die Farbe „rot“ benennen. Der
Aufgabe oder einem Reiz willentlich zu- Impuls, das Wort zu lesen und nicht die Farbe
wendet, desto größer ist die Amplitude der zu benennen, ist darin begründet, dass in un-
P300-Komponente. serer Kultur Lesen derart überlernt ist, dass
wir automatisch und spontan lesen „müssen“.
Insgesamt kann festgehalten werden, dass der
Aktivität im vorderen Cingulum ist nicht
Parietallappen mit seinen verschiedenen Un-
nur zu finden, wenn Konflikte gelöst werden
terstrukturen eine wichtige Schaltzentrale für
müssen, sondern auch dann, wenn schwierige
die Aufmerksamkeitskontrolle darstellt.
Aufgaben zu lösen sind, die viele Lösungs-
möglichkeiten bieten. Einige Autoren gehen
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10.6. Neurophysiologie der Aufmerksamkeit 321
Präfrontalkortex
temporoparietaler
Übergang
präfrontaler Pol
Thalamus
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Pulvinar
Colliculi superiores
Abbildung 10-4: Darstellung der Hirnregionen, die in die Aufmerksamkeitskontrolle eingebunden sind.
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322 10. Aufmerksamkeit
rer) auf diese Silben gemessen wurde (Jancke Gleichzeitig handelte es sich auch noch um
et al., 1999b). Diese Beschallung erfolgte im eine sogenannte Go-/No-go-Aufgabe. Das
Rahmen von drei unterschiedlichen Versuchs- bedeutet, dass nur bei einem ganz bestimmten
bedingungen. In einer Versuchsbedingung Reiz eine Reaktion erforderlich war, während
waren die Versuchspersonen angehalten, eine andere Reize (auch wenn sie dem Zielreiz sehr
bestimmte Silbe (in diesem Fall /ta/) zu er- ähnlich waren) keine Reaktionen erforderten.
kennen und beim Erkennen eine Reaktions- In einer zweiten Bedingung sollten die Pro-
taste zu drücken (Signalerkennung). Bei Prä- banden lediglich aufmerksam auf die Silben
sentation der anderen Silben sollten die Ver- achten. Es wurde keine Reaktion und auch
suchspersonen nicht reagieren. Insofern han- keine Erkennungsaufgabe von den Versuchs-
delte es sich um eine Aufgabe, bei der die personen verlangt (passives aufmerksames
selektive Aufmerksamkeit gefordert war. Zuhören). Diese Aufgabe erforderte tonische
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BA 41/42
4.0
linke Hemisphäre rechte Hemisphäre
3.5
Signalzunahme (%)
3.0
2.5
2.0
1.5
41/42
22 1.0
A) B) C) A) B) C)
0.5
BA 22
2.5
linke Hemisphäre rechte Hemisphäre
2.0
Signalzunahme (%)
1.5
1.0
A) ignorieren
B) aufmerksames Zuhören
C) selektive Aufmerksamkeit 0.5
A) B) C) A) B) C)
0.0
Abbildung 10-5: Ergebnisse aus dem Experiment von Jäncke et al. (1999). Die Versuchspersonen hörten
sechs unterschiedliche Silben und waren instruiert, die Silben entweder zu ignorieren, ihnen passiv zu-
zuhören und eine bestimmte Silbe zu entdecken. Man erkennt, dass die Hirnaktivität im auditorischen
Kortex (BA 41/42 und 22) am geringsten war, wenn die Versuchspersonen die Reize ignorieren sollten.
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10.6. Neurophysiologie der Aufmerksamkeit 323
BOLD-Reaktion
kundären (BA 22) auditorischen Kortex ge-
Hirnaktivität
4
messenen Aktivitäten variierten allerdings
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324 10. Aufmerksamkeit
Elektrode
Spannung (mV)
Lautsprecher 0
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Abbildung 10-7: Typisches Beispiel für die Abhängigkeit der N1-Amplitude des auditorisch evozierten
Potenzials von der Aufmerksamkeit. Das hier dargestellte auditorisch evozierte Potenzial wurde am
Vertex (oben auf dem Schädel) abgeleitet. Die gestrichelte Linie repräsentiert das auditorisch evozierte
Potenzial auf Reize, die nicht aufmerksam beachtet werden. Die durchgezogene Linie repräsentiert das
evozierte Potenzial auf Reize, die aufmerksam beachtet wurden.
Abbildung 10.8: Beispiel für aufmerksamkeitsabhängige neuronale Aktivitäten im visuellen Kortex. Bei
Beachtung des linken Gesichtsfeldes und Präsentation des Reizes im beachteten Feld ist die neuronale
Aktivität im rechten (kontralateralen) visuellen Kortex stärker als bei Fokussierung der Aufmerksamkeit
auf das rechte Gesichtsfeld.
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10.6. Neurophysiologie der Aufmerksamkeit 325
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326 10. Aufmerksamkeit
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10.6. Neurophysiologie der Aufmerksamkeit 327
rend der Reizpräsentation eine Alpha-Syn- Hirngebiete ausbreitete. Das bedeutet, dass
chronisation. die Kohärenz (also die Verbundenheit) der
Wenn Aufmerksamkeit und Konzentration Hirngebiete mit zunehmender Wachheit und
weiter abnehmen und man einen entspannten, wahrscheinlich Aufmerksamkeit zunimmt
leicht dösigen Zustand erreicht, nimmt die (Massimini et al., 2005).
Energie im Theta-Band zu (Theta-Synchro-
nisation). Bei Einnahme von Benzodiazepi-
nen oder unter Alkohol reduziert sich die Ener- 10.6.3. Neurochemie der
gie im Alpha- und Beta-Band noch stärker und Aufmerksamkeit
es ist vermehrt Delta-Aktivität (0,5–3,5 Hz) zu
beobachten (Alpha- und Beta-Desynchronisa- Verschiedene Neurotransmittersysteme sind
tion sowie Delta-Synchronisation). Im Übrigen an der Modulation der Aufmerksamkeit bzw.
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nimmt die Energie im Delta-Band im Schlaf, der unterschiedlichen Teilaspekte der Auf-
unter Hypnose, in Trance, während sexueller merksamkeit beteiligt. Die wichtigsten sind
Erregung und bei der Verarbeitung neuer, aber das noradrenerge, das serotonerge und das
wichtiger Reize zu. cholinerge System.
Auch die hochfrequenten Oszillationen im
Gamma-Band (30–100 Hz) reagieren im Zu-
Noradrenerges System
sammenhang mit Aufmerksamkeitsprozes-
sen. Obwohl in diesem Kapitel die einzelnen Die Bedeutung des noradrenergen Systems
Frequenzbänder separat beschrieben wur- für die Regulation der Aufmerksamkeit ist an
den, ist es wahrscheinlich, dass diese Oszilla- der Noradrenalinfreisetzung während gestei-
tionen im Zusammenhang mit verschiedenen gerter Aufmerksamkeit und im wachen Zu-
kognitiven Prozessen interagieren. Wichtig stand zu erkennen. Während des REM-Schlafs
ist wahrscheinlich, dass Oszillationen in den nimmt die Aktivität in diesem System und da-
unterschiedlichen Frequenzbereichen in ver- mit auch die Noradrenalinfreisetzung ab. Das
schiedenen miteinander verbundenen Hirn- noradrenerge System umfasst Kerngebiete im
gebieten gemeinsam, also kohärent, oszillie- Hirnstamm mit efferenten Einflüssen zum
ren. Dies konnte die Arbeitsgruppe um Giulio Thalamus, limbischen System und Kortex. Im
Tononi sehr eindrücklich mittels transkra- Hirnstamm (genauer im Rhombencephalon)
nieller Magnetstimulation (TMS) und gleich- befindet sich als wichtiges Kerngebiet dieses
zeitiger Ableitung des EEG zeigen. Die Wis- Systems der Locus caeruleus (auch Locus
senschaftler konnten nachweisen, dass mit coeruleus). Dieser noradrenalinhaltige Kern-
steigendem Grad der Wachheit und Auf- komplex liegt im dorsalen Tegmentum etwas
merksamkeit die Kohärenz (als die korrelierte vor den Colliculi inferiores und erstreckt sich
Aktivität) der Hirnaktivität zunimmt. Hierzu bis zum vierten Ventrikel. Wichtige Verbin-
haben sie den Versuchspersonen während des dungen des Locus caeruleus sind der dorsale
Non-REM-Schlafs einen TMS-Puls über dem tegmentale und der dorsale periventrikuläre
Prämotorkortex appliziert und die elektri- Weg. Der dorsale tegmentale Weg begleitet
sche Aktivität des Gehirns gemessen. Hiermit das mediale Vorderhirnbündel durch den
konnten sie zeigen, dass sich die durch den kaudalen und lateralen Hypothalamus bis
TMS-Puls evozierte Aktivität nicht nennens- zum basalen Vorderhirn und zum Kortex. Der
wert im Gehirn ausbreitete. Anders war es im zweite Weg projiziert in den dorsalen Thala-
entspannten Wachzustand, in dem sich die mus und in verschiedene hypothalamische
evozierte Hirnaktivität über weiter entfernte Zentren.
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328 10. Aufmerksamkeit
Locus caeruleus
Serotonerges System
serotonerges System Ein wichtiges Kerngebiet des serotonergen
Systems, die Raphekerne, liegt im Stamm-
hirn zwischen der Medulla oblongata und dem
Mesencephalon. Die serotonergen Nerven-
bahnen dieses Kernkomplexes verteilen sich
im ganzen Gehirn. An ihren Enden wird Sero-
tonin ausgeschüttet. Ein bestimmter Bereich
der Raphekerne (die sogenannte hypnogene
Zone) ist zuständig für die Auslösung des syn-
chronen Schlafs, seine Zerstörung führt zu
Raphekerne völliger Schlaflosigkeit. Oft wirken diese sero-
tonergen Einflüsse antagonistisch zum norad-
Abbildung 10-10: Schematische Darstellung der
renergen System. Postsynaptisch wirkt Sero-
verschiedenen Transmittersysteme, die an der Re-
tonin hemmend. Die Raphekerne beeinflussen
gulation der Aufmerksamkeit beteiligt sind.
durch weit verzweigte Efferenzen global das
Gehirn. Diese „verteilte“ Beeinflussung ist
In Tierversuchen ist die elektrische Aktivi- wahrscheinlich wichtig, um eine Aktivitäts-
tät des LC im Zusammenhang mit verschiede- umverteilung im Gehirn im Zusammenhang
nen Wachheitsstadien untersucht worden. Bei mit unterschiedlichen Wachheitszuständen
Wachheit ist die Aktivität im LC erhöht und (z. B. Schlaf) vorzunehmen. Unter Stress nimmt
während des Schlafs nimmt sie ab. Diese Ak- die Ausschüttung von Serotonin zu, während
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10.7. Zeitlicher Verlauf von Aufmerksamkeitsprozessen 329
sie im Stamm- und Zwischenhirn vermindert führt haben. Diese Verhaltensänderung ist mit
ist. Diese Aktivitätsumverteilung könnte der einer reduzierten Durchblutung in verschiede-
Grund dafür sein, dass unter Stress schnellere, nen Hirngebieten im Frontal- und Parietallap-
wenn auch weniger durchdachte Reaktionen pen assoziiert (rechtsseitig im Gyrus angularis
ausgelöst werden können. und Gyrus frontalis medius, linksseitig im
Derzeit wird diskutiert, ob Depressionen, Sulcus intraparietalis und im Precuneus). Ne-
bipolare und Angststörungen mit einem Sero- ben dieser Aktivitätsreduktion kann gelegent-
toninmangel zusammenhängen bzw. durch lich auch eine Aktivitätszunahme im rechts-
einen solchen verursacht werden. Sicher ist, seitigen Gyrus temporalis superior beobachtet
dass die Depressions- und Angstsymptomatik werden. Insgesamt ist festzuhalten, dass Ni-
durch eine Erhöhung des Serotoninspiegels kotin insbesondere das Alerting-System (im
deutlich gelindert werden kann. Gelegentlich Sinne des Modells von Corbetta und Shulman,
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330 10. Aufmerksamkeit
rend der ersten 100 ms nach Reizpräsenta- visuellen Reiz beobachtet werden und wird
tion negativer als die evozierten Potenziale neuronalen Aktivitäten des primären visuel-
auf die nicht beachteten Reize. Berechnet len Kortex zugeordnet. Diese Komponente
man für diese beiden evozierten Potenziale reagiert nicht auf Aufmerksamkeitsvariatio-
ein Differenzpotenzial, erhält man die so- nen. Obwohl einige fMRT-Untersuchungen
genannte negative Differenz-Komponente Aktivitätsveränderungen im primären visuel-
(Nd; Abb. 10-11). Ähnliche Effekte können len Kortex im Zusammenhang mit Aufmerk-
auch für visuell evozierte Potenziale ermittelt samkeitsvariationen erbracht haben (Jancke et
werden (Abb. 10-9). Insgesamt belegen diese al., 1999a), bedeutet dies nicht, dass auch tat-
Befunde, dass die Aufmerksamkeit bereits sächlich schon auf der frühen Stufe der Infor-
sehr früh ihren Einfluss entfalten kann. mationsverarbeitung im primären visuellen
Im visuellen System ist vor dem P1-N1- Kortex Aktivitätsmodulationen aufgrund der
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N1 Beachtetes Ohr
nicht beachtetes Ohr
N1
– –
P2 P2
3 µV 3 µV
Abbildung 10-11: Modulation früher Komponenten des evozierten Potenzials. Das Potenzial ist größer,
wenn es durch einen Reiz evoziert wird, der dem beachteten Ohr präsentiert wird. Bitte beachten Sie,
dass in diesem Versuch das linke und rechte Ohr simultan beschallt wurden, aber die Aufmerksamkeit
je nach Versuchsbedingung nur auf das linke oder rechte Ohr gerichtet wurde. Besonders hervorgehoben
sind die Komponenten N1 und P2. Links sind die evozierten Potenziale für Reize dargestellt, die dem
linken beachteten Ohr präsentiert wurden. Rechts erkennt man die evozierten Potenziale für Reize, die
dem rechten beachteten Ohr dargeboten wurden. Die durchgezogene Linie repräsentiert die evozierten
Potenziale, die man bei Aufmerksamkeitslenkung auf das beachtete Ohr erhält. Die gestrichelte Linie
stellt das evozierte Potenzial dar, dass man bei Aufmerksamkeitslenkung auf das nicht beachtete Ohr
erhält. Die Differenz zwischen der durchgezogenen und gestrichelten Linie um die N1 wird als Nd-Kom-
ponente bezeichnet. Die aufmerksamkeitsabhängige Differenz der evozierten Potenziale beginnt bereits
in den ersten 100 ms.
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10.8. Neurophysiologie bewusster und reflexiver Aufmerksamkeitssteuerung 331
Ein kombiniertes EEG- und fMRT-Experiment plituden, die bei mehrfacher Präsentation des
von Noesselt et al. (2002) konnte zeigen, dass jeweiligen Reizes immer kleiner werden (Habi-
die Aufmerksamkeitsmodulation im primären tuation). Auch die späteren Komponenten, die
visuellen Kortex ca. 200 ms nach Reizbeginn mit komplexen kognitiven Operationen in Zu-
erfolgt. Insofern handelt es sich hierbei nicht sammenhang gebracht werden (z. B. N400 in-
um eine Aufmerksamkeitsmodulation auf frü- diziert semantische Integration; P600 indiziert
her Verarbeitungsstufe, sondern wahrschein- Prozesse im Zusammenhang mit dem verbalen
lich um eine Rückkopplung aus übergeord- episodischen Gedächtnis), reagieren stark auf
neten extrastriären Hirngebieten zum primä- Aufmerksamkeitsmodulationen.
ren visuellen Kortex.
Die Aufmerksamkeit wird zwar relativ früh,
10.8. Neurophysiologie
aber in der Regel erst in den sekundären Area-
bewusster und reflexiver
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332 10. Aufmerksamkeit
Zeit in ms
B) N1 N1
kurzes ISI langes ISI
–
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+
P1
+
P1
Abbildung 10-12: Evozierte Potenziale, die durch Hinweisreize moduliert werden. (A) Die spezifische Art
der Modulation hängt entscheidend von dem Interstimulusintervall (ISI) zwischen dem Hinweisreiz und
dem Reiz ab, der das evozierte Potenzial auslöst. (B) Ist das ISI kurz (in etwa 100–200 ms), dann ist die
P1-Amplitude des visuell evozierten Potenzials in der Bedingung mit dem Hinweisreiz deutlich vergrö-
ßert. Ist das ISI länger als 200 ms, ist die P1-Amplitude in der Bedingung mit dem Hinweisreiz kleiner;
gleichzeitig ist aber die N1-Amplitude größer als in der Bedingung ohne Hinweisreiz.
ten entscheidend verantwortlich ist. Bei kur- Reaktionszeitverlängerung wird darauf zu-
zen ISI zwischen Hinweis- (auch Warnreiz) rückgeführt, dass nun Top-down-Einflüsse
und Zielreiz sind die Reaktionszeiten sehr ihre Wirkung entfalten, um zu verhindern,
schnell und v. a. schneller als ohne Hinweis- dass die Aufmerksamkeit zu lange auf einen
reiz. Bei langen ISI werden die Reaktionszei- bestimmten Ort gerichtet ist. Wenn am beach-
ten langsamer als ohne Hinweisreize.36 Diese teten Ort kein wichtiger Reiz erscheint, dann
wäre das ja Ressourcenverschwendung, denn
es ist dann sinnvoller, die Aufmerksamkeit auf
36 Dieses Phänomen wird auch als Inhibition of
andere Positionen zu richten. Diese Befunde
Return bezeichnet. Damit soll zum Ausdruck ge-
sind sehr gut mit der „Spotlight“-Metapher der
bracht werden, dass die Aufmerksamkeit sich vom
Initialort der Aufmerksamkeitsfokussierung zu an- Aufmerksamkeit kompatibel. Die Aufmerk-
deren Positionen verlagert und die Rückkehr an den samkeit kann automatisch oder willentlich auf
Initialort gehemmt wird. einen bestimmten Ort gelenkt werden und da-
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10.9. Aufmerksamkeitsmodelle 333
mit die Verarbeitung der dort erscheinenden erscheint ein interessanter Reiz. Das Aufmerk-
Zielreize verbessern. samkeitsnetzwerk wird zunächst veranlassen,
dass die Aufmerksamkeit vom gerade beachte-
ten Reiz „losgerissen“ wird (disengage). Dann
10.9. Aufmerksamkeits- muss sich die Aufmerksamkeit auf den neuen
modelle Reiz ausrichten (move und shift). Dies kann
durch Augen- und Kopfbewegungen, aber
10.9.1. Aufmerksamkeitsmodell auch verdeckt erfolgen. Im letzten Stadium
nach Posner muss sich die Aufmerksamkeit auf den neuen
Reiz ausrichten und sich auf ihn „fokussieren“
Posner und Petersen (1990) haben ein Auf- (engage). Alle drei Prozesse sind aufwendig
merksamkeitsmodell vorgeschlagen, das auf und erfordern kognitive Ressourcen.
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334 10. Aufmerksamkeit
Tabelle 10-3: Aufmerksamkeitsmodell von Posner inklusive der beteiligten Hirnstrukturen und der je-
weiligen Aufmerksamkeitsfunktionen
Zustands
exekutives Netzwerk Bereitstellung und • vorderes Cingulum
Kontrolle von Willenshandlungen • lateraler Präfrontalkortex
• Orbitofrontalkortex
• Basalganglien
• Thalamus
lamus und besonders das Pulvinar eingebun- Studien an neurologischen Patienten haben al-
den. Diese Strukturen unterstützen das Filtern lerdings ergeben, dass Störungen im „Losrei-
und Sortieren wichtiger Informationen. Dieses ßen“ der Aufmerksamkeit oft dann auftreten,
Orientierungssystem ist nicht nur aktiv, wenn wenn Läsionen im Übergangsbereich zwi-
Augenbewegungen vom alten Reiz zum neuen, schen dem Temporal- und dem Parietallappen
aufmerksamkeitsfordernden Reiz stattfinden, vorliegen, insbesondere dann, wenn die zu be-
sondern auch dann, wenn die Aufmerksamkeit achtenden Reize neu sind. Läsionen im Be-
„verdeckt“, also ohne Augenbewegungen er- reich des Lobulus parietalis superior sind eher
folgt. Diese Form der Aufmerksamkeitsver- mit Problemen der bewussten Aufmerksam-
schiebung muss man sich ungefähr so vorstel- keitsverschiebung verbunden, wenn die Auf-
len: Nehmen wir mal an, Sie würden mit Ihrem merksamkeit nach der Präsentation von Hin-
Auto eine belebte Straße entlangfahren. Ihre weisreizen verschoben werden soll. Auch die
Augen sind nach vorne auf die Straße gerich- visuelle Suche nach Reizen im Raum ist bei
tet. Sie wissen allerdings, dass auf dieser diesen Läsionen erheblich gestört. Neuere
Straße gelegentlich Kinder auf dem Bürger- Arbeiten belegen auch, dass das hintere Ori-
steig spielen. Insofern sind Sie innerlich vorge- entierungssystem durch den Neurotransmit-
warnt, dass von rechts Gefahr drohen könnte. ter Acetylcholin (ACh) vermittelt wird. ACh
Ihre Aufmerksamkeit hat sich innerlich, also wird im Nucleus basalis (in der Nähe des Nu-
verdeckt, nach rechts orientiert. Wenn nun tat- cleus accumbens) gebildet und innerviert
sächlich ein Kind von rechts kommend auf die weite Teile des Kortex und auch den Parietal-
Straße läuft, werden Sie schneller reagieren, lappen. Läsionen des Nucleus basalis führen
als wenn ein Kind von links erscheinen würde. zu Störungen des „Losreißens“ von einem
Posner postuliert in seinen frühen Arbeiten, Reiz im ipsiläsionalen Gesichtsfeld (auf der
dass für das „Losreißen“ insbesondere der Lo- gleichen Seite, wo der lädierte Nucleus basa-
bulus parietalis superior verantwortlich sei. lis liegt) und zu Problemen der „Aufmerk-
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10.9. Aufmerksamkeitsmodelle 335
samkeitsverlagerung“ auf die andere (kontra- schiedliche Aspekte der Aufmerksamkeit kon-
läsionale) Seite und des dortigen „Anbindens“ trollieren sollen und in unterschiedlichen
an den neuen Reiz. Hirngebieten lokalisiert sind. Diese vier Mo-
dule sind wechselseitig miteinander verknüpft
(Abb. 10-13):
Vigilanz-Alertness-Netzwerk
• Das Arousal-System zur Bereitstellung der
Für Posner und Petersen ist das Vigilanznetz- grundsätzlichen Aktivierung. Es entspricht
werk für die Generierung und Aufrechter- neuroanatomisch und funktionell dem be-
haltung des „Grundaktivierungsniveaus“ bzw. reits dargestellten ARAS.
der „Grundreaktionsbereitschaft“ verant- • Das sensorische Repräsentationssystem
wortlich. Sie gehen davon aus, dass das Mit- im Parietallappen. Dieses Modul soll die
telhirn und rechtshemisphärische kortikale sensorischen Informationen der Umwelt
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Areale (v. a. der rechtsseitige Präfrontalkortex) integrieren und mental repräsentieren. Ins-
hierfür spezialisiert sind. Ein wichtiger Trans- besondere der obere Teil des Parietallap-
mitter in diesem Netzwerk ist das Noradre- pens (Lobulus parietalis superior) wird als
nalin (Kap. 10.6.). anatomische Struktur vorgeschlagen, wel-
che die entsprechenden neuronalen Netz-
werke enthalten soll.
Exekutives Netzwerk
• Das motorische Kontrollsystem im Fron-
Dieses System wird auch als anteriores Netz- talkortex. Dieses System (inklusive des fron-
werk bezeichnet und ist in die selektive Ent- talen Augenfelds) soll die motorischen Pro-
deckung sensorischer und semantischer Ereig- gramme zur Verfügung stellen, mit denen
nisse involviert. Es übernimmt des Weiteren gemäß der Aufmerksamkeitsanforderun-
eine wichtige Funktion bei der willentlichen gen die Umwelt exploriert, abgetastet und
Aufmerksamkeitskontrolle. Zu diesen Kon- fixiert wird. Im Frontalkortex werden auch
trollprozessen werden Inhibition, Aufgaben- die Augenbewegungen gemäß der Auf-
wechsel, Konfliktlösung, Ressourcenzuteilung merksamkeitsanforderungen kontrolliert.
und Planungsprozesse gezählt. Anatomisch • Das Motivationssystem im anterioren Gy-
werden diesem Netzwerk Teile des mittleren rus cinguli. Dieses Modul ist für die Ver-
präfrontalen Kortex (v. a. das anteriore Cingu- arbeitung der motivationalen Bedeutung der
lum, ACC) sowie die supplementärmotori- wahrgenommenen Reize verantwortlich.
schen Felder zugeordnet. Auch eine Betei-
ligung der Basalganglien und des Thalamus Wie oben erwähnt, bestehen zwischen den ge-
wird diskutiert. Die zentrale Struktur ist aller- nannten Strukturen Wechselwirkungen. Die
dings das anteriore Cingulum. sensorische Repräsentation in den parietalen
Regionen ist beispielsweise Grundlage für die
Koordination von explorativen Bewegungen.
Aus diesen Bewegungen werden Informatio-
10.9.2. Aufmerksamkeitsmodell nen gewonnen, die sich wiederum auf die sen-
nach Mesulam sorische Repräsentation auswirken. Motiva-
tionale Vorgänge greifen direkt in die vorher
Der Neurologe Marsel Mesulam (1981) hat im genannten Prozesse ein. Große Unterschiede
Rahmen mehrerer Publikationen ein eige- zum oben genannten Modell von Posner sind
nes Aufmerksamkeitsmodell vorgelegt. Die- nicht zu identifizieren. Für die räumliche Auf-
ses Modell sieht vier Module vor, die unter- merksamkeit sind nach Mesulam ebenfalls die
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336 10. Aufmerksamkeit
Parietallappen Frontallappen
Lobulus parietalis superior dorsaler Präfrontalkortex
Lobulus parietalis inferior ventraler Präfrontalkortex
Thalamus/Striatum
motivationale Repräsentation
Gyrus cinguli
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ARAS
Erregung/Arousal
parietalen und cingulären Strukturen von Be- einer großen Gruppe von gesunden Kontroll-
deutung, was sich mit dem Modell von Posner personen und psychiatrischen Patienten zur Be-
und Petersen deckt. Auch die Bedeutung des arbeitung vorgelegt. Die Testresultate wurden
Gyrus cinguli für die Target-Entdeckung kann statistischen Analysen unterzogen und vier
mit der Bedeutung der cingulären Strukturen Grundfaktoren konnten identifiziert werden.
für die motivationale Bedeutungsgebung in Diese Grundfaktoren nennt Mirsky „Grundele-
Einklang gebracht werden. mente der Aufmerksamkeit“ (elements of at-
tention). In seiner ersten Publikation hat er vier
Elemente erwähnt, kürzlich wurde ein fünftes
10.9.3. Aufmerksamkeitsmodell Element (stable) hinzugefügt. Allerdings weist
nach Mirsky dieses Element sehr viele Gemeinsamkeiten
mit dem dritten Element auf, sodass im Folgen-
Allan F. Mirsky (1996) hat ein Aufmerksam- den nur die vier ursprünglichen „Elemente der
keitsmodell vorgelegt, das im Wesentlichen Aufmerksamkeit“ dargestellt werden:
empirisch-deskriptiv mittels der Analyse von 1. Focus-execute: Dieses Element beschreibt
neuropsychologischen Testbefunden heraus- das Fokussieren und Anwenden (Exekutie-
gearbeitet wurde. Hierzu hat er eine neuropsy- ren) der Aufmerksamkeit. In der bislang in
chologische Testbatterie verwendet und diese diesem Kapitel verwendeten Terminologie
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10.9. Aufmerksamkeitsmodelle 337
gehören die selektive Aufmerksamkeit und Mirskys Modell ist insbesondere für den kli-
die mit der Aufmerksamkeit verbundene nischen Alltag, und hier v. a. im Zusammen-
Handlungskontrolle zu diesem Aufmerk- hang mit der Funktionsbeschreibung von psy-
samkeitselement. chiatrischen und neurologischen Patienten,
2. Shifting attention: Dieses Element be- von Bedeutung, v. a. da er Standardtests ge-
schreibt den Wechsel bzw. die Verlagerung nutzt hat, die quasi in allen (zumindest in US-
der Aufmerksamkeit von einem Ort/Ge- amerikanischen) Kliniken genutzt werden.
genstand zum anderen. Des Weiteren hat Mirsky intensiv psychiatri-
3. Sustained attention: Hiermit ist die sche und neurologische Patienten untersucht,
Daueraufmerksamkeit (inkl. der Vigilanz) sodass er typische „Aufmerksamkeitsprofile“
gemeint. Dieses Aufmerksamkeitselement bestimmter Patientengruppen herausarbeiten
soll die notwendigen Ressourcen zur Ver- konnte. Kritisch anzumerken ist allerdings,
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fügung stellen, um über längere Zeiträume dass die von ihm vorgenommenen Zuordnun-
aufmerksam zu sein. gen der einzelnen Aufmerksamkeitselemente
4. Encode attention: Hiermit beschreibt Mir- zu Hirngebieten angesichts neuerer Befunde
sky die Fähigkeit, Informationen kurzzeitig zu grob sind. Die einzelnen Elemente können
im Gedächtnis zu halten, während gleich- gemäß Mirsky mit folgenden neuropsycho-
zeitig andere verarbeitet werden, die in Be- logischen Tests untersucht und bestimmten
zug zu den gespeicherten Informationen Hirngebieten zugeordnet werden:
stehen. Wie wir später sehen werden, wird
dieses Aufmerksamkeitselement heute
eher dem Arbeitsgedächtnis zugeordnet.
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338 10. Aufmerksamkeit
Systemen vor, einem dorsalen und einem Reize aktiviert wird und quasi als „Abschalter“
ventralen Aufmerksamkeitssystem. für das Top-down-System dient. Das „Ab-
Das dorsale Aufmerksamkeitssystem, schalten“ soll durch enge Verbindungen zwi-
das insbesondere den Lobulus parietalis su- schen IPL und TPJ erfolgen. Der ventrale Prä-
perior (superior parietal lobule, SPL), den Sul- frontalkortex soll in die Evaluation neuer
cus intraparietalis (intraparietal sulcus, IPS) Reize und in Verhaltenssimulationen ein-
und das frontale Augenfeld (frontal eye field, gebunden sein. Obwohl in der Publikation
FEF) umfassen soll, ist in die Top-down-Kon- wörtlich der Begriff des „Abschalters“ (circuit
trolle der Aufmerksamkeit eingebunden. Die- breaker) benutzt wurde, um deutlich zu ma-
ses System soll bilateral angelegt sein und eine chen, dass das Bottom-up-System durch Reize
zielgerichtete Reiz-Reaktions-Auswahl bereit- „getrieben“ den Top-down-Mechanismus un-
stellen. Es weist viele Gemeinsamkeiten mit terbrechen kann, wird von den Autoren aus-
Mesulams frontalem und parietalem System drücklich betont, dass zwischen beiden Syste-
auf. Obwohl Corbetta und Shulman explizit men intensive Wechselwirkungen vorliegen.
das frontale Augenfeld als wesentliches fron- So soll das Top-down-System sogar das Bot-
tales Hirngebiet für die Top-down-Kontrolle tom-up-System mit Informationen über die
hervorheben, muss davon ausgegangen wer- mögliche Relevanz der eintreffenden Reize
den, dass auch andere frontale Hirnbereiche in versorgen. Auf diese Art und Weise kann z. B.
diese Kontrolle eingebunden sind. Insbeson- die gelernte Bedeutung von Reizen in das ven-
dere dorsale prämotorische Hirngebiete, die trale System „einfließen“.
an der Bewegungsplanung beteiligt sind, müs- Zusammengefasst wird in diesem Modell
sen zum Top-down-System hinzugezählt wer- ein ventrales von einem dorsalen System un-
den. Die grundsätzliche Bedeutung dieses terschieden (Abb. 10-14). Das ventrale System
Systems ist es, die sensorischen Repräsenta- fungiert als ein reizgetriebenes Bottom-up-
tionen der Umwelt mit den motorischen Re- System, das man auch als Alerting-System
präsentationen, die für die Handlungsausfüh- bezeichnen könnte. Wichtige Reize (biologisch
rung wichtig sind, zu verbinden. Der Grund wichtige Reize und Reize, die durch Lernen
dafür, dass Corbetta und Shulman das frontale wichtig geworden sind) erregen automatisch
Augenfeld besonders hervorheben, ist, dass in Aufmerksamkeit und werden in diesen ven-
den meisten Untersuchungen mit dem Posner- tralen Strukturen verarbeitet. Die Realisie-
Paradigma oder vergleichbaren Varianten von rung von zielgerichteten Verhaltensweisen
Aufgaben gearbeitet wurde. In diesen Unter- erfordert die Wirksamkeit des Top-down-
suchungen kann man häufig Aktivierungen im Systems.
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10.10. Aufmerksamkeitsstörungen 339
TPJ VFC
(IPL/STG) (IFg/MFg)
Top-down-Kontrolle
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L VFC R VFC
Stimulus-
antwort- «Stromkreisunterbrecher»
Selektion
Verhaltensvalenz
visuelle Areale
Bottom-up-Kontrolle
Das hier dargestellte Modell ist mit vielen sind. Auf der anderen Seite werden sie teil-
Befunden aus dem Bereich der kognitiven weise „magnetisch“ von Informationen im
Neurowissenschaften und der Bildgebung rechten Gesichtsfeld angezogen. Diese Patien-
kompatibel. Es ist insbesondere auch kom- ten können auch den Raum kontralateral zur
patibel mit aktuellen Befunden, welche die Läsion nicht explorieren, was bedeutet, dass
genaue Lokalisation von Hirnläsionen im Zu- sie keine oder nur wenige Arm- und Augen-
sammenhang mit dem Neglekt beschreiben. bewegungen in diesem Bereich zeigen.
Patienten, die unter einem Neglekt leiden,
weisen in der Regel Läsionen rechtsseitig im
unteren Parietallappen bis hinab in den hin- 10.10. Aufmerksamkeits
teren Teil des Temporallappens auf. Gelegent- störungen
lich treten auch Läsionen im ventralen Fron-
talkortex auf. Diese Patienten missachten Wie dargestellt, sind die in die Kontrolle der
konsistent Informationen, die kontralateral Aufmerksamkeit eingebundenen Hirnstruktu-
zur Läsion, also im linken Gesichtsfeld präsent ren weit im Gehirn verteilt Es gibt nicht „das“
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340 10. Aufmerksamkeit
Aufmerksamkeitszentrum, sondern eher ver- nur auf die Seite, auf der die Läsion liegt (ipsi-
teilte Netzwerke. Insofern ist es verständlich, läsionale Seite), und schauen selten von sich
dass viele Hirnstörungen (fokale und ver- aus auf die beeinträchtigte Seite. Moderne
teilte), psychiatrische Erkrankungen, Hirnrei- Analysen von Augenbewegungen bestätigen
fungsprobleme, aber auch Fehllernen mit Auf- die nach rechts versetzte Blickrichtung ein-
merksamkeitsstörungen assoziiert sind. Im drücklich (Karnath et al., 1996). Wenn Ne-
Folgenden werden zwei für die Neuropsycho- glekt-Patienten den Raum vor sich nach be-
logie wichtige Syndrome beschrieben, die mit stimmten Objekten absuchen müssen, dann
Aufmerksamkeitsstörungen assoziiert sind. ist ihre Blickbewegung deutlich nach rechts
verschoben. Auch Handbewegungen bei der
Suche nach Objekten auf einem Tisch werden
10.10.1. Neglekt eher nach rechts verschoben und „vernach-
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10.10. Aufmerksamkeitsstörungen 341
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342 10. Aufmerksamkeit
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10.11. Zusammenfassung 343
10.11. Zusammenfassung
• Aufmerksamkeit ist für viele psychologi-
sche Funktionen elementar.
• Aufmerksamkeit und Bewusstsein sind
keine identischen Phänomene. Sie über-
schneiden sich allerdings in einigen Be-
reichen.
• Einfache und komplexe Feedforward-Akti-
vierungen in neuronalen Netzen sind nicht
mit bewusstwerdenden Phänomenen asso-
L R ziiert.
•
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344 10. Aufmerksamkeit
bringen, und trägt damit zur Erstellung ei- Aufmerksamkeitsleistung, die im Zusam-
nes kohärenten und kontinuierlichen Ab- menhang mit der Entdeckung seltener, in
bildes unserer Erfahrung bei. unregelmäßigen Intervallen erscheinender
• Sie hilft uns, zukünftige Aktionen zu planen relevanter Stimuli über lange Zeitperioden
und zu kontrollieren. Dazu werden Infor- notwendig ist; (5) Daueraufmerksamkeit:
mationen aus Gegenwart und Vergangen- Aufmerksamkeitsleistung, die im Zusam-
heit benötigt. menhang mit der Entdeckung häufiger, in
• Die Modelle, die frühe Auswahlprozesse regelmäßigen Intervallen auftretender re-
favorisieren, gehen davon aus, dass bereits levanter Stimuli über lange Zeitperioden
auf frühen Stufen der Informationsver- notwendig ist.
arbeitung Informationen herausgefiltert • Hinsichtlich der Selektivität wird folgende
oder zumindest „abgeschwächt“ werden. Einteilung der Aufmerksamkeit vorgenom-
•
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Modelle, die späte Auswahlprozesse favori- men: (1) visuell-selektive oder fokussierte
sieren, propagieren einen Auswahlmecha- Aufmerksamkeit: Bestimmte Reize werden
nismus, bei dem die Selektion später er- verarbeitet, während andere nicht beachtet
folgt. Diese Auswahl erfolgt demzufolge und nicht analysiert werden; (2) visuell-
erst beim Eingang ins Gedächtnis, ins Be- räumliche selektive Aufmerksamkeit: Spe-
wusstsein oder wenn Handlungen aus- zialvariante der selektiven Aufmerksam-
gewählt werden sollen. Diese Modelle er- keit, bei der diese auf eine bestimmte
öffnen ein größeres Spektrum. räumliche Position gelenkt wird; (3) audito-
• Die Modelle der begrenzten Ressourcen risch-räumliche selektive Aufmerksamkeit:
gehen davon aus, dass die Aufmerksamkeit Aufmerksamkeitsverlagerung von einem
durch die freien mentalen Ressourcen be- Ohr auf das andere; untersuchbar mittels
grenzt ist. Bei erhöhten Anforderungen des dichotischen Hörtests; (4) geteilte Auf-
kommt es deshalb zu einer Leistungsver- merksamkeit: Verteilung der Aufmerksam-
schlechterung. keit auf mehrere Informationsquellen; dies
• Aufmerksamkeitssteigerungen können be- ist typischerweise der Fall bei Mehrfach-
wusst oder unbewusst erfolgen. bzw. Doppeltätigkeitsaufgaben.
• Unterschieden werden zwei Dimensionen • Das „Biased-competition“-Modell der
der Aufmerksamkeit: Intensität und Se- Aufmerksamkeit: Unterschiedliche Reize
lektion. konkurrieren um Aufmerksamkeit und neu-
• Hinsichtlich der Intensität der Aufmerk- ronale Verarbeitungsressourcen (Bottom-
samkeit wird folgende Einteilung vor- up-Weg). Über Top-down-Einflüsse kann
genommen: (1) tonische Alertness: länger auf diese Verarbeitung Einfluss genommen
andauernde, durch den physiologischen werden.
Zustand des Organismus bestimmte to- • Aufmerksamkeit wird durch ein weit verteil-
nische Aufmerksamkeitsaktivierung; um- tes Netzwerk von Hirnstrukturen kontrol-
fasst auch die Aufmerksamkeitsaktivie- liert. Dieses Aufmerksamkeitsnetzwerk
rung vom Koma bis zur Wachheit; (2) besteht aus sechs unterschiedlichen Hirn-
phasische Alertness: plötzliche Zunahme strukturen: (1) den aktivierenden retikulären
von Aktivierung und Aufmerksamkeit un- aufsteigenden System (ARAS), (2) den Colli-
mittelbar nach einem Warnreiz; (3) intrin- culi superiores im Mittelhirn, (3) dem Thala-
sische Alertness: interne und kognitive mus, (4) großen Bereichen des Parietallap-
Kontrolle des Erregungsniveaus zu einem pens, (5) dem anterioren Cingulum, (6) dem
bestimmten Messzeitpunkt; (4) Vigilanz: lateralen Teil des Frontalkortex.
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10.11. Zusammenfassung 345
auditorischen und visuellen Kortex sind auf wusste und aufmerksame Kognitionen sind
aufmerksam beachtete akustische Reize mit kohärent oszillierenden kortikalen
stärker als auf nicht aufmerksam beachtete. Hirnaktivierungen verbunden.
Allerdings sind vorrangig die sekundären • Die für die Aufmerksamkeitskontrolle
Areale stärker aktiv als die primären. Die wichtigsten Transmittersysteme sind: das
primären Areale werden wahrscheinlich Noradrenalin-, Serotonin-, und das Acetyl-
durch eine Rückkopplung aus den sekun- cholinsystem.
dären Arealen durch Aufmerksamkeit mo- • Circa 100 ms nach Reizeinsatz führt ge-
duliert. steigerte Aufmerksamkeit für den dargebo-
• Wird die Aufmerksamkeit auf bestimmte tenen Reiz zu einer Zunahme der Ampli-
Aspekte von Reizen gelenkt (z. B. selektiv tude der ersten Negativierung im evozierten
auf Farbe, Form, Bewegung oder Ort des Potenzial. Dies ist mittels der Nd-Kom-
Erscheinens), nimmt die Aktivität im je- ponente messbar.
weils spezialisierten Verarbeitungsmodul • Auch die späteren Komponenten des evo-
zu („Spotlight-in-the-brain“-Metapher). zierten Potenzials (N200, P300 und N400)
• Neben den lokalen Aktivitätsveränderun- werden durch Aufmerksamkeit beeinflusst.
gen finden sich auch verteilte Aktivitätsstei- • Die P300-Komponente, die insbesondere
gerungen in einem Netzwerk, das insbeson- über frontalen Hirnregionen abgeleitet
dere große Bereiche des Frontal- und Parie- wird (auch als „Novel“-P300 bezeichnet),
tallappens umfasst. Diesbezüglich besteht reagiert besonders stark auf Aufmerksam-
eine Tendenz der stärkeren rechtsseitigen keitsprozesse. Neue Reize evozieren über
Aktivität in diesem frontoparietalen Netz- frontalen Hirngebieten P300-Komponen-
werk. ten mit großen Amplituden, die bei mehr-
• Mit zunehmender Aufmerksamkeitsanfor- facher Präsentation des jeweiligen Reizes
derung sind lokale und verteilte Alpha-De- immer kleiner werden (Habituation).
synchronisationen v. a. im unteren Alpha- • Im visuellen System sind auch Rückkopp-
Band (8–10 Hz) zu beobachten. lungseffekte bekannt, die mit der Aufmerk-
• Alpha-Synchronisation repräsentiert ei- samkeit zusammenhängen. So kann man ca.
nen „wachen“, aber „unaufmerksamen“ 200 ms nach Reizpräsentation eine auf-
Grundzustand des Gehirns. Alpha-Synchro- merksamkeitsbedingte Aktivitätserhöhung
nisation indiziert lokale Hemmungen, meist im primären visuellen System feststellen.
um Hirngebiete, um die herum Alpha-De- • Aufgrund der Tatsache, dass die Aufmerk-
synchronisation stattfindet. Es besteht eine samkeit durch ein verteiltes neuronales
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346 10. Aufmerksamkeit
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10.13. Weiterführende Literatur 347
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349
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11.1. Was sind exekutive Funktionen? 351
Vorsatz handelt. Auch wenn mehrere Schritte existiert, ist die Vielzahl von Untergliederun-
verfolgt und realisiert werden müssen, um gen und Subkomponenten verwirrend und er-
einen komplexen Plan zu verwirklichen, wird schwert den Blick auf das Gemeinsame der EF.
eine besondere Kontrolle unseres Verhaltens Des Weiteren sind viele der in der Literatur
erforderlich, welche die Zwischenschritte erwähnten Verhaltensbereiche nicht oder nur
überprüft. Die Kontrollinstanz, die dabei zum mäßig gut operationalisiert. Hinzu kommt,
Einsatz kommt, wird als exekutive Funktion dass die Datenquellen sehr unterschiedlich
(EF) bezeichnet. In der Literatur hat sich der und teilweise auch nicht miteinander kom-
Begriff exekutive Funktion durchgesetzt, es patibel sind. So korrespondieren die Befunde
werden jedoch auch alternative Begriffe ver- aus Untersuchungen mit Läsionspatienten
wendet, die diese Kontrollinstanz treffender nicht immer mit den Befunden aus bildgeben-
beschreiben: z. B. zentrale oder kognitive Kon- den Untersuchungen.
trolle. Interessant ist, dass der Begriff EF im Grun
Wie dargelegt, werden die EF genutzt, um de nur im Kontext der klinischen Neuropsy-
andere grundlegende psychische Funktionen chologie, der Neurologie und der kognitiven
(z. B. Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Motorik) Neurowissenschaften verwendet wird. In der
zu orchestrieren und sinnvoll einzusetzen, um kognitiven Psychologie werden die Teilfunk-
ein möglichst günstiges Verhaltensergebnis zu tionen, die den EF zugeordnet werden, als ei-
erzielen. genständige Funktionsbereiche betrachtet
Typische psychische Funktionen, die un- (z. B. Denken, Problemlösen, Motivation und
ter dem Begriff EF subsumiert werden, sind: Handlungskontrolle). Insofern „passen“ Neu-
• Setzen von Zielen ropsychologie/kognitive Neurowissenschaf-
• Planen, Entscheiden ten und kognitive Psychologie in dieser Hin-
• Setzen von Prioritäten sicht nicht wirklich gut zueinander. Das ist
• Starten und Sequenzieren von Handlungen nicht unproblematisch, denn die klinische
Neuropsychologie könnte von den theoreti-
schen und empirischen Ansätzen der kogniti-
Exekutive Funktionen (EF) sind Kontrollpro-
ven Psychologie profitieren.
zesse, die es einem Individuum erlauben, sein
Verhalten situationsgerecht zu optimieren,
indem die grundlegenden psychischen Funk-
tionen zielführend eingesetzt werden.
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352 11. Exekutive Funktionen
11.2. Theoretische Über ten oben angeordnet ist, die größte Chance
hat, sich zu entfalten. Es übt auf die unter-
legungen zu den exe
geordneten Schemata starke hemmende Ein-
kutiven Funktionen flüsse aus. Die automatischen Schemata ent-
falten sich in Routinesituationen. So wird ein
Vier einflussreiche theoretische Ansätze sind geübter Autofahrer viele Verkehrssituationen
im Zusammenhang mit den EF vorgeschlagen bei der morgendlichen Fahrt zur Arbeit auto-
worden: (1) das System der überwachenden matisch meistern. Insbesondere die Routine-
Aufmerksamkeit (supervisory attentional sys- tätigkeiten wie das Einlegen der verschiede-
tem, SAS), (2) handlungstheoretische Modelle, nen Gänge, Gasgeben und Bremsen wird er
(3) Arbeitsgedächtnismodelle und (4) die automatisch und ohne Probleme koordinieren.
Theorie der somatischen Marker. Sobald allerdings eine unerwartete Situation
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11.2. Theoretische Überlegungen zu den exekutiven Funktionen 353
Kollegen (1960) vorgeschlagen und ist unter Schleife und das visuell-räumliche Notizbuch
dem Akronym TOTE bekannt geworden. Es (s. Kap. 16). Baddeley fasst die zentrale Exe-
beinhaltet vier Elemente: kutive als einen Supervisor auf, der in die Aus-
1. Bei Annäherung an eine Situation oder ein wahl, Aufrechterhaltung und Manipulation der
Problem werden diese einer ersten Über- Informationen eingreift, die für das Arbeits-
prüfung unterzogen (test). gedächtnis verwendet werden.
2. Als Ergebnis dieser Überprüfung erfolgt Auch Smith und Jonides (1999) beschrei-
eine Handlung, die den Ausgangszustand ben Mechanismen, die sie dem Arbeitsge
gemäß einem Ziel verändern soll (operate). dächtnis zuschreiben, die aber im Grunde ge-
3. Es erfolgt eine erneute Überprüfung, ob die nommen Aspekte der exekutiven Kontrolle
gewünschte Veränderung erreicht wurde sind: (1) die Aufmerksamkeitsausrichtung auf
(test). relevante und die Inhibition von irrelevanten
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4. Wird im Rahmen der Überprüfung fest- Informationen und Prozessen (attention and
gestellt, dass das erwünschte Ziel erreicht inhibition), (2) die zeitliche Organisation von
wurde, wird die Schleife verlassen (exit), Prozessen und die Organisation des Wechsels
ansonsten erfolgt ein weiterer Durchlauf. des Aufmerksamkeitsfokus von einer Auf-
gabe zur nächsten (task management), (3) das
Karl Pribram, einer der Autoren dieses ersten Planen von Teilschritten zum Erreichen eines
handlungstheoretischen Modells, nahm an, übergeordneten Ziels (planing), (4) das Aktua-
dass der Frontalkortex eine vorrangige Be lisieren und Überprüfen von Inhalten des Ar-
deutung bei der Planung, Strukturierung und beitsgedächtnisses zum Planen der nächsten
Überwachung komplexer Handlungsabläufe Teilschritte (monitoring) und (5) das Codieren
hat. Mittlerweile sind komplexere handlungs- von Inhalten des Arbeitsgedächtnisses im Hin-
theoretische Modelle vorgeschlagen worden blick auf Zeit und Ort des Auftretens (coding).
(Kalveram, 1998), die jedoch bislang keinen Die hier aufgeführten Prozesse ähneln denen,
direkten Einfluss auf die Neuropsychologie die typischerweise den EF zugeordnet werden.
hatten. Grundsätzlich muss festgestellt wer- Auch in dem neuen Arbeitsgedächtnis-
den, dass die Grundstruktur der thematisier- modell von Cowan (2011) wird die exekutive
ten Handlungen Diskrepanzen zwischen ei- Kontrolle als ein Bestandteil des Arbeitsge
nem Soll- und einem Ist-Wert sind, die der dächtnisses aufgefasst. Einige Arbeiten weisen
Handelnde überwinden muss (Soll-Ist-Wert- auch darauf hin, dass Störungen des Arbeits-
Differenz oder Regelabweichung). Das Ziel gedächtnisses Verhaltensauffälligkeiten nach
der Handlung ist die Reduktion oder Eliminie- sich ziehen, die typischerweise als dysexe-
rung der Regelabweichung. kutive Störungen (also Störungen der EF) be-
zeichnet werden (Kimberg & Farah, 1993). In
einem aktuellen Simulationsmodell exekuti-
11.2.3. Arbeitsgedächtnismodelle ver Kontrolle werden die EF durch sechs Funk-
tionen des Arbeitsgedächtnisses erklärt (Hazy
Einige Wissenschaftler gehen davon aus, dass et al., 2007). Insgesamt wird deutlich, wie
das Konzept der EF weitestgehend identisch stark die Überschneidungen zwischen dem
ist mit dem Konzept des Arbeitsgedächtnisses. Konzept des Arbeitsgedächtnisses und dem
Im klassischen Arbeitsgedächtnismodell von EF-Konzept sind. Allerdings muss darauf hin-
Baddeley (2010) wird eine zentrale Exekutive gewiesen werden, dass das Arbeitsgedächtnis-
angenommen, die zwei untergeordnete Sys- konzept nicht alle Aspekte der EF erklären
teme kontrollieren soll: die phonologische kann, denn die Komplexität der Handlungs-
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354 11. Exekutive Funktionen
regulation im Alltag hängt auch (wenn nicht geht, aber er kann keinen Zusammenhang
sogar entscheidend) von Gefühlen, Antrieben zwischen dem Diebstahl und Gefühlen wie
und Motiven ab. Angst, Ärger, Abscheu und Reue herstellen.
Insofern werden sich seine Entscheidungen
von emotional verankerten Regeln entkoppeln.
11.2.4. Theorie der somatischen Fehlt der modulierende Einfluss von Emotio-
Marker nen, dann werden Entscheidungen impulsiv
und willkürlich getroffen.
Einige Autoren unterscheiden cold (kognitive)
und hot (motivationale) EF (Kerr & Zelazo,
2004). Auch der Wille wird neben dem Motiv 11.2.5. Reduktion auf Basisprozesse
und der Motivation als eine wichtige Kom-
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ponente der EF erkannt. Insofern sind Motive, Basierend auf einer Pfadanalyse unterschei-
Gefühle und Antriebe wichtige Aspekte der den Miyake und Kollegen (2000) voneinander
Verhaltenskontrolle. mehr oder weniger unabhängige Basisfunk-
Darauf weist auch Antonio Damasio im tionen. Um zu diesem Ergebnis zu gelangen,
Rahmen seiner Theorie der somatischen Mar- haben sie vielfach genutzte Tests zur Messung
ker (s. Kap. 20) hin. Der wesentliche Aspekt von EF von einer großen Gruppe von Proban-
dieser Theorie ist, dass menschliche Entschei- den bearbeiten lassen, die Testergebnisse sta-
dungen durch Gefühle beeinflusst werden. tistisch weiterverarbeitet und zu drei unabhän-
Wichtig ist auch, dass für Damasio Emotionen, gigen Dimensionen bzw. Basismechanismen
Entscheidungen und Denken eng miteinander zusammengefasst:
verzahnt sind. Die somatischen Marker sind 1. Wechsel des Aufmerksamkeitsfokus (shift
emotionale Reaktionen, die über das vegetative ing)
Nervensystem oder im Sinne einer Simulation 2. Inhibition dominanter Antworttendenzen
im Kortex generiert werden. Diese somati- (inhibition)
schen Marker greifen in Entscheidungssituatio- 3. Aktualisierung von Arbeitsgedächtnisinhal-
nen ein und dienen als Richtungsweiser für die ten (updating).
Verhaltenskontrolle und -planung. Hierbei sind
v. a. der Frontalkortex und insbesondere der Der Vorteil dieses Ansatzes besteht darin, dass
ventromediale Präfrontalkortex wesentlich mit Operationalisierungen gearbeitet wurde.
beteiligt, denn über diese Hirngebiete werden Das bedeutet, dass bestimmte Tests genutzt
Erfahrungen mit den somatischen Markern werden können, um die jeweiligen Basisfunk-
verknüpft und so zu verhaltenssteuernden Ele- tionen zu überprüfen.
menten. Können diese Verknüpfungen nicht Eine Reduktion auf Basisprozesse schlagen
realisiert werden, z. B., weil der ventromediale auch Stuss und Alexander (2007) auf der Basis
Präfrontalkortex lädiert ist, dann gelingt es von Metaanalysen von Patientendaten vor. Sie
dem Patienten nicht, die somatischen Marker teilen die EF in drei funktional unabhängige
für seine Handlungssteuerung zu nutzen. Als Prozesse der Aufmerksamkeitskontrolle ein:
Folge werden für die Betroffenen Belohnung 1. Energetisierung (energization)
und Bestrafung unwirksam und sie können die 2. Initiierung und Aufrechterhaltung von Reiz-
zu erwartenden (emotionalen) Konsequenzen Reaktions-Verbindungen (task-setting)
ihrer Handlungen nicht mehr abrufen. Ein be- 3. Aufgabenlösungsüberwachung und Verbes-
troffener Patient mag z. B. wissen, dass er sich serung der Verhaltensanpassung (monitor
strafbar macht, wenn er einen Diebstahl be- ing).
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11.2. Theoretische Überlegungen zu den exekutiven Funktionen 355
Auch bei diesem Ansatz bieten die Autoren Aspekte der EF mit Emotionen, Motivationen
Operationalisierungen zur Untersuchung der und den unterschiedlichen Komplexitätsebe-
verschiedenen Prozesse an. Des Weiteren nen der Anforderungen an die EF elegant zu-
schlagen sie anhand ihrer Patientendaten vor, sammen (Abb. 11-1).
dass diese drei Prozesse vorrangig von unter-
schiedlichen Hirngebieten verarbeitet werden. Sie unterscheidet vier Regulationsebenen:
Die Energetisierung erfolgt vorrangig im su- • kognitive Regulation
perioren medialen Frontalkortex, die Auf- • Aktivitätsregulation
rechterhaltung von Reaktionsverbindungen • Emotionsregulation
linkslateral im Präfrontalkortex und die Ver- • Regulation von Sozialverhalten,
haltensüberwachung rechtslateral im Präfron-
talkortex. zwei Komplexitätsebenen:
•
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basal
• komplex
11.2.6. Konzept der exekutiven Funk
tionen nach Drechsler und vier basale Prozesse:
• Hemmen
Vor Kurzem wurden ein Gesamtüberblick und • Initiieren
eine Taxonomie der exekutiven Funktionen • Wechseln
und ihrer Störungen vorgelegt (Drechsler, • Erneuern von Informationen im Arbeits-
2007). Die besondere Leistung dieser Taxono- speicher.
mie besteht darin, dass die Autorin die ver-
schiedenen theoretischen Strömungen bezüg- Hinsichtlich der basalen Prozesse orientiert
lich der EF zusammengeführt und in einen sie sich an den Ergebnissen von Miyake und
gemeinsamen konzeptuellen Rahmen ein- Kollegen (s. o.). Ob der vierte Prozess (Erneu-
gebettet hat. Hierbei fügt sie die klassischen ern von Informationen im Arbeitsspeicher) als
basaler Prozess aufzufassen ist, ist umstrit-
ten. Die Autorin gibt an, dass die getrennte
Beschreibung von Regulationsprozessen heu-
Regulationsebenen
ristisch begründet ist und sich an klinisch re-
levanten Beschreibungs- und Beobachtungs-
Ko
Em
Ak
So
t
g
ivi
ni
zia
io
tä
ti
l
on
Wechseln
kutierten Bereiche zusammengefasst. Bemer-
Prozesse
Hemmen
zugeordnet werden. Aufgeführt sind auch die
itä
t
jeweiligen Operationalisierungen.
Abbildung 11-1: Beschreibungsebenen exekuti-
ver Funktionen (nach Drechsler, 2007).
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356 11. Exekutive Funktionen
Tabelle 11-1: Exekutive Funktionen: Ebenen regulativer Prozesse, klinische Störungsmerkmale und Auf-
gabenparadigmen. Die Darstellung der Prozesse ist etwas komplexer als es Abb. 11-1 vermuten lässt
(mit Genehmigung der Autorin aus Drechsler, 2007, entnommen).
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11.2. Theoretische Überlegungen zu den exekutiven Funktionen 357
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358 11. Exekutive Funktionen
A) dorsolateraler B) 3 1 25
Präfrontalkortex parietaler Kortex
6 4
8
7 7
6 9
9 4 1 24
8 31
46 2 10
40 39 23
10
32
45 44 12
11 11
47
43
ventromedialer Präfrontalkortex
C) 3 1 25 D)
Nucleus caudatus
6 4
8
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9 7
24
10 31
23
32
12
11
26
Putamen
anteriores Cingulum
Abbildung 11-2: Wichtige Hirngebiete, die in die Kontrolle der exekutiven Funktionen eingebunden sind.
Aufgeführt sind auch die Brodmann-Areal-Nummern.
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11.3. Anatomie der exekutiven Kontrolle 359
Tabelle 11-2: Hirngebiete im Frontalkortex mit ihren Brodmann-Areal-Nummern und den wichtigsten
Funktionen.
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360 11. Exekutive Funktionen
Afferenzen aus den medial liegenden Kern- dem limbischen System). Ein anderes Teil-
gebieten (dem magnozellulären Teil). Über gebiet des Thalamus (Pars paralamellaris)
diese Kerngebiete des Thalamus ist der Prä- projiziert in das frontale Augenfeld. Ein weite-
frontalkortex mit den Mittelhirnstrukturen res thalamisches Hirngebiet, das in Kapitel 10
Tabelle 11-3: Zusammenfassung der bidirektionalen Verbindungen zwischen dem PFC und anderen
Hirngebieten.
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11.3. Anatomie der exekutiven Kontrolle 361
3 5
SM, PM
7 PC
6
9 4 1
FEF
8 S1/S2
46
DLPFC 2
10 40
43 39
45
A2 22
11
44 41
42
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19
VMPFC Ins 17
V2
18
38
47 21 37
20
3 1 2
8 4
5
9
7
24 19
31
ACC
26
23 18
Tha
10 BG
34 30 29 17
32
12 27
VMPFC 19
MTL 37
Amy 28 35
11
38 36
20
Abbildung 11-3: Die wichtigsten anatomischen Verbindungen zwischen dem Präfrontalkortex und an-
deren Hirngebieten. Die meisten Verbindungen sind bidirektional. DLPFC: dorsolateraler Präfrontalkor-
tex, VMPFC: ventromedialer Präfrontalkortex, SM: supplementär motorisches Areal, PM: Prämotorkortex,
FEF: frontales Augenfeld, INS: Insular, PC: Parietalkortex, S1/S2: somatosensorische Areale, A2: sekun-
därer auditorischer Kortex, V2: sekundärer visueller Kortex, ACC: anteriores Cingulum: BG: Basalganglien,
Amy: Amygdala, MTL: mesiotemporale Hirngebiete, Tha: Thalamus.
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362 11. Exekutive Funktionen
besprochen wurde, ist das Pulvinar, das ins- xibilität, der Sequenzierung, beim Gedächt-
besondere in den Parietallappen projiziert. nisabruf, beim Kategoriewechsel sowie Per-
Neben diesen Hirngebieten projizieren sekun- severationen vor. Andere Funktionsbereiche
däre visuelle und auditorische sensorische wie Sprache, Rechnen und Wahrnehmung sind
Areale in den Präfrontalkortex. Auch Hirn- nicht betroffen, sofern sie nicht von den EF
gebiete aus dem inferioren Temporallappen abhängen. Das Orbitofrontalhirnsyndrom
(Objektwahrnehmung) projizieren in den Prä- ist mit Persönlichkeitsveränderungen, Störun-
frontalkortex und insbesondere in BA 46 und gen der Emotionalität und des Sozialverhal-
BA 8 (DLPFC). Über den OFC ist der Präfron- tens verbunden. Die Patienten werden impul-
talkortex mit den primären sensorischen Zen- siv, mitunter aggressiv, wirken enthemmt,
tren für die Verarbeitung von Geruch, Ge- distanzlos und verhalten sich deutlich risiko-
schmack und Somatosensorik verbunden, betonter. Es liegt offenbar eine Störung der
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denn der OFC erhält direkte Afferenzen aus Verhaltenshemmung vor. Beeinträchtigun
diesen Hirngebieten. Auch der Parietallappen, gen der cingulären Schleife sind mit An-
das Inselgebiet und die Basalganglien proji- triebsminderungen in verbunden.
zieren in den Präfrontalkortex, und hier ins- Die Basalganglien gelten als Kerngebiete,
besondere in den DLPFC. die typischerweise in motorische Kontrollpro-
Efferent ist der PFC mit dem limbischen zesse eingebunden sind. Patienten mit Basal-
System, dem Hypothalamus, dem Hippocam- ganglienstörungen leiden unter motorischen
pus und dem entorhinalen Kortex, den Basal- Kontrollproblemen, insbesondere unter dem
ganglien und den sekundären sensorischen Problem, Bewegungen zu starten oder zu be-
Arealen verbunden. In Tabelle 11-3 sind diese enden. Ursache ist eine Degeneration der Sub-
Verbindungen schematisch und in Abbildung stantia nigra, was zur Folge hat, dass zu wenig
11-3 grafisch dargestellt. Dopamin gebildet wird und das gesamte fron-
tostriatale System unter einem Dopaminman-
gel leidet. Mittlerweile existieren zahlreiche
11.3.2. Rolle der Basalganglien
Befunde, die belegen, dass die Basalganglien
Der Frontalkortex ist mit den Basalganglien auch in die Kontrolle von Kognitionen ein-
intensiv bidirektional verbunden. Unterschie- gebunden sind. Ein wesentlicher Grund dafür
den werden drei „Basalganglien-Schleifen“, ist, dass die Basalganglien über den Thalamus
die in verschiedene Aspekte der EF eingebun- mit dem DLPFC, dem ACC und dem OFC ver-
den sind: (1) DLPFC-Schleife, (2) VMPFC- bunden sind. Das bedeutet, dass sie auch auf
Schleife und (3) ACC-Schleife (Abb. 11-4). Kognitionen und emotionale Prozesse Einfluss
Dyskonnektionsstörungen innerhalb dieser nehmen können. In der Tat leiden Basalgan-
Schleifen führen zu spezifischen Verhaltens- glienpatienten neben den motorischen Störun-
auffälligkeiten. Unterschieden wird entspre- gen unter einer Reihe von kognitiven Proble-
chend der betroffenen Schleife men (Assoziationslernen etc.).
(1) ein dorsolaterales Präfrontalhirnsyndrom,
(2) ein Orbitofrontalhirnsyndrom und
(3) ein vorderes cinguläres Syndrom. 11.3.3. Frontalkortex
Das dorsolaterale Präfrontalhirnsyndrom ist Dass der Frontalkortex in die Kontrolle der EF
typischerweise mit Problemen in höheren ko- eingebunden ist, ist unzweifelhaft. Allerdings
gnitiven Funktionen assoziiert. Hierbei liegen ist bislang noch nicht eindeutig geklärt, wie er
Defizite in der Planung, der kognitiven Fle- organisiert ist, um die EF zu kontrollieren.
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11.3. Anatomie der exekutiven Kontrolle 363
dorsolateraler
Präfrontalkortex parietaler Kortex
anteriores Cingulum
ventromedialer Präfrontalkortex
Abbildung 11-4: Drei Basalganglienschleifen. Jede Schleife ist in andere Funktionsbereiche (Kognition,
Emotion und Motivation) eingebunden (angelehnt an Alexander et al., 1990 und Müller & Münte, 2009).
Dieses Problem mag auch der Grund dafür und der präzisen Abgrenzung von anderen
sein, dass derzeit viele unterschiedliche Be- psychischen Funktionen. Wie noch gezeigt
funde, Modelle und Interpretationen hinsicht- wird, sind mit den EF Aufmerksamkeits- und
lich der Funktion des Frontalkortex vorliegen. Arbeitsgedächtnisfunktionen verbunden, so-
Auffällig ist auch, dass Studien an Patienten dass sie sehr schwer von den EF experimentell
mit Frontalkortexläsionen und bildgebende und konzeptuell zu trennen sind. Bevor wir
Untersuchungen zu Frontalkortexfunktionen uns den speziellen funktionellen Aspekten des
nicht immer zu korrespondierenden Ergeb- Frontalkortex zuwenden, werden allgemeine
nissen führen. Ein weiteres Problem ist die Funktionsprinzipien des Frontalkortex be
Schwierigkeit der Operationalisierung der EF sprochen.
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364 11. Exekutive Funktionen
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11.4. Modelle der Frontalkortexfunktionen 365
nicht, wenn es zu ähnlichen und überlappen- der Frontalpol. Je höher die Hierarchiestufe,
den kortikalen Aktivierungen kommt. Kürzlich desto integrativer sind die Funktionen dieser
konnten Duncan und Owen (2006) zeigen, Areale. Auch die posterioren Hirngebiete sind
dass bei bestimmten Aufmerksamkeitsauf- gemäß Fuster hierarchisch organisiert; von
gaben, die eine bewusste Zuwendung erforder- den sensorischen Arealen am posterioren Pol
ten, aber keine Handlung oder Entscheidung des Gehirns bis zu den parietalen Hirngebie-
nach sich zogen, ein frontoparietales Netzwerk ten. Die posterioren Hirngebiete sind für die
aktiv war, das auch bei der Bearbeitung von Wahrnehmung und der PFC ist für die Hand-
typischen EF-Aufgaben aktiv ist. lungskontrolle zuständig. Beide Hirnsysteme
RF
3 1 2
6
perzeptives Gedächtnis
5
exekutives Gedächtnis 8
9 Konzepte
Konzepte
4 Semantik
Pläne
Episoden
Programme
9
46 40 Polysensorik
Handlungen
10 6 39 sensorisch
motorisch
43
3 41
45 42 19
22 18
17
47
7
37
11 38
28
Ber
Ges
Ger
Geh
Seh
Aktionen
ühr
uch
20
chm
ör
en
(Verhalten, Sprache)
ung
ack
Abbildung 11-6: Modell der PFC-Funktionen von Joaquin Fuster (nach Fuster, 2001).
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366 11. Exekutive Funktionen
interagieren intensiv miteinander und bilden Stufe vorliegenden, noch sequenziell auf der
einen Wahrnehmungs-Handlungs-Zyklus Zeitachse angeordneten Informationen wer-
(perception-action-cycle). den von der übergeordneten Hierarchieebene
Dieses Modell ist eines der ersten hierar- zu einer (parallelen) Information umgewan-
chischen Frontalkortexmodelle, die einen Hie- delt. Dabei wird diese Serien-Parallel-Wand-
rarchie-Gradienten auf der rostrokaudalen lung von anderen psychischen Funktionen
Achse für den PFC vorschlagen (Abb. 11-7). (z. B. Arbeitsgedächtnis und Aufmerksamkeit)
Auch Fuster unterscheidet drei Teilbereiche unterstützt.
des OFC (orbital, medial, lateral), die unter- Diese hierarchische Anordnung von spezi-
schiedliche Funktionsbereiche abdecken (Emo- ellen (in kaudalen PFC-Bereichen kontrollier-
tion, Motivation und Kognition). Das Gemein- ten) zu allgemeinen und übergeordneten (in
same aller PFC-Bereiche ist die zeitliche rostralen PFC-Bereichen kontrollierten) Funk-
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anteriorer primärer
Prämotor- Motorkortex
kortex Prämotor-
kortex (BA 4)
(BA 8)
(BA 6) dorsal
dorsolateraler
Präfrontalkortex
(BA 9/46)
lateraler
Frontopolar-
kortex
(BA 10)
ventrolateraler
Präfrontalkortex ventraler
(BA 47/45/44) anteriorer ventral
Prämotorkortex
(BA 44/6)
anterior posterior
rostral kaudal
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11.4. Modelle der Frontalkortexfunktionen 367
Funktionen auf der rostrokaudalen Achse an- und 8 (prämotorische Gebiete) an der Vorberei-
geordnet sind (Abb. 11-8): (1) domänenspezi tung und Programmierung der aktuellen Moto-
fische vs. domänenübergreifende Modelle, rik beteiligt, während die anterioren Gebiete
(2) Modelle der relationalen Komplexität, (3) des PFC eher die übergeordneten Pläne kon-
das Kaskadenmodell der relationalen Bezie- trollieren (domänenübergreifend), was durch
hung und (4) ein Modell des Abstraktions hohe Korrelationen der Hirnaktivitäten in
grades mentaler Repräsentationen. Die letzte- den kaudalen und rostralen Gebieten wäh-
ren drei Modelle sind konkretere Varianten des rend der Bewegungsvorbereitung angezeigt
PFC-Modells von Joaquin Fuster. wird. Bei Patienten mit Läsionen in den rostra-
Weiter oben wurden die domänenspezi- len Hirngebieten kann man feststellen, dass
fischen Ansätze zur funktionellen Organisation die posterioren PFC-Gebiete (insbesondere
des PFC besprochen und dabei die ventral- die Prämotorareale) aktiv sind, obwohl es den
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dorsale Achse beschrieben. Wie dargestellt, Patienten nicht gelingt, eine angemessene Be-
sind die Belege für diese Domänenspezifität wegung durchzuführen. Offenbar ist die funk-
widersprüchlich. Allerdings existieren Befun tionelle Verbindung zwischen den rostralen
de, die eine domänenspezifische Organisa und kaudalen Gebieten unterbrochen.
tion des PFC auf der rostrokaudalen Ebene Im Rahmen anderer Modelle wird der PFC
nahelegen. Die kaudalen PFC-Bereiche sind funktional anhand der Komplexität der men
hierbei eher in die direkte (domänenspe talen Beziehungen eingeteilt. Hierbei wird
zifische) Kontrolle des Verhaltens bzw. der der VLPFC als Gebiet betrachtet, welches das
Motorik eingebunden. So sind die Areale 6 Operieren mit einfachen Repräsentationen,
A) C)
sensorische
domänenspezifisch Kontrolle
Kontext-
kontrolle
domänenübergreifend
episodische
Kontrolle
abstrakter Plan/Schema
internale Beobachtung entscheidende
Kontrolle
B) D)
konkretes Merkmal
Antwort-
konflikt
Dimensions-
Beziehung der konflikt
2. Ordnung Kontext-
konflikt
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368 11. Exekutive Funktionen
z. B. das Behalten von konkreten und einfachen ausstehenden zeitlichen Bezuges zur Ver-
Merkmalen („Das Auto ist rot.“), bewerkstel- fügung gestellt werden. Diese ausstehenden
ligt. Auf der nächsthöheren Hierarchieebene zeitlichen Bezüge veranlassen das System,
wird dann der etwas kaudaler gelegene DLPFC Entscheidungen für die zukünftigen Hand-
mit einbezogen. Dies tritt ein, wenn z. B. Bezie- lungen zu treffen (Verzweigungskontrolle).
hungen zwischen verschiedenen Merkmalen Von kaudal nach rostral unterscheiden sich die
geknüpft werden müssen („Das Auto ist rot und Kontrollsignale im Hinblick darauf, ob unmit-
zum Transport geeignet.“). Komplexere Bezie- telbare sensorische und episodische Informa-
hungen zwischen verschiedenen Merkmalen tionen, Kontextinformationen oder bevorste-
erfordern dann den anterioren PFC. Der ante- hende Informationen aus der Umwelt zur
riore PFC ist im Rahmen dieser Modelle die Handlungskontrolle beitragen.
Struktur, welche die komplexesten mentalen Eine vierte Modellgruppe (Modell des Abs-
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11.4. Modelle der Frontalkortexfunktionen 369
Funktionen nicht einheitlich ist. Im Folgenden Anwenden einer alten, aber nicht mehr gülti-
werden einige wichtige Befunde hinsichtlich gen Regel wird als Perseveration bezeichnet.
der Beteiligung des DLPFC an der exekutiven Eine solche Verhaltensweise zeigen Patienten
Kontrolle dargestellt. Im Vordergrund stehen mit Läsionen im DLPFC. Sie perseverieren auf
Befunde aus der Bildgebung, wobei Standard- der alten Regel und können sich nicht auf die
tests zur Überprüfung der exekutiven Funk- neue Regel umstellen.
tionen verwendet wurden. fMRT-Untersuchungen mit gesunden Pro-
banden während des Lösens des Wisconsin-
Card-Sorting-Tests haben ergeben, dass ein
Verhaltenshemmung und -initiierung
frontoparietales Netzwerk aktiv ist. In der Ar-
Oft müssen wir liebgewonnene Handlungen, beit von Specht und Kollegen (2009) wurden
Regeln oder Gedanken unterbinden, um die die Aktivierungen während des Lösens von
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Möglichkeit zu eröffnen, dass sich neue ent Arbeitsgedächtnisaufgaben mit den Aktivie-
falten können. Dies sind Fähigkeiten, die Pa- rungen während des Bearbeitens von Wiscon-
tienten mit Läsionen im DLPFC mehr oder sin-Card-Sorting-Test-Aufgaben verglichen.
weniger ausgeprägt abhanden gekommen sind. Hierbei zeigten sich bilaterale Aktivierungen
Diesen Patienten gelingt es nur mühsam, ein- im Frontalkortex, und hier insbesondere im
mal eingeschlagene Problemlösungswege zu DLPFC, im anterioren PFC und im ventrola-
verlassen und neue Problemlösestrategien zu teralen Präfrontalkortex (VLPFC; Abb. 11-9).
entwickeln. Ihnen gelingt es auch nicht, sich Es offenbarte sich allerdings ein Lateralisie-
Neuem zuzuwenden, weil die alten Informatio- rungsmuster mit stärkerer Aktivierung im
nen zu dominant sind und sich nicht hemmen rechtsseitigen VLPFC beim Bearbeiten von
lassen. Die hier kurz skizzierten Fertigkeiten Arbeitsgedächtnisaufgaben und stärkerer Ak-
werden in der Neuropsychologie mit Standard- tivierung im rechtsseitigen DLPFC beim Be-
tests überprüft, die im Folgenden näher dar- arbeiten des Wisconsin-Card-Sorting-Tests
gestellt werden: Wisconsin-Card-Sorting-Test, (Abb. 11-9). Hier offenbart sich, dass der
Stroop-Test und Flüssigkeitstests. VLPFC eher in das Halten und der DLPFC in
Beim Wisconsin-Card-Sorting-Test wer- das Manipulieren von Informationen einge
den dem Probanden vier Karten vorgelegt. bunden ist. Neben dem PFC waren auch bila-
Eine fünfte Karte, die der Proband einem Kar- teral der Parietallappen und ein Gebiet im
tenstapel entnimmt, soll einer der vier Karten linksseitigen Temporallappen aktiv.40
zugeordnet werden. Das Zuordnungskriterium Der Psychologe Ridley Stroop hat 1935 ein
(Farbe, Form oder Anzahl der Symbole) wird nach ihm benanntes Verfahren – den Stroop-
dem Probanden nicht mitgeteilt. Findet der Test – vorgestellt, mit dem er die individuelle
Proband über „Versuch und Irrtum“ das gül-
tige Kriterium, erhält er eine positive Rück- 40 In der klinischen Neuropsychologie wird der
meldung vom Untersucher. Das Zuordnungs- Wisconsin-Card-Sorting-Test in der Regel zur Über-
kriterium bleibt für weitere zehn Kartenzüge prüfung von Frontalkortexfunktionen eingesetzt.
konstant. Bei der elften Zuordnung wird es Die Studie von Specht et al. (2009) zeigt allerdings
spontan und unerwartet für den Probanden deutlich, dass nicht nur der Frontalkortex, sondern
auch viele andere Hirngebiete bei der Lösung der
vom Versuchsleiter gewechselt. Der Proband
Aufgaben eingebunden sind. Des Weiteren zeigen
muss dann sein zuvor genutztes Kriterium än-
diese Resultate, dass verschiedene Gebiete des Fron-
dern. Gemessen wird, wie lange der Proband talkortex (ventral vs. dorsal, anterior vs. posterior)
benötigt, um das neue Kriterium anzuwenden, aktiv sind. Insgesamt belegen diese Befunde, wie
und wie oft er die alte Regel anwendet. Das unspezifisch der Wisconsin-Card-Sorting-Test ist.
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370 11. Exekutive Funktionen
DLPFC
VLPFC
Anzahl Farbe Form
DLPFC
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1.5
VLPFC
1.3
* *
1.1
0.9
Signalzunahme (in %)
0.7
**
0.5
0.3
Arbeitsgedächtnis
0.1
WCST
–0.1 ventrolateral ventrolateral dorsolateral dorsolateral
PFC (L) PFC (R) PFC (L) PFC (R)
–0.3
–0.5
Abbildung 11-9: Beispiel für den Wisconsin-Card-Sorting-Test und die mittels fMRT gemessenen Hirn-
aktivierungen beim Bearbeiten des Wisconsin-Card-Sorting-Test. Bei den Spielkarten repräsentieren
die unterschiedlichen Grautönungen unterschiedliche Farben, die hier nicht dargestellt werden können.
In den Standardtests werden in der Regel die Farben Rot, Blau, Grün und Gelb genutzt. Man erkennt,
dass beim Wisconsin-Card-Sorting-Test bilaterale Durchblutungssteigerungen im Präfrontalkortex
(PFC) auftreten. (Nach Specht et al., 2009)
Interferenzneigung bei der Farb-Wort-Interfe- deren Farbe dargestellt; das Wort „blau“ kann
renz gemessen hat. Dieser Test besteht aus in gelben Buchstaben dargestellt sein. In den
Farbworten, die in unterschiedlichen Farben inkongruenten Bedingungen geraten die Pro-
geschrieben sind. Es gibt kongruente und in- banden immer in einen Konflikt, insbesondere
kongruente Bedingungen. In den kongruenten wenn sie die Farbe benennen sollen, in der das
Bedingungen ist das Farbwort in der Farbe ge- Wort geschrieben ist. Dieser Konflikt resultiert
schrieben, die es benennt. Das Wort „rot“ er- in längeren Antwortzeiten als bei der Überein-
scheint dann in roten Buchstaben, das Wort stimmung von Farbname und Wortfarbe. Er ist
„blau“ in blauen. In den inkongruenten Bedin- darin begründet, dass die Person das Wort
gungen ist das jeweilige Farbwort in einer an- automatisch lesen muss (weil Lesen in unse-
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11.4. Modelle der Frontalkortexfunktionen 371
Kürzlich konnte gezeigt werden, dass bei ral und ventrolateral) aktiv sind. Diese Unter-
solchen Konflikten auch ein Hirngebiet an der suchungen haben eine Besonderheit ergeben:
Schnittstelle zwischen dem ventralen und dor- Bei phonologischen Flüssigkeitsaufgaben, also
salen Präfrontalkortex aktiv wird, das an der Aufgaben, bei denen die Probanden in einer
Verbindungsstelle zwischen dem Sulcus fron- bestimmten Zeit so viele Wörter wie möglich
talis inferior und dem Sulcus praecentralis in- finden müssen, die mit einem bestimmten
ferior liegt (inferiores frontales Kreuzungs- Anfangsbuchstaben beginnen, sind dorsale
areal; Derrfuss et al., 2012). Bereiche des Gyrus frontalis inferior aktiviert.
Frontalhirnpatienten leiden auch darunter, Bei semantischen Flüssigkeitsaufgaben sind
dass sie ineffizient mit neuen kognitiven An- die Durchblutungszunahmen etwas weiter
forderungen umgehen. Untersucht wird dies ventral verortet (Costafreda et al., 2006;
mit sogenannten Flüssigkeitstests. Typische Abb. 11-10). Bei räumlichen Flüssigkeitsauf-
Aufgaben sind die verbalen Flüssigkeitstests.
Hierbei erhalten die Probanden die Aufgabe,
innerhalb einer vorgegebenen Zeitspanne so
viele Wörter wie möglich mit einem bestimm-
ten Anfangsbuchstaben zu bilden. Im anglo-
amerikanischen Sprachraum werden oft die 1
Anfangsbuchstaben „F“, „A“ und „S“ genutzt. 4 2 5
Im deutschsprachigen Raum wird der Regens
3
burger Wortflüssigkeitstest verwendet, der
neben der Aufgabe, anhand bestimmter An-
fangsbuchstaben Wörter zu bilden, auch se-
mantische Flüssigkeitsaufgaben anbietet. Mit
einem weiteren Flüssigkeitstest kann die Fä-
higkeit, neue räumliche Muster zu produzie-
ren, gemessen werden. Ein gebräuchlicher
Abbildung 11-10: Schematische Darstellung der
Test ist der 5- Punkte-Test, bei dem die Pro-
Hirnaktivierungen bei verschiedenen Flüssig-
banden nacheinander vorgegebene Punkte keitsaufgaben. (1) Bei phonologischen Flüssig-
mit Linien verbinden müssen, um neue Figu- keitsaufgaben, (2) bei semantischen Flüssigkeits-
ren zu zeichnen. aufgaben, (3) während des Aufgabenwechsels,
fMRT-Untersuchungen während des Lö- (4) beim Initiieren und Auswählen und (5) beim
sens von solchen Flüssigkeitsaufgaben haben Ausführen von Bewegungen.
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372 11. Exekutive Funktionen
gaben zeigen sich ebenfalls Durchblutungs- schiedenen Versionen vor. Das Grundprinzip
zunahmen im Präfrontalkortex, allerdings mit dieses Tests ist bei allen Versionen identisch.
einer leichten rechtsseitigen Aktivierungs- Der Test besteht aus mehreren Stäbchen, die
dominanz. nebeneinander angeordnet sind. Auf diesen
Stäbchen sind Kugeln in unterschiedlichen
Farben aufgesteckt. Die Versuchsperson hat
Verhaltensplanung
die Aufgabe, die Kugeln von einer Ausgangs-
Planen wird definiert als der zielgerichtete position in eine andere Position zu verlagern
Versuch, erworbenes Wissen für zukünftige und dabei bestimmte Regeln einzuhalten.
Handlungen optimal einzusetzen. Wer keinen Diese Regeln können je nach Version variie-
Plan hat, sieht sich außerstande, den Anfor- ren. Eine häufig angewendete Regel ist, immer
derungen, die aktuell oder zukünftig an ihn nur eine Kugel pro Zug zu bewegen. Gemessen
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gestellt werden, durch geeignetes Verhalten werden die Zeit und die Anzahl der Züge, die
vorausschauend zu begegnen. Zur Unter- benötigt werden, um die Aufgabe zu lösen. Je
suchung von Planungsprozessen werden häu- nach Anzahl der Kugeln und Stäbchen kann
fig Varianten des Tower-of-London-Tests die Schwierigkeit variiert werden. Für die ver-
(ToL) verwendet. Der ToL-Test, der auch als schiedenen Varianten des ToL-Tests existieren
Tower-of-Hanoi-Test existiert, liegt in ver- umfangreiche Normen. Untersuchungen mit-
A) C)
DLPFC
54
Start
53
Blutflusszunahme
Ziel
52
B)
51
DLPFC
50
Rest 1 2 3 4 5
Schwierigkeit
Abbildung 11-11: (A) Beispiel für ToL-Aufgabe und (B) typische fMRT-Aktivierung beimLösen der ToL-
Aufgabe (nach Unterreiner & Owen, 2006). (C) Rechts erkennt man die hämodynamischen Reaktionen im
DLPFC in Abhängigkeit von der Schwierigkeit der Aufgabe.
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374 11. Exekutive Funktionen
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11.4. Modelle der Frontalkortexfunktionen 375
personen eine Reihe von Zeichen dargeboten. kongruente Bedingung vor. Wird der in der Mitte
Dies können z. B. fünf Buchstaben sein. Die stehende Buchstabe von anderen Buchstaben
Probanden müssen allerdings nur auf den mitt- flankiert, die mit der anderen Reaktion assoziiert
leren Buchstaben achten, denn der ist für die zu sind, dann liegt eine inkongruente Bedingung vor.
tätigende Reaktion wesentlich. Die Aufgabe
könnte darin bestehen, dass der Proband auf
die rechts angeordnete Reaktionstaste drücken emotionalen Stroop-Test modifiziert (Mathews
soll, wenn in der Mitte ein /S/ steht. Steht in & MacLeod, 1985). Hierbei werden den Pro-
der Mitte ein /H/, bestünde die Aufgabe darin, banden emotional „geladene“ Wörter in unter-
auf eine links angeordnete Taste zu drücken. schiedlichen Farben dargeboten. So kann z. B.
Werden fünf /S/ oder fünf /H/ nebeneinander das Wort „Trauer“ in Rot, das Wort „Freude“
dargeboten, ist die Aufgabe relativ einfach zu in Grün oder das Wort „Tod“ in Blau präsen-
lösen, denn die Information ist eindeutig tiert werden. Die Probanden haben die Auf-
(kongruente Bedingung; Abb. 11-12). Wenn al- gabe, die Farbe der dargebotenen Wörter zu
lerdings ein /S/ in der Mitte steht, das rechts benennen. Die Farbbenennung ist bei Per-
und links jeweils von zwei /H/ flankiert ist sonen verlangsamt, die eine besondere emo-
(HHSHH), dann wird die Aufgabe schwieriger. tionale Beziehung zu dem emotionalen Wort
Die flankierenden Buchstaben fordern implizit haben, das gerade dargeboten wird. Ein de-
zum Drücken der links angeordneten Reakti- pressiver Proband zeigt z. B. eine verlangsamte
onstaste auf. Auch die umgekehrte Buchsta- Farbbenennung bei der Präsentation des
benanordnung (ein /H/ in der Mitte mit flan- Wortes „Trauer“. Auch gesunde Probanden
kierenden /S/: SSHSS) ist relativ schwierig, lassen sich durch die emotionalen Wörter be-
denn die flankierenden Buchstaben fordern einflussen. Die Farbbenennungen für emotio-
implizit zum Drücken der rechts angeordneten nale Wörter (z. B. „Krieg“, „Tod“, „Krankheit“,
Taste auf (inkongruente Bedingung). In den in- „Krebs“) erfolgen immer etwas langsamer
kongruenten Bedingungen entsteht ein Kon- als für neutrale Wörter. Die Verlangsamung
flikt, der zu längeren Reaktionszeiten führt. kommt wahrscheinlich dadurch zustande,
Dieser Konflikt ist typischerweise mit Durch- dass das negative emotionale Wort die Auf-
blutungszunahmen im ACC verbunden. merksamkeit von der aktuellen Aufgabe
Auch bei Anwendung des klassischen (Benennung der Farbe) ablenkt. Trotz allem
Stroop-Tests zeigen sich typischerweise Durch- kommt es zu einem Konflikt zwischen der Be-
blutungszunahmen im ACC. Der Stroop-Test nennung der Farbe und des Wortes. Auch bei
wurde in einigen Untersuchungen zu einem solchen emotionalen Stroop-Aufgaben ist das
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376 11. Exekutive Funktionen
ACC aktiv. Allerdings findet sich die Aktivität rioren Cingulum zugeschrieben werden. Die
nicht in den gleichen Arealen des ACC wie bei Komponente wird durch dopaminerge Sig-
klassischen Stroop-Aufgaben. Die klassischen nale aus den Basalganglien (Nucleus accum-
Stroop-Aufgaben führen eher zu Aktivierun- bens) und dem Mittelhirn (ventrales Teg-
gen im dorsalen ACC, während die emotiona- mentum) „getrieben“. Offenbar ist das ACC
len Stroop-Aufgaben mit Aktivierungen im bereits sehr früh in die Verhaltenskontrolle
ventralen Teil des ACC assoziiert sind (Bush et eingebunden.
al., 2000). Die oben dargestellten Befunde werden in
Auch elektrophysiologisch kann die Betei- der Regel als Evidenz für die Beteiligung des
ligung des ACC an der Verhaltenskontrolle ACC an der Lösung von Konflikten interpre-
nachgewiesen werden. Wenn die Probanden tiert. Allerdings zeigen andere Untersuchun-
bei Flanker-Aufgaben (oder Stroop-Aufgaben) gen, dass das ACC auch an anderen Prozes-
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Fehler machen, dann kann über dem Vertex sen beteiligt ist. So konnte z. B. nachgewiesen
die Error-Related Negativity (ERN) ca. 80– werden, dass beim Verarbeiten von zurück-
150 ms nach dem Begehen des Fehlers ge- gemeldeten Informationen (z. B., wenn die
messen werden. Es handelt sich hierbei um Korrektheit einer Reaktion angezeigt oder der
eine Negativierung, deren Quellen dem ante- Erhalt der Belohnung bemerkt wird) das ACC
aktiv ist. Auch bei der Fehlervermeidung fin-
dorsales ACC det sich eine stärkere Aktivität im ACC. Be-
kognitiver Teil
merkenswert ist, dass Patienten mit Läsionen
im ACC bei Konfliktaufgaben eher unauffällig
sind. Deshalb wird vermutet, dass das ACC
eher an der Kontrolle der Motivation beteiligt
ist. Das würde bedeuten, dass der Antrieb, sich
mit Konflikten oder den Problemen der Ver-
haltenskontrolle auseinanderzusetzen, über
das ACC kontrolliert würde.
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11.4. Modelle der Frontalkortexfunktionen 377
dass die Versuchsperson sich nach dem Hin- dient demzufolge als Go-Reiz. Folgt dem ers-
weisreiz auf den möglicherweise in der Folge ten Tierbild allerdings kein weiteres Tierbild,
erscheinenden Go-Reiz vorbereiten kann. sondern das Bild einer Pflanze (A-P), müssen
Wird der Go-Reiz tatsächlich dargeboten, die Versuchspersonen die vorbereitete Reak-
kann die Person die Reaktion auslösen. Er- tion hemmen. Das Bild der Pflanze dient dem-
scheint allerdings der No-go-Reiz, muss sie zufolge als No-go-Reiz. Die anderen Bildfol-
die bereits vorbereitete Reaktion unterbinden gen sind Kontrollbedingungen, die für die
bzw. hemmen. Mit solchen Versuchsanord- Abschätzung von sensorischen Funktionen
nungen kann man recht elegant verschiedene und Aufmerksamkeitsfunktionen wichtig sein
psychologische Prozesse im Zusammenhang können.
mit exekutiven Funktionen und den damit ver- Personen, welche Schwierigkeiten haben,
bundenen neurophysiologischen Grundlagen eine bereits vorbereitete Reaktion zu hemmen,
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+ Ton
Abbildung 11-14: Visueller Konzentrationsverlaufstest (VCPT) (mit Dank von Dr. Andreas Müller über-
lassen (nach Müller et al., 2011).
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378 11. Exekutive Funktionen
Konfliktmonitoring
5,60 P3a-No-go
–5,60
Engagement
3,30
P3b-Go
–3,30
Inhibition
4,20
P3z-No-go
–4,20 Go
No-go
Abbildung 11-15: Dargestellt sind die drei für exekutive Funktionen wesentlichen ERP-Komponenten,
die man im Zusammenhang mit der Konzentrationsverlaufsaufgabe (VCPT) und der ICA erhält. (1) Die
fronto-zentrale P3a-No-go-Komponente, (2) die parietale P3b-Go-Komponente und (3) die zentro-fron-
tale P3z-Komponente. Dargestellt sind in unterschiedlichen Farben die Komponenten für die Go- (rot)
und die No-go-Reaktion (grün) (mit Dank von Dr. Andreas Müller überlassen (Müller et al., 2011) und
ergänzt durch Informationen aus Kropotov et al., 2011).
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11.5. Zusammenfassung 379
wendig sind, um Fehler zu entdecken und sie Kontrolle ein. Das contention scheduling
gegebenenfalls zu korrigieren. Im Zusammen- system (CS) ist ein automatisch arbeitendes
hang mit dem Konzentrationsverlaufstest re- System, das aus Aktionsschemata besteht.
präsentiert diese Komponente neurophysio- Diese werden durch Umweltreize ausgelöst
logische Aktivierungen, bei denen erwartete und entfalten sich ohne bewusste Kontrolle
Handlungen mit der aktuellen Handlung ver- automatisch. In bestimmten Situationen
glichen werden. Wenn das ausgeführte oder greift das „System der überwachenden Auf-
gehemmte Verhalten nicht der Erwartung ent- merksamkeit“ ein, indem es die Aufmerk-
spricht, wird eine Änderung im Verhalten aus- samkeit auf schwach aktivierte Schemata
gelöst, um die Diskrepanz zu korrigieren. richtet und dadurch deren Aktivität ver-
Die parietale P3b-Go-Komponente wird stärkt. Typische Situationen, in denen das
auch als Aktivierungs- und/oder Engage SAS eingreift und das CS ersetzt, sind: (1)
mentkomponente bezeichnet. Sie tritt im Situationen, in denen Planen und Entschei-
Zeitbereich von 200–400 ms nach dem Go- den gefordert sind; (2) Situationen, die ei-
Reiz auf. Bei dieser Komponente kann man ner Fehlerkorrektur und einer Verhaltens-
intrakortikale Aktivierungsquellen vor allem anpassung bedürfen; (3) Situationen, in
im Parietallappen und Frontallappen feststel- denen wenig gut beherrschte Reaktionen
len. Sie repräsentiert die Bereitstellung der angewendet werden oder die völlig neue
notwendigen Aufmerksamkeitsressourcen für Reaktionen erfordern; (4) Situationen, die
die Bewältigung der Aufgabe. Die P3b-Go- als gefährlich oder technisch schwierig ein-
Komponente kann man am besten an parieta- geschätzt werden; (5) Situationen, die es
len Elektrodenpositionen (z. B. an Pz) ableiten. notwendig machen, dass man überlernte
Die Inhibitionskomponente (auch als und fest eingefahrene Verhaltensmuster
P3z-No-go bezeichnet) ist durch eine Positi- überwinden muss.
vierung zirka 300–400 ms nach dem No-go- • Im Rahmen der theoretischen Überlegun-
Reiz gekennzeichnet. Die kortikalen Quellen gen zu den exekutiven Funktionen werden
findet man vor allem im medialen Frontalkor- auch handlungstheoretische Modelle, Mo-
tex (SMA und pre-SMA). Diese Komponente delle des Arbeitsgedächtnisses und die
kann an der Schädeloberfläche am besten an Theorie der somatischen Marker diskutiert.
Cz registriert werden. Diese Komponente re- In empirischen Arbeiten werden die ver-
präsentiert die neuronalen Ressourcen, die zur schiedenen exekutiven Funktionen auf Ba-
Unterdrückung einer inadäquaten Reaktion sisfunktionen reduziert: (1) Wechsel des
notwendig sind. Aufmerksamkeitsfokus (shifting), (2) Inhi-
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380 11. Exekutive Funktionen
Renate Drechsler schlägt eine umfassende gaben zur Testung der exekutiven Funktio-
Taxonomie der exekutiven Funktionen vor. nen unterschiedlich stark aktiviert. Beim
Sie umfasst vier Regulationsebenen: (1) ko- Wisconsin-Card-Sorting-Test (WCST) sind
gnitive Regulation, (2) Aktivitätsregulation, bilateral der DLPFC, der VLPFC und parie-
(3) Emotionsregulation und (4) Regulation tale Hirngebiete aktiv. Unterschiede zu den
von Sozialverhalten. Diese Regulations- Aktivierungen beim Lösen von Arbeits-
ebenen werden in zwei Komplexitätsebenen gedächtnisaufgaben findet man im rechts-
eingeteilt (basal und komplex). seitigen VLPFC (bei Arbeitsgedächtnisauf-
• An der Kontrolle der exekutiven Funk gaben stärker als bei WCST-Aufgaben) und
tionen sind insbesondere der dorsolaterale im rechtsseitigen DLPFC (bei WCST-Auf-
Präfrontalkortex (DLPFC), der ventrome- gaben stärker als bei Arbeitsgedächtnisauf-
diale Präfrontalkortex (VMPFC), der poste- gaben). Beim Lösen des Stroop-Tests ist
riore Parietallappen (PPC) und die Basal- insbesondere auch die Verbindungsstelle
ganglien (BG) beteiligt. In der Regel werden zwischen dem Sulcus frontalis inferior und
die Brodmann-Areale 9 und 46 als DLPFC dem Sulcus praecentralis inferior (inferio-
zusammengefasst. Eine etwas großzügi- res frontales Kreuzungsareal) aktiv. Bei
gere Definition rechnet zum DLPFC die phonologischen Flüssigkeitsaufgaben sind
Brodmann-Areale 9–12, 45 und 46 sowie dorsale Bereiche des Gyrus frontalis infe-
den oberen Teil des Areals 47. Zum VMPFC rior aktiv. Bei semantischen Flüssigkeits-
gehören der Orbitofrontalkortex (OFC) und aufgaben sind eher ventrale Frontalkortex-
die medialen Teile des Frontalkortex. Zum bereiche aktiv.
medialen Teil des Frontalkortex zählt auch • Mit zunehmender Schwierigkeit des Tower-
der anteriore cinguläre Kortex (Brodmann- of-London-Tests nimmt die Aktivität im
Areale 24 und 32). Dieser Hirnbereich wird DLPFC zu.
auch als Cingulum bezeichnet. • Der rechtsseitige DLPFC ist in die Selbst-
• Der DLPFC ist funktionell und anatomisch kontrolle eingebunden.
intensiv bidirektional mit anderen Hirn- • Die wichtigste Funktion des ventromedia-
gebieten verbunden. len Präfrontalkortex ist die Verhaltenshem-
• Unterschieden werden drei „Basalgan mung. Über ihn werden gelernte Regeln,
glien-Schleifen“, die in unterschiedliche die mit ihnen verbundenen Emotionen,
Aspekte der EF eingebunden sind: (1) Verstärkung und Bestrafung wirksam.
DLPFC-Schleife, (2) VMPFC-Schleife und • Der Parietallappen greift in die exekutive
(3) ACC-Schleife. Dyskonnektionsstörun- Kontrolle v. a. in Form von folgenden Funk-
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11.6. Fragen und Aufgaben 381
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382 11. Exekutive Funktionen
11.7. Weiterführende Literatur Fuster, J. M. (2001). The prefrontal cortex – an up-
date: time is of the essence. Neuron, 30(2),
Badre, D. (2008). Cognitive control, hierarchy, 319–333.
and the rostro-caudal organization of the fron- Goldman-Rakic, P. S. (1996). The prefrontal
tal lobes. Trends Cogn Sci, 12(5), 193–200. landscape: implications of functional architec-
ture for understanding human mentation and
the central executive. Philos Trans R Soc Lond
B Biol Sci, 351(1346), 1445–1453.
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383
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12.2. Das motorische Transformationsproblem 385
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386 12. Motorische Kontrolle
inverse Transformation
Muskelkontraktion von Hämmern einzustellen, um die effizien-
testen Werkzeugtransformationen zu wählen.
Körper-
Bei Spitzensportlern, aber auch Profimusikern
transformation
kann der jeweilige Transformationsprozess
Körperbewegung derart spezifisch sein, dass andere Werkzeuge
(z. B. andere Tennisschläger) oder andere In-
Werkzeug-
transformation strumente (z. B. ein anderes Piano als jenes,
das man gewohnt ist zu spielen) schon zu
distal distal
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Werkzeugbewegung
merkbaren Veränderungen der motorischen
Aktionen führen, weil die jeweilige Werkzeug-
Abbildung 12-1: Motorische Transformationen. und Körpertransformation den spezifischen
Dargestellt sind die „Vorwärtstransformation“ und
Instrumenten und Werkzeugen durch Lernen
die „inverse Transformation“. Bei der „Vorwärts-
angepasst wurde.
transformation“ wird die neuronale Aktivität letzt-
Diese kurze Skizze soll genügen, um die
lich in Bewegungen umgewandelt. Bei der „inver-
sen Transformation“ wird die Vorstellung einer Komplexität motorischer Transformationen
Bewegung letztlich zu neuronalen Erregungen sowie ihre Abhängigkeit von situativen und
umgewandelt. organischen Gegebenheiten zu verdeutlichen.
Das zentrale Problem der Bewegungskontrolle
Der Übergang von neuronaler Aktivität zur ist, die motorischen Kommandos so zu bestim-
Muskelaktivität (also die Transformation elek- men, dass nach Durchlaufen der motorischen
trischer Erregungen zur Kraftentwicklung) Transformation die beabsichtigte Bewegung
wird neuromuskuläre Transformation ge- entsteht. Da dieses Problem aber von fast je-
nannt. Im nächsten Schritt erfolgt die Trans- dem Menschen täglich viele Male mühelos ge-
formation von Muskelaktivität zur Kinematik. löst wird, stellt sich die Frage, welche neurona-
Dieser Schritt wird als Körpertransformation len und kognitiven Prozesse dazu notwendig
bezeichnet, um zum Ausdruck zu bringen, sind. Eine Voraussetzung für eine erfolgreiche
dass eine Gliedmaßenbewegung (des Körpers) Bewegungskontrolle ist die Invertierung mo
durch die Mechanik des Muskels erreicht wer- torischer Transformationen, mit der die für
den muss. Als letzter Transformationsschritt eine beabsichtigte Bewegung erforderliche
erfolgt die Werkzeugtransformation. Bei Muskelaktivität bestimmt werden kann.
diesem Schritt wird die Kinematik dem Werk- Unter der Invertierung motorischer Trans-
zeuggebrauch angepasst. formationen wird im Wesentlichen die Um-
Jede einzelne Transformation muss gelernt kehrung der motorischen Transformation ver-
und nachadjustiert werden. Man stelle sich ein standen (Abb. 12-1). Mit anderen Worten ist es
kleines Kind vor, das lernen muss, einen Ham- die Suche nach den korrekten oder am besten
mer zu bewegen. Bei dieser motorischen Ak- geeigneten motorischen Kommandos, um eine
tion müssen die neuronalen Signale in Kraft bestimmte Handlung zu ermöglichen. Im Zu-
und Kinematik umgewandelt werden. Die sammenhang mit der Planung und Vorberei-
Kraft verändert sich allerdings im Verlauf des tung von Bewegungen werden die mentalen
Wachstums und mit zunehmender Muskel- Repräsentationen der verschiedenen Trans-
masse. Das bedeutet, dass sich die Körper-, formationen abgerufen und es wird die jeweils
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12.3. Ein einfaches Modell der menschlichen Bewegungskontrolle 387
am besten geeignete Teiltransformation ge- Transformation) auch nur eine begrenzte Ge-
wählt. In gewisser Weise ist dieser Prozess in nauigkeit haben.
seiner Flussrichtung als umgekehrt (also inver-
tiert) zum Ablauf der oben beschriebenen mo-
torischen Transformation aufzufassen. Man
12.3. Ein einfaches Modell
muss sich inverse Transformation als eine Art der menschlichen Bewe
inneres Modell der motorischen Transformatio- gungskontrolle
nen vorstellen, das so etwas wie die mathe-
matischen Anweisungen enthält, mit denen die Bewegungen sind das Ergebnis komplexer
Transformationen bewerkstelligt werden. Die- neuronaler Prozesse, die durch innere und äu-
ses Modell ist nicht an einer bestimmten Stelle ßere Einflüsse bestimmt werden. Sensorische
im Gehirn lokalisiert, sondern in einem weit Reize, emotionale, kognitive und motivatio-
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verteilten Netzwerk, das viele Hirngebiete um- nale Faktoren beeinflussen die Formulierung
fasst. Ein wesentliches Merkmal eines inneren eines Bewegungsziels. Um dieses Ziel zu er-
Modells ist, dass es vom aktuellen Zustand der möglichen, muss der Organismus einen Be-
motorischen Transformation abgekoppelt ist. wegungsplan entwerfen, indem letztlich eine
Es ist zwar flexibel und kann an Änderungen Bewegungssequenz gewählt wird, mit der das
der motorischen Transformation angepasst Bewegungsziel möglichst präzise erreicht wer-
werden, das aber stets nur mit Verzögerung. Da den soll. Die geplante Abfolge muss dann in
die motorische Transformation kompliziert entsprechende motorische Kommandos trans-
und variabel ist sowie Zufallseinflüssen unter- formiert werden, damit der Bewegungsappa-
liegt, kann ein inneres Modell der motorischen rat die intendierten Bewegungen auch tatsäch-
Transformation (und entsprechend die inverse lich ausführt (Abb. 12-2).
sensorische motorische
Transformation Transformation
Fehler – x
dx = –x
+
erwartete Afferenz
Efferenz (es)
(g) inverses Modell
+
S –1
g
S–1(g) = es
perzeptuelles Ziel
Abbildung 12-2: Schematischer Ablauf der sensomotorischen Kontrolle. Zentraler Bestandteil der sen-
somotorischen Kontrolle ist das inverse Modell. Erwartete Afferenzen (g), die z. B. aus dem Gedächtnis
abgerufen werden, werden durch das inverse Modell in Efferenzen (es) umgewandelt,die den motori-
schen Transformationen zugeführt werden. Die durch die Bewegung erzeugten sensorischen Informa-
tionen werden mit dem perzeptuellen Ziel (g) verglichen. Bei Abweichung der durch die Bewegung pro-
duzierten tatsächlichen sensorischen Information von der erwarteten Afferenz werden Korrekturen
vorgenommen (dx), welche die motorischen Transformationen beeinflussen (nach Kalveram, 1998).
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388 12. Motorische Kontrolle
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12.3. Ein einfaches Modell der menschlichen Bewegungskontrolle 389
rungen in der Umwelt während der Bewe- wird, dann kann er durch vor der Bewegung
gungsausführung reagiert werden kann. Ein bereitgestellte Korrekturbewegungen korri-
wesentlicher Nachteil ist, dass der tatsächliche giert werden.
Zustand der Peripherie und der Kontrollzu
stand im Gehirn nie exakt übereinstimmen.
Diese Zeitverzögerung ist dafür verantwort- 12.3.2. Das motorische Programm
lich, dass negativ geregelte Systeme, bei denen
ein bestimmter Bewegungsfehler minimiert Heutzutage wird davon ausgegangen, dass die
werden soll, zu unkontrollierten Schwingun- Bewegungsabläufe zentral als motorische Pro-
gen neigen. Das bedeutet, dass motorische gramme oder analog zu den Gedächtnisinhal-
Kontrollprozesse, die ausschließlich auf dem ten als motorische Engramme repräsentiert
Prinzip der Regelung beruhen, nie glatt bzw. sind. In den 1960er Jahren hat der Kogni
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stabil sein werden. Geregelte motorische Kon- tionspsychologe Keele (Keele & Posner, 1968;
trollprozesse zeichnen sich demzufolge da- Keele et al., 2003) den Begriff des motori
durch aus, dass sie um einen stabilen Zustand schen Programms spezifiziert und postuliert;
herum schwingen. Dies lässt sich anhand von diesem folgend sind die relevanten motori-
Zeigebewegungen auf kleine Ziele und bei so- schen Kommandos an die Muskulatur bereits
genannten visuellen Nachfolgeaufgaben de- vor Bewegungsbeginn als motorisches Pro-
monstrieren. Bei diesen Aufgaben sind Oszil- gramm abgelegt. Die zentrale Idee ist, dass das
lationen im Bewegungsprofil um den Soll-Wert motorische Programm – ähnlich einem Com-
herum typisch. puterprogramm – als Code im Gehirn abge-
Steuerung erfordert einen Plan bzw. ein speichert und jederzeit abrufbar ist. Hierbei
Programm (s. u.), gemäß dem die Bewegungs- wird angenommen, dass das motorische Pro-
ausführung ohne sensorische Rückmeldung gramm als ein Satz zentraler Kommandos zur
erfolgt. Der Informationsablauf ist offen Durchführung von Bewegungen aufgefasst
(ohne Rückmeldung), demzufolge wird die werden kann. Das Programm läuft nach Be-
Steuerung im Englischen auch als open loop wegungsbeginn ohne Rückgriff auf sensori-
bezeichnet. Steuerungsprozesse sind ins- sche Rückmeldungen ab. Etwaige Fehler in
besondere bei sehr schnellen Bewegungen der Bewegungsausführung können frühes-
festzustellen. Der Nachteil einer reinen Steue- tens nach einer Reaktionsperiode (ca. 200 ms)
rung ist, dass Planungsfehler oder plötzlich durch ein aktualisiertes Programm korrigiert
auftretende externe Störungen nicht berück- werden. Insofern kann das motorische Pro-
sichtigt werden können. Nur „vorhersehbare“ gramm als ein reiner Steuerungsmechanismus
mögliche Veränderungen des Bewegungs- aufgefasst werden.
zustands können kompensiert werden, indem Da man nicht für jede einzelne Bewegung
der motorische Plan in der nachfolgenden ein spezifisches motorisches Programm er
Bewegung entsprechend abgeändert wird. Es lernen bzw. speichern kann, wurde das Pro-
können auch „vorhersehbare“ Fehler so „an- grammkonzept in den 1970er Jahren er
tizipiert“ werden, dass zu deren Korrektur weitert. Im Unterschied zum ursprünglichen
schnelle Ausgleichsprozesse quasi als Pro- Ansatz, in dem alle relevanten physiologischen
gramme bereitgestellt werden. Ein typisches und biomechanischen Parameter einer Bewe-
Beispiel ist das schnelle Klavierspielen, das gung eindeutig festgelegt sind, wird im Rah-
gesteuert (und nicht geregelt) wird. Sollte al- men des neuen Modells davon ausgegangen,
lerdings ein kleiner motorischer Fehler auf- dass das motorische Programm als eine Art
treten, der vom motorischen System erahnt Bewegungsschablone aufzufassen ist. Diese
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390 12. Motorische Kontrolle
gruppen. Die jeweiligen Bewegungen werden tex beeinflusst und durch das Kleinhirn und
durch motorische Parameter spezifiziert. die Basalganglien moduliert. Demzufolge
Motorische Parameter können die Dauer, die umfasst die Bewegungssteuerung neuronale
Amplitude und die Frequenz von Bewegungen Strukturen, die auf verschiedenen Ebenen des
sein. Durch die Anwendung verschiedener Pa- zentralen Nervensystems verteilt sind.
rameter kann das GMP zu unterschiedlichen Der Kortex kann die Aktivität des Rücken-
Bewegungen führen. Mit diesem Programm- marks direkt oder indirekt kontrollieren. Di-
konzept ist es gelungen, eines der wesentli- rekte Verbindungen werden über den korti
chen Probleme des ursprünglichen Konzepts kospinalen Trakt hergestellt, der eine Länge
des motorischen Programms zu umgehen, von ca. 90 cm hat. Gelegentlich wird dieser
nämlich das Problem der Speicherung einer Trakt auch als Pyramidenbahn bezeichnet, da
sehr großen, wenn nicht gar nahezu unendlich man früher davon ausging, dass er seinen Ur-
großen Menge von motorischen Programmen. sprung in den großen Pyramidenzellen des
Das GMP definiert als abstraktes Muster Grup- Kortex hat. Heutzutage ist bekannt, dass der
pen von Bewegungen, deren individueller kortikospinale Trakt seinen Ursprung auch in
„Charakter“ durch die jeweiligen motorischen anderen kortikalen Zellen als den Pyramiden-
Parameter festgelegt wird. Das GMP wird zellen haben kann.
durch Lernen erworben. Die Feinanpassung Kortikospinale Axone haben ihren Ursprung
der Bewegung erfolgt im zweiten Schritt durch in unterschiedlichen Arealen des Kortex. Diese
Parameteradjustierung. Areale konnten durch zyto- und myeloarchi-
Obwohl das Konzept des GMP aus Sicht der tektonische Studien sowie durch neuere bild-
kognitiven Psychologie erfolgreich genutzt gebende Arbeiten beschrieben und unterschie-
wurde, um menschliche Bewegungen zu be- den werden (Abb. 12-4). Das bekannteste Areal
schreiben, ist derzeit unklar, wie das GMP ist der primäre motorische Kortex, auch M1
neuronal repräsentiert ist. Fest steht aller- genannt (Brodmann-Areal 4). Dieses Areal ist
dings, dass das GMP nicht in einem bestimm- auf dem Gyrus praecentralis unter Einschluss
ten Hirnareal gespeichert, sondern vermutlich der Zentralfurche (Sulcus centralis) lokalisiert.
in einem verteilten Netzwerk innerhalb der Kortikospinale Axone haben ihren Ursprung
Motorareale abgelegt ist. auch im prämotorischen Kortex (BA 6) und
in Bereichen des somatosensorischen Kortex,
insbesondere auf dem Gyrus postcentralis un-
ter Einschluss der hinteren Wand des Sulcus
centralis (auch S1 genannt; BA 1, 2 und 3).
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12.4. Motorareale 391
A) B)
SMA
M1 S1 M1
dPMC
SPL pre-SMA
vPMC
IPL
Broca 44
45
rCM
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cCM
CB
Abbildung 12-4: Motorareale. (A) Laterale Ansicht und (B) mesiale Ansicht. M1: primärer Motorkortex,
dPMC: dorsaler Prämotorkortex, vPMC: ventraler Prämotorkortex, S1: sensomotorischer Kortex, SPL
(superior parietal lobule): Lobulus parietalis superior, IPL (inferior parietal lobule): Lobulus parietalis
inferior, PRC: Präcentralis, CB: Cerebellum – Kleinhirn, pre-SMA: präsupplementärmotorisches Areal,
SMA: supplementärmotorisches Areal, rCM: rostrales cinguläres Motorareal, cCM: kaudales rostrales
cinguläres Motorareal, Broca: Broca-Areal.
Der somatosensorische Kortex als wich- reich (PMCr), der unmittelbar vor PMCc liegt,
tigste kortikale Umschaltstation für afferente unterteilt. Weitere funktionale Einteilungen
Informationen aus der Tiefensensibilität ist sehen einen ventralen Teil vor (vPMC), der
im Wesentlichen auf dem Gyrus postcentralis unterhalb (also ventral) des dorsalen prämoto-
und in der hinteren Wand der Zentralfurche rischen Kortex (dPMC) lokalisiert ist. Vor dem
lokalisiert. Die Tatsache, dass auch der soma- dorsalen prämotorischen Kortex ist das fron-
tosensorische Kortex Ursprung efferenter tale Augenfeld (BA 8) lokalisiert, das für kon-
Axone ist, macht deutlich, dass eine einfache jugierte und willentliche Augenbewegungen
Einteilung in einen motorischen und einen verantwortlich ist. Hinter der Zentralfurche
sensorischenmotorischen Kortex nicht mehr finden sich weitere motorische Areale, ins-
angemessen ist. Der prämotorische Kortex besondere das somatosensorische Areal auf
(PMC) dehnt sich von vorderen Teilen des dem Gyrus postcentralis, aber auch die weiter
Gyrus praecentralis über den Sulcus centralis posterior gelegenen Areale im Lobulus parie-
bis zum hinteren Teil des Gyrus frontalis talis superior (LPS) unmittelbar hinter dem
superior aus. Aufgrund von Einzelzellablei- Sulcus postcentralis (BA 5 und 7) unter Ein-
tungen an nichtmenschlichen Primaten und schluss des Sulcus intraparietalis (IPS).
neueren Arbeiten unter Verwendung bild- Das supplementärmotorische Areal
gebender Verfahren wird der prämotorische (SMA) ist auf der medialen Hemisphärenober-
Kortex weiter in einen kaudalen Teil (PMCc), fläche vor Areal 4 lokalisiert und hat etwa die-
der auf dem Gyrus praecentralis unmittelbar selbe rostrokaudale Ausdehnung wie der late-
vor M1 lokalisiert ist, und einen rostralen Be- rale prämotorische Kortex. Es ist nach neueren
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392 12. Motorische Kontrolle
Hüfte
Rumpf
Schulter
torische Areal (SMA), zu gliedern. Unterhalb
Ellbogenlenk
e
Hand
Kni
el
Ha
dieser supplementärmotorischen Areale auf k ö ch
ge
R le
nd
M in ine Kn hen
dem Gyrus cinguli sind mindestens zwei wei- Ze itt gfin r F Ze
D ig elfi ge in
tere motorische Areale zu identifizieren, das Haaumefin ng r ger
Au ls en ge er
rostrale und das kaudale cinguläre Motorareal Auggenbr r
a
(rCMA und cCMA). Ges enlid u uen
icht n
sau d Aug
Neben diesen klassischen motorischen sdr
uckapfel
mbildung
Mund
lsekretion
Arealen werden weitere motorikrelevante
Kinn ge ken
Areale diskutiert, die insbesondere bei senso- n c
Zu hlu
Stim
Sc
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e
en
h
eic
u
Ka Sp
Hierzu zählen spezielle Gebiete im intraparie-
talen Sulcus, die insbesondere mit der visuell-
und auditorisch-motorischen Interaktion in
Verbindung gebracht werden. Schließlich ist
Abbildung 12-5: Somatotopie im Motorkortex
das Broca-Sprachzentrum auf der linken He-
(Homunkulus). (Nachgezeichnet nach Penfield &
misphäre zu erwähnen, das die motorischen
Rasmussen, 1950, und Zilles & Rehkämper, 1998)
Abläufe beim Sprechen steuert. Es liegt direkt
vor dem lateralen prämotorischen Kortex und
entspricht den Brodmann-Arealen 44 (kaudal) den medialen Wänden des Lobulus paracen-
und 45 (rostral). tralis liegt. An der Mantelkante befinden sich
die Repräsentationen des oberen Beinbe
reichs, während die Repräsentationen des
12.4.1. Organisation der Motorareale Schulterbereichs (proximale Extremitäten) et-
was weiter lateral folgen. Auf der lateralen
Zwei Organisationsprinzipien innerhalb der Konvexität des Gyrus praecentralis schließt
motorischen Areale können unterschieden sich das Handareal an, gefolgt vom Gesichts-
werden: die somatotopische Ordnung und die areal. Am unteren Ende des primären motori-
hierarchische Mehrebenenorganisation. In- schen Kortex findet sich die Repräsentation
nerhalb jedes motorischen Teilsystems besteht der Kauwerkzeuge und der Zunge.
eine somatotopische Repräsentation des Hierbei fällt insbesondere auf, dass die
Körpers (räumliche Zuordnung zwischen Kör- Gliedmaßen, die über besonders gute moto-
perperipherie und jeweiligem motorischen rische Fähigkeiten verfügen, wie z. B. Finger,
Areal). Im primären motorischen Kortex (M1) Lippen, Zunge, weit überproportionale Anteile
ist diese Ordnung am deutlichsten erkennbar des Gyrus praecentralis einnehmen, während
und kann durch direkte elektrische Stimulatio- Rumpf und proximale Extremitäten nur auf
nen von M1, aber auch durch Registrierung relativ kleinen Anteilen repräsentiert sind.
kortikaler Durchblutungsmuster (fMRT) er- Neben diesem motorischen Homunkulus ist
schlossen und letztlich als sogenannter mo auf dem Gyrus postcentralis ein sensomotori-
torischer Homunkulus dargestellt werden scher Homunkulus zu unterscheiden, der im
(Abb. 12-5). Hierbei zeigt sich, dass die effe- Wesentlichen hinsichtlich der relativen Größe
rente Innervation des Beckenbodens, des Fuß- der Repräsentationsgebiete dem motorischen
gelenks und des oberen Beinbereichs direkt an Homunkulus ähnlich ist.
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12.4. Motorareale 393
Die somatotopische Repräsentation für die onsleistungen, nur mit Unterstützung der
distalen Extremitäten (Finger, Hand und Arm) Stützmotorik, hervorbringen. Hierzu zählen
ist im Wesentlichen auf einer Hemisphäre lo- die gekreuzten Streckreflexe, die wahrschein-
kalisiert, d. h., die entsprechenden Areale ei- lich die Grundlage für die Schreitbewegungen
ner Hemisphäre kontrollieren die Extremitä- des Menschen sind. Auf der höchsten Ebene
ten der kontralateralen Körperseite. Dieses sind die prämotorischen Areale sowie die As-
Kontrollprinzip hängt mit der Kreuzung der soziationsareale im Frontal- und Parietallap-
Pyramidenbahnen am Übergangsgebiet zwi- pen angesiedelt. Diese Areale sind in die mo-
schen Medulla oblongata (verlängertes Rü- torische Planung eingebunden, wobei diese
ckenmark) und dem Rückenmark zusammen. Planungen anhand aktueller, vergangener,
Dort kreuzt ein Großteil der Pyramiden-, aber gewünschter bzw. vorgestellter sensorischer
auch der extrapyramidalen Bahnen auf die Informationen vorgenommen werden. In die-
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kontralaterale Seite. Eine Ausnahme bilden sen „höheren“ Arealen sind psychische Funk-
die dem Kleinhirn entstammenden Efferen- tionen lokalisiert, die auch zur Funktion ande-
zen, die zweimal kreuzen, sodass letztlich eine rer Kognitionen beitragen. Der Motorkortex
Kleinhirnhemisphäre die ipsilaterale Körper-
seite innerviert. Das supplementärmotorische Limbisches System
Orbitofrontalkortex
Areal ist grob somatotop gegliedert, wobei von
Präfrontalkortex
rostral nach okzipital die Repräsentation von CMA
Gesicht, Arm und Bein zu identifizieren ist.
Das supplementärmotorische Areal einer Seite PMC
beeinflusst ipsi- und kontralateral die periphe- SMA
pre-SMA Basal-
ren Zielorgane. Dabei können die Motoneu- Cerebellum ganglien
rone für die proximale Muskulatur über Pro-
SPL, IPS,
jektionen zum Hirnstamm und Rückenmark M1 - S1
IPL
direkt erreicht werden. Distale Muskelgrup-
pen, wie sie etwa zur Versorgung der Hand
Hirnstamm
benötigt werden, sind von hier aus nur über
den primären motorischen Kortex anzuspre-
chen. Der prämotorische Kortex ist ebenfalls
somatotop organisiert, wobei die Abfolge Rückenmark
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394 12. Motorische Kontrolle
mit den Basalganglien und dem Kleinhirn ist dem Prinzip der „Parallel-Serien-Wandlung“
im Wesentlichen an der Übersetzung dieser (s. Kap. 11), wobei zunächst übergeordnete
„höheren“, der Motorik nahestehenden Kogni- Pläne, die als Schemata oder Skripte vorliegen,
tionen in die aktuellen Bewegungen beteiligt. in entsprechende untergeordnete Teilsche-
Die hier dargestellte Hierarchie motorischer mata oder Teilskripte zerlegt bzw. transfor-
Kontrollelemente belegt, dass die motorische miert werden müssen. Auf weiteren Ebenen
Kontrolle durch verteilte Systeme erfolgt, wo- werden dann die entsprechenden motorischen
bei auf jeder Ebene spezielle Kontrollinstanzen Kommandos abgerufen und zur Peripherie
durchlaufen werden. Hierbei trägt jedes Funk- geleitet, wo weitere Transformationsschritte
tionselement zum Gelingen des motorischen notwendig werden. Diese zeitliche Realisation
Ablaufs bei. Die übergeordneten Funktionsele- der Teilschritte muss dann einem zeitlichen
mente (z. B. im prämotorischen, aber auch im Muster (Rhythmus) zugeordnet werden, ge-
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frontalen Kortex) sind wahrscheinlich nicht mit mäß dem die einzelnen Teilschritte realisiert
den Details der Bewegung vertraut. In diesen werden.
Arealen werden die übergeordneten Pläne fest- Neben dieser zeitlichen Sequenzierung der
gelegt, die dann durch die untergeordneten Einzelschritte sind weitere Umcodierungen
Strukturen realisiert werden. Insofern erzwingt notwendig. So erfordert ein Handlungsplan
diese hierarchische Organisation eine Reihe die mentale Vorstellung eines Schemas oder
von Transformationen. Diese Transformatio- Skripts. Diese mentale Vorstellung setzt vo-
nen verlaufen auf den obersten Ebenen nach raus, dass dieses Schema oder Skript aus dem
Basalganglien
Start & Stopp
Bewegungswechsel
IDEE
Bewegung
SMA
Bewegungsauswahl
interne Steuerung
gelernte Bewegungen
Assoziations- M1
kortex Muskelaktivierung
Auswahl von Vorlagen
und Bewegungszielen
PMC
Bewegungsauswahl
externe Steuerung
sensomot. Kopplung intermediäres Kleinhirn
motor. Programme Vorbereitung von
Bewegungsmustern
laterales Kleinhirn
Vorbereitung von
Bewegungsmustern
somatosensorische
Afferenzen
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12.4. Motorareale 395
Gedächtnis abrufbar ist. Dann muss es in einer belegen jedoch, dass die Zuordnung von Neu-
bestimmten Form im Arbeitsgedächtnis re- ronengruppen zu den peripheren Muskeln
präsentiert werden. Wie diese Repräsentation bzw. zu den spinalen Motoneuronen wesent-
erfolgt, ist derzeit noch nicht eindeutig geklärt. lich komplexer ist. So ist insbesondere für die
So wird vermutet, dass diese Repräsentationen Repräsentation der Hand bekannt, dass indi-
vor und während der Bewegung „wahrneh- viduelle Axone der Pyramidenbahn an Grup-
mungsnah“ als Bilder (images) in den visuellen pen von Motoneuronen terminieren, die ver-
Arealen vorwiegend des ventralen Informati- schiedene Muskeln innervieren. Des Weiteren
onswegs (ventral stream) vorliegen. Manche konnte gezeigt werden, dass ein einziger Mus-
Repräsentationen können aber auch verbaler kel kortikal an verschiedenen Stellen reprä-
(in Form von Handlungsanweisungen) oder sentiert ist, wobei die räumliche Variabilität
auditorischer (z. B. Rhythmen) Natur sein. In bei nichtmenschlichen Primaten 2–3 mm er-
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solchen Fällen sind die Repräsentationen in reicht. Selbst die relative räumliche Zuord-
Spracharealen und im auditorischen Kortex nung einzelner Finger ist nicht immer ein-
lokalisiert. Eine andere Hypothese geht davon deutig und folgt nicht grundsätzlich dem
aus, dass Schemata und Skripte bereits in vor- motorischen Homunkulus, sodass gelegent-
bereiteter und in für die Motorik zugänglicher lich von einer verteilten kortikalen Repräsen-
Form vorliegen (motoriknah). tation gesprochen wird. Offenbar werden über
horizontale Verbindungen zwischen solchen
kortikalen Neuronen Neuronengruppen zu-
12.4.2. Funktion einzelner kortikaler sammengefasst, die das Erregungsmuster im
Areale – der Informations Vorderhorn des Rückenmarks kontrollieren,
fluss im motorischen System um ein koordiniertes Kontraktionsmuster her-
vorzurufen.
Die Funktionen, die durch die einzelnen Hirn- Anhand von Mikroelektrodenableitungen
bereiche kontrolliert werden, sind noch nicht in M1 beim Affen konnte gezeigt werden, dass
gänzlich verstanden, zumal viele motorische das spezifische elektrische Entladungsmuster
Funktionen offenbar durch das Zusammen- in einer großen Gruppe von Neuronen abhän-
spiel verschiedener Areale realisiert werden. gig von der Bewegungsrichtung der Hände
Das soll nicht bedeuten, dass alle motorischen variierte. Jedes einzelne Neuron der Neuro-
Funktionen über ein verteiltes neuronales nengruppe zeigte graduell sich ändernde Ent-
Netzwerk kontrolliert werden. Dass dies nicht ladungsmuster abhängig von der Bewegungs-
so ist, wird täglich in der neurologischen Klinik richtung, wobei jedes Neuron offenbar bei
an Patienten beobachtet, die spezifische moto- bevorzugten Bewegungsrichtungen mit ver-
rische Ausfälle infolge von eng lokalisierten stärkter Aktivität antwortete. Für jedes Neuron
Läsionen zeigen. Im folgenden Abschnitt wer- ergibt sich somit eine glockenförmige Bewe
den die „klassischen“ Funktionen einzelner gungsrichtungstuningkurve (Abb. 12-8) mit
motorischer Areale beschrieben. einer Bewegungsrichtung, die zu maximaler
Entladung führt, und Bewegungsrichtungen,
die zu geringeren bzw. minimalen Entladun-
Primärer motorischer Kortex – M1
gen führen. Hieraus ergibt sich in den Neuro-
Früher wurde davon ausgegangen, dass be- nengruppen für jede aktuelle Bewegungsrich-
stimmte Neurone aus M1 bestimmte Muskel- tung aus der Resultante der individuellen
gruppen ansteuern würden. Neuere anato neuronalen Entladungen ein Vektor, der so-
mische und physiologische Untersuchungen genannte Populationsvektor. Dieser Popu-
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396 12. Motorische Kontrolle
A) Prämotorische Areale
hoch
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12.4. Motorareale 397
konnte beim Menschen gezeigt werden, dass folgenden motorischen Prozessen verstärkt
der ventrale Prämotorkortex vorwiegend bei beteiligt ist:
der Vorstellung und Imitation komplexer Be- • Wechsel zwischen verschiedenen motori-
wegungen aktiv ist. Die enge räumliche Nähe schen Programmen (motor program shift)
zum bzw. die gelegentliche Überlappung mit • Lernen neuer sequenzieller uni- und bima-
dem Broca-Areal lässt vermuten, dass hierbei nualer Bewegungsmuster
ähnliche Funktionen aktiviert sind wie beim • Anpassen sequenzieller Bewegungsmuster
Generieren einer Sprachäußerung. an sich verändernde Anforderungen.
Für das supplementärmotorische Areal
(SMA) wird traditionell angenommen, dass es Das cinguläre motorische Areal (CMA) lässt
in die Planung und die intern geleitete Initiie- in Human- und Tierexperimenten neurophy-
rung von Bewegungen eingebunden ist. Dies siologische Aktivierungen während unter-
zeigt sich sehr deutlich bei Patienten mit bila- schiedlicher motorischer Aktivitäten erkennen.
teralen Läsionen in diesem Hirnbereich, die Obwohl die bisherigen Ergebnisse noch zu un-
nicht oder nur schwer in der Lage sind, willent- vollständig sind, um im Rahmen eines Lehr-
lich zu sprechen oder andere Bewegungen in buchs ausführlicher besprochen zu werden,
Gang zu setzen, obwohl automatische Bewe- scheinen die cingulären Motorareale in die
gungen (u. a. Reflexe) unbeeinflusst sind. Bei Auswahl von motorischen Handlungen ein-
der Initiierung der Bewegung durch externe gebunden zu sein, wobei diese Auswahl im Zu-
Reize zeigen diese Patienten allerdings keine sammenhang mit internen Motivationslagen
motorischen Auffälligkeiten. Trotz dieser ein- zu stehen scheint. Im vorangegangenen Kapitel
drucksvollen Befunde sind die Funktionen, die wurde die Rolle des Cingulums bei der Fehler-
durch das supplementärmotorische Areal kon- korrektur und -erkennung besprochen. Es ist
trolliert werden, noch nicht vollständig ver- durchaus möglich, dass Teile des cingulären
standen. Neuere Befunde aufgrund bildgeben- Motorareals auch in die allgemeine Fehlerkor-
der Verfahren erbrachten, dass dieses Gebiet rektur und Fehlererkennung eingebunden sind.
verstärkt in folgende motorische Kontrollpro-
zesse eingebunden ist:
• uni- und bimanuale sequenzielle Bewe-
Parietallappen
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398 12. Motorische Kontrolle
lichen Primaten ergaben, dass verschiedene Menschen ca. 7 cm langen intraparietalen Sul-
Parietallappenbereiche an Aufmerksamkeits- cus sind mindestens fünf Subregionen zu un-
und sensomotorischen Integrationsprozessen terscheiden, die in unterschiedliche senso-
beteiligt sind. Abbildung 12-9 zeigt schematisch motorische Prozesse involviert sind (Culham &
den menschlichen Parietalkortex mitsamt den Kanwisher, 2001):
wesentlichen anatomischen Landmarken. Der • der laterale intraparietale Sulcus (LIP),
Parietallappen beginnt hinter dem Sulcus cen- der Sakkaden im Zusammenhang mit Auf-
tralis mit dem Gyrus postcentralis, auf dem das merksamkeitsprozessen kontrolliert
primäre somatosensorische Areal lokalisiert • eine vor dem lateralen intraparietalen Sul-
ist. Dieses somatosensorische Areal ist ähnlich cus gelegene Greif-Region, die beim Zeigen
wie der Gyrus praecentralis somatotop geglie- und Greifen zu kortikalen Aktivierungen
dert, sodass sich hier ein somatosensorischer führt
•
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Homunkulus ergibt. Hinter dem Gyrus post- der anteriore intraparietale Sulcus (AIP),
centralis ist ein superiorer (SPL) von einem in- der beim visuell geführten Greifen, beim
ferioren Parietalkortex (IPL) zu unterscheiden. taktilen Explorieren, beim vorgestellten
Getrennt werden diese beiden Regionen vom Objektmanipulieren und beim mentalen
intraparietalen Sulcus (IPS). Entlang des beim Rotieren aktiv ist
• der kaudale intraparietale Sulcus (cIPS),
der insbesondere bei der dreidimensiona-
5 len visuellen Wahrnehmung beteiligt ist
CS S1
7
SPL
• das beim Menschen noch nicht eindeutig
AIP? nachgewiesene Gebiet im ventralen in
VIP? POS
PCS SMG traparietalen Sulcus (VIP), das bei visuell
TPJ LIP? wahrgenommenen Bewegungen in Rich-
IPL
AG tung zum Gesicht sowie bei Stimulationen
cIPS?
IPS des Gesichts aktiv ist.
SF
STS
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12.4. Motorareale 399
(Abb. 12-10). Das Kleinhirn erhält einen inten- xierte Objekte ausgerichtet bleiben kann.
siven afferenten Zustrom von somatosensori- Das Spinocerebellum erhält afferente In-
schen, vestibulären, visuellen und auditori- formationen von den Effektoren aus der Peri-
schen Informationen. Gleichzeitig erhält es pherie über das Rückenmark. Des Weiteren
Afferenzen aus dem Motorkortex, aber auch reagieren einzelne Zellen in diesem Gebiet auf
aus anderen Kortexbereichen. Das Kleinhirn auditorische und visuelle Reize und belegen,
innerviert über die Kleinhirnkerne verschie- dass das Kleinhirn auch in polysensorische In-
dene Hirnbereiche direkt oder indirekt. Hierzu tegrationen eingebunden ist. Das Spinocere-
gehören der Hirnstamm und der Thalamus. bellum hat sich wahrscheinlich im Zuge der
Über den Thalamus nimmt das Kleinhirn di- Phylogenese mit zunehmender Anforderung
rekten Einfluss auf das extrapyramidale Sys- an die Feinmotorik entwickelt. Läsionen des
tem (Basalganglien-Schleife). Spinocerebellums resultieren in Störungen der
Das Kleinhirn wird in drei unterschiedliche glatten Bewegungsabläufe, sodass manche
Bereiche unterteilt (Abb. 12-11): Bewegungen ruckartiger ausfallen. Läsionen
• Vestibulocerebellum im Bereich der Vermis (mesialer Teil des Spi-
• Spinocerebellum nocerebellums) resultieren in Störungen von
• Neocerebellum. Stand- und Haltemuskulatur und führen zu
einer Dysfunktion hinsichtlich der Koordina-
tion der axialen Muskulatur. Chronischer Al-
Motorkortex koholkonsum zerstört Zellen im anterioren
sensorischer
Kortex Vermisbereich. Patienten mit diesen Läsionen
leiden deshalb an Geh- und Standstörungen.
Auch akuter Alkoholkonsum beeinträchtigt
die Geh- und Standfunktionen. Läsionen der
Kleinhirn
etwas weiter lateral gelegenen intermediären
Zone (Grenze zwischen Spinocerebellum und
Neocerebellum) führen zu ungeschickten, ir-
regulären und teilweise erratischen Bewegun-
gen. Schnelle Zeigebewegungen resultieren
Muskeln sensorische häufig in sogenannten Dysmetrien, d. h. im
Organe
„Überschießen“ der Bewegung über den ange-
Abbildung 12-10: Schematische Darstellung des peilten Zielpunkt hinaus. Häufig können diese
Informationsflusses zum und vom Kleinhirn. Patienten die begonnenen Bewegungen nicht
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400 12. Motorische Kontrolle
Afferenzen: Efferenzen:
Bewegung +
Zielmotorik
Assoziationskortex Nucleus dentatus
Spinocerebellum
Thalamus
Pons
Vermis
Okulomotorik
Stützmotorik
Nucleus interpositus
P Nucl. ruber
Rückenmark ce onto
reb -
ell
um
Formatio
reticularis Nucleus fastigii
Gleichgewicht
Okulomotorik
Formatio
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reticularis
Vestibularorgan Nucleus vestibularis
Vestibulocerebellum (Deiters)
Abbildung 12-11: Schematische Darstellung der Einteilung des Kleinhirns. Synonym gebraucht wird
häufig auch noch die Einteilung nach dem stammesgeschichtlichen Alter (Phylogenese). Gemäß die-
ser Einteilung entspricht das Vestibulocerebellum dem Archicerebellum, das Spinocerebellum dem
Paläocerebellum und das Pontocerebellum dem Neocerebellum.
glatt und effizient beenden. Beim Erreichen Übergang von der einen zur anderen Teilbe-
des Ziels setzen Bewegungsoszillationen ein wegung realisieren können. Häufig ist auch die
(Intentionstremor). Bewegungsinitiierung verzögert, weshalb ver-
Der laterale Bereich des Kleinhirns (Klein mutet wird, dass das Neocerebellum stärker in
hirnhemisphären oder Neocerebellum) hat die Bewegungsplanung involviert ist, während
im Zuge der Entwicklungsgeschichte immens das intermediäre Cerebellum eher an der
an Volumen zugenommen. Dieses Gebiet er- Regulation der aktuellen Bewegung beteiligt
hält vielfältige Afferenzen von sensorischen ist. Bildgebende Arbeiten belegen, dass das
und motorischen Hirnbereichen und sendet Neocerebellum vorwiegend bei komplexeren
seine Efferenzen über den Nucleus dentatus Bewegungen aktiv ist, die offenbar mehr
zum extrapyramidalen System, zum Kortex Kontrollkapazität erfordern, während die in-
und zum Thalamus. Über den Thalamus ge- termediäre Zone mehr in die Kontrolle von
langen die Efferenzen der Kleinhirnhemisphä- automatischen Bewegungen eingebunden ist.
ren in den primären motorischen Kortex, den Das Kleinhirn ist, wie erwähnt, als ein Sa-
lateralen prämotorischen Kortex und die prä- tellitenrechner aufzufassen, der parallel zum
frontalen Hirnbereiche. Insofern ist das Neo- Informationsfluss vom und zum Gehirn an-
cerebellum in die willentliche Kontrolle der geordnet ist. Das bedeutet, dass die ab- und
Motorik eingebunden. Läsionen der Kleinhirn- aufsteigenden Bahnen mit dem Kleinhirn ver-
hemisphären resultieren in Bewegungsstörun- bunden sind. Über die absteigenden Bahnen
gen, die denen ähnlich sind, die bei Läsionen erhält das Kleinhirn eine Kopie der Befehle, die
der intermediären Zone auftreten. Zusätzlich in die Peripherie zu den Muskeln gelangen
können Störungen bei der sequenziellen Ab- (Efferenzkopie). Gleichzeitig erhält es eine
folge von komplexen Bewegungen auftreten, Kopie der Afferenzen, die aus den sensorischen
wobei die Patienten häufig keinen „glatten“ Organen zum Gehirn geleitet werden (Affe
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12.4. Motorareale 401
renzkopie). Man vermutet, dass das Kleinhirn (Pars compacta der Substantia nigra, Nucleus
anhand der Efferenzkopie auch die erwarteten subthalamicus und Pars externa des Globus
Afferenzen vorausberechnen kann und diese pallidus) sind im Wesentlichen mit Modula-
mit den tatsächlichen Afferenzen (Reafferenz) tionsprozessen betraut. Diese Kerngebiete
vergleicht. Aus diesem Vergleich ergibt sich projizieren in den Basalganglienkreislauf. Die
dann eine Differenz (Exafferenz), die die Ge- Efferenzen aus den Basalganglien in die
nauigkeit der Voraussage der erwarteten Affe- Peripherie steigen überwiegend in das Rü-
renzen ausdrückt und als wichtige Regelgröße ckenmark hinab. Basalganglienefferenzen er-
im motorischen System genutzt wird. reichen aber auch den Thalamus, der die mo-
Aufgrund der besonderen Verschaltung des torischen Areale im Frontallappen innerviert.
Kleinhirns ist es in viele Zusatzberechnungen Die von den Basalganglien ausgeübte Mo-
eingebunden, die für die motorische Kontrolle dulationsfunktion ist im Wesentlichen hem-
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wichtig sind. Es ist in die zeitliche und sequen- mender Natur, wobei das Ausmaß der Hem-
zielle Koordination der Motorik involviert, mung vom exzitatorischen Eingang aus dem
nutzt sensorische Informationen, um Bewe- Kortex abhängt. Entfällt innerhalb des Basal-
gungen „glatter“ erscheinen zu lassen, und ist gangliensystems z. B. der hemmende Einfluss
am Aufbau von Reiz-Reaktions-Verbindungen der Substantia nigra auf das Striatum (z. B. bei
beteiligt. Die Berechnung von Reiz-Reaktions- der Parkinsonkrankheit), nimmt der hem-
Verbindungen wird auch als Codierung be-
zeichnet und man erkennt diese Leistung sehr
gut an der visuell-motorischen Kopplung (s. u.). Kortex
Hierbei werden funktionelle Kopplungen zwi-
schen visuellen Reizen und motorischen Kom-
mandos hergestellt. So muss z. B. ein Tennis-
spieler die visuell ermittelte Position des
Tennisballs mit seiner Armposition (Werk- Substantia nigra Nucleus
zeugtransformation) und seiner Körpertrans- pars compacta caudatus und
Putamen
formation in Übereinstimmung bringen.
Basalganglien
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402 12. Motorische Kontrolle
mende Einfluss der Basalganglien auf motori- mandos ist zu berücksichtigen, dass ähnliche
sche Kortexareale zu, sodass v. a. das Starten und konkurrierende Kommandos gehemmt
und das Beenden von Bewegungen erschwert werden. Werden keine nützlichen motorischen
werden. Wenn allerdings der hemmende Ein- Kommandos gefunden, müssen neue Kom-
fluss vom Striatum zum Globus pallidus re- mandos erlernt oder aus bestehenden neu zu-
duziert ist, was im Fall der Huntingtonkrank- sammengesetzt werden. Dann muss die Hand-
heit wahrscheinlich der Fall ist, dann resultiert lung gestartet werden. Möglich ist ja, dass alle
daraus als „Nettokonsequenz“ reduzierte motorischen Kommandos vorhanden sind,
Hemmung und damit kortikale Erregung, die man motiviert ist, eine bestimmte Vorstellung
letztlich in „überschießenden“ Bewegungen zu realisieren, sich aber nicht traut, weil man
resultiert. Diese Beispiele belegen, dass inner- Sorge hat, den sozialen Regeln zu widerspre-
halb des Basalgangliensystems ein kompli- chen. Entscheidet man sich, die Handlung aus-
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12.5. Planung von Bewegungen 403
Menge von konkurrierenden motorischen weisreiz und einem Go-Reiz entwickelt sich eine
Kommandos. Verlängerte Reaktionszeiten negative Gleichspannung. Vor allem der Teil der
sind auch festzustellen, wenn die Versuchs- Gleichspannung, der vor dem Go-Reiz auftritt, re-
personen zwischen komplexen und ähnlichen präsentiert Bewegungsvorbereitungsprozesse.
Bewegungen zu wählen haben. Nicht nur die (B) Bereitschaftspotenzial (BP), das sich vor einer
aktive Auswahl von motorischen Programmen Bewegung aufbaut. Es ist ein negatives Gleich-
ist in der Reaktionszeit repräsentiert, sondern spannungspotenzial, das sich ca. 1.5 s vor der
Bewegung über dem Vertex zu entwickeln beginnt.
auch die Unterdrückung von ähnlichen, aber
weniger effizienten motorischen Program-
men kostet offenbar „psychische“ Energie. verschiedene definierte Bewegungen wie-
Bewegungsvorbereitungsprozesse können derholt auszuführen, wobei der Bewegungs-
gut mittels ereigniskorrelierter Potenziale ge- beginn ihnen mehr oder weniger selbst über-
messen werden (Abb. 12-13). Hierzu wird das lassen ist.
sogenannte Bereitschaftspotenzial (BP) oder Die Contingent negative variation ist eine
das aus dem Bereitschaftspotenzial abgelei- langsame Verschiebung des EEG-Potenzials
tete lateralisierte Bereitschaftspotenzial (LRP) nach negativ im Zeitraum zwischen einem Hin-
gemessen. Eine andere Variante, Bewegungs- weisreiz (S1) und einem imperativen Signal
vorbereitungsprozesse neurophysiologisch zu (S2). Die spätere Phase der CNV, die vor dem
untersuchen, ist die sogenannte Contingent imperativen Reiz ansteigt, ist über dem Vertex
negative variation (CNV). maximal und dem BP sehr ähnlich. Trotz der
Das Bereitschaftspotenzial wird über die Ähnlichkeit wird die späte CNV von einer Viel-
Mittelung vieler EEG-Sequenzen, die vor dem zahl kortikaler Generatoren erzeugt. Die späte
Bewegungsbeginn gemessen werden, errech- CNV besteht wahrscheinlich aus zwei verschie-
net. Es ist ein Gleichspannungspotenzial, das denen bewegungsbezogenen Komponenten:
sich vor Bewegungsbeginn aufbaut. Circa Eine Komponente zeigt sich an zentroparieta-
1,5 s vor Bewegungsbeginn „entwickelt“ sich len Elektrodenpositionen (Pz) und reflektiert
eine bis zum Bewegungsbeginn zunehmende wahrscheinlich, dass die Reiz-Reaktions-Ver-
Negativierung. Diese Negativierung ist am bindungen für verschiedene erwartete Mög-
ausgeprägtesten über zentralen Elektroden- lichkeiten im Zusammenhang mit dem impera-
positionen (Cz und Fz) und repräsentiert Hirn- tiven Reiz (S2) bereitgehalten werden. Das
aktivierungen in lateralen und mesialen prä- könnten z. B. im Gedächtnis gehaltene Vorsätze
motorischen Hirnbereichen. In BP-Versuchen wie „Sobald die Reize rot werden, muss ich die
werden die Versuchspersonen aufgefordert, linke Taste drücken“ sein. Die andere Kom-
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404 12. Motorische Kontrolle
ponente der späten CNV hat ein frontozentra- diese Potenzialdifferenz getrennt für Durch-
les Maximum (Fz) und spiegelt wahrscheinlich gänge mit Reaktion der rechten und der linken
effektorspezifische Aktivierungen der hand- Hand aufsummiert und gemittelt. In formaler
motorischen Areale wider. Schreibweise und unter Nutzung der Elektro-
Das lateralisierte Bereitschaftspotenzial denpositionen C3 und C4 ergibt sich daraus
(LRP) ist als eine bestimmte Art zu betrachten, folgende Formel für das LRP:
wie die EEG-Daten verrechnet werden. Das
LRP = ((C3–C4)Bewegung rechts
LRP wird von zwei symmetrischen Kopfhaut-
+ (C4–C3)Bewegung links)/2.
positionen abgeleitet (meistens an den Elektro-
denpositionen C3 und C4) und ist definiert als Dieses Verrechnungsverfahren entfernt aus
die Potenzialdifferenz zwischen diesen beiden den Daten nichtlateralisierte sowie konstante
Elektrodenpositionen. Konkret ist dies die Dif- Asymmetrien. Somit reflektiert das LRP moto-
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12.6. Bewegungsvorbereitung
und Willenshandlungen
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12.6. Bewegungsvorbereitung und Willenshandlungen 405
dass der Wille, eine einfache Handbewegung Wie in den klassischen Experimenten zum
zu starten, bereits 1 s oder gelegentlich auch Bereitschaftspotenzial waren die Versuchsper-
1,5 s vor der Bewegung präsent ist. Um dies sonen angehalten, einfache Fingerbewegun-
genauer zu untersuchen, gestaltete er ein be- gen auszuführen. Sie konnten den Zeitpunkt
rühmt gewordenes Experiment, das im Fol- der Bewegung selbst wählen, waren allerdings
genden wiedergegeben wird (Abb. 12-15). instruiert, zwischen den einzelnen Finger-
55 60 5 5560 5
50 10 50 10
45 45
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15 15
40 20 40 20
353025 353025
bewusste Wahrnehmung
des Bewegungsbeginns
RP Amplitude
Knopfdruck
Abbildung 12-15: Das Libet-Experiment mit einem typischen Ergebnis. In der oberen Bilderreihe ist der
Ablauf des typischen Libet-Experiments schematisch dargestellt. Im Prinzip muss sich die Versuchs-
person während des Tastendrucks die Zeigerposition einer vor ihr angebrachten Uhr merken und diese
Position dem Versuchsleiter mitteilen (nach Haggard, 2008). Im unteren Bild ist ein typisches Bereit-
schaftspotenzial dargestellt. Als Senkrechten sind die Zeitpunkte des Tastendrucks und des subjektiv
empfundenen freien Willens, die Taste zu drücken, eingezeichnet. Man erkennt, dass die bewusste Wahr-
nehmung des Wunsches, die Bewegung auszuführen, ca. 300 ms vor Bewegungsbeginn auftritt. (Nach-
gezeichnet nach Haggard, 2008)
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406 12. Motorische Kontrolle
bewegungen ca. 4–10 s verstreichen zu lassen. Impuls zur Bewegung verspürten. Insofern
Gleichzeitig sollten die Probanden eine vor mussten die Versuchspersonen viele psy-
ihnen angebrachte große Uhr betrachten und chische Funktionen anwenden, um diese Auf-
sich die Zeigerstellung zu dem Zeitpunkt mer- gabe zu meistern (Aufmerksamkeit, Arbeits-
ken, da sie den Impuls zur erneuten Finger- gedächtnis etc.). Des Weiteren mussten zur
bewegung spürten. Diesen Zeitpunkt sollten Berechnung der Bereitschaftspotenziale die
sie nach der Bewegung dem Versuchsleiter einfachen Bewegungen wiederholt durch-
mitteilen. Während des gesamten Versuchs- geführt werden. Insofern ist es durchaus mög-
ablaufs wurde das EEG gemessen. lich, dass die Bereitschaftspotenziale nicht die
Libet erfasste folgende Messwerte: das Be- willentliche Vorbereitung der Fingerbewegung
reitschaftspotenzial, den Beginn der Finger- repräsentierten, sondern eher die neuronalen
bewegung und den Zeitpunkt, an dem die Aktivitäten, die mit der Vorhersage immer
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12.6. Bewegungsvorbereitung und Willenshandlungen 407
SMA Parietal-
pre-SMA Prämotor- M1 kortex
M1 S1
kortex
intrapa-
Präfrontal- rietaler
kortex Sulcus
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Basalganglien
Abbildung 12-16: Zusammenfassung der Ergebnisse von Desmurget et al. (2008). Im Parietallappen soll
der „Wunsch“, eine Bewegung durchzuführen, codiert sein. Dieser „Wunsch“ wird in den lateralen Prä-
motorkortex übertragen und löst dort die motorischen Kommandos aus.
Es ist vorstellbar, dass sogar Willenshandlun- Zusammenhang steht auch das Ziel, das mit
gen mehr oder weniger unbewusst ablaufen der spezifischen Bewegung erreicht werden
können. Im Hinblick auf das Bewusstwer- soll (Zielauswahl). Dies hat etwas mit Planen
den von Handlungen kann ein Kontinuum und der Zukunftsorientierung zu tun. Pla-
angenommen werden, das sich zwischen Re nungsprozesse werden vorwiegend von Hirn-
flexen und Willenshandlungen erstreckt strukturen im frontopolaren Kortex kontrol-
(Abb. 12-17). Reflexe, die ausschließlich reiz- liert. Hat man sich für ein bestimmtes Ziel
getrieben sind, laufen ab, ohne dass sie be- entschieden, muss geklärt werden, mit wel-
wusst werden. Willenshandlungen, die auf der chen spezifischen Bewegungen dieses Ziel er-
anderen Seite dieses Kontinuums angesiedelt reicht werden soll.
und vorwiegend reizunabhängig sind, laufen Im nächsten Schritt muss die spezifische
vorwiegend bewusst ab. Allerdings ist es mög- Aufgabe oder das spezifische Teilziel aus-
lich, dass sich Teile der Willenshandlung oder gewählt werden (Teilzielauswahl). In der Regel
gar die gesamte Willenshandlung unbewusst
entfalten.
Kontinuum
Die psychischen Prozesse, die sich bei Wil-
lenshandlungen entfalten, sind als serielle Ab-
folge von Teilprozessen vorstellbar (Abb. 12-
18). Am Beginn der Willenshandlung findet
Reflex Willenshandlung
sich die Motivation für eine bestimmte Hand-
reiz-
lung. Mit anderen Worten geht es hier um die reiz-
getrieben unabhängig
Frage, ob man eine bestimmte Bewegung aus-
führen soll, und wenn man sie ausführt, wa- Abbildung 12-17: Kontinuum zwischen Reflex
rum man diese Bewegung ausführt? In diesem und Willenshandlung.
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408 12. Motorische Kontrolle
letzte Überprüfung
der Folgen
(Vorwärtsmodell)
g?
idun
he Handlungs-
sc
Ent auswahl
lche
We
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Aufgaben-
auswahl
frühe
Entscheidung
Motivation, externe Umgebungs-
Begründung für bedingungen
Handlung
wird das Hauptziel durch Realisierung ver- handengekommen. Die von den Patienten aus-
schiedener Teilziele erreicht, die seriell an- gelösten Bewegungen und Handlungsfolgen
geordnet werden müssen. Die Auswahl des können selbst für die Patienten peinlich wer-
aktuellen Teilziels ist nicht unproblematisch den (in der Literatur ist z. B. ein Fall von un-
und erfordert die Hemmung anderer Teilziele, willentlicher Masturbation verbürgt; Bejot et
damit sich das wichtige und im Moment effi- al., 2008).
zientere Teilziel entfalten kann. Patienten mit Hat die Teilzielauswahl stattgefunden,
Läsionen im lateralen Frontalkortex und in der muss im nächsten Schritt aus dem Repertoire
pre-SMA haben mit der Auswahl von Teilzie- aller verfügbaren Bewegungen die jeweils
len Schwierigkeiten. Ein typisches Beispiel ist adäquate ausgewählt werden (Bewegungs-
die Magnetapraxie, die bei Patienten mit den auswahl). Aufgrund von bildgebenden Un-
oben beschriebenen Läsionen häufig fest- tersuchungen ist bekannt, dass für die Bewe-
gestellt werden kann. Diese Patienten greifen gungsauswahl ein frontoparietales Netzwerk
wahllos nach allen sich in ihrem Sehfeld an- verantwortlich ist. Im Parietallappen werden
bietenden Objekten. Sie können nicht mehr die sensorischen Ziele, die mit den Bewegun-
selbstkontrolliert auswählen; sie sind reizge- gen erreicht werden sollen, berechnet und
trieben. Ein anderes Beispiel ist das sogenannte mental repräsentiert. Wahrscheinlich werden
Alien-Hand-Syndrom. Sofern Patienten mit hier auch einige der Berechnungen durchge
diesem Syndrom nur Frontalkortexläsionen führt, die oben als invertierte Transforma
haben, führen sie Handlungen aus, die sie ei- tion bezeichnet wurden. Das bedeutet, es
gentlich gar nicht ausführen wollen. Ihnen ist werden aus den vorgestellten sensorischen
quasi ihr eigener Wille als verhaltenssteuern- Zielen die notwendigen motorischen Kom-
des Element durch die Frontalkortexläsion ab- mandos erschlossen, mit denen diese sensori-
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12.7. Bewegungslernen 409
schen Ziele erreicht werden können. Auch die handlungen ist bislang ausgespart worden: die
Berechnung von Soll-Ist-Differenzen erfolgt Einflüsse aus der Umwelt. Aus der Umwelt
im Wesentlichen im Parietallappen. Ein weite- erreichen den Organismus Reize und Anreize,
res Problem, das gelöst werden muss, ist die bestimmte Bewegungen in Betracht zu ziehen
Festlegung, dass die handelnde Person als der und sie auszuführen. Insofern haben wir es
Verursacher der Handlung angesehen wird hier mit einem typischen sensomotorischen
(Ich als Agent). Wir wissen, dass insbesondere Handlungskreislauf zu tun, wobei die Bewe-
Läsionen im unteren Teil des Parietallappens gung dazu dient, dem Organismus bestimmte
dazu führen können, dass diese Ursachen- sensorische Eindrücke zu vermitteln.
zuschreibung nicht mehr angemessen funk-
tioniert. Das kann z. B. zu einer weiteren Vari-
ante des Alien-Hand-Syndroms führen, bei der 12.7. Bewegungslernen
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410 12. Motorische Kontrolle
beschreibungen präsent. Das bedeutet, der Phase werden vornehmlich interne Kontroll
Lernende kann die Bewegungen benennen mechanismen genutzt, was dazu führt, dass
und auch gut verbal beschreiben. Erst durch die Bewegungskontrolle unabhängiger von
weiteres Üben wird die automatische Phase externen Reizen wird. Typische Hirngebiete in
erreicht. In dieser Phase werden die Bewegun- der automatischen Phase sind:
gen automatisch durchgeführt, ohne dass der • primärer motorischer Kortex (M1)
Akteur in der Lage ist, sie explizit zu beschrei- • dorsaler Prämotorkortex (dPMC)
ben. Dieses Phänomen zeigt sich eindrücklich • ventraler Prämotorkortex (vPMC)
bei Profisportlern, die große Probleme haben, • supplementärmotorisches Areal (SMA)
ihre besonderen motorischen Tätigkeiten ver- • Basalganglien
bal zu beschreiben; sie können sie einfach. • Kleinhirn.
Hierbei kommt zum Ausdruck, dass die moto-
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rischen Programme prozeduralisiert sind und Im Rahmen der internen Kontrolle wird
ohne Rückgriff auf bewusste Kontrollprozesse wahrscheinlich verstärkt auf fest etablierte
ablaufen. Für die motorische Kontrolle ist dies Transformationsalgorithmen zurückgegriffen
der optimale Lernzustand. (Abb. 12-19). Dadurch ist es möglich, bekann
In diesen drei Phasen sind jeweils spezi- te inverse Transformationen zu verwenden
fische Hirngebiete an der motorischen Kon- und die motorische Kontrolle im Sinne ei-
trolle beteiligt. In der kognitiven Phase ist ein nes Steuerungsprozesses (also ohne Einfluss
ausgedehntes Netzwerk an der motorischen durch externe Rückmeldungen; feedforward)
Kontrolle beteiligt. Dieses Netzwerk umfasst ablaufen zu lassen.
je nach Komplexität der motorischen Hand- Durch diesen Kontrollmodus ist das Gehirn
lung folgende Hirngebiete: in der Lage, schnell und automatisch Fehler zu
• primärer motorischer Kortex (M1) korrigieren. Gleichzeitig wird der Kortex von
• Lobulus parietalis superior (SPL) zeitraubenden Berechnungen „befreit“ und
• Lobulus parietalis inferior (IPL) kann sich auf andere Analysen konzentrieren.
• dorsaler Prämotorkortex (dPMC) Die Basalganglien und v. a. das Kleinhirn über-
• dorsolateraler Präfrontalkortex (DLPFC) nehmen bei geübten Bewegungen viele Be-
• ventrolateraler Präfrontalkortex (VLPFC) rechnungen, die parallel zur Kontrolle von
• mesiale prämotorische Areale (SMA, pre- Willenshandlungen ablaufen. So kann z. B. das
SMA, CMA). Kleinhirn Reiz-Reaktions-Assoziationen er-
mitteln und für die motorische Kontrolle zur
In der assoziativen Phase sind im Wesentli- Verfügung stellen.
chen die gleichen Hirngebiete aktiv wie in der Dass das Kleinhirn gerade für solche Reiz-
kognitiven Phase, jedoch mit geringerer In- Reaktions-Assoziationen spezialisiert ist, kann
tensität und geringerer räumlicher Ausbrei- anhand von Prismenexperimenten nach-
tung. Wird die automatische Phase erreicht, gewiesen werden. Lässt man eine Versuchs-
verändert sich das Aktivierungsmuster wäh- person mit einem Pfeil auf eine Scheibe wer-
rend der Bewegungsdurchführung erheblich. fen (beim Dartspiel), wird sie mehr oder
Kortikal sind die Aktivierungen bei der Kon- weniger gut die Pfeile um den zentralen Ziel-
trolle gelernter Bewegungen deutlich redu- punkt herum platzieren. Trägt sie allerdings
ziert und konzentrieren sich im Wesentlichen eine Prismenbrille, die ihren Geradeausblick
auf den primären Motorkortex, den dorsalen um ca. 20° nach links versetzt, wird sie zu Be-
und zentralen Prämotorkortex, das SMA, die ginn diese Pfeile ca. 20° nach rechts positio-
Basalganglien und das Kleinhirn. In dieser nieren. Nach einer Reihe von Durchgängen
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12.8. Bewegung, Vorstellung und Sprache 411
Abbildung 12-19: Veränderung von externer zu interner Kontrolle beim Lernen motorischer Abläufe. Je
besser eine Bewegung beherrscht wird, desto weniger wird der laterale Prämotorkortex und der laterale
Parietallappen in die motorische Kontrolle eingebunden. Vor allem die SMA und die Basalganglien über-
nehmen dann als interne Schleife die motorische Kontrolle.
passt sich das Gehirn an diese veränderte Reiz- wegungen, die unter Einbezug des SMA, des
Reaktions-Beziehung an. Der Versuchsperson Cingulums, der Basalganglien und des Klein-
gelingt es dann recht genau, das Ziel zu tref- hirns erfolgen.
fen. Wird die Prismenbrille wieder abgenom-
men, lässt sich ein Nacheffekt feststellen. Die
Versuchsperson trifft nicht das Ziel, sondern 12.8. Bewegung, Vorstellung
platziert die Pfeile zunächst etwas nach links und Sprache
versetzt. Es dauert eine Weile, bis sie sich an
die neue Situation gewöhnt hat und wiederum Aufgrund der Tatsache, dass die neuronalen
mehr oder weniger genau den zentralen Ziel- Netzwerke, die in die Kontrolle der Sprache
punkt trifft. Patienten, die unter einer Klein- und der Feinmotorik eingebunden sind, vor-
hirnläsion leiden, können sich nicht an die wiegend auf einer Hemisphäre – meist der
durch die Prismenbrille veränderte Blickrich- linken – lokalisiert sind, wurden häufig funk-
tung anpassen. Sie platzieren, die Prismen- tionelle Zusammenhänge zwischen diesen
brille tragend, die Pfeile konsistent nach rechts Funktionen vorgeschlagen. Im Rahmen einer
um ca. 20° versetzt. Nehmen sie die Prismen- Hypothese wird davon ausgegangen, dass die
brille wieder ab, kann bei ihnen kein Nach- linke Hemisphäre im Wesentlichen für die
effekt festgestellt werden. Sie positionieren Kontrolle von sequenziellen Bewegungen spe-
die Pfeile um den zentralen Zielpunkt herum zialisiert ist. Ohne Frage müssen beim Spre-
(Abb. 12-20). chen vielfältige sequenzielle Operationen er-
Andere Beispiele für durch motorisches folgen, bevor das akustische Sprechereignis
Lernen etablierte automatische Kontroll beim Zuhörer verständlich ankommt. Zu-
prozesse sind bei professionellen Pianisten nächst muss der Gedanke, der wahrscheinlich
festzustellen. Bei ihnen führen kleine Abwei- in paralleler Form (z. B. als Schema) vorliegt, in
chungen der Fingerbewegungen auf der Kla- eine serielle Ordnung gewandelt werden (Pa
viertastatur zu automatischen Korrekturbe- rallel-Serien-Wandlung). Die daraus resul-
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412 12. Motorische Kontrolle
Ablauf:
gesunde Person
40
erste mit nach Entfernung
Pfeilwürfe Prismenbrille der Prismenbrille
nach rechts
20
–20
–40
nach links
Person wirft einen
Dartpfeil zum
Zielpunkt –60
Prismen-
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brille –80
Versuche
20
Abweichung vom Zielpunkt
–20
–40
nach links
–60
tierenden sequenziell geordneten Elemente der sequenziellen Ordnung treten v. a. dann
müssen dann durch sehr präzise aufeinander auf, wenn die für diesen Prozess verantwort-
abgestimmte motorische Realisationen zu lichen Hirngebiete Läsionen aufweisen (z. B.
verständlichen Phonemen geformt werden. im Zuge einer Broca-Aphasie).
Hierbei ist die präzise zeitliche Ordnung und Läsionen der linken Hemisphäre im Be-
das Einhalten von bestimmten Zeitintervallen reich der prämotorischen Areale führen auch
wichtig, damit der Empfänger verstehen kann, zu Störungen sequenzieller Bewegungen, die
was der Sprecher übermitteln will. Probleme nicht direkt mit linguistischen Funktionen in
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12.8. Bewegung, Vorstellung und Sprache 413
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414 12. Motorische Kontrolle
Motor
GAD
Sprache
Wörter Aktionseinheiten
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Ball,
Junge,
Mädchen,
werfen,
etc.
GAD GAD
Der Junge
warf
den Ball
zum Mädchen.
Abbildung 12-21: Generative assembly device (GAD) nach Michael Corballis (2002). Das GAD soll ein
Hirngebiet sein, das zwischen den Motorarealen und dem Broca-Areal liegt. Es soll für die sequenzielle
Ordnung von motorischen Aktionen spezialisiert sein.
einem 40 Stunden dauernden Golftraining caudatus aktiv. Nach dem Training hat sich die
vorzustellen (Bezzola et al., 2012). Während Aktivität im Prämotorkortex verringert. Es
des Vorstellens der Golfschwünge wurden die sind also während des Vorstellens des Golf-
Durchblutungsveränderungen im Gehirn ge- schwungs jene Hirngebiete aktiv, die wahr-
messen und zwei wesentliche Befunde er- scheinlich beim Ausführen eines „echten“
hoben: Während des Vorstellens des Golf- Golfschwungs aktiv wären. Des Weiteren sind
schwungs sind der Prämotorkortex, der im Prämotorkortex nach dem Training gerin-
superiore Parietallappen und der Nucleus gere Aktivierungen festzustellen, was auch
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12.9. Störungen der Motorik 415
physiologisch repräsentiert sein. Eine Mög- Abbildung 12-22: (A) Hirngebiete, die beim men-
lichkeit besteht darin, dass sie in jenen Hirn- talen Vorstellen eines Golfschwungs aktiv waren.
bereichen repräsentiert sind, die sie auch (B) Aktivierungsveränderungen im Prämotorkor-
verarbeiten, wenn diese Afferenzen und Effe- tex als Folge eines 40 Stunden dauernden Golf-
renzen explizit vorliegen. Insofern müssten trainings. Aktivitätsreduktionen bei Golfnovizen,
beim Vorstellen von Bewegungen, je nach- die am Golftraining teilgenommen hatten (dunkle
dem, was man sich vorstellt (die Afferenz oder Balken), und Aktivitätsreduktionen bei Golfno-
die Efferenz), entsprechende kortikale Akti- vizen, die nicht am Golftraining teilgenommen
hatten (helle Balken).
vierungen feststellbar sein.
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416 12. Motorische Kontrolle
Bewegungen gekennzeichnet. Der Rigor ist werden, einen Brief in einen Briefkastenschlitz
eine Muskelstarre, die sich durch eine gestörte einzuwerfen. Ihnen gelingt es nicht auf An-
Synchronisation zwischen der Muskelaktivität hieb, den Brief in einer horizontalen Position
von Agonisten und Antagonisten ergibt. Der zum Briefkastenschlitz zu führen. Sie müssen
Tremor ist ein Muskelzittern, das auch in Ruhe durch Probieren herausfinden, in welcher Po-
auftritt. Die Gabe von L-Dopa, dem Vorläufer sition der Brief durch den Schlitz passt.
von Dopamin, kann die motorischen Symp- Unter dem Begriff der Apraxie werden ver-
tome deutlich verringern. schiedene motorische Störungen zusammen-
Eine weitere Basalganglienstörung mit gefasst. Es handelt sich um Störungen der Aus-
dramatischen Folgen für die Motorik ist die führung willkürlicher zielgerichteter und
Chorea Huntington, die autosomal-domi- geordneter Bewegungen bei ansonsten intak-
nant vererbt wird. Neben der Demenz tre- ter motorischer Funktion. Eine Lähmung oder
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ten choreatische Bewegungen auf, d. h. plötz- Ataxie besteht nicht und unwillkürliche Bewe-
lich einsetzende, unwillkürliche Bewegungen gungen können koordiniert ausgeführt wer-
verschiedener Glieder, durch die initiierte den. Betroffen sind die Mimik (Apraxie des
Willkürbewegungen unterbrochen werden. Gesichts), das Sprechen (Apraxie der Sprech-
Die Patienten versuchen gelegentlich, die cho- werkzeuge), die Gestik und/oder der Gebrauch
reatischen Bewegungen zu verbergen, indem von Werkzeugen (Extremitätenapraxie). Die
sie diese in willkürliche Bewegungsabläufe Ursache für dieses Störungsbild sind Hirn-
einbauen. Im fortgeschrittenen Stadium sind schädigungen meist der sprachdominanten
die Muskelbewegungen jedoch nicht mehr Großhirnhälfte (bei 95 % der Rechtshänder
kontrollierbar. Letztlich kommt es bei dieser und 70 % der Linkshänder ist dies jeweils die
Erkrankung zum plötzlichen Grimassieren linke Hirnhälfte). Neurologische Ursachen
und zu schleudernden Bewegungen von Ar- dieser Läsionen sind Schlaganfälle, Demenz-
men und Beinen. Bei diesen Patienten findet erkrankungen, Tumore, Hirnhautentzündun-
sich ein starker Verlust GABAerger Neurone gen oder andere neurologische Beeinträchti-
im Striatum. Dieser Mangel soll der Grund für gungen der sprachdominanten Hemisphäre.
den Ausfall der direkten Inhibition des Globus Der deutsche Neurologe und Psychiater
pallidus und der Substantia nigra sein. Hugo Liepmann (Goldenberg, 2003) hat die
Die optische Ataxie ist eine motorische Apraxie zuerst beschrieben und sie in drei Un-
Störung, die im Zusammenhang mit dem Bá- terformen eingeteilt: die ideomotorische, die
lint-Holmes-Syndrom auftritt. Die optische ideatorische und die visuell-konstruktive
Ataxie ist die Unfähigkeit, zielgerichtete Apraxie. Heute wird vorwiegend die Klassi-
Hand- bzw. Greifbewegungen unter Kontrolle fikation von Kenneth Heilman oder Georg
durch die Augen durchzuführen. Sie tritt auf, Goldenberg verwendet. Heilman (Heilman &
wenn bilaterale parietookzipitale Läsionen Valenstein, 2003) hat die Einteilung von Liep-
unter Einschluss des Gyrus supramarginalis mann um weitere Unterformen ergänzt und
und des Gyrus angularis vorliegen. Die Seh- präzisiert. Er unterscheidet sechs Apraxien
rinde ist dagegen nicht betroffen. Die Patien- (Tab. 12-1):
ten können ihre Greifbewegungen nicht mehr 1. anteriore ideomotorische Apraxie
mit den visuellen Informationen koordinieren, 2. posteriore ideomotorische Apraxie
wahrscheinlich, weil die visuell-motorische 3. Leitungsapraxie
Transformation nicht mehr möglich ist. Diese 4. Disassoziationsapraxie
visuell-motorische Problematik kann demons- 5. ideatorische Apraxie
triert werden, wenn die Patienten aufgefordert 6. konzeptuelle Apraxie.
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12.9. Störungen der Motorik 417
Tabelle 12-1: Fehlermuster bei den unterschiedlichen Apraxien nach Heilman & Valenstein (2003).
Bei der anterioren ideomotorischen Apra chen durch einen fehlerhaften Werkzeug-
xie sind insbesondere Gesten und die Imi- gebrauch gekennzeichnet. Patienten, die un-
tation von Bewegungen gestört. Patienten mit ter dieser Apraxie leiden, können Werkzeuge
dieser Apraxie sind ungestört im Werkzeug- wie Schraubenzieher und Hammer nicht kor-
gebrauch, können serielle Handlungen durch- rekt verwenden. Alle anderen motorischen
führen und aus den Bewegungen semantische Aktionen sind dagegen unauffällig.
Bedeutungen ableiten. Die posteriore ideo Georg Goldenberg (2007) unterteilt die
motorische Apraxie ist durch ein ähnliches Apraxien ebenfalls nach beobachtbaren
Muster von motorischen Störungen gekenn- Symptomen. Er unterscheidet drei Symptom-
zeichnet. Zusätzlich ist das Erschließen eines gruppen:
semantischen Verständnisses aus Bewegun- • Probleme beim Imitieren von Gesten
gen nicht mehr möglich. Das bedeutet, dass • Probleme beim Ausführen bedeutungsvol-
diese Patienten Symbole aus den Gesten nicht ler Gesten
mehr erkennen können. Ein typisches Sym- • Probleme beim Gebrauch von Werkzeugen
bol ist das Victory-Zeichen, das Winston und Objekten.
Churchill auf vielen Fotos demonstrierte. Die
Leitungsapraxie ist insbesondere durch die Beim Imitieren von Gesten kommt es darauf
Schwierigkeit des Imitierens von vorgemach- an, ob die Patienten Hand- oder Fingerstellun-
ten Bewegungen gekennzeichnet. Gelegent- gen zu imitieren haben. Bei der Imitation von
lich können diese Patienten auch Gesten nicht Handstellungen wird vermehrt auf das Körper-
mehr korrekt ausführen. Bei der Disassozia wissen zurückgegriffen, da die Position der
tionsapraxie ist die Produktion von Gesten Hand in Relation zu unterschiedlichen Körper-
grundsätzlich gestört. Die ideatorische Apra teilen (z. B. Stirn, Nase, Mund, Schulter) be-
xie ist durch häufige Fehler bei seriellen stimmt werden muss. Diese Analyse wird vor-
Handlungen gekennzeichnet. Das bedeutet, nehmlich linkshemisphärisch im Parietallap-
dass diese komplexen Handlungsfolgen nicht pen vollzogen. Finger hingegen sind sich sehr
mehr korrekt ausgeführt werden können. Dies ähnlich und entsprechend steht bei der Imi-
führt dazu, dass die unter diesen Störungen tation von Fingerstellungen die visuell-räumli-
leidenden Patienten Teile der Handlungen che Analyse dieser Objekte im Vordergrund,
auslassen, sie verfälschen oder eine falsche die vornehmlich rechtshemisphärisch durch-
Reihenfolge der Handlungsfolge generieren. geführt wird. Insofern kann aus der differen-
Die konzeptuelle Apraxie ist im Wesentli- ziellen Analyse von fehlerhaften Imitationen
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418 12. Motorische Kontrolle
der Finger- und Handstellungen auf die zu- • Jeder Transformationsschritt wird gelernt
grunde liegenden Läsionen geschlossen wer- und ständig angepasst.
den. Die Analyse bedeutungsvoller Gesten wird • Das zentrale Problem der Bewegungskon
im Wesentlichen durch das semantische Wis- trolle ist, die motorischen Kommandos so
sen geleitet, das vorwiegend im linkshemisphä- zu bestimmen, dass nach dem Durchlaufen
rischen Parietal- und Temporallappen gespei- der motorischen Transformation die be-
chert ist. Die Kontrolle komplexer Handlungs- absichtigte Bewegung entsteht.
folgen mit Werkzeugen und anderen Objekten • Die Kontrolle der Willkürmotorik ist de-
erfordert eine dezidierte Planung der Hand- finiert als ein Prozess, bei dem ein motori-
lung, bei der das Wissen bezüglich der Werk- scher Plan in Bewegung umgesetzt wird.
zeuge und Objekte, aber auch das Wissen über Willkürmotorik unterscheidet sich von Re-
die Struktur des Körpers wichtig ist. Wissen be- flexmotorik, bei der sensorische Reize eine
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züglich der Werkzeuge und des Körpers muss definierte und nicht veränderbare Bewe-
gerade beim Werkzeuggebrauch miteinander in gungsantwort auslösen.
Verbindung gebracht werden. Dieser Zusam- • Prinzipiell können zwei motorische Kon-
menhang wurde bereits als Werkzeugtransfor- trollprozesse unterschieden werden: mo-
mation beschrieben (s. o.). Werkzeugtransfor- torische Regelung und Steuerung. Im
mationen sind hochkomplexe psychologische englischen Sprachraum werden im Zusam-
Funktionen, da kulturell erworbenes Wissen menhang mit der motorischen Kontrolle
mit Bewegungen in Verbindung gebracht wer- die Begriffe closed-loop (für Regelung)
den muss. Es bedeutet, dass gerade hier Ler- und open-loop (für Steuerung) verwendet.
nen und Erfahrung sehr wichtig sind. Genutzt werden auch die Begriffe feedfor-
ward-control (für Steuerung) oder nega-
tive feedback-control (für Regelung). Im
12.10. Zusammenfassung menschlichen Gehirn laufen beide Pro-
zesse parallel ab, sodass in den meisten
• Der Mensch ist in der Lage, Bewegungen zu Fällen die beobachtbare Bewegung immer
erfinden, die in der Natur nicht vorkommen. durch beide Kontrollmodi bestimmt wird.
Dies deutet darauf hin, dass der Mensch • Das motorische Programm ist ein Satz
sehr flexibel ist, Bewegungen zu lernen. zentraler Kommandos zur Durchführung
• Bei der Kontrolle menschlicher Bewegun- von Bewegungen. Es läuft nach Bewegungs-
gen müssen motorische Transformatio beginn ohne Rückgriff auf sensorische
nen durchgeführt werden. Unterschieden Rückmeldungen ab. Mögliche Fehler in der
werden die neuromuskuläre Transforma- Bewegungsausführung können frühestens
tion, die Körper- und die Werkzeugtrans- nach einer Reaktionsperiode (ca. 200 ms)
formation. durch ein aktualisiertes Programm korri-
• Bei der neuromuskulären Transformation giert werden. Insofern kann das motorische
wird neuronale Aktivität in Muskelaktivität Programm als ein reiner Steuerungsmecha-
umgewandelt. nismus aufgefasst werden.
• Bei der Körpertransformation wird Muskel- • Ein generalisiertes motorisches Programm
aktivität in die Kinematik der Gliedmaßen (GMP) spezifiziert die invariante Kinematik
transformiert. und die dynamischen Merkmale einer Be-
• Im Rahmen der Werkzeugtransformation wegung. Damit wird eine ganze Klasse von
wird die Gliedmaßenkinematik in die Be- Bewegungen spezifiziert. Die jeweiligen
wegung der Werkzeuge umgesetzt. spezifischen Bewegungen werden durch
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12.10. Zusammenfassung 419
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420 12. Motorische Kontrolle
(motor program shift), (2) Lernen neuer se- cleus subthalamicus. Nucleus caudatus und
quenzieller uni- und bimanualer Bewe- Putamen werden zum Striatum zusammen-
gungsmuster und (3) Anpassen sequenziel- gefasst. Das Striatum erhält afferenten In-
ler Bewegungsmuster an sich verändernde formationszustrom aus dem Kortex und
Anforderungen. dem Thalamus. Efferente Informationen
• Das cinguläre motorische Areal (CMA) ist werden über den Globus pallidus und die
an der Auswahl von motorischen Hand- Substantia nigra in das Rückenmark proji-
lungen beteiligt, wobei es durch seine Ver- ziert. Substantia nigra, Nucleus subthalami-
bindung zum limbischen System den mo- cus und der Globus pallidus projizieren
tivationalen Teil der Bewegungsauswahl auch in den Basalganglienkreislauf. Über
vermittelt. den Thalamus erreichen die Basalganglie-
• Im Parietallappen befinden sich neuronale nefferenzen die motorischen Areale im
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12.10. Zusammenfassung 421
suchsperson muss während des Tasten- im Wesentlichen auf den primären Motor-
drucks auf eine große Uhr schauen und sich kortex, den dorsalen und zentralen Prä-
die Zeigerposition in dem Moment merken, motorkortex, das SMA, die Basalganglien
in dem sie den Willen verspürte, auf die und das Kleinhirn. In dieser automatischen
Taste zu drücken. Es stellte sich heraus, Phase werden vornehmlich interne Kon
dass das Gehirn vor der vermeintlichen trollmechanismen genutzt, was dazu
Willensentscheidung ca. 1 Sekunde offen- führt, dass die Bewegungskontrolle un-
bar in Vorbereitungsprozesse eingebunden abhängiger von externen Reizen wird.
ist. Daraus wird abgeleitet, dass der freie • Sprache und Bewegung weisen einige Ge-
Wille die Bewegung gar nicht eingeleitet meinsamkeiten auf. Bei der Sprach- und
haben könne. Das Libet-Experiment wird Bewegungsproduktion müssen Parallel-
aber methodisch und theoretisch diskutiert. Serien-Wandlungen vorgenommen wer-
• Neuere Experimente am offengelegten Ge- den. Dies soll nach Michael Corballis in ei-
hirn von Patienten, die eine neurochirurgi- nem besonderen Hirngebiet, dem General
sche Operation erwarteten, belegen, dass assembly device (GAD), erfolgen, das so-
der Wunsch, eine Bewegung durchzufüh- wohl für Sprache als auch für die Bewegung
ren (urge to move), mit neurophysiologi- genutzt wird.
schen Aktivierungen im unteren Teil des • Bei der Bewegungsvorstellung sind in der
Parietallappens assoziiert ist. Regel die gleichen Hirngebiete aktiv, die
• Willenshandlungen können als Kette von auch bei der Bewegungsausführung aktiv
seriell ablaufenden Teilprozessen aufgefasst wären. Die Aktivierungen sind allerdings
werden: Motivation für die Bewegung, Auf- geringer und weisen eine geringere räumli-
gaben- und Handlungsselektion, Vorhersage che Ausdehnung auf. Die Aktivierungen
des Bewegungserfolgs und Bewegungsini- beim mentalen Vorstellen des Durchführens
tiierung. Am Ende dieser Kette besteht im- einer Bewegung verändern sich im Zuge des
mer noch die Möglichkeit, die vorbereitete Übens der vorgestellten Bewegung.
Bewegung nicht auszuführen. Dieses Phäno- • Die optische Ataxie ist eine motorische
men wird als Veto-Möglichkeit bezeichnet. Störung, die im Zusammenhang mit dem
Aufgrund bildgebender Arbeiten weiß man, Bálint-Holmes-Syndrom auftritt und durch
dass diese Veto-Funktion über frontome- die Unfähigkeit gekennzeichnet ist, zielge-
diale Hirngebiete vermittelt wird. richtete Hand- bzw. Greifbewegungen unter
• Beim Bewegungslernen durchlaufen wir Kontrolle der Augen durchzuführen. Sie tritt
drei Phasen: die kognitive, die assoziative auf, wenn bilaterale parietookzipitale Läsio-
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422 12. Motorische Kontrolle
nen unter Einschluss des Gyrus supramargi- • Erläutern Sie die grundsätzliche Organisa-
nalis und das Gyrus angularis vorliegen. tion der Motorik.
• Unter dem Begriff der Apraxie werden ver- • Beschreiben Sie die wesentlichen Funktio-
schiedene motorische Störungen bei der nen von M1, den Prämotorarealen, dem
Ausführung willkürlicher zielgerichteter Parietallappen und dem Kleinhirn bei der
und geordneter Bewegungen bei intakter motorischen Kontrolle.
motorischer Funktion zusammengefasst. • Welche physiologischen Veränderungen
• Nach Liepmann werden drei Apraxiefor- treten bei der Planung und Vorbereitung
men unterschieden: (1) ideomotorische von Bewegungen auf?
Apraxie, (2) ideatorische Apraxie und (3) • Welche Aktivitätsveränderungen treten
visuell-konstruktive Apraxie. beim motorischen Lernen ein?
• Nach Heilman werden sechs Apraxiefor- • Was passiert im Gehirn während der men-
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423
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13.1. Warum das Gedächtnis so wichtig ist? 425
Umwelt erwerben, speichern sowie in den ohne dass wir uns bewusst daran erinnern
entsprechenden Situationen abrufen und in können. Dieses Gefühl der Vertrautheit (fa-
Handlungen umsetzen. Auch das Gefühls- milarity) kennzeichnet auch einen wichtigen
leben wird stark durch Erfahrungen beein- Gedächtnisprozess. Frühe Untersuchungen
flusst. Wenn die Umwelt durch kulturelle Leis- zum Lernen konzentrierten sich auf relativ
tungen gestaltet wird, dann ist auch das, was einfache Lernprozesse wie das klassische und
als angenehm, unangenehm und gefährlich operante Konditionieren. Beide Lernformen
empfunden wird, stark erfahrungsabhängig. sind sehr intensiv am Tiermodell untersucht
Lernen und Gedächtnis sind demzufolge für worden, sind aber auch für das menschliche
den Menschen enorm wichtig. Lernen relevant. Als einfachste Lernformen
Gedächtnis ist ein Sammelbegriff für Pro- werden die Habituation und die Sensitivie
zesse und Systeme, die für die Einspeicherung, rung aufgefasst.
die Aufbewahrung, den Abruf, das Verges- Alle Lernformen weisen Gemeinsamkei-
sen und die Anwendung von Informationen ten auf. Allen gemein ist der Umstand, dass
zuständig sind, sobald die ursprüngliche Informationen im Nervensystem, d. h. in Ner-
Quelle der Information nicht mehr verfügbar venzellen und Nervenzellverbänden gespei-
ist. Die im Gedächtnis verarbeiteten Informa- chert werden. Die zugrunde liegenden zel-
tionen können vielfältig sein und reichen von lulären und molekularen Mechanismen sind
Wörtern, Geräuschen, Bildern, Musikstücken, bei allen Lern- und Gedächtnisvorgängen
autobiografischen Aspekten, Wissen bis hin zu gleich. In den folgenden Abschnitten werden
spezifischen Fertigkeiten (Motorik, Sprach- die unterschiedlichen Lern- und Gedächt-
regeln etc.). nisprozesse dargestellt. Zunächst werden
Die unter dem Begriff Gedächtnis zusam- Gedächtnissysteme und -prozesse beschrie-
mengefassten Speichersysteme (Gedächtnis ben; es folgen Lern- und Gedächtnisvorgänge
systeme) können hinsichtlich der Zeit, der auf Molekül- und Zellebene. Am Ende die-
Modalitäten, der beteiligten Prozesse oder des ses Kapitels werden wir uns mit den mög-
Bewusstseinsgrades der jeweiligen Gedächt- lichen Konsolidierungsprozessen im Ge
nisfunktion unterschieden werden. Bezüglich dächtnis auseinandersetzen. Die jeweiligen
der Zeitdauer der gespeicherten Informa Gedächtnissysteme werden in eigenen Kapi-
tionen wird das Kurzzeit- (auch transientes teln detaillierter dargestellt.
Gedächtnis) vom Langzeitgedächtnis unter-
schieden. Hinsichtlich der unterschiedlichen
Modalitäten kann zwischen verbalem und
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426 13. Allgemeines zum Gedächtnis
der sensorische Speicher (auch Ultrakurz- Die Gedächtnisprozesse können in vier Pha-
zeitgedächtnis) angesiedelt, in dem Informa- sen eingeteilt werden. Aus Gründen der Über-
tionen für wenige Sekunden gespeichert wer- sichtlichkeit wird in diesem Lehrbuch das Ver-
den. Er liegt in zwei Formen vor: als visueller gessen als vierte Phase angesehen, was nicht
(ikonischer Speicher) und auditorischer Spei- in allen Lehrbüchern der Fall ist:
cher (echoischer Speicher). Im Kurzzeitge (1) Encodierung
dächtnis werden Informationen für Sekunden (2) Konsolidierung
bis maximal wenige Minuten gespeichert. Die (3) Abruf
Aufnahmekapazität des Kurzzeitspeichers ist (4) Vergessen.
begrenzt. Es wird davon ausgegangen, dass
ca. 7 ± 2 Informationseinheiten aufgenom- Encodierung: erste Phase des Gedächtnis-
men und kurzfristig behalten werden. Die prozesses. Sie wird häufig synonym mit dem
Informationen werden entweder in das Begriff Lernen verwendet. Man versteht da-
Langzeitgedächtnis überführt, dem Arbeits- runter die Abspeicherung bzw. Einspeicherung
gedächtnis bereitgestellt oder sie gehen ver- von Informationen.
loren. Das Langzeitgedächtnis ist sowohl Konsolidierung: Die gespeicherten Informa-
hinsichtlich der Dauer als auch der Kapazität tionen müssen aufrechterhalten werden. Man
unbegrenzt. Das Arbeitsgedächtnis nimmt spricht in diesem Zusammenhang von Reten
eine Sonderstellung ein, denn es ist nicht nur tion (englisch: retention). Während dieser
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13.5. Taxonomie des Langzeitgedächtnisses 427
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428 13. Allgemeines zum Gedächtnis
deklarativ nondeklarativ
episodisches semantisches Fertigkeiten Priming perzeptuelles Konditionieren
Gedächtnis Gedächtnis Gedächtnis
Erfahrungen Fakten Handlungen Bahnung Wahrnehmung Konditionie-
Personen Wissen Regeln ohne Anbin- rungen
Zeit dung an das
Raum Wissen
Ereignisse
bewusst bewusst unbewusst unbewusst unbewusst unbewusst
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gelernten Fakten. Es ist ein eher emotionsloses und Fertigkeiten (skills) gespeichert sind, z. B.
und damit „kaltes“ Gedächtnissystem. Jahres- Fahrradfahren, Autofahren oder sportliche Be-
zahlen von historischen Ereignissen, Formeln tätigungen. Diese Fertigkeiten werden durch
oder andere Sachverhalte sind in diesem Sys- intensives Üben aufgebaut und können nach
tem gespeichert. Das episodische Gedächtnis Konsolidierung unbewusst durchgeführt wer-
speichert Informationen über Ereignisse. Das den. Am Beispiel des Autofahrens ist dies an-
Besondere dieses Gedächtnissystems ist, dass schaulich darstellbar. Dem Anfänger fällt die
in ihm Gedächtnisinformationen miteinander Koordination der vielen Tätigkeiten beim Au-
verbunden sind, also wer mit wem was wann tofahren schwer. Er hat Mühe, den Anweisun-
und wo gemacht hat. Das heißt, dass im episo- gen des Fahrlehrers zu folgen, gleichzeitig die
dischen Gedächtnis Informationen zur Zeit, verschiedenen Kontroll- und Steuertätigkei-
zum Ort, zu Personen und den dazugehörigen ten des Fahrzeugführens durchzuführen und
Sachverhalten miteinander zu einem Gedächt- dann auch noch dem Verkehr und den Ver-
nisengramm verbunden werden. In der Regel kehrsregeln zu folgen. Mit zunehmender
sind solche Ereignisse auch interessant und Übung werden die einzelnen Kontroll- und
demzufolge mit emotionalen Regungen ver- Steuertätigkeiten beim Autofahren automati-
bunden. Die beiden Subsysteme des bewussten siert, sodass sie ohne bewusste Wahrnehmung
Gedächtnisses benötigen insbesondere das ablaufen. Das hat den Vorteil, dass kompli-
mesiotemporale Hirnsystem sowie den Fron- zierte Handlungsabläufe ohne Rückgriff auf
talkortex (insbesondere die lateralen Teile) und bewusste und damit Aufmerksamkeit for-
den Parietallappen (die lateralen Teile). Das dernde Prozesse durchgeführt werden kön-
episodische System greift darüber hinaus stär- nen. Des Weiteren eröffnet die unbewusste
ker auf das limbische System zurück, da epi- und automatische Kontrolle dieser Abläufe die
sodische Informationen stärker mit emotiona- Möglichkeit, dass gleichzeitig andere Tätig-
len Informationen besetzt sind. Das implizite keiten – auch bewusste – ausgeführt werden
Gedächtnis umfasst das prozedurale Gedächt- können. Am prozeduralen Gedächtnis betei-
nis, ein perzeptuelles Gedächtnis, ein Gedächt- ligt sind überwiegend die motorischen Hirn-
nis für assoziative Zusammenhänge und ein gebiete (Motorkortex, Prämotorkortex, Basal-
Gedächtnis für elementare Aspekte, die durch ganglien, Kleinhirn).
klassisches und instrumentelles Konditionie- Weiterhin wird das perzeptuelle Gedächt
ren zustande kommen. nis unterschieden. Wie der Name bereits an-
Das prozedurale Gedächtnis ist ein Ge- deutet, handelt es sich um ein Wahrnehmungs-
dächtnissystem, in dem Handlungsabläufe gedächtnis. Typischerweise speichert dieses
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13.6. Gedächtnis auf der zellulären Ebene 429
bestimmte, vertraute Wahrnehmung wird er- in den sie verarbeitenden sensorischen Netz-
zeugt (z. B. eine bestimmte Landschaft), ohne werken gespeichert werden. Sie können dann
dass man diese Wahrnehmungsbilder an das unbewusst auf diese Informationen zurück-
semantische Wissensgedächtnis anbinden greifen und die Aufgaben effizienter lösen.
kann. Das perzeptuelle Gedächtnis erzeugt Eine andere Gruppe von unbewussten Ge-
dann ein Gefühl der Vertrautheit und stößt dächtnissystemen umfasst Prozesse wie das
Interpretationsprozesse an, um das Vertraut- klassische und instrumentelle Konditionie
heitsgefühl zu erklären, was je nach Persön- ren. Hierbei handelt es sich um Lernprozesse,
lichkeitseigenschaft und den gespeicherten bei denen unbewusste Assoziationen zwischen
Gedächtnisinformationen zu teilweise skurri- verschiedenen Reizen, Reaktionen sowie Rei-
len „Erklärungen“ führen kann. zen und Reaktionen aufgebaut werden. Die
Das unbewusste Gedächtnis für assozia letzte Gruppe impliziter Lernprozesse umfasst
tive Zusammenhänge ist sehr gut mittels die zellulären Lernprozesse Habituation und
Priming-Aufgaben untersucht worden. Bei Sensitivierung.
Priming-Aufgaben werden den Versuchsper-
sonen unterschiedliche Reize dargeboten,
ohne dass sie wissen, dass diese Reize für spä- 13.6. Gedächtnis auf
tere Aufgaben von Bedeutung sein werden. der zellulären Ebene
Sollen sie allerdings Aufgaben im Zusammen-
hang mit diesen Reizen bearbeiten, dann zeigt Das menschliche Gehirn ist wie ein Netzwerk
sich, dass sie diese Aufgaben schneller lösen, organisiert, in dem die Informationen neuro-
als wenn sie auf Reize zurückgreifen, die sie physiologisch und verteilt über das Netzwerk
vorher noch nicht (auch nicht unbewusst) ge- repräsentiert sind. Verschiedene Nervenzellen
sehen haben. Angenommen, Sie sitzen in ei- werden zu Nervenzellensembles (neural as-
nem Büro, um sich dort mit dem Versuchslei- semblies), auch neuronale Netze genannt,
ter über einen nebensächlichen Sachverhalt zusammengeschaltet. Jede Nervenzelle hat
auseinanderzusetzen. Auf einer in diesem mit ca. 5 000–10 000 anderen Nervenzellen
Büro angebrachten Tafel stehen Wörter, die in Verbindungen aufgebaut. Je nach Qualität und
keinem Zusammenhang mit dem Gespräch Quantität der Verbindungen sind die Netz-
stehen. Auf diese Wörter wird während des werke unterschiedlich groß, fragil oder wi
Versuchs kein Bezug genommen. Nach dem derstandsfähig oder arbeiten schneller oder
Gespräch beginnt das Experiment in einem langsamer. Diese Netzwerke codieren die ge-
Nebenraum. Sie sehen auf einem Computer- speicherten Informationen als elektrische Er-
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430 13. Allgemeines zum Gedächtnis
regungsmuster, die sich innerhalb des Nerven- sen nicht unveränderbar sind, sondern ständig
zellensembles in einer noch nicht gänzlich neu entstehen, untergehen oder ihre Übertra-
verstandenen Art entwickeln und entfalten. gungseffizienz auf benachbarte Neurone ver-
Nicht nur die spezifische Art der elektrischen ändern können. Hebb postulierte, dass Synap-
Erregung innerhalb des Nervenzellensembles sen durch bestimmte Aktivitätskonstellationen
codiert die gespeicherte Information, die Co- ihre Übertragungsstärke ändern können. Eine
dierung hängt vielmehr auch davon ab, welche besondere Aktivitätskonstellation wurde in der
Nervenzellen in das jeweilige Ensemble ein- Folge als Hebb-Lernregel bezeichnet und ex-
gebaut werden. Da die Informationsübertra- perimentell bestätigt: Je häufiger ein Neuron
gung innerhalb solcher Nervenzellnetzwerke gleichzeitig (oder leicht zeitverzögert) mit ei-
über Synapsen erfolgt, kommt der Qualität nem anderen Neuron aktiv ist, umso bevorzug-
und Quantität der synaptischen Verbindungen ter werden die beiden Neuronen aufeinander
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beim Lernen und bei Gedächtnisprozessen reagieren. Diese bevorzugte Reaktion wird
zentrale Bedeutung zu. Um es etwas salopp über biochemische Veränderungen der synap-
auszudrücken: Lernen erfolgt vorwiegend an tischen Übertragung zwischen diesen beiden
den Synapsen! Neuronen ermöglicht.
In der Anfangsphase der akademischen Mit anderen Worten bedeutet dies, dass die
Psychologie wurde von Engrammen oder Ge Verbindungen zwischen gleichzeitig feuern-
dächtnisspuren gesprochen, um anzudeuten, den Nervenzellen gestärkt werden (Abb. 13-1).
dass die Gedächtnisinhalte „irgendwie“ im Ge- Dieser Mechanismus wurde mit der Formel
hirn abgelegt werden, ohne wirklich eine kon- „neurons that fire together wire together“
krete Vorstellung davon zu haben, wie sie im (Neuronen, die gemeinsam feuern, steigern
Gehirn verankert werden. Einen bis heute gül- ihre synaptische Verbindung) plakativ zum
tigen Vorschlag, wie Engramme oder Gedächt- Ausdruck gebracht.
nisspuren in den Nervenzellensembles nieder-
gelegt werden, unterbreitete der kanadische
Neuropsychologe Donald O. Hebb (1949). Für 13.6.1. Habituation und
Hebb war die synaptische Plastizität entschei- Sensitivierung
dend. Das bedeutet, dass die meisten Synap-
Das Studium synaptischer „Lernmechanis-
Hebb-Lernregel men“ ist am menschlichen Gehirn praktisch
unmöglich, weshalb auf Tiermodelle zurück-
gegriffen wird. Ein sehr praktisches Tiermo-
dell ist die Schnecke, insbesondere die Aplysia
californica, die über ein Saugrohr und Kiemen
verfügt. Wird ein Wasserstrahl auf das Saug-
rohr gerichtet, ziehen sich die Kiemen sofort
zurück. Die Schnecke zeigt also eine Abwehr-
reaktion. Sie gewöhnt sich jedoch nach wieder-
holter Stimulation des Saugrohrs an den Sti-
mulus und zeigt schwächere oder letztlich
keine Abwehrreaktionen. Dieser Gewöh-
nungsprozess wird als Habituation bezeich-
Abbildung 13-1: Schematische Darstellung der net. Die Schnecke kann, auch nach erfolgter
Hebb-Lernregel. Habituation, wieder mit stärkerer Abwehr
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13.6. Gedächtnis auf der zellulären Ebene 431
reagieren, wenn bestimmte zusätzliche Reize Seite des sensorischen Neurons zu einer Re-
bestehen. Wird kurz vor dem Wasserstrahl auf duktion des Kaliumausstroms. Dadurch bleibt
das Saugrohr der Schwanz oder das Mantelge- die Membran länger depolarisiert (also akti-
rüst der Schnecke elektrisch gereizt, verstärkt viert), weil mehr Kalzium in die präsynaptische
sich ihre Abwehrreaktion. Dieser Vorgang wird Membran fließt. In der Folge werden größere
als Sensitivierung bezeichnet. Beide Vor- Mengen von Neurotransmittern vom sensori-
gänge werden als elementare Grundlagen des schen Neuron ausgeschüttet, die zur post-
Lernens und des Gedächtnisses aufgefasst und synaptischen Membran diffundieren.
ihre neuronalen Grundlagen sind bekannt. Sensitivierung und Habituation gelten als
Um den Habituationsprozess zu verste- einfachste Lern- und Gedächtnismechanis-
hen, muss die neuronale Verschaltung von men. Beide Prozesse laufen innerhalb von
Saugrohr und Kiemen verstanden sein. Das wenigen Minuten ab und können deshalb als
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Saugrohr wird von sensorischen Neuronen in- einfache Modelle des Kurzzeitgedächtnisses
nerviert, die wiederum direkt mit nach- angesehen werden. Neuere Untersuchungen
geschalteten Motoneuronen verbunden sind. zeigten, dass längere Stimulationen, z. B. mit-
Die Motoneurone lösen die Abwehrreaktion tels aversiver Reize auf den Schwanz der
der Kiemen aus. Das sensorische Neuron ist Schnecke, Proteinsynthesen hervorrufen, die
also über eine Synapse mit dem Motoneuron letztlich dazu führen, dass sich neue Synapsen
verbunden. Wiederholte Stimulation des sen- bilden und bestehende gestärkt werden.
sorischen Neurons führt zu reduzierter Aus-
schüttung von Neurotransmittern auf der
präsynaptischen Seite, was wiederum dazu 13.6.2. Langzeitpotenzierung
führt, dass das Motoneuron (postsynaptisch) und Langzeitdepression
schwächere Reaktionen (weniger Aktions-
potenziale) generiert. Die geringere präsy Ein weiterer wichtiger zellulärer Mechanis-
naptische Neurotransmitterausschüttung ist mus des Lernens und des Gedächtnisses ist
auf einen reduzierten Einstrom von Kalzium die Langzeitpotenzierung (long-term poten-
in die präsynaptische Membran zurückzufüh- tiation, LTP). Dieser Mechanismus wurde
ren. Kalzium stimuliert die Ausschüttung von ursprünglich im Hippocampus der Ratte iden-
Transmittern auf der präsynaptischen Seite. Je tifiziert, mittlerweile ist er aber auch in ver-
weniger Kalzium in die präsynaptische Mem- schiedenen Kortexgebieten, in der Amygdala
bran fließt, desto weniger Neurotransmitter und in den Basalganglien nachgewiesen wor-
schüttet die präsynaptische Membran aus und den. Das Grundprinzip der Langzeitpotenzie-
desto schwächer wird auch das Motoneuron rung ist gut an einer Modellsynapse zu ver-
stimuliert. deutlichen. Wird das präsynaptische Neuron
Die Sensitivierung durch den aversiven elektrisch stimuliert, werden Neurotransmit-
Reiz auf den Schwanz der Schnecke führt zu ter ausgeschüttet und exzitatorische post-
einer Zunahme der Neurotransmitteraus synaptische Potenziale (EPSP) ausgelöst. Wird
schüttung am sensorischen Neuron. Diese das präsynaptische Neuron über 1 s mit einer
Zunahme wird durch ein Interneuron vermit- Frequenz von 100 Hz stimuliert (tetanische
telt, das eine synaptische Verbindung mit dem Stimulation), so sind EPSP über Minuten bis zu
sensorischen Neuron eingeht. Dieses Inter- Stunden deutlich erhöht. Wird mit derselben
neuron wird durch den aversiven Reiz aktiviert Pulsfrequenz alle 10 min, z. B. 4-mal, gereizt,
und schüttet präsynaptisch den Neurotrans- dann sind die EPSP über Stunden bis Wochen
mitter Serotonin aus. Serotonin führt auf der erhöht. Dieser LTP-Mechanismus ist sehr spe-
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432 13. Allgemeines zum Gedächtnis
zifisch (Spezifität von LTP), denn er ist nur an In Rattenversuchen konnte gezeigt werden,
den Synapsen zu erkennen, die erregt wurden. dass Ratten, die in anregenden Umgebungen
Neben der Spezifität ist die Assoziativität lebten, neuronale Erregungsmuster zeigten,
ein weiteres Prinzip im Zusammenhang mit die denen der LTP ähnlich waren. Auch Ex
dem LTP-Mechanismus. Damit ist gemeint, perimente, bei denen Ratten räumliche Zu-
dass LTP auch bei miteinander funktionell ver- sammenhänge lernen mussten, resultierten in
bundenen Neuronen feststellbar ist, nicht im- Erregungssteigerungen im Hippocampus, die
mer mit der gleichen Stärke wie am stimulier- denen ähnlich sind, die bei LTP gefunden
ten Neuron, aber doch mit signifikant erhöhten werden. Eine andere Möglichkeit, heraus-
EPSP. Assoziativität bedeutet, dass nur Sy- zufinden, ob LTP verhaltensrelevant ist, be-
napsen, die am Zustandekommen eines be- steht darin, Gene experimentell so zu beein-
stimmten neuronalen Netzes beteiligt sind, flussen (knock-out), dass die Bildung von
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LTP zeigen. Synapsen, auch solche, die un- NMDA-Rezeptoren im Hippocampus unmög-
mittelbar in der Nachbarschaft zu Neuronen lich wird. Die so behandelten Ratten waren
liegen, die LTP aufweisen, aber nicht zum nicht mehr in der Lage, räumliche Orientie-
funktionalen Netz gehören, zeigen keine LTP- rungsaufgaben zu lernen, obwohl sie nicht-
bedingten Veränderungen. räumliche Aufgaben lernen konnten. Da der
Langzeitdepression (LTD) entsteht da- Hippocampus wesentlich am räumlichen Ler-
gegen, wenn die Stimulationsfrequenz we- nen beteiligt ist, deuten diese Studien darauf
sentlich geringer als 100 Hz ist. Genutzt wer- hin, dass LTP im Hippocampus an räumlichen
den hierbei Frequenzen um ca. 1 Hz. Danach Lern- und Gedächtnisprozessen beteiligt ist.
ist das EPSP an der postsynaptischen Zelle re-
duziert und die synaptische Verbindung damit
geschwächt. 13.6.3. Veränderung der Synapsen
Die molekularen Mechanismen der LTP beim Lernen
sind sehr gut geklärt. LTP findet an Synapsen
statt, die Glutamat als Transmitter nutzen. Während des Lernens finden morphologische
Postsynaptisch stimuliert Glutamat zwei Re- Veränderungen an den Synapsen statt, d. h.,
zeptortypen: den NMDA- und den AMPA- sie verändern ihre Form, ihre Größe und ihre
Rezeptor. Der NMDA-Rezeptor ist während Anzahl. Diese Veränderungen erfordern das
normaler Stimulationsbedingungen durch Auslesen von genetischen Informationen, da-
Magnesiummoleküle blockiert. Durch die te- mit die notwendigen Proteine gebildet wer-
tanische Stimulation der Präsynapse wird die den können (Genexpression). Dieser Prozess
postsynaptische Membran so stark durch die der morphologischen Veränderung von Sy-
großen Mengen an ausgeschüttetem Gluta- napsen wird als synaptische Konsolidierung
mat stimuliert, dass sich die Magnesiummole- bezeichnet. Durch diese synaptische Konsoli-
küle von den NMDA-Rezeptoren ablösen. Da- dierung wird die Verbindung zwischen den
durch wird der NMDA-Rezeptor frei und Synapsen verbessert, sodass die Informati-
ermöglicht das Anbinden von Glutamat. Das onsübertragung immer effizienter wird. Ein
hat zur Folge, dass mehr Kalzium über die zentraler Mechanismus ist die Ausbildung
postsynaptische Membran in die Zelle fließt. von Ausstülpungen an den Dendriten, die in
Dadurch wird ein Second-Messenger-Mecha- der Fachsprache auch Dendritic Spines ge-
nismus ausgelöst, der die Sensibilität für Glu- nannt werden. Es handelt sich um kleine Fort-
tamat an den AMPA-Rezeptoren erhöht und sätze, die je nach Lerndauer und Lernvorgang
die Erregbarkeit damit steigert. unterschiedlich groß und unterschiedlich
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13.7. Neuronale Netze 433
häufig sind. Vier Grundprinzipen der mor- die molekularen Mechanismen gut be-
phologischen Veränderung an den Synapsen kannt.
(hier an den Dendriten) können unterschie- • Alle synaptischen Lernmechanismen er-
den werden: fordern Veränderungen der Genexpression,
• Vergrößerung der dendritischen Fortsätze Proteinsynthese und führen zu morphologi-
• Entwicklung neuer synaptischer Zonen, die schen Veränderungen der Synapsen.
durch einen Spalt getrennt sind (perforierte
Synapsen)
• Entwicklung von neuen und völlig getrenn- 13.7. Neuronale Netze
ten dendritischen Fortsätzen
• Entwicklung neuer dendritischer Fortsätze. Künstliche „neuronale Netze“ sind Computer-
simulationen echter neuronaler Netze. Analog
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Diese morphologischen Veränderungen kön- zu den echten neuronalen Netzen bestehen die
nen nacheinander auftreten. Dendritische künstlichen neuronalen Netze aus Verarbei-
Fortsätze können bereits nach 30 min dauern- tungseinheiten, die ebenfalls als Neuronen
der LTP festgestellt werden. Nach ca. 1 h sind bezeichnet werden. Diese Neuronen sind mit-
neue separate Fortsätze bereits erkennbar. Ins- einander verbunden (Synapsen). Diese Ver-
gesamt kann festgehalten werden, dass sich bindungen können unterschiedlich effizient
durch diese morphologischen Veränderungen sein und demzufolge unterschiedliche Ge-
die Anzahl der Synapsen und die Größe der wichte aufweisen (man spricht auch von Ver-
synaptischen Fläche vergrößert. Dadurch wird stärkungsfaktoren). Das Weiterleiten der In-
die synaptische Übertragung effizienter. formationen erfolgt innerhalb dieser Netze
gemäß unterschiedlicher Regeln (Propagie
rungsregel). Gemäß der jeweiligen Regel
13.6.4. Zusammenfassung der sy können die Informationen vorwärts (feedfor-
naptischen Mechanismen ward) oder zurückführend (feedback) weiter-
geleitet werden. Während des Ausbreitens der
• Gedächtnisinhalte bzw. Engramme werden Erregungen innerhalb des Netzwerks nehmen
in neuronalen Netzwerken gespeichert die Neuronen unterschiedliche Aktivierungs-
(Neural Assemblies). zustände an, die abhängig von den Netzeigen-
• Hierbei ist die Verbindung zwischen den schaften und der jeweiligen Aktivierungsregel
Neuronen wesentlich. Diese Verbindungen unterschiedlich ausfallen können. Die jewei-
können infolge des Lernprozesses gestärkt lige Aktivität eines Neurons muss sich nicht
oder abgeschwächt werden. zwangsläufig auf die anderen Neurone des
• Die molekularen Mechanismen des Ler- Netzwerks ausbreiten, sondern kann abhängig
nens sind bislang an sehr einfachen Ner- von unterschiedlichen Ausgaberegeln geregelt
venzellmodellen untersucht worden (z. B. werden. Manchmal muss eine bestimmte Ak-
an dem der Schnecke). tivitätsschwelle der Neurone überschritten
• LTP und LDP sind wichtige Mechanismen werden, damit die Aktivität weitergeleitet
des Lernens, die v. a. am Hippocampus (ins- wird, aber auch andere, kompliziertere Aus-
besondere in der Schicht CA1) untersucht gaberegeln sind möglich. Wichtig ist die Ak
worden sind. tivierungsregel, die bestimmt, wie die Ein-
• Habituation und Sensitivierung sind wei- gangsaktivierungen eines Neurons mit dessen
tere zelluläre Modelle des Lernens. Bei momentanem Zustand zu einem neuen Zu-
diesen einfachsten Lernmechanismen sind stand des Neurons kombiniert werden. Die
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434 13. Allgemeines zum Gedächtnis
stärkungen repräsentieren die jeweiligen ge- Netz der Verbindungen (Synapsen) zwi-
speicherten Informationen. Man könnte auch schen den Neuronen
sagen, dass diese Muster als Engramme auf- • Gewichte der Verbindungen (Verbin
zufassen sind. Da es sich um Netzwerke han- dungsverstärkungen)
delt, die aus komplizierten Anordnungen von • Propagierungsregel für das Weiterleiten
Neuronen, Verbindungen und Verbindungs- eines Inputs
stärken aufgebaut sind, wird auch von einer • Aktivationszustände der Neuronen
• Output-Funktionen und Schwellenwerte
der Neuronen
A) B) • Aktivierungsregel, die bestimmt, wie alle
Eingänge eines Neurons, mit dessen mo-
mentanem Zustand zu einem neuen Zu-
stand des Neurons kombiniert werden
• Lernregel, nach der die Gewichte der Ver-
bindungen auf der Basis von Trainingsein-
C) D) gaben verändert und angepasst werden
können
• Umgebung, in der das lernende System ar-
beiten soll.
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13.7. Neuronale Netze 435
Aktivierungsregel A) B)
C) D)
1.0 1.0 –1.0 1.0 1.0 –1.0
∑
0.40 0
0.25 0.15 0 0.5 0.5 1
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436 13. Allgemeines zum Gedächtnis
Tabelle 13-3: Beispiel eines Netzwerks aus drei Neuronen (zwei Eingangsneuronen und ein Ausgangs-
neuron).
nen sind auch in Form von Tabellen darstell- = (1 × 0.25) + (1 × 0.15) = 0.40
bar. Tabelle 13-3 zeigt verschiedene Zustände
Ausgangsaktivierung in Zustand 2
eines Netzwerks aus drei Neuronen. In den
= (1 × 0.25) + (1 × 0.00) = 0.25
ersten beiden Spalten befinden sich unter-
schiedliche Werte für den Aktivierungsgrad etc.
der Eingangsneurone. Jede Zeile repräsentiert
einen unterschiedlichen Zustandszeitpunkt. In Abbildung 13-4D ist ein Netzwerk mit vier
In der dritten und vierten Spalte finden sich die Eingangsneuronen und ein Ausgangsneuron
Werte für die Gewichte bzw. Verbindungsstär- dargestellt, also ein Netzwerk mit fünf Ele-
ken. In der dritten Spalte finden sich die Ge- menten. In Tabelle 13-4 ist dieses Netzwerk
wichte, welche die Effizienz (oder Stärke) der aus fünf Elementen für unterschiedliche
Verbindung zwischen dem Eingangsneuron 1 Zustände tabellarisch dargestellt. Die Akti-
(E1) und dem Ausgangsneuron kennzeichnen. vierungsregel ist die gleiche wie bei dem
Analog dazu enthält Spalte vier die Gewichte, einfachen Beispiel des Netzwerks mit drei Ele-
welche die Verbindungsstärke von Eingangs- menten.
neuron 2 (E2) zum Ausgangsneuron kenn- Ein anderes Beispiel ist ein Netzwerk mit
zeichnen. Die fünfte Spalte enthält die Summe zwei Eingangs- und zwei Ausgangsneuro-
der Produkte aus den jeweiligen Gewichten nen, also ein Netzwerk mit vier Elementen
und den Eingangsstärken. Die Aktivität des (Abb. 13-5).
Ausgangsneurons berechnet sich für den je- Im Folgenden soll kurz dargestellt werden,
weiligen Zustand wie folgt: dass solche Netzwerke, wenn sie einmal die
Tabelle 13-4: Beispiel eines Netzwerks aus fünf Neuronen (vier Eingangsneuronen [E1–E4] und ein Aus-
gangsneuron [A]). Die Gewichte sind in den Spalten G1–G4 abgetragen. Jede Zeile repräsentiert einen
unterschiedlichen Zustand des Netzwerks.
E1 E2 E3 E4 G1 G2 G3 G4 A
1 1 1 1 0.3 0.5 0.3 0.2 1.30
1 1 0.5 0.5 0.25 0.15 0.2 0.3 0.65
1 –1 1 –1 0.25 0.15 0.2 0.3 0.00
1 –1 1 –1 0.5 0.5 0.8 0.15 0.65
0.1 0.1 1 1 0.5 0.4 0.1 0.2 0.39
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13.7. Neuronale Netze 437
A)
1.0 1.0 E1 E2 E3 E4
E1 E2
A1
0.25 0.15
A1 0.40
A2
0.10 0.50
A2 0.60
A3
B)
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1.0 –1.0 A4
E1 E2
Abbildung 13-6: Netzwerk mit vier Eingangsneu-
ronen (E1–E4) und vier Ausgangsneuronen (A1–
0.25 0.15 A4). Ein 4-×-4-Netzwerk.
A1 0.10
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438 13. Allgemeines zum Gedächtnis
Tabelle 13-6: Gleiches 4-×-4-Netzwerk wie oben, Tabelle 13-7: 4-×-4-Netzwerk, das gelernt hat,
nur die Eingangsinformationen sind leicht ver- die beiden englischen Wörter „horse“ und „cat“ mit
ändert. Die Eingangsinformation in der dritten den zutreffenden deutschen Übersetzungen zu
Spalte fehlt. Trotzdem ist das abgerufene Muster assoziieren.
demOriginalmuster sehr ähnlich.
horse
1 –1 0 1 1 –1 –1 1 Pferd
–0.25 0.25 0.25 –0.25 –0.75 0 0 0.5 –0.5 –1
–0.25 0.25 0.25 –0.25 –0.75 –0.5 0.5 0 0 –1
0.25 –0.25 –0.25 0.25 0.75 0 0 –0.5 0.5 1
0.25 –0.25 –0.25 0.25 0.75 0.5 –0.5 0 0 1
cat
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–1 1 –1 1 Katze
anstatt des Musters –1, –1, 1, 1 das Muster
0 0 0.5 –0.5 –1
–.75, –.75, .75, .75. Das grundsätzliche Muster
–0.5 0.5 0 0 1
ist trotz unterschiedlicher Zahlen gleich (zwei
relativ großen negativen Zahlen folgen zwei 0 0 –0.5 0.5 1
relativ große positive Zahlen). Unter der Vo- 0.5 –0.5 0 0 –1
rannahme, dass Informationen am Ausgang,
die größer oder gleich 0.75 oder kleiner oder
gleich –0.75 sind, so interpretiert werden, als Matrizen in den oben gezeigten Netzwerken
ob sie eine 1 oder eine –1 wären, assoziiert das unterschiedliche Gewichte. Wird das Ein-
Netzwerk die korrekte Übersetzung. Dies ist gangsmuster für „horse“ angelegt, erinnert
ein großer Vorteil solcher assoziativen Netz- das Netzwerk korrekt die deutsche Überset-
werke, denn man kann mit diesem Modell er- zung „Pferd“. Das gleiche Netzwerk kann mit
klären, warum Gedächtnisinformationen ab- den gleichen Gewichten aus einem anderen
gerufen werden können, ohne dass uns alle Eingangsmuster (hier für „cat“) die korrekte
Eingangsinformationen zur Verfügung stehen! Übersetzung „Katze“ assoziieren.
Ein weiterer Vorteil von solchen assozia- Zusammengefasst lässt sich an diesen Mo-
tiven Netzwerken ist, dass diese lernen kön- dellen ablesen, wie in etwa in den „echten“
nen, verschiedene Informationen im gleichen neuronalen Netzen anhand der Muster der Sy-
Netzwerk zu speichern. Dies soll an einem 4- napsengewichte unterschiedliche Informatio-
×-4-Netzwerk kurz erläutert werden. An- nen gespeichert werden können. Am Rande
genommen, dass dieses Netzwerk mit seinen soll allerdings erwähnt werden, dass mit zu-
16 Gewichten gelernt hätte, zwei unterschied- nehmender Anzahl der in einem Netzwerk
liche englische Wörter (horse und cat) mit ih- gespeicherten Informationen die Fähigkeit
ren Übersetzungen zu assoziieren. Um ver- verloren geht, die korrekte Information aus
schiedene Wörter im gleichen Netzwerk zu fragmentierten Eingangsinformationen zu er-
assoziieren, muss das Netzwerk Gewichte ge- schließen. Das Netzwerk wird dann zuneh-
lernt haben, die auf die beiden unterschiedli- mend interferenzanfällig.
chen Eingangsinformationen gleichermaßen Die bislang dargestellten künstlichen Netz-
anzuwenden sind und die je nach Eingangs- werke sind einfach und dienen der Veranschau-
muster eindeutige Assoziationen generieren. lichung, wie man sich die synaptischen Stärken
In Tabelle 13-7 ist ein solches Netzwerk dar- als Gewichte innerhalb des Netzwerks vorstel-
gestellt. Man erkennt im Gegensatz zu den len kann. Diese Gewichte verändern sich stän-
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13.8. Mesiotemporales Gedächtnissystem 439
Ausgangssneurone
seine Anfälle durch Läsionen im Bereich des
mesiolateralen Temporalkortex, und hier ins-
besondere im Hippocampus, bedingt gewesen
seien. Aus diesem Grund entfernte ihm der
Neurochirurg William Scoville beidseitig die
Hippocampi. Nach der Operation stellten sich
unerwartete neuropsychologische Ausfälle
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13.8. Mesiotemporales
Gedächtnissystem Kern des expliziten Gedächtnissystems. Es ist
darüber hinaus mit dem Neokortex im Fron-
Das mesiotemporale Gedächtnissystem be- tal-, Parietal-, Temporal- und Okzipitallappen
steht aus dem Hippocampus, dem unmittel- verbunden (Abb. 13-9).
bar posterior anschließenden entorhinalen Schädigungen dieses Systems sind immer
Kortex, dem anterior anschließenden peri mit Beeinträchtigungen des expliziten Ge-
rhinalen Kortex und dem lateral liegenden dächtnisses bis hin zum totalen Verlust dessel-
Gyrus parahippocampalis. Letztlich muss ben verbunden. Aus Bildgebungs- und Läsi-
auch noch der Mandelkern (Amygdala) da- onsstudien ist bekannt, dass dieses System an
zugezählt werden, eine runde Hirnstruktur, der Verknüpfung verschiedener Gedächtnis-
die unmittelbar vor dem Hippocampus liegt informationen wesentlich beteiligt ist. Die ver-
(Abb. 13-8). Dieses eng und bidirektional mit- schiedenen Informationen werden hier inte-
einander verbundene Hirnsystem bildet den griert und in den Neokortex übertragen.
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440 13. Allgemeines zum Gedächtnis
Hippocampus
5 3
1 2 entorhinaler Kortex
4
Input
Gyrus parahippocampalis
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13.10. Konsolidierung im deklarativen Gedächtnis 441
13.9. Von der zellulären Ebene greifend festgestellt werden, dass die Kon-
solidierung der Synapsen insbesondere in den
zum übergeordneten
Hirngebieten stattfindet, die auch an der Kon-
System trolle der jeweiligen Aufgabe beteiligt sind. Im
Gegensatz zur Konsolidierung der Synapsen
In den vorangegangenen Kapiteln wurden dauert die Systemkonsolidierung erheblich
grundlegende Prinzipien und Einteilungsge länger und kann Tage, Woche oder gar Jahre in
sichtspunkte des menschlichen Gedächtnisses Anspruch nehmen. Bei der Systemkonsoli-
besprochen. Auf der zellulären Ebene sind die dierung verändert sich das System, in dem die
synaptischen Mechanismen an den Gedächt- Informationen gespeichert werden. Hirn-
nisprozessen beteiligt. Über die Veränderung gebiete, die zu Beginn am Lernen und Spei-
der synaptischen Kontakte werden Netzwerke chern beteiligt waren, können für die Kon-
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442 13. Allgemeines zum Gedächtnis
Hippocampus Areal 1
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13.10. Konsolidierung im deklarativen Gedächtnis 443
Reproduktion
A)
werke kann der Hippocampus für den Abruf
gute
bestimmter Engramme bedeutungslos wer-
den, da die Netzwerke im Neokortex so
stabil sind, dass sie unter Vermeidung des
Reproduktion
Umwegs über den Hippocampus aktiviert
schlechte
werden können.
Die besondere Bedeutung des mesiotempo- 1916 1930 1940 1950 1960 1970
–1930 –1940 –1950 –1960 –1970 –1980
ralen Gedächtnissystems beim Aufbau von ver-
knüpften Gedächtnisinformationen wird durch B)
Kindheit
eine Reihe von experimentellen Befunden be-
gut
Jugend
Erinnerungsleistung
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gering
mationen bestehen „von Natur aus“ aus ver-
schiedenen Informationen. Des Weiteren sind
KG HC Alzheimer
besonders lebhafte und mit verschiedenen
Modalitäten verbundene Informationen mit Abbildung 13-13: (A) Beispiel für einen negativen
ausgeprägter Hippocampusaktivität assoziiert. zeitlichen Gradienten im Zusammenhang mit ei-
Die Systemkonsolidierung zeigt sich im Zu- ner Amnesie infolge einer Hippocampusläsion. (B)
sammenhang mit gut gelernten Informatio- Zeitliche Gradienten für die Gedächtnisleistungen
nen, für die genügend Zeit zur Verfügung bei Gesunden (KG), bei Patienten mit Hippocam-
pusläsionen (HC) und bei Patienten mit Alzhei-
stand, um sie in neokortikalen Hirngebieten
mer-Amnesien.
zu verankern. Sind diese neokortikalen Netz-
werke erst einmal fest etabliert, wird das me-
siotemporale Hirnsystem immer weniger ge- Box: Der Taxifahrer ohne Hippocampus). Bei
nutzt und wird mit der Zeit sogar unwichtig für Patienten, die unter einer Alzheimer-Demenz
die besonders gut gelernten Informationen. leiden, ist der Gedächtnisgradient umge-
Die Standardkonsolidierungstheorie kehrt. Da bei ihnen starke Degenerationen
kann den zeitlichen Gradienten von retrogra- des Neokortex vorliegen, verlieren sie auch
den Amnesien im Zusammenhang mit Hippo- den Zugang zu ihrem deklarativen Gedächtnis,
campusläsionen erklären (Abb. 13-13). Alte weshalb sie viele Informationen aus ihrer Ver-
Gedächtnisengramme, die über einen län- gangenheit vergessen. Sie leiden allerdings
geren Zeitraum reaktiviert und konsolidiert auch unter Kurzzeitgedächtniseinbußen.
werden, sind besonders gut im Neokortex ver- Eine andere Erklärung für die Bedeutung
ankert und werden auch nach langer Zeit des Hippocampus ist die Viel-Spuren-Theo
erinnert. Selbst Patienten mit Läsionen in rie. Der wesentliche Unterschied zur Stan-
mesiotemporalen Hirngebieten (unter Ein- dardkonsolidierungstheorie besteht darin,
schluss des Hippocampus) können weit zu- dass im Rahmen der Viel-Spuren-Theorie da-
rückliegende Informationen noch gut er- von ausgegangen wird, dass der Hippocampus
innern. Dies belegt, dass bestimmte bewusste immer am Abruf von deklarativen Gedächtnis-
Gedächtnisengramme existieren, deren Abruf informationen beteiligt ist. Auch wenn etwas
den Hippocampus nicht mehr erfordert (siehe gut gelernt wurde, soll der Neokortex die Spei-
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444 13. Allgemeines zum Gedächtnis
Der Taxifahrer ohne Hippocampus dort befindlichen Netzwerke aktiv sind. In der
oben angesprochenen Publikation wurde ein
Ein interessantes Beispiel für das Unabhängig- Mann vorgestellt, der seit einigen Jahrzehnten
werden des mesiotemporalen Gedächtnissys- als Taxifahrer in London gearbeitet hatte. Er
tems konnte in einer Publikation dokumentiert hatte somit genügend Gelegenheit, die räumli-
werden (Maguire et al., 2006). Das Lernen von chen Informationen, die in den mesiotemporalen
räumlichen Zusammenhängen, wie sie z. B. auf Netzwerken lokalisiert waren, in neokortikale
der Karte einer Großstadt wie London repräsen- Strukturen zu verlagern. Dieser Taxifahrer wies
tiert sind, greift insbesondere auf den hinteren im vorangeschrittenen Alter massive Läsionen
rechtsseitigen Hippocampus zurück. Die dort des Hippocampus auf, war aber dennoch in der
befindlichen Netzwerke lernen räumliche Zu- Lage, sich in London sehr gut zurechtzufinden.
sammenhänge und bauen ein Netzwerk auf, Das bedeutet, dass er zur räumlichen Orientie-
in dem diese Zusammenhänge abgelegt sind. rung seine neokortikalen Netzwerke nutzen
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Dieses Netzwerk ist auch beim Abruf der räum konnte und nicht mehr auf die hippocampalen
lichen Informationen beteiligt. Werden z. B. Lon- Netzwerke zurückgreifen musste. Er konnte al-
doner Taxifahrer während des Lösens von lerdings keine neuen räumlichen Zusammen-
Orientierungsaufgaben untersucht, ist fest- hänge lernen; mit neuen Straßen und Wegleitun-
zustellen, dass immer der Hippocampus und die gen hatte er demzufolge große Mühe.
cherung der Engramme nicht allein überneh- schnell überlagert werden; das System hätte
men, sondern der Hippocampus immer betei- dann keine Möglichkeit mehr, stabile Ver-
ligt sein. Im Rahmen der Viel-Spuren-Theorie knüpfungen aufzubauen.
wird davon ausgegangen, dass bei jeder Re-
aktivierung der gespeicherten Engramme eine
neue „Spur“ oder – anders ausgedrückt – eine 13.11. Gedächtnis und
neue Verbindung im Hippocampus zu den Emotionen
Netzwerken im Neokortex angelegt wird. Je
länger also etwas gelernt und damit reaktiviert Emotionen können als Verstärker für die Kon-
wurde, desto mehr „Spuren“ und „Verbindun- solidierung von gelernten Informationen wir-
gen“ existieren im Hippocampus. Der zeitliche ken. Je stärker die emotionale Erregung beim
Gradient bei Amnesien wäre demzufolge eine Lernen, desto besser wird das Lernmaterial
lineare Funktion der Anzahl der zerstörten erinnert. Wahrscheinlich werden die gelernten
„Spuren“ und „Verbindungen“. Informationen durch die emotionale Erregung
Beide Theorien berücksichtigen, dass der besser konsolidiert. Dies zeigen eine Reihe
Hippocampus das schneller lernende und der interessanter Arbeiten von denen eine exem-
Neokortex das langsamer lernende System plarisch an dieser Stelle dargestellt werden
ist. Offenbar ist diese Arbeitsteilung recht soll. Die Autoren dieser Arbeit (Judde &
günstig, denn Simulationsstudien haben ge- Rickard, 2010) ließen ihre Versuchspersonen
zeigt, dass mit einem schnell und einem lang- Wortlisten auswendig lernen. Nach einer Wo-
sam lernenden System eine Überlagerungs che luden sie diese Versuchspersonen wieder
katastrophe verhindert werden kann. Unter ins Labor ein, um zu überprüfen, wie viele
diesem Begriff versteht man, dass die Ver- dieser Wörter die Versuchspersonen noch er-
knüpfungen zwischen den zu lernenden In- innern würden. Die Anzahl der erinnerten
formationen durch neue Informationen zu Wörter diente als Indikator für die Langzeitge-
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13.11. Gedächtnis und Emotionen 445
dächtnisleistung. Die Versuchspersonen wur- den, das Konsolidieren von gelerntem Mate-
den vor dem Experiment zufällig auf verschie- rial deutlich verbesserte. Offenbar funktioniert
dene Gruppen aufgeteilt. Eine Gruppe hörte diese Konsolidierungsverbesserung durch
unmittelbar (0 Minuten) nach dem Lernen der emotionale Erregung auch beim Menschen
Wortliste emotional erregende Musik, eine und kann auf recht einfache Art und Weise
andere 20 Minuten nach dem Lernen und eine durch emotionale Musik hervorgerufen wer-
dritte Gruppe 40 Minuten nach dem Lernen. den. Neurophysiologisch erklärt man sich die-
Es zeigte sich, dass die Erinnerungsleistungen sen Effekt durch die vermehrte Ausschüttung
eine Woche später bei der Gruppe, die 20 Mi- von Katecholaminen (Adrenalin und Noradre-
nuten nach dem Lernen emotional erregende nalin) und Glukokortikoiden, welche als Folge
Musik gehört hatte, deutlich besser war, als bei der emotionalen Erregung durch Musik auf-
den anderen Versuchsgruppen und bei einer tritt. Adrenalin wird im Nebennierenmark ge-
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weiteren Kontrollgruppe, die keine Musik nach bildet und stimuliert vor allem die Amygdala,
dem Lernen präsentiert bekommen hatte. Of-
fenbar ist die emotionale Erregung, die 20 Mi- Lernen
Erfahrung
nuten nach dem Lernen durch die Musik evo-
ziert wird, für das Konsolidieren des Gelernten
sehr förderlich (siehe Abb. 13-14). Amygdala
Motorkortex (M1)
Sensomotorischer
Dieser Befund passt sehr gut zu den Er- Kortex (S1)
Nor-
kenntnissen aus der Tierforschung, in der baso- adrenalin Prämotorkortex (PMC)
zentrale
laterale Orbitofrontalkortex (OFC)
die neurophysiologischen Grundlagen der Kern
Kern Temporallappen
Gedächtniskonsolidierung untersucht worden Hippocampus
Basalganglien
sind. In diesen Arbeiten zeigte sich, dass neu-
ronale Erregungen, die bei den Tieren bis
25 Minuten nach dem Lernen induziert wur-
Adrenalin
ide
ico
emotionale
ort
Reaktionen
15
coc
Verhalten
Wiedererkennungsleistung
Glu
Physiologie
13 Endo- Neben-
1 Woche später
krinologie niere
11
Abbildung 13-15: Schematische Darstellung der
neurophysiologischen Mechanismen bei emotio-
9
naler Erregung, welche sich günstig auf die Kon-
solidierung auswirken. Zentral sind in diesem
7
Kontrolle 0 Minuten 20 Minuten 40 Minuten
Wirkungsgefüge die endokrinen Reaktionen, wo-
bei es zur Ausschüttung von Adrenalin/Noradre-
Abbildung 13-14: Schematische Darstellung der nalin und Glukokortikoiden aus der Nebenniere
Ergebnisse von Judde und Rickard (2010). Dar- kommt. Über den adrenergen Weg wird der baso-
gestellt sind die Wiedererkennensleistungen von laterale Kernbereich der Amygdala moduliert. Der
Wörtern, die vor ca. 1 Woche gelernt wurden. Dar- basolaterale Kernbereich stimuliert die Basal-
gestellt sind die Erkennensleistungen in Abhän- ganglien, Motorkortex und andere kortikale Be-
gigkeit davon, ob unmittelbar nach dem Lernen reiche. Die Glukokortikoide modulieren die Basal-
(0 Minuten), 20 Minuten nach dem Lernen oder ganglien und vor allem die Aktivität in den
40 Minuten nach dem Lernen emotional erre- kortikalen Hirnbereichen. Über diese „emotionale“
gende Musik präsentiert wurde. (Nachgezeichnet Schleife werden die Konsolidierungsprozesse im
nach Judde & Rickard, 2010) Kortex moduliert.
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446 13. Allgemeines zum Gedächtnis
die wiederum Noradrenalin ausschüttet. In der zellulären Mechanismen für diese Vor-
Nebennierenrinde werden bei emotionaler Er- gänge sind bekannt.
regung vermehrt Glukokortkoide (Cortisol) • Die Habituation ist ein Gewöhnungspro-
ausgeschüttet. Noradrenalin und die Gluko- zess, in dessen Zusammenhang die Re-
kortkoide stimulieren wiederum viele kortikale aktionen auf einen Stimulus immer schwä-
Hirnbereiche, die auch als Gedächtnisspeicher cher werden. Die Reaktionsverminderung
agieren. Durch diese Aktivitätsbeeinflussung ist auf eine geringere präsynaptische Neu-
20 Minuten nach dem Lernen werden wahr- rotransmitterausschüttung zurückzufüh-
scheinlich die Konsolidierung und die damit ren. Verantwortlich dafür ist reduzierter
verbundenen synaptischen Prozesse günstig Einstrom von Kalzium in die präsynapti-
beeinflusst. Erfolgt diese Aktivitätsbeeinflus- sche Membran. Kalzium stimuliert die Aus-
sung früher (also unmittelbar nach dem Ler- schüttung von Transmittern auf der prä-
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nen) oder erheblich später (45 Minuten nach synaptischen Seite. Je weniger Kalzium in
dem Lernen), bleibt der günstige Einfluss der die präsynaptische Membran fließt, desto
emotionalen Erregung aus (siehe Abb. 13-15). weniger Neurotransmitter schüttet die prä-
synaptische Membran aus und desto
schwächer wird auch das Motoneuron sti-
13.12. Zusammenfassung muliert.
• Bei der Sensitivierung nimmt die Reaktion
• Das menschliche Gedächtnis ist als Netz- auf einen aversiven Reiz zu. Die Stimu
werk aufzufassen, in dem die gespeicherten lation führt zu einer vermehrten Neuro-
Informationen (Engramme) als Muster von transmitterausschüttung am sensorischen
Synapsengewichten verstanden werden Neuron. Diese Zunahme wird durch ein
können. Interneuron vermittelt, das eine synap
• Das Gedächtnis kann auf der zellulären tische Verbindung mit dem sensorischen
Ebene und auf der Ebene der Neuroanato- Neuron eingeht. Dieses Interneuron wird
mie (Systemebene) betrachtet werden. durch den aversiven Reiz aktiviert und
• Auf der zellulären Ebene können im Zu- schüttet präsynaptisch den Neurotransmit-
sammenhang mit dem Lernen neurophy- ter Serotonin aus, der auf der Seite des
siologische und neuroanatomische Ver- sensorischen Neurons zu einer Reduktion
änderungen an den Synapsen festgestellt des Ausflusses von Kalium führt. Dadurch
werden. Im Wesentlichen verändert sich bleibt die Membran länger depolarisiert
infolge des Lernens die Effizienz der synap- (also aktiviert), weil mehr Kalzium in die
tischen Übertragung. präsynaptische Membran fließt. In der
• Ein bedeutender Mechanismus zum Erklä- Folge werden auch größere Mengen von
ren der synaptischen Veränderungen im Neurotransmittern vom sensorischen Neu-
Zusammenhang mit dem Lernen ist die ron ausgeschüttet, die zur postsynaptischen
Hebb-Lernregel: Eine Synapse zwischen Membran diffundieren können.
zwei Neuronen, die gleichzeitig (oder mit • Langzeitpotenzierung (LTP): Wird das
geringen zeitlichen Verzögerungen) Akti- präsynaptische Neuron über 1 s mit einer
onspotenziale generieren, steigert ihre sy- Frequenz von 100 Hz stimuliert, sind die
naptische Stärke. exzitatorischen postsynaptischen Poten-
• Habituation und Sensitivierung sind zwei ziale (EPSP) über Minuten bis zu Stunden
einfache Lernvorgänge, die an der Schne- deutlich erhöht. Reizt man mit derselben
cke sehr gut untersucht worden sind. Die Pulsfrequenz alle 10 min, z. B. 4-mal, dann
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13.12. Zusammenfassung 447
sind die EPSP über Stunden bis Wochen wird die synaptische Übertragung effi-
erhöht. zienter.
• Molekulare Mechanismen der LTP: • Künstliche „neuronale Netze“ sind Com-
Durch die tetanische Stimulation der Prä- putersimulationen von echten neuronalen
synapse wird die postsynaptische Membran Netzen. Analog zu den echten neuronalen
so stark durch die großen Mengen an aus- Netzen bestehen die künstlichen neurona-
geschüttetem Glutamat stimuliert, dass len Netze aus Verarbeitungseinheiten, die
sich die Magnesiummoleküle von den auch als Neuronen bezeichnet werden.
NMDA-Rezeptoren ablösen. Dadurch wird Diese Neurone sind über spezielle Verbin-
der NMDA-Rezeptor frei und ermöglicht dungen miteinander verbunden (Synap-
das Anbinden von Glutamat. Das hat zur sen). Diese Verbindungen können unter-
Folge, dass mehr Kalzium über die post- schiedlich effizient sein und demzufolge
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448 13. Allgemeines zum Gedächtnis
Hippocampus schnell ein neuronales Netz Beschreiben Sie das mesiotemporale Ge-
aufbaut. Durch häufiges Reaktivieren der dächtnissystem.
Gedächtnisinformationen wird das Ge- • Was ist der Unterschied zwischen der Stan-
dächtnisnetzwerk zunehmend in neokorti- dardkonsolidierungstheorie und der Viel-
kalen Strukturen abgelegt. Nach häufiger Spuren-Theorie?
Reaktivierung kann dann der Gedächtnis- • Welche Rolle spielt der Hippocampus beim
abruf ohne Rückgriff auf den Hippocampus Gedächtnis?
erfolgen. • Wie erklärt man sich den günstigen Einfluss
• Die Viel-Spuren-Theorie geht davon aus, der emotionalen Erregung auf die Konsoli-
dass bei jedem Reaktivieren des Gedächt- dierung?
nisinhalts eine neue „Spur“ bzw. eine neue
Verbindung zu den bereits bestehenden
hinzugefügt wird. 13.14. Weiterführende Literatur
• Der Hippocampus hat eine besondere Rolle
beim Zusammenfügen und Zusammen- Gould, E. (2007). How widespread is adult neu-
halten der verschiedenen Informationen, rogenesis in mammals. Nature Reviews
die eine Gedächtnisspur ausmachen. Neuroscience, 8, 481–488.
• Die Konsolidierung wird durch emotionale Gruber, T. (2010). Gedächtnis. Heidelberg: VS
Verlag.
Erregung gefördert. Vor allem dann, wenn
Haberlandt, K. (1994). Cognitive Psychology.
die emotionale Erregung relativ kurzzeitig
Zug: Allyn & Bacon.
nach dem Lernen eintritt (ca. 20 Minuten). McClelland, J. L., McNaughton, B. L., O’Reilly,
Dann führen die aus der Nebenniere aus- R. C. (1995). Why there are complementary
geschütteten Katecholamine und Gluko- learning systems in the hippocampus and neo-
kortikoide zu einer effizienteren Konsoli- kortex: insights from the success and failures
dierung. of connectionist models of learning and me-
mory. Psychological Review, 3, 419–457.
Tulving, E., Craik, F. I. M. (2000). The Oxford
13.13. Fragen und Aufgaben Handbook of Memory. Oxford: Oxford Uni-
versity Press.
• Wie werden die Gedächtnisinformationen
prinzipiell gespeichert?
• Beschreiben Sie die Hebb-Lernregel.
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449
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14.2. Mesiotemporaler Hirnbereich und das deklarative Gedächtnis 451
Der Unterschied zwischen dem bewussten nisinformationen abgerufen, indem alle ver-
und dem unbewussten Gedächtnis kann auch fügbaren zugehörigen Informationen mit ak-
als der Unterschied zwischen Wissen und tiviert werden. Beim episodischen Gedächtnis
Können bezeichnet werden. Das deklarative sind das die Informationen über das Wann,
Gedächtnis ist kein einheitliches Gedächtnis- Wo, Warum, Wie und Wer. Dieser Abruftypus
system, sondern besteht aus Teilsystemen wird Rekollektion genannt. Hierbei handelt
(Abb. 14-1). Unterschieden wird das semanti es sich also um einen bewussten und detail-
sche vom episodischen Gedächtnis; eine reichen Abruf. Von dieser Art des Abrufs wird
Sonderstellung nimmt das autobiografische eine Form der Erinnerung unterschieden, die
Gedächtnis ein. Das semantische Gedächtnis uns gelegentlich beim Lösen von Multiple-
ist unser Faktenwissen, während im episo- Choice-Aufgaben begegnet. In diesem Zu-
dischen Gedächtnis mit verschiedenen Bezü- sammenhang entwickeln wir eher ein Gefühl,
gen versehene Ereignisse gespeichert sind, dass wir die erinnerte Information kennen.
z. B. wann man wo mit wem in einem Restaurant Wir erinnern nicht die Details und sind uns
gespeist hat. Hierbei werden Informationen auch nicht zwingend bewusst, diese Informa-
über Personen, Orte und Zeitpunkte mit be- tion zu kennen. Diese Form des Abrufs wird als
stimmten Sachverhalten gekoppelt. Ein be- Vertrautheit (familiarity) bezeichnet. Beide
Arten des Abrufs werden von verschiedenen
semantisches
Hirnstrukturen kontrolliert.
Gedächtnis
14.2.1. Theorien
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452 14. Deklaratives Gedächtnis
Theorien anhand der Analyse von Patienten Aktivitätsmuster für bestimmte Rauminfor-
entwickelt wurden, die Läsionen in mesiotem- mationen. In gewisser Weise erhält diese Theo-
poralen und temporalen Hirngebieten auf- rie Bestätigung durch neuere Experimente, in
wiesen: denen gezeigt werden konnte, dass sich der
1. Theorie der kortikalen Karten (cognitive hintere rechtsseitige Hippocampus erfah-
map theory) rungsabhängig (vor allem im Hinblick auf
2. Theorie des relationalen Gedächtnisses Ortsinformationen) hinsichtlich des Volumens
(relational memory theory) vergrößerte. Dies konnte an Londoner Taxi-
3. Theorie des episodischen Gedächtnisses fahrern nachgewiesen werden: Je länger diese
(episodic memory theory) in London als Taxifahrer arbeiteten, desto grö-
4. allgemeine Theorie des deklarativen Ge ßer war der hintere rechtsseitige Hippocam-
dächtnisses (declarative memory theory). pus. Auch die Dichte der grauen Substanz des
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14.2. Mesiotemporaler Hirnbereich und das deklarative Gedächtnis 453
Ausfall) des retrograden episodischen Ge- Die Bedeutung des Hippocampus und des
dächtnisses aufweisen (s. o.). Diese Patienten mesiotemporalen Systems für das deklarative
können trotz der starken Beeinträchtigungen Gedächtnis stellt sich auch im Zusammenhang
des episodischen Gedächtnisses noch recht mit den Phänomenen Vertrautheit und Re
gut ihr semantisches Gedächtnis nutzen und kollektion dar. Wie oben bereits beschrieben,
z. B. neue semantische Informationen lernen. versteht man unter dem Begriff Rekollektion
Ein gutes Beispiel hierfür ist der Patient K. C., den aktiven und bewussten Abruf von Infor-
der von Rosenbaum und Kollegen vorgestellt mationen aus dem Gedächtnis, wobei auch die
wurde (Rosenbaum et al., 2005). Er hatte jeweiligen Verknüpfungen mit anderen Infor-
nach einer fast kompletten bilateralen Läsion mationen abgerufen werden. Ein Beispiel ist
des Hippocampus sein episodisches Wissen das bewusste Abrufen einer Information bei
völlig verloren, war jedoch noch in der Lage, einer Prüfung. Der Prüfer stellt eine Frage und
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sein semantisches Gedächtnis zu nutzen, um der Prüfling kann diese mit ihren Querbezü-
Mathematikaufgaben zu lösen, Schach zu gen beantworten. Es liegt also eine bewusste
spielen, zu lesen und zu schreiben. Auch Erinnerung vor. Diesem Prozess der Rekollek-
konnte er neue semantische Informationen tion wird ein anderer Erinnerungsprozess ge-
lernen, neue episodische Informationen hin- genübergestellt, die Vertrautheit. Dieser Er-
gegen nicht. Dieser Fall belegt, dass die me- innerungsprozess tritt ein, wenn uns Dinge
siotemporalen Hirnbereiche für den Aufbau bekannt vorkommen, ohne dass wir wissen,
und den Abruf episodischer Informationen wo und wann wir sie gelernt haben. Im Zu-
wichtig sind. Es sind auch doppelte Dissozia- sammenhang mit Prüfungen begegnet uns das
tionen berichtet worden, welche die Theorie Vertrautheitsgefühl bei Multiple-Choice-Fra-
des episodischen Gedächtnisses unterstützen. gen. Wir erkennen die richtige Antwortalter-
So konnte z. B. gezeigt werden, dass Läsionen native, aber wir wissen nicht, warum diese
des linksseitigen vorderen Temporallappens eine Alternative korrekt ist und die andere
mit Beeinträchtigungen des semantischen falsch. In diesem Zusammenhang kann uns
Gedächtnisses einhergingen, nicht aber mit eine Antwortalternative vertraut sein, ohne
Beeinträchtigungen des episodischen Ge- dass wir die Zusammenhänge detailliert und
dächtnisses. Andererseits führten Läsionen bewusst erkennen.
des Hippocampus zu Beeinträchtigungen Rekollektion ist offenbar stark mit dem
des episodischen Gedächtnisses, aber nicht zu Hippocampus assoziiert. Zum Beispiel konn-
schwerwiegenden Beeinträchtigungen des ten mehrere Studien zeigen, dass nur bei der
semantischen Gedächtnisses. Rekollektion der Hippocampus aktiv war. Pa-
Die Theorie des deklarativen Gedächt tienten, die unter Läsionen des Hippocampus
nisses wurde von Larry Squire formuliert und leiden, zeigen Einbußen in der Rekollektion.
besagt, dass alle bewussten Informationen Diese These ist allerdings umstritten. Nach
(z. B. räumliche und verbale) über das mesio- anderen Ansichten ist der Übergang von Ver-
temporale Gedächtnissystem verarbeitet wer- trautheit zur Rekollektion kontinuierlich (Ein
den (Squire et al., 2004). Diese Theorie ist bis- prozesstheorie). Das bedeutet, dass bei bes-
lang die am weitesten akzeptierte, auch wenn serem und intensiverem Lernen vertraute
sie durch neuere Befunde nicht mehr eindeu- Informationen zunehmend besser im deklara-
tig gestützt wird, denn es konnte nachgewie- tiven Gedächtnis verankert und mehr Bezüge
sen werden, dass auch unbewusste Informa- zu anderen Informationen aufgebaut werden.
tionen über den Hippocampus gelernt und Im Gegensatz dazu geht die Zweiprozess
abgerufen werden (Henke, 2010). theorie davon aus, dass für Rekollektion und
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454 14. Deklaratives Gedächtnis
bale oder sonstige Verbindungen sein. Wichtig Der Gyrus parahippocampalis dagegen ist stär-
ist, dass die Informationen vielfach verknüpft ker in den dorsalen Strang eingebunden, der
werden. Der Hippocampus trägt zu diesem Ver- für räumliche Analysen und motorische Kon-
knüpfungsprozess bei, indem er die Verbin- trollen spezialisiert ist (Wo-Strang). Die beiden
dungen zu den unterschiedlichen Hirngebie- Teilbereiche des mesiotemporalen Systems
ten, die mit der Speicherung der verbundenen sind also in unterschiedliche Schaltkreise ein-
Informa tionen betraut sind, aufrechterhält
gebunden, werden allerdings über den Hippo-
oder sie erstellt. Je stärker und vielfältiger
campus miteinander in Verbindung gebracht.
diese Verbindungen sind, desto lebhafter sind
Dass diese Systeme funktionell unterschiedlich
auch die abgerufenen deklarativen Gedächt-
nisinformationen (s. o.).
eingebunden sind, ist auch an ihrer unter-
schiedlichen Beteiligung an den Gedächtnis-
phänomenen Rekollektion und Vertrautheit
zu erkennen. Bildgebende Studien konnten
wiederholt belegen, dass der Hippocampus
14.2.2. Integration aller neuro stärker während der Rekollektion durchblutet
wissenschaftlichen Gedächt ist, während der rhinale Kortex gesteigerte
nistheorien Durchblutungen bei Vertrautheit zeigt.
Um diese Befunde zu verstehen, ist ein typi-
Allen oben genannten Theorien ist gemein, sches Experiment zu diesem Thema hilfreich.
dass sie den Hippocampus als zentrale Station Die Versuchspersonen lernen Wortlisten und
für die Verknüpfung von Informationen he- werden in der anschließenden Abrufphase mit
rausarbeiten. Der Hippocampus ist dem- Wortlisten konfrontiert, die alte und neue
zufolge beim Encodieren (also beim Verknüp- Wörter (Distraktoren) enthalten. Sie müssen
fen), beim Konsolidieren (beim Verfestigen der bei jedem Wort angeben, ob sie dieses Wort
Verknüpfungen) und beim Abruf der Verknüp- bewusst erinnern (indiziert Rekollektion) oder
fungen beteiligt. Allerdings konzentrieren sich erkennen (indiziert Vertrautheit). Diese Ent-
diese Theorien teilweise auf unterschiedliche scheidung ist auch als Entscheidung zwischen
Subareale des Hippocampus. Räumliche Ge- Wissen (Rekollektion) und Können (Vertraut-
dächtnisinformationen werden offenbar eher heit) aufzufassen. In anderen Experimenten
vom rechtsseitigen hinteren Hippocampus ver- werden Rekollektion und Vertrautheit anhand
arbeitet, während allgemeine Verknüpfungen der Entscheidung untersucht, ob man einen
eher linksseitig im Hippocampus verarbeitet Reiz definitiv schon einmal präsentiert bekam
werden. Eine andere Theorie, die Hippocam (definitiv ein alter Reiz = Rekollektion) oder ob
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14.3. Frontalkortex und deklaratives Gedächtnis 455
ein Reiz definitiv neu ist (definitiv ein neuer die Versuchspersonen mit den Items zuneh-
Reiz = Vertrautheit). In diesen Versuchen wird mend vertraut sind und den Inhalt bewusst
Neuheit mit Vertrautheit gleichgesetzt, was erinnern. Dies deutet darauf hin, dass der pe-
experimentell und theoretisch nicht ganz kor- rirhinale Kortex stärker in die Kontrolle der
rekt ist. Wichtig ist aber, dass Rekollektion mit Vertrautheit eingebunden ist.
dem bewussten Wissen bezüglich eines ge-
lernten Ereignisses einhergeht. Diese Ent-
scheidungen werden im Folgenden der Ein- 14.3. Frontalkortex und
fachheit halber Wissensentscheidungen und deklaratives Gedächtnis
die Entscheidungen, bei denen mehr Vertraut-
heit vorliegt, Könnensentscheidungen ge- Das mesiotemporale Hirnsystem ist zentral für
nannt. Typischerweise gehen die Wissensent- das deklarative Gedächtnis. Allerdings sind
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scheidungen immer mit gesteigerter Aktivität auch andere Hirnbereiche am Encodieren und
im Hippocampus einher. Die Könnensent- am Abruf von deklarativen Gedächtnisin
scheidungen dagegen sind mit reduzierter formationen beteiligt. Eine besondere Rolle
Durchblutung im Hippocampus, aber gestei- nimmt der laterale Präfrontalkortex (lPFC)
gerter Durchblutung im rhinalen und perirhi- ein. Anhand von Studien an Patienten mit
nalen Kortex assoziiert (Abb. 14-2). Frontalkortexläsionen konnte gezeigt werden,
Im Hippocampus nimmt die Durchblutung dass diese Patienten eher Probleme mit dem
auch zu, wenn sich die Versuchspersonen si- Kontext der im deklarativen Gedächtnis ge-
cher werden, einem Item bereits schon einmal speicherten Informationen haben. Ihnen sind
begegnet zu sein. Wahrscheinlich ist dann die oft die räumlichen und zeitlichen Bezüge der
Rekollektion aktiv. Die Durchblutung im pe- Gedächtnisinformationen nicht mehr präsent.
rirhinalen Kortex nimmt dagegen ab, sobald Man nennt dieses Problem auch Quellenge
dächtnisproblem. Angenommen, Sie hätten
bei einem bestimmten Lehrer in einem be-
A) Hippokampus B) Hippokampus
stimmten Klassenzimmer die Grundlagen der
perirhinaler Kortex Mechanik gelernt. Sie hätten, je nach schau-
0.3 0.3 spielerischem Geschick und Persönlichkeit
des Lehrers, diese vermittelten Grundlagen
% Signalzunahme
0.15 0.15
mit den Äußerungen des Lehrers, seinem Aus-
0 0 sehen, der Zeit, dem Klassenraum und der
–0.15
damaligen Lernsituation gekoppelt. An die-
–0.15
sem Verbinden von Lerninformationen mit
–0.3 –0.3 den Quellen (wo, wann, mit wem und unter
korrekt korrekt alt neu
«erinnert» «vertraut» welchen Umständen diese Information ver-
mittelt wurde) ist der Frontalkortex wesentlich
Abbildung 14-2: Durchblutungsveränderungen
beteiligt. Bei Läsion des Frontalkortex können
(als prozentuale Signalzunahme im fMRT) imHip-
diese Kontextinformationen oder auch Quel-
pocampus und im rhinalen Kortex bei der Rekol-
len nicht mehr korrekt assoziiert werden oder
lektion und der Vertrautheit. (A) Durchblutungs-
veränderungen im Hippocampus bei Rekollektion
sie gehen verloren. Dann leidet der Patient
und Vertrautheit. (BDurchblutungsveränderungen unter einer Quellenamnesie.
im Hippocampus und im rhinalen Kortex bei
Alt-neu-Entscheidungen. (Nachgezeichnet nach
Daselaar et al., 2006; Prince et al., 2005)
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456 14. Deklaratives Gedächtnis
% Signalzunahme
nisses wird sehr häufig das Subsequent Me 0.5
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14.3. Frontalkortex und deklaratives Gedächtnis 457
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458 14. Deklaratives Gedächtnis
mationen. Wird eine Information gefunden, Tabelle 14-1: Zusammenfassung der beim Abruf
muss sie „wiederhergestellt“ bzw. verfügbar ablaufenden psychischen Prozesse.
gemacht werden (Wiederherstellung; reco- Abrufzustand Hinweisreiz (cue)
very). Dann muss überprüft werden, ob es die (retrieval mode) Gedächtnissuche
gesuchte Gedächtnisinformation ist und wie (memory search)
weit man noch vom „Ziel“ entfernt ist. Hat man Wiederherstellung (recovery)
die gesuchte Information gefunden, muss der Überprüfung – Entscheidung
Suchvorgang abgebrochen werden, damit neue (monitoring)
Suchprozesse gestartet werden können (Über Abruferfolg
prüfung; monitoring). Diese kurzen Ausfüh- (retrieval
rungen machen deutlich, dass der Abrufprozess success)
ein komplexer Vorgang ist, der das episodische Abrufaufwand
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14.3. Frontalkortex und deklaratives Gedächtnis 459
rechter
PFC
FC vP
vP FC
0.1
0.05
% Signalintensität
0
0.4
–0.05
0.3
0.2 –0.1
% Effektgröße
0.1 –0.15
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0 –0.2
–0.1 PFC links PFC rechts
–0.2 Rekollektion Vertrautheit
–0.3
–0.4 Abbildung 14-6: Lateralisierung der Durchblu-
PFC tung im PFC während des Abrufs von Gedächtnis-
Sicherheit: informationen in Abhängigkeit vom Vorliegen von
gering mäßig hoch „Rekollektion“ und „Vertrautheit“ (Henson et al.,
1999).
Abbildung 14-5: Durchblutungszunahmen im
rechtsseitigen PFC in Abhängigkeit von der sub- ßer die Unsicherheit, ob die abgerufene Infor-
jektiven „Sicherheit“, mit der die Versuchsper- mation wirklich gelernt wurde, desto stärker
sonen angeben, eine vorher gelernte Information
ist die Aktivität des rechtsseitigen Frontalkor-
zuerinnern.
tex (Abb. 14-5).
Ein weiterer funktioneller Hemisphären-
stellbar. Der bewusste und detaillierte Abruf unterschied beim Encodieren und Abruf wird
gespeicherter Informationen wird über den mit dem sogenannten HERA-Modell (He-
linksseitigen Frontalkortex vermittelt (Rekol mispheric encoding retrieval asymmetry) vor-
lektion). Sofern dieser detaillierte Abruf nicht geschlagen. Gemäß diesem Modell ist beim
möglich ist (z. B. aufgrund des fehlenden Zu- Encodieren von episodischen Informationen
griffs auf die Informationen oder weil sie nicht vermehrt der linksseitige Frontalkortex aktiv.
vorhanden sind), entsteht ein Vertrautheits- Beim Abruf dagegen ist der rechtsseitige Fron-
gefühl, das über den rechtsseitigen Frontal- talkortex verstärkt aktiv. Beim semantischen
kortex vermittelt wird. Möglicherweise ist das Gedächtnis (insbesondere wenn verbales Ma-
Vertrautheitsgefühl mit größerer Unsicherheit terial verarbeitet wird) trifft das HERA-Modell
verbunden, sodass der Kontrollaufwand beim nicht zu, denn hier ist vorrangig der linkssei-
Abruf erhöht ist. Dies konnte in verschiedenen tige Frontalkortex aktiv. Es ist jedoch zu be-
Studien beschrieben werden. Werden episo- achten, dass bei diesen Gedächtnisprozessen
dische Informationen abgerufen, sind sich die nicht nur eine Hemisphäre ausschließlich ak-
Versuchspersonen nicht bei allen Informatio- tiv ist, sondern dass in der Regel beidseitige
nen gleich sicher, ob die Informationen korrekt Durchblutungszunahmen nachzuweisen sind.
sind. Je sicherer sie sich sind, desto weniger Nur beim Encodieren und Abruf episodischer
stark ist die Aktivität im rechtsseitigen Fron- Informationen tritt eine relative Durchblu-
talkortex. Zusammengefasst heißt das, je grö- tungsasymmetrie zugunsten des linken (beim
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460 14. Deklaratives Gedächtnis
2
L R
R
1.5
Effektstärke
1
0.5
L
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Abbildung 14-7: Beispiel für eine typische Durchblutungsasymmetrie gemäß dem HERA-Modell (nach
Neuner et al., 2007).
Encodieren) und rechten (beim Abruf) Frontal- • Vertrautheit beim Abruf und die damit ver-
kortex auf (Abb. 14-7). bundene Unsicherheit, etwas wirklich ge-
lernt zu haben, ist mit stärkerer Aktivität im
rechtsseitigen PFC verbunden.
14.3.3. Zusammenfassung • Beim erfolgreichen Encodieren von nicht-
verbalen episodischen Informationen sind
• Der Frontalkortex ist in das Encodieren und der rechtsseitige und linksseitige Gyrus
den Abruf von deklarativen Informationen frontalis inferior eingebunden.
eingebunden. • Der vordere Teil des Gyrus frontalis inferior
• Je besser der Abruferfolg, desto stärker ist ist eher an der Encodierung von semanti-
die Aktivität im linksseitigen Gyrus fronta- schen Informationen, der hintere Teil ins-
lis inferior. besondere an der Encodierung von phone-
• Während des Abrufzustands treten länger tischen und phonologischen Informationen
andauernde Aktivierungen insbesondere beteiligt.
des rechtsseitigen Frontalkortex auf.
• Gelegentlich kann festgestellt werden, dass
der Abrufaufwand auch mit tonischen Akti- 14.4. Parietallappen und
vierungen des rechtsseitigen Frontalkortex deklaratives Gedächtnis
assoziiert ist. Diese rechtsseitigen Aktivie-
rungszunahmen reflektieren wahrschein- Die Hirngebiete des Parietallappens, die an
lich alle Kontroll- und Überwachungspro- deklarativen Gedächtnisprozessen beteiligt
zesse, die mit dem Abruf von episodischen sind, sind insbesondere der Präcuneus, das
Gedächtnisinformationen assoziiert sind. retrospleniale Hirngebiet (oberhalb des Sple-
• Detaillierte Erinnerung (Rekollektion) ist niums des Corpus callosum gelegen), der in-
mit starker linksseitiger Aktivität im PFC traparietale Sulcus und der inferiore Parietal-
verbunden. lappen (LPi). All diese Hirngebiete sind
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14.6. Elektrophysiologische Kennwerte des deklarativen Gedächtnisses 461
besonders stark durchblutet, wenn der Abruf und zeigen bei vielen kognitiven Tätigkei-
erfolgreich war. Gelegentlich zeigt sich auch ten geringe Aktivierungen. Dieser Zustand
ein linearer Zusammenhang zwischen der kann als ein „organisierter Leerlaufmodus“
Stärke der Aktivierung in diesen Hirngebieten aufgefasst werden, der immer dann auftritt,
und dem Erfolg des Abrufs (je stärker durch- wenn ein Mensch seine Gedanken schweifen
blutet, desto besser der Abruf). Interessant ist, lässt und seine Aufmerksamkeit nicht auf zu
dass diese Hirngebiete während des Enco bewältigende Aufgaben oder externe Reize
dierens „deaktiviert“ sind und negative DM- lenkt.
Effekte aufweisen (Abb. 14-8). Das bedeutet,
dass die Durchblutung in diesen Hirngebieten
während des erfolgreichen Encodierens stär- 14.5. Sensorische Areale und
ker deaktiviert ist als während des weniger deklaratives Gedächtnis
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–0.675
14.6. Elektrophysiologische
–0.9
Kennwerte des deklara
LPi tiven Gedächtnisses
Behalten Vergessen DM-Effekt
Das Elektro- und das Magnetenzephalogramm
Abbildung 14-8: „Deaktivierung“ im Lobulus pa-
bieten hervorragende Möglichkeiten, Hirn-
rietalis inferior (LPi) beim Encodieren. Dargestellt
aktivierungen zeitlich sehr präzise zu erfassen.
ist auch der „negative DM-Effekt“ beim Encodie-
ren. Beim Abruf nimmt die Aktivität im LPi aller-
Allerdings ist die Zuordnung der Hirnaktivie-
dings zu. Je besser der Abruf, desto stärker ist die rungen zu bestimmten Hirngebieten nicht un-
Aktivierung im LPi. Ähnliche Aktivierungsmuster problematisch. Da in den vorangegangenen
sind auch für den Präcuneus und das retrosple- Kapiteln die räumliche Zuordnung im Vorder-
niale Gebiet berichtet worden. grund stand, wurden die EEG- bzw. MEG-Be-
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462 14. Deklaratives Gedächtnis
funde bislang nicht ausführlich dargestellt. In Wahrscheinlich erfordert der Aufbau von
diesem Kapitel werden die EEG-Befunde zu- Engrammen, die zur Rekollektion führen, Auf-
sammengefasst dargestellt, da sie hinsichtlich merksamkeit und die Auseinandersetzung
der zeitlichen Information, aber auch hinsicht- mit den zu lernenden Reizen. Aufmerksamkeit
lich der wahrscheinlich beteiligten neurophy- ist wahrscheinlich notwendig, um die neuen
siologischen Prozesse weitere Informationen Informationen mit dem Kontext zu verbin-
liefern. Der oben bereits im Zusammenhang den. Ist es nicht möglich oder nicht gewünscht,
mit fMRT-Untersuchungen beschriebene Alt- die notwendigen Aufmerksamkeitsressourcen
neu-Effekt ist zuerst im Rahmen von EEG- aufzuwenden, wird lediglich Vertrautheit ent-
Untersuchungen genutzt worden. In der Regel wickelt. Angenommen, Sie fahren mit dem
werden evozierte Potenziale (EVP) für Reize Auto in einem fremden Land (z. B. England)
berechnet, die gelernt wurden (EVP für „alte“ und müssen auf den Verkehr achten. Sie hätten
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Reize), und für Reize, die nicht gelernt wur- wahrscheinlich nicht genügend Ressourcen
den (EVP für „neue“ Reize). Werden diese zur Verfügung, um gleichzeitig auch noch auf-
EVP voneinander subtrahiert, erhält man merksam dem Radioprogramm zu folgen. Sie
Differenzpotenziale, die zwei typische Alt- könnten demzufolge die dort behandelten In-
neu-Effekte zeigen. Man spricht von einem formationen nicht zu einem bewusst werden-
linksparietalen Alt-neu-Effekt, der ungefähr den Engrammgeflecht verarbeiten. In solchen
400–700 ms nach Präsentation des Testreizes Situationen werden Sie die Engramme mehr
auftritt, und einem frontalen Alt-neu-Effekt, oder weniger unbewusst ablegen und Ver-
der zwischen 300 und 500 ms nach Reizprä- trautheit entwickeln, ohne dass Sie diese Infor-
sentation erscheint. Diese Alt-neu-Effekte mationen verknüpfen und mit Kontextinfor-
sind anhand der Topografie der EVP erkenn- mationen versehen. Allerdings werden Sie den
bar (Topografie ist die Verteilung der elektri- Eindruck haben, dass diese Informationen
schen Aktivität an der Schädeloberfläche für eben nicht fremd sind, Sie können sie jedoch
ein bestimmtes Zeitfenster des EVP). Der nicht bewusst benennen. Im Übrigen bauen
linksparietale Alt-neu-Effekt ist durch eine wir so auch die Vertrautheit mit Musik auf, die
große positive Deflexion des EVP über dem wir sehr häufig eher nebenbei hören.
linksseitigen parietalen Schädelbereich ge- Nicht nur die Hirnaktivität während und
kennzeichnet. Der frontale Alt-neu-Effekt ist kurz nach dem Encodieren hängt mit der Güte
durch eine starke Negativierung des EVP über der Gedächtnisleistungen zusammen, son-
frontalen Schädelbereichen gekennzeichnet. dern auch die Hirnaktivität unmittelbar vor
Diese beiden Effekte werden mit den Subpro- dem Encodieren. Dies konnten Otten und
zessen Rekollektion und Vertrautheit in Ver- Kollegen belegen (Otten et al., 2006). Ihr Ver-
bindung gebracht; Vertrautheit mit dem etwas suchsaufbau entspricht im Prinzip dem, den
früher auftretenden frontalen und Rekollek- wir bereits aus den anderen Subsequent-Me-
tion mit dem später auftretenden parietalen mory-Experimenten kennen. In diesem Expe-
Alt-neu-Effekt. Dieser Befund belegt erneut, riment wird allerdings auch die Hirnaktivität
dass während des Abrufs zwei unterschiedli- vor der Encodierung gemessen und getrennt
che Abrufprozesse wirksam sein können. Der für gelernte und vergessene Reize analysiert.
implizite Prozess (Vertrautheit) ist dabei etwas Die Differenz dieser Hirnaktivitäten ergibt
schneller (300–500 ms nach Reizdarbietung) den bereits bekannten Difference-in-me
als der explizite (Rekollektion; 400–800 ms mory-Effekt (DM-Effekt), nun jedoch auch
nach Reizdarbietung). Auch diese Befunde für die Hirnaktivität vor der Encodierung.
unterstützen die Zweiprozesstheorie (s. o.). Hierbei ergab sich, dass die Hirnaktivität vor
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14.6. Elektrophysiologische Kennwerte des deklarativen Gedächtnisses 463
der Encodierung mit dem späteren Encodier- Weitere Befunde belegen, dass auch an-
erfolg zusammenhing. Über frontalen Hirn- dere EEG-Oszillationen differenziell mit
gebieten zeigte sich eine stärkere Negati- dem Abruferfolg zusammenhängen. Wird
vierung des evozierten Potenzials vor der ein Reiz präsentiert, der semantisch erkannt
Encodierung. Über parietalen Hirngebieten werden soll, ist eine Abnahme der Energie
kehrte sich die Polarität zu einer Positivierung im oberen Alpha-Bereich (10–12 Hz; ereig
um. Am stärksten waren diese Effekte unmit- nisbezogene Desynchronisation, ERD) zu
telbar vor der Wortpräsentation. Die Autoren beobachten, die ungefähr bis 4 s nach dem
nennen diesen Effekt Prestimulus subsequent Reiz anhält und dann in eine Synchronisa-
memory effect. Wahrscheinlich müssen die tion (ereignisbezogene Synchronisation,
für die Encodierung relevanten Hirngebiete ERS) des oberen Alpha-Bands übergeht.
sich in einem optimalen neuronalen Erre- Eine Synchronisation indiziert eine Zu-
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gungszustand befinden, damit sie effizient nahme der Energie (hier im Alpha-Band).
Encodieren können. Gleichzeitig ist eine Synchronisation im
Der Abruf von Gedächtnisinformationen Theta-Band ca. 500 ms nach der Präsenta-
kann auch mittels EEG-Oszillationen unter- tion des Reizes zu erkennen. Allerdings tritt
sucht werden. In einem typischen Experiment die Theta-Synchronisation nur bei guten
(Gruber et al., 2008) mussten die Versuchsper- Lernern auf, also jenen Versuchspersonen,
sonen bei einer Wiedererkennungsaufgabe welche die dargebotenen Reize auch gut be-
Alt-neu-Entscheidungen treffen. Während des halten haben, während bei schlechten Ler-
Abrufs wurden Gamma-Band- und Theta- nern eine Theta-Desynchronisation eintritt.
Band-EEG-Oszillationen an der Schädelober- Gute Lerner fallen darüber hinaus dadurch
fläche gemessen. Die Gamma-Band-Oszilla- auf, dass sie stärkere Desynchronisationen
tion (hier 35–80 Hz) spiegelt die Aktivität im Alpha-Band aufweisen als schlechte Ler-
neokortikaler Netzwerke wider. Die Theta- ner (Abb. 14-9). Was bedeuten diese Be-
Band-Oszillationen können in diesem Fall als funde? Je stärker die Desynchronisation im
ein Indikator für die Interaktion zwischen Alpha-Band und je stärker die Synchronisa-
mesiotemporalen Hirngebieten und dem Neo- tion im Theta-Band, desto besser können se-
kortex aufgefasst werden. Bei diesem Versuch mantische Informationen später abgerufen
zeigte sich, dass die Theta-Band-Aktivität nur werden. Die Theta-Band-Aktivität reflektiert
dann anstieg, wenn die Versuchspersonen die Interaktion zwischen mesiotemporalen
beim Abruf auch die Kontextinformationen er- Hirngebieten und dem Neokortex. Das be-
innerten, also Rekollektion zeigten. Wenn sie deutet, je intensiver diese Interaktion, desto
allerdings nur in der Lage waren, anzugeben, besser ist die Abrufleistung. Die Alpha-Band-
ob die dargebotenen Reize alt oder neu waren Aktivität ist wahrscheinlich mit den Kontroll-
(ohne Kontextbezug, also Vertrautheit), nahm prozessen während des Enkodierens und
die Gamma-Band-Aktivität zu. Im Übrigen trat späteren Abrufs assoziiert. Eine Zunahme der
die Gamma-Band-Aktivität etwas früher auf Alpha-Band-Oszillationen vor allem an poste-
als die Theta-Band-Aktivität. Insgesamt be- rioren Elektroden indiziert sehr wahrschein-
stätigen diese Befunde die Existenz von zwei lich kortikale Inhibitionsprozesse. Beim er-
Subprozessen beim Abruf von Gedächtnis- folgreichen Enkodieren und Abrufen müssen
informationen. Andere Studien zeigen, dass irrelevante Prozesse inhibiert werden, die
die Gamma-Band-Aktivität beim erfolgrei- sich möglicherweise störend auf das Enkodie-
chen Encodieren zunimmt (Herrmann et al., ren und Abrufen auswirken (siehe zusam-
2010). menfassend Tabelle 14-2).
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464 14. Deklaratives Gedächtnis
30 5
ERD in %
ERD in %
20 0
10 –5
0 –10
ERS in %
0–500 ms 500–1 000 ms 0–500 ms 500–1 000 ms
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14.7. Wie ist Wissen repräsentiert? 465
Neuere Untersuchungen haben des Wei- logen von Wissen und der Repräsentation von
teren gezeigt, dass man offenbar das Enco- Wissen sprechen, benutzen sie Begriffe wie
dieren willentlich unterbinden oder zumin- Konzept, Merkmal, Skript, Proposition,
dest erschweren kann. Zur Untersuchung Handlung oder Symbol, um zu beschreiben,
dieses Phänomens wurde unter anderem das was als Wissenselement aufzufassen ist. Wir
Nichtdenkparadigma (no-think paradigm) wollen uns kurz diesen Begriffen zuwenden,
verwendet. Hierbei werden die Versuchsper- um dann die wichtigsten theoretischen Vor-
sonen in einer Lernphase mit Wortpaaren stellungen bezüglich der Wissensrepräsenta-
(einem Hinweis- und einem Zielwort) kon- tion zu erörtern.
frontiert. Nach der Lernphase folgt die experi- Konzepte werden seit den Anfängen der
mentelle Phase, in der nur das Hinweiswort griechischen Philosophie als grundlegende
präsentiert wird und die Versuchspersonen in Einheiten des Denkens aufgefasst. Konzepte
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zwei Bedingungen unterschiedlich mit dem helfen uns, die Vielzahl von Objekten, Ereig-
assoziierten Zielwort „umgehen“ sollen. In nissen und Beziehungen in unserer physika-
den Nichtdenkbedingungen sollen sie das As- lischen und mentalen Welt zu organisieren.
soziieren des Zielworts mit dem Hinweisreiz Mithilfe von Konzepten gelingt es, diese As-
aktiv unterdrücken. In der Kontrollbedingung pekte auf wesentliche Grundelemente zu re-
sind sie angehalten, sich das zum Hinweiswort duzieren. Hätten wir keine Konzepte, müsste
passende Zielwort möglichst lebhaft vorzu- jedes Objekt und jedes Ereignis einzeln abge-
stellen. Es zeigte sich, dass in späteren Ab- speichert und benannt werden. Man stelle sich
rufbedingungen die Abrufleistung für das eine Welt ohne das Konzept Mensch vor. Wir
Zielwort am schlechtesten war, wenn eine müssten dann für jede einzelne Person einen
Nichtdenkphase vorausgegangen war. Die Begriff abspeichern und nutzen. Es würde uns
gleichzeitig gemessenen EEG-Aktivitäten v. a. sehr schwer fallen, Menschen von Tieren
zeigten auch, dass die Verminderung des Ab- oder Möbeln zu unterscheiden. Um Konzepte
rufs in den Nichtdenkbedingungen mit cha- entwickeln zu können, sind Kenntnisse über
rakteristischen EEG-Aktivitäten vor dem Abruf die Objekte, Ereignisse und Relationen erfor-
assoziiert waren (Hanslmayr et al., 2009). derlich, die mittels der Konzepte ausgedrückt
werden sollen. Oft sind die Kenntnisse nicht
objektiv messbar, müssen gedanklich er-
14.7. Wie ist Wissen schlossen werden oder man hat sie physika-
repräsentiert? lisch nie erlebt und wird sie wahrscheinlich
auch nie selbst bewusst erleben. Ein Beispiel
In den vorherigen Abschnitten wurden En- für ein Konzept, das sehr stark auf Erschlosse-
gramme, Gedächtnisspuren und neuronale nem, Erdachtem und physikalisch nicht De-
Netzwerke besprochen, in denen oder mit finierbarem beruht, ist das Konzept des reli-
denen Gedächtnisinformationen gespeichert giösen Glaubens.
werden. In der kognitiven Psychologie wird Konzepte werden durch Merkmale be-
bereits lange Zeit über die Frage nachgedacht, schrieben oder stehen über Merkmale mit-
wie Gedächtnisinformationen gespeichert einander in Verbindung. Merkmale sind in der
werden. In der kognitiven Psychologie wird Regel erlernt und können ein Leben lang stabil
von Wissensrepräsentation gesprochen, sein. Konzepte beziehen sich nicht nur auf Ob-
wenn ausgedrückt werden soll, wie Gedächt- jekte, sondern auch auf Ereignisse. Konzepte
nisinformationen im deklarativen Gedächtnis für Ereignisse werden auch Skripte genannt
gespeichert werden. Wenn Kognitionspsycho- (im Englischen auch events). Ein Restaurant-
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466 14. Deklaratives Gedächtnis
besuch ist ein Beispiel für ein Skript. Dieses geln, Vorgänge etc.). Ein Stoppschild an einer
Skript fasst viele Unterereignisse zusammen, Straßenkreuzung ist ein Symbol für ein Kom-
die für einen Restaurantbesuch typisch sind mando (Proposition), das eine bestimmte
(Reservierung, Ankunft, Einweisung durch Handlung erzwingt und mit bestimmten Skrip-
den Ober, Platz nehmen, Speisekarte studie- ten assoziiert ist. Symbole werden im jewei-
ren, Auswahl des Essens, Bestellung etc.). Den ligen Kulturkontext durch Lernen und Erfah-
Skripten ähnlich sind Propositionen. Das rung definiert.
Spezifische an Propositionen ist, dass ver- Wie ist nun dieses Wissen im deklarativen
schiedene Gedächtniselemente wie in einem Gedächtnis organisiert? Gegenwärtig werden
Satz zusammengefasst und abgespeichert wer- im Wesentlichen drei Modelle diskutiert, die
den. Diese so zusammengefassten Elemente nicht als einander ausschließende Organisati-
bilden eine Proposition, die als Einheit abge- onsprinzipien aufzufassen sind, sondern als
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speichert und abgerufen wird. Eine Proposi- unterschiedliche Strategien, mit denen Wis-
tion besteht typischerweise aus Subjekt, Prädi- sen organisiert und repräsentiert wird. Diese
kat, Objekt, Kontext und weiteren Elementen. drei Modelle sind das semantische Netz
Zum Beispiel besteht die Erinnerung „Ver- werk, das Prototypenmodell und die Exem
gangenen Winter habe ich in St. Moritz im plartheorie.
Engadin Urlaub gemacht“ aus den Begriffen
„vergangener Winter“ (Zeit), „St. Moritz im
Engadin“ (Ort), „ich“ (Subjekt), „Urlaub ma- 14.7.1. Semantisches Netzwerk
chen“ (Prädikat). Die gesamte Gedächtnis-
kette ist allerdings eine Proposition und kann Das semantische Netzwerkmodell wurde
auf verschiedene Weisen verbalisiert oder vi- von Collins und Quillian (Collins, 1969) vor-
sualisiert werden. geschlagen. Die beiden Wissenschaftler haben
Handlungen sind zeitlich in sich geschlos- ihr Modell auf der Basis relativ einfacher Ver-
sene, auf ein Ziel gerichtete sowie inhaltlich haltensexperimente entwickelt. Die Versuchs-
und zeitlich gegliederte Einheiten der Tätig- personen sollten die Korrektheit von Aus-
keit. Handlungen grenzen sich von Tätigkeiten sagen beurteilen und ihr Urteil so schnell wie
durch die mit der Absicht der Realisierung möglich mittels eines Tastendrucks angeben
(Intention) verknüpfte Vorwegnahme des Er- (Satzüberprüfung; sentence verification). Die
gebnisses (Antizipation) ab. Insofern ist jede abhängige Variable in diesem Fall ist die Re-
Handlung ein bewusster psychischer Vorgang, aktionszeit. Angenommen, Sie müssten die
der zielgerichtet ist und zur Erfüllung be- Aussagen „Ein Kanarienvogel kann singen.“
stimmter Aufgaben eingesetzt wird. Für Teil- (Aussage 1), „Ein Kanarienvogel hat Flügel.“
handlungen (Operationen) und die in diese (Aussage 2) und „Ein Kanarienvogel kann sich
eingeschlossenen Bewegungen gilt das nicht. bewegen.“ (Aussage 3) im Hinblick auf „wahr“
Jede Handlung beinhaltet neben den Zielen oder „falsch“ beurteilen. Am schnellsten wer-
auch kognitive Prozesse. Eine Handlung kann den die meisten Versuchspersonen Aussage 1
auch als eine sensomotorische Einheit auf- als „wahr“ identifizieren, am längsten wer-
gefasst werden, unter der eine Einheit von den die Reaktionszeiten für Aussage 3 ausfal-
Wahrnehmung, Urteilen, Behalten, Reprodu- len. Kurze Reaktionszeiten indizieren einen
zieren und motorischem Ausführen (Bewegen) schnellen und lange Reaktionszeiten einen
verstanden wird. Symbole sind Zeichen oder langsameren Zugang zu den semantischen
Bezeichnungen für Entitäten (Objekte, Zei- Informationen. Collins und Quillian schlossen
chen, Wörter, Gegenstände, Handlungen, Re- daraus, dass die semantischen Informationen
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14.7. Wie ist Wissen repräsentiert? 467
auf unterschiedlichen Ebenen lokalisiert sind. werk ist eines der ersten, das die beiden Wis-
Ist eine Information auf einer unteren Ebene senschaftler entwickelt hatten. Solche Netz-
lokalisiert, dann gelingt der Zugriff schneller werke weisen einige Probleme auf. Zunächst
als auf Informationen, die sich auf einer über- ist festzuhalten, dass v. a. das Beispielnetz-
geordneten Ebene befinden. Aus solchen Re- werk sehr taxonomisch ist; d. h., es ähnelt sehr
aktionszeitexperimenten konstruierten die einer Taxonomie eines Zoologen. Hierbei
beiden Forscher das semantische Netzwerk. In stellt sich die Frage, ob die semantischen
Abbildung 14-10 ist ein typisches semantisches Netzwerke aller Menschen so „ordentlich“
Netzwerk dargestellt, das sich in vielen Lehr- und wissenschaftlich aufgebaut sind. Ein
büchern der kognitiven Psychologie findet. anderes Problem betrifft die Nichtaustausch-
In diesem Netzwerk repräsentiert jedes barkeit einiger Merkmale. Zum Beispiel ha-
Viereck ein Konzept oder eine Kategorie. ben die Aussagen „Ein Rotkehlchen ist ein
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Jede Kategorie ist durch eine Gruppe von Vogel.“ und „Ein Huhn ist ein Vogel.“ die
Merkmalen definiert. Um vom Konzept „Ka- gleiche Beziehung und „Distanz“ zur überge-
narienvogel“ zum Konzept „Tier“ zu gelan- ordneten Kategorie (Vogel), aber sie unter-
gen, muss das übergeordnete Konzept „Vo- scheiden sich im Hinblick auf ihre Typikali
gel“ durchlaufen werden. Dies erfordert Zeit tät. Viele werden darin übereinstimmen,
und schlägt sich in längeren Reaktionszeiten dass ein Rotkehlchen mehr einem Vogel ent-
bei Aussagebeurteilungen nieder. Die einzel- spricht als einem Huhn. Deshalb werden
nen Konzepte sind miteinander verbunden Versuchspersonen der Aussage, ein Rotkehl-
und können sich gegenseitig beeinflussen chen sei ein Vogel, schneller zustimmen als
(z. B. aktivieren). Das hier dargestellte Netz- der Aussage, dass ein Huhn ein Vogel sei.
Ebene 3
Tier
Haut
bewegt sich
isst
atmet
Ebene 2
Vogel Fisch
Federn Schuppen
Flügel schwimmt
fliegt Kiemen
Ebene 1
Lachs
Kanarienvogel Strauß Hai
rosa
singt läuft beißt
essbar
gelb groß gefährlich
laicht
Abbildung 14-10: Beispiel eines semantischen Netzwerks nach Collins und Quillian (1969).
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468 14. Deklaratives Gedächtnis
konzept für Vogel angenommen, das durch für verschiedene Bereiche. Typische Beispiele
typische Merkmale definiert ist. Je mehr Merk- sind sozialpsychologisch definierte Stereotype
male andere Konzepte mit diesem Prototyp über Personengruppen (Männer vs. Frauen)
teilen, desto mehr werden die anderen Kon- oder Angehörige von verschiedenen Nationen
zepte im Sinne des Prototyps bewertet. und Berufsgruppen.
In Tabelle 14-3 ist eine Merkmalsliste für ei-
nen Vogel aufgeführt. Des Weiteren sind be-
stimmte Vögel mit ihren Merkmalen inklusive 14.7.3. Exemplartheorie
der Übereinstimmungen mit dem Prototyp dar-
gestellt. Zu erkennen ist, dass Rotkehlchen und Eine Erweiterung des Prototypenmodells ist
Schwalbe exakt dem Prototyp entsprechen und die Exemplartheorie. Im Rahmen dieser
deshalb auch sehr schnell dem Konzept Vogel Theorie wird davon ausgegangen, dass keine
zugeordnet werden. Huhn und Pinguin weisen Repräsentationen von einzelnen Konzepten
nur ein gemeinsames Merkmal mit dem Proto- und/oder Prototypen existieren, sondern nur
typ Vogel auf, was mit langen Verifikationszei- Erinnerungen an wahrgenommene Exemplare.
ten verbunden ist. Prototypenmodelle werden Ein Konzept wird je nach Kontext und Fra-
in der Psychologie breit angewendet (kognitive gestellung ad hoc konstruiert. Vereinfacht kann
Psychologie, Wahrnehmungspsychologie, Sozi- man sich das wie folgt vorstellen: Ein Kind sieht
Tabelle 14-3: Beispiel für Merkmalsübereinstimmungen von verschiedenen Vögeln mit dem Prototyp
Vogel (nach Haberlandt, 1994).
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470 14. Deklaratives Gedächtnis
Worte für Farben Worte für Formen Einflussgrößen auf die Gedächtnisleistung
sind im Folgenden dargestellt.
Abrufintervall (retention intervall): Je länger
das Intervall zwischen Lernen und Abruf,
desto schlechter sind die Abrufleistungen.
Listenlänge: Je mehr Informationen gelernt
werden, desto schlechter sind die Abrufleis-
tungen.
Worte für Gesichter Worte für Arme
Serielle Position des zu lernenden Materials:
Werden Listen von Informationen gelernt,
werden die am Anfang und am Ende der Liste
stehenden Informationen besser gelernt (Re-
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14.8. Beeinflussung des deklarativen Gedächtnisses 471
Wenn sich diese Befunde in zukünftigen Stu- (ApoE) und hier vor allem der Genotyp ApoE4
dien bestätigen, erwachsen daraus interes- diskutiert. Träger dieses Genoytyps (es exis-
sante neue Ansätze zur Verbesserung von Ge- tieren noch die Varianten ApoE3, ApoE2) er-
dächtnisleistungen. kranken häufiger an der Alzheimer-Demenz
Auch während des Schlafs entfalten sich vor allem in jüngeren Jahren (Bu et al., 2009;
gedächtnisfördernde Effekte. Insbesondere Cordre et al., 1993). Bei gesunden und jünge-
der Tübinger Neuropsychologie Jan Born hat ren Personen dagegen scheint dagegen das
dieses Phänomen erforscht (Diekelmann & ApoE4 einen günstigen Effekt auf das episo-
Born, 2010). Er konnte zeigen, dass der frühe dische Gedächtnis auszuüben. Träger dieser
Schlaf, der durch tiefe Schlafphasen und ty Genvariante erbrachten bessere episodische
pische Hirnaktivierungen (sogenannte Slow- Gedächtnisleistungen erbringen als die Träger
wave-EEG-Muster) gekennzeichnet ist, einen der anderen ApoE-Varianten. Die bessere epi-
fördernden Einfluss auf das deklarative Ge- sodische Gedächtnisleistung war auch mit ei-
dächtnis hat. Wörter, die vor dem Einschlafen ner geringeren Durchblutung im deklarativen
gelernt wurden, wurden insbesondere in der Gedächtnisnetzwerk (Hippocampus, Orbito-
ersten Schlafhälfte, wenn besonders viel Tief- frontalkortex, mittlere Frontalkortex und mitt-
schlaf und Slow-wave-EEG-Aktivität vorliegt, lerer Temporalkortex) während des Lernens
besser konsolidiert, was mit besseren Abruf- und Abrufs verbunden (Mondadori et al., 2006).
leistungen nach dem Schlaf verbunden war. Das ApoE4 ist offenbar mit einer höheren Ef-
Jan Born erklärt dies mit einer optimaleren fizienz des episodischen Lernens bei jungen
Konsolidierung, die über die Interaktion zwi- und gesunden Personen assoziiert. Bei mittel-
schen hippocampalen und kortikalen Netz- alten und älteren Personen dagegen scheint
werken vermittelt wird (Standardkonsoli sich dagegen das ApoE4 eher ungünstig auf
dierung). Ein anderes Modell erklärt diesen die Hirnentwicklung zu entfalten.
Effekt mit einem generellen Abschwächen In einer weiteren Arbeit konnte gezeigt
von synaptischen Verbindungen (downscaling werden, dass die genetische Beeinflussung des
hypothesis) während des Schlafs. Im Rahmen Serotonin-Systems auch die Gedächtnisleis-
dieses Modells wird davon ausgegangen, dass tung zu beeinflussen scheint (de Queurvain et
durch generelles Abschwächen der synapti- al., 2003). Das Serotonin ist ein Transmitter,
schen Verbindungen die schwachen Verbin- der eine wichtige Funktion für das deklarative
dungen gelöscht werden, während die star- Gedächtnis ausübt. Eine relativ seltene Vari-
ken (und damit wichtigen) erhalten bleiben. ante des Gens, das die Bildung des Serotonin-
Der Schlafvorgang könnte als eine Art „Rei- Rezeptors beeinflusst (Gen H452Y) und das
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472 14. Deklaratives Gedächtnis
nur bei ca. 9 % der Population vorkommt, war • Im Rahmen der Einprozesstheorie wird
in dieser Arbeit mit einer leicht reduzierten davon ausgegangen, dass der Übergang von
verzögerten Gedächtnisleistung assoziiert. Vertrautheit zur Rekollektion kontinuier-
Die Träger dieser seltenen Genvariante er- lich ist. Im Gegensatz dazu geht die Zwei
innerten bei einem verbalen Gedächtnistest prozesstheorie davon aus, dass für Rekol-
nach einem Tag im Durchschnitt etwa 2 Worte lektion und Vertrautheit unterschiedliche
weniger als die „normale“ Gruppe. Obwohl Hirngebiete genutzt werden und dass beide
diese Befunde einer weiteren Untersuchung Prozesse funktionell unterschiedlich sind.
bedürfen, kann festgehalten werden, dass das Die aktuelle Literaturlage favorisiert das
menschliche Gedächtnis sicher auch von gene- Zweiprozessmodell.
tischen Faktoren beeinflusst wird. • Das Gemeinsame der Theorien zum dekla-
rativen Gedächtnis besteht darin, dass die
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14.9. Zusammenfassung 473
Beim Abruf von Informationen können ver- Areale). Beim Abruf dieser Informationen
schiedene Prozesse unterschieden werden: werden diese Areale erneut aktiviert (Re
Gedächtnissuche, Wiederherstellung, Über- aktivierung).
prüfung, Abrufaufwand und Abrufzustand. • Mittels des EVP können Alt-neu-Effekte
Diese Prozesse sind mit unterschiedlichem bei Gedächtnisuntersuchungen (ähnlich
Abruferfolg assoziiert. den DM-Effekten) gezeigt werden: ein
• EEG- und fMRT-Studien haben gezeigt, dass linksparietaler Alt-neu-Effekt, der unge-
mit dem Abrufzustand und gelegentlich fähr 400–700 ms nach Präsentation des
auch mit dem Abrufaufwand länger an- Testreizes auftritt, und ein frontaler Alt-
dauernde Aktivierungen insbesondere des neu-Effekt, der zwischen 300 und 500 ms
rechtsseitigen Frontalkortex verbunden sind. nach Reizpräsentation erscheint. Rekollek-
• Der bewusste und detaillierte Abruf gespei- tion tritt im Zusammenhang mit dem links-
cherter Informationen wird über den links- parietalen und Vertrautheit im Zusammen-
seitigen Frontalkortex vermittelt (Rekol hang mit dem frontalen Alt-neu-Effekt auf.
lektion). Das Vertrautheitsgefühl wird über • Der Erfolg des Encodierens hängt auch von
den rechtsseitigen Frontalkortex vermit- der Hirnaktivität vor dem Encodieren ab.
telt. Je stärker die Unsicherheit, ob die ab- • Der Abruferfolg hängt mit der Aktivität im
gerufene Information wirklich gelernt Alpha- und Theta-Band nach der Präsenta-
wurde, desto stärker ist die Aktivität des tion der zu lernenden Reize zusammen. Je
rechtsseitigen Frontalkortex. stärker die Desynchronisation im Alpha-
• Das HERA-Modell (Hemispheric encoding Band und je stärker die Synchronisation im
retrieval asymmetry) besagt, dass beim Theta-Band, desto besser können semanti-
Encodieren von episodischen Informatio- sche Informationen nach dem Lernen ab-
nen vermehrt der linksseitige Frontalkortex gerufen werden. Die Theta-Band-Aktivi-
aktiv ist. Beim Abruf dagegen ist der rechts- tät reflektiert die Interaktion zwischen
seitige Frontalkortex verstärkt aktiv. Beim mesiotemporalen Hirngebieten und dem
semantischen Gedächtnis (insbesondere Neokortex. Die Alpha-Band-Aktivität ist
wenn verbales Material verarbeitet wird) wahrscheinlich mit den Kontrollprozessen
greift das HERA-Modell nicht, denn bei während des Abrufs assoziiert.
diesem Material ist vorrangig der linkssei- • Das Wissen ist in Form von Konzepten,
tige Frontalkortex aktiv. Merkmalen, Skripten, Propositionen,
• Im Parietallappen sind an Gedächtnispro- Handlungen oder Symbolen im deklarati-
zessen die folgenden Hirngebiete beteiligt: ven Gedächtnis gespeichert.
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474 14. Deklaratives Gedächtnis
• Wichtige theoretische Vorstellungen be- • Welche Rolle spielt der Frontalkortex beim
züglich der mentalen Repräsentationen des Encodieren und beim Abruf von deklarati-
Wissens sind semantische Netzwerk ven Gedächtnisinformationen?
modelle, das Prototypenmodell und die • Beschreiben Sie das Subsequent Memory
Exemplartheorien. Paradigm.
• Gedächtnisleistungen hängen von vielen • Was ist ein Difference-in-memory-Effekt
Faktoren ab. Beeinflussende Faktoren sind: (DM-Effekt)?
die Dauer des Abrufintervalls, die Menge • Definieren Sie Rekollektion und Vertraut-
des Lernmaterials, die serielle Position des heit im Zusammenhang mit dem Abruf de-
Lernmaterials, die Tiefe der Verarbeitung, klarativer Gedächtnisleistungen.
die Studierzeit, die Encodierspezifität, die • Beschreiben Sie das HERA-Modell.
Unverwechselbarkeit der gelernten Infor- • Beschreiben Sie die DM-Effekte für den
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mationen und die Häufigkeit des Testens. Parietallappen. Was bedeutet das für die
• Während des Tiefschlafs, v. a. in der ersten Beteiligung des Parietallappens am dekla-
Hälfte des Schlafs, werden Informationen rativen Gedächtnis?
konsolidiert, die dem deklarativen Ge- • Wie sind die sensorischen Hirngebiete in
dächtnis zugeführt werden. das deklarative Gedächtnis eingebunden?
• Junge und gesunde Träger des Genotyps • Beschreiben Sie den frontalen und den
ApoE4 erbringen etwas bessere episodische linksparietalen Alt-neu-Effekt im Zusam-
Gedächtnisleistungen als Träger anderer menhang mit elektrophysiologischen Ge-
ApoE-Varianten. Darüber hinaus erfolgt dächtnisuntersuchungen.
das Enkodieren und Abrufen der Lerninfor- • Welche Befunde bezüglich der Hirnaktivi-
mationen neurophysiologisch effizienter. tät vor dem Encodieren kennen Sie?
ApoE4 ist allerdings auch ein Risikofaktor • Wie sind die EEG-Oszillationen in die En-
für die Alzheimer-Demenz. Darüber hinaus codierung und den Abruf von Gedächtnis-
werden noch weitere genetische Faktoren informationen eingebunden?
diskutiert, die Einfluss auf das Gedächtnis- • Welche Effekte beeinflussen die Gedächt-
system nehmen können. nisbildung?
• Welchen Einfluss hat der Schlaf auf das de-
klarative Gedächtnis?
14.10. Fragen und Aufgaben • Welche genetischen Einflüsse auf das Ge-
dächtnissystem kennen Sie?
• Welche Teilkomponenten des deklarativen
Gedächtnisses kennen Sie?
• Definieren Sie das episodische, das seman- 14.11. Weiterführende Literatur
tische und das autobiografische Gedächt-
nis. Gluck, M. A., Mercado, E., Myers, C. E. (2007).
• Welche Theorien bezüglich der Einbindung Learning and memory: From brain to beha-
des mesiotemporalen Hirnbereichs kennen vior. Worth Publishers.
Sie? Oberauer, K., Mayr, U., Kluwe, E. R . (2006) Ge-
dächtnis und Wissen. In: H. Spada (Hrsg.).
Lehrbuch Allgemeine Psychologie. (pp. 116–
196). Bern: Huber.
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475
nondeklaratives
Gedächtnis
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15.1. Einleitung 477
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478 15. Nondeklaratives Gedächtnis
Unter dem Begriff Lernen von Fertigkeiten dann zum konditionierten Reiz. Da der so aus-
werden verschiedene Lernbereiche zusam- gelöste Speichelfluss im Hinblick auf verschie-
mengefasst: dene Aspekte (zeitlicher Ablauf, Intensität etc.)
• Lernen von motorischen Fertigkeiten nicht vollkommen identisch ist, wird diese Re-
•
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Lernen von perzeptuellen Fertigkeiten aktion auch als konditionierte Reaktion be-
• Lernen von kognitiven Fertigkeiten. zeichnet. Der Ton löst den Speichelfluss auto-
matisch aus und die konditionierte Reaktion
Ein typisches Beispiel für das Lernen von mo- ist nicht willentlich unterdrückbar.
torischen Fertigkeiten ist das Autofahren. Neben den oben beschriebenen Lernfor-
Nachdem wir über viele Jahre die Bedienung men werden die Habituation und die Sensiti-
eines Kraftfahrzeugs gelernt und perfektio- vierung dem nondeklarativen Lernen zugeord-
niert haben, gelingt es uns, das Fahrzeug durch net. Diese beiden Lernformen wurden bereits
den Verkehr zu lenken, während wir verschie- im Zusammenhang mit den zellulären Lern-
dene Tätigkeiten simultan ausführen. Wir hö- mechanismen besprochen (Kap. 13.7.1.). Ha-
ren währenddessen Musik, sprechen mit unse- bituation tritt im Zusammenhang mit der
ren Mitfahrern und gelegentlich telefonieren Orientierungsreaktion (OR) auf. Treten un-
wir während des Fahrens. Auch das klassische erwartete Reize auf, dann führt der Organis-
Konditionieren wird zum nondeklarativen mus eine Orientierungsreaktion aus. Diese
Gedächtnis gezählt. Reaktion ist gekennzeichnet durch das Herab-
Das Paradebeispiel für das klassische Kon senken der Sinnesschwellen, die Erhöhung der
ditionieren wurde am pawlowschen Hund be- Muskelspannung und eine erhöhte Aktivität
schrieben. Normalerweise wird ein Hund auf des vegetativen Nervensystems. Nach der Hin-
einen neutralen Reiz (z. B. einen Ton) nicht wendung zum auslösenden Reiz nehmen diese
vermehrt Speichel absondern, sondern nur, Reaktionen zunehmend ab. Diese Abnahme
wenn man ihn füttert oder ihm Futter zeigt. der Orientierungsreaktion wird als Habitua-
Der Futterreiz ist der unkonditionierte Reiz, tion bezeichnet.
der eine Reflexreaktion (die unkonditionierte
Reaktion) auslöst. Wird einem Hund aller-
dings kurz vor dem Futterreiz wiederholt ein 15.2. Verschiedene Formen
Ton präsentiert, bildet sich eine neurophysio- des Primings
logische Assoziation zwischen den neurophy-
siologischen Repräsentationen des Tons und 15.2.1. Perzeptuelles Priming
des Futterreizes. Die Stärke dieser neurophy-
siologischen Verbindung hängt von der Häu- Beim perzeptuellen Priming sind Prime und
figkeit der gemeinsamen Präsentation von Ton Probe identisch. Das bekannteste Beispiel ist
und Futterreiz ab. Schließlich wird der Ton al- der Wortfragmenttest und die damit erzielten
lein den Speichelfluss auslösen. Der Ton wird Ergebnisse. Dieser Test besteht aus zwei Ver-
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15.2. Verschiedene Formen des Primings 479
suchsphasen (Tab. 15-2). In der ersten Ver- Das Prinzip ist ähnlich, nur dass die Versuchs-
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suchsphase müssen die Versuchspersonen eine personen in der zweiten Versuchsphase den
Wortliste lesen, wobei sie nicht instruiert wer- Wortstamm sehen und nicht das ganze Wort.
den, diese Wörter zu lernen. Meistens wird das Sie müssen den Wortstamm zu einem Wort
Lesen mit einer Tarngeschichte verbunden. ergänzen. Auch hierbei sind sie schneller,
Den Versuchspersonen wird gesagt, sie sollen wenn sie Wörter ergänzen müssen, die sie
perfekt lesen oder auf den Klang der gelesenen vorher gelesen haben.
Wörter achten. Wichtig ist, dass diese Wörter Perzeptuelles Priming wird über Hirn-
gelesen werden, ohne dass die Versuchsper- gebiete vermittelt, die für die Verarbeitung der
sonen den Eindruck haben, sie müssten sie physikalischen Eigenschaften der Testreize
lernen. Das Zeitintervall zwischen der ersten zuständig sind. Das bedeutet, dass perzeptuel-
und zweiten Versuchsphase kann sehr kurz les Priming nicht von den gleichen Hirngebie-
(unmittelbar anschließend) oder relativ lang ten kontrolliert wird, die auch an der Kontrolle
sein (bis zu mehreren Wochen). In der zwei- des episodischen Gedächtnisses beteiligt sind.
ten Versuchsphase werden den Versuchsper- Unterschiede zum episodischen und semanti-
sonen Wortfragmente auf einem Computer- schen Gedächtnis haben sich auf folgenden
bildschirm präsentiert. Diese Wortfragmente Ebenen gezeigt:
sind letztlich Wörter, in denen an bestimmten • Funktion
Positionen statt Buchstaben Striche stehen • Entwicklung
(Tab. 15-2). Es werden Wortfragmente von • Pathologie.
Wörtern dargeboten, die auf der Liste aus der
ersten Phase enthalten waren (Testwörter), Funktionale Unterschiede zum episodischen
und von Wörtern, die nicht auf dieser Liste und semantischen Gedächtnis können heraus-
standen (Distraktoren). Die Aufgabe besteht gearbeitet werden, indem entweder die Be-
darin, die Wortfragmente so schnell wie mög- deutung oder die physikalischen Eigenschaf-
lich zu sinnvollen Wörtern zusammenzufügen. ten des zu lernenden Materials beeinflusst
Bei solchen Tests stellte sich heraus, dass Wort- werden. Hierbei zeigt sich konsistent, dass bei
fragmente von Wörtern, die in der ersten Ver- Manipulation der Bedeutung des Lernmate-
suchsphase gelesen wurden, schneller und rials die Leistung (und Hirnaktivität) des epi-
häufiger korrekt vervollständigt wurden als sodischen Gedächtnisses beeinflusst wird,
Wortfragmente, die in keinem Zusammenhang während Manipulationen der physikalischen
mit den Wörtern der Liste standen. Eigenschaften keinen Einfluss auf das episo-
Dieser Test ist in mehreren Varianten im dische Gedächtnis haben. Manipulationen der
Umlauf, u. a. als Wortstammergänzungstest. physikalischen Eigenschaften resultieren je-
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480 15. Nondeklaratives Gedächtnis
A) B)
100 45
90 40
80 35
70
30
Gedächtnisleistung
Gedächtnisleistung
60
25
50
20
40
15
30
20 10
10 5
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0 0
Wieder- Wortstamm- freier Fragment-
erkennung ergänzung Abruf ergänzung
Abbildung 15-1: Befunde zur funktionalen Dissoziation von perzeptuellem Priming und episodischem
Gedächtnis. (A) Semantisches Encodieren führt zu besseren Wiedererkennensleistungen bei einem
Gedächtnistest. Bei einer Wortstammergänzungsaufgabe macht es allerdings keinen Unterschied, ob
die Informationen semantisch oder nichtsemantisch encodiert wurden (nach Graf & Mandler, 1984).
(B) Ein Priming-Effekt zeigt sich nur für Wörter, die auch als Wörter gelernt wurden (nach Weldon &
Roediger, 1987).
doch in veränderten perzeptuellen Priming- entweder als Bilder oder als geschriebene
Effekten. Ein typisches Experiment hierzu Wörter lernen. Die Abrufleistungen beim
haben Graf und Mandler (1984) durchgeführt. freien Abruf waren praktisch identisch für Be-
Sie ließen Versuchspersonen Wörter „seman- griffe, die als geschriebene Wörter oder Bilder
tisch“ oder „nichtsemantisch“ encodieren. In gelernt wurden. Es zeigte sich jedoch ein mas-
der „semantischen“ Bedingung mussten sie siver Unterschied beim Wortfragmenttest, wo
das zu lernende Wortmaterial während des sich nur ein Priming-Effekt für Wörter zeigte,
Encodierens mit bestimmten Aussagen ver- die auch als Wörter „gelernt“ wurden. Wörter,
gleichen und überprüfen, ob das zu lernende die als Bilder gelernt wurden, ergaben keinen
Wort mit der jeweiligen Aussage „semantisch“ Priming-Effekt beim Wortergänzungstest
in korrekter Beziehung steht. In der anderen (Abb. 15-1).
Versuchsbedingung war kein semantischer Perzeptuelle Priming-Effekte bleiben prak-
Vergleich gefordert. Wie erwartet, zeigten sich tisch während des gesamten Lebens konstant.
für die „semantisch“ encodierten Wörter bes- Anders ist dies bei der episodischen Gedächt-
sere Wiedererkennensleistungen als für die nisleistung. Sie ist in der frühen Kindheit noch
„nichtsemantisch“ encodierten. Die Art der nicht gut ausgebildet, nimmt im Erwachsenen-
Encodierung hatte jedoch keinen Einfluss auf alter zu, um dann im Seniorenalter (im Durch-
die Leistung bei Wortergänzungsaufgaben. schnitt) wieder abzunehmen (Abb. 15-2).
Ein anderes Experiment zu diesem Thema Läsionen in unterschiedlichen Hirngebie-
haben Weldon und Roediger (1987) durch- ten beeinflussen perzeptuelles Priming und
geführt. Sie ließen Versuchspersonen Begriffe episodisches Gedächtnis unterschiedlich. Lä-
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15.2. Verschiedene Formen des Primings 481
100 55
90
80 45
70
Gedächtnisleistung
Gedächtnisleistung
60 35
50
40 25
30
20 15
10
0 5
3 Jahre alt junge junge ältere
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Abbildung 15-2: Priming-Leistungen und Leistungen des episodischen Gedächtnisses für verschiedene
Altersgruppen. Die Priming-Leistung ist für unterschiedliche Altersgruppen konstant. Die episodische
Gedächtnisleistung verändert sich dagegen über das Alter hinweg erheblich (nach Light & Singh, 1987;
Parkin & Streete, 1988).
sionen in mesiotemporalen Hirngebieten füh- zeichnet. Mittels fMRT kann die Wieder-
ren zu den bereits besprochenen Ausfällen des holungsunterdrückung in vielen Hirngebieten
deklarativen Gedächtnisses. Das perzeptuelle gleichzeitig untersucht werden, was z. B. Randy
Priming wird durch solche Läsionen nicht be- Buckner und Kollegen (2000) im Zusammen-
einflusst. Jedoch führen Läsionen in primären hang von Wortstammergänzungsaufgaben ta-
und v. a. sekundären sensorischen Hirngebie- ten. Sie konnten zeigen, dass die Bearbei-
ten zu Defiziten beim perzeptuellen Priming. tung einer Wortstammergänzungsaufgabe mit
Auch Patienten, die unter Alzheimer-Demenz Durchblutungszunahmen in einem verteilten
leiden, sind immer noch in der Lage, perzep- Netzwerk assoziiert ist. Dieses Netzwerk bein-
tuelles Priming zu zeigen, obwohl im fort- haltet den ventrolateralen Präfrontalkortex
geschrittenen Stadium der Erkrankung große (links) und den ventralen Okzipitotemporal-
Bereiche des Kortex degeneriert sind, was die kortex (rechts). Priming reduzierte die Hirn-
wesentliche neurobiologische Grundlage für aktivität in beiden Hirngebieten (Abb. 15-3).
das reduzierte deklarative Gedächtnis ist. Darüber hinaus sind maskierte Priming-
Die neurophysiologischen Grundlagen des Effekte beobachtet worden. Maskierte Pri-
perzeptuellen Primings sind bislang noch nicht ming-Effekte werden evoziert, indem kurz
eindeutig geklärt. Ein typischer Befund, der nach dem Prime ein Maskierungsreiz präsen-
v. a. mittels fMRT-Technik herausgearbeitet tiert wird, der die bewusste Wahrnehmung des
wurde, ist, dass nach wiederholter Präsenta- Primes verhindert. Mit anderen Worten: Die
tion der gleichen Reize die durch sie angesto- Versuchspersonen realisieren gar nicht, dass
ßenen Durchblutungszunahmen abnehmen. sie einen Prime präsentiert bekommen haben.
Dieses Phänomen wird als Wiederholungs Anschließend wird die Hirnaktivität auf den
unterdrückung (repetition suppression) be- folgenden Probe gemessen. In der Regel ist die
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482 15. Nondeklaratives Gedächtnis
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15.2. Verschiedene Formen des Primings 483
Gyrus fusiformis
(links)
0.1 0.1
Aktivierung in %
Aktivierung in %
Gyrus occipitotemporalis
(rechts) 0
0
gleiche unterschied- gleiche unterschied-
Buchstaben- liche Buch- Buchstaben- liche Buch-
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Exemplarisch soll in diesem Zusammen- beim ersten Mal bei der Abstrakt-konkret-Auf-
hang das Experiment von Koutstaal und Kolle- gabe bereits bearbeitet wurden. Die Probanden
gen (2001) dargestellt werden: In der ersten bearbeiteten also in beiden Versuchsbedin-
Phase des Experiments mussten die Versuchs- gungen die Wörter semantisch (semantisch-
personen zwei Aufgaben durchführen: eine semantisch; within-task). Das bedeutet, dass
semantische und eine physikalische. In der eventuell zu messende Wiederholungsunter-
zweiten Phase bearbeiteten sie nur die seman- drückungseffekte auf konzeptuelles Priming
tische Aufgabe, allerdings mit jeweils unter- zurückzuführen wären. Wenn die Versuchsper-
schiedlichen Wörtern. Bei der ersten Aufgabe sonen in der ersten Sitzung mit den Wörtern
mussten sie beurteilen, ob die dargebotenen eine Groß-klein-Aufgabe bearbeiten und in der
Wörter „abstrakt“ oder „konkret“ waren (Abs- zweiten Sitzung semantische Entscheidungen
trakt-konkret-Aufgabe). Das bedeutet, sie treffen, dann haben sie schon Erfahrung mit
mussten semantische Entscheidungen treffen. den physikalischen Eigenschaften der Wörter.
In der zweiten Versuchsbedingung sollten Sie bearbeiten in der zweiten Bedingung die
sie überprüfen, ob die dargebotenen Wörter Wörter, die sie in der ersten Versuchsbedin-
„groß-“ oder „kleingeschrieben“ waren (Groß- gung auf der Basis von physikalischen Eigen-
klein-Aufgabe). In dieser Bedingung sollten schaften bearbeitet hatten, nun semantisch.
also Entscheidungen auf der Basis physika- Das bedeutet, sie wechseln in der Aufgabe von
lischer Eigenschaften getroffen werden. physikalisch zu semantisch (physikalisch-se-
In der zweiten Versuchsphase mussten die mantisch; across-task). Eventuell auftretende
Abstrakt-konkret-Aufgaben erneut absolviert Wiederholungsunterdrückungseffekte können
werden, in einer Bedingung mit Wörtern, die dann nicht auf konzeptuelles Priming zurück-
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484 15. Nondeklaratives Gedächtnis
7 7
4 4
neu
wiederholt
1 1
semantisch- physikalisch- semantisch- physikalisch-
semantisch semantisch semantisch semantisch
Abbildung 15-5: Ergebnisse des Versuchs von Koutstaal und Kollegen (2001) zum konzeptuellen Pri-
ming. Wenn die Versuchspersonen wiederholt semantische Aufgaben zu lösen hatten (semantisch-
semantisch), dann zeigten der anteriore Gyrus frontalis inferior und der posteriore Gyrus frontalis in-
terior eine Wiederholungsunterdrückung. Sofern die Versuchspersonen die dargebotenen Reize
zunächst nach physikalischen Merkmalen (groß- oder kleingeschriebene Wörter) zu analysieren hatten
und danach semantisch (physikalisch-semantisch), zeigte sich im anterioren Gyrus frontalis inferior
kein Wiederholungsunterdrückungseffekt. In dieser Bedingung zeigte sich allerdings ein leichter Wie-
derholungsunterdrückungseffekt im posterioren Gyrus frontalis inferior, der bekanntlich in phoneti-
sche Analysen eingebunden ist.
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15.2. Verschiedene Formen des Primings 485
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486 15. Nondeklaratives Gedächtnis
15.2.4. Theorien zum Priming der Transmitter reduziert wird, weil nicht ge-
nügend „Nachschub“ an chemischen Substan-
Bislang werden drei Theorien diskutiert, die zen in kurzer Zeit zur Verfügung gestellt wer-
versuchen, die neurophysiologischen Grund- den kann. Eine andere Möglichkeit ist, dass die
lagen des Primings zu erklären: das Erschöp- Nervenzellen sich teilweise noch in Refraktär-
fungsmodell (fatigue), das Schärfungsmodell phasen befinden. Dieses Modell kann aller-
(sharpening) und das Verbesserungsmodell dings den Zusammenhang mit den Verhal-
(facilitation; Abb. 15-7). tenseffekten nicht erklären. Wieso soll bei
Im Rahmen des Erschöpfungsmodells einer neuronalen „Erschöpfung“ eines Ner-
wird davon ausgegangen, dass alle Neurone venzellverbands gleichzeitig die von diesem
des aktivierten Netzwerks nach wiederholter Verband kontrollierte psychische Funktion
Aktivierung ihre Aktivität senken. Die Gründe besser und effizienter werden?
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dafür können vielfältiger Art sein. Eine Mög- Beim Schärfungsmodell wird ein anderer
lichkeit besteht darin, dass die Ausschüttung Mechanismus vorgeschlagen, der eleganter
A)
B) Schärfung Verschnellerung
Erschöpfung
Abbildung 15-7: Schematische Darstellung der drei Modelle zur Erklärung des Primings. (A) Die Kreise
repräsentieren ein dreischichtiges Neuronennetzwerk. Jeder einzelne Kreis ist in unterschiedlichen Grau-
tönen dargestellt. Die Grautöne repräsentieren die Feuerrate der Neuronen (hell = gering, schwarz = ma-
ximal). Bei der ersten Präsentation des Reizes weist dieses Netzwerk ein bestimmtes Aktivierungsmuster
auf. In (B) sind verschiedene Erklärungen für die häufig berichteten Aktivitätsabnahmen bei wiederholter
Darbietung der gleichen Reize schematisch dargestellt. Im Rahmen des „Erschöpfungsmodells“ geht man
davon aus, dass die meisten Neurone des aktivierten Netzwerks nach wiederholter Aktivierung ihre Ak-
tivität senken. Beim „Schärfungsmodell“ geht man davon aus, dass nur die wesentlichen Neurone aktiv
bleiben und gelegentlich auch ihre Aktivität steigern. In der Summe ist die Gesamtaktivität allerdings
geringer als bei der ersten Präsentation. Beim „Verschnellerungsmodell“ ist das Aktivierungsmuster so
wie bei der ersten Präsentation. Die Aktivierung tritt allerdings schneller ein und wird schneller beendet.
Auch das führt in der Summe zu einer geringeren Aktivität bei wiederholter Darbietung.
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15.3. Lernen von Fertigkeiten 487
mit dem verbesserten Verhalten in Verbindung Man spricht auch vom „Lernen-durch-Tun“
gebracht werden kann. Hierbei wird davon (learning by doing). Ein weiteres typisches
ausgegangen, dass nur die Neurone ihre Akti- Merkmal des Lernens von Fertigkeiten ist die
vität reduzieren, die nicht unmittelbar in die zunehmende Unabhängigkeit der Fertigkeit
Kontrolle der jeweiligen psychischen Funktion von Aufmerksamkeitsressourcen. Je besser die
eingebunden sind. Das heißt, die überflüs- Fertigkeit beherrscht wird, desto weniger be-
sigen und „störenden“ Neurone werden aus wusster Kontrollaufwand und Aufmerksam-
dem Netz „gelöscht“, indem sie ihre Aktivität keit müssen eingesetzt werden. Es stehen
senken und sich nicht mehr an der Gesamt- dann weitere kognitive Ressourcen zur Ver-
aktivität beteiligen. Die notwendigen Neurone fügung, die für die Kontrolle anderer Fertig-
dagegen bleiben dem Netz erhalten und kön- keiten eingesetzt werden können, sodass zwei
nen ihre Aktivitäten steigern. Weil die wichti- oder mehr Tätigkeiten gleichzeitig ablaufen
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gen und notwendigen Neurone die Verarbei- können. Erkennbar ist dies beim geübten Pia-
tung des Reizes zunehmend übernehmen und nisten, der während des Spiels singen oder
diese Verarbeitung nicht mehr durch die „stö- auch das Notenblatt lesen kann. Das Lernen
rende“ Aktivität nicht notwendiger Neurone von Fertigkeiten ist auch dadurch gekenn-
behindert wird, verbessert sich die Verarbei- zeichnet, dass diese schwerlich beschrieben
tung des Reizes. Daraus resultiert eine opti- werden können. Man kann sie ausführen, aber
mierte Verarbeitung mit den entsprechenden es gelingt einem einfach nicht, sie anderen mit-
Verhaltenskonsequenzen. zuteilen. Dies lässt sich gelegentlich eindrück-
Das Verschnellerungsmodell geht davon lich bei Profisportlern beobachten, wenn sie
aus, dass bei repetitiver neuronaler Aktivität aufgefordert werden, ihre besonderen sport-
die neuronale Reaktion immer schneller be- lichen Leistungen dem Publikum zu erklären
ginnt (reduzierte Reaktionszeiten) und kürzer (was dann in der Regel nicht gut gelingt). Ein
dauert. Die mittlere Aktivität des gesamten anderes Beispiel ist die Grammatik der Mut-
Netzwerks würde dann im Laufe der Zeit ge- tersprache, die nach langem Üben irgendwie
ringer werden. Die drei Modelle können aller- (nicht immer korrekt!) beherrscht wird.
dings die Heterogenität der Priming-Effekte Unbewusstes Lernen von Fertigkeiten ist in
nicht erklären. Warum sind manche Priming- vielen Lebensbereichen zu beobachten. Typi-
Effekte so kurz und warum halten andere so sche Beispiele sind das Fahrradfahren, das
lange an? Sind die neuronalen Grundlagen der Lenken eines Fahrzeugs, das Spielen eines
Priming-Effekte in allen Hirngebieten gleich? Musikinstruments, der Erwerb der Lesefertig-
Diese Fragen müssen in zukünftigen Arbeiten keit, Schachspielen, der Gebrauch der Mutter-
beantwortet werden. sprache, der Erwerb von Denkstrategien sowie
das Erkennen von Gesichtern, räumlichen Zu-
sammenhängen, akustischen Mustern und
15.3. Lernen von Fertigkeiten Melodien. Manche Forscher vermuten gar,
dass fast alles, was in unserem Gedächtnis ge-
Das Lernen von Fertigkeiten (skill learning) speichert wird, in einer unbewussten Form
wird auch als prozedurales Lernen bezeich- abgespeichert wird (wir können mehr, als wir
net. Es ist eine unbewusste Form des Lernens, wissen). Selbst Informationen, die bewusst er-
die sich vom Priming v. a. dadurch unterschei- worben und im deklarativen Gedächtnis ge-
det, dass sehr lange gelernt werden muss, bis speichert wurden, können durch häufiges An-
die Fertigkeit beherrscht wird und sich eine wenden in das implizite Gedächtnis überführt
feste Gedächtnisrepräsentation gebildet hat. werden. Sie werden dann zu einer unbewuss-
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488 15. Nondeklaratives Gedächtnis
ten Fertigkeit. Angesichts ihrer Vielfalt – die nimmt er spezifische Werte an. In den Formeln
leicht zur Unübersichtlichkeit führen kann – (1) und (2) ist er als negativer Wert definiert,
werden die oben dargestellten Fertigkeiten in was für Reaktionszeiten typisch ist, denn die
drei Lernbereiche eingeteilt, die im Folgenden nehmen ja mit zunehmender Lerndauer ab.
näher beschrieben werden: Wenn es um Trefferraten oder die Genauigkeit
• Lernen von motorischen Fertigkeiten (mo- einer Aufgabe geht, dann ist der Lernindex po-
tor skill learning) sitiv. In diesem „Gesetz“ kommt nicht nur zum
• perzeptuelles Lernen (perceptual skill lear- Ausdruck, dass mit zunehmender Übungs-
ning) dauer das Geübte besser beherrscht wird, son-
• Lernen von kognitiven Fertigkeiten (cogni- dern auch, dass der Lerngewinn am Anfang
tive skill learning). des Lernens größer ist als in späteren Lern-
durchgängen. Wird der Zusammenhang zwi-
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Wie oben dargestellt, ist eines der wesentli- schen Lerndauer und Verbesserung der Fertig-
chen Merkmale des Lernens von Fertigkeiten keit logarithmisch dargestellt, dann ergibt sich
die häufige Wiederholung. Dieses Phänomen eine lineare Funktion. Dieser Zusammenhang
ist mit dem Satz „Wiederholen ist die Mutter ist recht aufschlussreich für die Verbesserung
des Lernens“ auf den Punkt zu bringen. Diese von Fertigkeiten und für die Gestaltung des
Erkenntnis hat zu dem sogenannten Power- Trainings. Mit dieser Funktion kann man vor-
Law des Lernens geführt. Power ist hier nicht hersagen, wie groß der jeweilige Lerngewinn
mit Kraft gleichzusetzen, sondern hier kommt durch zusätzliches Training sein wird. Das
zum Ausdruck, dass der Zusammenhang zwi- kann motivierend, aber auch ein wenig des-
schen dem Lernergebnis und der Wieder- illusionierend sein. Beginnt man mit dem Trai-
holungshäufigkeit in Form einer Exponential- ning, sind große Lerngewinne zu erwarten. Im
funktion beschrieben werden kann. Das von fortgeschrittenen Stadium können allerdings
der Übung abhängige Lernergebnis kann dann nur geringe Lerngewinne anhand dieser Funk-
mit einer Exponentialfunktion beschrieben tion vorhergesagt werden. Im Grunde kann
werden. In der unten aufgeführten Formel sich ein Trainer, Lehrer oder der Übende selbst
wird die Lernleistung anhand der abnehmen- anhand dieser Funktion eine Vorstellung da-
den Reaktionszeit gemessen. von machen, welchen Lerngewinn er in Ab-
hängigkeit vom jeweiligen Trainingszustand
(1) Ln = L1 * n–a
zu erwarten hat und ob sich der Trainingsauf-
Ln Leistung zum Zeitpunkt n
wand überhaupt lohnt. Für einen Profisport-
L1 Leistung zu Beginn des Lernens
ler oder -musiker mögen auch kleine Lern
n Durchgang
gewinne von herausragender Bedeutung sein.
a Lernindex oder Steigungsparameter
Amateure sollten sich allerdings anhand die-
(2) log Ln = log L1 – a * log n ses Power Laws gut überlegen, ob zusätzliche
Trainingseinheiten den zu erwartenden gerin-
Durch Logarithmierung und entsprechende gen Erfolg überhaupt rechtfertigen.
Umstellung erhält man die Formel (2). Der In diesem Zusammenhang wird häufig da-
Lernindex, der in der Exponentialfunktion als rüber diskutiert, wie Begabung und Lernen
Exponent in die Berechnung eingeht, wird in von Fertigkeiten zusammenhängen. Der Ko-
der Formel mit den logarithmierten Werten gnitionspsychologe Ericsson (2004) vertritt
zum Steigungsparameter. Er definiert die die Position, dass selbst außergewöhnliche
Lernrate bzw. den Lernzuwachs pro Durch- Fertigkeiten wie Schachspielen und Musizie-
gang. Je nach Lernart und gelernter Aufgabe ren auf höchstem internationalem Niveau
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15.3. Lernen von Fertigkeiten 489
A) B)
0.8
log (Sekunde)
2.2
Sekunde
0.7
2.0
0.6
1.8
0 10 20 30 40 50 0 1 2 3 4
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Abbildung 15-8: Power-Law des Lernens. (A) Darstellung des Zusammenhangs zwischen Lerndauer (An-
zahl der Trainingseinheiten auf der x-Achse) und Lernleistung (als Abnahme der Bearbeitungsgeschwin-
digkeit auf der y-Achse). (B) Gleicher Zusammenhang wie in (A) nur die Werte sind logarithmiert.
Tabelle 15-3: Merkmale des Gedächtnisses für Fertigkeiten und des deklarativen Gedächtnisses.
wesentlich (wenn nicht gar ausschließlich) ker (moderat gute; M++) nur ca. 8 000 Stun-
durch die Trainingsdauer bestimmt werden. den geübt haben. Amateurmusiker kommen
Er konnte für seine Argumentation überzeu- im Alter von 20 Jahren auf eine Trainings-
gende Befunde vorlegen, die zeigen, dass dauer von ca. 1 500 Stunden (Abb. 15-9, in der
selbst (vermeintlich) begabte klassische Musi- weitere Informationen zur Trainingsintensi-
ker sehr viel Training benötigen, um in die tät dargestellt sind).
Weltelite aufzusteigen. Er hat die Trainings- Ähnliche Zusammenhänge zwischen der
zeiten der (meist klassischen) Musiker aus re- Trainingsdauer und der Leistung finden sich
trospektiven Befragungsdaten berechnet. Aus auch in anderen Bereichen. Das Golfspielen,
diesen Berechnungen geht hervor, dass die das zu den technisch anspruchsvollen Sport-
Dauer des Trainings sehr stark mit der Güte arten gehört, erfordert ebenfalls viel Trainings-
des Musizierens und damit auch mit dem aufwand. Je besser die Fertigkeit des Golfspie-
Berufserfolg der Musiker zusammenhängt. lens, desto häufiger wurde trainiert (Jäncke et
Hervorragende Berufsmusiker (M++++) ha- al., 2009). Das Handicap beim Golfspiel ist ein
ben bereits im Alter von 20 Jahren mehr als präziser Messwert, der die Fertigkeit wieder-
11 000 Stunden mit ihrem Instrument ge- gibt. Je besser man Golf spielt, desto niedriger
arbeitet, während weniger gute Berufsmusi- ist das Handicap. Golftrainer verfügen über ein
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490 15. Nondeklaratives Gedächtnis
8 250
höher ist der Elo-Score. Der Elo-Score korre-
liert wiederum sehr hoch mit der Häufigkeit
5 500
des Übens (de Bruin et al., 2008).
2 750 Gibt es demzufolge keine Begabung und
wird alles durch fleißiges und häufiges Üben
0
M++++ M+++ M++ M+ Amateure
erworben? Sicherlich spielt in diesem Zusam-
menhang auch die Begabung eine nicht zu
Alter in Jahren: 20 18 16
unterschätzende Rolle. Aber oft wird der Ein-
Abbildung 15-9: Darstellung der geschätzten fluss der Begabung auch überschätzt und im-
Trainingsdauer von exzellenten (M++++), sehr plizit angenommen, dass Begabung das Üben
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guten (M+++), guten (M++), mäßig guten Berufs- überflüssig macht. Diese Extremposition ist
musikern (M+) und Amateurmusikern. Darge- nicht mehr haltbar. Wer über Begabung in ei-
stellt sind die geschätzten Trainingszeiten im Al- nem bestimmten Fertigkeitsbereich verfügt,
ter von 20, 18 und 16 Jahren. (Nachgezeichnet
kann durch intensives Üben ein höheres Fer-
nach Ericsson, 2004)
tigkeitsniveau erreichen als jene Personen, die
über weniger Begabung in diesem Bereich
Handicap von 0, während fortgeschrittene verfügen.
Golfnovizen über ein Handicap von 36 ver- Bislang existieren leider nur wenige aus-
fügen (Abb. 15-10). Auch beim Schachspielen sagekräftige Arbeiten zum Einfluss der Bega-
ist die Spielhäufigkeit ein wichtiger, wenn nicht bung und der Genetik auf das Lernen von
gar wesentlicher Faktor, der die Güte dieser Fertigkeiten. Eine interessante Arbeit haben
Fertigkeit bestimmt. Die Leistung im Schach- Fox und Kollegen (1996) publiziert. Sie haben
spiel kann ähnlich wie beim Golf durch einen unter anderem eineiige Zwillinge die Pursuit-
25 30 000
20 24 000
15 18 000
Stunden
Jahre
10 12 000
5 6 000
0 0
HCP: HCP: HCP: HCP: HCP: HCP:
0 1–14 15–36 0 1–14 15–36
Abbildung 15-10: Lernaufwand für Golfspieler. HCP = Handicap (nach Jäncke et al., 2009).
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15.3. Lernen von Fertigkeiten 491
Rotor-Aufgabe trainieren lassen. Das Testge- und drei Stadien des motorischen Lernens vor-
rät, mit dem diese Aufgabe bearbeitet wird, geschlagen:
ähnelt in etwa einem alten Schallplattenspie- • kognitives Stadium
ler. Auf der Oberfläche dieses Geräts bewegt • assoziatives Stadium
sich ein Lichtpunkt auf einer vorbestimmten • automatisches Stadium.
dreiecksförmigen Bahn. Die Geschwindigkeit
der Bewegung des Lichtpunkts kann vom Ver- Das kognitive Stadium ist dadurch gekenn-
suchsleiter manipuliert werden. Die Versuchs- zeichnet, dass verbalisierbare Regeln vorlie-
person muss mit einem Stift dem Lichtpunkt gen. Sie werden genutzt, um das Verhalten zu
so genau wie möglich folgen; die Genauigkeit steuern. Stellen Sie sich vor, Sie würden den
ergibt den Messwert. Je mehr diese Aufgabe Rückhandschlag beim Tennis lernen. Der Ten-
geübt wird, desto besser werden die Leistun- nislehrer wird den Bewegungsablauf zunächst
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gen. Wenn allerdings eineiige Zwillinge üben, beschreiben. Er sagt Ihnen, welche Position
dann werden sie sich im Laufe des Trainings Sie zu dem ankommenden Ball einzunehmen
immer ähnlicher. Sie werden sich sogar im haben, wie Sie den Schläger nach hinten zu-
Hinblick auf ihre Leistungen ähnlicher als rückzuführen haben und wie Sie die Bewegung
zweieiige Zwillinge oder zufällig zusammen- nach vorne zum Ball einleiten und durchfüh-
gestellte Paare, die keine genetische Bezie- ren sollen. Diese verbalen Regeln lernen Sie
hung aufweisen. Offenbar wird mit zuneh- und Sie rufen sie während der Bewegung ab.
mender Übung die Fertigkeit immer weniger Die Regeln sind Ihnen bewusst und viele ver-
modifizierbar und hängt dann zunehmend von balisieren Sie auch leise (subvokales Sprechen)
den genetischen Grundlagen ab. Dieser Be- während und vor der Bewegung. Diese be-
fund belegt, dass genetische Grundlagen eine wusste Verbalisierung ist natürlich sehr lang-
wichtige Rolle spielen und das Lernen von sam und erfordert viel Aufmerksamkeit. Das
Fertigkeiten beeinflussen können. Dem- Ziel motorischen Lernens ist, die Bewegungen
zufolge hängt die Leistung bei einer Fertigkeit sehr schnell und mit wenig kognitiven Res-
von der Lernintensität und den genetischen sourcen (z. B. Aufmerksamkeit) auszuführen.
Grundlagen (der Begabung) ab. Natürlich Während des Übens werden die verbalen
spielt auch die Art des Lernens, also die Didak- Kommandos „verinnerlicht“, die Bewegung
tik eine wesentliche Rolle. wird besser und die Bewegungskontrolle geht
in die assoziative Phase über. In dieser Phase
werden die verbalen Regeln zu einem stereo-
15.3.1. Lernen von motorischen typen Regelablauf, etwa wie ein Mantra oder
Fertigkeiten ein verbales Ritual. Die Bewegung wird dabei
schneller und weniger abhängig von den ver-
Selbst komplexe Handlungen können so gut balen Kommandos. Die verbalen Kommandos
geübt werden, dass sie sich unserer bewussten lösen die Bewegungselemente nicht mehr aus,
Kontrolle entziehen. Der Vorteil liegt darin, sind aber noch parallel während der Bewegung
dass wir dann quasi „befreit“ sind, diese wohl- vorhanden. Mit zunehmender Übung ver-
geübten Handlungen zu kontrollieren, und uns schwindet auch der letzte Bezug zu den ver-
auch auf andere Tätigkeiten konzentrieren balisierbaren Regeln. Die Bewegungskon-
können. trolle tritt in das automatische Stadium ein. In
Der Kognitionspsychologe Fitts (1954) hat diesem Stadium sind die Bewegungsabläufe
sich bereits in der 1950er Jahren intensiv mit automatisch, unbewusst und nicht mehr
dem motorischen Lernen auseinandergesetzt verbalisierbar. Die Bewegung wird schneller,
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492 15. Nondeklaratives Gedächtnis
Serielle Reaktionszeitaufgabe
(serial reaction time task, SRTT) 1 2 3 4
134212323142
134212323142134212323142134
Abbildung 15-11: Schematische Darstellung der
212323142
seriellen Reaktionszeitaufgabe und des damit
Mit zunehmender Übung verkürzen sich die erzielten typischen Befunds. Man erkennt eine
Reaktionszeiten, die durch das Aufleuchten kontinuierliche, mit der Dauer des Übens einher-
der LEDs initiiert wurden, und das, obwohl die gehende, Abnahme der Reaktionszeit (RT).
Versuchspersonen gar nicht die Wiederholung
der Sequenzen bemerken. Sie bemerken auch
keine Regelmässigkeit in der Abfolge der Tas- In psychologischen Experimenten werden
ten, die sie zu drücken haben. Diese Reakti-
unterschiedliche Paradigmen genutzt, um das
onszeitverkürzung wird als Ausdruck des un-
Lernen motorischer Fertigkeiten zu unter-
bewussten motorischen Lernens aufgefasst
suchen. Die genutzten motorischen Aufgaben
(Abb. 15-11).
können in die seriell-motorischen und die
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15.3. Lernen von Fertigkeiten 493
menhang mit den Zwillingsstudien zum moto- motorischen Arealen auf. Diese funktionellen
rischen Lernen erläutert wurde. Andere häufig Veränderungen sind auch mit anatomischen
genutzte motorische Anpassungsaufgaben Anpassungen verbunden. Die motorischen
werden mit Prismenbrillen durchgeführt. Eine und sensomotorischen Areale sind volume-
bestimmte motorische Aufgabe (z. B. Dart- trisch größer oder haben eine andere Verkabe-
pfeile werfen) wird ohne und mit Prismenbrille lungsarchitektur, wobei diese anatomischen
durchgeführt. Überprüft wird, wie sich die Veränderungen mit der Häufigkeit des Übens
Wurfleistung beim Tragen oder Nichttragen und dem Alter bei Beginn des Übens zusam-
der Prismenbrille verändert. Andere Beispiele menhängen (Jäncke, 2009).
sind Trackingaufgaben, bei denen die Ver- Das motorische Lernen ist kein Prozess, der
suchspersonen einem sich kontinuierlich be- sich für alle motorischen Aufgaben in gleicher
wegenden Zielreiz mit einem Zeiger möglichst Weise entwickelt. Es durchläuft vielmehr ver-
exakt folgen sollen oder bei denen kontinuier- schiedene Phasen, in denen unterschiedliche
lich die Kraft angepasst werden muss. Hirngebiete eingebunden sind (Abb. 15-12). Im
Ausführliche Untersuchungen mit bild- Verlauf des motorischen Lernens dissoziieren
gebenden Verfahren konnten zeigen, dass zwei Systeme, das kortikostriatale und das kor-
beim Lernen motorischer Fertigkeiten – un- tikozerebelläre System, je nachdem, welche
abhängig davon, ob es sich um seriell-moto- motorische Aufgabe gelernt wird (serielle oder
rische Aufgaben oder um motorische Kom- adaptive Motoraufgaben). Zu Beginn des moto-
pensationsaufgaben handelt – die gleichen rischen Lernens lernt man recht schnell. Diese
Hirngebiete beteiligt sind. Je nach spezifischer Phase wird auch die Phase des schnellen Ler
Beteiligung von kognitiven Funktionen oder nens genannt (s. a. das Power-Law des Ler-
von spezifischen sensorischen Modalitäten nens). In dieser Phase finden sich in verschie-
(visuell, auditorisch oder taktil) können wei- denen Hirngebieten funktionelle Anpassungen,
tere Hirngebiete beteiligt sein. Kerngebiete die auch davon abhängen, welche spezifischen
beim unbewussten motorischen Lernen sind kognitiven und sensorischen Prozesse am mo-
immer: torischen Lernen beteiligt sind. So wird sich
• Basalganglien z. B. beim audiomotorischen Lernen (wenn
• Kleinhirn akustische Reize mit motorischen Handlungen
• Prämotorkortex gekoppelt werden) auch der auditorische Kor-
• oberer Parietallappen und Sulcus intra- tex „anpassen“ und weniger der visuelle Kor-
parietalis tex. Wenn deklarative Gedächtnisinformatio-
• primärer Motorkortex. nen wichtig sind, dann werden zu Beginn auch
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494 15. Nondeklaratives Gedächtnis
Parietalkortex Parietalkortex
Striatum Kleinhirn
vergangene Zeit
Automatisierung
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Striatum Kleinhirn
langsames Lernen
Konsolidierung
frontale Assoziationsregionen
medialer Temporallappen
(Hippocampus)
schnelles Lernen
kognitive kognitive
Prozesse Prozesse
Motor- Motor-
sequenzierung adaptierung
Abbildung 15-12: Schema des motorischen Lernens und der darin eingebundenen Hirngebiete. (Nach-
gezeichnet nach Doyon und Benali, 2005)
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15.3. Lernen von Fertigkeiten 495
sche Areale, der Motorkortex, der Parietallap- tienten stärkere Durchblutungszunahmen ge-
pen und der Hippocampus beteiligt. Dass der rade im Kleinhirn auf.
Hippocampus an der Konsolidierung von mo-
torischen Fertigkeiten beteiligt ist, mag er-
staunen und den Befunden widersprechen, 15.3.2. Perzeptuelles Lernen
die im vorherigen Kapitel zum deklarativen
Gedächtnis besprochen wurden. Vor allem die Wenn wir wiederholt bestimmte Objekte
Theorie von Squires (s. Kap. 13.8.) geht ja wahrnehmen und uns bemühen, diese Objekte
davon aus, dass der Hippocampus nur an besser und schneller zu erkennen, verbessern
bewussten Lernprozessen beteiligt ist. Aller- wir die Wahrnehmung für diese speziellen Ob-
dings zeigt sich zunehmend, dass auch un jekte. Solche Wahrnehmungsverbesserungen
bewusste Lernprozesse auf den Hippocam- sind uns im Alltag allgegenwärtig. Wir können
pus zurückgreifen. Sehr wahrscheinlich ist der z. B. die Gesichter von Europäern besser aus-
Hippocampus für die Verknüpfung und Asso- einanderhalten als Gesichter von Chinesen
ziation von Informationen während der Kon- oder Japanern. Wir können in den uns vertrau-
solidierung verantwortlich, auch unabhängig ten Gesichtern auch viel schneller und sicherer
davon, ob bewusste oder unbewusste Lern- individuelle Eigenarten erkennen. Ein anderes
prozesse stattfinden. In dieser langsamen Beispiel für durch Lernen verbesserte Wahr-
Lernphase erfolgt die Konsolidierung und an- nehmungsleistungen liefern die Kontrolleure
schließend werden die motorischen Lernpro- auf internationalen Flughäfen, die auf den
zesse automatisiert. Diese Automatisierung Durchleuchtungsbildern des Reisegepäcks er-
erfolgt abhängig von der zu lernenden moto- kennen können, ob Waffen oder Sprengstoff
rischen Aufgabe in unterschiedlichen Hirn- im Koffer versteckt sind. Die Fertigkeit, die
systemen. Seriell-motorische Aufgaben wer- gefährlichen Objekte und Substanzen zu er-
den unter Beteiligung des Parietallappens, der kennen, erfordert langes Training. Ein weite-
Motorareale und des Striatums automatisiert. res Alltagsbeispiel ist das Lesen. Das Erkennen
Motorische Anpassungsaufgaben dagegen von Buchstaben und Wörtern ist ebenfalls
werden unter Einbezug des Kleinhirns (und trainingsabhängig. Nicht nur das Erkennen
der Motorareale, des Prämotorkortex und des von Buchstaben ist stark erfahrungsgeleitet,
Parietallappens) automatisiert. Der wesentli- sondern auch das Erkennen ganzer Wörter.
che Unterschied bei der Automatisierung die- Insofern ist es nicht verwunderlich, dass die
ser beiden Bewegungstypen ist die Beteiligung Lesegeschwindigkeit sehr stark von der Lese-
des Kleinhirns und des Striatums. Das Klein- erfahrung abhängt. Alle Beispiele repräsentie-
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496 15. Nondeklaratives Gedächtnis
ren das, was unter dem Begriff des perzeptuel- Offenbar hat die Expertise einen Einfluss
len Lernens zusammengefasst wird: eine auf die Aktivität des fusiformen Gyrus. Isabel
Verbesserung der Wahrnehmungsleistung in- Gauthier geht davon aus, dass dieses Hirn-
folge des Trainings. gebiet nicht nur für die Gesichtswahrneh-
Perzeptuelles Lernen ist mit neurophysiolo- mung spezialisiert ist, sondern so etwas wie
gischen und anatomischen Anpassungsprozes- ein Expertenareal darstellt, das jene visuellen
sen verbunden. Isabel Gauthier und Kollegen Reize verarbeitet, für die eine Expertise er-
(2000) haben sich mit den neurophysiologi- worben wurde. Es wird angenommen, dass
schen Grundlagen der Verbesserung der Ob- Gesichter jene Objekte sind, denen wir am
jektwahrnehmung infolge des Lernens aus- häufigsten ausgesetzt sind und die der Gyrus
einandergesetzt. In einem Experiment haben fusiformis demzufolge am häufigsten ver-
sie Ornithologen und Autoverkäufern Bilder arbeiten muss. Insofern haben wir wahr-
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von Vögeln, Autos, anderen Objekten und Ge- scheinlich eine Expertise für das Erkennen
sichtern präsentiert. Ziel war es zu überprüfen, von Gesichtern entwickelt und der Gyrus fusi-
ob der Gyrus fusiformis, und hier der für die formis ist kein Areal, das sich im Zuge der
Gesichtswahrnehmung spezialisierte Teil (fu- Evolution als ein reines Gesichtsverarbei-
siformes Gesichtsareal), nur auf Gesichter tungsareal herausgebildet hat. In weiteren
reagiert oder auch auf andere visuelle Reize. Untersuchungen haben Gauthier und Kolle-
Bis zu den Untersuchungen von Gauthier galt gen diese Hypothese überprüft und Lern-
das fusiforme Gesichtsareal als das Hirn- experimente durchgeführt, in denen die Ver-
gebiet, das ausschließlich für die Wahrneh- suchspersonen völlig unbekannte Objekte zu
mung von Gesichtern spezialisiert ist. Gaut- unterscheiden lernen mussten. Sie konnten
hier und Kollegen gingen davon aus, dass zeigen, dass nach einer gewissen Zeit des
Ornithologen eine besondere Expertise für die Lernens auch ehemals unbekannte Objekte
Wahrnehmung und Unterscheidung von Vo- besser erkannt werden und dieses bessere
gelsilhouetten und Körperformen von Vögeln Erkennen mit gesteigerten Durchblutungen
erworben haben müssten. Autoverkäufer da- im fusiformen Gesichtsareal verbunden war
gegen müssten aufgrund ihrer häufigen Kon- (Abb. 15-13).
frontation mit Autos in der Lage sein, Automar- Auch im auditorischen System können die
ken sehr schnell und treffsicher anhand von Konsequenzen perzeptuellen Lernens erkannt
Autobildern zu erkennen. Bei allen Versuchs- werden. Wird Versuchspersonen eine Serie
personen, die mittels fMRT untersucht wurden, von Tönen unterschiedlicher Frequenz prä-
konnten gesteigerte Durchblutungen im fusi- sentiert, nehmen sie diesen Reiz als eine zu-
formen Gesichtsareal festgestellt werden, wenn sammenhängende Tonfolge war. Wird nun
ihnen Gesichtsbilder präsentiert wurden. Inte- ein in der Mitte dieser Tonfolge platzierter
ressanter waren jedoch die Befunde bei den Ton etwa um 50 bis 100 ms verlängert, be-
Ornithologen und Autoverkäufern, die auch merken die Versuchspersonen dies ohne
Durchblutungszunahmen im fusiformen Ge- Übung nicht. Nach einigen Trainingsdurch-
sichtsareal bei Präsentation von Vogel- und gängen sind sie in der Lage, recht genau den
Autobildern zeigten. Die Durchblutungszunah- einen Ton zu identifizieren, der in dieser Ton-
men auf Autobilder waren bei Autoverkäufern folge verlängert wurde. Andere Beispiele für
stärker als bei Ornithologen. Andererseits wa- perzeptuelles Lernen stehen im Zusammen-
ren die Durchblutungszunahmen im fusifor- hang mit der Musikexpertise. Musiker ent-
men Gesichtsareal auf Vogelbilder bei Ornitho- wickeln im Zuge ihres intensiven und langen
logen stärker als bei Autoverkäufern. Trainings ein sensibles Gespür für Töne,
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15.3. Lernen von Fertigkeiten 497
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498 15. Nondeklaratives Gedächtnis
tritt. Der Versuch kann so gestaltet werden, keit (z. B. 80 %) mit einem bestimmten Wet-
dass Geigentöne unterschiedlicher Frequenz terereignis assoziiert. Mit der Zeit lernt die
präsentiert werden. Häufig wird ein Ton mit Versuchsperson, diese Wahrscheinlichkeits-
einer bestimmten Frequenz und selten ein Ton zuordnung unbewusst zu erfassen und in ent-
mit leicht abweichender Frequenz präsentiert. sprechende Entscheidungen umzusetzen.
Die Hirnaktivität auf den abweichenden Ton Werden diese Aufgaben mit Amnesie-, Parkin-
ist die interessierende Aktivität, welche die sonpatienten und Kontrollpersonen durch-
MMN ausmacht. Diese MMN tritt ca. 100– geführt, entsteht ein interessantes Ergebnis.
150 ms nach Präsentation des abweichen- Während die Kontrollpersonen und die Amne-
den Tons auf. Sie ist unbeeinflusst von Auf- siepatienten diese Aufgabe mehr oder weniger
merksamkeitsprozessen und kann demzufolge problemlos meistern und mit zunehmender
nicht unterdrückt werden. Diese MMN ist bei Lerndauer immer bessere Lernleistungen zei-
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Kindern mit Musikexpertise besonders stark gen, scheitern die Parkinsonpatienten. Wer-
ausgeprägt, jedoch nur als Reaktion auf ab- den zur Kontrolle episodische Gedächtnistests
weichende Geigentöne und nicht auf abwei- durchgeführt, scheitern die Amnesiepatien-
chende Sinustöne. Selbst sehr junge Kinder ten, während die Parkinsonpatienten in diesen
entwickeln eine besondere Expertise für Töne Tests normal abschneiden (Abb. 15-15).
des Instruments, dessen Bedienung sie inten- Für das korrekte Bearbeiten der Wettervor-
siv üben bzw. geübt haben. hersageaufgabe ist offenbar ein funktionieren-
des Basalgangliensystem Voraussetzung. Da
dieses System bei Parkinsonpatienten beein-
15.3.3. Lernen von kognitiven trächtigt ist, gelingt ihnen die Wettervorher-
Fertigkeiten sageaufgabe vergleichsweise schlecht. Für das
episodische Gedächtnis ist insbesondere das
Auch kognitive Fertigkeiten können über häu- mesiotemporale System und eine funktionie-
figes Wiederholen automatisiert werden. Viele rende Zusammenarbeit mit kortikalen Struk-
kognitive Tätigkeiten, z. B. Denkabläufe, das turen wichtig. Sind diese Systeme beeinträch-
Nutzen von Regeln oder die Verwendung der tigt, ist auch die episodische Gedächtnisleistung
Grammatik, sind automatisierte Fertigkeiten. beeinträchtigt. Dieses Experiment belegt, dass
Mit der Wettervorhersageaufgabe ist das die Basalganglien offenbar für den Aufbau
unbewusste Lernen von kognitiven Fertigkei- von statistischen Zusammenhängen essenziell
ten intensiv untersucht worden. Die Versuchs- sind. Zu ähnlichen Ergebnissen kamen auch
personen sehen nacheinander auf dem Com- Untersuchungen mit gesunden Versuchsper-
puterbildschirm eine von vier Spielkarten. Sie sonen, in denen mittels fMRT die Durchblu-
müssen über Versuch und Irrtum lernen, wel- tungsveränderung in den Basalganglien beim
che der vier Spielkarten mit einem bestimm- Bearbeiten der Wettervorhersageaufgabe ge-
ten Wetterereignis zusammenhängt. Nach je- messen wurde. In diesen Untersuchungen of-
der Präsentation einer Spielkarte und jeder fenbarte sich ein weiterer Befund: Zu Beginn
Antwort der Versuchsperson erhält sie eine des Versuch-und-Irrtum-Lernens sind Durch-
Rückmeldung, ob die Zuordnung korrekt oder blutungssteigerungen des mesiotemporalen
falsch war. Die Zuordnungen zwischen Spiel- Hirnsystems erkennbar, die aber im Verlauf
karte und Wetterereignis sind allerdings nicht des Lernens verschwinden. Die Basalganglien
konstant, sondern als Wahrscheinlichkeiten zeigen ein umgekehrtes Durchblutungsmuster.
definiert. Das bedeutet, eine bestimmte Karte Zu Beginn sind sie unterdurchblutet, während
ist mit einer bestimmten Wahrscheinlich- die Durchblutung gegen Ende zunimmt. Wahr-
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15.3. Lernen von Fertigkeiten 499
50
wusst einsichtig war. Diese Regel wurde gele-
10 20 30 40 50 gentlich verändert und es wurde überprüft, ob
Kontrollgruppe in dem Moment, in dem die Regel geändert
Parkinsonpatienten wird, spezifische Hirnreaktionen zu messen
Amnesiepatienten
sind. Es muss bedacht werden, dass selbst die
C) 9 grundsätzliche Regel den Versuchspersonen
8
nicht bewusst ist. Wieso soll dann eine Abwei-
korrekte Vorhersage in %
7
chung von dieser unbewussten Regel von be-
6
stimmten neuronalen Netzwerken bemerkt
5
werden? Wenn die Abweichung von der Regel
4
zu markanten Hirnaktivierungen führt, dann
3
hat sich offenbar unbewusst ein Regelsystem
2
in dem neuronalen Netzwerk etabliert, das
1
auch korrekte und nicht korrekte Regeln aus-
0
Kontroll- Amnesie- Parkinson- einanderhalten kann.
gruppe patienten patienten Ähnliches ist auch bei den Regeln unserer
Muttersprache zu erkennen. Die Grammatik
Abbildung 15-15: Ergebnisse der klassischen
Wettervorhersageaufgabe. (A) Vier Spielkarten
ist uns häufig nicht bewusst. Wir wenden sie
werden den Versuchspersonen präsentiert. Jede an und wissen (genauer gesagt: fühlen) recht
Spielkarte wird mit einer bestimmten Wahrschein- genau, welche Regel richtig oder falsch ist.
lichkeit gemeinsam mit einem bestimmten Sym- Berns und Kollegen haben herausgefunden,
bol (Regen oder Sonne) präsentiert. Das Symbol dass unbewusste Regelverletzungen insbeson-
„Sonne“ wird hier häufig gemeinsam mit der ganz dere mit Durchblutungszunahmen in einem
links präsentierten Karte präsentiert. (B) Leistung Netzwerk verbunden sind, das den Prämotor-
im Zuordnen der Symbole zu den Karten. Parkin- kortex, das anteriore Cingulum und das ven-
sonpatienten verbessern sich nicht im Verlauf der trale Striatum umfasst. Wird eine Regel wie-
Lerndurchgänge, während Amnesiepatienten in
derholt angewendet, nimmt die Durchblutung
den späteren Lerndurchgängen immer besser
in diesem Netzwerk wieder ab (Abb. 15-16).
werden. (C) zeigt wie gut die drei Versuchsper-
sonengruppen im Durchschnitt in der Lage sind,
anhand der Karten die zugeordneten Symbole vor-
herzusagen. Man erkennt hier, dass die Parkinson-
patienten die schlechtesten Leistungen erbringen.
(Nachgezeichnet nach Knowlton et al., 1996)
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500 15. Nondeklaratives Gedächtnis
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15.4. Konditionierung 501
klassische Konditionierung
CS
Spurenkonditionierung
Akquisition Extinktion
Wahrscheinlichkeit
CS
verzögerte
des CR
Konditionierung
US
(A)
Antwort Durchgänge
(B)
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Wahrscheinlichkeit
CR CS+
des CR
Antwort
(C)
CS–
Zeit Durchgänge
CS
CS
US US
anteriores
Hippocampus
Cingulum
Amygdala
Insel
Kleinhirn
Abbildung 15-18: Hirngebiete, die bei der Spurenkonditionierung und der verzögerten Konditionierung
aktiv sind.
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502 15. Nondeklaratives Gedächtnis
dass die Häufigkeit von ehemals spontanem Bestrafung durch Entzug positiver
Verhalten durch die dem Verhalten folgenden Reize: Nach einem bestimmten Verhalten
Konsequenzen verändert wird. Instrumen- wird ein angenehmer Reiz entzogen. Das
telle Konditionierung ist gegenwärtig in den kann zum Beispiel der Entzug eines Privi-
Neurowissenschaften wieder neu „entdeckt“ legs, soziales Ignorieren, Fernsehverbot
worden und wird als theoretisches Konzept oder gar Essensentzug sein. Diese Form der
für die neue „Disziplin“ Neuroökonomie ge- Bestrafung wird auch als Bestrafungstyp II
nutzt. Man glaubt, über die Erkenntnis der bezeichnet.
neuronalen Grundlagen ökonomische Ver- • Löschung (Extinktion): Dem Verhalten
haltensprinzipien im Alltag besser verstehen folgt weder ein unangenehmes noch ein
zu können. Die dem Verhalten folgenden Kon- angenehmes Ereignis. Hiernach wird die
sequenzen verändern nicht nur das Verhalten, bedingte bzw. instrumentelle Reaktion
sondern auch die Motivation und den Anreiz- nicht mehr gezeigt, also gelöscht. Es han-
wert. Insofern ist die operante Konditionie- delt sich hierbei allerdings nicht um ein-
rung ein aktuell sehr intensiv erforschter faches „Vergessen“ oder um „Verlernen“,
Lernmechanismus. sondern um ein „zusätzliches“ Lernen. Bei
Die dem Verhalten folgenden Konsequen- diesem zusätzlichen Lernen verschwindet
zen werden in vier Gruppen eingeteilt: vorübergehend die Wirkung des bedingten
• positive Verstärkung: Dem Verhalten Reizes. Durch Spontanerholung kann die
folgt ein positiver Reiz, der die Verhaltens- Wirkung des Verstärkers wieder einsetzen.
häufigkeit erhöht; man spricht auch von
Belohnung (reward). Diese Reize werden Die neuronalen Grundlagen der Verstärkung
auch als Verstärker bezeichnet. Unter- sind besonders gut am Affengehirn untersucht
schieden werden primäre und sekundäre worden. In diesen Untersuchungen konnte ein
Verstärker. Primäre Verstärker sind ele- neuronales Netz identifiziert werden, das
mentare biologische Reize wie Nahrung, beim Eintreten, Erwarten und Vorhersagen
Geruch, soziale Nähe etc. Sekundäre Ver- von Verstärkern in charakteristischer Weise
stärker sind kulturell gelernte Reize, die aktiv ist. In Kapitel 20 werden die an der Ver-
über Lernen (klassische Konditionierung?) stärkung beteiligten Hirnstrukturen detailliert
mit primären Verstärkern gekoppelt wur- beschrieben.
den. Beispiele sind schöne Gesichter, po-
sitive soziale Interaktionen, Musik, Geld,
Markennamen etc.
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15.5. Zusammenfassung 503
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504 15. Nondeklaratives Gedächtnis
• Kognitive Fertigkeiten können auch unbe- • Beschreiben Sie den Ablauf des motori-
wusst gelernt werden. Dazu gehören z. B. schen Lernens.
auch kognitive Regeln. Eine typische Auf- • Wie erklärt man sich den Aufbau von Ex-
gabe, mit der man das untersuchen kann, pertenwissen im Zusammenhang mit dem
ist die sogenannte Wettervorhersageauf- perzeptuellen Lernen?
gabe. Typischerweise sind beim Regeller- • Beschreiben Sie die Wettervorhersageauf-
nen der Prämotorkortex, das anteriore gabe und erläutern Sie, was daraus abge-
Cingulum und das ventrale Striatum aktiv. leitet werden kann.
• Bei der Spurenkonditionierung ist auch der • Welche Hirngebiete sind in das Regellernen
Hippocampus aktiv. Ansonsten sind bei der eingebunden?
klassischen Konditionierung das Kleinhirn, • Welche Hirngebiete sind beim klassischen
das anteriore Cingulum, die Amygdala und Konditionieren beteiligt?
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505
16. Arbeitsgedächtnis
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DLPFC
Prozess: Manipulation
Inhalt: räumlich
VLPFC
Prozess: Halten
Inhalt: objektbezogen
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16.1. Einführung 507
zählen und wären auch nicht in der Lage, kom- der Informationen, die in einer bestimmten
plexe akademische Leistungen zu erbringen. Periode gleichzeitig im Arbeitsgedächtnis ge-
Das Arbeitsgedächtnis ist mit vielen anderen halten werden, führt zu einer spezifischen
psychischen Funktionen eng verbunden, z. B. Arbeitsgedächtnisbelastung. Die Arbeitsge
mit dem prämotorischen System, der Wahr- dächtnisbelastung ist niedrig, wenn wenige
nehmung, der Aufmerksamkeit und dem Informationen gehalten und manipuliert wer-
Langzeitgedächtnis. Das wesentliche Charak- den, und hoch, wenn viele Informationen ge-
teristikum des Arbeitsgedächtnisses ist das halten und manipuliert werden.
Halten und Manipulieren von Informationen. Das Manipulieren von gehaltenen Informa-
Im Englischen kann man das sehr schön mit tionen ist eine wesentliche Eigenschaft des
einer Alliteration beschreiben und sich mer- Arbeitsgedächtnisses. Unter Manipulation
ken: maintenance und manipulation, was so- wird verstanden, dass die im Arbeitsgedächt-
viel bedeutet wie halten und manipulieren. nis gehaltenen Informationen organisiert, as-
Zur Beschreibung des Arbeitsgedächtnisses soziiert und transformiert werden, dass mit
existieren unterschiedliche Modelle. Allen ist ihnen also „gearbeitet“ wird. Ein typisches
gemein, dass sie ähnliche bzw. identische Ei- Beispiel ist das Lösen einfacher Rechenopera-
genschaften für das Arbeitsgedächtnis anneh- tionen. Angenommen, Sie sollen die Multipli-
men. Eine wesentliche Eigenschaft des Ar- kation 10 × 35 lösen. Dazu müssen Sie die
beitsgedächtnisses ist, dass Informationen nur beiden Zahlen im Gedächtnis behalten (Hal-
für kurze Zeit gespeichert werden können ten) und mit ihnen mathematische Operatio-
(ähnlich wie beim Kurzzeitgedächtnis). Diese nen (Manipulieren) durchführen, bei denen
Informationen müssen nach einer bestimmten Sie bestimmte mathematische Regeln anwen-
Zeit wieder aufgefrischt (refreshing) oder mit den, die Sie irgendwann einmal gelernt haben.
kognitivem Aufwand stabilisiert werden (rehe- Das bedeutet, Sie müssen diese Regeln aus
arsal). Nicht nur die Dauer ist ein begrenzen- Ihrem Gedächtnis abrufen, sie auf die jewei-
der Aspekt des Arbeitsgedächtnisses, sondern ligen Zahlen anwenden und diese Operation
auch die Kapazität, d. h. die Menge der in ei- dann in einer bestimmten Form mitteilen. Ein
nem bestimmten Zeitintervall zu speichern- anderes Beispiel für eine Manipulation ist das
den Informationen. Es wird davon ausgegan- Verbinden von im Gedächtnis gehaltenen In-
gen, dass ca. 10 s lang Informationen im formationen (chunking). Darunter wird das
Gedächtnis gehalten werden können, bevor Verbinden bzw. Verpacken von mehreren In-
sie vergessen werden oder aufgefrischt werden formationseinheiten zu einer Information ver-
müssen. Bislang ist allerdings unklar, ob das standen. Angenommen, Sie sollen folgende
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508 16. Arbeitsgedächtnis
gabe. Häufig genutzt wird aber auch der im Bei dem Zahlennachsprechtest rückwärts
Wechsler-Intelligenztest enthaltene Zahlen- werden dem Probanden Zahlenfolgen präsen-
nachsprechtest rückwärts (digit span back- tiert, die er in umgekehrter Reihenfolge re-
ward), bei dem die vorgesprochenen Zahlen produzieren soll. Zum Beispiel präsentiert
rückwärts reproduziert werden müssen. Bei der Testleiter die Zahlen 1, 5 und 7 und der
der N-back-Aufgabe werden nacheinander Proband soll diese Zahlenfolge in umgekehr-
unterschiedliche Reize dargeboten (Abb. 16-1). ter Reihenfolge wiedergeben; er müsste also
Bei der verbalen Variante der Arbeitsgedächt- korrekterweise 7 5 1 angeben. Der im Wechs
nisaufgabe können z. B. nacheinander unter- ler-Intelligenztest ebenso enthaltene Zahlen-
schiedliche Buchstaben präsentiert werden. nachsprechtest vorwärts ist kein Arbeits-
Bei der 1-back-Variante muss der Proband gedächtnistest, sondern lediglich ein Kurz-
darauf achten, ob der gerade dargebotene zeitgedächtnistest, denn er erfordert keine
Buchstabe mit dem vorher präsentierten über- Manipulation (z. B. rückwärts Aufsagen) des
einstimmt. Der Proband muss demzufolge den präsentierten Testmaterials.43
vorher und gerade präsentierten Buchstaben
im Gedächtnis behalten (Halten) und beide
miteinander vergleichen (Manipulieren). Die 16.2. Arbeitsgedächtnis-
Arbeitsgedächtnisbelastung kann mit den N- modelle
back-Aufgaben gesteigert werden, indem die
Aktuell werden in erster Linie drei Arbeits-
gedächtnismodelle diskutiert: das Modell von
1-back 2-back 3-back
Baddeley, das Modell von Cowan und das von
Ja Oberauer. In den 1970er Jahren entwickelte
2 2 2
Zeit
Abbildung 16-1: Beispiele für verschiedene Vari- 43 Obwohl bei beiden Tests unterschiedliche psy-
anten der N-back-Aufgabe (1-back, 2-back, chische Prozesse beteiligt sind, korrelieren die Test-
3-back). leistungen bei beiden Tests immer hoch.
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16.2. Arbeitsgedächtnismodelle 509
tätsbegrenzten Gedächtnisspeichern und ei- blassen. Für die phonologische Schleife ist dies
nem Kontrollsystem. Jeder Gedächtnisspeicher der phonologische Speicher, der Reaktivie-
verfügt über unterschiedliche Repräsentatio- rungsmechanismus wird als artikulatorisches
nen. Der phonologische Gedächtnisspeicher Üben bezeichnet (articulatory rehearsal). Für
(die phonologische Schleife) hält phonologi- Baddeley ist das artikulatorische Üben analog
sche Repräsentationen, der visuell-räumliche zum subvokalen oder inneren Sprechen, z. B.,
Notizblock (visual spatial sketch pad) hält vi- wenn wir nicht hörbar Telefonnummern men-
suell-räumliche Repräsentationen und der tal wiederholen. Für den visuell-räumlichen
episodische Speicher beinhaltet integrierte Notizblock existiert der visuelle Zwischen-
multimodale Repräsentationen (Abb. 16-2). Je- speicher (visual cache) und als Reaktivierungs-
der Speicher interagiert eng mit den verschie- mechanismus der sogenannte innere Schrei-
denen Langzeitgedächtnisrepräsentationen: ber (inner scribe).
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die phonologische Schleife mit Sprachinforma- Im Rahmen von Baddeleys Modell wird ex-
tionen, der visuell-räumliche Notizblock mit plizit zwischen Arbeitsgedächtnis- und Lang-
visuell-semantischen Informationen und der zeitgedächtnisrepräsentationen unterschie-
episodische Speicher mit dem episodischen den. Demzufolge sollen Arbeitsgedächtnis
Gedächtnis. Das in diesem Modell integrierte und Langzeitgedächtnis vollkommen unter-
Kontrollsystem ist die zentrale Exekutive. Es schiedliche Systeme sein.
hat die Aufgabe, den unterschiedlichen Ge- Nelson Cowan von der University of Mis-
dächtnisspeichern Aufmerksamkeitsressour- souri schlägt ein anderes Arbeitsgedächtnis-
cen zuzuordnen und die jeweiligen Arbeits- modell vor, in dem Arbeitsgedächtnis- und
gedächtnisoperationen zu kontrollieren. Langzeitgedächtnisrepräsentationen eng mit-
Jeder Gedächtnisspeicher verfügt über zwei einander verwoben sind (Cowan, 2011).
Komponenten: einen Speicher, der Informa- Cowan geht davon aus, dass das Arbeitsge-
tionen kurz hält, und einen Mechanismus, der dächtnis in zwei Ebenen organisiert ist
diese Informationen reaktiviert, bevor sie ver- (Abb. 16-3). Auf der ersten Ebene bestehen die
Fokus aktivierter
Arbeitsgedächtnis Cowan Teil des LZG
zentrale Exekutive
Fokus
Langzeitgedächtnis Oberauer
Abbildung 16-2: Schematische Darstellung des Abbildung 16-3: Schematische Darstellung des
Arbeitsgedächtnismodells von Baddeley. Arbeitsgedächtnismodells von Cowan.
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510 16. Arbeitsgedächtnis
zeitgedächtnisspeichern gehalten werden und Klaus Oberauer von der Universität Zürich
nicht in separaten und spezialisierten Arbeits- hat ein neues Modell vorgelegt, das Struktur
gedächtnisspeichern. Auf der zweiten Ebene und Funktion des Arbeitsgedächtnisses präzi-
siert (Oberauer, 2009). Oberauer fasst das
Arbeitsgedächtnis als System mit drei Ebe-
Arbeitsgedächtnismodell von Oberauer nen auf (Abb. 16-4): (1) Aufmerksamkeits-
fokus (focus of attention), (2) Zone des direk-
ten Zugriffs und (3) aktivierter Teil des
Langzeitgedächtnisses. Ähnlich wie im Mo-
dell von Cowan geht Oberauer davon aus, dass
B das Arbeitsgedächtnis ein System ist, das den
selektiven Zugriff auf Repräsentationen im
A Langzeitgedächtnis organisiert. Dies soll über
C
die oben beschriebenen drei Ebenen erfolgen.
Auf einer Stufe werden Repräsentationen ak-
tiviert (aktiviertes Langzeitgedächtnis), die
potenziell für anstehende kognitive Aufgaben
relevant sind. Auf der zweiten Stufe soll eine
kleine Zahl von Repräsentationseinheiten in
den Bereich des direkten Zugriffs aufgenom-
B men werden (direkter Zugriff). Auf dieser
Ebene werden die aktivierten Repräsentatio-
Abbildung 16-4: Arbeitsgedächtnismodell von nen in ein spezifisches mentales Koordinati-
Oberauer. Die Kreise symbolisieren mentale Re- onssystem eingebunden. Man muss sich das
präsentationen im Langzeitgedächtnis. Die Kreise so vorstellen, dass diese gewählten Repräsen-
sind überschwellig aktiviert. Drei Repräsentatio-
tationen in eine bestimmte Rangordnung der
nen (A, B und C) sind besonders herausgehoben,
durchzuführenden Operationen einsortiert
da auf sie direkt zugegriffen wird. Die dünnen Li-
werden. Diese Repräsentationen bilden dann
nien sind Assoziationen im Langzeitgedächtnis,
die gepunkteten Linien temporäre Verbindungen
eine Kandidatenmenge für die dritte Stufe,
zwischen den mentalen Repräsentationen A, B auf der eines der Elemente in den Fokus der
und C darstellen. Die mentale Repräsentation B Aufmerksamkeit genommen und dadurch als
wird gerade für die nächste mentale Operation Gegenstand der jeweils nächsten kognitiven
gewählt (nach Oberauer, 2009). Operation ausgewählt wird.
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16.3. Hirnaktivität bei Arbeitsgedächtnisaufgaben 511
gen am Menschen werden vorrangig EEG- behalten waren und je schwieriger die Arbeits-
und MEG-Ableitungen sowie die funktionelle gedächtnisaufgabe war, desto stärker waren
Magnetresonanztomografie genutzt. Bei die- die Durchblutungsveränderungen in der Ver-
sen Untersuchungen werden drei Phasen zögerungsphase. Dieser Effekt wird auch Ar-
von Arbeitsprozessen unterschieden, wäh- beitsgedächtnisbelastungseffekt (working
rend derer die neuronale Aktivität gemessen memory load effect) genannt (Abb. 16-6). Stär-
wird: Encodier-, Behaltens- (auch Retenti- kere neuronale Aktivitäten in der Behaltens-
onsphase genannt) und Abrufphase. In der phase (v. a. im Parietallappen, und hier ins-
Encodierphase werden die Informationen besondere im Sulcus intraparietalis) wurden
dem Arbeitsgedächtnis zugeführt, während
der Behaltensphase werden diese im Arbeits-
gedächtnis gehalten und während der Reakti- Arbeitsgedächtnisbelastungseffekt
BA 46
onsphase erfolgt die geforderte Reaktion. Im
Verlauf der Behaltensphase müssen die Infor- Durchblutungszunahme
9
mationen gehalten und für die folgende Re- 46
aktion bereitgestellt werden. Die Behaltens-
phase ist für die neurowissenschaftlichen
Untersuchungen des Arbeitsgedächtnisses die
wichtigste; auf sie beziehen sich alle Untersu- 3 Gesichter
chungen und Befunde, die im Folgenden er- 5 Gesichter
Zeit
Abbildung 16-5: Typischer Ablauf eines Arbeitsgedächtnisexperiments mit der Encodier-, der Behal-
tens- und der späteren Abrufphase.
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512 16. Arbeitsgedächtnis
Aufmerksamkeit muss für die Bearbeitung zur mit Zahlen beim Rechnen. Viele Menschen
Verfügung gestellt werden. Fraglich ist jedoch, nutzen verbale Strategien, um einfache und
ob sich die Aktivitäten in der Behaltensphase komplexe Rechenoperationen durchzuführen.
eher auf den in der Encodierphase implemen- Um diese Rechenoperationen durchzuführen,
tierten Reiz (retrospektive Aktivierung) oder sind ebenfalls verbale Arbeitsgedächtnisleis-
auf die folgenden Reaktionen beziehen (pro- tungen notwendig, denn die einzelnen Zahlen
spektive Aktivierung). Zusammenfassend müssen im Gedächtnis gehalten werden. Im
kann allerdings festgehalten werden, dass die Folgenden werden drei spezielle Formen des
neuronale Aktivität in der Behaltensphase als verbalen Arbeitsgedächtnisses besprochen:
ein guter neuronaler Indikator für Arbeitsge- das phonologische, das graphembezogene
dächtnisprozesse aufgefasst werden kann. In und das semantische Arbeitsgedächtnis.
den folgenden Abschnitten werden wir uns mit
dem verbalen und visuellen Arbeitsgedächtnis
und anderen Formen des Arbeitsgedächtnis- 16.4.1. Phonologisches Arbeits-
ses detaillierter auseinandersetzen. gedächtnis
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16.4. Verbales Arbeitsgedächtnis 513
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514 16. Arbeitsgedächtnis
denen Wörter visuell dargeboten wurden (z. B. mengefasst kann festgehalten werden, dass
Fiebach et al., 2006), offenbarten insbeson- das Arbeitsgedächtnis für Grapheme durch
dere im inferioren Temporallappen starke neuronale Netzwerke kontrolliert wird, die im
Durchblutungszunahmen in der Behaltens- linksseitigen inferioren Temporalkortex und
phase. Darüber hinaus konnten in diesem Ge- im linksseitigen Präfrontalkortex lokalisiert
biet stärkere Durchblutungen in dieser Phase sind. Der linksseitige inferiore Temporalkor-
identifiziert werden, wenn fünf statt zwei tex ist jene Hirnregion, in der Grapheme und
Wörter präsentiert wurden. Die Aktivität im Wörter gespeichert und analysiert werden.
inferioren Temporallappen korrelierte auch Insofern korrespondieren die Befunde bezüg-
mit der Genauigkeit, mit der die Arbeits- lich des Arbeitsgedächtnisses für Grapheme
gedächtnisaufgabe von den Probanden durch- mit den Annahmen von Cowan (2011) und
geführt wurde. Neben den Durchblutungs- Oberauer (2009), die von einem engen Zu-
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2 C) 1.5 2 Wörter
A)
5 Wörter
Hirnaktivierung
1.5 Hirnaktivierung
1
1
0.5
0.5
0 0
Pseudo- Wörter Pseudo- Wörter
wörter wörter
B) D)
2 50
Treffer (%) 2–5 Wörter
40
Hirnaktivierung
1.5 30
20
1
10
0.5 0
–10
0 –20
Pseudo- Wörter –1 0 1 2 3
wörter Aktivität im IT
5–2 Wörter
Abbildung 16-9: Arbeitsgedächtnis für Grapheme (nach Fiebach et al., 2006). (A) Hirngebiet im inferioren
Temporallappen, das insbesondere beim Bearbeiten von Graphemen anspricht. (B) Bereich im inferioren
Temporallappen (posterior zu dem Gebiet in A), das besonders stark beim Bearbeiten von Pseudowörtern
reagiert. (C) Zusammenhang zwischen der Hirnaktivität in den beiden Gebieten des inferioren Tempo-
rallappens beim Halten und Manipulieren von Wörtern (Aktivierung aus der Region in A) und Pseudo-
wörtern (Aktivierung aus der Region in B) in Abhängigkeit von der Anzahl der zu behaltenden Worte. (D)
Zusammenhang zwischen der Aktivität im inferioren Temporallappen (IT) und der Anzahl der korrekt
verarbeiteten Wörter. Dargestellt sind die jeweiligen Differenzen zwischen Ergebnissen für die Bearbei-
tung von fünf und zwei Wörtern.
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16.4. Verbales Arbeitsgedächtnis 515
9
46
40
45
45 44
1 1
,2 ,2
22 22
47 47 IT
Abbildung 16-10: Hirngebiete, die in die Bearbei- Abbildung 16-11: Hirngebiete, die in die Kontrolle
tung des semantischen Arbeitsgedächtnisses des verbalen Arbeitsgedächtnisses eingebunden
eingebunden sind. sind.
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516 16. Arbeitsgedächtnis
talkortex. Diese Befunde können mit allen spielreize zu bearbeiten haben, dann müssen
Modellen des Arbeitsgedächtnisses in Ein- wahrscheinlich die Augenbewegungen auch
klang gebracht werden. In Übereinstimmung entsprechend kontrolliert werden. Wahr-
mit dem Baddeley-Modell können für die scheinlich wird auch die Blickrichtungsposition
Speicherung und den Reaktivierungsmecha- beim Betrachten des Beispielreizes festgehal-
nismus unterschiedliche Hirngebiete iden- ten und beim Vergleich und der nachfolgenden
tifiziert werden. Die Befunde, wonach für Entscheidung beim Betrachten des Zielreizes
unterschiedliche Aufgaben (Halten und Mani- wieder abgerufen. Dies erfordert offenbar ein
pulieren von phonologischen und semanti- Zusammenspiel des frontalen Augenfeldes und
schen Informationen sowie von Graphem- des intraparietalen Sulcus. Das frontale Augen-
informationen) auch unterschiedliche Hirn- feld codiert die Blickbewegung und der intra-
gebiete aktiviert sind, sprechen für die parietale Sulcus die räumliche Position, in die
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Modelle von Cowan und Oberauer. der Blick gelenkt werden soll.
Die Aktivierungen variieren jedoch beim
Menschen je nach genutztem Reizmaterial er-
16.5. Visuelles Arbeits- heblich. Werden Objekte als Reize genutzt
gedächtnis (Arbeitsgedächtnis für Objekte), zeigen sich
auch Aktivierungen in Hirngebieten, die an
Das visuelle Arbeitsgedächtnis besteht aus der Wahrnehmung und Speicherung der jewei-
zwei Komponenten: dem räumlichen Ar- ligen Objekte beteiligt sind. Werden z. B. in
beitsgedächtnis und dem Arbeitsgedächt- den Delayed-matching-to-sample-Aufgaben
nis für Objekte. In Tieruntersuchungen wur- Häuser als Reize verwendet, ergeben sich
den häufig sogenannte Delayed-matching-to- Durchblutungszunahmen im medial gelege-
sample-Aufgaben verwendet, um die neuro- nen Bereich des Gyrus fusiformis und/oder
nalen Grundlagen des Arbeitsgedächtnisses im Gyrus parahippocampalis. Werden da-
zu untersuchen. Bei diesen Aufgaben werden gegen Gesichter als Reize verwendet, dann
visuell ein Beispiel- und mehrere Zielreize zeigen sich Aktivierungen im lateralen Teil
zeitlich verzögert dargeboten. Die Behaltens- des Gyrus fusiformis. Offenbar werden kate-
phase kann mehrere Sekunden lang sein. Aus goriespezifische Hirngebiete für das Halten
den Zielreizen muss das Tier dann jenen Reiz von Informationen genutzt. Werden nicht Ob-
auswählen, der mit dem Beispielreiz iden- jekte, sondern räumliche Zusammenhänge
tisch ist. Das Tier muss den visuellen Bei- als Reizmaterial dargeboten (räumliches Ar-
spielreiz im Arbeitsgedächtnis halten und beitsgedächtnis), wird der Parietallappen,
überprüfen, ob der Beispielreiz zu dem Ziel- und hier insbesondere der intraparietale Sul-
reiz passt, und entsprechende Entscheidun- cus, aktiviert.
gen vornehmen. In der Behaltensphase „feu- Zur Untersuchung des räumlichen Arbeits-
ern“ v. a. Neurone im frontalen Augenfeld, gedächtnisses wird z. B. der Blockspannentest
im dorsolateralen Präfrontalkortex und im eingesetzt (Abb. 16-12). Dieser Test besteht
Parietallappen, und hier insbesondere im in- aus einigen kleinen Blöcken. Der Versuchs-
traparietalen Sulcus (IPS). leiter zeigt nacheinander auf drei, vier oder
Ähnliche Befunde konnten auch bei fMRT- fünf verschiedene Blöcke. Der Proband muss
Untersuchungen beim Menschen festgestellt anschließend diese Blöcke in umgekehrter
werden. Die Aktivitäten im frontalen Augen- Reihenfolge anzeigen. In der Behaltensphase
feld sind noch ausgeprägter, wenn die Pro- ergeben sich Aktivierungen im Parietallappen
banden großflächige visuelle Ziel- und Bei- und im intraparietalen Sulcus. Ein anderer
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16.5. Visuelles Arbeitsgedächtnis 517
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518 16. Arbeitsgedächtnis
renztests zu Leistungseinbußen beim Objekt- das tonale und das verbale auditorische Ar-
spannentest, aber nicht das gleichzeitige Be- beitsgedächtnis die gleichen Hirnstrukturen
arbeiten einer räumlichen Interferenzaufgabe verwendet. Zusätzlich beteiligt ist bei diesem
(Della Sala et al., 1999). Arbeitsgedächtnissystem der sekundäre audi-
torische Kortex (Abb. 16-14). Bei Musikern, die
Experten im Verwenden des tonalen auditori-
16.6. Auditorisches Arbeits- schen Arbeitsgedächtnisses sind, zeigen sich
gedächtnis zusätzliche Aktivierungen insbesondere in
den Basalganglien, im Kleinhirn und im Cu-
Neben dem phonologischen Arbeitsgedächt- neus (Schulze et al., 2011). Auch diese Be-
nis, das eine Form des auditorischen Ar- funde belegen die zumindest teilweise ge-
beitsgedächtnisses ist, existiert auch ein nicht- nutzte kategoriespezifische Verarbeitung im
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16.8. Elektrophysiologie des Arbeitsgedächtnisses 519
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520 16. Arbeitsgedächtnis
einfache
Aufgabe
schwere
Aufgabe
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Abbildung 16-16: Typisches Ergebnis bezüglich FM-Theta. Mit zunehmender Schwierigkeit der Arbeits-
gedächtnisaufgabe nimmt die FM-Theta-Aktivität zu. Rechts sind die intrazerebralen Quellen der FM-
Theta-Aktivität dargestellt.
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16.8. Elektrophysiologie des Arbeitsgedächtnisses 521
Theta-Band
Unteres
Alpha-Band
Abbildung 16-17: Kortikale Quellen, die bei der Bearbeitung von Arbeitsgedächtnisaufgaben beteiligt
sind. Im oberen Bildteil ist das vordere Cingulum gekennzeichnet, das für die Generierung der Theta-
Power (hier Zunahme im Vergleich zu einer Ruhebedingung: Synchronisation) verantwortlich ist. Im
unteren Teil der Abbildung sind die Hirngebiete gekennzeichnet, die für die Generierung der Alpha-Band-
Power während des Durchführens der Arbeitsgedächtnisaufgabe zuständig sind (hier ist eine Ab-
nahme der Alpha-Band-Power im Vergleich zu einer Ruhebedingung dargestellt: Desynchronisation).
Nachgezeichnet und verändert nach Maurer et al. (2015).
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522 16. Arbeitsgedächtnis
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Abbildung 16-18: Dargestellt ist die Entwicklung der Power im Frequenzbereich von 3–30 Hz über einen
Zeitraum von 3.5 Sekunden während der Behaltensphase beim Bearbeiten einer Arbeitsgedächtnisauf-
gabe. Im oberen Abbildungsteil ist die Desynchronisation (im Vergleich zur Baseline) dargestellt. Im
unteren Abbildungsteil sind analog die Synchronisationen dargestellt. Die dunklen Grautöne repräsen-
tieren hohe Power. Man erkennt, dass mit zunehmendem Schwierigkeitsgrad der Arbeitsgedächtnisauf-
gabe die Desynchronisationen im Alpha- und Theta-Band zunehmen. Nachgezeichnet und verändert
nach Steiger et al. (2019).
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16.9. Zusammenfassung 523
A)
T5 T5 T3
T3
Fp1
Fp1
O1 F7 O1 F7
F3 F3
P3 P3
C3 C3
Pz Cz Fz Pz Cz Fz
B)
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C4 C4
F4 F4
P4 P4
Fp2
Fp2
F8 O2 F8
O2
T4 T4
T6 T6
Band allein, d. h. ohne direkten Bezug zu ande- mit Arbeitsgedächtnisprozessen in Verbin-
ren Frequenzbändern, mit Arbeitsgedächtnis- dung gebracht. Da diese Komponenten aber
prozessen in Verbindung gebracht worden. auch mit anderen psychischen Prozessen zu-
Gamma-Band-Aktivität tritt auf, wenn Arbeits- sammenhängen (z. B. Aufmerksamkeit und
gedächtnisaufgaben bearbeitet werden, und Orientierungsreaktionen, semantische Ge-
kann mitunter auch in Abhängigkeit von der dächtnisprozesse), werden sie nicht originär
Aufgabenschwierigkeit zunehmen. als Indikatoren von Arbeitsgedächtnisleis-
Man findet auch gelegentlich eine Ab- tungen aufgefasst.
nahme der Energie im Beta-Band. Diese Ener-
giereduktionen im Alpha- und Beta-Band sind
bei schwierigen Aufgaben am stärksten und 16.9. Zusammenfassung
dauern bei diesen Aufgaben auch am längsten.
Die zeitliche Struktur der neurophysiologi- • Das wesentliche Charakteristikum des Ar-
schen Prozesse wurde auch mit evozierten beitsgedächtnisses ist das Halten und Ma-
Potenzialen untersucht. Allerdings sind die nipulieren von Informationen.
Befunde nicht einheitlich. Gelegentlich wer- • Das Halten der Informationen erfolgt durch
den die P300- und die N400-Komponenten tonische neuronale Aktivität in posterioren
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524 16. Arbeitsgedächtnis
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16.11. Weiterführende Literatur 525
• Die FM-Theta-Aktivität während des Durch- • Was wird im Zusammenhang mit dem Ar-
führens von Arbeitsgedächtnisaufgaben beitsgedächtnis unter prozess- und/oder
korreliert auch mit der globalen Gamma- inhaltsorientierten Modellen vestanden?
Band-Aktivität. • Welche Rolle nimmt der Frontalkortex bei
• Beim Lösen von Arbeitsgedächtnisaufgaben der Kontrolle des Arbeitsgedächtnisses ein?
nimmt die Kohärenz (Zusammenhang) der • In welchem Zusammenhang stehen die
Theta-Oszillationen in frontalen, parietalen Theta-, Gamma-, Alpha- und Beta-Oszil-
und temporalen Hirngebieten zu. lationen des EEG mit dem Arbeitsge
• Auch die Gamma-Band-Aktivität tritt beim dächtnis?
Lösen von Arbeitsgedächtnisaufgaben ver-
mehrt auf.
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• Beschreiben Sie die drei gängigen Arbeits- back and looking forward. Nature reviews.
Neuroscience, 4(10), 829–39.
gedächtnismodelle (Baddeley, Cowan,
Baddeley, A., Eysenck, M., Anderson, M. C.
Oberauer). (2009). Memory. London: Psychology Press.
• Beschreiben Sie typische Arbeitsgedächt- Wagner, A. D., Shannon, B. J., Kahn, I., Buckner,
nisaufgaben für das phonologische, seman- R. L. (2005). Parietal lobe contributions to
tische, visuelle und räumliche Arbeits- episodic memory retrieval. Trends Cogn Sci,
gedächtnis. 9(9), 445–453.
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527
17. Plastizität
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17.1. Einleitung 529
funktionelle von der strukturellen Neuroplas- möglicht es, Kultur zu entwickeln. Sie erlaubt
tizität. Unter der funktionellen Neuroplas- uns, flexible Gesellschaftssysteme zu kon-
tizität wird die Veränderung der funktionellen struieren, auf konventionellen Normen auf-
Neuroanatomie als Resultat von Erfahrungen bauend, und wir lernen, dass diese Gesell-
verstanden. Dies können stärkere oder auch schaftssysteme für die jeweiligen Mitglieder
schwächere neurophysiologische Aktivierun- zur Norm werden. Im Grunde ermöglicht uns
gen in den betroffenen Hirngebieten sein. die Neuroplastizität das Lernen; und dies wie-
Möglich ist auch, dass neue Neuronengruppen derum macht uns zu individuellen Wesen,
in die Kontrolle der psychischen Funktionen denn jeder Mensch hat eigene, für ihn spezielle
eingebunden werden. Mit der funktionellen Lernerfahrungen gemacht. Dies führt zu einer
Neuroplastizität hängt die strukturelle Neu- enormen Vielfalt an Normen und individuel-
roplastizität zusammen, womit strukturelle len Besonderheiten und wir sind enorm an-
Veränderungen des Gehirns als Resultat von passungsfähig.
Erfahrungen bezeichnet werden. Dies können William James wird das Verdienst zuge-
Veränderungen der grauen und weißen Sub- sprochen, der Erste gewesen zu sein, der das
stanz sein. Prinzip der Plastizität erwähnt hat (James,
Im Zusammenhang mit Neuroplastizität 1890). Einen aus der Sicht der Neurophy-
kommt zwangsläufig die Frage auf, welche siologie relevanten Diskussionsbeitrag zur
Rolle die Genetik spielt. Heutzutage hat sich Neuroplastizität hat Jerzy Konorski (ein Schü-
die Sichtweise durchgesetzt, dass „Umwelt“ ler von Iwan Pawlow) erst 1948 vorgelegt
und „Genetik“ zusammenspielen. Insofern (Konorski, 1948). In diesem Buch hat er
kann davon ausgegangen werden, dass Neuro- die neurophysiologischen Mechanismen be-
plastizität und Genetik interagieren. Über ge- schrieben, die dem klassischen und operanten
netische Einflüsse werden die Rahmenbedin- Konditionieren zugrunde liegen. Konorski
gungen für die Entwicklung des Gehirns und scheint mit seiner Arbeit früher als Donald O.
dessen erfahrungsbedingte Beeinflussung Hebb die Grundlagen für die neuronale Plas-
festgelegt. Einige Hirngebiete (z. B. die primä- tizität beschrieben zu haben, denn Hebbs
ren Motor- und die sensorischen Areale) sind Buch erschien erst ein Jahr später (Hebb,
wahrscheinlich weniger plastisch als andere 1949). Nach der Publikation beider Bücher
und in der frühen Kindheit ist die Möglichkeit vergingen noch ca. 25 Jahre, bis die ersten
zur Plastizität deutlich größer als im Erwach- Tierversuche zur Neuroplastizität folgten. Die
senenalter. Grundsätzlich hat sich jedoch ge- ersten Studien mit Menschen erschienen An-
zeigt, dass trotz genetischer Festlegungen fang der 1990er Jahre.
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530 17. Plastizität
Querschnittsansatz Längsschnittansatz
Zur Untersuchung der Neuroplastizität muten, dass die neuroanatomischen und neu-
werden der Querschnitts- und der Längs- rophysiologischen Unterschiede bereits vor
schnittansatz genutzt (Abb. 17-1). Beim Quer- dem Expertisetraining vorlagen. Mit anderen
schnittsansatz werden Personen untersucht, Worten, die ererbten oder biologisch vor-
die in einem bestimmten Gebiet Experten gegebenen neurophysiologischen und neuro-
sind (z. B. professionelle Musiker). Diese anatomischen Unterschiede determinieren
werden dann mit Nichtexperten hinsichtlich die später auftretenden Verhaltensunter-
neurophysiologischer und neuroanatomischer schiede. Eine Möglichkeit, solche Interpreta-
Kennwerte verglichen. Die Unterschiede zwi- tionen auszuschließen, sind Längsschnitt-
schen diesen beiden Versuchsgruppen werden untersuchungen. Zu Beginn solcher Studien
dann auf die Expertise zurückgeführt. Dieser werden die ersten Messungen durchgeführt.
Versuchsansatz ist relativ ökonomisch und Im Idealfall finden sich bei dieser Baseline-
durchaus plausibel, v. a., weil aus der Experti- Untersuchung keine neurophysiologischen
seforschung bekannt ist, dass Experten ihre und/oder neuroanatomischen Unterschiede.
Expertise teilweise unter erheblichem Auf- Anschließend beginnt ein Training, das einige
wand erwerben. So hat z. B. Anders Ericsson Stunden, mehrere Wochen oder Monate
(2004) zeigen können, dass exzellente Profi- dauern kann. Am Ende dieser Intervention
musiker bis zum Alter von 20 Jahren mehr als erfolgt eine weitere Messung. Wenn nur die
10 000 Stunden geübt haben (s. Abb. 15-9). Im Trainingsgruppe neurophysiologische und/
Vergleich dazu fallen die ca. 1 500 Trainings- oder neuroanatomische Veränderungen zeigt,
stunden von Amateurmusikern im gleichen können diese eher auf die Intervention bezo-
Alter bescheiden aus. Wenn so viel trainiert gen werden.46 Solche Untersuchungen sind
wird, dann müssen sich die an der Kontrolle
der Expertise beteiligten neuronalen Netz-
werke anpassen und verändern. 46 Der hier dargestellte Längsschnittuntersu-
chungsansatz ist eine einfache, aber nicht optimale
Ein Problem der Querschnittsunter-
Variante. Es müsste auch noch mindestens eine Kon-
suchungen besteht darin, dass nicht aus-
trollgruppe aufgenommen werden, die zwar nicht
zuschließen ist, dass die Unterschiede durch die interessierende Aufgabe trainiert, die aber im
genetische oder andere biologische Faktoren gleichen Zeitraum wie die Trainingsgruppe etwas
vorbestimmt waren. Es lässt sich sogar ver- anderes durchführt.
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17.2. Genetik und Umwelt 531
berufliche Interessen
Persönlichkeitseigenschaften
Religiosität
systolischer Blutdruck
psychometrische Intelligenz
Gewicht
Alpha-Aktivität EEG
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Körpergröße
0 0.1 0.2 0.3 0.4 0.5 0.6 0.7 0.8 0.9 1.0
Korrelation
Abbildung 17-2: Korrelationen zwischen eineiigen Zwillingen, die getrennt aufgewachsen sind, für un-
terschiedliche Variablen (nach Bouchard et al., 1990).
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532 17. Plastizität
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17.4. Funktionelle Plastizität beim Menschen 533
größert. Da sich die Repräsentation einzelner Beim Menschen begann die Plastizitätsfor-
Gebiete vergrößert hatte, veränderte sich schung erst in den 1990er Jahren. Ein Meilen-
auch die Größe und Form der benachbarten stein dieser Forschungsrichtung war die Un-
Repräsentationsgebiete. In einer anderen Ar- tersuchung von Ramachandran (1993) an
beit hat dieselbe Arbeitsgruppe (Allard et al., Patienten, die nach Amputation von Armen
1991) bei Affen die Finger drei und vier zu- oder Händen Schmerzen in diesen nicht mehr
sammengenäht48 und überprüft, ob sich nach existenten Gliedern verspürten (Phantom-
3–7,5 Monaten die Repräsentation der Finger schmerz). Mit einem Wattestäbchen strich er
im somatosensorischen Kortex (Area 3) ver- über die Wangen der Patienten und konnte bei
ändert hat. In der Tat zeigte sich, dass die Re- ihnen das Gefühl des Streichens über das am-
präsentationen der zusammengenähten Fin- putierte Glied auslösen. Offenbar befand sich
ger zu einem einzigen Repräsentationsgebiet noch eine „Restrepräsentation“ des amputier-
verschmolzen waren (Abb. 17-4). ten Glieds in der somatosensorischen Reprä-
Recanzone und Kollegen (1993) haben sentation des Gesichts. Er erklärte dies damit,
sich mit der Tonotopie im Affengehirn aus- dass die quasi „arbeitslos“ gewordenen Neu-
einandergesetzt und überprüft, ob sich diese rone des Handareals in den Repräsentations-
infolge eines auditorischen Diskriminations- bereich der benachbarten Repräsentationen
trainings verändert. Die Affen trainierten für eingebunden werden. Hierzu muss man sich
mehrere Wochen Töne, um den Frequenz- den sensorischen Homunkulus vorstellen. Die
bereich 2 500 Hz zu unterscheiden. Nach eini- sensorische Repräsentation der Hand liegt et-
gen Wochen Training verbesserte sich die Dis- was weiter oben als die Repräsentation des Ge-
kriminationsleistung erheblich und es kam zu sichts. Werden die Neurone für die Hand nicht
einer Veränderung der Tonotopie im auditori- mehr genutzt, weil die Hand amputiert wurde,
schen Kortex. Insbesondere die kortikale Re- dann werden diese Neurone offenbar in den
präsentation der Töne um 2 500 Hz hatte sich Repräsentationsbereich der benachbarten Re-
nach dem Training deutlich vergrößert, wobei präsentation des Gesichts (liegt etwas ventra-
ler) eingebunden. Dies ist ein Reorganisations-
prozess, bei dem bestimmte Neurone in einen
neuen Funktionsbereich eingebunden werden.
48 Hierbei handelt es sich um eine künstliche Form
Zu Beginn ist diese Reorganisation noch nicht
der Syndaktylie. Syndaktylie ist eine angeborene
anatomische Fehlbildung der Finger oder Zehen, die perfekt, sodass noch eine rudimentäre Reprä-
durch Verwachsung einzelner Zehen oder Finger sentation der Hand im Gesichtsbereich zu
entsteht. finden ist. Ist die „Übernahme“ komplett, ver-
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534 17. Plastizität
Affengehirn Affenhand
Brodmann-Areal 3b
normale kortikale Karte
3
4 2
5
r
Körpe 1
D5
D4
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Hand
Finger
D3
D2
D1
zusammengenähte
Brodmann-Areal 3b Finger 4 + 3
2
5
r
Körpe
D5
Hand
D4
D3
Finger
Grenze D3 + D4
nicht länger sichtbar
D2
D1
Abbildung 17-4: Syndaktylie-Experiment von Allard und Kollegen (1991). Die Wissenschaftler haben
zunächst mittels Mikroelektroden die somatosensorische Repräsentation aller Finger gemessen. Dann
wurden den Affen die Finger drei und vier zusammengenäht. Nach 3–7,5 Monaten (für die einzelnen
Versuchstiere nach unterschiedlichen Perioden) wurde die Repräsentation aller Finger neu erfasst. Es
zeigte sich, dass die Repräsentation der Finger drei und vier zu einer Repräsentation verschmolzen war.
(Nachgezeichnet nach Gazzaniga et al., 2002)
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17.4. Funktionelle Plastizität beim Menschen 535
schwindet auch die rudimentäre Repräsenta- im auditorischen Kortex vom Alter bei Be-
tion der Hand. Meistens verschwindet dann ginn des Musiktrainings abhängt. Je früher
auch der Phantomschmerz, der möglicher- die Musiker mit dem Musiktraining began-
weise ein Indikator eines noch nicht perfekten nen, desto stärker sind die neuronalen Ant-
Übernahmeprozesses ist. worten im auditorischen Kortex (Baumann
Diese Studie hat viele Arbeiten zur funktio- et al., 2008; Pantev et al., 1998).
nellen und anatomischen Plastizität des Men- • Diese neuronalen Antworten sind bei Pro-
schen stimuliert. In den meisten Arbeiten fimusikern sehr spezifisch. Streicher rea-
wurden Experten (in einem bestimmten Funk- gieren auf Violinentöne stärker als auf
tionsbereich) mit Nichtexperten verglichen Trompetentöne, während Trompeter stär-
(Querschnittsuntersuchungen). Eine vielfach ker auf Trompetentöne reagieren (Pantev
untersuchte Expertengruppe sind Musiker, die et al., 2001).
•
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in der Regel früh in ihrem Leben mit dem Mu- Bereits in der frühen Kindheit stellt sich der
siktraining beginnen und das Musizieren und auditorische Kortex auf spezifische Erfah-
den Umgang mit Musik meist sehr intensiv und rungen mit Musikklängen ein. Kinder, die
nicht selten ein Leben lang trainieren. Insofern im Alter von 8–9 Jahren intensiv das Vio-
sind sie bis heute ein willkommenes Modell für linenspiel üben, zeigen nach einer be-
die Plastizitätsforschung (Kraus & Chandrase- stimmten Trainingszeit stärkere neuronale
karan, 2010; Münte et al., 2002). Zusammen- Reaktionen des auditorischen Kortex auf
gefasst konnte in diesen Querschnittsunter- Violinen- als auf Sinustöne. Quasi neben-
suchungen Folgendes festgestellt werden: bei scheinen sie auch die Fähigkeit des
• Bei Streichern ist die sensorische Repräsen- absoluten Gehörs zu entwickeln (Meyer et
tation (in Area 3) der fünf Finger der linken, al., 2011).
nicht dominanten Hand insgesamt größer • Auch die Art, wie der auditorische Kortex
als bei Nichtmusikern. Die neuronale Ant- Phoneme verarbeitet, hat sich bei Musikern
wort im sensorischen Kortex auf die taktile verändert. Bereits auf den ersten und frü-
Stimulation des kleinen Fingers der linken hen Stufen der auditorischen Verarbei-
Hand ist bei Streichern besonders stark und tungskette führt die Präsentation von Pho-
korreliert mit dem Alter bei Beginn des Mu- nemen zu anderen neurophysiologischen
siktrainings. Je früher die Streicher mit dem Verarbeitungsmustern als bei Nichtmusi-
Musiktraining begonnen hatten, desto stär- kern (Ott et al., 2011).
ker waren die neuronalen Antworten im Re- • Die Verarbeitung von Syntax, Prosodie und
präsentationsbereich des kleinen Fingers Semantik ist bei Musikern ebenfalls mit
(Elbert et al., 1995). In der Untersuchung veränderten neuronalen Aktivierungen im
von Elbert und Kollegen wurde das MEG als Gyrus frontalis inferior, im Hörkortex und
neurophysiologische Messmethode genutzt. im Sulcus temporalis superior verbunden
Die Stärke der mit dem MEG gemessenen (Koelsch et al., 2004; Oechslin et al., 2009).
neuronalen Reaktion wird allgemein als In- • Auch im motorischen System weisen Musi-
dikator für die Anzahl der synchron mit- ker Besonderheiten auf. Motorische Tätig-
einander reagierenden Neurone aufgefasst. keiten, v. a., wenn sie in einem funktionalen
• Bei Musikern sind die neuronalen Antwor- Zusammenhang mit dem Musizieren ste-
ten im auditorischen Kortex auf Töne stär- hen (z. B. Fingertappen oder Durchführen
ker als bei Nichtmusikern, wie MEG- und von präzisen Fingerbewegungen), hängen
EEG-Untersuchungen ergaben. Interessant mit deutlich reduzierten neurophysiologi-
ist, dass die Stärke der neuronalen Antwort schen Aktivitäten im motorischen System
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536 17. Plastizität
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17.4. Funktionelle Plastizität beim Menschen 537
phyisikalische/körperliche Übung
Flexion
Extension
mentales Vorstellen
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Flexion
Extension
Kontrollgruppe
Flexion
Extension
60 100 2 cm
Wahrscheinlichkeit in %
Abbildung 17-5: Veränderung der Fläche über dem Handmotorkortex, über der motorisch evozierte Po-
tenziale (MEP) an zwei Fingermuskeln (Flexor- und Extensor-Muskel) ausgelöst werden können. Die
Versuchspersonen übten jeweils zwei Stunden an insgesamt fünf Tagen. Nach jedem Trainingstag wurde
die Auslösbarkeit der MEP getestet und überprüft, über welchem Gebiet um den Hotspot (dem Gebiet,
bei dessen Stimulation die stärksten MEP ausgelöst werden können) herum noch MEP ausgelöst werden
können. Man erkennt, dass mit zunehmender Trainingsdauer (von Tag 1 bis Tag 5) die erregbare Fläche
um den Hotspot größer wird. Bei den Kontrollpersonen, die nicht trainierten, konnte keine Flächenver-
änderung festgestellt werden. Interessant war auch, dass jene Gruppe, die nur mental übte (also ohne
eine Bewegung durchzuführen), auch Flächenvergrößerungen aufwies.Die Blaufärbungen indizieren
unterschiedliche Wahrscheinlichkeiten, mit denen an denjeweiligen Stellen MEP ausgelöst werden
konnten (nach Pascual-Leone et al., 1995).
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538 17. Plastizität
A) C)
800 T1 (vor Training)
*
T2 (nach Training)
MEP-Amplitude in µV
600
400
MEP
200
Musculus abductor 0
pollicis brevis (APB) rechter APB linker APB rechter ADM
li M1 re M1 li M1
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B) li Daumentraining D)
300 * T1
(2 Wochen)
T2 **
Intertap-Intervalle (ITI) 210 T3
220 200 250 t **
li Daumentraining T4
210 re Daumentraining 190
MEP-Amplitude in µV
180 200
200 170
IT in ms
**
190 160
vor nach 150
180 Training
170 100
re Daumentraining
160
1 2 3 4 5 6 7 8 9 101112 (2 Wochen)
Übungseinheiten/Tage 210 50
200
190 0
180 rechter APB linker APB
170 li M1 Stimulation re M1 Stimulation
*
160
vor nach
Training
Abbildung 17-6: Darstellung der Ergebnisse des Experiments von Koeneke und Kollegen (2006). Die
Versuchspersonen übten ca. zwölf Tage lang eine Stunde am Tag mit dem rechten (dominanten) oder
linken Daumen schneller zu tappen. (A) Vor, während und nach dem Training wurden die MEP (motorisch
evozierte Potenziale) des rechten und linken Daumenmuskels gemessen. (B) Die Intertap-Intervalle
wurden im Laufe des Trainings deutlich schneller. (C) Nach dem Training des rechten Daumens war die
Erregbarkeit des Motorkortex nur dann größer, wenn der Motorkortex kontralateral zum trainierten
Daumen stimuliert wurde. (D) Beim und nach dem Training des linken (subdominanten) Daumens ergab
sich ein differenziertes Bild. Über das ganze Training hinweg ergab sich eine Steigerung der Erregbarkeit
des rechtsseitigen Motorkortex. Die Erregbarkeit des rechtsseitigen Motorkortex nahm anfangs (vom 1.
zum 2. Tag) zu, um dann kontinuierlich wieder abzunehmen.
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17.4. Funktionelle Plastizität beim Menschen 539
A) B)
A) visuelle Stimulation
3 3
2 2
1 1
L R L R
B) visuell-auditorische
1: visueller Kortex
Stimulation
2: somatosensorischer Assoziationskortex
3: primärer sensorischer Kortex
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540 17. Plastizität
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Abbildung 17-9: Dargestellt sind jene Hirngebiete, die ihre Netzwerkverbindungen zu anderen Hirn-
gebieten nach dem Arbeitsgedächtnistraining verändert haben. Die Größe der jeweiligen „Kugeln“ re-
präsentiert die Höhe der Korrelation zwischen der Leistung in der Arbeitsgedächtnisaufgabe und dem
Ausmaß der funktionellen Verbindung zu anderen Hirngebieten. Als Maß der Verbindungsgüte ist hier
der „Degree-Kennwert“ angegeben. Die in Dunkelgrau gekennzeichneten Hirngebiete verringern mit
besser werdender Arbeitsgedächtnisleistung ihre Verbindungsgüte, während die in Hellgrau dargestell-
ten Hirngebiete ihre Verbindungsgüte mit zunehmender Arbeitsgedächtnisleistung vergrößern (nach-
gezeichnet nach Langer et al., 2013).
früh in der Verarbeitungskette zu erkennen. sich mit zunehmender Expertise auch die funk-
Die größeren Amplituden werden als Indika- tionelle Netzwerkarchitektur bei Experten, was
tor für mehr synchron feuernde Neurone inter- bedeutet, dass verschiedene Hirngebiete an-
pretiert. Das kann man sich so vorstellen, dass ders miteinander interagieren.
zwar bei der Verarbeitung der expertiserele- In Längsschnittuntersuchungen werden
vanten Reize mehr Neurone feuern, dafür aber trainingsbedingte neurophysiologische Aktivie-
nur jene, die für die Verarbeitung dieser Reize rungsveränderungen gemessen. Hierbei zeigt
wirklich verantwortlich sind. Bei Nichtexperten sich, dass im Laufe des Trainings die ERP-Kom-
feuern dagegen auch Neurone, die nicht zwin- ponenten auf die gelernten Reize größer wer-
gend für die Verarbeitung benötigt werden. den. Des Weiteren zeigt sich eine Vergrößerung
fMRT-Untersuchungen weisen darauf hin, dass des aktivierten Volumens. Wahrscheinlich wer-
die Experten bei der Bearbeitung expertise- den während des Lernens mehr Neurone in die
relevanter Aufgaben eine geringere Durchblu- Kontrolle der gelernten Funktion einbezogen,
tung in den spezialisierten Hirngebieten auf- um herauszufinden, welche dieser Neurone
weisen. Diese geringere Durchblutung könnte letztlich notwendig sind. Auch die funktionelle
indizieren, dass nur die wichtigen Neurone Netzwerkarchitektur ändert sich während des
(dafür aber synchron) feuern. Diese Befunde Trainings. Die Hirngebiete, die an der Verarbei-
deuten darauf hin, dass die neurophysiologi- tung der gelernten Funktionen oder Reize be-
sche Bearbeitung dieser speziellen Reize oder teiligt sind, beginnen sich mehr und mehr funk-
Aufgaben bei Experten optimierter abläuft tional „zusammenzuschalten“ (Prinzip des
(Prinzip der neurophysiologischen Optimie- Aufbaus neuer oder der Veränderung bereits
rung). Neben diesen Optimierungen verändert bestehender funktionaler Verbindungen).
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17.5. Strukturelle Plastizität 541
rekonstruiert und folgende Kennwerte49 für festgestellt, dass Musiker in einigen Hirngebie-
jeden einzelnen Voxel dieser rekonstruierten ten über ein größeres Volumen der grauen Sub-
Gehirne bestimmt: stanz verfügen (Abb. 17-10). Auch war das Volu-
• Dichte und/oder Volumen der grauen und men der grauen Substanz bei professionellen
weißen Substanz Musikern größer als bei Amateurmusikern.
• kortikale Dicke Nach Amputation einer Extremität zeigte sich
• Ausmaß der Verformung der einzelnen in einer anderen Studie kontralateral zum am-
Gyri, die notwendig ist, um sie an ein Stan- putierten Glied im Nucleus ventralis posterola-
dardgehirn anzupassen. teralis des Thalamus eine Reduktion der Dichte
der grauen Substanz (Draganski et al., 2006).
Die Dichte und/oder das Volumen der grauen Offenbar hat sich durch die fehlende Stimula-
Substanz wird als Grauwert codiert und re- tion dieses Thalamusgebiets aufgrund der
präsentiert verschiedene neuroanatomische Amputation die Dichte der grauen Substanz
Aspekte. Vermutet wird, dass mit zunehmen- reduziert. Insofern ist davon auszugehen, dass
der Dichte und/oder zunehmendem Volumen
der grauen Substanz die Neurone größer sein
können, über eine größere Dendritisierung
verfügen oder mehr Synapsen bilden können.
Bezüglich der Dichte und/oder des Volumens 1
der weißen Substanz wird davon ausgegan-
gen, dass dieser Wert die Myelinisierung
kennzeichnet. Mit der DTI-Technik werden
2
Kennwerte gemessen, die eine Aussage über 3
die Zusammensetzung der Kabelsysteme er-
4
möglichen.
5
In Querschnittsuntersuchungen wurden
bislang viele Expertengruppen mit Nicht-
experten verglichen (Musiker, Tänzer, Dol-
metscher, Sportler, Schachspieler, Mathemati- Abbildung 17-10: Hirngebiete, in denen Musiker
über eine größere Dichte der grauen Substanz
49 Alle aufgeführten Kennwerte können mittler- verfügen. 1: Motorkortex, 2: Hörkortex, 3: Gyrus
weile mit geeigneter Software automatisch be- frontalis inferior, 4: Gyrus temporalis inferior, 5:
stimmt werden. Kleinhirn (nach Gaser et al., 2003).
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542 17. Plastizität
die Dichte der grauen Substanz mit der Exper- einer Folgearbeit konnten auch bei Senioren
tise korreliert. nach einem drei Monate dauernden Jon-
In anderen Arbeiten wurden die Kabelsys- gliertraining massive Zunahmen der grauen
teme bei professionellen Pianisten mittels der Substanz im Areal MT, aber auch in anderen
DTI-Technik untersucht. Es zeigte sich, dass in Hirngebieten festgestellt werden (Hippo-
einigen Kabeln die fraktionale Anisotropie50 campus und Nucleus accumbens; Boyke et
mit der Gesamtanzahl der bis zum Unter- al., 2008). Insofern scheinen auch die Ge-
suchungszeitraum aufgewendeten Trainings- hirne älterer Menschen zur strukturellen
stunden korrelierte. Je mehr diese Profipia- Plastizität fähig zu sein.
nisten geübt hatten, desto größer war die • Draganski und Kollegen (2006) haben Me-
fraktionale Anisotropie im Corpus callosum, in dizinstudenten untersucht, die sich auf
der Capsula interna und im Fasciculus arcua- das Physikum vorbereiteten. Vor dem drei
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17.5. Strukturelle Plastizität 543
Parietallappen
Signalzunahme in % und 90 %-Konfidenzintervall
(Clusterdurchschnitt)
3
2.5
Signalzunahme in %
2
1.5
0.5
–0.5
1 2 3
Scan
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Hippocampus
Signalzunahme in % und 90 %-Konfidenzintervall
(Clusterdurchschnitt)
3
2.5
Signalzunahme in %
1.5
0.5
–0.5
1 2 3
Scan
Abbildung 17-11: Hirngebiete, in denen Medizinstudenten nach einer drei Monate dauernden Prüfungs-
vorbereitung auf das Physikum Zunahmen der Dichte der grauen Substanz aufwiesen. Gemessen wurde
die Dichte der grauen Substanz vor der Prüfungsvorbereitung (Scan 1), nach der Prüfung (Scan 2) und
drei Monate nach der Prüfung (Scan 3; nach Draganski et al., 2006).
sucht und dabei überprüft, ob sich nach Übergangsbereich, kaudaler Teil des Lobu-
einem 40 Stunden dauernden Golftrai- lus parietalis inferior; Abb. 17-12). Interes-
ning die an der Kontrolle des Golftrainings sant war ferner, dass die Versuchspersonen,
beteiligten Hirngebiete anatomisch ver- die in diesen 40 Stunden am intensivsten
ändern ( Bezzola et al., 2011). Hierzu wurde trainierten, auch die stärksten anatomi-
die Dichte der grauen Substanz gemessen schen Veränderungen aufwiesen.
und festgestellt, dass sich dieser Kennwert • Nahezu spektakulär sind die Befunde einer
im dorsalen Informationsweg im Verlauf sehr aufwendigen Längsschnittstudie von
des Trainings vergrößerte (Sulcus centralis, einer US-amerikanischen Forschergruppe
sensomotorischer Motorkortex, ventraler (Erickson et al., 2011). Diese Wissenschaft-
Prämotorkortex, Lobus parietalis inferior, ler haben 120 ältere Personen (55–80 Jahre
intraparietaler Sulcus, parietookzipitaler alt) über ein Jahr lang untersucht und diese
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544 17. Plastizität
4.0
0.0
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Golfschüler
Kontrollgruppe
–2.0
CS vPMC rIPL rIPL rIPL IPS POJ cIPL cIPL
1 2 3 4 5 6 7 8 9
Abbildung 17-12: Hirngebiete, in denen im Laufe eines 40 Stunden dauernden Golftrainings bei Golf-
novizen die Dichte der grauen Substanz zunahm. 1: Sulcus centralis – Motorkortex, 2: ventraler Prä-
motorkortex, 3, 4, 5: drei unterschiedliche Regionen des Lobulus parietalis inferior, 6: intraparietaler
Sulcus, 7: parietookzipitaler Übergangsbereich, 8 & 9: zwei Subareale des kaudalen Lobulus parietalis
inferior (nach Bezzola et al., 2011). Im Balkendiagramm rechts neben dem Hirnbild ist die Zunahme der
Dichte der grauen Substanz angezeigt. Die dunklen Balken zeigen die Zunahme der grauen Substanz für
die Personen an, die trainiert haben. Die hellen Balken zeigen die Veränderungen der Dichte der grauen
Substanz bei den Personen, die nicht trainiert haben. Auf derAbszisse sind die Hirnregionen mit Akro-
nymen und Zahlen gekennzeichnet. Die Zahlen entsprechen denen, die im Hirnbild genutzt wurden.
Personen per Zufall einer von zwei Ver- der Hippokampusvolumens, sondern eine
suchsgruppen zugewiesen. Eine Gruppe Abnahme. Die Verringerung des Hippo-
absolvierte über mehrere Wochen ein Aero- kampusvolumens bei dieser Gruppe ent-
bic-Stretching-Training, während die an- sprach ungefähr der durchschnittlichen
dere Gruppe genauso intensiv Nordic-Wal- Volumenveränderung von 0.5 %/Jahr, die
king trainierte. Vor dem Training, nach man normalerweise bei älteren Personen
6 Monaten und nach einem Jahr haben die (ohne spezielles Training) messen kann
Forscher mittels MRT anatomische Auf- (Jäncke et al., 2020). Die Veränderung des
nahmen der Gehirne angefertigt und auch Hippokampusvolumens korrelierte im Üb-
eine Reihe von neuropsychologischen Tests rigen moderat mit der Gedächtnisleistung
durchgeführt. Dabei offenbarte sich, dass in einem Standardgedächtnistest. Es konn-
bei der Gruppe, die Nordic-Walking trai- ten auch moderate Korrelationen zwischen
nierte, das Hippokampusvolumen zunahm dem Hippokampusvolumen und einem
und gleichzeitig auch die Gedächtnisleis- Wachstumshormon (BDNF) und auch Kor-
tungen besser wurden. Bei der Stretching- relationen mit physiologischen Fitness-
Trainingsgruppe zeigte sich keine Zunahme Kennwerten festgestellt werden.
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17.6. Rehabilitation 545
tet. Abnahmen der fraktionalen Anisotropie Sadato (1996) berichtet. Die Wissenschaftler
finden sich insbesondere in den Hirngebieten, hatten mittels PET Durchblutungsänderungen
die unmittelbar neben Hirngebieten lokalisiert im visuellen Kortex bei Früherblindeten und
sind, die eine trainingsinduzierte Zunahme Kontrollpersonen nach taktiler Stimulation
der grauen Substanz aufweisen. Als mögliche untersucht. Zur taktilen Stimulation nutzten
Ursachen für die gemessene Veränderung der sie die Brailleschrift, welche die Versuchsper-
grauen Substanz werden folgende Mechanis- sonen zu ertasten hatten. Bei Früherblinde-
men diskutiert: ten ergaben sich beim Lesen der Brailleschrift
• Neuronenvergrößerungen (Oberflächen- Durchblutungszunahmen im primären und
vergrößerung) sekundären visuellen Kortex, während bei
• Zunahme der Dendritisierung und der Glia- normal sehenden Kontrollpersonen Durch-
fortsätze (Vergrößerung des Neuropils51) blutungsabnahmen im visuellen Kortex auf-
• Synaptogenese. traten. Offenbar hat hier eine Umorganisation
stattgefunden, sodass der visuelle Kortex der
Wahrscheinlich kann auch eine trainingsindu- Erblindeten nun andere Aufgaben als die
zierte Zunahme der Kapillarisierung zu Ver- Verarbeitung visueller Informationen über-
änderungen der gemessenen Kennwerte für nommen hat.
die graue Substanz führen. Mit zunehmendem Ein anderes Beispiel für eine kortikale
Training werden die benötigten Hirngebiete Umorganisation berichten Yu und Kollegen
auch besser durchblutet werden müssen. In- (2006). Sie haben zwei Patienten untersucht,
wieweit intrazelluläre Veränderungen die ge- denen beidseitig die Arme amputiert wurden
messenen Werte für die graue Substanz beein- und die gelernt hatten, mit ihren Füßen zu
flussen, ist aktuell noch nicht eindeutig geklärt. malen und als Bildhauer tätig zu sein. fMRT-
Durch den intensiveren Gebrauch der Neurone Messungen während einfacher motorischer
nimmt wahrscheinlich auch die Produktion Tätigkeiten, die sie mit ihren Füßen ausführ-
und Verarbeitung von Transmittern zu. Da- ten, offenbarten nicht nur Durchblutungs-
mit hängt eine Zunahme des metabolischen zunahmen im Fußareal (in der Mittellinie
Umsatzes zusammen. Trainingsinduzierten im parazentralen Hirnbereich gelegen), son-
dern auch im linksseitigen Handareal (M1
für die Hand). Offenbar haben die ehemals als
51 Unter dem Begriff Neuropil werden die nicht- „Handneurone“ genutzten Neurone im Hand-
myelinisierten Dendriten und die Gliafortsätze zu- motorkortex eine neue Aufgabe übernommen
sammengefasst. und kontrollieren nun auch Fußbewegungen.
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546 17. Plastizität
des rechten Arms die motorische Leistungs- chiatrische Schäden günstiger beeinflussen
fähigkeit des frei beweglichen linken Arms zu können. Leider befindet sich dieser For-
verbesserte und diese Verbesserung mit einer schungsbereich noch im status nascendi. Es
Zunahme der kortikalen Dicke des rechtsseiti- existieren jedoch bereits interessante Anwen-
gen Prämotorkortex verbunden war. In einer dungsvorschläge, um durch moderne Ergeb-
neuen Arbeit unserer Arbeitsgruppe (Steiger et nisse der Plastizitätsforschung zur Therapie
al., 2016) konnten wir sogar zeigen, dass eine von neurologischen, neuropsychologischen,
kognitive Verhaltenstherapie bei Patientinnen psychiatrischen oder sonstigen Beeinträchti-
Untersuchung Interventionen
Abbildung 17-13: Aktuell untersuchte Ansätze zum Auslösen und/oder Beeinflussen der Neuroplas-
tizität.
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17.6. Rehabilitation 547
gungen zu gelangen (Cramer et al., 2011). gen durch eine ungünstige Interaktion beider
Aktuell wird intensiv untersucht, wie plas- Hemisphären beeinflusst. Die Motorareale
tische Prozesse effizient ausgelöst werden beider Hemisphären beeinflussen sich gegen-
können (Abb. 17-13). Physisches und kogniti- seitig, indem sie sich wechselseitig hemmen
ves Training hat sich als wirksame Methode (Abb. 17-14). Kommt es zu einer Läsion z. B. im
erwiesen, um Hirnplastizität auszulösen (s. o.). linksseitigen Motorkortex, kann der linkssei-
Aber auch pharmakologische Beeinflussun- tige Motorkortex bzw. das noch gesunde Ge-
gen haben sich als interessante Interventions- webe um die Läsion nicht mehr genug Hemm-
möglichkeiten zum Auslösen und/oder Beein- potenzial entwickeln, um die rechtsseitige
flussen neuroplastischer Prozesse erwiesen. Hemisphäre zu hemmen. Das führt dazu, dass
Ebenso werden derzeit mögliche günstige Ein- die jetzt enthemmte rechtsseitige Hemisphäre
flüsse der tiefen Hirnstimulation,52 der peri- den linksseitigen Motorkortex und das dort
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pheren Nervenstimulation, der externen noch vorhandene gesunde Gewebe noch stär-
Hirnstimulation53 und verschiedener An- ker hemmt als vor der Läsion. Mit anderen
wendungen des Neurofeedbacks untersucht. Worten, die lädierte Hemisphäre ist doppelt
Relativ weit fortgeschritten sind Arbeiten, in beeinträchtigt: einerseits durch die Läsion,
denen mittels Gehirnstimulationen plastische was dazu führt, dass weniger funktionsfähiges
Prozesse ausgelöst oder günstig beeinflusst Gewebe vorhanden ist, und andererseits auf-
werden. grund der starken Hemmung des noch ge-
Als Beispiel für die mögliche günstige Wir- sunden Gewebes durch die intakte rechte
kung von externen Gehirnstimulationen auf Hemisphäre. Diese für den Wiederaufbau
die Neuroplastizität soll hier die transkra- motorischer Leistungsfähigkeit ungünstige
nielle Magnetstimulation (TMS) besprochen neurophysiologische Ausgangslage kann durch
werden. Die TMS-Technik (aber auch die geeignete Stimulationen beeinflusst werden.
transkranielle Gleichstromstimulation) wird Ein Einfluss kann etwa durch neurophysiologi-
aktuell unter anderem in der Rehabilitation sche Hemmung der gesunden Hemisphäre
nach Schlaganfällen genutzt, um z. B. die mo- oder durch Erregung der lädierten Hemi-
torische Leistungsfähigkeit der gelähmten sphäre erzielt werden. Wird die gesunde He-
oder beeinträchtigten Arme und Hände güns- misphäre neurophysiologisch gehemmt, kann
tig zu beeinflussen. Einfache Trainings der sie die lädierte linksseitige Hemisphäre nicht
betroffenen Gliedmaßen führen in der Regel mehr so stark hemmen. Umgekehrt kann die
zu motorischen Leistungssteigerungen. Je- lädierte Hemisphäre neurophysiologisch er-
doch werden die motorischen Verbesserun- regt werden, um die von der gesunden Hemi-
sphäre verursachte Hemmung auszugleichen.
Auf diese Art werden für das motorische Trai-
ning des rechten Arms oder der rechten Hand
günstigere neurophysiologische Ausgangs-
52 Die tiefe Hirnstimulation ist ein neurochirur- bedingungen geschaffen. Die Erregung oder
gischer Eingriff, bei dem in das Gehirn Elektroden Hemmung kann mittels transkranieller Mag-
eingeführt werden, um bestimmte Hirngebiete zu netstimulation oder transkranieller Gleich-
erregen oder zu hemmen. Sie wird häufig zur Be-
stromstimulation erreicht werden. Zum Er-
handlung der Parkinsonkrankheit, der Dystonie, bei
regen der lädierten Hemisphäre werden
Zwängen und beim Tourettesyndrom eingesetzt.
53 Zu den externen Hirnstimulationen zählen die hochfrequente TMS-Impulse (oder eine ano-
transkranielle Magnetstimulation (TMS) und die dale tDCS-Stimulation) verwendet. Zur Hem-
transkranielle Gleichstromstimulation (tDCS). mung der gesunden rechtsseitigen Hemi-
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548 17. Plastizität
A) ungünstige interhemisphärische
Hemmung
L
C) Deaktivierung der gesunden
Hemisphäre
n
io
im ve
at
St si
ul
le nva
ka ti
rti ich
ko n
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17.7. Zusammenfassung 549
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550 17. Plastizität
trainingsinduzierte Zunahme der grauen Wie verändert sich der auditorische Kortex
Substanz aufweisen. von Affen nach einem Tondiskriminations-
• Die zellulären Grundlagen der anatomi- training?
schen Plastizität sind noch unklar. Dis- • Beschreiben Sie die klassischen Versuchs-
kutiert werden folgende Mechanismen: ansätze zur Untersuchung der Neuroplas-
Neuronenvergrößerung (Oberflächenver- tizität.
größerung), Zunahme der Dendritisierung • Beschreiben Sie typische Befunde bezüg-
und der Gliafortsätze (Vergrößerung des lich der Plastizität bei Musikern.
Neuropils), Synaptogenese und Zunahme • Beschreiben Sie einige Grundprinzipien der
der Kapillarisierung. Plastizität.
• Bei Patienten nach Amputationen, bei Blin- • Beschreiben Sie ein typisches Beispiel für
den, aber auch im Zusammenhang mit der die Veränderung der Netzwerkarchitektur
krankheitsbedingten Immobilisierung von durch Training.
Gliedern kommt es zu teilweise massiven • Was wird unter struktureller Neuroplastizi-
Reorganisationen. Bei Blinden wird der vi- tät verstanden?
suelle Kortex in die Verarbeitung taktiler • Beschreiben Sie einige Befunde zur struk-
Informationen eingebunden. Bei Hand- turellen Neuroplastizität, die im Rahmen
amputierten können die ehemals für die von Querschnittsuntersuchungen erbracht
Hand zuständigen Neurone in die Kontrolle wurden.
der Füße eingebunden werden. • Beschreiben Sie einige Befunde zur struk-
• Aktuell wird intensiv über die Nutzbarma- turellen Neuroplastizität, die im Rahmen
chung der Erkenntnisse aus der Neuro- von Längsschnittuntersuchungen erbracht
plastizitätsforschung diskutiert. In diesem wurden.
Zusammenhang werden folgende Interven- • Welche Möglichkeiten zur „Auslösung“ von
tionsmöglichkeiten thematisiert, mit denen Neuroplastizität werden im Zusammen-
Neuroplastizität ausgelöst werden könnte: hang mit der Rehabilitation derzeit dis-
physisches und kognitives Training, phar- kutiert?
makologische Beeinflussungen, die tiefe • Kann Plastizität von „außen“ beeinflusst
Hirnstimulation, die periphere Nervensti- werden?
mulation, die externe Hirnstimulation und
verschiedene Anwendungen des Neuro-
feedbacks.
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17.9. Weiterführende Literatur 551
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18.1. Einführung 555
dazu 18.3.). Eine übereinstimmende Defini- Sprachen wie dem Deutschen eine viel größere
tion dessen, was Sprachwissenschaftlerin- Rolle bei der Verarbeitung von Bedeutungs-
nen, Psychologen, Philosophinnen, kognitive informationen zu. In so genannten Ergativ-
Neuro- und Computerwissenschaftler unter sprachen verhält es sich anders als in Akku-
Sprache verstehen, liegt aufgrund der Kom- sativsprachen (wie z. B. dem Deutschen) so,
plexität des Gegenstands nicht vor. In Ab- dass unterschiedliche Funktionen des gram-
schnitt 18.2. gehe ich detaillierter auf diese matischen Subjekts (also dem Handelnden)
Frage ein. Nichtsdestotrotz möchte ich zu Be- mithilfe von verschiedenen Kasusmarkierun-
ginn des Kapitels darauf hinweisen, dass im gen differenziert werden. Nur für 200 Sprachen
Folgenden verschiedene Aspekte der Gehirn- existiert eine Schriftform. Daraus wird ersicht-
Sprache Beziehung behandelt werden. Primär lich, dass Lautsprache als eine biologische Fä-
werde ich der Frage nachgehen, wo und wie im higkeit zu betrachten ist, deren Entstehung in
Gehirn Sprache und Kommunikation verarbei- ihren frühen Formen vermutlich einige Millio-
tet werden. Leser*innen, denen dieser Fokus nen, mindestens aber 500 000 Jahre zurück-
zu eng ist und die eine breitere Einführung in liegt, während Schriftsprache eine kulturelle
das Thema „Sprachpsychologie“ wünschen, Fertigkeit darstellt, deren Entwicklung vor ca.
empfehle ich den Text von Bender (2018). 5000 bis 10 000 Jahren begann (siehe Kapi-
In neuropsychologischen Untersuchungen tel 19, Bender, 2018). Anders als die Schrift-
der letzten Jahre stand primär das Verstehen sprachen dürften Lautsprachen als Fortset-
gesprochener, geschriebener und gebärdeter zung von ikonischen und später symbolischen
Sprache auf verschiedenen Ebenen (Laute, Formen der unmittelbaren dyadischen Kom-
Silben, Worte, Sätze) im Fokus. Ziel dieser munikation entstanden sein. In diesem Kapitel
Untersuchungen war es zum einen, das ge- liegt daher der Schwerpunkt auf neuropsycho-
samte Netzwerk im menschlichen Gehirn, das logischen Aspekten der Sprachen mit einem
mit sprachlichen Funktionen betraut ist, zu evolutionären Hintergrund, d. h. auf der Laut-
erfassen. Zum anderen zielte das Gros der und Gebärdensprache (18.7, 18.8). Insbeson-
Studien darauf ab, die spezifische Rolle dis- dere auf die Fragen, welche Hirnregionen das
tinkter Hirnregionen bei der Verarbeitung von sprachliche Netzwerk bilden und wie das
unterschiedlichen linguistischen und paralin- menschliche Gehirn Sprache(n) in Echtzeit
guistischen Ebenen der Sprache (Syntax, Se- versteht und produziert, werden in den Ab-
mantik, Phonologie, Prosodie) besser zu ver- schnitten 18.5 und 18.6 Antworten gegeben.
stehen, sofern dies überhaupt möglich ist. Eine Somit fließen in diesem Kapitel Erkenntnisse
besondere Schwierigkeit in diesem Kontext zu raumzeitlichen Aspekten der Sprache-Ge-
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556 18. Sprache und Kommunikation
hirn Beziehung aus den letzten 20 Jahren For- 18.2. Was ist Sprache?
schung mit bildgebenden Verfahren (PET,
fMRT, sMRT, DTI, EEG, MEG) zusammen und Sprache ist ein komplexes Zeichensystem so-
ergänzen sich mit Resultaten aus Studien, die wie das wichtigste Mittel zum Austausch von
primär die neurokomputationale Ebene von Informationen unter Menschen. Menschen
Sprachfunktionen untersucht haben. In diesen benutzen Sprache primär beim Sprechen, Ge-
Studien steht also nicht die Frage nach dem bärden, Lesen, Schreiben und Texten. Des
„Wo im Gehirn“ (18.5), sondern nach dem Weiteren wird auch betont, dass beim Träu-
„Wie im Gehirn“ (18.6) im Vordergrund. Da- men oder Denken und natürlich in der Kunst
durch konnten zahlreiche Aussagen des klassi- die Sprache eine wichtige Rolle spielt (Bender,
schen neurologischen Models der Sprache als 2018). Daher gilt Sprache auch als die kom-
veraltet überführt werden. plexeste unter allen Kognitionen. Dem ein-
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Anders als z. B. lange Zeit geglaubt wurde, flussreichen Linguisten und Sprachwissen-
lassen sich sprachliche Funktionen nicht ein- schaftler Noam Chomsky zufolge ist allen
fach einem oder zwei „Sprachzentren“ im Ge- Sprachen trotz ihrer augenscheinlichen Diver-
hirn zuordnen. Die vielleicht wichtigste Er- sität eine minimalistische Universalgramma-
kenntnis im Kontext der Erforschung mensch- tik gemein, deren fundamentale Prinzipien im
licher Kognition mit bildgebenden Verfahren Gehirn eines jeden Menschen genetisch fest-
(Kap. 18.5.3., 18.5.4. und 18.5.5.) ist, dass gelegt sind. Der scheinbar mühelose Prozess
große Teile des Kortex an Sprachverarbeitung des Spracherwerbs in den ersten Lebensjahren
und -produktion beteiligt sind. Modalitäts- wäre durch die Annahme der Existenz einer
unabhängig ist Sprache bei den meisten Men- angeborenen „Sprachblaupause“ im Gehirn,
schen (95 % der Rechtshänder und knapp die den Erwerb von Sprache praktisch auto-
70 % der Linkshänder) – ähnlich wie Praxis – matisiert abspult, natürlich leichter erklärbar.
eine dominante Funktion der linken Hemi- Trotz der Plausibilität dieses Gedankens ist
sphäre, was v. a. mit der Anlage sprachartiku- Chomskys Idee einer Universalgrammatik bis
latorischer Mechanismen in dieser Hirn- heute umstritten, empirisch nicht bewiesen
hälfte zu erklären sein dürfte (Kap. 18.5.3. und widerspricht den fundamentalen Prinzi-
und Abb. 18-1). Das Kerngebiet der sprachrele- pien der Evolutionstheorie, die Sprache äqui-
vanten Areale befindet sich um die Sylvische valent einem wandelbaren Organismus an-
Fissur und erstreckt sich über mediale und la- sieht und nicht als ein modulares, in sich
terale Teile des Frontal-, des Temporal- und geschlossenes System versteht (Christiansen
des Parietallappens. Diese Zone wird dem- und Chater, 2008). Tatsächlich scheint beim
nach perisylvische Region genannt. Die rechte Spracherwerb das Erlernen der lautlichen
perisylvische Region zählt ebenfalls zum neu- Muster, aus der gesprochene Sprache besteht,
ronalen Netzwerk der Sprache (Kap. 18.5.). durch fortwährende Exposition während der
Zuerst aber einmal möchte ich die wichtigsten ersten neun Lebensmonate nach der Geburt
Merkmale von Sprache und ihre linguistischen bzw. zum Teil vorgeburtlich eine große Rolle
Beschreibungsebenen darlegen, auch wenn zu spielen (Kap. 18.4.5.). Ebenso spricht die
die Bedeutung dieser linguistischen Domänen hohe Diversität zwischen den Sprachen dieser
für die Realität des Gehirn zunehmend in- Welt gegen das vereinfachende Prinzip einer
frage gestellt wird. Universalgrammatik.
Aufgrund der Komplexität der Fragestel-
lung sollen eingangs einige vereinfachende
begriffliche Klärungen erfolgen. Sprache
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18.2. Was ist Sprache? 557
Pa
rie
ta
lla
pp
en
en
pp
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40 39
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on
Fr
6 4
22
44
19
43 18
45 41 42 37 17
22
47
llappen
38 Okzipita
21
frontales
Operculum (FOP)
en
app
porall
Tem
Sulcus lateralis
(Sylvische Fissur)
primärer
auditorischer
Kortex
Planum
superior polare (PP)
(dorsal)
Gyrus frontalis inferior (GFI)
anterior posterior
(rostral) (kaudal)
Gyrus temporalis superior (GTS)
inferior
(ventral) Gyrus temporalis medius (GTM)
Abbildung 18-1: Die Abbildung zeigt die Lateralansicht einer linken Hemisphäre eines menschlichen
Gehirns. Die wichtigsten sprachrelevanten Kortexareale (GFI, GTS, GTM) grenzen entweder an die Sylvi-
sche Fissur oder nehmen den mittleren Teil des Temporallappens ein. Die Ziffern bezeichnen die Ord-
nungszahlen der zytoarchitektonischen Kartierung nach Korbinian Brodmann (1909). Visuelle (BA 17–
19) und auditorische Rindengebiete (BA 41, 42) gehören nicht zum Kern der sprachrelevanten Areale,
sondern werden in Abhängigkeit von der laut- oder schriftsprachlichen Modalität partiell zum Sprach-
netzwerk gezählt (nach Friederici, 2011).
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558 18. Sprache und Kommunikation
kann je nach Kontext und wissenschaftlicher lexikalische Element „Tisch“ als ein Symbol
Disziplin verschiedene Bedeutungen haben. für das Konzept eines Tisches zu verstehen.
Bei der Beschreibung von Sprache sollte zwi- Dabei wird noch zwischen linguistischer und
schen ihrer Funktion als Kommunikations- konzeptueller Semantik unterschieden. Wäh-
system einerseits und der formalen Struktur rend es in der linguistischen Semantik nur eine
ihrer Bezugssysteme (Phonologie, Syntax, Entsprechung oder Definition für den Begriff
Semantik) andererseits unterschieden werden „Hund“ gibt, finden sich in der konzeptuell-
(Hauser et al., 2002; Kap. 18.7.). Sprache ist semantischen Register eines Menschen un-
allgemein ein symbolisches System, das aus zählige Einträge und persönliche Assoziatio-
willkürlichen Zeichen für bestimmte Kon- nen zu diesem Begriff, z. B. verbales und nicht
zepte besteht und die Übertragung konkreter verbales Wissen zu einzelnen Hunden, die
und abstrakter Inhalte zwischen einem Sen- man kennt, Hunderassen, Eigenschaften von
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der und einem (oder mehreren) Rezipienten Hunden, Hundephobien oder -allergien etc.
unabhängig von der Modalität gewährleistet. Ganz einfach ist die begriffliche Trennung
Die Beziehung dieser Zeichen wird (ebenfalls zwischen konzeptueller und linguistischer Se-
modalitätsunabhängig) durch ein syntakti- mantil allerdings nicht, da diese zum Teil auch
sches Regelwerk organisiert. Für eine ausführ- überlappen. Die Zuordnung von Symbol und
liche Einführung in diesen Gegenstand sei auf Bedeutung ist in den meisten Sprachen will-
Bender (2018) verwiesen. kürlich in dem Sinne, dass die Bedeutung nicht
Die Syntax ist ein Teil der Grammatik und aus dem (lautlichen) Zeichen ersichtlich ist.
als ein System von Verknüpfungsregeln zu ver- Auf der Ebene der Phonologie werden
stehen, mit dem vieldimensionale Wissens- Phoneme, Silben und lexikalische Elemente zu
strukturen in eine eindimensionale Repräsen- segmentalen und suprasegmentalen Einheiten
tation transformiert werden. Somit ist die geformt. Des Weiteren entscheidet sich so-
Syntax das System zur Produktion hierar- wohl in der Schrift- als auch in der Lautspra-
chischer Strukturen in der Sprache. Als ein che, wie lautsprachliche Muster, z.B. Pho-
Werkzeug der Syntax gilt beispielsweise die neme, ausgesprochen und betont werden. Ein
Hierarchisierung von Konstituenten, wel- Phonem gilt dabei als die kleinste bedeu-
che die Verschachtelung beliebig vieler Sätze tungsunterscheidende Einheit der Sprache.
ineinander ermöglicht und nach heutigem Silben einer Sprache bestehen aus Phonemen
Wissensstand die Komponente der Syntax ist, und die Unterscheidung zwischen zwei Wort-
die nur beim Menschen existiert. Somit be- bedeutungen (Wind/Kind/Rind) ist auf unter-
stimmt die Syntax, wie unabhängige Ele- schiedliche Phoneme zurückzuführen. Pho-
mente in größere Sequenzen gefügt werden, neme müssen nicht zwingend eine semanti-
und erlaubt es, aus einer begrenzten Anzahl sche Funktion haben. Der Unterscheid zwi-
von Einheiten unendlich viele Propositionen schen den Silben /da/ und /ta/ ist auch auf
zu produzieren, wobei jede eine unterscheid- unterschiedliche Phoneme zurückzuführen,
bare Bedeutung haben kann bzw. eine nach- aber für sich alleinstehend sind diese Silben
vollziehbare Bedeutung haben muss. ohne semantische Implikation. Nicht zu ver-
Unter Semantik oder Symbolismus wird wechseln ist der Begriff des Phonems daher
die Möglichkeit verstanden, Bedeutungen zu mit dem des Morphems. Morpheme sind in
encodieren und intentional zu kommunizie- der Sprache der Linguistik die kleinsten lautli-
ren. Symbolgebrauch bezeichnet die Fähig- chen oder grafischen semantischen Sprachein-
keit, Zeichen (Symbole oder Gesten) mit Kon- heiten mit einer spezifischen Bedeutung oder
zepten zu verbinden, beispielsweise das grammatischen Funktion.
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18.2. Was ist Sprache? 559
Neben Phonemen zählen auch Prosodie und semantische Ebene bedeutungsvoll sein
oder Rhythmus einer sprachlichen Äußerung kann. So kann eine sprachliche Äußerung mit
zu den wichtigen paralinguistischen Parame- einem Absenken oder Anheben der Grund-
tern. Zum Beispiel kann eine bestimmte Proso- frequenz (F0) enden, wonach sich entscheidet,
die in der Aussprache einem Satz eine lautliche ob sie den Charakter einer Aussage oder Frage
Struktur geben, die auch für die syntaktische hat („Heute ist ein schöner Tag!“ vs. „Heute ist
a ‘b e ı ‘b ı j Ω
kæ n dr a ı v m a ı k a:
8
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Frequenz (kHz)
b ‘beı ‘bı j
Ω
kæn draıv maı ka:
Lautstärke
0-5 s
Abbildung 18-2: Unterschiedliche Zeitskalendarstellungen eines generischen akustischen Sprachsignals.
a: Spektrogramm des Signals, bei dem die schnellen akustischen Modulationen farblich hervorgehoben
sind. Spektrogramm-Darstellungen ermöglichen die Visualisierung von phonemischen Merkmalen in der
zeitlichen Dimension. Zum Beispiel werden Vokale durch ihre Formantmuster definiert (z. B. dunkle
Streifen definieren die Vokale). Konsonanten, wie /k/ durch akustisches Rauschen ohne strukturiertes
Frequenzmuster.
b: Das Oszillogramm zeigt ebenfalls den zeitlichen Verlauf des akustischen Signals. Die blaue Linie zeigt
die zeitliche Hüllkurve, die den Verlauf der Intonation darstellt. Obwohl die Hüllkurve – wie alle natürli-
chen Signale – nicht strikt periodisch ist, zeichnet sie sich durch gewisse zeitliche Regelmäßigkeiten aus.
Die Senken in der Hüllkurve, welche typischerweise Grenzen zwischen Silben (und nicht Wörtern) (durch
Pfeile angezeigt) markieren, zeigen ein regelmäßiges zeitliches Muster im Ablauf. (nachgezeichnet nach
Poeppel & Assaneo, 2020)
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560 18. Sprache und Kommunikation
ein schöner Tag?“) bzw. auf welchem Satzteil In der Linguistik werden diese elementaren
der Satzakzent liegt („Der Mann küsst die Ebenen der Sprache zumeist als distinkt und
Frau.“ vs. „Der Mann küsst die Frau.“). Für die unabhängig voneinander beschrieben, was
linguistische Analyse und die endgültige Inter- erstmal keinen Bezug zur neurokognitiven Rea-
pretation eines Satzes oder (Wortes) kann da- lität von Sprachverarbeitung hat (Abb. 18-3). In
her die prosodische Markierung entscheidend
sein. Veränderungen der akustischen Muster
eines Sprachsignals über die Länge einer Silbe, auditive und visuelle
Sprachsignale
eines Konstituenten oder sogar eines Satzes
hinweg nennt man suprasegmental. Über die
Funktion dieser suprasegmentalen Modulatio-
nen für das Sprachverstehen und die Interpre- phonemische,
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18.4. Produktion von Lauten und Sprache 561
der Psycho- oder Neurolinguistik werden dafür che (z. B. rekursive Grammatik), die es in die-
die Verarbeitung und Produktion sprachlicher ser Form in Tiersprachen nicht zu geben
Äußerungen im Kontext von anderen psycho- scheint. Mit einer endlichen Anzahl von Sym-
logischen oder neurologischen Einflussfak- bolen (Worte) und Regeln ist es möglich, eine
toren untersucht. Modulierende (individuell unendlich große Anzahl von Phrasen (Sätze)
variierende) Faktoren, wie z .B. das Arbeits- zu formen. Dass diese Sätze nicht über eine
gedächtnis, Hirnläsionen, Aufmerksamkeits- Bedeutung im engeren Sinn verfügen müssen
funktionen, Hör- und Sehvermögen, Lebens- („Farblose grüne Ideen schlafen wütend.“), ist
alter oder spezielle Expertise moderieren nach- ein wichtiger Aspekt. Sprache im Verständnis
weislich sprachliche Funktionen im Gehirn und der FLN ist von der eigentlichen Kommunika-
zeigen damit, dass Laut-, Gebärden- und auch tion abstrahiert und funktioniert nach einem
Schriftsprachen nicht unabhängig und abge- zweckfreien Regelsystem. Die biologischen
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trennt von anderen sensorischen und kogniti- Limitationen, die einen menschlichen Spre-
ven Systemen im Gehirn existieren. Eine aus- cher im Gebrauch der Lautsprache einschrän-
führliche Beschreibung dieser Sachverhalte ken (begrenztes Lungenvolumen, begrenztes
findet sich bei Bender (2018). Arbeitsgedächtnis, begrenzte sensomotori-
sche Kapazitäten für die Planung und Ausfüh-
rung einer Artikulation, Konzentration auf
18.3. Sprache der Tiere konkrete, kontextabhängige, kommunikative
und intentionale Inhalte), grenzen die FLB von
Immer wieder wird Sprache als die heraus- der FLN ab (Abb. 18-4).
ragende Fähigkeit betrachtet, die dem Men-
schen vorbehalten ist. Tiere besitzen ein bis-
weilen sehr spezifisches Signalinventar zur 18.4. Produktion von Lauten
Kommunikation untereinander (z. B. der Tanz und Sprache
der Honigbienen oder der Gesang von Walen,
die olfaktorischen Signale von Hunden), das Zur Entstehung von Lauten tragen viele Kör-
sich aber in vielen Aspekten von der mensch- perteile bei. Am Anfang der Lautproduktion
lichen Sprache unterscheidet. Zur Kommuni- steht ein Luftstrom, der aus den Lungen
kation nutzen Tiere nach heutigem Wissen durch die Luftröhre (Trachea) und die Stimm-
zumeist ein fixes Signalinventar, das kontext- lippen in den Kehlkopf (Larynx) gedrückt wird
abhängig verwendet wird und kaum symboli- (Abb. 18-5).
sche Referenzen erlaubt. Folglich wird die Die Stimmlippen werden durch den Luft-
Sprachfähigkeit im eigentlichen Sinn auf den strom in Bewegung gesetzt und beginnen mit
Menschen bezogen und damit eine kategori- einer Grundfrequenz (F0) zu schwingen. Die
sche Grenze zwischen menschlicher und tieri- Frequenz dieser Vibrationen ist abhängig von
scher Sprache gesetzt, sodass im Zusammen- den Muskeln, die den Tonus der Stimmlippen
hang mit der menschlichen Lautsprache auch kontrollieren. Die Grundfrequenz variiert ab-
von Faculty of language in a narrow sense (FLN; hängig von Geschlecht bzw. Körpergröße ei-
Hauser et al., 2002) gesprochen wird. Dieses nes Sprechers zwischen 100 und 400 Hz. Die
Verständnis von Sprache im engeren Sinn Stimmbänder bzw. der Kehlkopf (Larynx) fun-
grenzt sie explizit von jeder allgemeinen Form gieren dabei als eigentlicher Generator eines
tierischer und menschlicher Kommunikation Sprachlauts. Oberhalb der Stimmlippen wan-
(Faculty of language in a broad sense, FLB) ab dert der Luftstrom durch den Vokaltrakt (An-
und betont Eigenschaften menschlicher Spra- satzrohr) zu dem Pharynx sowie Mund- und
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562 18. Sprache und Kommunikation
FLB
konzeptuelle-intentionale
Anteile
FLN
Rekursion
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Farblose grüne
Ideen
FLB
übrige
Anteile
schlafen
zornig.
FLB
sensomotorische
Anteile
Abbildung 18-4: Hypothetische Unterscheidung der Sprache in zwei Bereiche (Hauser et al., 2002). Die
FLB enthält dabei jene Kapazitäten, die Teile von Sprachen im Allgemeinen sind, teilweise unabhängig
davon, ob sie spezifisch für menschliche Sprache sind. Primär handelt es sich dabei um Bereiche (senso-
motorische Integration, intentionale und konzeptuelle Komponenten), die Teil von menschlichen und
tierischen Kommunikationssystemen sind. Die FLN hingegen umfasst Aspekte der menschlichen Spra-
che (z. B. rekursive Grammatik), die nicht Komponenten von Tiersprachen sind. (Nachgezeichnet nach
Hauser et al., 2002)
Nasenhöhle zählen und der wie der Körper ei- ren. Die Stellung der Artikulatoren zueinander
nes Instruments als Resonanzraum dient. Dort bestimmt schlussendlich die Form des Sprach-
wird der noch weitgehend konturlose Luft- lauts, indem die akustische Energie, die durch
strom endgültig zum Sprachlaut umgeformt. die Vibrationen der Stimmlippen produziert
Diese Umformung erfolgt durch die sogenann- wurde, weiter manipuliert wird. Somit wirken
ten Artikulatoren, zu denen u. a. die Zunge, die Artikulatoren ähnlich wie Filter, die die
die Lippen, der Gaumen und der Kiefer gehö- Formanten im laryngealen Schallsignal (Viel-
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18.4. Produktion von Lauten und Sprache 563
zahlige der Grundfrequenz) manipulieren und stellt, die die Entstehung eines akustischen
somit unspezifische Vokalisationen in Sprach- Sprachsignals beschreibt. Doch was passiert
laute transformieren (Abb. 18-6). im Gehirn, bevor der Artikulationsapparat da-
In anschaulicher Form werden diese Zu- mit beginnt, Laute zu einer sprachlichen Äu-
sammenhänge im Quelle-Filter-Modell zu- ßerung zu formen? Wie entsteht die linguisti-
sammengefasst (Abb. 18-6), das jedoch nur den sche Struktur im kognitiven Apparat, die einen
letzten Teil einer Kaskade von Prozessen dar- Gedanken in das Gerüst eines Satzes transfor-
Mundhöhle Epiglottis
Stimmlippen
Gaumen
Laut-
ausgabe
Pharynx
Zunge
Trachea Luftstrom
Trachea
aus der Lunge
Abbildung 18-5: Darstellung der Lautentstehung (Quelle-Filter-Modell). Kehlkopf (B) und Vokaltrakt (A)
übernehmen dabei unterschiedliche Funktionen. Der Luftstrom aus der Lunge durchströmt den Larynx.
Dessen Beschaffenheit bestimmt die Tonhöhe und die Stimmqualität (z. B. Flüstern) und damit die Ton-
lage eines Sprachlauts. Im Vokaltrakt (Ansatzrohr) bestimmt die Stellung der Artikulatoren (Zunge, Gau-
men, Kiefer etc.) wie ein Filter die genaue Beschaffenheit des Lauts. (Nachgezeichnet nach Fitch, 2010)
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564 18. Sprache und Kommunikation
Intensität
geschränkt gültig ist.
Wernickes Vorstellungen vom Zusammen-
1 000 2 000 3 000 4 000
hang von Sprache und Gehirn gelten heute als
Frequenz (Hz) Vorläufer eines einflussreicheren Modells,
/i/ des Diskonnektionsparadigmas von Lud-
Intensität
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18.5. Funktionelle Neuroanatomie sprachlicher Äußerungen 565
A) Mensch B) Schimpanse
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Abbildung 18-8: Laterale Ansicht der linken Hemisphäre eines menschlichen Gehirns (A) und des Ge-
hirns eines Schimpansen (B). Der Vergleich veranschaulicht auf der einen Seite einen Größenunterschied
und zeigt auf der anderen Seite die vergleichbare Struktur der Windungs- und Furchenmuster im Gehirn
der beiden Spezies (nach Jürgens, 2003).
werden. Die Temporallappen, die für die Spra- pekte der Sprachverarbeitung, die bei den
che besonders relevant sind, sind beim Men- aktuellen Modellen im Vordergrund stehen.
schen im Vergleich zum Hominiden über- Die „Sprachzentren“ des klassischen Modells
proportional zum Gesamthirnvolumen ver- sind anatomisch schlecht definiert und die
größert (Abb. 18-9). Weitere entscheidende Beschreibungen stimmen nicht mit dem heu-
Unterschiede sind die mächtigen Fasertrakte, tigen neuroanatomischen Wissen überein.
die sprachrelevante Areale miteinander ver-
binden (Friederici, 2017) sowie zellarchitekto-
nische Besonderheiten dieser Areale, die es in 2.50
2.25
nicht gibt (Buxhoeveden et al., 2001).
Aber gibt es nun so etwas wie ein mensch- 2.00
liches Sprachzentrum? In einigen Lehrbüchern
1.75
wird zwar immer noch die Existenz eines an-
terioren (Broca-Areal) und eines posterioren 1.50
Sprachzentrums (Wernicke-Areal) in der lin-
ken Hemisphäre postuliert, Untersuchungen 1.25
Hominiden
aus den letzten Jahren haben jedoch immer Menschen
1.00
mehr Zweifel an diesem traditionellen Mo-
dell aufkommen lassen. Zum einen sind die 1.75 2.00 2.25 2.50 2.75 3.00 3.25
Gehirnvolumen in cm3
Aussagen des traditionellen Modells auf die
Wortebene beschränkt, sodass z. B. Syntax Abbildung 18-9: Das Diagramm zeigt das Verhält-
praktisch ausgeschlossen ist. Die mecha- nis zwischen Temporallappen- und Gesamthirn-
nische Sprachperformanz (Nachsprechen, Ar- volumen im Vergleich zwischen Menschen und
tikulation) wird höher gewertet als subtile As- Hominiden (nach Rilling, 2006).
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566 18. Sprache und Kommunikation
Insbesondere die genaue Lage des Wernicke- dert? Mit der Etablierung bildgebender Ver-
Areals ist bis heute unbestimmt und es existie- fahren (Kap. 5.3., 5.4., 5.5.) in den letzten
ren viele, zum Teil einander widersprechende zwei Jahrzehnten wurde das Wissen um die
Definitionen (Tremblay & Dick, 2016; Binder, zerebrale Organisation der Sprache komplett
2017). Schließlich gereicht es dem traditio- neu geschrieben. Zwar bestätigten die zahl-
nellen Modell zum Nachteil, dass es aus- reichen Studien zu diesem Thema, dass
schließlich die linke Hemisphäre fokussiert Sprachproduktion und -verarbeitung bei der
und läsionsbasiert ist. Der britische Neurologe überwiegenden Mehrheit der Menschen in der
John Hughlings-Jackson kritisierte diesen linken Hemisphäre erfolgen, aber es wurden
Sachverhalt schon vor hundert Jahren mit dem auch überraschende Befunde im Hinblick auf
Verweis, dass Aussagen über die zerebrale die rechte Hemisphäre erbracht, wie in Abbil-
Organisation von Sprache auf der Basis von dung 18-10 dargestellt ist.
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Läsionsstudien irreführend sein könnten Die Einsicht, dass eine eindeutige Zuord-
(Catani & Mesulam, 2008). Demnach kann nung von linguistischen Operationen zu eng
für eine bestimmte Beeinträchtigung einer umschriebenen Hirnarealen nicht möglich ist,
sprachlichen Funktion eine Läsion einer be- sowie die Beobachtung, dass die rechte Hemi-
stimmten kortikalen Region oder aber eine sphäre ebenfalls einen erheblichen Beitrag zur
Schädigung der Verbindung zwischen zwei Sprachverarbeitung leistet, erforderten ein
oder mehr kortikalen Regionen ursächlich neues Herangehen an die Frage, wie Sprache
sein. Nichtsdestotrotz entstand auf der Basis im Gehirn repräsentiert ist. Allein mit der
der ersten systematischen Beobachtungen funktionellen Magnetresonanztomografie, die
von Paul Broca, Carl Wernicke und anderen über eine schlechte zeitliche Auflösung verfügt
Zeitgenossen ein großes Wissen über die un- und die Bedeutung lokaler neuraler Verarbei-
terschiedlichsten Formen von Schädigungen tung im Vergleich zur Bedeutung von weit dis-
der Sprachfunktionen, die heute als Aphasien tribuierten Netzwerken überbewertet, können
bezeichnet werden. die Fragen, die sich im Hinblick auf die funk-
Bis heute erfolgt in der klinischen Neuro- tionelle Neuroanatomie von Sprachfunktionen
psychologie die Klassifikationen von Aphasien stellen, nicht beantwortet werden. Um zu ei-
auf Grundlage des Wernicke-Lichtheim-Mo- nem umfassenden Bild zu gelangen, ist es not-
dells. Dabei ist zu beachten, dass auch heute wendig, räumliche und zeitliche Aspekte der
niemand mehr davon ausgeht, dass eine so- Verarbeitung und Produktion von Sprache mit
genannte Broca-Aphasie allein durch eine Lä- komplementären Methoden zu untersuchen.
sion des Broca-Areals ausgelöst wird. Vielmehr Nur durch die Kombination von funktioneller
dienen aphasische Diagnosetests der genauen und struktureller Magnetresonanztomografie
Charakterisierung sprachlicher Defizite, wo- sowie zeitlich hochauflösenden Elektroenze-
bei die Störungen der Sprachproduktion ge- phalografie kann ein Modell der Sprachreprä-
nauso beurteilt werden wie Defizite bei der sentation im Gehirn entstehen, das dem An-
Sprachwahrnehmung. Das Wissen um die spruch an eine vollständige Beschreibung der
exakte Lokalisation einer Läsion ist für die komplexen Realität genügt. Im Folgenden
Therapie in der klinischen Neuropsychologie wird das Modell der Leipziger Neuropsycho-
sekundär. Eine Abhandlung zum gegenwärti- login Angela Friederici dargestellt, das zeitli-
gen Stand der Aphasiologie findet sich bei che und räumliche Aspekte der Sprachver-
Weniger (2012). arbeitung integriert (Friederici, 2017).
Aber was hat sich seit der Zeit der Entste- Anders als das traditionelle Modell bezieht
hung des Wernicke-Lichtheim-Modells geän- das Modell von Friederici elementare und
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18.5. Funktionelle Neuroanatomie sprachlicher Äußerungen 567
y (mm)
z (mm) 60 40 20 00 –20 –40 –60 –80 –80 –60 – 40 –20 00 20 40 60
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20 20
0 0
–20 –20
–40 –40
–60 –60
Abbildung 18-10: Die Abbildung zeigt Daten zweier Metaanalysen (Vigneau et al., 2006; 2011). Über 150
bildgebende Studien zu verschiedenen Aspekten der Sprachverarbeitung wurden analysiert. Es zeigt
sich, dass über diese Studien hinweg die Aktivierung während der Sprachverarbeitung nicht auf ein oder
zwei Zentren beschränkt ist. Stattdessen sind große Teile der Großhirnrinde in einem Gebiet rund um die
Sylvische Fissur und den Sulcus praecentralis involviert. Dieses Gebiet wird auch perisylvischer Kortex
genannt. Diese sprachrelevanten Aktivierungsmuster finden sich in der linken und rechten Hirnhälfte.
In diese Metaanalyse waren Studien einbezogen, die phonologische (obere Reihe), lexikosemantische
(mittlere Reihe) und syntaktische bzw. unspezifische (Satz-)Verarbeitungen (untere Reihe) untersucht
hatten. Die Metaanalyse bestätigt eine relative linkswärtige Sprachlateralisation, aber zeigt auch deut-
lich, dass eine eindeutige Zuordnung von linguistischen Operationen zu eng umschriebenen Hirnarealen
nicht möglich ist (nach Vigneau et al., 2011).
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568 18. Sprache und Kommunikation
höhere Ebenen linguistischer und paralinguis- der Verarbeitung und Integration linguisti-
tischer Aspekte lautsprachlicher Verarbeitung scher Ebenen. In einer ersten Phase wird auf-
auf Satzebene ein. Des Weiteren verzichtet es grund der eintreffenden sprachlichen Infor-
weitgehend auf die Integration von Daten aus mationen eine initiale Phrasenstruktur auf
Patientenstudien, da Hirnläsionen sich häufig Basis der Wortkategorieinformationen erstellt.
nicht auf eng umschriebene Areale eingrenzen In einer zweiten Phase beginnt die Analyse der
lassen und diffuse Wirkungen haben, die kei- semantischen und syntaktischen Informatio-
nen kausalen Rückschluss auf die Lokalisation nen. Sind diese lexikalischen und syntakti-
einer Sprachfunktion zulassen. schen Operationen abgeschlossen, erfolgt die
Dem Modell von Friederici zufolge lässt endgültige thematische Rollenzuweisung (wer
sich die Satzverarbeitung in Echtzeit in macht was mit wem) und damit die finale In-
mehrere Phasen unterteilen (Abb. 18-11 und terpretation einer sprachlichen Äußerung. Ist
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18-12). Einer initialen Phase der akustisch- nach dieser Analyse noch keine endgültige In-
phonologischen Analyse folgen drei Phasen terpretation möglich oder befinden sich im
1 000 INTERPRETATION
250
150
N100 AKUSTISCH-PHONETISCHER
PROZESSOR
0
Zeit in ms LH RH
Abbildung 18-11: Die Abbildung zeigt das Modell der auditiven Satzverarbeitung von Angela Friederici.
Die rechte Seite veranschaulicht die einzelnen sequenziellen und parallelen Schritte von der initialen
akustisch-phonetischen Analyse bis zur endgültigen Interpretation einer sprachlichen Äußerung. Dem
Modell zufolge findet die Verarbeitung semantischer und syntaktischer Informationen sowie die thema-
tische Integration dieser Teilprozesse präferiert in perisylvischen Regionen der linken Hemisphäre statt,
während die Verarbeitung der Prosodie eines Satzes bevorzugt in den kontralateralen Regionen der
rechten Hemisphäre geschieht. Links befindet sich die Zeitleiste des Verarbeitungsprozesses in Echtzeit
sowie die korrespondierenden Komponenten der ereigniskorrelierten Hirnpotenziale. (Nachgezeichnet
nach Friederici et al., 2011)
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18.5. Funktionelle Neuroanatomie sprachlicher Äußerungen 569
A) B) C)
–5 μV N400 –5 μV –5 μV
Cz ELAN F7 Pz
0 0 0
5 5 5
0 0.5 1 1.5 s 0 0.5 1 1.5 s 0 0.5 1 1.5 s
P600
Das Hemd wurde gebügelt. Das Hemd wurde gebügelt.
F7
Das Gewitter wurde gebügelt. Cz Die Bluse wurde am gebügelt.
Pz
Abbildung 18-12: Die Abbildung zeigt ereigniskorrelierte Hirnpotenziale während der auditorischen
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Satzverarbeitung. (A) Die N400-Komponente an der Elektrode Cz (gepunktete Linie) reflektiert eine In-
kongruenz, die durch die Präsentation eines unpassenden Wortes („gebügelt“) ausgelöst wurde. (B) Die
ELAN an der linksfrontalen Elektrode F7 (gestrichelte Linie) zeigt die Entdeckung der Verletzung der
initialen Phrasenstruktur unmittelbar nach dem Wort „gebügelt“. (C) Die P600-Komponente an der pa-
rietalen Elektrode Pz (gestrichelte Linie) spiegelt die Prozesse während der Phase der Revision einer
inkorrekten Phrasenstruktur wider. Die durchgezogeneninien stellen jeweils die EKP für die korrespon-
dierenden Worte in den korrekten Bedingungen dar. (Nachgezeichnet nach Friederici, 2002).
Satz ambige Strukturen, wird der Satz einer 18.5.1. Zeitliche Organisation der
erneuten Revision unterzogen, bei der Refe- auditiven Sprachverarbeitung
renz auf Kontext- und Diskurswissen genom-
men wird. In dem Satz „Die Touristen bedro- Eine lautsprachliche Äußerung ist ein Signal,
hen die Terroristen.“ kann nur eine solche das sich in der Zeit entfaltet. Sprachverstehen
kontext- und diskursgeleitete Revision des erfolgt daher in Echtzeit. Schon während die
Satzes eine plausible Interpretation liefern, da ersten Anteile des akustischen Signals über
die syntaktische und lexikosemantische Ana- das Ohr und die subkortikale Hörbahn in die
lyse aufgrund der ambigen Satzstruktur keine Hörrinde gelangen, beginnt das sprachver-
eindeutige Lesart ergibt. arbeitende System mit der Analyse dieser In-
Während der auditorischen Satzverarbei- formationen. Fast zeitgleich beginnt eine
tung interagieren diese Phasen mit der Ver- Reihe serieller und paralleler Analysen, die
arbeitung prosodischer Informationen. Pro- auf der höheren Ebene der Sprachverarbei-
sodische Markierungen in lautsprachlichen tung stattfinden. Aufgrund von Untersuchun-
Äußerungen signalisieren, ob es sich bei einem gen mit ereigniskorrelierten Hirnpotenzialen
Satz um eine Frage oder eine Feststellung han- (EKP; Kap. 18.5.4.) können aktuell Modula-
delt, legen die Position einer besonderen Beto- tionen bestimmter EKP-Komponenten mit
nung eines Elements (Satzakzent) oder die Prozessen während der einzelnen Phasen der
Grenzen von Intonationsphrasen zur besseren Satzverarbeitung assoziiert werden (Abb. 18-12
Phrasierung eines Satzes fest. und 18-13).
Die erste EKP-Komponente, welche die Ver-
arbeitung phonemischer Information reflek-
tiert, ist die N100-Komponente, eine Negati-
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570 18. Sprache und Kommunikation
vierung mit einer maximalen Amplitudenlatenz Verbalphrase „gebügelt“ an einer Stelle, die
von ca. 100 ms nach Beginn eines Reizes. Die den Satz syntaktisch inkorrekt werden lässt.
N100-Komponente ist ein unspezifischer Bio- Im korrekten Fall wäre dem Hilfsverb „wurde“
marker für auditorische Verarbeitung, der eine komplette Präpositionalphrase (z. B. „am
nicht nur bei der Phonem- oder Silbenanalyse, Samstag“) nachgestellt. Ist diese unvollstän-
sondern auch im Zusammenhang mit der Ver- dig, ist die initiale Phrasenstruktur inkorrekt,
arbeitung von Tönen, Klängen, Musik oder was durch die Auslösung der ELAN indiziert
Stimmen beobachtet werden kann. Oftmals wird. Die ELAN zeigt ihre maximale Auslen-
tritt die N100-Komponente auch in einem kung bei Verletzungen der Wortkategoriein-
Komplex mit einer unmittelbar folgenden Po- formation während des Erstellens der initia-
sitivierung mit einer Gipfellatenz von 200 ms len Phrasenstruktur mit einer Gipfellatenz
nach Stimulusbeginn, der P200-Komponente, von ca. 120–200 ms. Nach dem Modell von
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auf. Beide Komponenten reflektieren linguisti- Friederici reflektiert die ELAN somit die erste
sche Eigenschaften eines sprachlichen Reizes Phase der Satzverarbeitung. Insofern erfolgt
(handelt es sich um ein reguläres Phonem der die Verarbeitung der Wortkategorien und der
jeweiligen Muttersprache), sind aber auch sen- initialen Phrasenstruktur noch vor der seman-
sitiv für Modulationen der Aufmerksamkeit. In tischen Verarbeitung. In Studien zur Quellen-
Studien zur Quellenschätzung der N100-Kom- schätzung der ELAN konnten übereinstim-
ponente konnte übereinstimmend der audito- mend das linke anteriore Planum supratempo-
rische Kortex als Generator und somit als erste rale als primärer Generator und das linke
kortikale Station der zentralen auditorischen frontale Operculum als sekundäre Quelle
Sprachverarbeitung identifiziert werden. Ob- identifiziert werden.
wohl diese initialen Schritte einer phonologi- Nach der Erstellung der initialen lokalen
schen Verarbeitung nachweislich bilateral in Phrasenstruktur werden während der Satzver-
den Gebieten der Hörrinde ablaufen, sind au- arbeitung die semantischen und syntaktischen
ditorische Regionen in der linken Hemisphäre Beziehungen der einzelnen Satzkonstituenten
bereits in diesem Stadium dominant, was das untereinander bestimmt. Um zu einer Inter-
besondere sprachsensitive Privileg der linken pretation, wer was mit wem macht, zu kom-
perisylvischen Region unterstreicht. men, müssen lexikosemantische und morpho-
Die erste EKP-Komponente auf Satzebene syntaktische Markierungen mit den anderen
ist die Early left anterior negativity (ELAN), Satzkonstituenten übereinstimmen. Beispiels-
die mit der Identifikation der syntaktischen weise müssen die vorhandenen grammati-
Wortkategorieinformation (Verb, Nomen, Prä- schen Objekte mit der Argumentstruktur eines
position) in Zusammenhang gebracht wird. Verbs kongruent sein oder es müssen mindes-
Ausgehend von der korrekten Identifikation tens ein Nomen und Verb numeruskongruent
der Wortkategorieinformation wird in Echtzeit sein, damit der Satz eine korrekte Struktur auf-
die lokale Phrasenstruktur eines Satzes be- weist. Dem Modell von Friederici zufolge ent-
stimmt. Der Aufbau dieser vorläufigen Satz- spricht diese Ebene der Analyse der Phase
struktur geschieht automatisch und ist nicht zwei. Zwei EKP-Komponenten lassen sich
von Modulationen der Aufmerksamkeit zu diesen Verarbeitungsschritten zuordnen. Eine
beeinflussen. Taucht während dieses Prozes- linksanteriore Komponente (LAN) reflektiert
ses plötzlich ein Element auf, das nicht in die Verletzungen der morphosyntaktischen Inte-
korrekte Phrasenstruktur passt, ist die Aus- gration. In Sätzen wie „Die Frau küssen der
lösung der ELAN zu beobachten. In dem Satz Mann.“ oder „Er brachte den Jungen den Va-
„Die Bluse wurde am gebügelt.“ erscheint die ter.“ findet sich jeweils eine lokale morphosyn-
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18.5. Funktionelle Neuroanatomie sprachlicher Äußerungen 571
taktische Verletzung, die im Vergleich mit der in der Nähe der auditorischen Rindengebiete
korrekten Variante des Satzes eine LAN aus- in den Temporallappen lokalisiert werden.
löst, auf die wiederum eine spätere Positivie- Dem Modell von Friederici zufolge existiert
rung folgt. eine dritte Phase der auditorischen Satzver-
Die zweite Komponente während dieser arbeitung. Während dieser Phase werden die
Phase der Satzverarbeitung ist die N400- in Echtzeit ermittelten Informationen inte-
Komponente, eine Negativierung mit einer griert, um zu einer finalen Interpretation zu
Gipfellatenz von ca. 400 ms und einer zen- kommen. Kommt es im Zuge dieser Integra-
troparietalen Skalpverteilung, die Verstöße tion zu Problemen aufgrund von lokalen Am-
gegen semantische Kongruenz anzeigt biguitäten („Das ist die Professorin, die die
(Abb. 18-12). Die N400-Komponente ist die Studentinnen gesucht haben.“) oder nicht
am meisten untersuchte sprachsensitive EKP- präferierten Wortstellungen („Er meinte, dass
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Komponente. Sie gilt als Komponente, die In- Lisa verursacht Ärger.“), kann unter Umstän-
kongruenzen bei der lexikosemantischen Ver- den eine syntaktische Reanalyse oder Revision
arbeitung signalisiert. Die Amplitude der der Satzstruktur erzwungen werden, die durch
N400-Komponente spiegelt eine Reihe von eine späte Positivierung mit einer Gipfellatenz
Verstößen gegen die semantische und lexika- von 600 ms und einer zentroparietalen Skalp-
lische Integration wider (für eine Übersicht sei verteilung charakterisiert ist (Abb. 18-13). In
auf Lau et al., 2008, verwiesen.). Die promi- anderen Fällen, in denen eine inkorrekte ini-
nenteste Funktion der N400-Komponente ist tiale Phrasenstruktur eine Umstellung im Sinne
die Indizierung von Inkongruenzen, die da- einer Reparatur erfordert, tritt mitunter auch
durch entstehen, dass ein Wort nicht in den eine P600-Komponente auf. Dabei deuten
Kontext eines Satzes passt („Das Gewitter topografische Analysen der beiden P600-Vari-
wurde gebügelt.“; Abb. 18-12). Insgesamt gilt anten an, dass es sich bei der Reanalyse und
die N400-Komponente als ein Biomarker für der Reparatur um unterschiedliche Prozesse
lexikalische und semantische Prozesse, Kon- handelt. Neuerdings wird die P600 als eine
textplausibilität, aber auch Plausibilität auf- Komponente betrachtet, die nicht nur syntak-
grund allgemeinen Wissens. Im Zusammen- tische, sondern auch semantische Integration
hang mit Prozessen, die ohne Kontext- und auf Satzebene anzeigen kann, z. B. während
Weltwissen auskommen, korreliert die N400- einer Plausibilitätsprüfung des Verbs und sei-
Komponente teilweise mit semantischen und ner Argumente. Studien zur Quellenschät-
syntaktischen Verarbeitungsschritten. Für die zung der P600-Komponente berichten, dass
korrekte Auflösung der Verb-Argument-Infor- die Generatoren für diese Komponente je nach
mation müssen die semantischen Eigenschaf- Funktion in den mittleren und hinteren Ab-
ten des verwendeten Nomens bekannt sein. schnitten der Schläfenlappen liegen.
Das Verb „töten“ verlangt ein belebtes No- Die auditorische Satzverarbeitung erfor-
men, z. B. „die Frau töten“. Eine Inkongruenz dert nicht nur die Integration syntaktischer
entsteht in der Kombination von „töten“ mit und semantischer Informationen, sondern
einem unbelebten Nomen, z. B. „den Ball tö- auch die Analyse prosodischer Strukturen.
ten“. Uneindeutige Kombinationen können in Eine Komponente des EKP, die prosodische
metaphorischen Zusammenhängen auftau- Verarbeitung auf Satzebene anzeigt, ist der
chen („die Liebe töten“) und werden von einer Closure positive shift (CPS; Abb. 18-14).
kleineren N400-Amplitude angezeigt. In Stu- Diese Komponente markiert die Position von
dien zur Quellenschätzung der N400-Kom- Intonationsphrasengrenzen in gesprochenen
ponente konnten überwiegend Generatoren Sätzen, die meist aus einer kurzen Unterbre-
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572 18. Sprache und Kommunikation
+2.0
350–450 ms 350–450 ms
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µV
500–700 ms 500–700 ms
–2.0
800–1100 ms 800–1100 ms
LH RH LH RH
Abbildung 18-13: Die Abbildung zeigt die unterschiedlichen topografischen Skalpverteilungen für die
beiden unterschiedlichen Varianten der P600-Komponente. Die Topografien zeigen den Zeitverlauf der
Potenzialdifferenzen während der Satzverarbeitung für drei Zeitfenster. (A) Die Potenzialdifferenz für die
P600-Komponente infolge einer syntaktischen Reparatur weist ein zentroparietales Maximum im mitt-
leren und späteren Zeitbereich auf. (B) Die Potenzialdifferenz für die P600-Komponente, die eine syn-
taktische Reanalyse anzeigt, geht mit einer frontozentralen Verteilung des Amplitudenmaximums im
mittleren und späteren Zeitbereich einher. (Nachgezeichnet nach Friederici, 2011)
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18.5. Funktionelle Neuroanatomie sprachlicher Äußerungen 573
IPh1
IPh2
Peter verspricht Anna zu ARBEITEN
und das Büro zu putzen
IPB
–5 µV
Pz
CPS
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IPB1 IPB2
Peter verspricht
ANNA zu entlasten
IPh1 und das Büro zu putzen
IPh2
IPh3
Abbildung 18-14: Die Abbildung zeigt ein Spannungs- x Zeit-Diagramm (Elektrode PZ) des Verlaufs der
EKP während der Verarbeitung von deutschen Sätzen mit unterschiedlicher Anzahl und Position der
Intonationsphrasengrenzen. Die Gipfellatenz des CPS korrespondiert mit der Position der Intonations-
phrasengrenzen in den gesprochenen Sätzen. (Nachgezeichnet nach Friederici, 2011)
chung im flüssigen Verlauf der sprachlichen Sprachsignals für den Spracherwerb angese-
Äußerung bestehen. Prosodische Modulatio- hen werden. Offensichtlich müssen Kleinkin-
nen wie die Verlängerung der Silbendauer ge- der sich mit der prosodischen Struktur ihrer
hen meist unmittelbar einem solchen Unter- Muttersprache vertraut machen, bevor der
bruch voraus und sind als die eigentlichen Aufbau syntaktischer und semantischer Re-
Auslöser des CPS anzusehen. Es konnte ge- präsentationen erfolgt. In Studien zur Ver-
zeigt werden, dass Kinder im Alter von neun arbeitung visuell präsentierter Sätze zeigte
Monaten ebenfalls einen CPS als Reaktion auf sich, dass Kommata analog zu den auditori-
die Verarbeitung einer Intonationsphrasen- schen Intonationsphrasengrenzen einen CPS
grenze zeigen. Dieser Befund kann als Hin- auslösen (Abb. 18-14). Der CPS ist also eine
weis auf die besondere Relevanz prälexika- Komponente des ereigniskorrelierten Hirn-
lischer, prosodischer Modulationen des potenzials, die mit dem Auftreten von proso-
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574 18. Sprache und Kommunikation
discher Phrasierung in gesprochenen und ge- kante des frontolateralen Operculums zur
schriebenen Sätzen korreliert. Obwohl der vorderen Inselrinde bildet. Das Broca-Areal
CPS als sprachrelevantes EKP unumstritten kann makroanatomisch in zwei Areale unter-
ist, gilt er nicht als eine der etablierten Kom- teilt werden, über deren funktionelle Implika-
ponenten, die mit den Stufen der auditori- tionen nach wie vor keine Einigkeit besteht.
schen Sprachverarbeitung in dem Modell von Den anterioren Anteil bildet der Pars triangu-
Friederici korrespondieren. laris, der rostral an den Pars orbitalis grenzt.
Der posteriore Anteil wird Pars opercularis
genannt und grenzt kaudal an den Sulcus
18.5.2. Neurale Signatur der laut- praecentralis. Beide Anteile werden nach dor-
sprachlichen Verarbeitung sal vom Sulcus frontalis inferior und nach
ventral von der Sylvischen Fissur begrenzt
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Wie oben ausgeführt, lässt sich die lautsprach- (Abb. 18-16). Der Begriff Broca-Areal wird
liche Verarbeitung nicht auf eng umschriebene ausschließlich im Zusammenhang mit der
Kortexareale eingrenzen. Stattdessen ist mitt- linken Hemisphäre verwendet. Das kontrala-
lerweile unumstritten, dass der gesamte peri- terale Areal wird als Broca-Homolog be-
sylvische Kortex, d. h. das bilaterale frontale zeichnet.
Operculum, das supratemporale Planum, die
laterale Konvexität des GTS, der Gyrus supra-
marginalis (GSM), das parietale und das Ro- Prämotorkortex
BA 45
die primär eine Rolle bei der Verarbeitung BA 47
temporaler Informationen im Sprachsignal BA 38
übernehmen. Nicht zuletzt durch die Etablie- frontales primärer
auditorischer Kortex
rung der diffusionsbasierten Traktografie hat Operculum (FOP)
Gyrus temporalis superior (GTS)
in den letzten Jahren die Kartierung der intra-
dorsaler Pfad I ventraler Pfad I
und interhemisphärischen Fasertrakte große pGTS zum Prämotorkortex GTS zum BA 45
Fortschritte gemacht. Neuere Erklärungs- via AF/SLF via EFCS
ansätze wie das Modell von Friederici integrie- dorsaler Pfad II ventraler Pfad II
pGTS zum BA 44 aGTS zum FOP
ren nun das anatomische Wissen um die Ar- via AF/SLF via UF
chitektur der Assoziationsbahnen, die die
Abbildung 18-15: Frontooperculare und superior
verschiedenen vorderen und hinteren Teile
temporale Abschnitte des perisylvischen Kortex
der perisylvischen Sprachareale verbinden
und die verbindenden intrahemisphärischen As-
(Friederici, 2017; Abb. 18-15).
soziationsbahnen. Diese Strukturen existieren
Die vordere perisylvische Sprachregion analog in der rechten und linken Hemisphäre und
wird primär aus dem frontalen Operculum bilden dorsale und ventrale Pfade. AF: Fasciculus
gebildet. Zu dieser Struktur zählen das Broca- arcuatus, SLF: Fasciculus longitudinalis superior,
Areal im GFI sowie das tiefe frontale Oper- EFCS: Capsula extrema, UF: Fasciculus uncinatus.
culum, das den Übergang von der Umschlag- (Nachgezeichnet nach Friederici, 2011)
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18.5. Funktionelle Neuroanatomie sprachlicher Äußerungen 575
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576 18. Sprache und Kommunikation
AS CS IPS
PS 7a
7b
6 22
45 44
STS
LH LH
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CS
IPS
PrCS 40
46 9 39
10
IFS 44
45 6 22
47
STS 21 37
LH LH
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18.5. Funktionelle Neuroanatomie sprachlicher Äußerungen 577
Kortex (BA 41, 42) von den angrenzenden au- Asymmetrie dieser sprachrelevanten Gebiete
ditorischen Assoziationsrindengebieten (vgl. hinweist und somit eine Hegemonie perisylvi-
Kap. 9). Rostral an den sekundären auditori- scher Regionen in der linken Hirnhälfte unter-
schen Kortex grenzt das Planum temporale streicht (Meyer et al. 2014). Ebenfalls weisen
(PT). Es erstreckt sich bis zum posterioren die großen perisylvischen Assoziationsbahnen,
Rand der Sylvischen Fissur und grenzt medial der SLF und der AF, signifikante linkswärtige
an den retroinsulären Kortex und lateral an die Asymmetrien auf.
Konvexität des GTS. Kaudal an den primären Die Verarbeitung lautsprachlicher Äuße-
auditorischen Kortex grenzt das Planum polare rungen beginnt mit der akustisch-phonolo-
(PPo). Es erstreckt sich über den gesamten vor- gischen Analyse der Sprachlaute (Abb. 18-
deren Anteil des supratemporalen Planums und 19). Diese Analyse erfolgt in den bilateralen
wird medial durch die Sylvische Fissur bzw. die periauditorischen Regionen. Während der
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anteriore Inselrinde und lateral durch die Kon- primäre auditorische Kortex auf jeden akusti-
vexität des GTS begrenzt. Sowohl das PT als schen Reiz reagiert, wird der lateral angren-
auch das PPo fallen in das BA 22, obwohl sie zende Teil des GTS bis in den ventral dazu
funktionell und neuroanatomisch deutlich von- gelegenen STS bei der Verarbeitung spektro-
einander zu unterscheiden sind. Dieser Um- temporaler Muster in nichtsprachlichen sowie
stand zeigt die Grenzen der zytoarchitektonisch in phonetischen Reizen aktiv. Demnach ist
basierten Kartierung von Korbinian Brodmann, diese Region nicht als sprachspezifisch, son-
die oftmals nicht mehr mit dem heutigen Wis- dern als sprachsensitiv anzusehen. Ähnlich
sen über das „Mapping“ von Struktur und Funk- verhält es sich mit dem PT in der linken Hemi-
tion übereinstimmt. Eine rezeptorarchitekto- sphäre. Auch diese Region reagiert auf be-
nische Unterteilung des oberen Schläfenlappens stimmte Informationen in sprachlichen und
liegt derzeit noch nicht vor. nichtsprachlichen Stimuli, v. a. auf zeitlich
Eine abschließende Antwort auf die Frage, schnell modulierte Wechsel im Bereich von
ob es für die signifikante linkswärtige Laterali- ca. 20 bis 50 ms, wie sie typisch für Formant-
sierung von Sprachfunktionen eine Entspre- übergänge und damit für die kategorielle Un-
chung in der strukturellen Asymmetrie gibt, terscheidung zwischen stimmhaften und
steht derzeit aus. Über viele Jahre hinweg wur- stimmlosen Phonemen sind. Das kontralate-
den Studien zur strukturellen Asymmetrie peri- rale PT präferiert dagegen langsame zeitliche
sylvischer Regionen anhand der Post-mortem- Modulationen im akustischen Signal, wie sie
und In-vivo-Morphometrie mit manuellen und typisch für melodische und rhythmische Ver-
automatischen Messverfahren durchgeführt. läufe sind (Meyer et al., 2018). Das PT ist
Als vorläufiges Fazit lässt sich festhalten, dass demnach auch keine sprachspezifische Re-
für das frontale Operculum offensichtlich gion, sondern kann als ein spektrotemporaler
keine systematische und stabile links- oder Prozessor für die Feinauflösung akustischer
rechtswärtige Asymmetrie existiert (Keller et Signale verstanden werden. Die linkswärtige
al., 2009). Für das PPo liegen derzeit keine Asymmetrie dieser Struktur könnte unmittel-
Daten vor, während der primäre und sekundäre bar mit der um den Faktor 10 höheren zeitli-
auditorische Kortex sowie das PT eine links- chen Auflösungsrate des linken im Vergleich
wärtige Asymmetrie auf der mikro- und ma- zum rechten PT assoziiert sein.
kroanatomischen Ebene aufweisen. Diese Diese Überlegungen werden von einem Mo-
manifestiert sich in der kortikalen Oberfläche dell aufgegriffen, das eine Arbeitsteilung der
anstatt in der kortikalen Dicke dieser Rinden- rechten und linken periauditorischen Regio-
gebiete, was auf eine genetisch angelegte nen bei der elementaren Sprachverarbeitung
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578 18. Sprache und Kommunikation
rale, weitergeleitet werden. Im PT findet eine Die AST-Hypothese erlaubt es, die Verarbei-
asymmetrische Verarbeitung des Signals statt. tung von lautsprachlichen Signalen auf einer
Während im linken PT primär schnell wech- elementaren Ebene zu untersuchen. Die Gül-
selnde akustische Muster mit einer Abtastrate tigkeit der Hypothese konnte durch zahlreiche
von ca. 40 Hz verarbeitet werden, arbeitet Studien belegt werden. Tatsächlich zeigt das
das rechte PT mit einer deutlich langsameren Planum temporale in der linken Hemisphäre
Auflösung von ca. 4 Hz. Dies entspricht Zeit- eine Präferenz für akustische Signale, die pho-
fenstern, die für die Identifikation temporaler netisch relevante Informationen encodieren.
LH RH
Relative Amplitudenhöhe
25 250 25 250
[40 Hz 4Hz] [40 Hz 4Hz]
Länge der Abtastfenster (ms) und assoziierte neurale Oszillationsfrequenz (Hz)
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18.5. Funktionelle Neuroanatomie sprachlicher Äußerungen 579
Der Hypothese zufolge sollte das rechte Pla- die neurale Signatur der Verarbeitung
sprachlicher Äußerungen
num temporale dagegen besser geeignet sein,
suprasegmentale prosodische Muster zu ver-
arbeiten. Die Intonationskontur oder der
Rhythmus eines Satzes, der durch Modula- L R
tion der Grundfrequenz entweder als Aussage
(„Lisa spielt Fußball.“) oder als Frage („Lisa
spielt Fußball?“) markiert wird, kann von den
neuralen Prozessoren im rechten Planum tem- Broca-Areal
porale besser erkannt werden. Auch diese Ver- semantisch und syntaktisch
mutung konnte empirisch bestätigt werden syntaktisch auditorisch
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580 18. Sprache und Kommunikation
Während der Phasen II und III sind inferior zu beschreiben. Da diese Region nicht Teil des
frontale und temporale Areale aktiv. Aufgrund auditorischen Systems im engeren Sinn ist,
zahlreicher Studien mit bildgebenden Verfah- müssen ihre Funktionen auch im Hinblick auf
ren schlägt das Modell von Friederici (2017) die Aufgaben bei der visuellen Sprachverarbei-
eine Aufteilung der distinkten Areale für unter- tung, bei der Verarbeitung von Gebärdenspra-
schiedliche Funktionen vor. Der anteriore linke che und bei motorischen Funktionen beurteilt
Gyrus temporalis superior ist immer involviert, werden. Zudem lassen sich den einzelnen Sub-
wenn kombinatorische syntaktische Operatio- regionen des frontalen Operculums unter Um-
nen ablaufen. Semantische Verarbeitung auf ständen unterschiedliche Funktionen zuord-
der Satzebene kann ebenfalls unter bestimm- nen. Zunächst sind das Broca-Areal und das
ten Bedingungen den anterioren Temporallap- tiefe frontale Operculum gleichsam in die Ver-
pen aktivieren. Insgesamt ist davon auszuge- arbeitung und Produktion von Sprache ein-
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hen, dass sich im Bereich des anteriorlateralen gebunden. Im Hinblick auf die Rolle des Broca-
Gyrus temporalis superior mindestens zwei Areals bei der Sprachverarbeitung müssen
unterschiedliche Systeme befinden, die jeweils unterschiedliche Funktionen in Betracht gezo-
die syntaktische und semantische Verarbei- gen werden. Zum einen scheint das Broca-
tung auf Satzebene unterstützen. Die anatomi- Areal das System der Spiegelneuronen im
sche Nähe zu den auditorischen Regionen er- menschlichen Gehirn zu beherbergen und da-
klärt zudem, warum der anteriorlaterale Gyrus mit eine wichtige Rolle bei Top-down-basier-
temporalis superior in Studien zur auditori- ten Prozessen während des Spracherwerbs und
schen Satzverarbeitung signifikant häufiger bei der auditorisch-motorischen Integration
beteiligt ist als bei vergleichbaren Studien zur sprachlicher Signale zu spielen. Zum anderen
visuellen Modalität. kommt dem Broca-Areal eine entscheidende
Der posteriore Gyrus temporalis superior Funktion bei der Verarbeitung besonders kom-
und der Sulcus temporalis superior sind dem plexer Sätze zu, die aus vielen Nebensätzen
Modell von Friederici (2017) zufolge ebenfalls bestehen (z. B.: „Das ist der Mann, der die Frau,
in die Verarbeitung syntaktischer und seman- die das Kind, das das Mädchen, das blonde
tischer Informationen einbezogen. Die wich- Haare hat, schlug, schimpfte, sah.“) bzw. eine
tigste Funktion in diesem Zusammenhang ist ungewöhnliche Wortstellung haben („Den
die Integration von syntaktischen Informatio- Geldschein hat dem Mädchen die Mutter gege-
nen über die Phrasenstruktur und Informatio- ben“). Bei diesen Satzstrukturen muss die hie-
nen über die Verb-Argument-Strukturen. Eine rarchische Organisation der Satzkonstituenten
andere Funktion des posterioren GTS/STS ist mit der eigentlich präferierten Lesart in Über-
die Verarbeitung syntaktischer und semanti- einstimmung gebracht werden, was eine revi-
scher Ambiguitäten während der Satzverarbei- dierte Segmentierung bzw. Sequenzierung der
tung. Dabei spielt die Nähe dieser Region zu einzelnen Teile des Satzes erfordert. Daher gilt
den weiten semantischen Assoziationsarealen es als wahrscheinlich, dass das Broca-Areal
in den mittleren und inferioren Abschnitten zum Teil auch Aspekte des verbalen Arbeits-
der Temporallappen eine große Rolle, die über gedächtnisses kontrolliert, das notwendig ist,
Brücken weißer Substanz (plis des passages) um linguistische Operationen auf der Ebene
im STS mit den lautsprachlich relevanten solcher komplexen Satzstrukturen durchfüh-
Arealen im GTS verbunden sind. ren zu können. Auf einer rein linguistischen
Die Funktionen des Broca-Areals bzw. des Ebene konnten die distinkten Subregionen des
frontalen Operculums bei der Verarbeitung Broca-Areals unterschiedlichen Aspekten der
sprachlicher Äußerungen sind nicht eindeutig Sprachverarbeitung zugeordnet werden (Frie-
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18.5. Funktionelle Neuroanatomie sprachlicher Äußerungen 581
derici, 2017). Dazu zählen der Aufbau einer Kern dieses Modells ist die enge Verknüp-
syntaktischen Phrasenstruktur (opercularis), fung von sensorischen Netzwerken für die
die Zuweisung thematischer Rollen (opercula- Sprachverarbeitung und motorischen Netz-
ris/triangularis), syntaktisch bedingte Ver- werken für die Artikulation. Diese beiden Netz-
schiebungen (syntactic movement) von Satz- werke sind anatomisch miteinander verbunden
konstituenten (opercularis/triangularis) und und wirken interaktiv aufeinander ein. So gibt
das Erlernen syntaktischer Regeln während es Hinweise darauf, dass der posteriore periau-
des Erst- und Fremdspracherwerbs. Zusam- ditorische Kortex in der linken Hemisphäre
menfassend lässt sich festhalten, dass auf- auch eine wichtige Rolle bei der Sprachproduk-
grund der aktuellen Datenlage nicht mit Be- tion spielt. Ein Beispiel für die Funktion des
stimmtheit gesagt werden kann, ob die dorsalen Pfads ist das vokale Imitieren, eine
Funktionen des Broca-Areals eng an sprach- Eigenschaft, die einzig dem Menschen vor-
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liche Funktionen gebunden sind oder ob sie behalten ist und für den Spracherwerb eine
eher im Zusammenhang mit allgemeinen ko- wichtige Rolle spielt. Um ein vorgesprochenes
gnitiven und motorischen Sequenzierungs-, Wort korrekt nachzusprechen, muss die phono-
Segmentierungs- und Strukturierungsprozes- logische Repräsentation des Wortes korrekt an
sen zu sehen sind. Vieles spricht für die letzte den Artikulationsapparat weitergegeben wer-
Vermutung. Im Kontext sprachlicher Verarbei- den. Dies geschieht über den dorsalen Pfad.
tung deutet vieles auf eine enge Verknüpfung Das Modell von Hickok und Poeppel beschreibt
syntaktischer Operationen mit dem Pars oper- eine Area Spt im hinteren Segment der Sylvi-
cularis des Broca-Areals hin, während die an- schen Fissur an der Grenze zwischen Tempo-
grenzenden Areale (Pars triangularis und tiefes ral- und Parietallappen, die Ausgangspunkt der
frontales Operculum) funktionell weniger spe- audiomotorischen Integrationsschlaufe ist.
zifiziert sind. Diese Area ist nicht sprachspezifisch, sondern
unterstützt auch die Verarbeitung und Produk-
tion von nichtsprachlichen gesummten Melo-
dien. Die Area Spt ist wahrscheinlich trotz ihrer
18.5.3. Neuroanatomische Korrelate Position inmitten sensorischer Felder im Tem-
der Sprachartikulation porallappen eng an artikulatorische Funktio-
nen gekoppelt und gilt als Ausgangspunkt des
Ein anderes Modell zur Neurobiologie der dorsalen Pfads. Ein solches audiomotorisches
Sprachverarbeitung fokussiert stärker den As- Integrationssystem, das phonologische Reprä-
pekt der Sprachproduktion (Hickok & Poeppel, sentationen unmittelbar in artikulatorische
2007). Ebenfalls diskutiert dieses Modell die Programme überführen kann, ist eine notwen-
Rolle eines bilateralen ventralen und eines dige Voraussetzung für die vokale Imitation
unilateralen linken dorsalen Pfads. Während und den Erwerb neuer Worte auch beim Erler-
die beiden ventralen Pfade für die spektrotem- nen von Fremdsprachen. Ohne eine „Rückmel-
porale Analyse der akustischen Informatio- dung“ des sensomotorischen Systems an das
nen, die phonologische Verarbeitung sowie die Artikulationssystem ist eine Optimierung der
Übersetzung von phonologischen in lexika- Aussprache neu gelernter Worte nicht möglich.
lische Repräsentationen zuständig sind, unter- Des Weiteren ermöglicht die Funktionalität
stützt der dorsale Pfad die Übersetzung von des dorsalen audiomotorischen Integrations-
sensorischen in motorische Informationen so- systems einen automatisierten Artikulations-
wie die artikulatorischen Netzwerke in GFI und vorgang, der sich dem semantischen Zugriff
in prämotorischen Arealen (Abb. 18-20). entzieht. Kinder können beispielsweise ohne
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582 18. Sprache und Kommunikation
A)
Sensomotorische
Artikulatorische Netzwerke Reize aus
Schnittstelle
pGFI, PM, anteriore Insula anderen
Parietal-temporal Spt
(links dominant) Dorsaler Pfad Sinnesmodalitäten
(links dominant)
B)
Abbildung 18-20: Schematische Ansicht des Modells zur Sprachverarbeitung von Hickok und Poeppel
(2007). Dem Modell zufolge befinden sich die sprachrelevanten Areale in kortikalen Gebieten der rechten
und linken Hemisphäre. Diese Areale sind durch Assoziationsbahnen miteinander verknüpft, über die
die akustischen Signale von der Hörrinde auf zwei verschiedenen Pfaden in den inferioren frontalen
Kortex gelangen. Während das Modell die Existenz eines ventralen Pfads für beide Hemisphären postu-
liert, geht es nur für die linke Hemisphäre vom Vorhandensein eines dorsalen Pfads aus. Areale für die
Sprachverarbeitung sind primär über den Temporallappen verteilt. Der neurale Strang für die senso-
motorischen und artikulatorischen Funktionen verläuft nur in der linken Hemisphäre vom posterioren
GTS durch den GSM zum inferioren frontalen Kortex (nach Hickok & Poeppel, 2007). PM: Prämotorkortex,
pGFI: posteriorer Gyrus frontalis inferior,GTS: Gyrus superior, aGTM: anteriorer Gyrus temporalis medius,
pGTM: posteriorer Gyrus temporalis medius, pSTI: posteriorer Sulcus temporalis inferior, aSTI: anteriorer
Sulcus temporalis inferior.
Weiteres Lieder mit fremdsprachlichen Tex- kulation erklärt. Die zeitgenaue Ansteuerung
ten singen, ohne deren Inhalt zu verstehen. des Artikulationsapparats durch die Willkür-
Dass der dorsale Pfad nur in der linken Hemi- motorik erfordert eine außergewöhnliche
sphäre zu existieren scheint, wird von einigen Präzision, sodass ein Zusammenspiel der
Wissenschaftler*innen mit den besonderen beiden Hemisphären eher von Nach- als von
Umständen im Zusammenhang mit der Arti- Vorteil wäre. Minimale Abweichungen in den
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18.5. Funktionelle Neuroanatomie sprachlicher Äußerungen 583
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Abbildung 18-21: Schematische Ansicht der frontotemporalen Verarbeitungspfade nach Glasser und
Rilling (2008). Neben einem dorsalen Pfad für den Transfer sensorisch-phonologischer Repräsentatio-
nen in der linken Hemisphäre (obere Hälfte) existiert ein dorsaler Pfad für den Transfer sensorisch-pro-
sodischer Repräsentationen in der rechten Hemisphäre (untere Hälfte). (Nachgezeichnet nach Glasser
& Rilling, 2008)
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584 18. Sprache und Kommunikation
die als Vorstufe für die Sprachproduktion an- schiedlichen Muster der Hirnaktivität in Fre-
zusehen sind. quenzbänder (δ < 4 Hz, θ 4–7 Hz, α 8–13 Hz,
Neben einem dorsalen Pfad für den Trans- β 13–30 Hz und γ > 30 Hz). Die Frequenz be-
fer sensorisch-phonologischer Repräsentatio- zeichnet demnach die Anzahl von Schwingun-
nen in der linken Hemisphäre existiert ein gen (Oszillationen) eines Verbands von Ner-
dorsaler Pfad für den Transfer von senso- venzellen innerhalb des Zeitraums einer
risch-prosodischen Repräsentationen in der Sekunde. Interessanterweise zeigte sich in den
rechten Hemisphäre. Dieser Pfad gewähr- letzten Jahren, dass es im Gehirn offensicht-
leistet die Bereitstellung der zur sprachlichen lich lokale, endogene „Oszillatoren“ gibt, die
Äußerung passenden suprasegmentalen In- auch im Ruhezustand des Gehirns mit relativ
tonationen und Rhythmen (Glasser & Rilling, konstanter Frequenz feuern, ohne dabei einer
2008, Sammler et al., 2018; Abb. 18-21). konkreten Aufgabe nachzugehen. In einer Stu-
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18.6. Die Sprache des Gehirns 585
nalen Ebene abgebildet werden können. Die- plitude bei 4 Hz aufweist (Ding et al., 2017;
sen aktiven Vorgang nennt man „entrainment“ Abb 18-22). Dieser relativ langsamen Schwin-
(Meyer et al., 2019). In der Kakophonie, die gung im Signal scheint also eine besondere
alltäglich an unsere Ohren gelangt, muss das Bedeutung als universeller Grundrhythmus
Gehirn sprachliche Äußerungen als solche er- bei der Produktion und Perzeption von gespro-
kennen, indem es akustische Muster anhand chenen Sprachen zuzukommen. Auffällig ist
ihrer temporalen Charakteristik auf ihre Pas- die Entsprechung zur theta-Band-Oszillation
sung (Kohärenz) den eigenen endogenen im Gehirn, die eben im 4-Hz-Frequenzbereich
Oszillationen zuordnet. In diesem Moment liegt. Aufbauend auf diesem Gedanken schla-
nehmen die Oszillatoren die feingekörnte gen Ding et al. (2016) einen Ansatz zum Ver-
akustische Struktur auf, indem Phasen im ständnis der Sprache-Gehirn-Beziehung vor,
Sprachsignal und im neuronalen Signal mög- der einerseits komplexere Verarbeitung auf
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lichst deckungsgleich überlagert werden. Die- der Satzebene einschließt, aber ohne die klas-
ses „phase-locking“ ist die Voraussetzung da- sischen linguistischen Begriffe wie Syntax und
für, dass zu einem späteren Zeitpunkt noch die
syntaktischen und symbolischen Informatio- Sprach Modulations Spektrum
nen verarbeitet werden können. Gleichsam
1
einem Reiter, der neben einem gesattelten
Pferd her läuft, muss das Gehirn seinen Rhyth-
0.8
mus exakt dem des „Pferdes“ anpassen, um
normalisierte Amplitude
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586 18. Sprache und Kommunikation
Grammatik auskommt. Die grundliegende nen über semantische Konzepte und beruht
Idee geht bei diesem Ansatz davon aus, dass auf phonologischen Variationen. So entspre-
das Gehirn aktiv die Konstituenten, aus denen chen z. B. den Phonemen der gesprochenen
ein Satz besteht, erkennen und damit den Satz Sprache in der GS die spezifische Stellung der
in kleinere Einheiten zergliedern kann, die Handform, die Bewegung der Hände und die
sich im Bereich von 2 Hz (Konstituenten) und Verortung der Gebärde im Gebärdenraum un-
4 Hz (Wörter) abspielen (Abb. 18-23 a–c). Der mittelbar vor der gebärdenden Person. Auch
Prozess, bei dem das Gehirn die akustischen prosodische Markierungen gehören beim Ge-
Strukturen von Sätzen, Konstituenten und brauch von Gebärdensprachen zum Standard-
Wörtern erkennt und verarbeitet, wird „corti- ausdruck. Betonungen werden in der Gebär-
cal tracking“ genannt. Denkt man dieses Mo- densprache primär über die Mimik ausgedrückt
dell konsequent zu Ende, kommt man unwei- (frowning, mouthing). Nicht für alle Wörter
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gerlich zu dem Schluss, dass die akustische existieren eindeutig zugeordnete Gebärden.
Struktur von Sprachen genau so entstehen Viele Eigennamen oder komplexe Ausdrücke
musste, um den Verarbeitungsprinzipien des wie „funktionelle Magnetresonanztomogra-
Gehirns zu entsprechen. Die Verarbeitung der fie“ werden mithilfe eines Fingeralphabets in
akustischen Frequenzen von Wörtern, Kon- die geöffnete Handfläche buchstabiert. Viele
stituenten und Sätzen erfordert auf der Seite Nutzer der GS haben auch einen „Gebärden-
des Gehirns ebenfalls das Zusammenspiel namen“, d. h. eine Gebärde, die vergleichbar
von neuralen Schwingungen in den delta- und einem Spitznamen der eigenen Person zuge
theta-Frequenzbändern („nesting“) (Giraud & ordnet wird.
Poeppel, 2012, Meyer et al., 2019). Momen- Die wesentlichen Unterschiede zwischen
tan wird in diesem Bereich der Sprache-Ge- Laut- und Gebärdensprache manifestieren
hirn-Beziehung intensiv geforscht, um zu ei- sich zunächst in der Modalität. Während Laut-
nem besseren Verständnis zu gelangen, wie sprache einen sequenziellen Charakter hat
das Gehirn hierarchische Strukturen in der und eindimensional als Schallereignis über-
Sprache durch eine Hierarchie von neuralen mittelt wird (Serien-Parallel-Wandlung), er-
Prozessen abbildet. eignet sich die visuell-gestisch basierte GS
simultan im Raum. Ähnlich wie bei den Laut-
sprachen wird nicht überall auf der Welt
18.7. Gebärdensprache dieselbe GS genutzt. Selbst innerhalb eines
Sprachraums variieren die Dialekte in den Ge-
Sprache kann auch über nichtakustische Ka- bärdensprachen viel stärker als in den Laut-
näle übertragen werden, z. B. bei der gesti- sprachen, was durch die geringere Mobilität
schen Kommunikation über visuelle oder der Gehörlosen in den vergangenen Jahrhun-
taktile Kanäle. Eine besondere Form der ge- derten erklärbar ist. Ein Gehörloser aus Zü-
stischen Kommunikation ist die Gebärden- rich kann sich also im Vergleich zu zwei Nut-
sprache (GS), mit der primär gehörlose Men- zern der Lautsprache aus denselben Städten
schen untereinander kommunizieren. Gebär- schlechter mit einem Gehörlosen aus Düssel-
densprachen stellen komplette, natürliche dorf austauschen, obwohl alle GS einen gewis-
sprachliche Systeme dar, die sich auf einer sen Grad der Bildhaftigkeit aufweisen.
formalen Beschreibungsebene nicht von der Untersuchungen an gehörlosen Patienten
Lautsprache unterscheiden. Auch die Gebär- mit Hirnverletzung oder einem Schlaganfall
densprache funktioniert nach syntaktischen weisen darauf hin, dass die GS ähnlich wie
Regeln, dient zum Austausch von Informatio- Lautsprachen eine linksdominante Funk-
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18.7. Gebärdensprache 587
a Satz Satz 1 Hz
4 Hz
250 ms
20 dB
Intensität
1 HZ 2 HZ 3 HZ 4 HZ
Frequenzspektrum neuraler Schwingungen
c f f f
Satz Ausdruck Silbe
Power (dB)
Max
6 dB
1 HZ 2 HZ 3 HZ 4 HZ
Min
Frequenz
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588 18. Sprache und Kommunikation
tion ist. Unabhängig von der Modalität erlei- gangsbereich sowie in der primären und se-
den also auch Nutzer der GS nach Läsionen kundären Sehrinde, was durch die visuelle
der linken Hemisphäre signifikante Defizite Modalität der Gebärdensprache zu erklären
auf der linguistischen Ebene der Gebärden- ist. Interessanterweise machen sich Effekte
sprache. Die wenigen vorliegenden Berichte der Neuroplastizität auch insofern bemerkbar,
zeigen deutlich, dass höhere linguistische als Nutzer der GS Experten in der Gesichts-,
Funktionen modalitätsunabhängig im Gehirn Form- und Bewegungswahrnehmung sind.
repräsentiert sind. Evidenz für eine Betei- Den Status der GS als vollständige Sprache
ligung der rechten Hemisphäre an höheren bestätigen auch Studien, die die Verarbeitung
Prozessen der Verarbeitung von GS erbrachten von GS mit der Verarbeitung von pantomi-
diese Studien nicht. Mit der Etablierung bild- mischen Gesten verglichen und feststellten,
gebender Verfahren begann eine Reihe syste- dass sowohl hörende als auch gehörlose Nutzer
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18.8. Die Evolution der Sprache 589
rungen superior temporaler und inferior parie- hat, die wir heute kennen. Die Frage ist nicht,
taler Areale in der rechten Hemisphäre. warum dieser Entstehungsprozess unter ande-
Zusammenfassend lässt sich also sagen, rem eine rekursive Syntax hervorgebracht hat,
dass sich die Neurokognition der GS in moda- die in ihrer Komplexität über die Bedürfnisse
litätsunabhängigen Aspekten nicht von der eines bloßen Austauschs von Informationen
zerebralen Organisation der Lautsprache un- auf der Komplexitätsebene einer Finite State
terscheidet. Erste Befunde deuten darauf Grammatik (also einer endlosen Aneinander-
hin, dass bei der Verarbeitung von Gebärden- reihung von kurzen Hauptsätzen (ab)n) weit
sprache ähnliche „tracking“-Mechanismen hinausgeht.
zur Hierarchisierung der linguistischen Infor- In Anbetracht der oben erwähnten Tatsa-
mation durch neurale Oszillationen zur An- che, dass es praktisch keine unmittelbaren pa-
wendung gelangen (Brookshire et al., 2017). läontologischen Befunde für die Entstehung
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Unterschiede zeigen sich hingegen v. a. auf und Modifikation der Sprache über die Zeit-
der Modalitätsebene, da die GS im Gegensatz spanne der Menschheitsgeschichte gibt, ist der
zur akustisch-phonetischen Lautsprache ei- Ansatz der vergleichenden Neuroanatomie
nen visuell-gestischen Charakter hat. bzw. der vergleichenden Verhaltensforschung
noch am ergiebigsten, um den Spuren der
Sprachevolution nachzuspüren, da dieser An-
18.8. Die Evolution satz eine relativ gute empirische Datenbasis
der Sprache liefern kann. Natürlich ist es naheliegend bei
der Suche nach dem Ursprung der mensch-
Die Frage, wie der Mensch zur Sprache kam, lichen Sprache, zuerst einmal das Vokalisati-
wird sich sicher niemals abschließend beant- onsrepertoire unserer nächsten Anverwandten
worten lassen. Da Gehirne sowie kognitive Fä- mit unserer Lautsprache zu vergleichen. Dieser
higkeiten, anders als Knochen, nicht fossilisie- Vergleich ist aber aus mehreren Gründen irre-
ren, ist die Indizienlage dünn und jeder neue führend. Zum einen wurde bereits ausgeführt,
fossile Fund, wie der jüngst entdeckte Austra- dass Affen aufgrund der Anatomie ihres Vokal-
lopithecus ramidus, führen zu Revisionen der traktes nicht in der Lage sind, dieselbe Menge
gegenwärtigen Modelle. Wie bei jedem evolu- von komplexen Lauten zu produzieren wie
tionären Fortschreiten geschah auch die Ent- der Mensch, dessen abgesenkte Larynx die
wicklung der Sprache nicht aus purem Zufall, Produktion einer großen Zahl von Lauten, ins-
wenn auch gleichsam Sprache nicht als ein besondere Vokalen, ermöglicht. Ebenfalls
evolutionäres Ziel betrachtet werden darf. sind nur Menschen zur intentionalen vokalen
Lautsprache hat sich, den Gesetzen der Evolu- Imitation in der Lage sowie zur willkürmotori-
tion gehorchend, aus einem Satz von kogniti- schen Ansteuerung ihres Vokaltrakts, was
ven, motorischen, morphologischen, kulturel- eine entscheidende Bedeutung für den Laut-
len und physiologischen Gegebenheiten über spracherwerb hat. Dagegen scheint die gesti-
wahrscheinlich Millionen, zumindest aber sche Kommunikation der Menschenaffen der
Hunderttausenden von Jahren hin entwickelt. menschlichen Sprache viel ähnlicher zu sein,
In den folgenden Abschnitten wird daher ein als die vokale Kommunikation. Anders als Rufe
Szenario der Evolution der Sprache beschrie- nutzen Menschenaffen einen Großteil ihrer
ben, welches den kommunikativen Aspekt von Gesten dyadisch, also praktisch in einer dialog-
Sprache betont. Im Vordergrund steht also die ähnlichen Situation und teilweise sogar in ein-
Frage, warum die menschliche Lautsprache im deutig intentionaler Absicht in einer flexiblen
Laufe der Evolution die Form angenommen Kombination von brachiomanuellen Gesten.
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590 18. Sprache und Kommunikation
Viele Wissenschaftler*innen sehen daher die neurone können sogar den Verlauf von Hand-
Gestensprache als die eigentliche Vorläufer- lungen antizipieren, denn sie feuern auch,
form der menschlichen Lautsprache an (Cor- wenn der letzte und entscheidende Teil einer
ballis, 2009, 2010). Noch heute begleiten Handlung nicht sichtbar ist und somit nur in
Menschen ihre verbalen Äußerungen in allen der Vorstellung des Beobachters beendet
Sprachen gleich häufig durch unterstreichende werden kann. Eine zentrale Eigenschaft von
Gesten. Die synchronisierte Art und Weise, in Spiegelneuronen liegt in der hohen Ähnlich-
der sie das tun, deutet auf ein einziges, zusam- keit oder Kongruenz der Reaktion bei bloßer
menhängendes System hin, welches sowohl Beobachtung und aktiver Ausführung einer
Lautsprache als auch Gesten integriert. Des Handlung. Aus diesem Grund wird spekuliert,
Weiteren wurde beobachtet, dass bei mensch- dass Spiegelneurone durch das Abgleichen der
lichen Kindern die gestische vor der vokalen Handlungsbeobachtung mit der Handlungs-
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Kommunikation auftritt. Die stärkste Evidenz ausführung ein Verständnis der beobachteten
für den gestischen Ursprung kommt jedoch Handlung ermöglichen. Beobachtete Hand-
daher, dass Sprache in rein gestischer Form, lungen erzeugen im Betrachter spontan eine
also als Gebärdensprache, ohne Verlust an Ex- interne motorische Repräsentation. Weil ihm
pressivität und Komplexität funktionieren die Konsequenzen dieser potenziellen Hand-
kann. Unsere moderne Sprache könnte sich lung also bekannt sind, kann er das Gesehene,
daher durchaus aus einer einfachen, aus Ges- das heißt die Intention der Handlung, verste-
ten und Gebärden bestehenden, Form der hen und so visuelle Information in Wissen um-
Kommunikation zwischen unseren Vorfahren wandeln. Sensorische Information hat also
entwickelt haben. Zugriff auf eine Art internen motorischen Wis-
Zusätzliche empirische Unterstützung er- sensspeicher. Ein Befund, welcher diese Hypo-
hält diese Überlegung durch die Entdeckung these unterstützt, besteht darin, dass Spiegel-
der sogenannten „Spiegelneurone“ (engl. neurone tatsächlich das Ziel einer Handlung
„mirror neurons“), die erstmals im ventralen kodieren und nicht nur auf visuelle Eigenschaf-
Prämotorkortex (Areal F5) von Rhesusaffen ten der beobachteten Handlung reagieren.
beschrieben wurden. Dieses Areal gilt als Auf die Ebene der Sprache übertragen,
neuroanatomisches Pendant zum Broca-Areal könnte dies bedeuten, dass Spiegelneurone
im menschlichen Gehirn. Ursprünglich wurde eine besondere Verbindung zwischen dem
die Funktion von Spiegelneuronen als maß- Sender und dem Empfänger einer kommuni-
geblich beim Durchführen und Beobachten kativen Geste ermöglichen. Im Gehirn des
motorischer Handlungen (Greifbewegungen) Empfängers wird bei der Rezeption der Geste
angesehen, also der Repräsentation brachio- der gleiche neuronale Schaltkreis aktiviert, der
manueller Bewegungen. Mittlerweile weiß die Motorrepräsentation der gleichen Geste im
man auch von der Existenz audiovisueller Spie- Gehirn des Senders enkodiert. Auf diese Weise
gelneurone im Affengehirn, die während der wird es dem Empfänger ermöglicht, die Geste
Beobachtung einer objektbezogenen Hand- zu verstehen und angemessen darauf zu ant-
lung (das Knacken einer Nuss) ebenso feuern, worten, womit überhaupt erst die Vorausset-
wie bei der Wahrnehmung eines Geräusches, zung für eine dyadische Kommunikation er-
welches beim Aufknacken einer Nuss entsteht. füllt wäre. Nichtsdestotrotz darf nicht aus den
Somit gilt das Konzept der Spiegelneurone Augen verloren werden, dass das Vorhanden-
momentan als fundamentales Prinzip für das sein von Spiegelneuronen nicht gleichbedeu-
imitatorische visuo-motorische und audio- tend mit Sprachbesitz ist. Bevor man eine
motorische Lernen durch Imitation. Spiegel- evolutionäre Abfolge von einem Spiegelneuro-
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18.8. Die Evolution der Sprache 591
nen-System für Greifhandlungen bis hin zur bipedal bewegten, waren die späteren Homo
menschlichen Sprache aufstellen kann, muss obligatorisch bipedal. Dadurch konnten sie
vorher im nächsten Abschnitt geklärt werden, ihre Hände noch freier bewegen und noch
ob beim Menschen Spiegelneurone und ein komplexere Gesten produzieren. So wurde es
ähnliches Spiegelneuronen-System in dieser ihnen möglich, reale Ereignisse gestisch nach-
Form überhaupt vorhanden sind. zuahmen und zu kommunizieren. Über den
Auch beim Menschen wurde die Existenz Prozess der Konventionalisierung wurden
von Spiegelneuronen in einem begrenzten Um- diese pantomimischen Zeichen mit der Zeit
fang nachgewiesen. Im Broca-Areal befinden willkürlich in dem Sinne, dass sie dem dar-
sich offensichtlich die neuronalen Ensembles, gestellten Objekt zunehmend weniger glichen.
die neben der Repräsentation von sprachlichen Dies ermöglichte aufgrund des steigenden Vo-
Funktionen auch Motorrepräsentationen von kabulars eine schnellere und effizientere
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592 18. Sprache und Kommunikation
vor ca. 1 Million Jahren aufgetreten ist. Diese sant ist derzeit die Diskussion, inwiefern der
Entwicklung ging so weit, dass heute die Laut- Nachweis des Gens im Erbgut des Neander-
sprache das Hauptmedium der Sprache dar- talers einen Hinweis auf dessen Sprachkom-
stellt. Betrachtet man die Muster der Hirn- petenz geben könnte. Hier gehen die Meinun-
aktivierung während des Anschauens von gen auseinander. Zum einen lassen sich zwei
Dialogen in der Lautsprache und in der Ge- evolutionäre Veränderungen des FOXP2-Gens
bärdensprache, zeigt sich eine fast identische in der DNA des Neandertalers nachweisen,
Beteiligung perisylvischer Areale der linken wie sie ansonsten nur beim Homo sapiens cha-
und rechten Hemisphäre. Der Zeitpunkt, zu rakteristisch sind. Dies wäre ein starkes Indiz
dem die Lautsprache das Niveau der heutigen für die Annahme, dass auch der Neandertaler
Menschen erreichte, ist jedoch eher umstrit- über eine komplexe lautsprachliche Kom-
ten und kann nicht mit Bestimmtheit fest- petenz verfügte. Gegner dieser Annahme da-
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gesetzt werden. Zusätzlich zur zeitlich schwer tieren die letzte Mutation des Gens auf einen
festzumachenden Dominanz der Lautsprache Zeitpunkt vor ca. 42 000 Jahren. Zu dieser Zeit
ist möglicherweise auch eine komplexere, hatten sich die Entwicklungslinien von Homo
grammatikalische Form von Sprache durch sapiens und Homo neanderthalensis schon
die Evolution des episodischen Gedächtnisses lange getrennt. Ungeachtet dieser Debatte
entstanden. Dadurch konnten Episoden kom- findet sich derzeit kein überzeugender Hin-
muniziert werden, die sich zu anderen Zeiten weis auf die Bedeutung des FOXP2-Gens als
und an anderen Orten als in der Gegenwart er- ein Alleinstellungsmerkmal für die Integrität
eignet hatten. So könnten sich, parallel zur von Sprachfunktionen.
Konventionalisierung von Zeichen und zur
Einführung von Lauten in das Kommunikati-
onssystem, über die letzten 500 000 Jahre, seit 18.9. Zusammenfassung
dem Erscheinen der jüngsten Entwicklungs-
linien des Stammbaums der Hominiden, gra- • Zurzeit sind etwa 6 000–7 000 lebende
duell sowie kulturell auch grammatikalische Sprachen bekannt, nur etwa 200 aller Spra-
Strukturen entfaltet haben. chen haben eine Schrift.
In den letzten Jahren gab es außerdem ver- • Lautsprache ist ein Produkt der Evolution,
mehrt Versuche, das Auftreten einer komple- während Schriftsprache eine kulturelle
xen Lautsprache mit dem Vorhandensein des Errungenschaft ist. Die Entwicklung der
FOXP2-Gens beim Homo sapiens zu erklären. Lautsprache begann vor ca. 2 Millionen
Obwohl dieses Gen besonders für die Integri- Jahren; die Erfindung der Schriftsprache
tät von Hirnarealen eine wichtige Rolle spielt, dagegen ereignete sich vor vielleicht
welche für Sprachexpression wichtig sind, ist 5 000–10 000 Jahren.
es kein „Sprach-Gen“. Die viel beachteten Be- • Sprache ist bei den meisten Menschen
obachtungen von Sprechapraxie bei Betroffe- (95 % der Rechtshänder und knapp 70 %
nen, die eine Mutation des Gens aufweisen, der Linkshänder) eine dominante Funktion
unterstreichen einerseits die Bedeutung des der linken Hemisphäre.
Gens im Hinblick auf die orofaziale Kontrolle • Die Lautsprache ist eine Funktion sensori-
der Sprachexpression. Andererseits scheint scher, motorischer und assoziativer Netz-
das Gen auch für die Entwicklung und Funk- werke in der perisylvischen Region. Ob-
tion anderer Organe unverzichtbar zu sein, wohl die linke Hemisphäre dominant ist,
womit seine Rolle im Zusammenhang mit trägt auch die rechte Hemisphäre zur Ver-
Sprache weniger bedeutend erscheint. Interes- arbeitung von Sprache bei.
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18.9. Zusammenfassung 593
• Sprache ist ein symbolisches System, das dung zusammenwirken. Der Luftstrom aus
aus willkürlichen Zeichen für bestimmte den Lungen gelangt in den Kehlkopf (La-
Konzepte besteht und die Übertragung rynx), wo die Tonhöhe und das Stimmsignal
konkreter und abstrakter Inhalte zwischen bestimmt werden. Im Vokaltrakt (Ansatz-
einem Sender und einem (oder mehreren) rohr oder Pharynx) entstehen – bestimmt
Rezipienten unabhängig von der Modalität durch die Stellung der Artikulatoren – die
gewährleistet. Sprache ist jedoch keine mo- Laute (Vokale und Konsonanten).
nolithische Domäne. Im Zusammenhang • Lautsprache ist ein akustisches Signal, das
mit der Beschreibung von Sprache muss sich in der Zeit entfaltet und in Echtzeit ver-
prinzipiell zwischen ihrer Funktion als arbeitet wird. Auditorische Satzverarbei-
Kommunikationssystem einerseits und der tung erfolgt dem Modell von Angela Frie-
formalen Struktur ihrer Bezugssysteme derici zufolge in drei Phasen. In Phase I
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594 18. Sprache und Kommunikation
sonders gut geeignet, schnelle Wechsel in • Welche Hirnregionen werden zum laut-
Sprachsignalen, z. B. Formantübergänge, zu sprachlichen Netzwerk gezählt?
erkennen. Neuronale Gruppen in der rech- • Beschreiben Sie die wichtigsten intrasylvi-
ten Hemisphäre tasten das Sprachsignal schen Assoziationsbahnen. Wie heißen sie?
präferiert mit einer Frequenz von ca. 4 Hz Welche kortikalen Regionen verbinden sie?
ab. Daher identifizieren sie besonders gut Was ist ihre Funktion?
langsame Modulationen in Sprachsignalen, • Beschreiben Sie die Arbeitsteilung der lin-
z. B. Sprachmelodie und Sprachrhythmus. ken und der rechten Hemisphäre bei der
• Gebärdensprachen sind natürliche Sprach- Sprachverarbeitung nach David Poeppels
systeme, die über vollständige sprachliche AST-Hypothese.
Bezugssysteme (Phonologie, Semantik, • Welche neuroanatomischen Befunde stüt-
Syntax, Prosodie) verfügen. Mittels Gebär- zen diese Hypothese?
•
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densprachen kann alles gesagt werden, was Welche Rolle spielen neurale Oszillationen
man mit der Lautsprache auch sagen kann. bei der Verarbeitung von Sprache?
• Gebärdensprachen sind im Laufe der Evolu- • Welche Hirnregionen sind in die Repräsen-
tion vor der Lautsprache aufgetreten. Gesten tation von Gebärdensprachen einbezogen?
und Gebärden gelten als unmittelbare Vor- • Welche Rolle wird den Spiegelneuronen bei
läufer der Sprachlaute und als „Ursprache“ der Evolution der Sprache zugedacht?
der Menschen. Das System der Spiegelneu- • Gibt es ein Sprachzentrum im Gehirn?
rone gilt als Sprungbrett vom Greifen zur
Imitation von Greifen, vom Benutzen von
Gebärden zur Imitation von Gebärden hin
zur Entwicklung einer dyadischen, erst ges- 18.11. Weiterführende Literatur
ten-, dann lautbasierten Kommunikation.
Bender, A. (2018). Sprache. In H. Spada & A.
Kiesel (Hrsg.), Lehrbuch Allgemeine Psycho-
logie (4. Aufl., pp. 272–336). Bern: Hogrefe.
18.10. Fragen und Aufgaben
DeWitt, I. & Rauschecker, J. (2013). Wernicke’s
• Nennen Sie die wichtigsten Unterschiede area revisited: parallel streams and word pro-
cessing. Brain and Language, 127, 181–191.
zwischen Laut- und Schriftsprache. Friederici, A. D. (2017). Language in our brain.
• Hat sich die Sprache bei ihrer Entstehung The origins of a uniquely human capacity.
an das Gehirn angepasst oder hat sich um- Cambridge, MA: MIT Press.
gekehrt das Gehirn bei seiner Entwicklung Friederici, A. D. & Singer, W. (2015). Grounding
an die Sprache angepasst? language processing on basic neurophysiolo-
• Warum wird die linke Hemisphäre als do- gical principles. Trends in Cognitive Science,
minant für Sprachfunktionen betrachtet? 19, 329–338.
• Nennen Sie die wichtigsten Unterschiede Giraud, A. L. & Poeppel, D. (2012). Cortical os-
cillations and speech processing: emerging
zwischen der menschlichen Sprache und
computational principles and operations. Na-
den Kommunikationssystemen von Tieren.
• Beschreiben Sie das Quelle-Filter-Modell.
ture Neuroscience, 15, 511–517.
Kaan, E. (2007). Event-related potentials and
• Welche Phasen der Satzverarbeitung wer- language processing: a brief overview.
den unterschieden? Language and Linguistics Compass, 1/6,
• Welche Komponenten des ereigniskorre- 571–591.
lierten Hirnpotenzials lassen sich diesen Meyer, L., Sun, Y. & Martin, A. E. (2019). Syn-
Phasen zuordnen? chronous, but not entrained: exogenous and
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18.11. Weiterführende Literatur 595
endogenous cortical rhythms of speech and Rütsche, B. & Meyer, M. (2010). Der kleine Un-
language processing. Language, Cognition, terschied – Wie der Mensch zur Sprache kam.
and Neuroscience, https://doi.org/10.1080/ Zeitschrift für Neuropsychologie, 21, 109–
23273798.2019.1693050. 125.
Meyer, M., Keller, M. & Giroud, N. (2018). Supra- Tremblay, P. & Dick, A. S. (2016) Broca and Wer-
segmental speech prosody and the human nicke are dead, or moving past the classical
brain: The acoustic and vocal features and the model of language neurobiology. Brain and
evolutionary architecture of the brain. In S. Language 162, 60–71.
Frühholz & P. Belin (Eds.), The Oxford Hand- Weiller, C., Bormann, T., Saur, D., Musso, M.
book of Voice Perception (pp. 143–166). Ox- & Rijntjes, M. (2011). How the ventral path-
ford: Oxford University Press. way got lost – and what its recovery might
Poeppel, D. (2012). The maps problem and the mean. Brain Lang., 118, 29–39.
mapping problem: Two challenges for a cogni- Weniger, D. (2012). Aphasien. In H.-O. Karnath
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tive neuroscience of speech and language. & P. Thier (Hrsg.), Kognitive Neurowissen-
Cognitive Neuropsychology., 29, 34–55. schaften (3. Auflage, S. 447–461). Berlin:
Poeppel, D. (2014). The neuroanatomic and neu- Springer.
rophysiological infrastructure for speech and Woestmann, M., Fiedler, L. & Obleser, J. (2017).
language. Current Opinion in Neurobiology, Tracking the signal, cracking the code: speech
28, 142–149. and speech comprehension in non-invasive
Poeppel, D., Emmorey, K., Hickok, G., Pylkka- human electroencephalography. Language,
nen, L. (2012). Towards a new neurobiology Cognition, and Neuroscience 32, 855–869.
of language. Journal of Neuroscience. Neu-
rosci., 32, 14125–14131.
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597
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19.1. Das Wesen des Lesens 599
Lesen ist eine relativ junge, jedoch sehr wich- deutig oder gelegentlich völlig verloren ge-
tige Fähigkeit des Menschen. Über die Schrift- gangen. Ein typisches Beispiel ist das /th/ im
sprache können Informationen über einen Englischen, wobei die einzelnen Buchstaben
langen Zeitraum hinweg festgehalten werden. anders ausgesprochen werden als die Silbe.
Des Weiteren entfällt beim Lesen der direkte Solche irregulären Beziehungen zwischen Gra-
Kontakt mit dem Kommunikationspartner. phemen und Phonemen machen das Lesen-
Mit dem Lesen hat sich der Mensch Freiheit lernen schwierig und haben zur Folge, dass in
und Vielfalt im Hinblick auf die Kommunika- irregulären Sprachen durchschnittlich mehr
tion erschlossen, die für die kulturelle Ent- Rechtschreibfehler gemacht werden.
wicklung von besonderer Bedeutung sind. Das
geschriebene Wort hat häufig auch zu kulturel-
len und politischen Revolutionen viele Jahre 19.1. Das Wesen des Lesens
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600 19. Lesen und Schreiben
Worterkennung
Erkennung von
Bedeutung
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19.2. Wie lesen wir? 601
WORD WORB
Schwerer wird es, wenn die Pseudowörter den
bedeutungstragenden Wörtern sehr ähnlich
sind. Die meisten Forscher gehen davon aus,
dass die dargebotenen Kombinationen mit
REAL Buchstabenkombinationen verglichen wer-
REAL den, die in einem speziellen Speichersystem,
RFAL dem visuellen Lexikon, gespeichert sind.
Gelegentlich wird vermutet, dass auch dieses
Speichersystem durch übergeordnete Prozesse
KORB beeinflusst wird (top down), wofür bislang je-
KORD KORD
doch keine Belege existieren.
Auf der Basis von Verhaltensexperimenten
Abbildung 19-4: Beispiele des Wortüberlegen- wurde das visuelle Lexikon als wichtiges
heitseffekts. Funktionsmodul für das Lesen postuliert. Mo-
derne bildgebende Untersuchungen haben
versucht, das visuelle Lexikon kortikal zu kar-
chen wir erheblich länger. Offenbar existiert tieren. Gezeigt werden konnte, dass ein be-
ein übergeordneter Speicher, in dem alle Wör- stimmtes Hirngebiet besonders stark auf Wör-
ter, die wir kennen, abgelegt sind. Werden ter und Buchstabenkombinationen mit einer
beim Lesen eines Wortes die ersten Buchsta- Steigerung der elektrischen Aktivität anspricht.
ben erkannt, kann das entsprechende Ver- Dieses Hirngebiet wird in der Fachsprache als
arbeitungszentrum die nächsten Buchstaben Wortformareal (visual word form area, WFA)
vorhersagen. Für Pseudowörter existiert kein bezeichnet und ist im linkshemisphärischen
spezieller Speicher, der solche Vorhersagen er- Gyrus fusiformis des unteren Temporallappens
möglichen könnte. lokalisiert. Einige Studien berichten, dass diese
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602 19. Lesen und Schreiben
Hirnstruktur nur auf Buchstaben und Buch- Groß- und Kleinbuchstaben ausgelöst wer-
stabenkombinationen, aber nicht auf bedeu- den. Das heißt, werden vorher Großbuch-
tungslose visuelle Muster mit Aktivitätsstei- staben präsentiert, sind die Reaktionen auf
gerungen reagiert. Diese Hirnregion zeigt auch die folgenden Kleinbuchstaben verändert,
eine Zunahme der Aktivität, wenn Pseudo- sofern die Buchstaben die gleiche Bedeu-
wörter präsentiert werden, die hinsichtlich der tung haben (A – a oder e – E etc.).
Buchstabenzusammensetzung Ähnlichkeiten • Unterschwellige Darbietungen von Buch-
mit bedeutungstragenden Wörtern aufweisen. staben (z. B. im Rahmen von Maskierungs-
Die Aktivitäten sind in der Regel etwas gerin- oder tachistoskopischen Studien) lösen die
ger als bei der Präsentation von bedeutungs- gleichen Aktivierungen aus wie über-
tragenden Wörtern. Visuell präsentierte Ein- schwellige Präsentationen. Dies deutet da-
zelbuchstaben evozieren ebenfalls Aktivitäten rauf hin, dass auf das WFA automatisch
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A) B)
0.25
0.2
Signalintensität in %
0.15
2
L 0.1
0.05
Wortformareal 0
Wörter Buchstaben
rGF IGF
Abbildung 19-5: (A) Lokalisation des Wortformareals im linksseitigen Gyrus fusiformis. (B) Ungefähre
Aktivierungszunahmen bei Präsentation von Wörtern oder Buchstaben im Wortformareal, gemessen mit
fMRT (nach McCandliss et al., 2003)
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19.3. Funktionelle Neuroanatomie und Neurophysiologie des Lesens 603
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604 19. Lesen und Schreiben
Tabelle 19-1: Zusammenfassung der beim Lesen beteiligten Hirngebiete und der mit diesen Hirngebie-
ten verbundenen psychologischen Funktionen.
Tabelle 19-2: Komponenten von evozierten Potenzialen inklusive ihrer Latenzen, wahrscheinlichen in-
trazerebralen Generatoren und den ihnen zugeordneten Funktionen (nach Dien, 2009).
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19.4. Leseprozess 605
phonologische
direkter Zugriff Vermittlung
semantisches Gedächtnis
Abbildung 19-7: Modell des direkten Zugriffs und der phonologischen Vermittlung.
Weg (auch sublexikalischer Weg) werden zu- den durch Befunde gestützt. Beim Lesenler-
nächst phonologische Informationen abge- nen scheint der Weg über die phonologische
rufen, die zum Abruf der Phoneme und des Vermittlung der typische zu sein, der beim
Wortklangs führen, die wiederum zu anderen Neulernen der Schriftsprache eingeschlagen
übergeordneten Modulen weitergeleitet wer- wird. Erst mit zunehmender Übung und Be-
den. Die Frage ist, ob dieser Weg auch vom herrschung der Schriftsprache gelingt auch der
geübten Leser ständig genutzt wird oder ob die Aufbau des lexikalischen Wegs. Des Weiteren
visuellen Informationen und die erkannten
Buchstaben und Worte direkt (lexikalischer schnell
Weg) über die phonologische Umwandlung in
das semantische Gedächtnis geleitet werden.
Wenn beide Wege parallel genutzt werden,
Lesegeschwindigkeit
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606 19. Lesen und Schreiben
werden auch selten im Sprachschatz vorkom- den. Bei zentralen Dyslexien funktionieren
mende Wörter eher über die phonologische übergeordnete Aspekte des Lesens defizitär.
Vermittlung analysiert (Seidenberg et al., Wortbedeutung und Phonologie sind nicht
1984). Mit zunehmender Lesekompetenz mehr nutzbar. Zentrale Dyslexien lassen sich
wird eher die Strategie des direkten Zugriffs gut mittels des Zwei-Wege-Modells beschrei-
gewählt, wobei der sublexikalische und lexika- ben (Abb. 19-9), das zwei Informationswege
lische Weg interagieren können. So konnte der Leseverarbeitung beinhaltet, den lexika-
z. B. gezeigt werden, dass Bilinguale den sub- lischen und den sublexikalischen Weg. Der
lexikalischen Weg beim Lesen einer Sprache sublexikalische Weg verläuft über die Gra-
nutzen und wahrscheinlich den lexika- phem-Phonem-Korrespondenz oder, wie ge-
lischen Weg hemmen, um Bearbeitungskon- nannt, über die phonologische Vermittlung.
flikte beim Lesen zu vermeiden (Rodriguez- Die visuellen Informationen werden in phono-
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19.5. Lesestörungen 607
visuelle Analyse
h Buchstabenerkennung
sc
ali
xik
ble
su
visuelles Lexikon
lexikalisch
Graphem-Phonem-
Korrespondenz
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semantisches Gedächtnis
su
ble
xik
ali
sc
h
phonologischer Ausgang
Sprachproduktion
besonderen Schwierigkeiten, da bei diesen der anderen Störungsform eben nicht. Die
Wörtern die Semantik sowieso bedeutungslos Läsionen liegen meist im Wernicke-Areal oder
ist und sie grundsätzlich über den sublexika- allgemein in der perisylvischen Hirnregion.
lischen Weg verarbeitet werden müssen. Bei Meist treten diese Störungen zusammen mit
dieser Dyslexieform liegen Läsionen im links- Aphasien auf.
seitigen Temporallappen und im Gyrus angu- Bei der Tiefendyslexie sind sowohl der le-
laris vor. xikalische wie auch der sublexikalische Weg
Patienten, die unter einer phonologischen gestört.54 Diese Patienten produzieren beim
Dyslexie leiden, nutzen beim Lesen nahezu Lesen viele semantische Fehlleistungen, d. h.,
ausschließlich die lexikalische Bahn, die se- ein visueller Stimulus wie „König“ wird bedeu-
mantische Informationen vermittelt. Der sub- tungsmäßig erfasst, jedoch nicht lautlich ähn-
lexikalische Weg (Abb. 19-9) dagegen ist ge-
stört. Die Betroffenen lesen echte Wörter 54 In der Erstbeschreibung des Zwei-Wege-Mo-
besser als Pseudowörter, die eine sublexika- dells wurde die Tiefendyslexie als eine Dyslexie be-
lische Analyse erfordern; sie müssen buchsta- sprochen, in der der sublexikalische Weg, also die
biert und phonologisch erschlossen werden. Graphem-Konversion, gestört ist (Marshall &
Newcombe, 1973). Insofern sollten diese Patienten
Gelegentlich wird auch eine phonologische
nur den lexikalischen Weg nutzen. Neuere Unter-
Dyslexie mit und ohne starke semantische
suchungen zeigen jedoch, dass die semantischen
Problematik unterschieden. Bei der Störungs- Fehler zu auffällig sind, sodass heute angenommen
form mit semantischer Problematik können wird, dass auch dieser Weg gestört ist (Nolan & Ca-
semantische Fehler ausgemacht werden; bei ramazza, 1982).
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608 19. Lesen und Schreiben
lich, sondern z. B. als „Fürst“ vorgelesen. An- werden. Interessant ist allerdings, dass Wörter
sonsten ähneln sie in ihren Fehlleistungen den im Kontext semantisch erfasst werden kön-
Patienten mit einer phonologischen Dyslexie. nen. Beim Lesen des Wortes „England“ sagen
Die reine Alexie ist eine periphere Lese- die Patienten dann „Queen“. Grundlage dieser
störung. Bei peripheren Lesestörungen sind Störung ist eine Entkopplung (Diskonnektion)
die Eingangsgrößen, die in das Lesesystem visueller Areale von den Spracharealen. Wahr-
eingespeist werden, defizitär. Ein Patient mit scheinlich ist das Wortformareal von den vi-
einer reinen Alexie kann Wörter oder Buch- suellen Arealen entkoppelt.
staben nicht erkennen und liest buchstabie- Eine weitere Gruppe von Alexien beruht
rend (jeden Buchstaben einzeln). Die Betroffe- auf Störungen des Aufmerksamkeitssystems.
nen versuchen jeden Buchstaben einzeln zu Aufmerksamkeitsalexie und Alexie beim Ne-
identifizieren, ohne die Graphemstruktur des glekt treten im Zusammenhang mit anderen
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19.6. Schreiben 609
ler Schulkinder in Deutschland sollen davon kortex im Bereich des Gyrus frontalis medius
betroffen sein (Rüsseler, 2006). Trotz vielfälti- spekuliert (Roux et al., 2010). Dieses postu-
ger Förderung bleibt diese Lese-Rechtschreib- lierte und nie nachgewiesene Areal wird auch
Störung bis ins Erwachsenenalter bestehen. als Exner-Areal bezeichnet. Ein Grundpro-
Die betroffenen Personen lesen langsam und blem dieser alten klinischen Fälle ist, dass die
machen überdurchschnittlich viele Recht- beschriebenen Patienten unterschiedliche
schreibfehler trotz normaler (manchmal sogar Formen der Agrafie aufweisen.
überdurchschnittlicher) Allgemeinintelligenz. Wenigstens drei Arten der Agrafie werden
Bis Anfang der 1970er Jahre wurde Legasthe- unterschieden. Die reine Agrafie ist eine reine
nie häufig mit Unterrichtsfehlern und see- Produktionsstörung. Den Patienten ist das
lischen Belastungen der betroffenen Kinder spontane Schreiben oder das Schreiben nach
oder der Eltern in Verbindung gebracht. Zu- Diktat unmöglich. Lautes Lesen gelingt besser
nehmend werden Reifungs- oder andere biolo- und die Buchstaben können gut kopiert wer-
gische Faktoren als verursachend diskutiert den. Die Patienten können jedoch die Gra-
sowie anatomische und hirnphysiologische pheme nicht in entsprechende motorische
Auffälligkeiten gesucht. Einigkeit besteht wei- Programme überführen. Die lexikalische
testgehend darüber, dass diese Personen unter Dysgrafie wird auch als semantische Agrafie
einem Defizit im phonologischen Bewusst- bzw. Tiefendysgrafie bezeichnet. Bedeutungs-
sein leiden. Damit ist gemeint, dass sie unter haltiges Material kann weder ausgesprochen
dem Problem leiden, Wörter in ihre konstituie- noch geschrieben werden. Beispielsweise wird
renden Sprachlaute zu zerlegen. Insbesondere statt „Uhr“ „Zeit“ geschrieben. Analog zur le-
beim Lernen der Schriftsprache muss die sich xikalischen Dyslexie ist der lexikalische Weg
ausbildende orthografische Repräsentation gestört und es muss der sublexikalische Weg
der Grapheme mit den bereits beherrschten gewählt werden. Das Schreiben wird dadurch
Phonemen in Beziehung gesetzt werden. Ge- langsam und entfernt sich vom Sinngehalt des
nau dies gelingt den Betroffenen nicht oder Geschriebenen. Bei der phonologischen Dys-
nur unvollkommen. Entsprechende Trainings grafie wird ausschließlich über die lexika-
des phonologischen Bewusstseins können die lische Bahn, die semantische Informationen
Symptomatik jedoch deutlich bessern (Castles vermittelt, geschrieben. Der sublexikalische
& Coltheart, 2004; Kast et al., 2009). Bild- Weg dagegen ist gestört. Die Patienten haben
gebende Verfahren konnten zeigen, dass bei Schwierigkeiten, Pseudo- oder unregelmäßige
diesem Personenkreis weite Teile des Lese- Wörter zu schreiben. Die Läsionen liegen
systems dysfunktional sind. meist im Wernicke-Areal oder allgemein in der
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610 19. Lesen und Schreiben
perisylvischen Hirnregion. Häufig treten diese wurde, in der Nähe des General assembly de-
Störungen zusammen mit Aphasien auf. vices (GAD) liegt (Kap. 6). Dieses Hirngebiet
In modernen bildgebenden Studien wurde ist wesentlich für die Sequenzierung verschie-
versucht, das Exner-Areal zu identifizieren. dener Tätigkeiten und Schreiben ist eine typi-
Die Versuchspersonen müssen mit der rechten sche Tätigkeit, bei der sequenzielle Ordnun-
oder linken Hand schreiben und verschiedene gen notwendig sind.
Kontrolltätigkeiten durchführen. Die unter Grundsätzlich muss festgehalten werden,
diesen Bedingungen gemessenen Durchblu- dass Lesen und Schreiben oder Lesen und
tungsänderungen werden voneinander abge- Sprechen eng miteinander gekoppelt sind.
zogen und jene Aktivierungen herausgear- Wahrscheinlich interagieren motorische, per-
beitet, die typisch für das Schreiben sind zeptuelle und kognitive Hirngebiete während
(Abb. 19-10). Die neueste zu diesem Thema des Schreibens. Insofern ist es nicht verwun-
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publizierte Arbeit konnte ein frontoparietales derlich, dass eine intensive motorische Aus-
Netzwerk auf der linken Hemisphäre identifi- einandersetzung mit Wörtern auch deren Er-
zieren, das spezifisch in die Kontrolle des kennen verbessert. So konnte z. B. gezeigt
Schreibens eingebunden ist (Sugihara et al., werden, dass das Niederschreiben von Buch-
2006). Die frontalen Hirngebiete stimmen mit staben per Hand das Erkennen dieser Buch-
einigen der Läsionsorte überein, die bereits staben deutlich verbessert. Werden die Buch-
Exner als wesentlich für das Schreiben postu- staben in eine Computertastatur getippt, ist
liert hatte. Interessant ist, dass der frontale die Erkennensleistung deutlich schlechter
Hirnbereich, der in dieser Studie identifiziert (Longcamp et al., 2005).
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19.7. Lesen in anderen Sprachen 611
Paulesu und Kollegen (2000) haben zeigen dass bei chinesischen Lesern die an der lexika-
können, dass Italiener und Engländer prin- lisch-semantischen Analyse beteiligten Hirn-
zipiell das gleiche Lesesystem nutzen. Aller- gebiete stärker aktiv sind (s. Tab. 19-1; Chee et
dings konnten markante sprachspezifische al., 2000). Anscheinend gebrauchen sie das
Unterschiede identifiziert werden (Abb. 19- lexikalisch-semantische System stärker. Diese
11). Italienisch sprechende Leser nutzen stär- Annahme wird durch kognitive Verhaltens-
ker die sublexikalische Route, wenn sie italie- untersuchungen gestützt, die zeigen konnten,
nische Texte lesen, was aus den stärkeren dass das Lesen logografischer Zeichen von der
Aktivierungen im linksseitigen sekundären Vorstellungsfähigkeit der Leser abhängt (Shi-
Hörkortex (insbesondere im Planum tempo- bahara et al., 2003). Die Vorstellungsfähigkeit
rale) abgeleitet wurde. Wenn Engländer da- hängt von der Fähigkeit ab, semantische Infor-
gegen englische Texte lesen, ist offenbar der mationen zu nutzen. Möglicherweise nutzen
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lexikalische Weg stärker aktiviert, was aus Leser der chinesischen Sprache das lexika-
den stärkeren Aktivierungen im Wortform- lische System stärker, weil sie diese Schriftzei-
areal und im Gyrus frontalis inferior (typisch chen eher mit konkreten Informationen in Ver-
für semantische Analysen) abgeleitet wird bindung bringen, was über die Semantik
(Abb. 19-11). erfolgt. Dies soll allerdings nicht bedeuten,
Werden die Hirnaktivierungen bei Chine- dass geübte Leser logografischer Sprachen den
sen oder Japanern untersucht, wenn sie ihre sublexikalischen Weg nicht zu nutzen brau-
logografische Sprache lesen, ist prinzipiell das chen oder gar nicht über ihn verfügen. Es
gleiche Lesesystem wie bei Europäern aktiv. konnte vielmehr gezeigt werden, dass Ober-
Ein wesentlicher Unterschied besteht darin, flächendyslexien auch bei monolingual japa-
nisch und chinesisch Sprechenden und Lesen-
den auftritt, was bedeutet, dass die Betroffenen
auf den noch vorhandenen sublexikalischen
Weg zurückgreifen können. Insofern muss da-
von ausgegangen werden, dass beide Wege
auch bei Sprechern bzw. Lesern logografischer
2 1 Sprachen existieren. Oberflächendyslexien
L
konnten auch für das Italienische berichtet
2 werden, was darauf hinweist, dass selbst bei
Sprachen, die offenbar sehr stark von der sub-
lexikalischen Analyse abhängen, der lexika-
lische Weg genutzt wird.
In diesem Zusammenhang soll auf die Stu-
die von Rodriguez-Fornells und Kollegen
Abbildung 19-11: Schematische Darstellung des (2002) hingewiesen werden, in der gezeigt
Experiments von Paulesu und Kollegen (2000). In
wurde, dass bilinguale Personen (katalanisch
(1) ist der Gyrus temporalis superior und das Pla-
und spanisch sprechend und lesend) beide
num temporale dargestellt, das bei Italienern
Wege nutzen, aber den lexikalisch-semanti-
beim Lesen von italienischen Texten besonders
stark aktiviert ist. In (2) erkennt man die beiden schen Weg offenbar hemmen, um vorwiegend
Hirngebiete, die bei Engländern beim Lesen von den sublexikalischen zu nutzen. Aufgrund
englischen Texten besonders stark aktiviert sind. dieses Befunds ist vorstellbar, dass beide Wege
Es sind dies der Gyrus fusiformis und der Gyrus strategie- und/oder expertiseabhängig von
frontalis inferior. Lesern genutzt werden können.
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612 19. Lesen und Schreiben
frühen Sprachen sowie die japanische Orthografische Regeln werden bereits 150–
(Kanji) und chinesische Schriftsprache sind 180 ms nach Wort- und Buchstabenpräsen-
logografische Systeme, d. h., sie verwenden tation bearbeitet. Die lexikalisch-semanti-
für einen Begriff ein Wort. Andere Sprach- schen Analysen beginnen 200 ms nach
systeme beruhen auf dem Prinzip, dass Wortpräsentation.
Sprachlaute (Phoneme) bestimmten Sym- • Im Rahmen des Modells des direkten Zu-
bolen zugeordnet werden. griffs wird davon ausgegangen, dass die
• Grundsätzlich müssen beim Lesen nach- visuellen Informationen über Buchstaben
einander verschiedene Analysen durch- und Grapheme direkt und ohne Umweg
geführt werden: Zunächst erfolgen elemen- über das phonologische Codieren in das
tare visuelle Analysen, gefolgt von der semantische Gedächtnis geleitet werden.
Buchstaben- und Worterkennung und letzt- Der phonologische Weg ist damit nicht
lich der semantischen Analyse. Die einzel- zwingend notwendig, um das semantische
nen Stufen dieses sequenziellen Prozesses Gedächtnis zu aktivieren. Beide Wege kön-
interagieren. nen sich jedoch gegenseitig beeinflussen.
• Es wird davon ausgegangen, dass ein spezi- Ein anderes Modell geht von einer zwin-
fisches Hirngebiet existiert, in dem das vi- gend vorhandenen phonologischen Ver-
suelle Lexikon für Wörter lokalisiert ist. mittlung aus, bei welcher der phonologi-
Dies ist das Wortformareal, das sich links- sche Abruf eine zwingende Voraussetzung
hemisphärisch im Gyrus fusiformis be- ist, um das semantische Gedächtnis zu ak-
findet. tivieren. Beide Modelle werden durch Be-
• Untersuchungen zur funktionellen Neuro- funde gestützt.
anatomie des Lesesystems haben ergeben, • Semantische Kenntnisse können im Sinne
dass ein verteiltes, linksseitig dominieren- eines Top-down-Prozesses auf die Wort-
des Netzwerk beim Lesen beteiligt ist. Für und Buchstabenerkennung einwirken.
die orthografischen Analysen werden fol- • Unterschieden werden erworbene von an-
gende Hirngebiete genannt: bilateraler Ok- geborenen Lesestörungen. Bei den erwor-
zipitalkortex, Gyrus fusiformis posterior, benen werden des Weiteren zentrale von
linksseitiger Gyrus fusiformis (medialer peripheren Dyslexien abgegrenzt. Zu den
Teil), posteriorer Gyrus temporalis inferior. zentralen Dyslexien werden die Tiefendys-
Für die Phonologie sind es die Hirngebiete lexie, die Oberflächendyslexie und die
Sulcus temporalis superior, Lobulus parieta- reine Alexie gezählt. Die zugrunde liegende
lis inferior, Gyrus frontalis inferior, anteriore Störung ist anhand des Zwei-Wege-Modells
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19.10. Weiterführende Literatur 613
tales Netzwerk existiert, das insbesondere ses anhand der markanten neurophysiolo-
in die Kontrolle des Schreibens eingebun- gischen Signale, die mittels EEG und/oder
den ist. MEG gemessen werden können.
• Drei Arten der Agrafie werden unterschie- • Beschreiben Sie das Zwei-Wege-Modell des
den. Die reine Agrafie ist eine reine Produk- Leseprozesses und unterscheiden Sie daran
tionsstörung. Den Patienten ist das spon- die zentralen Lesestörungen.
tane Schreiben oder das Schreiben nach • Was ist das Exner-Areal?
Diktat unmöglich. Die lexikalische Dysgra- • Finden sich in modernen bildgebenden Ar-
fie wird auch als semantische bzw. Tiefen- beiten Anzeichen für eine funktionelle Spe-
dysgrafie bezeichnet. Bedeutungshaltiges zialisierung für das Schreiben? Wenn ja,
Material kann weder ausgesprochen noch wo?
geschrieben werden. Bei der phonologi- • Diskutieren Sie die funktionelle Neuroana-
schen Dysgrafie wird ausschließlich über tomie des Lesens in anderen Sprachen.
die lexikalische Bahn, die semantische In-
formationen vermittelt, geschrieben. Der
sublexikalische Weg dagegen ist gestört. 19.10. Weiterführende Literatur
• Leser von logografischen Sprachen nutzen
prinzipiell das gleiche Lesesystem wie Le- Melby-Lervag, M., Lyster, S. A., Hulme, C.
ser anderer Sprachen. Es gibt jedoch spezi- (2012). Phonological skills and their role in
fische Unterschiede. So nutzen z. B. Italie- learning to read: a meta-analytic review. Psy-
ner beim Lesen des Italienischen etwas chol Bull, 138(2), 322–352.
Price, C. J. (2012). A review and synthesis of the
stärker die sublexikalische Route, während
first 20 years of PET and fMRI studies of
Engländer beim Lesen von englischen Tex-
heard speech, spoken language and reading.
ten stärker die lexikalisch-semantische
Neuroimage 62(2), 575–1324.
Route nutzen. Auch Chinesen und Japaner Rüsseler, J. (2006). Neurobiologische Grund-
scheinen beim Lesen von chinesischen und lagen der Lese-Rechtschreibschwäche. Zeit-
japanischen Texten vermehrt die lexika- schrift für Neuropsychologie, 17(2), 101–111.
lisch-semantische Route zu nutzen.
• Studien mit Bilingualen haben gezeigt, dass
die sublexikalische und die lexikalische
Route miteinander interagieren können
und dass eine Route zugunsten der anderen
gehemmt werden kann.
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615
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20.2. Emotion und Motivation – was ist das? 617
ren; wenn es ihnen nicht gelingt, dann sind sie damit die Erste-Person-Perspektive mit Fra-
nicht erfolgreich. Im Berufsleben leiden viele gebögen oder durch andere Formen der Selbst-
Menschen unter Motivationsproblemen und beschreibung erschlossen. Die anderen beiden
benötigen Motivationstrainings, um sich für Ebenen unterscheiden sich von dieser da-
die kommenden Aufgaben zu motivieren. durch, dass Kennwerte gemessen werden kön-
Je nach Disziplin und Blickwinkel werden nen, mit denen ihr Zustand objektiv beschrie-
die Begriffe unterschiedlich definiert. Bislang ben werden kann. Die Person wird quasi von
ist es nicht gelungen, die verschiedenen De- außen betrachtet und es wird gemessen, in-
finitionen zusammenzuführen und durch für dem eine objektive Position eingenommen
alle Disziplinen gültige Befunde zu bestätigen. wird. Sie wird also aus der Dritte-Person-Per-
In diesem Kapitel wird deshalb versucht, auf spektive betrachtet.
der Basis von Arbeitsdefinitionen Emotion Eine dieser beiden Ebenen ist die physiolo-
und Motivation aus dem Blickwinkel der Neu- gische mit den verschiedenen physiologischen
ropsychologie bzw. der kognitiven Neurowis- Reaktionen, z. B. Veränderungen der Herzfre-
senschaften zu beschreiben. quenz, der Hautdurchblutung, der Schweiß-
drüsen- oder der Hirnaktivität. Die andere
Ebene ist die Verhaltensebene. Wenn wir uns
20.2. Emotion und Motiva- fürchten, entfernen wir uns von der Furcht-
tion – was ist das? quelle, wenn wir uns in Gegenwart eines ande-
ren Menschen wohlfühlen, dann lachen wir.
Eine in der Psychologie weit verbreitete Ar- Diese Verhaltensänderungen sind ebenfalls
beitsdefinition fasst die Emotion als einen objektiv messbar und der emotionale Prozess
psychophysiologischen Prozess auf, der durch wird aus der Dritte-Person-Perspektive be-
bewusste und/oder unbewusste Prozesse trachtet. Obwohl Erste- und Dritte-Person-
(meist Wahrnehmungen, aber auch kognitive Perspektive gemessen werden können, ist der
Interpretationen von Situationen oder Objek- Zusammenhang zwischen diesen beiden Ebe-
ten) ausgelöst wird. Anders ausgedrückt ist die nen derzeit noch nicht geklärt. Zum Beispiel
Emotion eine Reaktion auf Reize, weshalb können aus den objektiv ermittelten Kenn-
auch von emotionalen Reaktionen gespro- werten der Dritte-Person-Perspektive keine
chen wird, wenn emotionale Prozesse gemeint eindeutigen Rückschlüsse auf die Erste-Per-
sind. Jede spezifische Emotion ist mit Ver- son-Perspektive gezogen werden. Das liegt
änderungen der physiologischen Erregung, u. a. daran, dass die physiologischen Reaktio-
der Kognition, des empfundenen Gefühls und nen nicht eindeutig bestimmten subjektiven
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618 20. Emotion und Motivation
Zuständen zugeordnet werden können. Je- ger). Daraus entwickelt sich die Motivation,
mand kann z. B. aufgrund unkontrollierbarer d. h. das Streben des Organismus nach Reduk-
Freude weinen; wir weinen allerdings auch, tion der Regelabweichung (Motivation = Stre-
wenn wir trauern. Die Herzfrequenz steigert ben nach Zielen). Diese Reduktion der Regel-
sich unter freudiger Erregung, aber auch bei abweichung kann auf zwei Arten realisiert
Angst. Ähnlich unpräzise Zuordnungen zwi- werden: indem der Ist-Wert erhöht oder indem
schen objektiven und subjektiven Kennwerten der Soll-Wert erniedrigt wird. Im Fall des Hun-
von Emotionen bestehen für Hirnaktivierun- gers wird der Organismus bestrebt sein, den
gen bei bestimmten Emotionen. So ist z. B. das Ist-Wert zu erhöhen, indem der fehlende Roh-
Inselgebiet, das in die Verarbeitung von Emo- stoff einverleibt, also glukose-, fett- oder vita-
tionen eingebunden ist, bei verschiedenen minhaltige Nahrung gegessen wird. Anhand
Emotionen aktiv (und auch bei der Sprachver- dieses Beispiels ist zu erkennen, wie Emotion
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arbeitung). Auch die Amygdala ist bei vielen und Motivation miteinander verzahnt sind. Die
negativen Emotionen aktiv, anhand der Amyg- Emotion ist die Reaktion auf die Regelabwei-
dala-Aktivität kann jedoch nicht zwischen chung (man könnte sie auch mit der Regel-
Angst, Ärger oder Depressionen unterschie- abweichung gleichsetzen) und leitet motivier-
den werden. Da die Erste- und Dritte-Person- tes Verhalten ein.
Perspektive nicht deckungsgleich sind und Dass Emotion und Motivation als Bestand-
bestenfalls miteinander korrelieren, werden teile eines Regelkreises aufzufassen sind, hat
beide Ebenen komplementär registriert und Konsequenzen für den Ablauf und die Dy-
interpretiert (Fahrenberg, 1979). namik von Emotionen. Regelkreise können
Emotionen sind für die Verhaltenssteue- insbesondere bei Parameterveränderungen
rung sehr wichtig. Sie üben dabei folgende instabil werden, selbst wenn die einzelnen Be-
Funktionen aus: standteile stabil bleiben. Parameterverände-
1. Regulierung organismischer Zustände rungen können in unserem Modell z. B. Ver-
2. Herstellung von Handlungsbereitschaft stärkungsfaktoren sein. Dies kann eine zu
3. Vorbereitung unserer Handlungen starke oder stärker als notwendige Kompensa-
4. signalisieren den Sozialpartnern unsere tion der Regelabweichung sein. Bei einem be-
Verhaltensintentionen. sonders ängstlichen Menschen kann eine
Angstemotion viel zu starke Korrekturmecha-
Stellen Sie sich vor, eine Person leidet unter nismen (Motivationen) auslösen. Aber auch
dem Mangel eines bestimmten Rohstoffs (z. B. natürliche Schwankungen der Messsensoren
Zucker). Dieser Mangelzustand würde von ent- für Ist- und Soll-Werte und Schwankungen der
sprechenden Messsensoren im Körper ent- Kompensationsmechanismen resultieren in
deckt und mit der für die Aufrechterhaltung
der Lebensfunktionen notwendigen Menge an Regelkreismodell der Motivation
Rohstoffen verglichen. Im Sinne der System- falls ungleich
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20.2. Emotion und Motivation – was ist das? 619
Oszillationen. Auch Verzögerungen, die sich noch eine kurze Zeit aktiv, bis sie durch eine
durch Signalverarbeitungen und Systemträg- andere Ausgleichsemotion kontrolliert wer-
heiten ergeben können, tragen dazu bei, dass den. In den kurzen Zeitperioden, in denen die
der Ist-Wert nie perfekt mit dem Soll-Wert vormaligen Ausgleichsemotionen unkontrol-
übereinstimmt; er „hinkt“ immer ein bisschen liert aktiv sind, entstehen starke, manchmal
hinterher. paradox wirkende emotionale Reaktionen.
In der Psychologie sind Oszillationen von Beim Fallschirmspringen z. B. haben v. a. Neu-
Emotionen häufig beschrieben worden und linge Angst. Bei der erfolgreichen Landung ist
haben zu einer Emotionstheorie geführt, die Ausgleichsemotion Freude (zu landen)
der Opponent-process-Theorie von R. L. noch aktiv. Diese Emotion hat schon vor der
Solomon (1980; Abb. 20-2). Im Wesentlichen Landung eingesetzt und kann sich nach der
geht diese Theorie davon aus, dass eine emo- Landung für eine kurze Zeit ohne starke Ge-
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tionale Reaktion durch eine gegensätzliche genregulation entfalten. Die Personen emp-
(die Ausgleichsemotion) kontrolliert wird. finden dann nicht nur Freude, sondern sind
Die Grundidee ist, dass die Ausgleichsemotion sogar euphorisch.
wie ein „Gummiband“ funktioniert, um die Bei der Vorbereitung und Durchführung
auszugleichende Emotion nicht zu stark wer- des Verhaltens entstehen Signale, die von Sozi-
den zu lassen. Ausgleichsemotionen helfen, alpartnern erkannt werden. Beim Hunger sind
die auszugleichende Emotion zu beenden die Signale möglicherweise nicht so eindeutig,
und/oder abzuschwächen. So kann z. B. Trauer bei anderen Motiven und Emotionen ist dies
durch Freude ausgeglichen bzw. kontrolliert jedoch anders. Wenn sich z. B. jemand fürch-
werden. Dabei wird angenommen, dass die tet, wird Fluchtverhalten eingeleitet, das dazu
Ausgleichsemotionen später einsetzen als die dient, aus dem Einflussbereich der angstgene-
auszugleichenden Emotionen, jedoch genauso rierenden Reize zu gelangen. Die Einleitung
lange andauern. Dadurch sind die Ausgleichs- der Flucht ist mit typischen Signalen (z. B. ei-
emotionen auch nach der Gegenregulation nem ängstlichen Gesicht) gekoppelt, die von
den Sozialpartnern schnell und präzise er-
kannt werden.
Wie oben dargestellt, ist das Gefühl nicht
mit der Emotion gleichzusetzen, sondern der
Freude/Glück
subjektiv empfundene Anteil der Emotion.
Unglück Emotionen sind kurz und intensiv. Davon ab-
zugrenzen sind Stimmungen, die andauernd
Stimulus und in der Regel schwach sind. Stimmungen
Zeit
Freude/Glück können lange unbemerkt bleiben, während bei
Emotionen die Auslöser und die verschie-
denen Reaktionskomponenten in der Regel
Unglück nicht unbemerkt bleiben. Gelegentlich werden
Stimmungen und Emotionen anhand der Ge-
richtetheit abgegrenzt. Emotionen sind auf
etwas gerichtet, während Stimmungen eher
Stimulus diffus sind; sie richten sich nicht auf ein be-
Zeit
stimmtes Objekt und nicht zwingend auf eine
Abbildung 20-2: Opponent-process- Theorie der Bedürfnisbefriedigung. Man kann „guter
Emotionen. Laune“ sein oder sich „erschöpft“ fühlen. Von
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620 20. Emotion und Motivation
Affekten wird gesprochen, wenn die Emotio- Reiz wirken, der letztlich weitere emotionale
nen Handlungen auslösen, die in der Regel Reaktionen und v. a. die Gefühle auslöst
nicht oder nur schwer kontrollierbar sind. Af- (Abb. 20-3). Auf eine kurze Formel gebracht
fekte sind demzufolge kurz andauernde Emo- bedeutet dies: „Wir haben Angst, weil wir zit-
tionen mit einer Handlungskomponente. tern, aber wir zittern nicht, weil wir Angst ha-
Emotionsauslösende Reize können vielfäl- ben.“ Die wahrgenommenen Gefühle sind die
tig sein. Auch für den Menschen existieren Reaktionen auf Veränderungen in den Ein-
biologisch vorbereitete Reize, auf die der Or- geweiden und im motorischen System, die ih-
ganismus automatisch emotional reagiert. So rerseits von den entsprechenden Reizen aus-
können bestimmte Reizkonstellationen Angst gelöst worden sind, und nicht umgekehrt.
(Tiefeninformationen oder sich schnell nä- Nach heutiger Kenntnis der Neuroanatomie
hernde Reize), Zuwendung (Kindchenschema, würden die emotionalen Reize zunächst über
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erotische Reize) oder Ekel auslösen. Solche den Kortex vermittelt werden (1 in Abb. 20-3),
Reize will man meiden oder sich ihnen aus- was zu körperlichen Reaktionen führt (2 in
setzen. In beiden Fällen führt dies in unserem Abb. 20-3), die zum Kortex (insbesondere zum
Regelkreismodell zu Regelabweichungen und sensorischen Kortex) zurückgemeldet (3 in
den entsprechenden Verhaltensweisen. Auch Abb. 20-3) und erst dann zu Gefühlen umco-
kognitive Motive (z. B. die Leistungsmotiva- diert und als solche interpretiert werden (4 in
tion) können über das Regelkreismodell er- Abb. 20-3).
klärt werden. Beim Menschen muss berück- Etwa 40 Jahre nach James und Lange ent-
sichtigt werden, dass er seine Umwelt und wickelten die US-amerikanischen Neurophy-
seine Empfindungen interpretieren und um- siologen Cannon und Bard eine neue Emo
deuten kann. So kann z. B. derselbe Reiz bei
verschiedenen Personen zu unterschiedlichen Gefühle
Emotionen führen. Emotionen kann man sich
auch vorstellen oder im Traum erleben. Sie 4
können von verbalen Äußerungen begleitet
zerebraler Kortex
sein, es ist aber auch möglich, dass sie nicht in
sensorischer Motor-
Worte gefasst werden. Emotionen sind beim Kortex kortex
Menschen erheblich von der individuellen 1 2
Lernerfahrung beeinflusst.
3 körperliche
emotionale Reaktion
Stimuli
20.3. Emotionstheorien
Abbildung 20-3: Schematische Darstellung der
Der US-amerikanische Psychologe William James-Lange-Theorie. Die in dieser Abbildung
James und der dänische Psychologe Carl Lange aufgeführten Zahlen kennzeichnen die postulier-
ten Informationswege. 1: Emotionale Stimuli wer-
entwickelten zeitgleich eine der ältesten Emo-
den in den sensorischen Kortexgebieten verarbei-
tionstheorien, die auch nach ihnen benannt
tet. 2: Über unbewusste Mechanismen werden
wurde: die James-Lange-Theorie. Sie gingen
dann körperliche Reaktionen ausgelöst. 3: Die mit
davon aus, dass gewisse Reize über das auto- diesen körperlichen Reaktionen assoziierten phy-
nome Nervensystem Reaktionen in den Ein- siologischen Signale werden zum Kortex zurück-
geweiden und im motorischen System hervor- gemeldet. 4: Im Kortex werden dann anhand der
rufen. Das Zusammentreffen dieser beiden Interpretation dieser Signale die Gefühle er-
Arten von Reaktionen sollte seinerseits als schlossen.
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20.3. Emotionstheorien 621
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622 20. Emotion und Motivation
von den kognitiven Aspekten in einer Situation (1994). Bemerkenswert ist, dass LeDoux in
als Freude, Ärger usw. interpretiert werden. seinen theoretischen Arbeiten allgemein über
Eine bestimmte Aktivierung ist jedoch immer Emotionen spricht, er sich in seinen wissen-
notwendig, damit Emotionen entstehen. Wel- schaftlichen Arbeiten allerdings ausschließ-
che Emotion letztendlich entsteht, hängt von lich auf die Emotion Angst konzentriert. Für
den Hinweisreizen und den daraus resultie- LeDoux ist die Amygdala die zentrale Struktur
renden kognitiven Interpretationen ab.
Die Cannon-Bard-Theorie griff explizit auf
die zu dieser Zeit diskutierten neuroanato- Erinnerung
mischen Befunde zum limbischen System zu- Gefühl
rück. Unter dem limbischen System werden
seit Broca die inferomedialen Anteile beider sensorischer
Kortex
Gedanken
Neokortex
Hemisphären zusammengefasst (grand lobe
limbique), die zu den phylogenetisch älteren
Teilen des Gehirns zählen. Broca unterschied Cingulum
einen äußeren und einen inneren Ringbezirk.
Der äußere Ring besteht aus dem entorhina- thalomo-
Cingulum
kortikale
len, retrosplenialen, periamygdalärem und Verbindungen
cingulärem Kortex. Zum inneren Teil zählen anteriorer Hippo-
Hippocampus, Amygdala, Hypothalamus und Thalamus campus
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20.3. Emotionstheorien 623
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624 20. Emotion und Motivation
3
Konzept aufgegriffen und in seine Emotions-
Amygdala
theorie (neurokulturelle Theorie der Emo-
2.5
tionen) einfließen lassen (Ekman, 1993).
Aktivierung der Amygdala
2
Ekman betrachtet die Emotionen im Wesent-
1.5
lichen aus dem Blickwinkel des emotionalen
1
Ausdrucks und insbesondere der Mimik. Aus
0.5 seiner Sicht sind am Zustandekommen des
0 emotionalen Ausdrucks verschiedene Kom-
–0.5 ponenten beteiligt:
–1 • Auslöser
–1.5 • Affektprogramme für Basisemotionen
2.5 3 3.5 4 4.5 5 • Darbietungsregeln
Arousal-Bewertung
•
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Bewältigungsregeln.
Abbildung 20-7: Abhängigkeit der Amygdala-
Aktivierung vom Ausmaß der subjektiv empfun- Auslöser sind bestimmte Reizkonstellationen,
denen Erregung beim Hören von Musik (nach die die Affektprogramme auslösen können.
Baumgartner et al., 2006). Dies können Gesichtsausdrücke anderer Per-
sonen oder soziale Konstellationen sein. Die
Amygdala bereits tonisch voraktiviert ist und Affektprogramme sind vererbte Programme,
bei denen neutrale und auch positive Reize zu die mimische und vegetative Reaktionen und
einer Zunahme der Amygdala-Aktivierung bestimmte Verhaltensweisen kontrollieren.
führen. Die Amygdala ist bei starker emotiona- Ekman nimmt distinkte Affektprogramme an,
ler Erregung (arousal) aktiv, auch wenn keine die spezielle Basisemotionen kontrollieren,
Angst ausgelöst wurde, z. B. beim Hören von die durch typische mimische Ausdrücke cha-
aktivierender Musik (Baumgartner et al., 2006; rakterisiert sind. Darbietungsregeln sind er-
Abb. 20-7). Auch Musik, die man nicht mag, lernte kulturelle Regeln, die auf den emotiona-
evoziert Aktivierungen der Amygdala. Insofern len Ausdruck (Mimik und Gestik) einwirken.
müssen zumindest im Zusammenhang mit der Sie können dazu führen, dass der emotionale
Erforschung von Emotionen beim Menschen Ausdruck gehemmt oder gefördert wird. Ty-
und der Einbindung der Amygdala die Befunde pisch ist dies für das Lachen; in den USA ist das
differenziert eingeordnet werden. In Tierver- Lachen weit weniger gehemmt als z. B. in asia-
suchen ist die Amygdala bislang viel deutlicher tischen Kulturen. Letztlich sollen Bewälti-
als beim Menschen mit der Angst in Verbin- gungsregeln die Gefühle insgesamt regeln
dung gebracht worden. können. Mit diesen gelernten Bewältigungs-
regeln können Gefühle abgeschwächt, hinaus-
gezögert oder verstärkt werden. Zentral für
20.4. Konzept der Basis diese Theorie sind die Basisemotionen, die
emotionen – von Darwin zwar auch in anderen Emotionstheorien the-
zu Ekman matisiert werden, aber bei Ekman mit be-
stimmten mimischen Ausdrücken in Verbin-
Mit seinem 1872 erschienenen epochalen dung gebracht werden. Ekman definiert
Werk The expression of emotions in man and folgende Basisemotionen anhand der mi-
animals übt Charles Darwin einen bis heute mischen Ausdrücke:
währenden Einfluss auf die Emotionspsycho- • Furcht
logie aus. Vor allem Paul Ekman hat dieses • Wut
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Aus Lutz Jäncke: „Lehrbuch Kognitive Neurowissenschaften“ (9783456861173) © 2021 Hogrefe Verlag, Bern.
20.5. Theorie von Panksepp – die Rolle von Emotionssystemen 625
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626 20. Emotion und Motivation
Tabelle 20-1: Emotionssysteme nach Panksepp mit den beteiligten Hirnregionen und Neurotrans
mittern.