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Verstehen im Unterricht

Arno Combe • Ulrich Gebhard

Verstehen im Unterricht
Die Rolle von Phantasie
und Erfahrung
Arno Combe,
Ulrich Gebhard,
Universität Hamburg
Hamburg, Deutschland

ISBN 978-3-531-17822-6 ISBN 978-3-531-94281-0 (eBook)


DOI 10.1007/978-3-531-94281-0

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Inhalt

1 Verstehen im Unterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

2 Erfahrungsprozesse in der Handlungswelt und in der


geistig-literarischen Weltbegegnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

3 Zur Erkenntnisdramaturgie von Erfahrungsprozessen bei


„geistigen Erfahrungen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
3.1 Irritation und Krise als Beginn eines Erfahrungsprozesses . . . . . . . . . 21
3.2 Die Öffnung eines Vorstellungs- und Phantasieraumes:
Verschiebungen des Blickwinkels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
3.3 Rückzug und Dialog: Dem Neuen Begriffe geben . . . . . . . . . . . . . . . 26

4 Irritations- und Krisenkonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

5 Phantasien als Abkömmlinge des Unbewussten . . . . . . . . . . . . . . . . . 33


5.1 Das „wahre innere Afrika“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
5.2 Das Unbewusste in der Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
5. 3 Unbewusste Informationsverarbeitung und
Kognitionspsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
5.4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40

6 Phantasien und die Bildung von Möglichkeitsräumen.


Manifestationen beim Problemlösen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

7 Phantasieformen – Versuch einer Systematisierung . . . . . . . . . . . . . 49


7.1 Traum und Problemlösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
7.2 Intuition als geronnene Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
7.3 Assoziation als Annäherung an das Fremde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
7.4 Das Gedankenexperiment als systematisches Abschreiten
der Möglichkeitsräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
7.5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

8 Die Fremdheit des Gegenstandes und die Möglichkeit


des Verstehens. Bildungstheoretische Anmerkungen . . . . . . . . . . . . 57

5
Inhalt

9 Fallgeschichten:
Die Wiederherstellung der Vieldeutigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
9.1 Wissenakkumulation und Engführung – 1. Fallgeschichte . . . . . . . . 66
9.2 Fragen als Eröffnung – 2. Fallgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
9.3 Der Aufbau einer mentalen Infrastruktur im
Mathematikunterricht – 3. Fallgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
9.4 Pluralität, die nicht beliebig ist – 4. Fallgeschichte . . . . . . . . . . . . . . 76
9.5 Unterrichtsanfänge im Zeichen der Berührung und
Konfrontation – 5. Fallgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
9.6 Das Projekt: Expeditionen in fremde Sinnwelten? –
6. Fallgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84

10 Verweilräume und Übergänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89


10.1 „Entselbstverständlichung“, Irritation und Verstehen . . . . . . . . . . . . . 89
10.2 Szenarien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92
10.3 Die Schaffung hypothetischer Räume auf dem Boden von
Phantasie und Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96
10.4 Zur „Tiefe“ des Verstehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100

11 Der Ansatz der Alltagsphantasien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103


11.1 Phantasien und die Konstituierung des Lerngegenstands . . . . . . . . . 103
11.2 Was sind Alltagsphantasien? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104
11.3 Alltagsphantasien und Zweisprachigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
11.4 Alltagsphantasien – Inhaltliche Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
11.5 Zur Wirksamkeit der expliziten Reflexion von
Alltagsphantasien in Lernprozessen – empirische Hinweise . . . . . . 112
11.6 Irritation, Krise und fruchtbare Momente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

6
1 Verstehen im Unterricht

Die Schule verspricht Verstehen. Mehrfach ist die Frage nach der Qualität und
Reichweite des Verstehens im Unterricht – zuletzt in Zusammenhang mit den
Ergebnissen der internationalen Vergleichsstudien wie PISA, TIMMS oder
IGLU – auf die Tagesordnung gesetzt worden. Die Interpretation des teilweise
enttäuschenden Abschneidens der Jugendlichen lautete: der Unterricht an deut-
schen Schulen ist wenig „verständnisvoll“ (Baumert/Köller 2000) bzw. „ver-
ständnisintensiv“ (Fauser 2003).
Wer Verstehen zum Leitbegriff einer Untersuchung macht, sieht sich einer
Bedeutungsfülle und der Verwendungsvielfalt des Begriffs gegenüber (vgl. etwa
die Übersichtsarbeiten von Scholz 2001; Horstmann 2004). Das wirft die Frage
auf: Wie lässt sich angesichts einer solchen Bedeutungsfülle und Verwendungs-
vielfalt das Problem des Verstehens im Unterricht überhaupt lokalisieren?
Das Problem des Verstehens hat aus unserer Sicht etwas zu tun mit einem
Riss zwischen den Wissensformen. Auf der einen Seite steht die Struktur und
Logik der fachlichen Konzepte und fachsprachlichen Mittel. Auf der anderen
Seite tragen Schüler ihre in der Alltagswelt bewährten Erfahrungen, Vorstellun-
gen und Perspektiven an ein Thema und Gegenstand heran. Es geht also beim
Verstehen im Unterricht um Brückenschläge zwischen diesen unterschiedlichen
Wissensbeständen, und die uns interessierende Frage ist, wie der Übergang von
der Alltagspersperspektive zur Sachperspektive gestaltet werden kann: mit wel-
chen Mitteln, Implikationen und Folgen.
Oskar Negt charakterisiert die Problematik des Verstehens im Unterricht mit
dem Stichwort „Dualismus“. Er deutet eine Möglichkeit des Übergangs und ei-
nen Weg zur Bewältigung des Dualismus an: „Der Lehrer muss wissen, was
in den Kindern vorgeht, was sie mitbringen an Vorurteilen, an Neugierverhal-
ten, an schon besetzter Phantasie. Pädagogische Arbeit kann nur darin bestehen,
die Alltagsspekulation der Kinder, die Phantasie als Materie aufzugreifen und
umzustrukturieren, zu entwickeln, nicht einfach parallel dazu oder dagegen et-
was zu setzen“ (1982, 134). Es gilt also, die subjektive und die objektive Welt
nicht als polar gegenüberstehende Seiten voneinander abzugrenzen. Die Kunst
ist vielmehr, sie produktiv miteinander zu vermitteln und das Spannungsverhält-
nis nicht nach der einen wie der anderen Seite aufzulösen. Das Ziel ist weder die
Eliminierung der alltäglichen Vorstellung noch die Preisgabe eines allgemeinen

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A. Combe, U. Gebhard, Verstehen im Unterricht, DOI 10.1007/978-3-531-94281-0_1,
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1 Das Problem des Verstehens im Unterricht

Verständigungsrahmens. Wir möchten in dieser Arbeit sowohl eine theoretische


Perspektive als auch empirische Anhaltspunkte für diese Problematik entfalten.
Angesichts der Pluralität und Heterogenität in der Gesellschaft ist das Ver-
stehensproblem in ganz neuer Weise aufgebrochen. Werner Helsper schreibt
schon Mitte der 1990er Jahre: „Die Bandbreite möglicher subjektiver Bedeutun-
gen von Lerninhalten nimmt im Kontext der soziokulturellen Pluralisierungen
zu. Zugleich stoßen Lehrer verstärkt auf neue generalisierte Wissensbestände,
die – jenseits des längst gebrochenen Wissensvermittlungsmonopols der Schule
– häufig massenmedial eingespeist werden. Damit steigen die Anforderungen
an Lehrer, zwischen der Logik des Inhaltes und der Logik der Schülersubjekte
zu vermitteln“ (1996, 543). Der Lehrer muss also mit einer Vielzahl von indivi-
duellen Zugängen rechnen, die oft nicht bewusst sind und somit auf eine nicht
ohne weiteres zugängliche Weise ihre je kulturellen, sprachlichen und sozialen
Facetten entfalten. Die Pädagogische Psychologie und auch die Schulpädagogik
empfiehlt, diesen einzelnen Zugängen gleichsam eine Stimme zu geben, ob in
Form der „Vorwissensaktivierung“ (Krause/Stark 2006), der Mobilisierung be-
reits etablierter Alltagsvorstellungen (Kattmann 2003), oder auch in „individu-
alisierten Settings“ (Bräu 2007). Jeweils soll dem ganz und gar Individuellem
von Konstruktionsvorgängen Rechnung getragen werden.
Sinn und Bedeutung kann nicht von außen verabreicht werden. Sinn muss
subjektiv erzeugt werden, gleichsam im Durchgang durch die eigene Geschichte
hindurch. Den Sinn und die Bedeutung eines Unterrichtsgegenstandes muss je-
der selbst herstellen – ein höchst individueller, eigentätig-konstruktiver Vorgang
und Entwurfsprozess, der nicht delegierbar ist.
Damit stellt sich nicht nur unterrichtspraktisch, sondern auch systematisch
allerdings ein Übergangsproblem, das sich mit dem Verstehen auftut: nämlich
wie sich aus der Vielfalt des Besonderen heraus ein verbindliches Allgemeines
konstruieren bzw. anzielen lässt. Sehr wohl müssen Formen der Ausdrückbarkeit
der individuellen Zugänge gefunden werden – dieses Buch ist gewissermaßen
ein Plädoyer für die Bedeutungshaftigkeit, geradezu die Würde dieser Zugänge,
die es entsprechend zu achten gilt. Aber zugleich – und das ist der ebenso wich-
tige komplementäre Gedanke – hat die Schule auch eine Generalisierungsleis-
tung zu erbringen. Allein die Sicherung der Möglichkeit der gesellschaftlichen
Teilhabe verlangt schon eine Basis an gemeinsamen Wissens- und Symbolbe-
ständen (hierzu Tenorth 1994; 2004). So sehr die schon etablierten Vorstellun-
gen der Schüler im Unterricht tatsächlich berücksichtigt und wertgeschätzt wer-
den sollen, so wenig kann man diese untransformiert und kommentarlos einfach
so stehen lassen. Den subjektiven Zugängen, Wegen und Konstruktionen der
Schüler kann nicht ausschließlich gefolgt werden, wie auch das Allgemeine,
der Schulstoff, dem Schüler nicht mit der Endgültigkeit eines über Generatio-

8
1 Das Problem des Verstehens im Unterricht

nen gespeicherten Wissens gegenübertreten darf – gewissermaßen ohne jegliche


Bruchstellen, an denen sich die inhaltliche Leidenschaft oder Nachdenklichkeit
doch erst entzünden könnte (vgl. Rumpf 1996; 2004; 2010). Das ist das wahr-
lich „antinomisch“ gestrickte Problem des Übergangs von der subjektiven zur
sachlich-objektiven Seite, für das wir in dieser Arbeit theoretisch-systematisch
sowie durch die Untersuchung von Unterrichtsbeispielen eine Lösung diskutie-
ren und vorschlagen möchten. Antinomisch heißt: man kann das eine nicht tun
und das andere nicht lassen.
Diese spannungsreiche Situation charakterisieren wir mit dem Begriff der
„Zweisprachigkeit“ (Gebhard 2003; Combe/Gebhard 2007): Alltags- und Wis-
senschaftssprache sind funktionierende Kommunikationssysteme, die man we-
der gegeneinander ausspielen noch eine von beiden favorisieren darf. Es gilt,
beide „Sprachen“ zu lernen. Oft muss sich die Fachsprache vom Alltagsge-
brauch lösen, etwa in Physik oder in der Chemie in Form der mathematischen
Darstellung, um Missverständnisse zu vermeiden. Wenn man allerdings solche
naturwissenschaftlichen Sachverhalte und Konzepte wiederum aus dem Blick-
winkel des Verstehens betrachtet, so verdankt sich dieses Verstehen immer auch
einer Form der Annäherung, die ihren Ausgangspunkt im Alltagssprachlichen
und den intuitiven, bilderreichen, geschichtenreichen und metaphorischen Fas-
sungen eines Sachverhaltes hat. Es wäre allerdings fragwürdig anzunehmen, die
Zweisprachigkeit betreffe nur die Naturwissenschaften oder die Mathematik.
Denn die Geisteswissenschaften sind längst fachlich geworden, und die interne,
von gegenseitiger Abgrenzung der Ansätze bestimmte Kommunikation hat eine
je eigene Begrifflichkeit hervorgebracht.
Wie kann man nun die Verschiedenheit der Zugänge und Ausgangslagen –
wozu nicht nur die Zugänge der Schüler, sondern auch die fachlichen Zugänge
gehören – für ein vertieftes Verstehen eines Gegenstandes oder eines Problems
nutzen? Was heißt es, die Interaktion im Unterricht auf das Verstehen hin aus-
zurichten?
Unser Vorschlag ist: Es muss mehr Hermeneutik, mehr Interpretieren und
ein viel intensiveres Abarbeiten von unterschiedlichen Deutungen Eingang in
den Unterricht finden. Genutzt würden dann Erkenntnisse, die man über das In-
terpretieren, Deuten und Verstehen sowohl theoretisch als auch im Umgang mit
Interpretationsverfahren in den letzten Jahrzehnten gemacht hat. Es sind vor al-
lem Vergleiche, die den Zugang zu einem tieferen Verstehen ebnen. Eine Inter-
pretationspraxis des systematischen Vergleichens schärft den Blick für die Be-
deutungen eines Sachverhalts und für die Konsequenzen, die mit bestimmten
Deutungen verbunden sind. „Alle Bemühungen um Fremdverstehen“, so fasst
Jürgen Straub seine Untersuchungen zu Formen und Bedeutung der „kompara-
tiven Analyse“ zusammen, „sind an Vergleiche gebunden, die angestellt wer-

9
1 Das Problem des Verstehens im Unterricht

den müssen, wenn über kulturelle und interkulturelle Phänomene überhaupt


etwas Gehaltvolles soll gesagt werden können“ (2010, 67). Ein tieferes Verste-
hen würde somit der oft anzutreffenden, schnellen Vereindeutigung eines Sach-
verhalts und der Suche nach einer einzig richtigen Lösung entgegenarbeiten.
Man würde verschiedene Aussagen heranziehen und prüfen, vorzugsweise sol-
che, die im Widerspruch und Kontrast zum ersten und damit auch oft dominie-
renden Eindruck stehen. Die eigenen Vorstellungen und Vorverständnisse kön-
nen zwar einen ersten kognitiven Zugang zu einem Thema ermöglichen, können
aber auch sachlich weiterbringenden Erkenntnissen im Wege stehen. Deshalb
müssen eben auch die eingeschliffenen Selbst- und Weltinterpretationen heraus-
gefordert und bis zu einem gewissen Grad irritiert werden. Überhaupt sind Ir-
ritationen durch das Andere und Fremde die Seismographen für das Verstehen.
Aber davon später.
Wir gehen in dieser Arbeit davon aus, dass angesichts der in jedem Unterricht
manifest werdenden Pluralität von Welt ein objektiver Bedarf an Hermeneu-
tik besteht: an Unterscheidung, vergleichender Interpretation und der Abarbei-
tung von Deutungsvarianten eines Sachverhalts. Bei aller Organisationsphanta-
sie, die im Moment in Bezug auf die Individualisierung des Unterrichts entfaltet
wird, darf die Vielfalt der Perspektiven im Interesse der Sinnkonstitution eines
Gegenstandes nicht aus dem Blickfeld geraten. Die Chancen für eine neue Fas-
sung pädagogischer Professionalität liegen darin, dass die Heterogenität der Un-
terrichtssituation Chancen zu einer relationalen Bestimmung der Gegenstände
und zu einem hermeneutischen, Sinn erkundenden Prinzip enthält, das man eine
„Gegeneinanderführung von Perspektiven“ (Combe 1992) nennen kann.
Natürlich dürften hier Einwände laut werden, die nicht zuletzt im Bereich
der Voraussetzungen und Bedingungen liegen. Deshalb möchten wir an dieser
Stelle schon einmal eine Richtungsangabe geben, um die Möglichkeiten und
Bedingungen in den Blick zu bekommen, die sich für eine hermeneutische Ar-
beit in Form der Gegeneinanderführung von Perspektiven im Unterricht erge-
ben:
ƒ Es muss eine Lernatmosphäre geschaffen werden, in der Schüler überhaupt
unterschiedliche Erfahrungen und Perspektiven an ein gemeinsames Thema
herantragen können. Damit entsteht eine Situation, die die Chance zum her-
meneutischen Arbeiten mit Vergleichshorizonten bietet.
ƒ Es muss explizit gemacht werden, in welcher Beziehung diese Zugänge zu-
einander stehen. Dies bedeutet auch, dass die fachlichen Perspektiven im
Lichte der anderen Perspektiven betrachtet und begründet werden, damit sie
ihre magistrale Dominanz verlieren.

10
1 Das Problem des Verstehens im Unterricht

ƒ Dadurch, dass der Umgang mit Zugängen und Sinnperspektiven gleichsam


„demokratisiert“ wird, könnten auch die fachlichen Perspektiven in ihrem
Konstruktionscharakter sichtbar werden.

Aber kann denn eine so unspektakuläre unterrichtspraktische Figur wie die Ab-
arbeitung von Deutungsperspektiven überhaupt größere Wirksamkeit entfalten,
Verstehenspotentiale anregen und neue Gestaltungsmöglichkeiten des Unter-
richts entfalten? Eine erste Reaktion von Lehrkräften auf dieses Perspektiven-
spiel könnte sein: Die Anwendung und Nutzung von Vergleichsperspektiven ge-
hört ohnehin zu den Grundprinzipien aufgeklärten didaktischen Arbeitens und
Unterrichtens. Wir möchten dies an späterer Stelle durch Unterrichtsbeispiele in
Frage stellen, zumindest hinterfragen. In einer anderen Version könnte die her-
meneutische Abarbeitung von Deutungsperspektiven im Unterricht als eine sehr
schwierige intellektuelle und soziale Leistung eingeschätzt werden, etwa auch
vor dem Hintergrund entwicklungspsychologischer Befunde, die besagen, dass
die sogenannte „Perspektivenübernahme“ oder der „Perspektivenwechsel“ erst
während der Kindheit, vor allem aber in der frühen Adoleszenz richtig zur Aus-
prägung kommen kann. Eine solche Einschätzung ist nicht von vornherein von
der Hand zu weisen. Denn die Abarbeitung von Perspektiven heißt nicht – wo-
bei auch der Begriff „Perspektivenübernahme“ irreführen kann –, dass das In-
teraktionsangebot des Anderen mittels des Vorstellungsvermögens gewisserma-
ßen „nachgeahmt“ wird. Vielmehr gilt es darüber hinaus, eine eigensinnige, aber
zugleich zur Perspektive des Anderen passende Antwort zu finden. So ausge-
legt ist der Gedanke des Verstehens des Eigenen vom Anderen her Bestandteil
verschiedener Theorietraditionen, nicht zuletzt der von A. Honneth aufgenom-
menen anerkennungstheoretischen Idee, dass „kognitive Weltbeziehungen (...)
an Einstellungen der Anerkennung gebunden sind“ (2005, 54). Dieser anerken-
nungstheoretische Gedanke ist in unterrichtsbezogener Weise bislang nur ver-
einzelt diskutiert worden (Helsper u. a. 2005; Hericks 2007, Ricken 2009).
Im Interesse eines verstehenden Lernens im Unterricht legen wir in unserem
Ansatz den Akzent auf ein intensives, hermeneutisch rekonstruierendes Einho-
len der inhaltsbezogenen Differenzerfahrungen. Der Weg führt dabei vom in-
dividuellen, oft intuitiven Zugang und Prozess der Annäherung an den Lernge-
genstand über eine vergleichende Gegeneinanderführung und Abarbeitung der
verschiedenen Deutungsmuster zum Verstehen der Sache. Dazu müssen die in-
tuitiven und spontanen Zugänge der Schüler der Überprüfung und Kommunika-
tion mit anderen zugänglich gemacht werden. Dies erfordert natürlich viel Zeit,
um die Vielfalt der Perspektiven gedanklich zu bewältigen. Aber nur so kann
der Sinn der fachlichen Wissensbestände immer wieder neu erzeugt werden.
Wir antworten also in dieser Arbeit auf die Pluralität von Welt mit dem Hinweis

11
1 Das Problem des Verstehens im Unterricht

auf die Chancen und Notwendigkeiten einer hermeneutischen Abarbeitung von


Deutungsperspektiven. Wir stützen eine solche Sicht theoretisch durch eine Er-
fahrungs- und Phantasietheorie des Lernens (Kapitel 2-7) sowie durch das di-
daktische Konzept der Alltagsphantasien (Kapitel 11).
Warum der Rückgriff auf Erfahrung bzw. die Momente eines Erfahrungs-
prozesses? Der Erfahrungsprozess soll uns als Modellfall für die Vorgänge in-
tensiven Verstehens dienen. Verstehen begreifen wir – wie oben ausgeführt – als
Transformationsprozess im Zwischenfeld von Subjekt und Sache. Aber dieser
Verstehensprozess ist zunächst der direkten Zugänglichkeit und Beobachtung
entzogen. Benötigt werden also ein Vokabular und empirische Anhaltspunkte,
um die Qualität und die Probleme dieses Prozesses untersuchen und systema-
tisch diskutieren zu können. Wenn eine solche Modellvorstellung der Sichtbar-
machung von relevanten Zusammenhängen eines Sachverhalts dient, so stellt
das Erfahrungskonzept eine solche Modellvorstellung bereit. Fragen nach der
Tiefe des Verstehens, nach der Offenheit oder nach dem Abschluss dieses Ge-
schehens, nach Krisen und Phasen lassen sich am Beispiel des Erfahrungspro-
zesses im Blick auf grundsätzliche Einsichten durchspielen.
Ob die Beschäftigung mit der Unterschiedlichkeit von Gegenstandbezügen
im Unterricht zu einem Erfahrungsprozess wird, hängt davon ab, dass das flüs-
sige, produktive Oszillieren zwischen sachlich-objektiven Gegebenheiten und
den subjektiven Entwürfen nicht eingeschränkt wird. Es geht dabei also um die
Öffnung eines experimentell entworfenen Vorstellungs- und Phantasieraumes
bei der Annäherung an den Unterrichtsgegenstand. Im Rahmen eines krisenhaf-
ten Erfahrungsprozesses müssen Denkspielräume für Phantasieaktivitäten ge-
öffnet werden können, denn nur dieser Freiraum ermöglicht es, die Welt von
verschiedenen Standpunkten und Perspektiven aus zu betrachten und sich mög-
liche oder reale Standpunkte anderer vorzustellen. Der Umstand, dass die un-
ter solchen Bedingungen aufsteigenden inneren Bilder und Phantasien bis heute
eher als wirklichkeitsfern abgetan werden, zeigt, dass deren Aufschlusskraft für
die Konstellationen der Wirklichkeit noch völlig unterschätzt wird.
Das didaktische Konzept der Alltagsphantasien nimmt schließlich die theo-
retischen Linien dieser Arbeit auf. Vor allem stützt sich dieses Konzept auf die
Annahme, dass Lernen in einem unbewusst Informationen verarbeitenden Sys-
tem bereits beginnt, bevor wir sprachlich und explizit reagieren. Das ist im Blick
auf das Geschehen im Unterricht und die daraus erwachsenden Folgen ein noch
kaum realisierter Gedanke. Damit wird eine Perspektive eingeführt, die über die
im engeren Sinn fachlichen Dimensionen hinaus den Resonanzboden an Deu-
tungsmustern, Weltanschauungen, Motivationen und Bedürfnissen umfasst, die
beim Andocken an einen Lerngegenstand im Spiele sind. Der didaktische An-
satz der Alltagsphantasien betont zudem, dass die intuitiv-unbewussten Zugänge

12
1 Das Problem des Verstehens im Unterricht

und Andockpunkte einer Überprüfung und Kommunikation mit anderen reflexiv


zugänglich gemacht werden sollen, und dass aus dieser wechselseitigen Abar-
beitung eine Vertiefung des persönlichen Gegenstandsbezugs folgt (Kapitel 11).
Ob verständnisintensive Lernprozesse im Unterricht möglich sind, hängt
entscheidend davon ab, ob Irritationen artikulierbar werden und ob bei der Ver-
arbeitung von Irritationen schließlich Phantasieaktivitäten und einer Erfah-
rungsbewegung Raum gegeben wird. Für den Zugang zu einem Lerngegenstand
erweisen sich Phantasieaktivitäten und innere Bilder als wichtige Zwischenins-
tanzen für das Verstehen, die einen Wechselverkehr und ein spielerisches Oszil-
lieren zwischen Ich und Welt – zwischen der sachlich-objektiven und der sub-
jektiven Seite – ermöglichen. Einer der zentralen Gedanken dieses Buchs ist
also, dass sich die Bedeutung und Tiefe der Auseinandersetzung mit einem Ge-
genstand im inneren Dialog eines Menschen mit seinen inneren Bildern und
Phantasien niederschlägt. Die Tiefe des Verstehens ist auch in Sachauseinander-
setzungen davon abhängig, inwieweit der Einzelne seine eigenen Zugänge und
Perspektiven aus der Sicht eines inneren Gegenübers zu reflektieren vermag.
Wir beginnen diese Arbeit mit der Darstellung einer Erfahrungs- und Phan-
tasietheorie des Lernens. Wir fragen vor allem nach der Dramaturgie von Er-
fahrungsprozessen bei „geistigen Erfahrungen“, denn natürlich stellen sich Er-
fahrungen in der alltäglichen Handlungsumwelt anders dar als im Bereich der
geistig-literarischen Weltbegegnung (Kapitel 2 und 3). Die Krise im Bereich der
geistigen Weltbegegnung bringt einen nicht um. Man spielt da ja oft, um der
Vertiefung der Erkenntnis willen, geradezu mit der Simulation einer Krise, wie
wir noch sehen werden. Dieser Unterschied zur realweltlichen Krise darf mit
Blick auf das Verstehen im Unterricht nicht verschliffen werden und spitzt sich
auf die Frage des für den Bereich schulischen Lernens tauglichen Krisen- und
Irritationskonzepts zu.
Wer Krise im Bereich der Schule und vor allem des Lernens sagt, dürfte von
vielerlei Seiten gescholten werden. Was hilft, ist hier eine Ausdifferenzierung.
Wir möchten diese in Kapitel 4 so akzentuieren: Eine Krise im Bereich schuli-
schen Lernens ist eine Fremdheitszumutung, die nicht überwältigt, sondern an-
regt. Der Fokus unterrichtlichen Lernens kann nur bedingt, wie im Kontrast zur
ästhetischen Erfahrung ausgeführt werden wird, „Erschütterung“ sein. „Nach-
denklichkeit“, also ein Attribut eines Reflexivwerdens des Verhältnisses zum ei-
genen Lernen und zum jeweiligen Sachverhalt, trifft eher den spezifischen schu-
lischen Kontext.
In den Kapiteln 5 bis 7 geht es um die oft vernachlässigte Rolle der Phanta-
sien. Wir möchten darauf aufmerksam machen, dass wir von Phantasien – also
im Plural – sprechen. Damit wird weniger das kreative Potential der Phantasie
in den Blick genommen – das ist ein zwar verwandtes, aber dennoch anderes

13
1 Das Problem des Verstehens im Unterricht

Thema – sondern die inhaltliche Dimension von durch Lerngegenstände aus-


gelösten Phantasien, deren Berücksichtigung einen verständnisintensiven Zu-
gang zu eben diesen Lerngegenständen stiften könnten. Zugleich soll damit die
Reichhaltigkeit dieses „Denkens in Möglichkeiten“ angedeutet werden. Da-
bei besteht eine gewisse Gefahr, Phantasien, wie etwa das Format der Assozia-
tion, der Intuition oder des Gedankenexperiments wie bewusst verfügbare Ins-
trumente in der Hand eines rationalen Akteurs zu verstehen. Dass dem nicht so
ist, lässt sich allein schon an den inneren Bildern des Traumes mit ihren deutlich
unbewussten Anteilen und Eigentümlichkeiten ablesen. Damit treten wir dem
unbewussten Charakter der Phantasietätigkeit näher, bei der heute auch die Per-
spektive der Kognitionspsychologie zu berücksichtigen ist (Kapitel 5). Biswei-
len werden wir uns die Phantasienaktivitäten aus dem Munde von Schriftstellern
metaphorisch und differenziert übersetzen und schildern zu lassen.
Nachdem im Kapitel 7 der Schwerpunkt auf Phantasieaktivitäten liegt, wird
im Kapitel 8 das Problem der Fremdheit des schulischen Gegenstandes unter
bildungstheoretischer Perspektive betrachtet.
In Kapitel 9 nähern wir uns der Frage, wie Lehrkräfte das Problem des Über-
gangs von der subjektiven zur objektiv-inhaltlichen Seite in ihrer Unterricht-
spraxis konkret handhaben können. Die Lehrkräfte können ja bei allen Formen
und Versuchen, dem Einzelnen eine Stimme zu geben, nicht einfach den Ge-
danken an die Verallgemeinerungsfähigkeit und Allgemeinverbindlichkeit von
anzueignendem curricular archivierten Wissen (insgeheim) fallen lassen. Wir
arbeiten mit Fallgeschichten, die für unterschiedliche Lösungsversuche des Du-
alismus-Problems stehen. Im Vergleich der Beispiele differenzieren sich die di-
daktischen „Ermöglichungsbedingungen“ für entsprechende „Brücken des Ver-
stehens“ aus. Diese werden in Kapitel 10 unter der Überschrift „Verweilräume
und Übergänge“ diskutiert.
Damit sind die theoretischen Bausteine vorhanden, damit im abschließen-
den Kapitel 11 der didaktische Ansatz der Alltagsphantasien dargestellt werden
kann, bei dem mit einer Aktualisierung und systematischen Berücksichtigung
der je individuellen Inbezugsetzung von Schülerphantasien zu Sachverhalten
gearbeitet wird, die keineswegs nur streng fachzentriert sein müssen. Im wei-
teren Verlauf wird nun der Unterricht einer expliziten Vergegenwärtigung und
komparativen Analyse geöffnet. Dies löst bei Schülern Irritationen aus, aller-
dings zeigen unsere empirische Befunde, dass sich diese – wenn man so will:
„Kriseninduktion“ – lohnt.
Mit diesem Buch plädieren wir für eine stärker verstehensorientierte Aus-
richtung des schulischen Lernens und der Lehrertätigkeit.

14
2 Erfahrungsprozesse in der Handlungswelt und in der
geistig-literarischen Weltbegegnung

„Jeder Mensch“, so Max Frisch, „nicht nur der Dichter, erfindet seine Ge-
schichten – nur dass er sie, im Gegensatz zum Dichter, für sein Leben hält –
anders bekommen wir unsere Erlebnismuster, unsere Ich-Erfahrung, nicht zu
Gesicht“(GW IV, 262 f.) Dieses Zitat von Max Frisch enthält zwei ineinan-
der spielende Ebenen, die zu erfassen bedeutsam sind, um die Eigenart des Er-
fahrungsprozesses zu begreifen (vgl. Müller-Roselius 2008). Diese Eigentüm-
lichkeit des Erfahrungsprozesses herauszuarbeiten, hat für uns eine bestimmte
Funktion: Mit der Darstellung der Kategorien eines Erfahrungsprozesses lässt
sich eine Modellvorstellung davon bilden und systematisch diskutieren, wel-
che Elemente und Abläufe die Qualität eines intensiven Verstehens ausmachen.
Auf das Vokabular des Erfahrungsprozesses zurückzugreifen, ist der Ver-
such, sich die schwierigen Verstehensvollzügen vergegenwärtigen und systema-
tisch bearbeiten zu können. Inhaltlich rechtfertigt sich die Heranziehung des Er-
fahrungskonzepts durch folgende Gesichtspunkte.
1. In Erfahrungsprozessen geht es um die Differenz zwischen eigenen und
fremden Perspektiven.
2. Sie verweisen auf eine bestimmte Erkenntnisdramaturgie, also auf ein span-
nungsreiches Geschehen, bei dem sich der Verständnishorizont, mit dem wir
der Welt und uns selbst begegnen, erweitern oder auch grundsätzlich ver-
ändern kann. Eigenwelt und fremde Sinnwelt treffen also im Erfahrungs-
prozess krisenhaft aufeinander. Mit Christiane Thompson lässt sich sagen,
dass es gerade diese „veränderungsträchtige Relationierung zwischen Ich
und Welt“ ist, die mit dem Erfahrungskonzept angesprochen wird (2009, 14)
und dieses Konzept für die Beschreibung von Lern- und Verstehensprozes-
sen interessant macht.
Dem Gedanken von Max Frisch folgend, sind zwei Arten von Erfahrung zu un-
terscheiden: einmal ein subjektiv erlebtes Geschehen („Erlebnismuster“) und
zum anderen die erzählte, sozusagen narrativ formatierte und in Worte gefasste
Erfahrung. Der Vergleich mit dem Dichter will andeuten, dass die in Worte ge-
fasste, ja reflektierte Erfahrung immer auch eine Art „Neuerfindung“ ist, die
aber auf den szenischen Figuren des Erlebens aufsitzt. Was bedeutet dieses Ver-
hältnis von erlebter und reflektierter Erfahrung für das Problem Verstehen?

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A. Combe, U. Gebhard, Verstehen im Unterricht, DOI 10.1007/978-3-531-94281-0_2,
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2 Erfahrungsprozesse in der Handlungswelt

Mit dem Stichwort des Erlebens wird dezidiert auf eine subjektive, affektiv
getönte Inbezugsetzung zu einem Gegenstand abgestellt. Offenkundig greifen
wir bei der Bewertung von Gegenständen zunächst einmal auf eine spezifische,
man könnte sagen: körperlich-emotional engagierte Wahrnehmungsweise zu-
rück. Bewertet wird, inwiefern ein Sachverhalt als erstrebenswert, vermeidens-
wert, bedrohlich oder herausfordernd erlebt wird. Im Sinne dieses körperbezo-
genen Resonanzgeschehens gibt es kein Subjekt, das „disengaged“ wäre, wie
Charles Taylor (1988) sagt. Dass uns das Erlebte schließlich als äußerliches und
objekthaftes Gegenüber erscheint, über das wir zu reflektieren beginnen, ist kei-
neswegs der typische Fall für unser gewohntes Verhältnis zur Wirklichkeit. „Es
muss einen Grund geben, die Geschichte zu produzieren oder sich der gelebten
Geschichte bewusst zu werden“ (Stern 2005,72). Es sind ganz bestimmte Erfah-
rungskrisen, in denen das Individuum in die Situation gerät, das Geschehen un-
ter einem reflexiven Licht zu betrachten. Auslöser ist das Neuartige, Unerwar-
tete, ein Konflikt oder irgendeine Schwierigkeit oder Beunruhigung. Im Bereich
der geistig-literarischen Weltbegegnung gehört es zu den selbstverständlichen
Annahmen, dass wir uns eben in das Unstimmige, Unbegreifliche, Fragliche und
Unsichere eines Sachverhalts vertiefen, und das geschieht im Bereich der geisti-
gen Erfahrung oft um seiner selbst willen, wobei uns der zu erwartende Genuss
und die Antizipation der Erfüllung und des Gelingens weitertreibt. Eben ein sol-
ches, intellektuelles Vergnügen bereitendes Einlassen auf Zumutungen, Irritati-
onen und Fremdheit kann nun keineswegs selbstverständlich vorausgesetzt wer-
den, was vor allem in Bezug auf die Schule vielfach beklagt wird.
Anders liegen die Dinge bei „Widerfahrnissen“ in der Alltagsumwelt, die
zu Auslösern eines Erfahrungsprozesses werden. Niemand wünscht sich eine
Krankheit oder Katastrophe herbei. Eine Krise unter Umständen selbst zu er-
zeugen, wie im Falle der geistigen Erfahrung, wäre nicht nur töricht, sondern
unterschlüge auch, dass solchen Krisen in der Alltagswelt ein enormer, gera-
dezu existentieller Handlungsdruck zugrunde liegen kann. Wir müssen also die
Komponenten einer geistigen Weltbegegnung von einem Erfahrungsprozess im
Bereich des Alltags unterscheiden, der oft in schmerzhafter Form zur Umkehr
und zum „Umlernen“ (Buck 1967, 18) führt, und unser Selbst- und Weltverhält-
nis kategorial durchaus auf ganz neuen Boden stellen kann. Auch die Konfron-
tation mit dem Fremden, etwa im Bereich des interkulturellen Bezugrahmens,
zumal der persönlichen Begegnung, kann jene Beunruhigung darstellen, die das
Selbst- und Weltverhältnis in zentralen Bereichen betreffen kann und das Ver-
stehen überhaupt an seine Grenze bringt (vgl. Kokemohr 2007; Koller 2005b).
Was aber bleibt dann für die Möglichkeit von Erfahrung in der Schule, und in-
wiefern lässt sich mit Horst Rumpf sagen, dass es auch in der Schule um eine
Gegenstandserfahrung geht, „die Fremdheiten (...) im Interesse der Intensität“

16
2 Erfahrungsprozesse in der Handlungswelt

(1996, 498) ausgräbt? Müssen also die Aussichten für die von Rumpf gekenn-
zeichneten intensiven Gegenstandserfahrungen im Bereich der Schule skeptisch
beurteilt werden? (Baumert 2006)
Hartmut v. Hentig hat mit der Forderung nach der „Schule als Erfahrungs-
raum“ (1973) zunächst ein treffendes Stichwort geliefert. Dabei ist es ein großes
Problem bis heute, dass Lernumgebungen und Arrangements, in denen sich die
Lernenden „bewähren“ können, oft konstruiert und künstlich ist. Erfahrungs-
räume sind im Sinne Hentigs Gelegenheiten, die eigenverantwortliches Han-
deln fördern, in denen Schwierigkeiten gelöst, Irritationen und Krisen bewältigt
sowie Entscheidungen getroffen werden müssen. Es besteht die Möglichkeit,
Ideen zu testen, ihre Bedeutung zu klären und ihre praktische Tragfähigkeit aus-
zuloten. Ihren Ernstcharakter gewinnen solche Situationen dadurch, dass den
Protagonisten ein „Für-sich-selbst-Einstehen“ abverlangt wird. Es gibt Schulen,
die Projekte machen, in denen „der Ernstfall zum Lehrmeister wird“, wie Anne-
marie von der Groeben formuliert (2006, 6).
Aber bleibt das nicht eine künstlich herbeigeführte Unternehmung? Denn
natürlich ist es so, dass die Schüler keine Erfahrung der in Frage stehenden
Thematik „von innen“ haben, sondern auf die Darstellung zumeist auch von
Wissensbeständen und textuell vermittelten Formen angewiesen sind, die durch
interpretative Analysen erst erschlossen werden müssen. Zugleich wissen wir
auch, dass sich Erfahrungsprozesse auch in Lektüren, Erzählungen, Filmen oder
anderen Medien vollziehen können, d.h. „nicht alles, was diesbezüglich rele-
vant ist, muss man unmittelbar am eigenen Leib erfahren haben“ (Straub 2010,
74). Ein Erfahrungsprozess ergibt sich bekanntlich dann, wenn man ein Thema
für eine gewisse Zeit selber bearbeitet und dabei Gelegenheit hat, etwas zu ent-
decken und rekonstruieren. Und recht eigentlich ist das Machen von Erfahrung
immer wieder in das Wechselverhältnis mit anderen eingebunden, in Vorgänge,
bei denen sich das, was je „meine“ Erfahrung ist, erst im Vergleich und gedan-
kenexperimentellen Aufrufen der spannungsvollen Differenz zum Fremden und
Anderen ergeben kann. Eine genauere Untersuchung der Erkenntnisdramatur-
gie des Erfahrungsprozesses wird darüber hinaus zeigen (siehe nächstes Kapi-
tel), dass es in diesem von Irritation, Experiment und Phantasie gekennzeichne-
ten Prozess zwar notwendige Rückzüge auf sich selbst gibt, aber zugleich ein
Bedürfnis nach fremder Rede und Außensicht, nicht zuletzt die Suche nach ei-
ner Verortung in Hinsicht auf das Allgemeine in Gestalt der anderen Menschen
und der Gesellschaft. In Momenten besonderer Hellsichtigkeit vermögen wir
uns selbst oder einen Sachverhalt ganz neu zu sehen. Somit ist angedeutet, dass
wir anhand von Erfahrungsprozessen studieren können, was einen verständnis-
intensiven Lernprozess ausmacht.

17
3 Zur Erkenntnisdramaturgie von Erfahrungsprozessen
bei „geistigen Erfahrungen“

In der Geschichte des Erfahrungskonzepts lassen sich unterschiedliche Linien


herausarbeiten (Gadamer 1960; Buck 1967; Benner 2005; Dewey 1988; 2002;
Meyer-Drawe 2005, 2008). Wir betonen die Vielschichtigkeit, mit der wir im
Falle eines Erfahrungsprozesses in einen Sachverhalt verwickelt sein können:
Dies reicht vom leibnahen, affektiv-unmittelbaren Einbezogensein über die Dy-
namik von Phantasieprozessen bis zu Gestaltgebungsversuchen im Bereich der
Sprache.
Wir gehen davon aus, dass vorsprachliche Teile des Erfahrungsgeschehens
mit hermeneutisch-reflexiven Teilen eng verschwistert sind, obwohl sie sich ana-
lytisch unterscheiden lassen. Die „gelebte“ Erfahrung hat den Charakter des Un-
mittelbaren. Sie ist, während sie sich vollzieht, nicht festzuhalten. Sie kann, wie
gesagt, von der „reflektierten“, nachträglich in Worten verfügbar gemachten Er-
fahrung, unterschieden werden. In dieser Doppelstruktur ist Erfahrung als bio-
graphisch bedeutsame Sinneinheit des Handelns, Erlebens und der Reflexion zu
verstehen. Eine solche an Dewey angelehnte Formulierung (1988, 47f.) verführt
leicht zu der Ansicht, als könne man Erfahrungen gewissermaßen als die Zeit
überdauernden festen Besitz mit einem fest bleibenden Bedeutungsgehalt be-
wahren. Einer solchen Auffassung widerspricht schon unsere Alltagserfahrung
und auch Dewey versteht seine Rede von der „Einheit“ nicht so. Vielmehr schei-
nen wir mit dem Bezug auf Erfahrung einen Ordnungsgesichtspunkt, gewisser-
maßen einen Wissenshintergrund über uns selbst und die Welt zur Verfügung zu
haben, mit dem wir im Fluss der Ereignisse biographisch bedeutsame Zusam-
menhänge bündeln und herausheben: „Erfahrung in diesem vitalen Sinne wird
von jenen Situationen und Episoden geprägt (…), von denen wir in der Erinne-
rung sagen: DAS war ein Erlebnis!“ (Dewey 1988, 48) Das Erfahrungsgesche-
hen lässt ein mentales Reservoir an szenischen Bildern zurück, die jenen Erleb-
nisstoff repräsentieren, der im Zuge eines Erzählprozesses immer wieder neu
entworfen und variiert wird – und zwar aus der momentanen Gegenwart heraus.
Die auf Erfahrung gemünzten Episoden haften also oft an implizit bleibenden
szenischen Arrangements, sind insofern nicht zufällig. Zugleich ist jedoch eine
auf Erfahrung gemünzte Episode auch ein Entwurf. Aber schon das obige Zitat
Deweys enthält in sich den Hinweis auf Erfahrung als Prozess. Dewey spricht
von „praktisch und gefühlsmäßig voneinander unterschiedene(n) Phasen einer

19
A. Combe, U. Gebhard, Verstehen im Unterricht, DOI 10.1007/978-3-531-94281-0_3,
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
3 Zur Erkenntnisdramaturgie von Erfahrungsprozessen bei „geistigen Erfahrungen“

zugrundeliegenden, immer deutlicher hervortretenden Qualität“ (1988, 49). Er-


fahrungen entwickeln sich in ihrem dynamischen Zusammenspiel wie „sub-
tile Schattierungen eines sich verbreitenden und stärker werdenden Farbtons“
(1988,49). Deweys Ausdrucksweise ist metaphorisch. Sie enthält das Bild einer
gleitenden, flüssigen Vermittlungsbewegung zwischen Ich und Gegenstand. Ge-
nau an diesem Transformationsgeschehen sind wir nun höchst interessiert, wenn
es um das Verstehen des Verstehens gehen soll.
Wir rücken bei der folgenden Darstellung Aspekte in den Vordergrund, die
wir in ihrer Verflechtung als konstitutiv für Erfahrungsprozesse betrachten:
ƒ die krisenhafte, irritierende Ausgangskonstellation,
ƒ die Rolle und das Gewicht der Phantasie
ƒ und die Möglichkeit, das Geschehen für sich selbst und andere zur Sprache
zu bringen.
Wir beziehen uns dabei auf die Annahme (nicht nur) der pragmatistischen Er-
fahrungstheorie, die besagt, dass persönlichkeitswirksame Erfahrungen oft in ei-
ner Konstellation der Krise und ausgehend vom Zustand der Irritation gemacht
werden. Eine Reihe von philosophischen und bildungstheoretischen Positionen
verweisen auf diese irritierende, krisenhafte, ja negative Seite von Erfahrungs-
prozessen (vgl. Gadamer 1960; Buck 1967; Benner 2005; Dewey 1988; 2002).
Schon Dewey (1988, 80ff.) beschreibt den Beginn des Erfahrungsprozesses als
Irritation (vgl. auch English 2005). Der Anfang des Erfahrungsprozesses ent-
hält dabei einen Moment des „Widerfahrnisses“ (vgl. Bollnow 1968; Walden-
fels 2002), von Überraschungen, die positiv wie negativ über einen hereinbre-
chen können. Im Begriff der Negativität, der schließlich bei Buck (1967) in den
Vordergrund rückt, steckt vor allem die Annahme, dass es zu Beginn des Erfah-
rungsprozesses in gewissem Sinne zu einer Negation, mindestens jedoch zu ei-
ner Verfremdung des bisherigen Wissens und Könnens kommt. In der Philo-
sophie werden mit dem Begriff der Negativität oft Prozesse angezeigt, die mit
einer schmerzhaften Umkehr und mit einem „Umlernen“ verbunden sind (Buck
1967). Allerdings entsteht durch diese Anbindung des Erfahrungsprozesses an
krisenhafte Ausgangskonstellationen schließlich für das schulische Lernen ein
Problem: Wie viel Befremdung, wie viel Konfrontation und Irritation, Konflikt
und Diskontinuität verträgt der Unterricht?
Vor diesem Hintergrund muss geklärt werden – das halten wir für einen ent-
scheidenden Punkt, da ansonsten die Begriffe „Krise“ und „Irritation“ negativ
konnotiert sein würden – ob und wie Irritationen auch fruchtbar werden kön-
nen. Irritationen könnten zumindest auch in den immer wieder zitierten „frucht-
baren Moment im Bildungsprozess“ (Copei 1969) führen. Copei sagt, dass es
einer „Triebfeder“, einer Spannung, eben einer krisenhaften Konstellation be-
dürfe, um mehr als nur eine „gedächtnismäßige Einprägung überlieferter Sinn-

20
3 Zur Erkenntnisdramaturgie von Erfahrungsprozessen bei „geistigen Erfahrungen“

gehalte“ (Copei 1969, 102) zu bewirken. In solchen Momenten leuchte – so


Copei – die Erkenntnis zwar auf, sei aber als solche noch unfertig. Genau diesen
Zustand und seine Transformationen wollen wir in den Blick nehmen (vgl. zur
hermeneutischen Rekonstruktion dieser Phasen: Combe 2005; 2010; Combe/
Gebhard 2007).

3.1 Irritation und Krise als Beginn eines Erfahrungsprozesses


Dewey (1988, 80ff.) beschreibt den Beginn des Erfahrungsprozesses als ein
Geschehen, das aus der Zeit und Kontinuität herausrückt. Die Krisenhaftigkeit
drückt sich dadurch aus, dass eingespielte Erwartungen und Routinen versagen.
Die Situation enthält eine Fremdheitszumutung. Man muss den Schutz der Ge-
wohnheiten verlassen. Zugleich enthält sie keine Informationen über eine mög-
liche Reaktion und über eine unmittelbar abrufbare Verknüpfung mit einem
bereits erlebten Ereignis. Diese Krise des Gewohnten kann Gegenstand tiefer
Beunruhigung sein.
Wenn Erfahrung in ihrem Anfangsstadium oft als krisenhaft, geradezu als
„negativ“ charakterisiert wird, so scheinen hier relativ dramatische biographisch
bedeutsame Einschnitte ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. Aber ein
krisenhaftes Initialmoment muss nicht unbedingt ein sensationelles Ereignis
sein. Eine subtile Beschreibung dieser „Negativität“ verdanken wir dem phä-
nomenologischen Zugang von Bernhard Waldenfels (2002, 99f.; 2004, 65f.). Er
beschreibt, wie „etwas“, eine Gegenständlichkeit also, in ein Leben oder in ei-
nen Routineablauf tritt, Aufmerksamkeit erregt, berührt und stört, ohne dass wir
noch sagen oder verstehen könnten, was dieses Etwas ist und bedeutet. Die da-
mit verbundene Fremdheitszumutung wird nicht immer nur intellektuelles Ver-
gnügen sein, sondern kann auch Unbehagen bereiten. Man ist gewissermaßen in
affektiver und leibnaher Weise alarmiert.
Es ist alles andere als selbstverständlich, dass ausgehend von diesen Irri-
tationen ein Prozess des Erkundens und Forschens erfolgt. Waldenfels hat auf
Sperren hingewiesen, die bezüglich der Entscheidung bestehen, ob man sich
der irritierenden Situation überhaupt aussetzen soll. Er ermöglicht uns in sei-
nen Arbeiten Einblicke in die differenzierten Stufungen und Übergänge zwi-
schen Akzeptanz und Nicht-Akzeptanz der irritierenden Situation. Er wählt für
diesen Spannungszustand eine topologisch-räumliche Metapher: Eine Schwelle
sei zu überqueren (2004, 22); diese Schwellenüberschreitung zeigt eine körper-
lich-räumliche Entfernung vom Vertrauten an und sie führt ins Ungewisse. Man
weiß selten, was einen jenseits der Schwelle erwartet und wie die Sache ausgeht.
Der Irritation standzuhalten, heißt auch, sich von Komfort und Beharrungskräf-
ten zu lösen.

21
3 Zur Erkenntnisdramaturgie von Erfahrungsprozessen bei „geistigen Erfahrungen“

Ein die Person erreichendes Lernen hat also keinesfalls nur harmonische
Ausgangskonstellationen zur Voraussetzung. Deshalb muss bedacht werden,
was denn dazu ermutigen kann, sich auf solche Wege in fremde Sinnwelten zu
begeben. Wie können, so lautet die Frage, die Irritationen in konstruktive Lern-
prozesse transformiert werden und geradezu als Motor für Lernprozesse und als
„fruchtbarer Moment im Bildungsprozess“ (Copei 1969) fungieren?
Im Folgenden wird es um die Frage gehen, ob und unter welchen Bedingun-
gen man sich der irritierenden Situation überhaupt aussetzen will. Die irritie-
rende Situation kann Unlust hervorrufen, sich bisweilen auch als kränkend er-
weisen und berührt uns in unserer leibnahen Affektkonstitution. Das kann dazu
führen, dass solche Situationen gemieden werden oder – was weitaus häufiger
der Fall sein wird – dass die mentale Beschäftigung damit gewissermaßen zu-
rückgewiesen wird. Vermieden wird also nicht die Irritation (das geht in der Re-
gel nämlich nicht), sondern die mentale Beschäftigung damit und also die Re-
flexion derselben. Eben diese Beschäftigung wäre jedoch – und das ist unsere
zentrale These – eine Bedingung dafür, dass das Potenzial der Krise, der Irrita-
tion zu fruchtbaren Momenten führen kann. Hier taucht also schon in der Im-
pulszone des Erfahrungsprozesses das Problem auf, ob man bereit ist, überhaupt
Erfahrungen zu machen, das heißt sich einer irritierenden Situation zu öffnen,
einer krisenhaften Situation, die nur fruchtbar werden kann, in dem bewährte
Vorstellungen überschritten und transformiert werden.
Betrachten wir in Bezug auf die Schule, was es bedeutet, sich dem Fremden
zu öffnen. Lernwiderstände werden schon dadurch heraufbeschworen, dass auf-
grund einer kompakten Darbietung des Stoffes die Räume für Fragen und Zwei-
fel zugestellt scheinen. Wenn sich Schüler offen und vertrauensvoll mit Lernpro-
blemen, Unwissen und Nicht-Verstandenem oder wiederkehrenden Fehlern an
ihre Lehrer wenden, gehen sie damit durchaus das Risiko einer Etikettierung als
„schlechte Schüler“ (Höhn 1972) ein. Verlangt sind also soziale Kontexte, die
Verunsicherungen zulassen, Kontexte, in denen man, um ein Wort Adornos zu
variieren, Schwäche zulassen und zeigen kann, ohne Stärke (und Nachteile) zu
provozieren. Weiter sind auch persönliche Dispositionen im Aushalten und Ver-
arbeiten von Diskrepanzerfahrungen für Verdrängungs- und Abwehrprozesse
verantwortlich, die im wesentlichen von der Sozialisation in der Herkunftsfami-
lie und den dortigen Stilen der Verarbeitung abhängig sind. Außerdem hat man
oft gar nicht die Zeit, um dem Überraschenden innerlich Raum zu geben – und
man hat vielleicht gar nicht gelernt, einem Innenbereich, in dem man auf Sinn
verweisende Bilder aufkommen lassen kann, zu vertrauen. Genau aber dies ist
notwendig, um Irritationen gegenüber hellhörig und offen bleiben zu können.
Das Problem der Akzeptanz der irritierenden Situation wird noch komple-
xer, bedenkt man zusätzlich den Unterschied zwischen Krisen und Irritationen

22
3 Zur Erkenntnisdramaturgie von Erfahrungsprozessen bei „geistigen Erfahrungen“

in der Handlungsumwelt einerseits und Krisen in dem Bereich einer symbo-


lisch ausgeformten und anzueignenden „Welt des Geistes“ andererseits. Zu-
nächst haben „geistige“ Krisen durchaus den Geruch des Überflüssigen an sich,
wie Hans Blumenberg (1987) anmerkt. Und Ulrich Oevermann (2004) weist zu
Recht darauf hin, dass man auf Krisen, die durch Katastrophen oder Entschei-
dungssituationen gekennzeichnet sind, reagieren muss, während eine geistige
Krise einen auch selbst erzeugten Charakter hat. Die Krise im geistigen Be-
reich ist eine Krise mit vergleichsweise geringem Handlungsdruck. Sie ist im
Prinzip vermeidbar, wird aber durch das Subjekt in oft unermüdlichen Anläu-
fen selbst herbeigeführt. Hier muss ein motivierendes Moment hinzukommen,
damit man sich auf den Anspruch und die Herausforderung einer Situation ein-
lässt. Was führt und motiviert, so lautet die Folgefrage, also zu dieser müßig-
gängerischen Problematisierung, die wir aus dem Bereich der ästhetischen Er-
fahrung, aus dem Umgang mit Kunst, Musik und Literatur kennen? Mit dieser
Frage werden wir uns im nächsten Abschnitt befassen.
Ein konstruktiver und nicht widerständiger Umgang mit besagter Irritation
ist, so lautet unsere These, die Öffnung eines Vorstellungs- und Phantasierau-
mes. An dieser Wegscheide des Erfahrungsprozesses, wo es um die Akzeptanz
von Fremdheit geht, erweist sich der Umgang mit Phantasieprozessen als zentral
dafür, ob und wie Irritationen in konstruktive Lernprozesse transformiert wer-
den können. Diese Öffnung eines Phantasie- und Vorstellungsraumes, die den
Erfahrungsprozess über das Verharren im Widerständigen hinaustreibt, wird uns
nun im nächsten Abschnitt beschäftigen.

3.2 Die Öffnung eines Vorstellungs- und Phantasieraumes:


Verschiebungen des Blickwinkels
Phantasie ist die Fähigkeit, im Inneren Möglichkeiten auszuprobieren oder aus-
zutesten. Im Umkreis des Entwurfs von Möglichkeiten nähern wir uns der Be-
deutung einer Sache, eines Textes oder der Antizipation von Konsequenzen ei-
ner Handlung an. Der Möglichkeit, etwas anders oder in Alternativen zu denken,
geht ontogenetisch den Phasen des real probierenden Handelns voraus, die bei-
spielsweise in jedem kindlichen Erkunden und Wissen-Wollen beobachtbar sind
(vgl. hierzu Popitz 2000). Es ist genau dieses Experimentelle – im realen wie im
gedanklichen Handeln – das jeweils eine Vertiefung in das Unstimmige, Unbe-
greifliche, Fragliche der Irritation ermöglicht. Viel spricht deshalb für die Ver-
mutung, dass es Phantasieaktivitäten sind, die einen blockierten Austausch zwi-
schen innerer und äußerer Welt wieder flüssig machen können.
Betrachten wir nun im Einzelnen, welche Rolle Phantasien bei der produk-
tiven Verarbeitung von Irritationen und auch bei der Auflösung und Transfor-

23
3 Zur Erkenntnisdramaturgie von Erfahrungsprozessen bei „geistigen Erfahrungen“

mation von Widerständen bieten. Im Falle des Widerstands kommt es statt einer
Öffnung gegenüber dem Gegenstand zu einer Verengung. Der irritationsbe-
dingte Prozess wäre zu Ende, bevor er in produktiver Weise begonnen hat. An-
ders im Falle der Eröffnung eines Vorstellungs- und Phantasieraumes. Wir sehen
hier vor allem zwei ineinanderspielende Prozesse:
Ein erster Zugang zu diesem Prozess der Öffnung dem Fremden gegenüber
ergibt sich vor dem Hintergrund von Ansätzen der psychoanalytischen Abwehr-
theorie. Die Annahme ist, dass ein Großteil der Abwehrvorgänge dazu dient, vor
Kränkungen, Verletzungen und Einbrüchen des Selbstgefühls zu schützen, wie
umgekehrt ein stabiles Selbstwertgefühl die Notwendigkeit von Abwehroperati-
onen herabsetzen dürfte (Hoffmann 1987, 34). Die Abwehroperationen werden
hier also in einen narzisstischen Zusammenhang und in den Kontext der Selbst-
Psychologie gestellt (vgl. zu Erweiterungen der Psychoanalyse in Richtung
Selbstpsychologie, Bittner 1998). Angewandt auf das Problem des Sich-Einlas-
sens auf eine irritierende Ausgangssituation von Erfahrungsprozessen bedeu-
tet dies, dass eine Phantasie des Gelingens und damit verbunden eine Vorfreude
auf ein gelungenes Werk eine konstruktive Wendung herbeiführen könnte. Man
könnte hier geradezu von einer Utopie des Gelingens sprechen.
Es genügt also nicht, nur den irritierenden Anfang eines Erfahrungsprozes-
ses zu betrachten, sondern es gilt, diesen auch von seinem – wenn auch fragilen
– Ende her in Augenschein zu nehmen. Hierbei ist die Krise also nur ein Durch-
gangsstadium eines Prozesses, an dessen Ende ein Zustand des Gelingens steht
– ein zwar flüchtiges Glück, das jedoch das Verlangen nach Wiederholung und
Dauer wecken kann. In der Romantik, etwa bei Herder, wird wie später auch
im Bildungsbürgertum von einem „geistigen Genuss“ die Rede sein, wobei die
Wortgeschichte von Genuss inhaltlich andeutet, was das Glück hier ausmacht:
nämlich die Verbindung von „sich einer Sache erfreuen“ und „der Sache und da-
mit der Welt in ihrer Bedeutungsfülle teilhaftig werden“ (Ritter 1971). Unsere
Überlegung ist also, dass vom Überwinden der Krise im Bereich der geistigen
Erfahrung eine tiefe Bestätigung ausgeht. Am wie immer vorläufigen Ende des
Prozesses steht ein erweitertes Ich. Man sieht etwas, was man bisher nie so ge-
sehen hat. Dass ein stabiles Selbstwertgefühl, Zuversicht und Selbstvertrauen
die Notwendigkeit von defensiven Abwehrmaßnahmen herabsetzen können und
für eine produktive Krisenlösung unerlässlich sind, davon spricht schon Nietz-
sche. In einem „genialischen Vorgefühl“ des Gelingens liegt, so Nietzsche, „eine
treibende Kraft und gleichsam die Hoffnung zukünftiger Fruchtbarkeit“ (1966,
362). Das Attribut „genialisch“ verweist auf das Vorgefühl der Erweiterung des
Selbst im Zustand des Gelingens, der einen immer wieder aus der Zwangsjacke
der alten Routinen und des Auf-Nummer-Sicher-Gehens lockt. Aber Nietzsche
lässt keine Zweifel daran, dass in der Phantasiewelt nur imaginär vorweggenom-

24
3 Zur Erkenntnisdramaturgie von Erfahrungsprozessen bei „geistigen Erfahrungen“

men werde, was später in Gestalt der realen Begegnungen und Anforderungen
noch durchlebt werden muss. Ansonsten spräche man von Phantasterei.
Zusätzlich lässt sich eine produktive Verarbeitung von Zuständen der Irri-
tation vom Pragmatismus her entfalten. Oevermann (1991, 267 ff.) hat im An-
schluss an George Herbert Mead herausgearbeitet, inwiefern Phantasien und
innere Bilder als Medium einer gedankenexperimentellen Abarbeitung von Pro-
blemkonstellationen und Problemlösungen fungieren. Mittels der Phantasie und
korrespondierenden inneren Bildern findet eine intensive Austauschbewegung
zwischen Ich und Sache statt, es kommt zu Konstruktions- und Rekonstrukti-
onsbewegungen, bei denen die inneren Bilder gleichsam als „Text“ anzuspre-
chen sind. Diese von der Sozialphilosophie Meads herkommende und auch von
Dewey geschätzte Variante der Funktionsweise der Phantasie ist letztlich Sinn-
arbeit – ein anspruchsvoller Prozess der Konstruktion und Rekonstruktion einer
Problemlage und ihrer möglichen Lösungen. Diese Konstruktionen und Rekon-
struktionen von Bedeutungskonfigurationen sind das Werk der Arbeit mit inne-
ren Bildern und Phantasien. Interessanterweise kommen die psychologischen
Forschungsaktivitäten, die unter dem Begriff der Herstellung mentaler Modelle
(Seel 2000) diskutiert werden, der Konzeption einer Phantasie, die gleichsam
wie ein Text benutzt und verstanden wird, nahe: „Diese Vorstellungstätigkeit
ermöglicht uns, ,vor unserem geistigen Auge‘ statische und dynamische Bil-
der von realen oder erdachten Szenen und Vorgängen entstehen zu lassen, die
dann vor diesem inneren Auge betrachtet und analysiert werden können“ (Ban-
nert/Schnotz 2006, 73). Die Ingangsetzung einer auf eine Aufgabe und Heraus-
forderung bezogenen Phantasie geschieht allerdings nicht von allein. Phantasien
brauchen „ihr“ Setting: zum einen Handlungsentlastungen und Rückzugsräume
und zum anderen innere Bündelung der Konzentration. Man muss Ruhe haben,
aber auch eine gewisse Konfliktspannung in sich tragen, damit gleichschwe-
bend, mußevoll, fast hinter dem Rücken des Ichs Eindrücke, Erinnerungen und
Phantasien produziert und umstrukturiert werden können, die dann als neuer
Vorstellungszusammenhang wieder ins Bewusstsein eintreten. Diese Phantasie-
szenarien sind Ideenkeime einer möglichen Problemlösung. Sie organisieren
sich um, lassen sich wie Texte zu neuen Zusammenhängen fügen, bis eine „ge-
staltrichtige“, d.h. eine lösungsversprechende Zuordnung der inneren Bilder zu
objektiven Krisen- und Problemkonstellationen möglich ist. Der Schriftsteller
Wellershoff bringt diese Zuordnung der inneren Bilder in Hinsicht auf die zu lö-
senden Krisen- und Problemsituationen die Figur des Pendelns in Anschlag. Er
sagt: „So zwischen Gesamtgestalt und Detail, Plan und Einfall, Weite und Enge
hin- und herpendelnd, lässt sich auch lernen, mit dem Widerstand des entstehen-
den Werkes elastisch umzugehen. Es kommt nicht darauf an, den Widerstand
mit Gewalt zu brechen, sondern ihn wie ein erfahrener Judokämpfer durch Rich-

25
3 Zur Erkenntnisdramaturgie von Erfahrungsprozessen bei „geistigen Erfahrungen“

tungswechsel und Gewichtsverlagerungen auszuhebeln, um auf diese Weise zu


entdecken, wohin der Text selber will“ (1980, 242 f.). Mit den Begriffen „Rich-
tungswechsel“ und „Gewichtsverlagerung“ spielt Wellershoff mit dem probe-
weisen Anlegen von Deutungsperspektiven, die zwischen objektiver und sub-
jektiver Seite vermitteln können und Brückenschläge zwischen Ich und Sache
erproben sollen. Dies ist ein anderer Ausdruck für das spielerisch-flüssige Oszil-
lieren zwischen objektiver und subjektiver Seite, die Brückenschläge zwischen
Subjekt und Sache ermöglicht.

3.3 Rückzug und Dialog: Dem Neuen Begriffe geben


Die Phase der Produktion innerer Bilder hat dabei einen monologischen, aber
zugleich einen auf andere Subjekte gerichteten Zug, die damit zu Ko-Konstruk-
teuren werden. Wir streben also auch nach sozialer und sachhaltiger Validierung
unserer subjektiven Projektionen und Symbolisierungen. Wie sieht mein Prob-
lem in seiner allgemeinen Verfasstheit aus? Was machen andere in dieser Lage?
In der Phase der Irritation und Krise ist jedoch jeder ein Stück weit mit sich
allein. Bei dem Bedürfnis, Handlungs- und Interpretationsmöglichkeiten eines
Sachverhalts in einem sozialen Austausch – aus einer Außensicht oder aus einer
allgemeinen Verfassheit – des Problems zu überprüfen, geht es hingegen um die
Anschlussfähigkeit unseres inneren Dialoges. Die Herstellung von Anschlussfä-
higkeit ist dabei in hohem Maße eine Leistung von Sprache, der Eröffnung eines
sprachlich-dialogischen Artikulationsraumes.
Kennzeichen der sprachlichen Artikulationsebene von Erfahrungen ist die
Suche nach einer Sprache, in der Erfahrungen, Wünsche, Phantasien und Emoti-
onen artikuliert werden können, die bislang keinen (sprachlichen) Ausdruck fin-
den konnten. Zudem nimmt die Sprache Bezug nicht nur zur inneren Phantasie-
ebene, sondern auch zur äußeren Realität.
Für den weiteren Erfahrungsprozess und dessen produktiver Transformation
bedeutet dies, dass jetzt dem Neuen Begriffe gegeben werden müssen. Die der
Erfahrung entgegen kommende Form der Mitteilung kann die Erzählung sein,
an der, wie Walter Benjamin in seinem 1936 verfassten Aufsatz „Der Erzähler“
schreibt, „die Spur des Erzählenden wie die Spur der Töpferhand an der Ton-
schale (haftet)“ (1977, 447). Die Bedeutung der Sprachlichkeit hervorzuheben,
heißt indes nicht, dass Prozesse der Erfahrungsverarbeitung stets in Eindeutig-
keit und definitivem Abschluss enden. Die „Wahrheit“ kann in diesem Zusam-
menhang oft nicht mehr und nicht weniger sein, als „ein bewegliches Heer von
Metaphern“ (Nietzsche 1966, 314), weil gerade im metonymisch-assoziativen
Fluss der Bilder Perspektiven auf eine neue Sicht der Dinge gedanklich erprobt
und artikuliert werden können. Wiederum ist hier auf die für die sprachliche Ar-
tikulation wegbereitende Funktion der Phantasie hinzuweisen. Sofern wir von
26
3 Zur Erkenntnisdramaturgie von Erfahrungsprozessen bei „geistigen Erfahrungen“

Risiken und Zwängen der Praxis entlastet sind, können wir das Geländer loslas-
sen, das uns daran hindert, zur Symbolisierung (noch) „phantastischer“ Mög-
lichkeiten weiter vorzudringen. Für ein nachhaltiges Verstehen ist es wichtig,
Ausdrucksmöglichkeiten für die uns vorschwebenden Bedeutungen zu finden.
Es treibt das Verstehen voran, wenn es gelingt, Verknüpfungen auszudrücken
und eine Verbindung zu schon ins Unbewusste abgesunkenen und verloren ge-
glaubten Fragmenten und Themen herstellen zu können, die mit einem aktuellen
Thema oder Problem korrespondieren. Es ist dieser Rückgriff auf innere Bilder,
die unsere Zuversicht tragen und in der wir unsere Empfindlichkeiten – über die
Zeiten hinweg – gespiegelt sehen. Rückblickend suchen wir auch nach Erfah-
rungen, die sich für die aktuelle Herausforderung so aktualisieren lassen, dass
sie Kräfte verleihen, statt Kräfte zu nehmen.
Die Bildung von Begriffen hat dabei einen etwas anderen Stellenwert als
die Metaphorisierung. Begriffen wohnt die Neigung inne, einen Erfahrungszu-
sammenhang in eine allgemein verbindliche Sprachregelung und ein allgemei-
nes Bedeutungsuniversum einzurücken. In diesem Sinne sind sie, wie Berthold
Brecht in „Flüchtlingsgespräche“ sagt, „Griffe“ (Brecht 1967, 56). Aber die be-
griffliche Artikulation der Erfahrung fixiert auch, setzt fest, abstrahiert vom
Fluss der Erscheinungen.
Eine Voraussetzung des sprachlichen Ausdrucks ist somit auch ein inneres
Durchspielen von Möglichkeiten. Zugleich handelt es sich um einen Komprimie-
rungsprozess, um das, was zum Ausdruck drängt, schließlich in jenem sprachli-
chen Medium auszudrücken, das wir mit anderen teilen können und das so ver-
lässlich erscheint, dass wir ihm zutrauen, einen Sachverhalt in einer für andere
Menschen verstehbaren Weise darzustellen (vgl. hierzu auch Joas 1992, 119).
Eine besondere Ebene der sprachlichen Artikulation ist das Schreiben, nicht
nur als Möglichkeit der Klärung, sondern als eine Form des Weiterverarbeitens
eigenen Wissens. Das Schreiben ist durch seine Möglichkeit des Speicherns,
Wiederholens und Revidierens nicht nur Instrument, Schon-Gedachtes und Wis-
sen zu verausgaben, sondern auch Instrument des Präzisierens, Erweiterns, ja
des Entwickelns von Wissen (vgl. Eigler 2006). Insofern ist die Sprache nicht
„Werkzeug“ zum Transport eines vorher innerlich schon feststehenden Inhalts,
sondern Medium und – in Humboldts treffender Bezeichnung – „bildendes Or-
gan des Gedankens“ (Humboldt 1903).
Trotz dieser immer wieder betonten Klärungsfunktion der Sprache wäre die
Vorstellung eines definitiven Abschlusses des Verstehensprozesses allzu opti-
mistisch, so, als ob man Prozesse in all ihren Bedingtheiten durchschauen könne
und ein Phänomen wie das Sich-Selbst-Gleich-Seins und -Bleibens durch den
Fluss der Veränderung hindurch immer noch in Aussicht stünde. Darauf werden
wir zurückkommen.

27
4 Irritations- und Krisenkonzepte

Bei der Abgrenzung eines besonderen Erfahrungstyps im Bereich der geisti-


gen Weltbegegnung stößt man auf Adornos Hervorhebung der geistigen Erfah-
rung. Zwar ist das erfahrende und erkennende Subjekt nur Subjekt, so führt Ad-
orno aus, insofern es „Objektivität in sich hinein nimmt“. Zugleich aber sind
„die kognitiven Leistungen des Erkenntnissubjekts dem eigenen Sinne nach so-
matisch“ (Adorno 1973, 194). Die ästhetische Erfahrung ist bei Adorno ein Bei-
spiel jener körperlich-empfindenden, „mimetischen“ Empfänglichkeit für den
Eigensinn eines Gegenstandes, für eine Versunkenheit, die sich etwa in Gestalt
eines den Gegenstand neugierig erkundenden Kindes antreffen lässt. Es ist ein
Kennzeichen solcher Erfahrungen, so schreibt Ross in Anspielung auf die Ver-
sunkenheit und die Hingabe an den Gegenstand bei der ästhetischen Erfahrung,
„dass es dabei zu einem Verlust des Selbst-Bewusstseins unter Beibehaltung der
Selbstbewusstheit kommt. Man ist „versunken“, „verloren“, „absorbiert“, „be-
sessen“ von einer Person, einem Buch, einem Drama, einem Ziel, einer Idee, ei-
nem Musikstück, einer intellektuellen Entdeckung, einem schönen Gemälde“
(Ross 1975, 91).
Hier liegt eine andere Form der Erfahrung vor als etwa im Falle einer in die
alltägliche Handlungspraxis hereinbrechenden Krise. Vielleicht versteht man
auch auf den ersten Blick nicht, warum im Falle der ästhetischen und geistigen
Erfahrung überhaupt eine Krise vorliegt, und was es bei einer solchen – etwa bei
der Betrachtung eines Bildes – überhaupt zu verstehen gibt. Ein Ansatz von U.
Oevermann trägt hier zur Unterscheidung bei. Wir folgen zunächst seiner Argu-
mentation:
Es sind je besondere Krisen, von denen aus sich Erfahrungstypen unter-
scheiden lassen. Da ist zunächst die Traumatisierungskrise: Grenzsituationen
wie etwa Tod, Unfall, Krankheit, Naturkatastrophen, durch die sich das Ich auf
sich selbst verwiesen sieht. Man wird gleichsam von solchen Situationen ereilt,
sie treffen einen unvorbereitet und überraschend. Ihre Eigenart ist, paradox for-
muliert, dass man nicht nicht auf sie reagieren kann.
Einem ähnlichen Handlungsdruck ausgesetzt ist eine weitere Form: die Ent-
scheidungskrise. Diese bedeutet in der Regel lebenspraktisch eine Wegscheide,
auch ihr kann man sich, etwa im Falle der Wahl eines Berufes, nicht entziehen.
Was vor allem krisenhaft ist, dass solche Entscheidungen in die Offenheit einer
Zukunft hinein gefällt werden müssen, ohne die Möglichkeit einer vorauslau-
fenden Begründung. Von diesen Krisentypen, die, wie gesagt, im Bereich der
Alltagspraxis angesiedelt sind, lässt sich nun gerade mit Blick auf die ästheti-
sche Erfahrung ein Krisenkonzept abgrenzen, dem Oevermann den auf den ers-
ten Blick eigentümlichen Titel einer „Krise durch Muße“ gibt.

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A. Combe, U. Gebhard, Verstehen im Unterricht, DOI 10.1007/978-3-531-94281-0_4,
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
4 Irritations- und Krisenkonzepte

Dieser Krisentyp gehört nun eben zur besagten geistigen Erfahrung. Das
„Fernsein von Geschäften oder Abhaltungen“, wie schon Grimms Wörterbuch
die Muße definiert, verweist erst einmal auf einen von praktischen Dringlichkei-
ten entlasteten Raum als Eingangsvoraussetzung. Wie aber soll gerade in einem
solchen Raum eine Krise entstehen? Die Krise ist hier in der Tat vermeidbar,
wird aber vom Subjekt selbst oft in unermüdlichen Anläufen selbst herbeige-
führt. Man begibt sich, wie Oevermann sagt, etwa bei einem Museums- oder
Theaterbesuch „freiwillig in die potentiell zur Krise sich öffnende Kontempla-
tion“. Die Situation ist also offensichtlich dazu angetan, eine bestimmte Wahr-
nehmungseinstellung zu entfalten, die als „selbstgenügsam“ zu bezeichnen ist:
bei dieser Form der Wahrnehmung „lassen wir ein gegenüberstehendes Ande-
res, eine Welt ganz auf uns wirken, nehmen wir sie neugierig ganz in uns auf,
schmiegen wir uns dem anderen ganz an, öffnen wir uns für Neues, für bis da-
hin Undenkbares, Unvorstellbares, selbst dann, wenn es sich um ganz vertraute
Gegenstände handelt. Daher steht dieses Wahrnehmen polar einer in eine ziel-
gerichtete, zweckorientierte Praxis eingebetteten Wahrnehmung gegenüber“
(Oevermann 1996, 2)
Es sind also Situationen, die vom Bewertungsdruck temporär suspendiert
sind. Und eben im Zuge dieser selbstgenügsamen Wahrnehmung entwickelt der
Einzelne, wie Oevermann in der Argumentation sinngemäß fortfährt, eine ge-
wissermaßen weite Aufmerksamkeit für Überraschendes und für Details, die
wiederum dazu angetan sind, bisher ganz selbstverständliche, routinierte Wahr-
nehmungsweisen und Blickwinkel in Frage zu stellen. „Wenn man Dinge um ih-
rer selbst willen betrachtet, dann wächst die Wahrscheinlichkeit, dass man an ih-
nen Seiten sehen kann, die man vorher noch nie gesehen hat – dass also Krisen
erzeugt werden, sehr schnell und exponentiell zunehmen“ (2004, 170).
Geschildert wird hier die Grundsituation der ästhetischen Erfahrung. Cha-
rakteristisch für diese die ästhetische Erfahrung konstituierende Wahrneh-
mungseinstellung ist schon allein die Öffnung der Aufmerksamkeit gegenüber
dem Überraschenden und Fremden, wodurch ein Austausch zwischen innerer
und äußerer Realität ermöglicht wird. Schon der Kontext etwa des Museums
oder des Theaters fordert zu dieser Einstellung heraus. Dadurch wird die Wahr-
nehmung des Neuen begünstigt. Damit ist auch ein bestimmtes Person-Gegen-
stands-Verhältnis angedeutet, das für den Bereich geistiger Erfahrung typisch
ist.
Gibt es nun Anhaltspunkte dafür, wie man diese Strukturen der ästhetischen
Erfahrung auf das schulische Lernen übertragen kann? Gilt es, durch geschickte
Inszenierungen und spektakuläre Experimente die Schüler zu überraschen und
aus ihrer oft distanzierten Position herauszuzwingen? Hat man die dramaturgi-
schen Instrumente, um wie auf dem Theater durch Mittel der Verfremdung, be-

30
4 Irritations- und Krisenkonzepte

stimmte Botschaften, die wehtun, schier unerträglich sind – und die sich der
einzelne Zuschauer bisher nicht vorstellen konnte in seiner ordentlichen und re-
gelmäßigen Denkkultur – in der Schule zu inszenieren? Gibt es in der Schule
überhaupt szenische Experimente, die so gründlich zerstören können?
Es lassen sich letztlich schulische Lernprozesse in Hinsicht auf den Einbe-
zug der persönlichen Ganzheit der Person nicht mit dem vergleichen, was im
Bereich der ästhetischen Erfahrung „Erhabenheit“ oder „Ergriffenheit“ genannt
wird, die, im Sinne der Arbeiten Klaus Mollenhauers, allemal idiosynkratische
Geschichten des Selbst – also die sensibelsten Empfindlichkeitszonen – berüh-
ren können (vgl. die Auseinandersetzung zwischen G. Otto und K. Mollenhauer,
Otto 1998, 9).
Ein Begriff, der so etwas wie eine Parallelfigur zur ästhetischen Erfahrung
und ihrer Resonanzen bezogen auf schulische Lernprozesse sein könnte, ist un-
seres Erachtens die Figur der Nachdenklichkeit. Denn Nachdenklichkeit ist eben
auch in der Irritation gegründet, in dem, was „in der deutschen Sprache etymo-
logisch Wahrnehmung ursprünglich heißt: bewahren, was die Aufmerksamkeit
zwingend erregt hat“ (Oevermann 1996, 3). Die Eröffnung eines neuen Verhält-
nisses zu einem Gegenstand setzt allerdings auch hier voraus, dass man mit der
Dynamik des Phantasieprozesses in Kontakt bleibt, so wie es Dewey in Bezug
auf den künstlerischen Schaffensprozess beschreibt: „Nur durch die allmähliche
Organisation von miteinander verbundenem inneren und äußeren Material kann
etwas entstehen, das weder ein gelehrtes Dokument noch die Wiedergabe von
Althergebrachtem ist“ (Dewey 1988, 91).
Damit sind wir bei der Frage angelangt, wie wir uns den auf das schulische
Lernen und Verstehen bezogenen Begriff der Krise und Irritationen vorstellen.
Der Begriff der Irritation oder Krise trifft aus unserer Sicht für eine Diskrepanz-
erfahrung zu, die ansteckt und die eigene Nachdenklichkeit aufleben lässt. Das
Grundprinzip stellen wir als Schaffung einer Fremdheit vor, die nicht überwäl-
tigt, sondern anregt und zum Mitmachen und Mitspielen anregt.
Wie ist eine solche Irritation und ihre Verarbeitung zu denken? Die Schüler
bringen aus der Alltagwelt eine Vielzahl von Perspektiven mit, eine Vielzahl von
unausgesprochenem Wissen um Dinge. Wir glauben, dass es im Übergang zur
der objektivierten, fachlichen Seite des Wissens notwendig ist, mit Elementen
des für selbstverständlich gehaltenen Alltäglichen zu arbeiten, aus diesen Pers-
pektiven etwas zu machen, was freilich irritiert und provoziert.
Wir gehen davon aus, dass eine solche Irritation der routinierten Selbst- und
Weltinterpretationen vor allem durch Vergleichshorizonte erzeugt wird, z.B.
durch systematische Gegeneinanderführung von mitgebrachten Perspektiven
oder durch das Aufmerksammachen auf die Implikationen, Konsequenzen und
Inkompatibilitäten eines Zugangs. Auch eine Funktion des Lehrers als „Krisen-

31
4 Irritations- und Krisenkonzepte

induzierer“ wird dringend gebraucht, der die Kunst beherrscht, Erwartungswid-


riges zu adressieren. Das setzt allerdings eine auf Förderung des Verstehens aus-
gerichtete, auch diagnostische Haltung und Kompetenz voraus. Dazu gehören
Vertrautheit mit den Stärken und Schwächen der Schüler einerseits und den Fall-
stricken des eigenen Faches andererseits. Vor allem muss ein hohes Interesse
des Lehrers an alltäglichen, womöglich in der Latenz vorhandenen (schlum-
mernden) Gegenstandskonzeptionen vorausgesetzt werden. So wird man, um
ein Beispiel aus der Physik zu nennen, den Schülern vorführen müssen, was es
heißen kann, wie ein Newtonianer über Mechanik zu sprechen. Aber zuvor wird
man die Alltäglichkeit und vielleicht auch experimentell aktualisierte Erfahrun-
gen sprechen lassen (vgl. Hericks 1993).
Der Soziologe Richard Sennett (2008) beschreibt den Vorgang, bewusst das
Interesse des Lesers durch das Arbeiten mit unausgesprochenem, alltäglichen
Material zu wecken, anlässlich der Entstehung eines Buches so: „Als ich die
Tyrannei der Intimität schrieb, befasste ich mich eingehend mit dem Hände-
schütteln, eine anscheinend banale Form öffentlicher Begrüßung. Dann stellte
ich eine Verbindung her zu anderen Gesten der Körpersprache, mit denen man
sich im 18. Jahrhundert Fremden näherte. Dazu kamen Gewohnheiten, die die
Gespräche in Gasthäusern und Cafes begleiteten. So wurde mein Leser, wie
ich hoffe, durch den Zusammenhang mit Umarmungen, Küssen und anderen
banalen Begrüßungen immer interessierter an der Bedeutung des Händeschüt-
telns“ (Sennett 2008, 14). Man könnte mit Sennett von einer Form der „assozi-
ativen Symbolbildung“ sprechen: Es geht dabei um das Suchen und Finden von
überraschenden Anschlüssen, die Erweiterung des Bedeutungsspektrums eines
Sachverhalts auch aus zunächst unvertrauten Blickwinkeln. Es handelt sich of-
fenkundig um den Aufbau und die Erweiterung eines Phantasie- und Vorstel-
lungsraumes, der auch scheinbar Fernliegendes mit einbezieht.
Dieser Entstehung eines Phantasie- und Vorstellungsraumes möchten wir
uns in den nächsten Kapiteln theoretisch nähern. Wir gehen davon aus, dass hier
unbewusste Vorgänge beim Lernen beteiligt sind.

32
5 Phantasien als Abkömmlinge des Unbewussten

5.1 Das „wahre innere Afrika“


„Wir machen aber von dem Länderreichtum des Ichs viel zu kleine oder enge
Messungen, wenn wir das ungeheure Reich des Unbewussten, dieses wahre in-
nere Afrika auslassen.“ Dieser Satz, den Jean Paul bereits 1827 im Roman „Se-
lina“ formulierte, kann als programmatisch für unser Anliegen gelten, nämlich
den Reichtum der Phantasien für bewusste Lernvorgänge zu erschließen. Und
natürlich ist dieser Satz gewissermaßen ein Vorläufer der systematischen Erfor-
schung des Unbewussten, der Freudschen Psychoanalyse, bei der das „wahre in-
nere Afrika“ in seinen widersprüchlichen, dunklen, anarchischen, dynamischen
Aspekten thematisiert wurde. Damit sind wir beim Thema dieses Kapitels.
Phantasien verorten wir mit Freud in eine besondere Nähe zum Unbewussten,
sie sind – ähnlich wie Traumsymbole, freie Assoziationen, sogenannte „Freud-
sche Fehlleistungen“ – gleichsam „Abkömmlinge“ des Unbewussten, die uns ei-
nen Zugang zum Unbewussten erlauben.
Richard Rorty (1994, 24) fordert in seinen bildungstheoretischen Überle-
gungen über das „bildende Gespräch“, man solle „das Streben nach Gewissheit“
durch die „Forderung nach Phantasie ersetzen“. Dieser „Forderung nach Phan-
tasie“ gehen wir in diesem Buch nach. Unsere Grundannahme ist, dass es auch
beim Lernen Möglichkeiten des Grenzverkehrs geben muss zwischen dem Be-
reich der bewussten Reflexion und dem Unbewussten. Dabei interpretieren wir
die Phantasien als eine Art von „freien Assoziationen“ mit Freud als „Abkömm-
linge des Unbewussten“.
Wir gehen davon aus, dass im Medium von inneren Bildern und Phantasien
der Übergang vom Unbewussten über das Vorbewusste zum Bewussten ermög-
licht und zugleich offenbar wird.
In diesem Kapitel soll nun der Begriff des Unbewussten vor dem Hinter-
grund vor allem der Psychoanalyse ausgeleuchtet werden, wobei wir – gleich-
sam als Exkurs – auch neue theoretische Einsichten und empirische Befunde der
Kognitionswissenschaften nicht unerwähnt lassen werden. Diese Gegenüber-
stellung schärft den Blick für die besondere Bedeutung des psychodynamischen
Unbewussten, öffnet darüber hinaus aber auch die Dimension eines gleichsam
konfliktfreien Unbewussten der Kognitionspsychologie.

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A. Combe, U. Gebhard, Verstehen im Unterricht, DOI 10.1007/978-3-531-94281-0_5,
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
5 Phantasien als Abkömmlinge des Unbewussten

Die unbewusste bzw. vorbewusste Ebene der Bilder, Assoziationen, Kons-


truktionen und Intuitionen, um die es uns hier geht, ist zwar eine ausgesprochen
wirksame, aber dennoch nicht die allein gültige. Wir haben kein intuitiv sicheres
Wissen von „Richtig und Falsch“ oder gar von „Gut und Böse“, sondern müssen
unsere Einfälle und Phantasien prüfen und reflektieren, auch und gerade, wenn
sie sich aus unbewussten Quellen speisen. Dies ist ein Plädoyer für eine er-
weiterte, gewissermaßen radikalisierte Aufklärung, die die Spannung zwischen
Phantasie und Realität, zwischen Intuition und Rationalität aufnimmt, aushält,
vielleicht sogar genießt. Dabei ist die Welt der inneren unbewussten Repräsen-
tanzen natürlich nicht näher an der „Wahrheit“ als bewusste Rationalität. Aller-
dings nehmen wir an, dass es ausgesprochen rational ist, beim Nachdenken sich
dem Reichtum der inneren, auch irrationalen Bilder zu öffnen – nicht etwa, weil
sie die „Wahrheit“ repräsentieren, sondern weil sie ein phantasiereiches und kre-
atives Potential darstellen.
Wir gehen davon aus, dass es ein „verborgenes“ und ein „ausdrückliches“
Wissen über Sachverhalte gibt, und dass ein Pendeln zwischen dem implizi-
ten, intuitiven Wissen und der bewussten, sprachlich-reflektierenden Zugangs-
weise für schöpferische und problemlösende Prozesse produktiv ist. Die Über-
gangszone von unbewussten, intuitiven zu sprachlich reflektierbaren Prozessen
charakterisiert der Schriftsteller Paul Nizon (1985, 125) in seiner Frankfurter
Poetik-Vorlesung als „werdende Sprache“. Es ist, den Übergang vom verborge-
nen zum ausdrücklichen Wissen betreffend, durchaus plausibel, wenn jemand
sagt, ein Sachverhalt sei ihm zwar klar, er könne ihn aber nur noch nicht aus-
drücken. Auch die vage Vermutung des „Miteinander-zu-Tun-Habens“, mit dem
wir zum Beispiel bei der Assoziation arbeiten, liegt auf dieser Ebene. Dabei
spielt nach Freud die Sprache die entscheidende Rolle: die nicht sagbare Erin-
nerung, die „Sachvorstellung“, die jedoch vom Subjekt potentiell wachgerufen
werden kann, muss mit sprachlichen Mitteln, mit „Wortvorstellungen“ (Freud
1915, 270) als solche konstituiert werden.

5.2 Das Unbewusste in der Psychoanalyse


Bekanntlich war Freud der erste, der die Annahme eines Unbewussten systema-
tisch ausgebreitet hat. Freud zufolge gehört gerade die unauflösliche gegensei-
tige Verzahnung bewusster und unbewusster Bereiche zu den Grundbedingun-
gen des menschlichen Seelenlebens. Das bewusste Denken wird wesentlich aus
unbewussten Quellen gespeist. Reflexion und Erkenntnis der äußeren Welt tra-
gen insofern immer auch die Spuren unbewusster Prozesse.
Die Schwierigkeit bei der Annahme eines Unbewussten ist nun die Tatsa-
che, dass es eben unbewusst ist und man deshalb nur sehr vage Aussagen darü-

34
5 Phantasien als Abkömmlinge des Unbewussten

ber machen kann. „Ja, von manchen dieser latenten Zustände müssen wir aussa-
gen, sie unterscheiden sich von den bewussten eben nur durch den Wegfall des
Bewusstseins“, formuliert Freud unzufrieden und geradezu selbstironisch in sei-
nem Aufsatz „Das Unbewusste“ (Freud 1915, 265). Eben diese „Unsagbarkeit“
des Unbewussten hat es der Psychoanalyse auch bisweilen schwer gemacht, sich
in rationalen, wissenschaftlichen Diskursen zu etablieren, weil stets der Irrati-
onalismusverdacht im Raume stand. Das hat sich insofern geändert, als sowohl
von der Neurobiologie als auch von der experimentellen Kognitions- und Sozi-
alpsychologie Hinweise kommen, dass dem Bereich der unbewussten „Informa-
tionsverarbeitung“ weitaus größere Bedeutung zukommt als bisher angenom-
men oder zugestanden (siehe 5.3).
Freud hält die „Annahme des Unbewussten“ für „notwendig, weil die Da-
ten des Bewusstseins in hohem Grade lückenhaft sind“ (Freud 1915, 265). Sehr
deutlich wird dies nicht nur bei der Erklärung von neurotischen Symptomen,
sondern gilt für jedermann und in allen Fragen des alltäglichen Lebens: „Unsere
persönlichste tägliche Erfahrung macht uns mit Einfällen bekannt, deren Her-
kunft wir nicht kennen, und mit Denkresultaten, deren Ausarbeitung uns ver-
borgen geblieben ist“ (Freud a.a.O.). Wir gehen also davon aus, dass die Psy-
choanalyse nicht nur eine Methode psychotherapeutischer Praxis ist und die
Annahme der unbewussten Verankerung der seelischen Tätigkeiten des Men-
schen nicht nur für neurotische Veränderungen in der seelischen Entwicklung
gilt. Die Psychoanalyse begreifen wir vor allem auch als eine (hermeneutische)
Theorie zum tiefenpsychologischen Verständnis aller menschlichen affektiven
und kognitiven Verhaltensweisen.
Bereits in der Traumdeutung formuliert Freud: „Das Unbewusste muss [...]
als allgemeine Basis des psychischen Lebens angenommen werden. Das Un-
bewusste ist der größere Kreis, der den kleineren des Bewussten in sich ein-
schließt; alles Bewusste hat eine unbewusste Vorstufe, während das Unbewusste
auf dieser Stufe stehenbleiben und doch den vollen Wert einer psychischen Leis-
tung beanspruchen kann“ (Freud 1900, 617).
Der zentrale Grundpfeiler des psychoanalytischen Theoriegebäudes ist also
die Annahme eines Unbewussten, das — weit mehr, als uns eben bewusst ist —
unser Verhalten, Denken, Fühlen und Bewerten bedingt. Wir sind gewisserma-
ßen nicht Herr im eigenen Haus, formuliert Freud sehr pointiert. Jedoch: ”Be-
wusstheit [...] bleibt das einzige Licht, das uns im Dunkel des Seelenlebens
leuchtet und leitet” (Freud 1938, 147).
Mit der Annahme des Unbewussten wird eine der Grundannahmen abendlän-
dischen Denkens, nämlich dass sich menschliche Existenz zuerst und vor allem
in einer bewussten Reflexion bzw. Selbstreflexion erfährt und auslegt, korrigiert
(Brumlik 2006). Das ist durchaus als ein revolutionärer Bruch im Selbstver-

35
5 Phantasien als Abkömmlinge des Unbewussten

ständnis des modernen Menschen anzusehen: Vernünftige und bewusste Über-


legungen werden von nicht, zumindest nicht unmittelbar zugänglichen Motiven
geleitet: von Trieben, Leidenschaften, Träumen und Phantasien.
Ein wesentlicher Teil des Unbewussten macht das Verdrängte aus – ein Um-
stand, der das Dynamische, Anarchische und auch oft Schmerzhafte unbewuss-
ter Prozesse bedingt. Mit dem Gedanken der „Wiederkehr des Verdrängten“
wird zugleich auch angedeutet, dass das Unbewusste sich seiner Aufklärung zu
widersetzen scheint; insofern bedarf es eben einer radikalisierten Aufklärung,
um die besagten Landschaften des „inneren Afrikas“ zugänglich zu machen.
„Ungebändigt und unzerstörbar, doch an jeder Betätigung gehemmt, bil-
den diese, der Verdrängung verfallenen Triebe und ihre primitive seelische Re-
präsentanzen die seelische Unterwelt, den Kern des eigentlichen Unbewussten,
stets bereit, ihre Ansprüche geltend zu machen und auf jedem Umweg zur Be-
friedigung vorzudringen (Freud 1919, 326). Die Metapher der Unterwelt, in der
das Lustprinzip „herrscht“, transportiert sehr treffend das Unbewusste der Psy-
choanalyse und deren psychodynamischen Kern.
Für unsere Überlegungen besonders interessant ist, ob und welchen Ein-
fluss unbewusste Prozesse bzw. Inhalte auf bewusste Denk- und Erkenntnis-
prozesse haben und ob es auch unbewusste Denkvorgänge gibt. Hierzu ist die
Unterscheidung in Primär- und Sekundärprozesse wichtig. Die Primärvorgänge
kennzeichnen die Vorgänge im Unbewussten; sie sind rein dem Lustprinzip un-
terworfen, „akzeptieren“ gewissermaßen keine Ausrichtung auf die äußere Rea-
lität. Sie werden im Laufe der Ontogenese in ihrer offensichtlichen Wirksamkeit
von den „vernünftigen“, an der Realität orientierten Sekundärprozessen überla-
gert, jedoch nicht abgelöst. Im Primärprozess sind nicht nur Triebe und Bedürf-
nisse wirksam, Mechanismen wie z.B. Verdichtung oder Verschiebung lassen
sich durchaus auch als „Denkformen des Primärprozesses“ charakterisieren, die
die Art unserer Phantasien und Assoziationen determinieren und auch die Er-
kenntnisfähigkeit beeinflussen. Da sie dem bewussten Verstand meist unlogisch
erscheinen, werden sie oft beiseite getan, nicht beachtet. Zusammenfassend las-
sen sich die „Denkformen“ des Unbewussten folgendermaßen kennzeichnen
(vgl. Freud 1915, 285):
ƒ Im Unbewussten sind Vorstellungen austauschbar (Verschiebung).
ƒ Gedanken können zwanglos in ihr Gegenteil verwandelt werden.
ƒ Mehrere Vorstellungen oder Gedanken können durch eine Repräsentanz ver-
treten werden (Verdichtung).
ƒ Gegensätze werden nicht auseinandergehalten. Die Gesetze der Logik gelten
nicht. Widersprüche können nebeneinander bestehen bleiben.
ƒ Das Unbewusste kennt keine Negation.

36
5 Phantasien als Abkömmlinge des Unbewussten

ƒ Die „Sprache“ des Unbewussten ist weniger nach syntaktischen und seman-
tischen Gesetzen organisiert, sondern bildhaft und assoziativ.

Dem Bewusstsein erscheinen die „Denkprozesse“ des Unbewussten natürlich


fehlerhaft bzw. unpassend und sie werden deshalb überformt, was allerdings
anstrengend ist und gewissermaßen zu einem „psychischen Aufwand“ (Freud
1905, 133) nötigt. Die Denktätigkeit – so Freud – neige jedoch dazu, sich „von
dem Zwang der intellektuellen Erziehung zu befreien“ (Freud 1905, 143). Das
Unbewusste produziert bisweilen Gedanken, Einfälle, die das bewusste Den-
ken, vor allem schöpferisches Denken und Schaffen außerordentlich bereichern
können. Insofern hat das Unbewusste die Funktion einer schöpferischen Ins-
tanz, die es nicht zu hermetisch abzuriegeln gilt. „Aus den Mitteilungen einiger
höchst produktiver Menschen, wie Goethe und Helmholtz, erfahren wir doch
eher, dass das Wesentliche und Neue ihrer Schöpfungen ihnen einfallsartig ge-
geben wurde und fast fertig zu ihrer Wahrnehmung kam“ (Freud 1900, 618).
Der Ichpsychologe Hartmann formuliert das für den Prozess der wissenschaft-
lichen Erkenntnisgewinnung noch radikaler: „Ich möchte hervorheben, dass so-
gar im schöpferischen-wissenschaftlichen Denken der Umweg über irrationale
Elemente, visuelle Phantasien in allgemeinen Bildern und Symbolen, durchaus
kein Hindernis darstellt, sondern im Gegenteil vorwärts helfen kann“ (Hartmann
1972, 70). Wie immer man den Einfluss unbewusster Vorgänge auch bewertet,
entscheidend ist, dass dieser Einfluss notwendig und in jedem Fall die mensch-
liche Wahrnehmung und Erkenntnis beeinflusst und formt.
Für die Rekonstruktion des Unbewussten hat die Psychoanalyse nun die ihr
eigene hermeneutische Methode der freien Assoziationen in Kombination mit
der freischwebenden Aufmerksamkeit entwickelt (Leuzinger-Bohleber 2000).
Auch wenn das Unbewusste im eigentlichen Sinne nicht „sagbar“ ist, ist es
gleichsam an seinen Manifestationen, an seinen Abkömmlingen, nämlich an
Phantasien zu erkennen. Indem die freien Assoziationen, die Phantasien, zur
Rekonstruktion und Interpretation der kulturellen und biographischen Dimen-
sionen der subjektiven Beziehungen, auch der höchst unterschiedlichen Bezie-
hungen und Deutungsperspektiven zu Gegenständen herangezogen werden, be-
steht die Chance zur Konstruktion subjektiven Sinns. Diesen Gedanken werden
wir im Kapitel zum didaktischen Ansatz der Alltagsphantasien wieder aufgrei-
fen (Kapitel 11).

37
5 Phantasien als Abkömmlinge des Unbewussten

5. 3 Unbewusste Informationsverarbeitung und


Kognitionspsychologie
Inzwischen gibt es auch außerhalb der Psychoanalyse eine Diskussion um das
Unbewusste, die in Zusammenhang mit der Aufmerksamkeit für Denkformen
und Logiken steht, die rasche und effektive Urteils-, Entscheidungs- und Schluss-
prozesse ohne langes Abwägen ermöglichen (Anderson 1983; Gardner 1989).
Die Kognitionswissenschaften (die Kognitions- und Sozialpsychologie, die Wis-
senssoziologie und die Neurowissenschaften) haben die Dimension des Unbe-
wussten vor allem in Richtung eines intuitiven, impliziten Wissens untersucht.
Im Folgenden soll zunächst der Versuch unternommen werden, die Ergeb-
nisse dieser Forschungen kurz zu bilanzieren (vgl. Dittmer 2010), um im An-
schluss daran eine Gegenüberstellung von dem psychoanalytischen Begriff des
Unbewussten und der kognitionspsychologischen Version vorzunehmen und of-
fene Fragen zu formulieren.
Analog zur Unterscheidung in bewusste und unbewusste Prozesse in der Psy-
choanalyse unterscheidet auch die moderne Kognitionspsychologie zwei Verar-
beitungsmodi des kognitiven Systems: kontrollierte (reflektierende) und asso-
ziative (intuitive) Verarbeitungsprozesse (Goschke/Bolte 2002, Strack/Deutsch
2004).
In so genannten „Zwei-Prozess-Modellen“ der Informationsverarbeitung
(Shiffrin & Schneider 1977, Chaiken & Trope 1999) werden automatisierte, as-
soziative Prozesse von kontrollierten, regelbasierten Prozessen unterschieden.
Automatisierte, intuitive Prozesse gelten hierbei als unbewusst. Die folgende
Grafik (Tab. 1) zeigt entsprechende Eigenschaften von Modi der Informations-
verarbeitung.

Tab 1: Intuitives und reflektierendes System: ein Merkmalsvergleich (nach Haidt 2007)

Intuitive/assoziative Verarbeitung Reflexive Verarbeitung


Schnell und mühelos Langsam und anstrengend
Prozess ist unbeabsichtigt und ver- Prozess ist beabsichtigt und kontrollierbar
läuft automatisiert
Prozesse nicht zugänglich: nur die Prozesse bewusst zugänglich und (bezüglich
Ergebnisse gelangen ins Bewusstsein seiner Logik) überprüfbar
Benötigt keine Aufmerksamkeits- Benötigt Aufmerksamkeitskapazitäten, welche
kapazitäten begrenzt sind
Parallel verteilte Verarbeitung Serielle Verarbeitung
Vergleich von Mustern; Denken ist Verarbeitung von Symbolen; Denken ist
metaphorisch und holistisch wahrheitssuchend und analytisch

38
5 Phantasien als Abkömmlinge des Unbewussten

Der automatisierte Modus schließt nach Evans (2007) die Möglichkeit ein,
die Umwelt unmittelbar zu kategorisieren und auf sie zu reagieren. Die Wahr-
nehmung von Situationen scheint unmittelbar mit Handlungsoptionen gekoppelt
zu sein, sodass ein flüssiges, psychische Kapazität sparendes Handeln-Können
möglich ist. Sozialpsychologische Autoren (z.B. Evans 2007) bieten dafür eine
schemabezogene Herleitung als Erklärung an. Aus vielfältigen Erfahrungen mit
einem Gegenstand und einer Handlung lassen sich situativ invariante gemein-
same Merkmale herauslösen und zunehmend verdichten, so dass „ein spezielles
von uns als häufig wiederkehrend erlebtes Muster von eingehenden Reizen ein
automatisches „Erkennen“ auslöst“ (Hennings/Mielke 2005, 243). Das Unbe-
wusste wird hier also analog zur Bildung und Wirkungsweise von Schemata ge-
dacht. Sie sind in dieser Sicht gewissermaßen gedächtnismäßig aktualisierbare
Abrufpläne zur Aufmerksamkeitssteuerung, die unmittelbar Kohärenz und Ver-
ständnis erzeugen bzw. als Information selegierende Rahmungen wirken.
Was ergibt sich nun aus dieser Übersicht? Begriffe wie implizit, assozia-
tiv, automatisch, intuitiv, holistisch oder metaphorisch, die hier für die Ebene
der unbewussten Informationsbearbeitung als repräsentativ gelten, werden zu-
nächst in sich nicht weiter ausdifferenziert. Aber eines lässt sich als durchschla-
gendes Ergebnis dieses Untersuchungsansatzes feststellen: Es handelt sich auf
der Ebene der unbewussten Informationsverarbeitung nicht um eine Form der
Erfahrungs- und Erkenntnisbildung, die auf begrifflich-diskursiven Bestimmun-
gen eines Sachverhalts beruht. Wir entnehmen den Ergebnissen vielmehr, dass
es auf dieser nicht-propositionalen Ebene um eine rasche Orientierung geht, um
einen schnellen Anschluss und ein spontanes Urteil über einen Sachverhalt. Es
geht um das, was intuitiv und spontan einleuchtet oder sich gar unmittelbar auf-
drängt, was sich möglicherweise gar nicht klar und vollständig in diskursives
Wissen transformieren lässt, aber gerade aufgrund der schöpferischen Spontane-
ität unerlässlich ist. Offensichtlich ist dieser Bereich der unbewussten Informati-
onsverarbeitung stark mit einer Heuristik verbunden, die wir im Alltagshandeln
brauchen (Gigerenzer 2007). Die intuitive und schnell herstellbare Sicherheit
ergibt sich daraus, dass die impulsiven Reaktionsweisen sich gleichsam auto-
matisch als das Ergebnis vielfältiger Erfahrungen von selbst herstellen. Die In-
halte des impulsiven Systems, die Reaktionsweisen der unbewussten Informa-
tionsverarbeitung ergeben sich deshalb so mühelos, weil sie durch gleichsam
tausendfache Bahnungen automatisch ablaufen. Das Fahrradfahren ist dafür ein
gutes Beispiel. Insofern ist die Funktionsweise der unbewussten Informations-
verarbeitung weniger „automatisch“ als vielmehr „automatisiert“. Vor allem da-
durch kann das kognitive System entlastet werden.

39
5 Phantasien als Abkömmlinge des Unbewussten

5.4 Fazit
Dass sich Psychoanalyse und empirisch ausgelegte Kognitionspsychologie kon-
struktiv auf einander zu bewegen (z.B. Epstein 1994, Mertens 2005), ist bemer-
kenswert. Beide akzentuieren unterschiedliche Aspekte des Unbewussten, die
wir nicht gegeneinander ausspielen, sondern in ihrer Eigenlogik beachten und
abschließend herausstellen wollen.
Im Grunde geht es in den Modellen der Sozial- und Kognitionspsychologie
um die Passung von äußeren Informationen einerseits mit inneren, automatisier-
ten Schemata andererseits. Damit wird die Entlastung des Informationsverar-
beitungssystems augenfällig und auch plausibel erklärt. Die damit verbundene
Sicherheit und Effizienz funktioniert nur bei Konfliktfreiheit. Kommt es zu Pro-
blemen und Konflikten, tritt das reflektierende System auf den Plan.
Offen bleibt dabei allerdings die Frage, ob die in einem Schema aktuali-
sierten Gedächtnisinhalte in irgendeiner Form eine symbolische, sinnkonstitu-
ierende Bedeutung repräsentieren. Eben dies ist der Akzent des Unbewussten
bei der Psychoanalyse, die das Unbewusste als Ausdruck des Verdrängten eher
als Ort psychodynamischer Konflikte ansieht. Das macht das Bedeutungshal-
tige und Tiefsinnige des psychodynamisch Unbewussten gegenüber dem Ziel-
orientierten des automatisierten Unbewussten aus. Während die Abkömmlinge
des Unbewussten der Psychoanalyse uns gewissermaßen „zu denken geben“
(Ricoeur 1974), machen die Heuristiken der automatisierten Informationsverar-
beitung das Denken im Grunde überflüssig. Menschen brauchen und haben of-
fenbar beide Umgangsweisen mit dem Unbewussten
Die kognitionspsychologischen Zwei-Prozess-Modelle zum Unbewuss-
ten haben allerdings eine gewisse Neigung, die Schicht der inneren Bilder und
Phantasien als Ausdrucksform des Dynamisch-Unbewussten in ihrer Bedeu-
tungshaftigkeit und Eigenlogik zu unterschätzen. Die mangelnde Wertschätzung
der Bedeutungshaftigkeit von inneren Bildern und Phantasien, von der wir ge-
sprochen haben, kommt vor allem da zum Ausdruck, wo die schnellen und dem
Unbewussten zugerechneten Entscheidungen als „automatisierte“ Vorgänge ver-
standen werden. Dabei besteht zumindest die Gefahr, dass die symbolische, be-
deutungstragende, bilderreiche Dimension des Unwussten, die gewissermaßen
nach Ausdruck, letztlich nach Bewusstsein verlangt, in ihrer sinnkonstituieren-
den Funktion vernachlässigt wird. Es ist die Ebene, die Freud mit dem Begriff
des „Dynamisch-Unbewussten“ bezeichnet hat.
Diese aus dem Unbewussten gespeiste Phantasiedynamik ist nun für uns die
zentrale. Denn eine wesentliche Annahme unseres Ansatzes ist gerade die Sinn-
und Bedeutungshaltigkeit der Phantasien und inneren Bilder, weil darüber ein
Zugang zu den Gegenständen der äußeren und inneren Welt aufgebaut bzw. ge-

40
5 Phantasien als Abkömmlinge des Unbewussten

funden werden kann. Phantasien haben insofern eine besondere Bedeutung bei
der Gegenstandskonstituierung.

41
6 Phantasien und die Bildung von Möglichkeitsräumen.
Manifestationen beim Problemlösen

Man steht bei der Darstellung der Formen und der Bedeutung von Phantasien
vor dem Problem, dass diese Ausdruck eines inneren Geschehens und im Prin-
zip nur für den Handelnden selbst wahrnehmbar sind. Das heißt aber nun nicht,
dass Phantasien für die Erfahrung und Beschreibung gänzlich unzugänglich
seien. Phantasien sind auch eingebettet in eine Welt, die uns doch durch unsere
kreative Handlungsfähigkeit erschlossen und vertraut ist. Ob beim Suchen und
Entwerfen, beim Probieren oder Testen – stets sind Phantasien im Spiel.
Wir greifen zurück auf die Annahme, dass das, was kreativ hervorgebracht
und gestaltet wird, von Phantasien bewegt wird. Allerdings nehmen die psy-
chologischen Kreativitätsdefinitionen den Phantasiebegriff kaum auf. Sie ent-
halten ihn aber implizit oder legen ihn selbstverständlich zugrunde. Mit dem
Stichwort „Kreativität“ berühren wir ein widersprüchliches „Heilswort“ (H. v.
Hentig 2000) – gleichsam einen vom Einzelnen geforderten Modus der Selbst-
führung. Bei seinem typologisierenden Versuch, die wichtigsten Zusammen-
hänge zu charakterisieren, in denen die Idee der Kreativität auftauchte und Ein-
fluss gewann, setzt Hans Joas (1992) mit Rückgriff auf den Pragmatismus von
Dewey das problemlösende Handeln von psychologischen Kreativitätstheorien
ab. Kreativität ist im Rahmen problemlösenden Handelns situiert; sie antwor-
tet auf Herausforderungen, die gleichermaßen neue wie angemessene Lösungen
verlangen. Aber was hat das mit den Möglichkeiten zu tun, Phantasien in ihrem
Wirken und in ihren Formen sichtbar zu machen?
Entgegen kommt uns nun die Analogie, die zwischen der Herstellung ei-
nes literarischen Prosatextes oder dem Schreiben einerseits und dem Problemlö-
sungsprozess andererseits gesehen wird. Hier können Vorgänge dargestellt wer-
den, die sich vergleichen lassen (Eigler 2006). Was den Problemlösungsprozess
mit dem Schreibprozess verbindet, ist schon allein der gesamte Charakter des
Ablaufs: diese Produktionsprozesse sind oft verschlungen und diskontinuier-
lich. Langsam baut sich etwas auf. Man kann einem die Entscheidungen nicht
abnehmen. Verschiedenes wird ausprobiert, Konsequenzen bewertet, Möglich-
keiten getestet. Irritationen müssen produktiv gewendet werden. Die Verlaufsfi-
guren in solchen Prozessen bestehen weniger in einer nur nach vorne gerichteten
Bewegung. Ihre Bewegungsform ist vielmehr die einer zyklischen Entfaltung in
Rück- und Vorgriffen, ein Ineinander von Entwürfen und deren Evaluation. Wir

43
A. Combe, U. Gebhard, Verstehen im Unterricht, DOI 10.1007/978-3-531-94281-0_6,
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
6 Phantasien und die Bildung von Möglichkeitsräumen

nehmen an, dass dieser „rückgreifende Vorgriff“ (Combe 1992, 2001;Combe/


Kolbe 2004; Combe/Gebhard 2007) auch eine typische Grundfigur von Phanta-
sien darstellt: ob die Bildung von Möglichkeitsräumen nun eher auf der Ebene
der sprachlichen Explizitheit eines Entwurfs und der gedankenexperimentellen
Rekonstruktion der Folgen oder etwa der intuitiven und assoziativen Annähe-
rung liegen, wie wir im Einzelnen noch sehen werden.
Wir ziehen, um Phantasieaktivitäten in ihrem Wirken und ihren Formen
sichtbar zu machen, Aussagen aus dem Bereich der Literatur heran: Aussagen
von Schriftstellern über die Entstehung ihrer Texte, die im Umkreis des Su-
chens, Entwerfens, Erprobens, Eingrenzens und Neuansetzens liegen.
Kategorial lehnen wir uns an am pragmatistischen Modellfall problemlösen-
den Untersuchens, den Dewey sowohl für Forschungsprozesse als auch für die
alltägliche Erfahrungsebene entwickelt hat. Der Wirklichkeitszugang ist jeweils
der gleiche; was sie im einzelnen unterscheidet, ist das Ausmaß an Explizitheits-
verpflichtung und Systematisierung (vgl. Strübing 2008, 299).
Allerdings wird das Problemlösen oft als ein Vorgang verstanden, bei dem
ein überwiegend rationaler Akteur am Werke ist, der vermeintlich jederzeit Herr
des Verfahrens ist, der mit festen Vorsätzen und Zielen beginnt und die Prozesse
souverän überblickt. Hier setzen wir einen anderen Akzent. Auch Dewey folgt
diesem rationalistischen Denkweg nicht. Er zieht keine unverrückbaren Grenz-
linien zwischen den bewussten und den unbewussten Prozessen. Vielmehr geht
er von der Annahme aus, ein Pendeln zwischen dem impliziten, intuitiven Wis-
sen und den bewussten, sprachlich-reflektierenden Zugangsweisen sei für die
Auseinandersetzung mit einem Gegenstand oder einem Problem außerordent-
lich produktiv (2002, 165).
Dewey formuliert die vom Erfahrungsprozess her bekannten Voraussetzun-
gen, damit überhaupt ein Problemlösungsprozess in Gang kommt. Vorliegen
muss ein „beunruhigendes Phänomen“ (2002, 147), eine „unbestimmte Situa-
tion“ (2002, 134). Notwendig ist weiter, dass eine Situation überhaupt als prob-
lematisch (an-)erkannt wird (2002, 135). Denkbar wäre ja der Fall, die Beschäf-
tigung mit solchen, nicht nur intellektuelles Vergnügen bereitenden Irritationen
und Erfahrungskrisen beiseite zu schieben.
Paul Nizon gibt uns eine Vorstellung davon, wie diffus die Anfangsgestalt
zunächst ist: „Ich gehe ohne Plan vor, taste mich in allen Richtungen durch un-
wegsames Gebiet voran. Die erste Phase ist mühselig, eine Geduldsprobe. Ich
muss das Terrain abhorchen, muss Verbindung aufnehmen. Genauer: ich muss
mich in mein in alle Welt verteiltes Ich zurücksinken lassen (Regression). Erst
wenn das vielfältige Sondieren eine erste Spur erkennen lässt, kann ich mich
schreibend in Marsch setzen, wenn auch nur zu ersten Vorstößen. Meine Krux
ist das Nichterfindenkönnen. Wo andere Einfälle, wenn nicht eine ausgewach-

44
6 Phantasien und die Bildung von Möglichkeitsräumen

sene Buchidee haben, muss ich mich erst labyrinthisch verlieren, um überhaupt
an die Materie heranzukommen. Erst wenn es soweit ist, kann die Spracharbeit
richtig beginnen“ (Nizon 1985, 125).
Die Natur der Schwierigkeit, die Paul Nizon hier beschreibt, ist die Suche
nach einer Idee oder einer „Spur“, die zu ersten Schreibversuchen führen könnte.
Wo ergibt oder findet sich eine Konstellation, die die Kraft hat, eine weiterzu-
verfolgende Spur oder Idee zu tragen? Der Anfang der produktiven Erkenntnis
wird immer noch stark voluntaristisch, als eine vom Willen abhängige Bereit-
schaft gedeutet. Aber gelingende Anfänge zeichnen sich auch durch andere Mo-
mente der Annäherung aus: Es braucht „Andockpunkte“, nämlich innere Bilder
und Phantasien. Denn genau genommen verhält es sich so: Es fängt an, nicht
ich fange an. Ich komme dann erst dazu und nehme den Vorgang in meine Re-
gie. Aber ganz so passiv, als bloßes Treibenlassen vom Gedankenstrom, ist die-
ses Anfangen nicht. „Ein in die Welt verteiltes Ich“, wie Paul Nizon sagt, ist auf
den Wechsel der Blickwinkel und die Veränderung des Assoziationsfeldes ver-
wiesen.
Dewey beschreibt diese Phase als „Bestimmung der Problemlösung“. Sie
ist gekennzeichnet durch ein Ineinander zwischen der Wahrnehmung der „Tat-
sachen des Falles“ (2002, 136) einerseits und problembezogenen, unvoreinge-
nommenen „Suggestionen“, Problemaspekten und Gedankenverknüpfungen
andererseits. Wir meinen Dewey richtig zu interpretieren, wenn wir trotz der an-
gedeuteten tagträumerischen Gedankenflanerie („suggestions“) annehmen, dass
neben dem Spielerischen dieser Phase auch harte, sachhaltige Arbeit ansteht, bis
sich die zunächst unverbundenen Elemente und assoziativen Zusammenhänge
zu einer neuen „Gestalt“ und Idee fügen.
Analog hierzu spricht Thomas Mann von „Erinnern und Herbeibringen von
Material, Zubehör, um dem vorschwebenden Schatten einen Körper zu schaf-
fen“ (1949, 31). Und auch Christa Wolf möchte sich nicht nur von der „Gnade
des Einfalls“ abhängig machen: „Es ist ja nicht so, dass man irgendwo sitzt und
wartet: Wann kommt denn nun endlich ein Einfall? Man ist ja dauernd beschäf-
tigt. Innerhalb dieser allgemeinen Beschäftigung zieht sich dann diese Unruhe
irgendwie (man weiß ja nicht, wie) auf ihren Kernpunkt zusammen, und die Idee
ist „da“. Das ist einer der schönsten Momente. Neulich sagte ich am Ende eines
Traumes mir selbst laut die Idee für ein Kapitel, an dem ich arbeitete – ein Satz,
den ich beim Erwachen noch wusste und akzeptieren konnte“ (Wolf 1980, 61f.).
Dass von Christa Wolff der nächtliche Traum erwähnt wird, in dem sich das
bisher Getrennte und Fragmentarische gleichsam hinter ihrem Rücken ordnet
und schließlich zur Idee zusammenschließt und fassbar wird, kommt uns bei
unserer Untersuchung über Phantasieformate natürlich entgegen – so wie wir
in der obigen Eingangsphase den Aufbau von Assoziationsfeldern aus je unter-

45
6 Phantasien und die Bildung von Möglichkeitsräumen

schiedlicher, individueller Perspektive hier schon einmal anmerken wollen. De-


wey würde allerdings nicht behaupten, dass mit der Idee schon alles gewonnen
ist. Der Einfall oder die Idee bedarf nun nämlich durchaus eines Entschlusses
und einer Entscheidung vor dem Hintergrund einer anderen Option. Zumeist
wird man auch intuitiv einer Annahme, einer Vermutung, einer Hypothese ein
Stück weit folgen; und es ist nicht gesagt, dass die bisherige Abgrenzungs- und
Vermittlungsarbeit zwischen dem Entwurf von Möglichkeiten und den Gege-
benheiten im jeweiligen Fall an ein Ende angekommen ist.
Darauf will auch Max Frisch hinaus, wenn er ausführt: „Hübsch ist es, Ein-
fälle zu haben! Aber wie schwierig, sie zu fassen, sie zu lassen, sie zu gestal-
ten …“ (GW Bd. III, 355). Dewey trifft diesen distanzierenden Ton genau, wenn
er hier den befremdlich anmutenden Begriff der Beweisführung für die vierte
Phase seines Problemlösungszyklus vorschlägt. Aber Einfälle müssen in der Tat
ausgearbeitet und kommunizierbar gemacht, Aufwand und Ertrag müssen kal-
kuliert, mögliche Effekte und Implikationen berücksichtigt werden, bevor in der
nächsten, fünften Phase, die Dewey Experiment nennt, die Tauglichkeit der ent-
wickelten Problemlösungsidee beurteilt werden kann (2002, 140ff.). Verglei-
chen lässt sich diese „Beweisführung“ im Sinne Deweys mit dem realen Aus-
probieren verschiedener Versionen seitens der Schriftsteller.
Betrachten wir nun die erste Phase (Vergegenwärtigung der Gegebenheiten,
Suggestionen und Ideenfindung) im Rückblick: die ersten Schritte werden vor-
läufig, „tentativ“ gesetzt. Sie sind bestimmt von einer sinnlichen Öffnung der
Wahrnehmung einerseits. Es geht hier um den assoziativen Abgleich zwischen
Altem und Neuem in Form von Suggestionen um die Identifizierung des Feh-
lenden, des Fremden, noch Unzugänglichen. Immer wieder kommt es zur asso-
ziativen Erprobung von Zusammenhängen, bis schließlich eine oder mehrere,
bisweilen auch riskante Hypothesen formuliert werden können. Damit wird die
Bedeutung von Assoziationen in ein helles Licht gerückt. Wir werden dieser
Spur im nächsten Kapitel folgen.
Eine weitere Frage, die sich in der Rückschau stellt, ist: Ist bei diesem bis zur
Ideenfindung gehenden Prozess nun alles Zufall? Was gibt der Sache schließlich
die Richtung? Was führt schließlich zum Einfall und zur Idee, deren vermeint-
liche Plötzlichkeit immer wieder beschrieben worden ist? Wir glauben, dass
diese Richtungsentscheidungen – und auch diesen Gesichtspunkt werden wir im
nächsten Kapitel systematisch aufnehmen – zunächst der Intuition zu verdan-
ken sind, sofern man diesen Vorgang der Intuition nicht allzu unterkomplex (als
bloßes Bauchgefühl) deutet. Führt die Intuition zu einem spontanen Entschluss
und einer Idee, der man folgen möchte, so zeichnet sich darüber hinaus im oben
dargestellten kreativen Prozess eine bewusste Form des Abwägens und Durch-
spielens von Möglichkeiten ab. Dieses Gedankenexperiment lässt sich als Inei-

46
6 Phantasien und die Bildung von Möglichkeitsräumen

nander von Konstruktions- und Rekonstruktionsbewegungen fassen. Auch dies


werden wir im nächsten Kapitel im Einzelnen ausführen.
Wenn wir zusätzlich an die Öffnung für Problemlösungen denken, die Christa
Wolf dem nächtlichen Traum zuschreibt, so haben wir die Prozesse zusammen,
die im Grenzverkehr zwischen Unbewusst und Bewusst im Zuge des Problem-
lösens als Formen der „erkundenden Phantasie“ wirksam werden: Traum, Intu-
ition, Assoziation, Gedankenexperiment als Konstruktion und Rekonstruktion.
Im nächsten Kapitel werden wir diese Phantasieaktivitäten schärfer fassen
und sie hinsichtlich ihrer funktionalen Einbindung sowie als Modi eines rück-
greifenden Vorgriffs charakterisieren.

47
7 Phantasieformen – Versuch einer Systematisierung

Wir werden im Folgenden systematisch darlegen, dass und inwiefern bei der
Annäherung an Gegenstände und Problemkonstellationen verschiedene Phan-
tasieaktivitäten beteiligt sind. Im Einzelnen nehmen wir die eben genannten
„Phantasieformate“ in den Blick:
ƒ den Traum,
ƒ die Intuition,
ƒ die Assoziation,
ƒ das Gedankenexperiment als Konstruktion und Rekonstruktion.

7.1 Traum und Problemlösung


Selbst Freud hat zeitlebens mit dem Begriff des Unbewussten gehadert, weil
man eben über das Unbewusste nur sagen kann, dass es unbewusst ist (siehe Ka-
pitel 5). Wenn man mehr sagen könnte, wäre es ja bereits bewusst. Über unbe-
wusste Vorgänge und innere Tätigkeiten könnten wir zwar zunächst „ihrer Na-
tur nach“ nichts wissen – wären da nicht ihre symbolischen „Abkömmlinge“.
Die Bedeutungshaftigkeit des Unbewussten wird in dem wohl bekanntes-
tem Diktum von Freud bereits in der Traumdeutung postuliert: „Die Traum-
deutung aber ist die Via regia zur Kenntnis des Unbewussten im Seelenleben“
(Freud 1900, 613). Mit dem Träumen, so der Grundgedanke Freuds, ist näm-
lich das Unbewusste der Erfahrungszugänglichkeit nicht entzogen. Im Gegen-
teil: die Bilder, Bildfragmente und Phantasien (des Traumes) sind es, die das
Unbewusste wieder ans Licht bringen und die Ansatzpunkte für Sinnanschlüsse
liefern können.
Dass wir den Traum gewissermaßen als Prototypen für das Phantasieren und
die Produktivität des Unbewussten nehmen, bedeutet natürlich nicht, dass wir
annehmen, dass die Schüler den Unterricht so langweilig finden, dass sie ein-
schlafen. Der Traum dient uns eher als Paradigma für die Bedeutung von inne-
ren Bildern, Assoziationen, der intuitiven Wahrnehmung von Handlungsgestal-
ten und vorbewussten, spontanen Einfällen. Denn: Wir träumen sozusagen nicht
nur in der Nacht, sondern es gibt Phantasien und Träume auch am Tage, die un-
ser Denken und Urteilen unterfüttern, diesen möglicherweise sogar die Rich-
tung vorgeben, ohne dass uns dies immer bewusst wäre. Wir erinnern an die
obige Aussage, dass sich Ideen gleichsam hinter unserem Rücken konstituieren
können, wobei sich der Eindruck ergibt, dass wir nach solchen „Schwellenzu-
ständen“ manchmal mit einer neuen Idee aufwarten können.

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A. Combe, U. Gebhard, Verstehen im Unterricht, DOI 10.1007/978-3-531-94281-0_7,
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
7 Phantasieformen – Versuch einer Systematisierung

Im Zentrum des Träumens steht ein Fluss von Vorstellungen, Bildern, Affek-
ten und Strebungen, die nicht logisch in wohl unterschiedene Elemente ausei-
nander gelegt werden können. Da sie dem bewussten Verstand meist unlogisch
erscheinen, werden diese sogenannten „Primärprozesse“ (Freud 1915, 285)
oft beiseite getan, nicht beachtet. Dennoch: der Traum ist nicht bloßes Chaos
und jedem Verständnis entzogen. Er steht vor allem für unerledigte, in Erinne-
rungsspuren abgelegte Wünsche und Konflikte, die durch eine aktuelle, sinnver-
wandte Erfahrung aufgerührt wurden. Unter der Bedingung der, wenn auch nur
herabgesetzten, aber nicht völlig ausgeschalteten Zensur können sich diese Er-
innerungsspuren und Wünsche im Traum bemerkbar machen. Freud unterschei-
det in diesem Sinne die „Traumarbeit“ während des Träumens von der darauf
folgenden „Deutungsarbeit“ (Freud 1917/1918). Diese Deutungsarbeit vollzieht
sich zuerst bildhaft und assoziativ in unterschiedlichen Symbolisierungsformen,
bevor eine Artikulation im Medium des sprachlichen Sinns möglich ist. Etwas
von der Konfliktspannung, die diesem Unerledigten zugrunde liegt, zeigt sich
dadurch, dass selbst im Schlaf die entstehenden Bilder durch die Mechanismen
der Traumarbeit wie Verdichtung, Verschiebung sowie durch die Rücksicht auf
Darstellbarkeit umgeformt werden.
Freud beschreibt diese Eigenart der Primärprozesse und der Eigenschaften
der Traumbilder sehr genau und hebt ihre Besonderheiten gegenüber dem Be-
reich des logischen Denkens hervor. So können Vorstellungen austauschbar sein
(„Verschiebung“), oder sie treten in ihrem Gegenteil verwandelt auf. Auch sind
oft mehrere Vorstellungen und Gedanken in einer Repräsentanz vertreten („Ver-
dichtung“). Gegensätze und Widersprüche werden nicht auseinandergehalten:
Es gibt „in diesem System keine Negation, keinen Zweifel, keine Grade von Si-
cherheit“ (1915, 285). Allerdings kann bei dieser Bildproduktion normalerweise
Inkompatibles und weit auseinander Liegendes in ein Zusammenspiel kommen,
so, als ob die Karten neu gemischt würden. So kann das Träumen, „indem es
Verbindungen löst und neue erschafft, eine veränderte Ausgangslage zur Prob-
lemlösung im Wachzustand bereitstellen“ (Deserno 2007, 919). Träume sind oft
wirr und nicht immer lässt sich etwas Bestimmtes daraus entnehmen. Doch kön-
nen sie auch zu erzählbaren Gebilden werden, ja sie können zum Erzählen, zu
Bildern und Assoziationen verlocken.
Da, wo es gelingt, sich den symbolischen Szenarien des Traumes in schwe-
bender Aufmerksamkeit zu öffnen, sind diese Phantasieszenarien aus den wich-
tigen lebensgeschichtlichen Motivierungslinien und abgesunkenen Utopien
gespeiste Hinweise und Ideenkeime für die der jeweiligen Person möglichen
Problemlösungen. Auch Tagträume, nach innen verlegte Gedankenspiele über
Lebensperspektiven, verlangen, wie die Träume, eine Sinnarbeit. Sonst werden

50
7 Phantasieformen – Versuch einer Systematisierung

keine Einsichten gewonnen, Zusammenhänge erkannt sowie frühere Situationen


unter einer weiterführenden Perspektive betrachtet werden können.

7.2 Intuition als geronnene Erfahrung


Intuition wird angesichts von Herausforderungen und Entscheidungssituatio-
nen benötigt, denen ein beträchtliches Maß an Unvorhersehbarkeit und Unbe-
stimmtheit eigen ist. Kennzeichnend ist eine gewisse schöpferische Spontanei-
tät, die aus der unvorhergesehenen Konfrontation mit einer Situation resultiert.
Was hier verlangt wird, sind Transformationsleistungen des Gedächtnisses: frü-
here Erfahrungen sind mit gegenwärtigen, neuen (Problem-) Situationen und
der Erwartung des Zukünftigen zu verknüpfen, um das Handeln ohne viel Be-
sinnungszeit zu orientieren.
„Verstehen“ von Situationen im Sinne des spontanen Erkennens und eines
intuitiven Zugriffs auf Optionen beruht immer auf Kategorien einer kontext-sen-
sitiven, gestalthaften Wahrnehmung, mit der wir die Seinsweise eines Sachver-
halts, einer Situation oder Konstellation feststellen. Gebildet werden die Kate-
gorien der Wahrnehmung am Leitfaden von prägnanten, prototypischen Bildern,
Beispielen oder Fällen: ein Skript von Abläufen, ja eine bestimmte gedankli-
che Folge einer exemplarischen Erzählung kann bei der Mustererkennung die
Rolle einer implizit bleibenden Vergleichsfolie spielen. Dabei hätte man sich
zu vergegenwärtigen, dass die Gestaltwahrnehmung nicht mehr und nicht we-
niger als Ordnungen zur spontanen Wahrnehmung von Ähnlichkeiten oder Un-
terschieden bereit hält, was aber noch nicht heißt, dass Sinnhaft-Symbolisches
kommuniziert und sprachlich-differenziert entfaltet ist. Was wir haben, sind
nur Anhaltspunkte, Verweise, Andeutungen für das Vorliegen einer bestimmten
Konstellation. Diese Bezugspunkte der intuitiven Einordnung beschreibt Goe-
the (1797/1998, 389) als „eminente Fälle, die in einer charakteristischen Man-
nigfaltigkeit, als Repräsentanten von vielen anderen dastehen, eine gewisse To-
talität in sich schließen, eine gewisse Reihe fordern, Ähnliches und Fremdes in
meinem Geiste aufregen.“
Die Forschungen zum episodischen Gedächtnis (Welzer/Markowitsch 2006)
deuten eben diese Ebene des Verweises und der Anspielungen an, die von sinnli-
chen Details angestoßen werden. Günther Grass beschreibt dieses Wiedererken-
nen so: „Ich werde erinnert durch etwas, das mir quersteht, seinen Geruch hin-
terlassen hat“ (2001, 26). Es sind oft auch „sprachlose Gegenstände“ (Grass),
stumme Relikte, Orte, vielleicht Photographien, die bewirken, dass erfahrungs-
gesättigte, prägnante Gestalten und Formmuster vor dem geistigen Auge auftau-
chen und bestimmte Situationsbewertungen und Optionen aufrufen.

51
7 Phantasieformen – Versuch einer Systematisierung

Was dabei Voraussetzung des intuitiven Urteils und der prospektiven Erinne-
rung ist, zeigen die Arbeiten zu den Urteilsformen von Experten im Gegensatz
zu Novizen (zusammenfassend Gruber 1994). Voraussetzungen sind Erfahren-
heit im Umgang mit der Sache, Umsicht und, wie man zu sagen pflegt, ein Blick
für die Situation. Die vielversprechende Rede vom „Bauchgefühl“ unterschlägt
gelegentlich diese praktische Vertrautheit mit der Sache und gibt der gefühlsmä-
ßigen Situations- und Optionseinschätzung ein zu starkes Gewicht, sowie auch
gesagt werden muss, dass die erwähnte Erfahrenheit sich durch diskursives Wis-
sen nicht gänzlich einholen lässt. Es gibt letztlich keinen Zweifel, dass Gefühle
und die von ihnen ausgelösten Phantasien zur Bewertung von Optionen beitra-
gen (vgl. z. B. Gigerenzer 2007, de Sousa 2009). In den Worten des kanadischen
Sozialphilosophen Charles Taylor handelt es sich bei dieser emotionalen Situa-
tionseinschätzung um eine Art „background understanding“ (1988), das immer
eine mehr oder minder bewusste Beziehung zum eigenen Wohl, zur „Sorge“
im Sinne von Heidegger enthält. Das ist eine auch für den Prozess des Verste-
hens bemerkenswerte Aussage. Wir sind immer schon mit unseren Empfindun-
gen „beteiligt“, bevor wir einen Sachverhalt bewusst und sprachlich aufgreifen.
Für das Verstehen kann es deshalb wichtig sein, sich den kognitiven Gehalt sei-
ner Empfindungen zu vergegenwärtigen.

7.3 Assoziation als Annäherung an das Fremde


Mit dem Stichwort Assoziation ist das Gestalten von Prozessen verbunden, in
denen das Potential der persönlichen Bedeutungen der Dinge ausgebreitet, aus-
probiert und ausgearbeitet wird. Es geht hier um das Suchen und Finden von
Kontexten und Anschlüssen, die wir brauchen, damit wir einem Sachverhalt
Sinn verleihen können. Assoziieren bedeutet, dass Beiträge nebeneinander ge-
stellt werden, als Resonanzkörper für einander fungieren, ohne dass Eindeutig-
keit hergestellt werden muss und die Erfindungsfreiheit von vornherein durch
Gelungenheit oder gar Standards eingeschränkt wird.
Die Gedankenarbeit des Gehirns wird „assoziativ“ erlebt. Dies entspricht
auch neurologischen Befunden: Informationen werden in einer Netzwerkstruk-
tur gespeichert und verarbeitet. Wichtig in unserem Zusammenhang ist dabei,
dass solche assoziativen Netzwerke höchst individuumsspezifisch entstehen
und aktiviert werden (Ansermet/Magistretti 2005) – wiederum ein Hinweis da-
rauf, dass bei Verstehens- und Verarbeitungsprozessen die subjektiven Kompo-
nenten tragend sind und ein durchlässiger Prozess der Inbezugsetzung und des
Austauschs zwischen Subjekt und Gegenstand in Gang kommen muss. Das As-
soziieren ist ein Vorgang, bei dem diese Inbezugsetzung und dieser Austausch-
prozess inszeniert wird. Das heißt allerdings nicht, dass die Welt nur als Projek-

52
7 Phantasieformen – Versuch einer Systematisierung

tionsfläche unserer Auffassungen und Wünsche gedacht werden kann. Ganz im


Gegenteil: wir müssen den Gegenstand in seinem „Ansichsein“ spüren, wie He-
gel (1970, Bd. 3, 6ff.) sagt, damit die mit einer wichtigen Funktion beim Prob-
lemlösen betraute Assoziation erst zum Tragen kommt – in dem Moment näm-
lich, wo wir aufgrund einer nicht schnell einzugemeindenden Fremdheit an die
Grenzen unseres Verstehens kommen. Im Zuge des Problemlösens müssen wir
deshalb im besten Fall einen inneren Spielraum gewinnen, einen intermediä-
ren Raum, einen Zustand der Träumerei, der ein kreatives Pendeln von Phanta-
sien, Emotionen und Gedanken zwischen den Polen des Eigenen und des Frem-
den ermöglicht.
Assoziieren ist ein Sammeln, Nebeneinanderlegen, Vergleichen. Gescheh-
nisse aus unterschiedlichen Zeiten und Orten können herangezogen werden, ge-
geneinander abgewogen und neu geordnet werden, so dass Zusammenhänge
emergieren.
Von Gadamer bekommen wir hier einen Hinweis auf die Kunst des Fragens.
Wir wissen, dass Einfälle nicht ganz unvorbereitet kommen. Sie setzen bereits
eine Richtung und einen Vorgriff auf einen Bereich des Offenen voraus. Und so
kann Gadamer sagen: „Das eigentliche Wesen des Einfalls ist vielleicht weniger,
das einem wie auf ein Rätsel die Lösung einfällt, sondern einem die Frage ein-
fällt, die ins Offene vorstößt und dadurch eine Antwort möglich macht“ (1960,
196) Deshalb gilt es, eine Gesprächs- und Fragekultur in Gang zu halten (vgl.
Rorty 1987).
Gadamer (1960) wie auch Rorty (1987) waren zutiefst davon überzeugt, dass
wir uns und die Welt immer wieder erneut aus der Nachhaltigkeit, dem Nach-
hall von Gesprächen verstehen, auch wenn sie ins implizite Wissen abgesunken
sind. Die in gemeinsamer Assoziation gefundene „Wahrheit“ benutzt Metaphern
und Bilder, die wir benutzen, um einen Sachverhalt zu verdeutlichen, um eine
Übertragung eines für einen bestimmten Bereich üblichen Denkens auf einen
anderen Bereich zu bewerkstelligen, auf den dieses Denken üblicherweise nicht
angewendet wird. Assoziation ist damit vor allem auch als ein sprachlicher Pro-
zess erkannt, bei dem ein Signifikanzfeld aufgebaut wird. Die assoziative Form
des Redens ist der Versuch, ein Idiom zu finden, das erlaubt, Erfahrungen zum
Ausdruck zu bringen, für die bislang keine Artikulationsmöglichkeiten zur Ver-
fügung standen.
Bei der Frage, was dem Assoziieren eine Richtung gibt und aus dem bloßen
Zufall heraushebt, werden die bereits charakterisierten Intuitionen wichtig. Hier
zeigt sich, wie Assoziationen und Intuitionen zusammengehen: Assoziationen
als der Prozess und Intuition als der Einfall, die „gefühlte“ Richtungssicherheit.
Ohne ein gleichsam experimentelles Kennenlernen des Bedeutungsspektrums
eines Sachverhalts und die hieraus erworbene Intuition, ohne eine auf Erfahrung

53
7 Phantasieformen – Versuch einer Systematisierung

beruhende Ahnung lassen sich die manchmal erstaunlichen Leistungen der In-
tuition nicht erklären.
In Bezug auf das mit der Assoziation verknüpfte Erkenntnisziel muss aller-
dings gesagt werden, dass das Assoziationsmaterial seinen Sinn nicht als sol-
ches schon freigibt. Was mit dem Assoziationsfeld vorliegt, ist nicht mehr oder
nicht weniger als eine Verdichtung von Konstellationen, deren Richtung aber
durch eine Deutungsinitiative und eine Deutungshypothese erst noch zu formu-
lieren ist. Im Grunde bedeutet das, die Assoziationsreihen wieder rückwärts zu
gehen, um im Zuge dieser Vergegenwärtigung eine Art von Leitfaden zu bilden.

7.4 Das Gedankenexperiment als systematisches Abschreiten der


Möglichkeitsräume
Oft lernen wir einen Gegenstand in dem Maße zu bestimmen, in dem es uns
gelingt, auszubuchstabieren und zu erkennen, was er nicht ist. Immer führen
wir im Urteil über Situationen oder Sachverhalte Optionen ein: Mögliche Kon-
texte, mögliche Sinnanschlüsse, um sozusagen ex-negativo, im Ausschlussver-
fahren einzukreisen, was in diesem oder jenen Ausschnitt der Lebenspraxis der
Fall ist bzw. als deren mögliche Bedeutungs- und Sinnstruktur angesehen wer-
den kann. Es geht also um das Versetzen eines Sachverhalts in mögliche kontex-
tuelle Räume, um sodann sukzessive zu prüfen, welche Optionen den Gegeben-
heiten am besten entsprechen.
Zum Verstehen gehört also auch eine Kontextualisierungskompetenz im Vor-
stellen und Erzählen von Situationen und Beispielen, in denen bestimmte Dinge
der Fall sind – vor allem aber auch: nicht der Fall sind.
Im übrigen ist die Tatsache, dass die Identität eines Sachverhalts oft darü-
ber bestimmt wird, was dieser nicht ist, im Alltag verankert. Was würde fehlen,
wenn etwas nicht vorhanden wäre? Gängig ist auch die hypothetische Überle-
gung: Was würde geschehen, wenn...? In all diesen Fällen sind wir genötigt, ei-
nen Raum von Möglichkeiten abzuschreiten, die das Panorama abgeben, vor
dem sich der konkrete Fall in seinen spezifisch realisierten Optionen Zug um
Zug einkreisen lässt. Dieses Spielen mit vielfältigen Lesarten hat die Funktion,
Denk- und Interpretationsfiguren immer wieder zu durchbrechen und dafür zu
sorgen, dass der Betrachter, Leser oder Interpret nicht zu schnell auf eine be-
stimmte Lesart fixiert wird. Ähnlich verhält es sich mit dem Einsatz von „Ab-
surditäts- und Kontextexperimenten“ (Combe/Helsper 1991; Combe/Helsper
1994): Durch die Verfremdung des Vertrauten und die Einführung von Gegen-
horizonten und Erwartungswidrigem können Konstellationen und Phänomene
sichtbar gemacht werden, die vorher in dieser Gestalt noch gar nicht bekannt
waren.

54
7 Phantasieformen – Versuch einer Systematisierung

Wir befinden uns mit dem Gedankenexperiment allerdings auf einer dezi-
diert sprachlich-systematischen Ebene. Genutzt werden die reichhaltigen und
systematischen Möglichkeiten, die die Sprache bietet, denkbare Möglichkeiten
zu entwerfen. Ein intuitives Regelwissen des „native speaker“ lässt ein sinnlo-
gisches und systematisches Durchspielen von Optionen und ein entsprechen-
des Urteil – eine Prüfung und Kritik (!) der Angemessenheit von Optionen – zu.

7.5 Fazit
In dieser Arbeit soll die Aufmerksamkeit auf das verstehende Lernen im Un-
terricht gelenkt werden. Wir plädieren um des besseren Verstehens willen für
einen mehrperspektivischen Zugang zum Gegenstand des Unterrichts, für den
Versuch, die in der Lerngruppe existierenden Perspektiven unter Einbeziehung
fachlicher Versionen vergleichend bewusst werden zu lassen.
Betrachtet man die Phantasieformate unter dem Aspekt, inwieweit sie der
mehrperspektivischen Deutung von Sachverhalten dienlich sein können, so las-
sen sich diese typologisch ordnen. Der Traum macht uns mit seinen Bilder-
strömen in verdeckter Weise auf übergangene Perspektiven aufmerksam. Die
Intuition vollzieht sich immer als spontanes Entwerfen auf dem Hintergrund
von Erinnerungsspuren, wobei die entworfenen Perspektiven im Horizont von
Konsequenzen „evaluiert“ werden. Die Assoziation ist schon ein Spiel mit Ähn-
lichkeiten und Unterschieden. Auch die versuchsweise Ausgestaltung von al-
ternativen Perspektiven auf der Ebene von Angemessenheitsurteilen ist assozi-
ativ möglich. Schließlich können im Gedankenexperiment Perspektiven auch in
sprachlich-argumentativen Zusammenhängen von Begründung und Ableitung
vergegenwärtigt werden.
Das Pendeln zwischen diesen Phantasieformen trägt vermutlich zur produk-
tiven Bewältigung von Irritationen und Erfahrungskrisen bei. Die Leistung von
Phantasieaktivitäten bei der Entstehung einer neuen Erfahrung und Erkenntnis
wäre dann zu fassen als „eine Transformation, die sich zuerst bildhaft und as-
soziativ in unterschiedlichen Symbolisierungsformen vollzieht, bis sich eine
Transformation im Medium sprachlichen Sinns vollziehen kann“ (Helsper 2009,
165/166).

55
8 Die Fremdheit des Gegenstandes und die Möglichkeit
des Verstehens. Bildungstheoretische Anmerkungen

Zum Verstehen gehört nach allem, was wir theoretisch entwickelt haben: Erfah-
rungsprozesse und Erfahrungskrisen wagen, Fremdheiten ausgraben, die Un-
terschiedlichkeit der Bilder und Blickwinkel nutzen. Diese Verschiebung von
Blickwinkeln ist ein ausgezeichnetes Mittel, um die Dinge neu zu sehen und die
Selbstverständlichkeiten und Vorannahmen zum Zwecke eines besseren Verste-
hens unter Veränderungsdruck zu setzen. Eine von Differenzsensibilität getra-
gene Abarbeitung von Interpretationen und Perspektiven erscheint uns als Mög-
lichkeit, dieser „Welt der Zeichen und Formen, der Bücher und der Phantasie“
(Prange/Strobel-Eisele 2006, 172) in der Schule Bedeutsamkeit abzugewinnen.
Gerade aber weil wir im Verstehen den Kernbegriff schulischen Lernens se-
hen, sind wir skeptisch gegenüber Statements, die die prinzipielle Möglichkeit
von persönlichkeitswirksamen Bildungsprozessen im Bereich der Schule von
vorneherein für unmöglich erklären – also die Entstehung reflexiver Momente,
die biographisch bedeutsam sind bzw. werden können. „Mit der Ausrichtung
am Begriff der Bildung gerät das Schulwesen unter einen Überforderungsdruck
und in das Dilemma der Stofffülle. Und zugleich wird der Bildungsprozess im
Zuge seiner Verschulung seines ursprünglichen Wesens entfremdet. Bildung ist
nicht mehr ein selbstbestimmter und sich selbst organisierender Lernprozess.
Die Umsetzung von angelesenem Wissen in persönliche Erfahrung kann im Un-
terricht einer Klasse nicht gewährleistet werden. Mögliche biografische Wand-
lungsprozesse liegen außerhalb der Reichweite öffentlicher Bildungseinrichtun-
gen. Bildung geht über in schulisches Lernen“ (Schulze 2007, 157). Diese am
Bildungsbegriff aufgehängte Skepsis nehmen wir nun in diesem Kapitel auf und
versuchen damit, unseren Ansatz ins Verhältnis zu bildungstheoretischen Kon-
zepten zu setzen.
Thema der Bildungstheorie seit Humboldt ist die „Verknüpfung unseres
Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regsten und freiesten Wechselwirkung“
(1903, 283). Eine umfassende und nach Humboldt zugleich möglichst ausgewo-
gene Bildung ist nicht im ständigen Kreisen um sich selbst zu haben, sondern
hat einen äußeren Gegenstand zur Bedingung, an dem das Subjekt sich abar-
beiten kann. Der Bildungsbegriff ist nicht nur historisch, sondern auch syste-
matisch jener Ort, „an dem über Legitimation, Zielsetzung und Kritik pädago-

57
A. Combe, U. Gebhard, Verstehen im Unterricht, DOI 10.1007/978-3-531-94281-0_8,
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
8 Die Fremdheit des Gegenstandes und die Möglichkeit des Verstehens

gischen Handelns methodisch reflektiert und gestritten werden kann und soll“
(Koller 1999, 11f.).
Hier spielt nun die Unterscheidung zwischen Lernprozessen höherer Ord-
nung („Bildung“) und (einfachen) Lernprozessen („Lernen“) eine Rolle. Aus-
gehend vom Bildungsbegriff heißt es abgrenzend: „Als Besonderheit dieses
erziehungswissenschaftlichen Grundbegriffs kann gelten, dass der bildungstheo-
retische Blick auf pädagogisch relevante Situationen in erster Linie weder (wie
im Falle der Erziehungsbegriffs) der pädagogischen Beeinflussung der zu Er-
ziehenden noch (wie im Kontext von Didaktik und Unterrichtstheorie) der di-
daktischen Gestaltung von Lehr-Lern-Prozessen gilt, sondern einem Bildungs-
geschehen, das als Selbsttätigkeit der sich bildenden Subjekte verstanden wird“
(Koller 2005a, 48).
Koller knüpft mit dem Begriff der Selbsttätigkeit an den neuhumanistischen
Ursprungskontext an. Die Kategorie der Bildung war eingebunden in die Diskus-
sion um Autonomie, Selbstbestimmung und der Möglichkeit der Selbst-Bildung
(vgl. z.B. Meyer-Drawe 1998, 2005). Allerdings muss heute die Geschlossen-
heit des Identitätsbegriffs, in der eine Synthese der verschiedenen Lebensberei-
che, in denen man sich bewegt, vorausgesetzt wird, in Frage gestellt werden.
Identität meint ja auf der Basis zahlreicher geglückter synthetischer Konfliktlö-
sungen des sich bildenden Bewusstseins das Sich-Selbst-Gleich-Sein und Sich-
Selbst-Gleich-Bleiben durch den Fluss der äußeren Veränderungen hindurch.
Aber das einst im deutschen Idealismus so glanzvoll gefeierte bürgerliche Sub-
jekt, das sich durch die Einheit von Charakter, Berufsentwurf und Lebensform
auszeichnete, wird im Stadium des Rückzugs angetroffen. Ins Zentrum rückt
damit auch die Kontingenz der (post-)modernen Biographie: Tradierte Muster
tragfähiger Identitäts- und Lebensentwürfe büßen hier ihre Orientierungsver-
bindlichkeit ein (Marotzki 1990, 24). Wenn schließlich das Subjekt der Bildung
nicht mehr schlicht als ein mit sich Identisches zu denken ist, rückt das Prozess-
hafte von Bildung in den Vordergrund (Kokemohr 2007, 35). In den Blickpunkt
rücken hier die Bedingungen und Formen der biographischen Wandlungs- und
Transformationsprozesse. So kann man eher von einem „transformatorischen
Bildungskonzept“ sprechen, das durch Arbeiten von Kokemohr, Schäfer, Ma-
rotzki und Koller vertreten wird. Dieses Konzept ist für uns deshalb interessant,
weil mehrere Facetten des Erfahrungskonzepts hineinspielen.
Das Markante in unserem Zusammenhang am transformatorischen Bil-
dungskonzept ist die Betonung einer Krisenerfahrung als „Anlass“ bzw. als
„Herausforderung für Bildungsprozesse“ (Koller/Marotzki/Sanders 2007, 7).
Damit wird der potentiell konflikthafte Charakter von Bildungsprozessen etwa
im Verhältnis zum Harmonisch-Ausgleichshaften bei Humboldt deutlicher in
den Blick genommen. Bildungswirksam kann die Krise insofern werden, als sie

58
8 Die Fremdheit des Gegenstandes und die Möglichkeit des Verstehens

als eine Situation verstanden wird, „in die ein Mensch gerät, wenn er Erfahrun-
gen macht, für deren Bewältigung seine bisherigen Orientierungen nicht ausrei-
chen“ (Koller 2007, 56).
Koller zieht zur näheren Beschreibung die postmoderne Gegenwartsdiag-
nose von Lyotard heran. Was bei dieser Gesellschaftsdiagnose als dominant an-
gesehen wird, ist eine pluralistische Konkurrenz von Sinnwelten, die erst so
richtig in der Vielfalt von Sprachspielen und einer „Heterogenität von Diskurs-
arten“ fassbar wird (1999, 17). In diesen Widerstreit von Diskursarten eingebun-
den muss sich der Einzelne sprechend auf den Sinn seiner je eigenen Welt hin
entwerfen, ohne dass er sich auf eine alles überwölbende „große Erzählung“ als
Ausdruck irgendeiner höheren Autorität berufen könnte.
Koller hebt in seinem Transformationskonzept neben der permanenten Mög-
lichkeit des Nicht-Verstehens und des Scheiterns der Verständigung letztlich die
schöpferische Seite der kulturellen Differenzerfahrung hervor, die zur Artiku-
lation eines bisher am Ausdruck gehinderten Potentials führen kann, aber nicht
muss. Der Widerstreit der Diskursarten hat sich dabei so zugespitzt, dass die
„radikale Pluralität unter Umständen an Stelle einer bloßen Erweiterung auch
eine radikale Transformation des je eigenen Welt- und Selbstverhältnisses er-
forderlich machen kann“ (Koller 2009, 44). Und auf diese „radikale“ Transfor-
mation des Selbst- und Weltverhältnisses kommt bei der Unterscheidung von
Bildung und Lernen aus dem Blickwinkel dieser bildungstheoretischen Trans-
formationsansätze alles an. Auf diese Tiefenstruktur der Erfahrung, auf die mit
dem Wort „radikal“ verwiesen wird, rekurriert vor allem auch der Ansatz von
Alfred Schäfer.
Ein zentraler Ausgangspunkt in Schäfers Bildungskonzept (Schäfer 2009)
ist der Hegelsche Erfahrungsbegriff. Schäfer führt aus, dass ein Individuum die
Grundfiguren seines Selbst- und Weltverhältnisses dadurch verändert, dass es
sich auf eine fremde, nicht nach eigenen Kategorien vorgefertigte Welt einlässt
und über dieses Einlassen das Fremde als verändertes Eigenes wiedergewinnt.
Gemeint ist also das Hegelsche Im-Anderen-zu-sich-selbst-Kommen (vgl. Schä-
fer 2009, 18). Schäfer warnt zugleich davor, dass der Umgang mit Fremdheit
hierbei leicht auf eine Art „Eingemeindung“ hinauslaufen kann: der Gesichts-
punkt der „Selbstbewährung“ kann überwiegen, so dass der Einzelne gewisser-
maßen „Herr im eigenen Hause“ bleiben möchte (Schäfer 2009, 18).
Es scheint klar, dass Schäfer hier die Sensibilität gegenüber möglichen For-
men der Übergriffigkeit einklagt. Übergangen würde bei fehlender „Differenz-
sensibilität“ (Straub 2007, 124) leicht eine zentrale, tiefgreifende Erfahrung: die
letztendlich unüberschreitbare Grenze der Fremdheit und Unverfügbarkeit des
Anderen.

59
8 Die Fremdheit des Gegenstandes und die Möglichkeit des Verstehens

Beim Prozess transformatorischer Bildungsprozesse wird deutlich, dass


diese „Rückkehr aus der Entfremdung“ – um mit Schäfer bzw. mit Hegel zu
sprechen – in wirklich grundständiger Weise auf das Subjekt zurückfallen kann:
Wir gewinnen im Zuge einer interkulturellen Praxis eine weitreichende Erfah-
rung von der Art, dass wir eine Erfahrung über die Art unserer Erfahrung ma-
chen. Die Unverfügbarkeit des Anderen verweist uns auf den Eigensinn des
Erfahrungssobjekts und ist eine Kritik an noch so subtilen Formen der Instru-
mentalisierung. Hinzu kommt und das sei an dieser Stelle noch einmal betont,
dass das Subjekt hier nicht mehr als Instanz subjektiver Welt- und Sinnschöp-
fung begriffen wird. Nicht einmal das semantische Spiel der Sprache kann ein
einzelner begreifen und beherrschen. Gedanken, Meinungen, Urteile sind Teil
eines sich ständig entwickelnden Spiels der Differenzen. Nichts kann ganz ge-
nau wiederholt und imitiert werden. Derrida spricht von „dissemination“ (Streu-
ung), von einem Begehren, das den Text schreibt, „obwohl er die Bestimmung
seiner Unstillbarkeit schon in sich trägt“ (Derrida 1974, 247/248). Und bei
Schäfer heißt es schließlich, die Offenheit eines Prozesses betonend: „Das Sub-
jekt wird aufgespannt in der Differenz von endlicher Bestimmtheit und unendli-
chen Veränderungsmöglichkeiten“ (Schäfer 2007, 97).
Das ist nun zweifellos ein sehr grundsätzlicher Beitrag der Bildungstheorie
zur Frage der Subjektkonstitution im (post-)modernen Umfeld, so dass eine ir-
gendwie geartete Übertragung auf den Bereich und die Verfasstheit schulischen
Lernens unwahrscheinlicher denn je erscheint. In der theoretischen Radikali-
tät ist bei den genannten Ansätzen die Tiefenstruktur einer Erfahrung nachvoll-
ziehbar, die gleichsam die unendliche Aufforderung zur Dekonstruktion enthält.
Hier wird also in theoretischer Sprache eine bestimmte Erfahrungskrise formu-
liert, die für die psychosoziale Lage des Subjekts gewiss fundamental ist und der
man spontan zustimmen möchte. Freilich ist in diesem Zusammenhang – kon-
struktiv gewendet – die nicht weniger radikale Frage nach der Möglichkeit von
Bildungsprozessen zu stellen. Im Blick auf das schulische Lernen ist folglich
klärungsbedürftig, ob sich ein Erfahrungsbereich erkennen lässt, der nicht nur,
wie es in Bezug auf das (einfache) Lernen gesagt werden kann, zu einem in rou-
tinehafte Formen eingebundenen Zuwachs eines Fähigkeitsfundus führt, son-
dern auf Konstellationen eines biographisch folgenreichen schulischen Lernens
verweist. Unsere These ist, dass an dieser Stelle das schulische Lerngeschehen
explizit in Verbindung zum Verstehen gebracht werden muss.
Auch in der Schule und im Unterricht ist Verstehen verbunden mit der Ak-
zeptanz von Fremdheit und der Bewältigung von Irritationen und Krisen. Ein ty-
pisches krisenhaftes Initialmoment dieses Prozesses ist eine Störerfahrung, die
uns eher im Halbschlaf des Gewohnten erreicht als mit der Wucht eines Tsuna-
mis. Insbesondere Widerstands- oder Widerspruchserfahrungen sind Vorspiele

60
8 Die Fremdheit des Gegenstandes und die Möglichkeit des Verstehens

möglichen intensiven Verstehens. Hierzu bedarf es also auch keiner sensationel-


len Ereignisse, sondern es genügen oft geringe Verschiebungen und Abweichun-
gen gegenüber dem Erwarteten, damit „etwas“ die Schwelle unserer Aufmerk-
samkeit überschreitet, ohne dass wir schon genau sagen könnten, was unsere
Erregung, Wachheit, unser Involviertsein und unsere Erlebnisbereitschaft aus-
gelöst hat. Kann die Irritation durch spontane, geistesgegenwärtige Passungsre-
aktionen nicht bewältigt werden, so sind wir auf Versuche des Verstehens ver-
wiesen, sofern nicht innere und äußere Widerstände und Gegebenheiten ein
Einlassen auf die Problemsituation verhindern. Was nun beginnt, ist Sinnarbeit,
also ein anspruchsvoller Prozess der Konstruktion und Rekonstruktion von Sinn,
der – wie wir gezeigt haben – eine Arbeit mit inneren Bildern und Phantasien ist.
Aber wo ist die Krise des Verstehens im Unterricht systematisch zu ver-
orten? Das Verstehensproblem im Kontext schulischen Lernens und die damit
verbundene Fremdheitszumutung lassen sich benennen. In Anlehnung an die
Diskussion im Bereich der Naturwissenschaftsdidaktiken könnten wir von ei-
nem Conceptual-Change-Problem (Duit 1996, 2006; Strike/Posner 1992; Pin-
trich 1999) sprechen. Der von uns gewählte Begriff „Dualismus“ zeichnet sich
gegenüber der Formulierung „conceptual change“ dadurch aus, dass er die anti-
nomische Spannung dieser dem Unterricht gesellschaftlich aufgetragenen Leis-
tung präzise zum Ausdruck bringt: zwischen „Generalisierung“ und „Individu-
alisierung“ einen Weg zu finden, ohne die eine Seite um der anderen willen
vernachlässigen zu wollen bzw. zu können. Und das heißt: Die Krise des Verste-
hens im Unterricht hat zu tun mit dem Riss, der zwischen dem konkreten Erfah-
rungssubjekt und den vom Einzelnen abgelösten, curricular kodifizierten allge-
meinen Wissenssystemen eines Faches besteht.
Der Lehrer sei „Fremdenführer in fremde Sinnwelten“, so heißt es auch bei
Thomas Ziehe (2004, 32). Man mache sich in der Regel keine Vorstellung, wie
groß die Distanz zwischen der Eigenwelt von Schülern einerseits und der fachli-
chen Sinnwelt des Unterrichts andererseits sein könne, so vermutet Ziehe. Viel-
leicht ist der Ausdruck „Fremdenführer“ doch zu verharmlosend. Es könnte
unterschätzt werden, wie sehr sich Schüler der Fremdheit des schulischen An-
gebots verweigern können.
Nehmen wir etwa das Fach Deutsch als Beispiel, weil in diesem Kontext
häufig nur von den Naturwissenschaften die Rede ist. Hier berichten die Lehrer,
etwa in der Untersuchung von Ingrid Kunze (2004), die eine Bestandsaufnahme
der didaktischen Konzepte von Deutschlehrern erarbeitet, natürlich auch von
dem Problem, ob überhaupt eine Ansprechbarkeit für das Fremde vorhanden ist.
Das ist für die fiktionale Literatur, etwa für einen Roman in seiner ungewohnten
Sprache und Form, unmittelbar einleuchtend. Ansonsten dürfte im Fach Deutsch
der Abstand zwischen alltäglicher Vertrautheit und Anknüpfungsmöglichkeiten

61
8 Die Fremdheit des Gegenstandes und die Möglichkeit des Verstehens

einerseits und der Bildung einer eigenen Fachkultur andererseits nicht so gravie-
rend empfunden werden wie in den Naturwissenschaften. Aber auch die soge-
nannten geisteswissenschaftlichen Fächer bilden eine fachliche Kultur für sich
selbst. Sie sind oft auch fachlich geschlossene, in sich kreisende Sprachwelten
und Kommunikationszirkel. Ihre Eigenlogik in Gestalt der fachlichen Ansprü-
che an differenziertes Verstehen ist auch hier ausgeprägt. Auch hier können die
fachlichen Ansprüche vom Schüler als ein ihm entgegenstehendes Fremdes er-
lebt werden. Am Beispiel des Schreibens soll deshalb die Diskrepanz zwischen
der Eigenwelt eines Schüler und der fremden Sinnwelt des Faches Deutsch kurz
vor Augen geführt werden.
Zentrales Anliegen des Deutschunterrichtes ist es, in eigenen Schreibver-
suchen die Wirkung sprachlicher und stilistischer Elemente zu erproben und
sich Texte verstehend, experimentierend und handelnd anzueignen (Döpp u. a.
2009). Gerade das Schreiben erfordert einen hypothetisch-spekulativen Denk-
akt, wie wir diesen im Rahmen des Erfahrungs- und Problemelöseprozesses
gekennzeichnet haben: das Anfangsstadium ist noch unbestimmt, die Zielzu-
stände sind noch unklar. Das Material muss gesichtet werden, und auch hier
muss schon an mehrere Perspektiven gedacht werden. Es gilt, eine Gestalt für
den Text zu finden, die auf einen imaginären oder realen Leser zugeschnitten ist.
So ruht die Produktion eines Textes auf einem dynamisch wachsenden Funda-
ment an Erfahrungen, bei dem eine Spiralbewegung zwischen innerer Klärung
und Strukturierung der Ausgangsintention einerseits und Angemessenheitsurtei-
len über das Produkt andererseits den gesamten Schreibprozess begleiten. Rück-
und Vorgriffe sind ebenso nötig, wie eine produktiv gewendete Irritation (vgl.
Groeben 2009, 44ff).
Die Verfasserinnen schildern nun die Situation eines Schülers, der solche
Maßstäbe durchaus als aufgepfropft empfinden dürfte. Der Schüler hat sich of-
fensichtlich jahrelang mit dem Problem des Versagens in der besonderen Sprach-
kultur der Schule herumgeschlagen. Dies zeigt sich beim Anfertigen von Texten,
deren Herstellung er als Qual empfindet: „Das Blatt wurde einfach nicht voller,
es wurde einfach nicht mehr“ (Döpp u.a. 2009, 430). Der Widerstand im schrift-
sprachlichen Bereich setzt sich bei der Lektüre der klassischen, aber zeitgenös-
sischen Literatur fort. Diese findet er „dröge“. Mehr interessieren ihn Fernsehen,
Computer, Unternehmungen mit anderen Jugendlichen und Sport. „Alle Jungs
machen es so“. Es seien ja die Mädchen, die die Romane lesen.
Man sieht an diesem Beispiel, dass es nicht einfach ist, den kulturellen An-
spruch einerseits und die „Profanität“ der Alltagwelt andererseits in ein Wech-
selverhältnis zu bringen. Im obigen Falle genügt schon die bloße Ahnung und
die gedankliche Vorwegnahme des fremden Gegenstandes, um Mechanismen
der Abwehr zu mobilisieren. Es könnte nun durchaus sein, dass der obige Schü-

62
8 Die Fremdheit des Gegenstandes und die Möglichkeit des Verstehens

ler an einem kritischen Moment seiner Biographie das Schreiben als seine Ent-
wicklungsaufgabe definiert und so die Verantwortung für das Lernen in die ei-
gene Regie nimmt. Der Schüler müsste einen wirklichen Mangel spüren bzw.
muss den Sinn den erhellenden Sinn des Schreibens am eigenen Leibe erfahren,
damit sich seine Haltung ändert – er also mit diesem kulturellen Lernbereich
„etwas anfangen“ kann, sich zumindest dessen Fremdheit sich nicht schlicht
verweigert. Für dieses erfahrungsvermittelte Vorgehen gibt es aus didaktischer
Sicht Beispiele, nicht zuletzt den Versuch, Literatur schreibend zu erfahren, da-
mit nicht verloren geht, was Schüler empfinden, denken sich und ihren Alltags-
spekulationen gemäß ausdrücken wollen.
Hier muss im Unterricht also Raum gegeben werden, um die Offenheit des
erfahrungsorientierten Zugangs einerseits und die Ansprüche der Fachsystema-
tik andererseits miteinander zu verbinden. Bezogen auf den Unterricht kann also
die Idee einer bereits in sich vollständig bestimmten Fachlichkeit ebenso wenig
eine Lösung sein, wie ein beliebiges, assoziatives Treibenlassen. In dieser Situa-
tion plädieren wir im Interesse eines verstehenden Unterrichts für ein intensives,
hermeneutisch-rekonstruktives Einholen der Differenzerfahrung auf dem Weg
der vergleichenden Gegeneinanderführung und Abarbeitung von unterschiedli-
chen Deutungsperspektiven. Wie sich ein solches Vorhaben im Unterricht dar-
stellt, soll jetzt an Fallgeschichten gezeigt werden.

63
9 Fallgeschichten:
Die Wiederherstellung der Vieldeutigkeit

Es geht uns bei dem Rückgriff von Phantasie und Erfahrung um die Wiederher-
stellung der Vieldeutigkeit des Unterrichtsgegenstandes und eine stärker herme-
neutisch bestimmte kommunikative Unterrichtssituation. In normativer Hinsicht
folgen wir damit dem folgendem Diktum von Nietzsche: „Seien wir zuletzt als
Erkennende nicht undankbar gegen solche resolute Umkehrungen der gewohn-
ten Perspektiven und Wertungen (...), so dass man sich gerade die Verschieden-
heit der Perspektiven und Affekt-Interpretationen für die Erkenntnis nutzbar zu
machen weiß“ (Nietzsche 1966, 860 f.).
Unser Vorschlag für die Anbahnung und Ermöglichung von Verstehenspro-
zessen im Unterricht ist damit eine Gegeneinanderführung von Perspektiven.
Das ist keineswegs notwendig eine nebulöse und bloß spekulative Tätigkeit. Na-
türlich ist dabei die Frage nach den äußeren Bedingungen und Konstellationen
des Unterrichts nicht überflüssig.
Um das Aushandeln über Sinn und Geltung von unterschiedlichen Perspek-
tiven vor Augen zu führen, greifen wir nun auf kontrastierende Szenen zurück,
die im Zuge der qualitativ-rekonstruktiven Unterrichtsforschung dokumentiert
und z. T. unter ganz anderen Gesichtspunkten interpretiert worden sind. Wir zie-
hen diese Protokollausschnitte im Sinne von Beispielen und Fallgeschichten he-
ran. Gilt die sogenannte „Fallarbeit“ einem Praxisproblem und eine „Fallstudie“
einer wissenschaftlichen Analyse, so zielt eine „Fallgeschichte“ auf den Zusam-
menhang zwischen konkreten Konstellationen und einer möglicherweise darin
sichtbar werdenden allgemeinen Erkenntnis (vgl. Combe 2001; Combe/Helsper
1994; Combe/Kolbe 2010, 871f.). Im Grunde beginnt man mit Fallgeschichten
einen Suchprozess. Man möchte etwas aufgreifen und in seinen Facetten sicht-
bar machen, was dann letzten Endes durchaus eine „exemplarische Gültigkeit“
haben kann, also in mehr als einem Fall gültig sein könnte. Durch die Arbeit mit
Beispielen und Fallgeschichten kann die Kommunikabilität und Reflexivität be-
züglich einer dringend zu bearbeitenden Frage erhöht werden (Hörster 1999),
wobei das Hüpfen von Beispiel zu Beispiel durch eine durchgetragene Frage
oder auch durch ein sich erst herstellendes Allgemeines sinnvoll wird (tertium
comparationis).
Einschränkend muss von der methodologischen Seite her bedacht werden,
dass wir mit diesen Beispielen nicht alle Fächer abdecken und die untersuch-

65
A. Combe, U. Gebhard, Verstehen im Unterricht, DOI 10.1007/978-3-531-94281-0_9,
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
9 Fallgeschichten: Die Wiederherstellung der Vieldeutigkeit

ten Fächer nicht systematisch variieren. Insofern bleibt die Rekonstruktion der
Beispiele ein erster vergleichender Zugriff, der immerhin zeigt, dass wir nicht
nur ein Problem im Bereich der Naturwissenschaften oder Mathematik, son-
dern auch in anderen Lernbereichen haben. Im Sinne eines fächerübergreifen-
den Grundverständnisses lässt sich zum verstehenden Lernen Folgendes sagen:
Ein verstehendes Lernen gestaltet den Übergang zwischen Subjekt und Sa-
che als hermeneutische Abarbeitung von Deutungsperspektiven. Und das wird
ohne den Entwurf von hypothetischen Räumen auf dem Boden von Erfahrung
und Phantasie nicht möglich sein. In den folgenden Fallgeschichten versuchen
wir die Grenzen und Möglichkeiten der im Unterricht praktizierten Hermeneu-
tik in den Blick zu bekommen.

9.1 Wissenakkumulation und Engführung – 1. Fallgeschichte


Eine erklärbare und durchaus auch zu rechtfertigende Reaktion auf eine gewisse
Unwägbarkeit des Unterrichtsverlaufs, die nur interimistisch herzustellende
gemeinsame Sinnzusammenhänge zu schaffen erlaubt (Krummheuer/Brandt
2001), ist die interaktive Stabilisierung der Situation durch eine relativ robuste
Routine. Wir begegnen dieser robusten Routine zum Beispiel in Form der fronta-
len Unterrichtsordnung. Hier wird die Verarbeitung der unterschiedlichen Sinn-
perspektiven als Verfahren der schnellen „Vereindeutigung“ (Kokemohr 1985,
231) und Markierung relevanten Wissens organisiert. Dem Lehrer kommt dabei
die Steuerungs- und Deutungshoheit zu. Das Problem dabei ist und das betrifft
eben den Umgang und die Verarbeitung der unterschiedlichen Perspektiven, die
die Schüler einbringen: Aufgrund dieses „Verstehenskalküls“ bleibt dieser wis-
sensakkumulierende Unterricht oft „systematisch hinter der tatsächlichen Viel-
deutigkeit (eines Themas) in wechselnden Kontexten und Perspektiven zurück“
(Kokemohr 1985, 231). Es wird bei einer solchen frontalen Unterrichtsordnung
eher an einer Begrenzung der Perspektiven als an ihren Spielräumen und ihrer
Auffächerung gearbeitet. Wir wollen uns an einer Unterrichtsszene vergegen-
wärtigen, wie diese Engführung abläuft, um uns von da ausgehend eine Platt-
form für Vergleiche und alternative Optionen zu schaffen.
Es handelt sich bei der folgenden Szene um einen Ausschnitt aus einer
Stunde eines Referendars zum Thema „Jazz“ in der 6. Klasse eines Gymnasi-
ums (vgl. Combe/Helsper 1994, 110-112, die damalige Transkription wird über-
nommen). Anwesend ist auch der Mentor:

L.: So, jetzt hab’ mir’s letzte Mal ...


S.: Claudie, Solo.
L.: ’s letztes Mal, ... ’en Begriff ...

66
9 Fallgeschichten: Die Wiederherstellung der Vieldeutigkeit

S.: (Ein Schüler haut auf der Pauke herum).


L.: O.K.
Mentor: Alles klar!
L: ’en Begriff eingeführt,...
S.: (unverständlich) ...,
S.: Improvisation.
L.: Die Improvisation, was is’ ’en des?
S.: Ehm?
L.: Beschreib’s mal mit ... Du musst mir jetzt nicht wiedergeben, was
ihr aufgeschrieben habt, sondern einfach ... äh, wie Du noch weißt,
was es bedeutet.
S.: Ehm, das ist halt ... das is’ so ein Stück, das nicht aufgeschrieben ist,
sondern einfach so gespielt wird.
L.: Mh, he. Was noch?
S.: Also da kann man, wenn, wenn ... wenn man zum Beispiel Klavier
spielt und in den Pausen kann man da improvisieren. Oder auch zwi-
schendurch mal, also wie man will.
L.: Mh, he.
S.: Man kann anfangen und aufhören, wenn man will, man muss halt
bloß im Takt bleiben.
L.: Mh, he ... Was ham’ mir noch?
S.: (Schüler überlegen) ... Ja, aus ...
L.: Ja?
S.: Aus dem Stegreif musizieren.
L.: Genau. Du hast, ... Hast Du’s genau vor dir? (Im Heft steht die Defini-
tion).
S.: Ja.
L.: Dann lies noch mal alles vor.
S.: Ehm. Das gleichzeitige spontane Erfinden und Ausführen von Musik.
Ohne Vorbereitung und ohne schriftliche Ausarbeitung aus dem Steg-
reif musizieren.

Der einleitende Satz des Referendars verweist auf Vergangenes, Abwesendes,


das vergegenwärtigt werden soll. Dies ist Gedächtnisarbeit, der Versuch, sich
nochmals ein inneres Bild der Begebenheiten und Sachverhalte zu machen. Zur
Klärung des noch offen Gebliebenen muss man bei diesem Vergangenen verwei-
len, ihm nachhängen und „nachgehen“. Die Wiederholung schließt aber auch
die Chance des besseren Verstehens ein. Für beide Seiten, für Lehrer wie Schü-
ler, wäre dies eine Gelegenheit, sich der vorhandenen „Verstehens-Rückstände“
(Wagenschein 1968, 125) zu vergewissern.

67
9 Fallgeschichten: Die Wiederherstellung der Vieldeutigkeit

Für den Referendar sind solche „Vorführstunden“ – selbst wenn die vorlie-
gende Sequenz nicht aus einer „Prüfungslehrprobe“ stammt –, durch bestimmte
Normen in zeitlicher wie inhaltlicher Hinsicht charakterisiert. Eine dieser Nor-
men wird auf jeden Fall lauten: das Geschehen darf nicht aus dem Ruder laufen!
Die kurze Einlassung des Mentors deutet auf diese Bewährungsdynamik hin,
auf die Gefahr, dass die „Performance“ misslingt.
Nach einer Herstellung des Rahmens beginnt der Referendar relativ offen –
und gerade nicht mit komplexitätsreduzierenden Sicherheitsstrategien: Er ver-
weist darauf, dass er sich ein freies Erinnern wünscht.
Die erste Antwort des Schülers gibt eine Minimalbedingung des Improvisie-
rens wieder: Es soll sich auf keine fixierte Partitur bezogen werden. (Der Ideal-
fall und Ausdruck dieser Kreativitätsnorm ist die spontane „Jam Session“, ohne
vorausgegangene Planung.)
Was beim ersten antwortenden Schüler problematisch bleibt, ist der Ein-
druck der Beliebigkeit, die sich hier einschleichen könnte, angesichts des Nach-
satzes: „(...) sondern einfach so gespielt wird“. An dieser Stelle taucht aus der
Perspektive des Lehrers – aus inhaltlichen Gründen – die Frage auf, ob man
„nachhaken“ soll. Aber der Referendar entscheidet sich schon hier nicht für die
Beibehaltung einer „weiten“ Aufmerksamkeit, sondern für eine additive, stich-
wortartige Abfrage („was noch“?), die sich in der nächsten Sequenz nochmals
festigt („was ham’ wir noch“?).
Die von der ersten Schülerreaktion schon mitgeführte Assoziation der Belie-
bigkeit wird im Übrigen von der zweiten Schülerantwort bekräftigt, bei der die
Improvisation zum Pausenfüller gemacht wird. Dass das alles nicht ganz so be-
liebig sein kann, deutet der Hinweis einer Rückbindung des Geschehens an den
Takt an, selbst wenn der Schüler nicht explizit macht, was er damit meint, und
der Referendar auch nicht auf dieser Explizitheit besteht. Aber an dieser Stelle
ist die Tendenz zur Engführung und zum Einklinken des linearen, additiven Ab-
fragens von Stichworten so dominant, dass eine Umkehr des Ablaufschemas nur
schwerlich noch möglich ist, einem Ablaufmuster, von dem sich wohl nicht ge-
nau ausmachen lässt, wer diesem erliegt: der Lehrer oder die Schüler.
Natürlich sind Wiederholungsformen zu Anfang einer Stunde auch Abkür-
zungsformen, sozusagen Abstoßpunkte zum Neuen. Dennoch sind auch hier
expandierende „Einschubsequenzen“ (Schegloff 1972) denkbar, die, ob Nach-
fragen, paraphrasierender Akt oder z. B. auch Exkurs, weitere Klärungen er-
möglichen (vgl. hierzu Lüders 2003; Rickert 2005). Deuten wir an, welche in-
haltlichen Aspekte bei der obigen Engführung auf der Strecke bleiben.
Ohne Plan und Vorbereitung vorzugehen heißt nicht nur im Jazz, probierend
in eine Sache oder Situation hineinfinden zu müssen, mit dem Risiko, sich da-
bei zu verlieren. Dann muss man im Gegensatz zur Annahme der Beliebigkeit

68
9 Fallgeschichten: Die Wiederherstellung der Vieldeutigkeit

eine Art Selbstaufmerksamkeit für tragfähige Ideen entwickeln. Meist geht man
darüber hinaus auf das ein, was Mitspieler getan haben und tun. Ihre musika-
lischen Figuren in der Vorstellung präsent haltend müssen die Musiker eigene,
passende Anschlüsse und neue Kontextualisierungen entwickeln. Es ist Jazzmu-
sikern wichtig, dass sie in dem Prozess des Austausches und der Deutung ihrer
Perspektiven von den anderen Mitspielern „verstanden“ werden und ein produk-
tiv-spielerisches „Arbeitsbündnis“ entsteht.
Vergleichen lässt sich dieser Vorgang des musikalischen Improvisierens mit
einer konversationsförmigen Struktur, wo es im Sinne eines mitlaufenden Mo-
nitorings ebenfalls um ein Wechselverhältnis von Perspektiven geht (vgl. hierzu
auch Mollenhauer 1996, 121).
Im Sinne einer nicht realisierten Option möchten wir anmerken, dass diese
Einführung in die Improvisation (Jazz) nicht völlig aller Erfahrung und Phanta-
sie hätte entbehren müssen, denkt man an die Instrumente, die im Raum schon
aufgebaut waren. Ein Schüler tut zunächst das, wozu das Arrangement verlockt
und „wohin ihn die Hand zieht“: Er betätigt, aus welchem Grund auch immer,
die im Raum griffbereit verfügbaren Instrumente. Der Referendar hat nun ge-
wiss nicht die Routine und den Mut, um diese Situation spielerisch–produktiv
und offen zu gestalten, ja, er riskiert dies nicht einmal in Ansätzen und darf es
bei Strafe des Untergangs nicht wagen, sich einer offenen Situation auszusetzen
und die eingefahrenen Abläufe und die Komplexität reduzierende Engführung
der Frageweise zu verlassen. Die Schüler hätten mit den Instrumenten vorfüh-
ren können, was sie unter Improvisation verstehen und der Begriff wäre noch-
mals der Erprobung und Phantasie ausgesetzt worden. Anders gesagt: der men-
tale Vorstellungsraum wäre zum Begriff hin geweitet worden
So könnte man sich vorstellen, dass der von den Schülern ansatzweise ver-
suchte Subdialog von flüchtigen und unfertigen Gedanken ganz anders hätte ge-
würdigt werden können, in denen die Ausdrückbarkeit eines doch schwer Sag-
baren gesucht wird.
Um nicht missverstanden zu werden: es muss im Unterricht auch solche Ver-
fahren geben, die sich durch bewusste Routine auszeichnen, in denen syntheti-
sierende, formende, ordnende Funktionen ins Spiel kommen, insofern ist dies
keine Abwertung einer geschlossenen Unterrichtsordnung, wenn man sich ihrer
Logik und Funktion bewusst ist.
Bezogen auf unser Thema, der Form des Übergangs von der subjektiven zur
sachlich-objektiven, fachsprachlichen Deutung könnte man sagen: Im vorlie-
genden Fall wird das Allgemeine in Form einer Definition der Improvisation
privilegiert. Sie schreibt vor, was bedeutsam und gültig ist. Der „Objektivität“
wird ein Wert an sich zugeschrieben. Sie ist das Validierungskriterium, an dem
die Versuche der Schüler „gemessen“ werden. Die einzelnen Perspektiven und

69
9 Fallgeschichten: Die Wiederherstellung der Vieldeutigkeit

Blickwinkel der Schüler bleiben im Dunkeln, so dass an ein Reflexivwerden ih-


rer Zugänge und ihre Typisierung im Vergleich gar nicht gedacht werden kann.

9.2 Fragen als Eröffnung – 2. Fallgeschichte


Wir gehen von der These aus, dass eine Überbrückungsarbeit zwischen der Lo-
gik der Wissenschaft und der Logik der Erfahrung und Phantasie eine didakti-
sche Haltung erfordert, die die individuellen Deutungsinitiativen der Schüler
ernst nimmt. Das ist auch eine klare Folgerung aus dem ersten Beispiel.
Der folgende Fall möchte nun vor Augen führen, worauf sich die objektivie-
rende Aneigung von fachbegrifflichen Zusammenhängen (im Unterricht) stüt-
zen kann und muss, nämlich auf die ausreichende Gelegenheit der Schüler, ihre
Fragen, Phantasien, aufsteigenden Bilder, Intuitionen und Assoziationen bei der
Annäherung an den Gegenstand artikulieren zu können. Natürlich kostet dies
Zeit. Aber wo genau verliere ich im Unterricht wirklich Zeit und wo gewinne
ich sie? (vgl. Rumpf 2008) Ist eine schritthaltende Spontaneität des Verstehens
lehrerseits überhaupt möglich? Es geht ja nicht „nur“ um die Deutung der In-
teraktionsbeziehung. Vielmehr steht bei allen Deutungen das „sich prozesshaft
entwickelnde Verhältnis aller Beteiligten zu einer Sachthematik“ (Combe/Bu-
chen1996, 270 f.) im Vordergrund.
Die derzeitige Gesprächssituation im Unterricht ist zu wesentlichen Teilen
dialogische Praxis (vgl. Lüders 2003; Neber 2006; Kolenda 2010). Schülerfra-
gen haben hier kaum eine Tradition bzw. Chance. In der Frage jedoch kann ein
inspirierender Moment des Unterrichts liegen. Mit der Frage tritt das Erfah-
rungssubjekt auf den Plan und stellt sich einer irritierenden Situation. Die Frage
tritt in einer Situation des Übergangs auf, wo das Befremden in ein erstes Su-
chen und Forschen übergeht. Genau hier lässt sich vermuten, dass ein „episte-
misches“ Fragen, das nach Neber (2006) zu einer „mentalen Aktivierung“ führt,
Bedeutsames zur Bewältigung des Dualismus-Problems zutage fördern kann.
Eine solche Deutungsinitiative kann auch von Schülern ausgehen. Die Lehrer-
frage kann dann u. U. in das Fragen der Schüler übergehen.
Wir legen eine Religionsstunde der elften Jahrgangsstufe eines Aufbaugym-
nasiums zugrunde, die ursprünglich in der Arbeit von Thorsten Knauth (2000,
76f.) veröffentlicht ist und dort unter dem Titel „Der verzögerte Anfang“ auch
interpretiert wird. Eine Reinterpretation findet sich in der Arbeit von Sandy Ko-
lenda (2010). Wir greifen auf einen Protokollausschnitt dieser Unterrichtsstunde
zurück.
Die Stunde beginnt mit einem Lehrervortrag, der in das Thema, den Stun-
denverlauf und das Vorhaben einführt. Das Thema ist die Situation des Straf-
vollzugs. Nach einer gemeinsamen Lektürephase wird den Schülern Zeit zum

70
9 Fallgeschichten: Die Wiederherstellung der Vieldeutigkeit

Nachdenken gegeben. Der Lehrer formuliert dann seinen Arbeitsauftrag: Die


Schüler sollen Texte miteinander vergleichen. Im Anschluss an diese Aufforde-
rung kommt es zu folgender Gesprächssequenz zwischen dem Lehrer und ei-
nem Schüler:

Lehrer: Ja. Vielleicht guckt ihr mal einen Moment erstmal, bevor ihr was sagt,
vergleichend, nicht lange. (Pause)
Olaf: Ich habe eine Frage.
Lehrer: Hmh, Olaf, bitte.
Olaf: Was meinen, meinen Sie mit schädlicher, schädlichen Folgen des
Freiheitsentzugs ist entgegenzuwirken, meinen sie damit, dass …
Lehrer: Nee, da steht, dessen schädlichen Neigungen entgegenzuwirken.
Olaf: Nee, nee, ich meine das Gesetz, der, den Gesetzestext, bei, beim
zweiten...
(Lehrer und Schüler verständigen sich über die gemeinte Textstelle. Der Schüler
äußert, dass er nicht weiß, wie er das verstehen soll.)
Lehrer: Ja, stell dir mal vor, jemand ist sehr lange im Gefängnis. Erst besucht
ihn noch seine Ehefrau und seine Kinder, nach fünf Jahren kommen
sie seltener, nach zehn Jahren ganz selten und nach fünfzehn Jahren
kümmert sich niemand mehr um ihn. Das wäre doch eine schädliche
Folge, jedenfalls in seinem Sinn.
Olaf: Ja, ist das aber dann, ich weiß nicht, dann entspricht das aber nicht
so der Realität, so, finde ich, dieser Satz, weil, weil ich meine, wenn
jemand ins Gefängnis gekommen ist für irgendeine Straftat und da-
durch seinen Job verloren hat und wieder rauskommt, dann ist das ja
eine schädliche Folge darauf, daß er wahrscheinlich nicht so schnell
einen anderen Job wieder bekommen wird, weil er vorbestraft ist. (...)
Aber wenn er rauskommt, dann ist es ja so, daß er von, von dem Ge-
setz selber irgendwie aus der Gesellschaft, ja, herausgenommen wor-
den ist, so, also, noch weiter distanziert ist als vorher.
Lehrer: Ja, ich glaube, ich verstehe schon, was du meinst. Du meinst, mit Ge-
fängnisaufenthalt als solchem ist eine gewisse schädliche Folge für
den Betreffenden immer verbunden.
Olaf: Ja. Ja, gut. Ich meine, er ist, er wird, er wird dem System ja entfrem-
det, sozusagen.
Lehrer: Ja, besonders, wenn es lange ist. (Olaf: Ja.) So, aber wenn, wenn ...
(Lachen der Schüler) Ja klar, wenn die Strafe sehr lange ist, dann fin-
det er sich hinterher nicht mehr zurecht, ne? Aber davon mal abgese-
hen, kann ja der, der Aufenthalt im Gefängnis auch sehr verschieden

71
9 Fallgeschichten: Die Wiederherstellung der Vieldeutigkeit

gestaltet werden, ne? Und das kann günstiger oder ungünstiger für
den Betreffenden sein ... Ja, Christina?
Christina: Ja, ich wollte auch sagen, daß die Strafe erst nach dem Gefängnis,
also, anfängt.
Der Lehrer verweist nun auf den Arbeitsauftrag und schlägt vor, die Diskussion
abzubrechen.

Was geschieht hier? Der für uns maßgebliche Ausgangspunkt dieser Szene ist
die begriffliche Fassung eines Arbeitsauftrages, der für die Schüler, dem offi-
ziellen Stadium des Stundenverlaufs nach, eine Verständnisfrage rechtfertigt.
Olafs Frage stellt den Lehrer allerdings vor ein hermeneutisches, aber auch auf-
grund der drohenden Ausdehnung der Szene vor ein zeitliches Problem.
Zunächst wird, wie bei einer Abstimmung über Sinn und Verstehen üblich,
sich vergewissert, auf welchen Text sich die Frage der Auslegung überhaupt be-
ziehen soll. Aber die Rückfrage Olafs hat auch einen gewissen Aufforderungs-
charakter. Genau genommen gerät der Lehrer durch die Rückfrage in Gefahr,
die Antwort auf diese Frage selbst vorgreifend geben zu müssen. Der Lehrer
wählt deshalb intuitiv ein konkretes Beispiel, das einen möglichen Fall testweise
umspielt. Er unterlegt seine Frage mit Bildern bzw. einem Vergleich.„Stell dir
mal vor...“
Mit seinen Fragen versucht der Schüler, die vom Lehrer formulierte Auf-
gabe für sich zu übersetzen. Dabei greifen Lehrer wie Schüler mit Vermutungen
und dem Entwurf möglicher Kontexte auf aufsteigende Bilder und Phantasien
zurück. Dabei besetzt die Phantasie des Schülers im Verhältnis zum Verständ-
nis des Lehrers gewissermaßen einen anderen Ort. Der Schüler phantasiert das
„Nachher“ aus, letztlich die Konsequenzen einer „negativen Karriere“.
Es ist ersichtlich, wie Lehrer und Schüler in einer bestimmten, die Denkmög-
lichkeiten einschränkenden, selektiven Weise in ihrem Vorverständnis gefangen
sind. Beide müssen sich nun für alternative Möglichkeiten und Anschlüsse öff-
nen. Das gelingt zunächst nicht, weil der Lehrer die von ihm favorisierte kontex-
tuelle Einbettung mit einer dafür typischen Geschichte ausbuchstabiert. Erst als
sich der Lehrer mit der Bemerkung „Du meinst mit Gefängnisaufenthalt als sol-
chem ...“ ansatzweise zu einem Perspektivwechsel anschickt, signalisiert Olaf
Zustimmung („ja, ja, gut, ...“). Der Lehrer gibt dabei mit seinen Formulierun-
gen zu erkennen, dass er verstanden hat, dass Olaf die innere Situation im Ge-
fängnis nicht differenziert thematisieren will, sondern hier generell von schädli-
chen Folgen ausgeht und er, Olaf, an die Vertiefung des Gegenstands „Folgen“
denkt. Der Unterschied zwischen beiden Zugängen bleibt aber eher implizit.
Der Lehrer bekräftigt vielmehr, welche Perspektive weiter verfolgt werden soll,

72
9 Fallgeschichten: Die Wiederherstellung der Vieldeutigkeit

und auch die Feststellung Christinas, die in der Linie von Olaf liegt, bleibt im
Raume stehen.
Im Normalfall eines Gesprächs wird ein solches Beharren auf einer Pers-
pektive mit einer Begründung eingeleitet. Schon allein die Thematisierung der
Differenz zwischen den Zugängen hätte den Perspektiven der Schüler eine ent-
sprechende Anerkennung gezollt. Nachvollziehbar ist aber auch, dass der Leh-
rer auf der Systematik der Bearbeitung beharrt, da die Spontandiskussion natür-
lich schnell ausufern kann.
Der Fall zeigt, wie die vom Lehrer gesetzte Perspektive („die schädlichen
Folgen des Freiheitsentzugs“) von Seiten des Schülers (und auch des Lehrers)
umspielt wird. Die aus der Sicht des Schülers Zweifel auslösende begriffliche
Formulierung des Arbeitsauftrages wird dadurch „eingeholt“, dass ein mentaler
Vorstellungsraum an Volumen gewinnt und das nicht Fassbare imaginiert und
mental durchdrungen wird.

9.3 Der Aufbau einer mentalen Infrastruktur im


Mathematikunterricht – 3. Fallgeschichte
In der Mathematik, so Wittgenstein in den „Philosophischen Untersuchungen“
gibt es kaum Streit, und wenn es einen gibt, dann ist er „mit Sicherheit zu ent-
scheiden“ (1971, 571). Zurückgeführt wird dies auf die formale Sprache und
die darauf basierende Anwendung von Beweisstrukturen, die erlauben, falsche
von wahren Aussagen zu unterscheiden. Vor allem die abstrakte, symbolische
Verdichtung komplexer Sachverhalte besitzt nicht den interpretativen Spielraum
wie die in den Alltagskontext eingebettete Sprache. Hier stellt sich das Prob-
lem des Übergangs vom Alltag zur Fachsystematik also in voller Schärfe. Die
Frage ist, wie angesichts der Verselbständigung des mathematischen Wissen-
schaftssystems und seiner symbolischen Notationsformen, aus der geradezu die
Vieldeutigkeit verbannt werden soll, Aushandlungsprozesse und die Abarbei-
tung alternativer Deutungen im Unterricht überhaupt möglich sind. Im Ideal-
fall müssten beiden Seiten insofern Rechnung getragen werden, als sowohl die
Fachsprachentwicklung beachtet wird und die Schüler zugleich die Möglichkeit
haben, sich mit ihren alltagssprachlichen Deutungen und Umschreibungen ei-
nem mathematischen Problem zu nähern.
Dass das Doppelpassspiel zwischen der alltagssprachlichen und der fach-
sprachlichen Logik tatsächlich nicht einfach ist, soll die folgende Unterrichts-
szene zeigen. Das folgende Beispiel zeigt eine gewisse Ermäßigung des fach-
lichen Anspruchs und ist in seiner Botschaft deshalb so eindringlich, weil die
Lehrerin didaktisch versucht, den fachlichen Gegenstand in alltagsweltliche Er-
fahrungen zu übersetzen. Wir nehmen ein Beispiel aus dem Mathematikunter-

73
9 Fallgeschichten: Die Wiederherstellung der Vieldeutigkeit

richt der Grundschule, das aus einer Arbeit von Markus Schütte (2009, 158)
entnommen ist. Schütte untersucht die Bedeutungsaushandlungen im Mathe-
matikunterricht. Thema dieser Unterrichtsstunde ist die Einführung in „Spiege-
lung“ bzw. „Symmetrie“.
Markus Schütte betrachtet diese Stunde unter der Perspektive, wie ein mathe-
matisches Problem nicht nur zu einer klaren Vorstellung geführt, sondern auch
in einer begrifflich präzisen sprachlichen Fassung dargestellt werden kann, die
dazu beiträgt, dass im Laufe der Schuljahre „ein konsistentes Begriffsystem der
gesamten Thematik“ aufgebaut wird (2009, 156). Die von ihm verwendete und
protokollierte Episode zeigt, dass sich dem fachlichen Anspruch nicht eigentlich
gestellt wird. Bemerkenswert ist unseres Erachtens allerdings der Versuch der
Lehrerin, eine szenische und gewiss auch Assoziationen hervorlockende Form
der Hinführung zu finden, die ermöglichen soll, die Kluft zur fachsprachlichen
Ebene zu überbrücken. Die Einführung der Lehrerin vertraut darauf, die Sach-
verhalte der Spiegelung und Symmetrie ließen sich über eine spielerische Pan-
tomime – also handlungsmäßig und anschaulich – nachvollziehen.

L: Ihr kennt alle einen Spiegel ... und ihr wisst auch, was ihr damit macht. Ne?
Soo. Dann möcht ich ma’ Sami hier haben.
S: [kommt nach vorne]
L: So Sami du bist jetzt mal mein Spiegel … [L nimmt die Hände auf Brusthöhe
hoch], das heißt alles was ich mache, machst du auch ...
S: [steht vor der Lehrerin] Okaaay ...
L: So ..: [L nimmt die Hände runter und gleich wieder hoch]
S: [Sami nimmt seine Hände hoch]
L: [bewegt ihre rechte Hand nach rechts]
S: [bewegt zeitlich leicht versetzt seine linke Hand nach links]
L: [ hebt ihren rechten Arm hoch]
S: [Sami hebt seinen linken Arm hoch] … (mehrere Durchgänge) ...
L: was macht der Spiegel, wenn ich mein rechtes Bein ausstrecke?
L: [L streckt ihr rechtes Bein nach vorne und nimmt es zurück]
S: [Sami streckt sein linkes Bein aus und nimmt es zurück]
S1: links
S2: linkes
(...)
L: Also, das ist die Seite ist immer vertauscht ist. So. Danke schön, Sami.
S: [Sami geht zu seinem Platz.]

Anschließend fordert die Lehrerin die Schüler und Schülerinnen dazu auf, die
Pantomime mit einem jeweiligen Partner nachzuspielen. Sie korrigiert dabei

74
9 Fallgeschichten: Die Wiederherstellung der Vieldeutigkeit

falsche Ausführungen im Sinne der Spiegelverkehrtheit und führt abschließend


aus, dass die Schüler heute lernen würden, wie man mit dem Spiegel „etwas
verdoppeln kann“ (Schütte 2009, 159). Folgen wir dem szenischen Ablauf und
der Interpretation Schüttes ein Stück weit, bevor wir die Szene und ihre Deu-
tung in Sinne unserer hier verfolgten Perspektive auf das Dualismus-Problem
im Unterricht beziehen. Die Lehrerin gibt dem Schüler, mit dem sie die Panto-
mime durchführen will, zunächst die für das Verständnis von Spiegelung miss-
verständliche Anweisung: „… alles was ich mache, machst du auch“. Genau
genommen dürfte aber Sami (der Schüler) die Problematik der Spiegelverkehrt-
heit in seinen Handlungen gar nicht berücksichtigen, um die gleichen Handlun-
gen wie die Lehrerin auszuführen (vgl. Schütte, 2009, 162). Aber der Schüler
erweist sich als gewiefter Hermeneut im „Lesen“ der Lehreranweisung: er er-
rät, was die Lehrerin meint. Ob allerdings den meisten Schülern bewusst wird,
dass Sami nicht die gleichen, sondern die spiegelverkehrten Handlungen wie-
derzugeben versucht, bleibt unklar. Hier könnte, so schreibt auch Schütte, für
die Schüler „ein Verstehensproblem auftreten, wenn sie die Anweisungen von
Frau Ilgner (der Lehrerin) und die Handlungen Samis nicht miteinander in Be-
ziehung setzen können“ (2009, 163).
Denn wenn der Schritt zur Abstraktionsebene einleuchtend sein soll, so ver-
muten wir, verlangt dies ein Verfahren, bei dem sich im übergreifenden Sinne
das Allgemeine all der konkreten Handlungsakte zusammenzufassen lässt: näm-
lich die Entgegensetzung, die schließlich dem Tatbestand der Spiegelung ent-
spricht. Schütte ist deshalb zuzustimmen, wenn er kritisch vermerkt: „Bei der
gesamten Einführung, wie auch bei der Schlussbemerkung von Frau Ilgner, fällt
auf, dass diese zu keinem Zeitpunkt den Fachterminus „spiegeln“ verwendet,
sondern auf der Ebene der Ausführungen von Handlungen bleibt und ebenso
nicht von Spiegelverkehrtheit spricht, sondern auf der Ebene alltagsprachlicher
Formulierungen des Vertauschens der Seiten bleibt“ (2009, 164/165).
Nun könnte man Schütte entgegenhalten, dass eine Verwendung des Fachter-
minus möglicherweise vorschnell wäre und es durchaus Gründe geben könnte,
die fachlichen Zusammenhänge im Impliziten zu belassen, um sie an späterer
Stelle systematisch mit Alltagsvorstellungen zu konfrontieren. Die Lehrerin
möchte sogar, ob willentlich oder nicht, die fachlichen Zusammenhänge über-
haupt im Impliziten belassen. Für diese Logik spricht auch, dass die Lehrerin,
nachdem sie Arbeitsaufträge an einzelne Tischgruppen verteilt hat, den dabei
im Vordergrund stehenden „Problemkontext“ – es geht nunmehr um unbewegte
Körper und die Spiegelung geometrischer Figuren – nicht mehr in eine expli-
zite, innerlogische Verbindung zum vorher initiierten Handlungskontext bringt.
So scheint es für die Schülerinnen und Schüler schwer zu werden, sich von dem

75
9 Fallgeschichten: Die Wiederherstellung der Vieldeutigkeit

„konkreten Referenzkontext der neuen Begriffe zu lösen, um eine allgemeine


Struktur darin zu erkennen“ (2009,169).
Unseres Erachtens könnte man den Versuch der Lehrerin – trotz aller Unge-
nauigkeiten – von der Idee her würdigen: sie versucht, ein Erinnerungsbild der
räumlichen Anschauung zu schaffen und – aus unserer Sicht – gewissermaßen
eine mentale Infrastruktur des Gegenstandes aufzubauen. Denn so abgeschot-
tet, wie oft die standardisierte, abstrakte Notation und Begrifflichkeit vermuten
lässt, arbeiten selbst die Mathematiker nicht. Eine Untersuchung von Bettina
Heintz (2000) fördert ähnliches zutage wie die Laborstudien im Bereich der ex-
perimentellen Naturwissenschaften (vgl. etwa Knorr-Cetina 1984): der abstrak-
ten, symbolischen Verdichtung gehen experimentelle, intuitive Formen der An-
näherung an den Gegenstand voraus und „ein mathematisches Gespräch findet
selten ohne Papier und Wandtafel statt. Insofern ist es vielleicht nicht übertrie-
ben zu behaupten, dass die Praxis der Mathematik – ganz im Gegensatz zur of-
fiziellen Doktrin – durch eine ausgeprägte visuelle Kultur gekennzeichnet ist“
(2000, 168).
Desweiteren gehen wir im Vergleich zur Interpretation von Schütte von ei-
ner stärkeren Fokussierung auf die Figur der Lernenden aus, die hier gleichsam
als Ko-Akteure der Sinnbildung und Deutung in Erscheinung treten. Nicht nur
Sami, sondern auch die beiden Schüler, die mit den richtungsweisenden Adjek-
tiven „links“ und „linkes“ antworten, bügeln ja in gewisser Weise die Unschär-
fen in der bisherigen Darstellung aus. Ausgestattet mit dem Prozess- und Or-
ganisationswissen ihrer langjährigen Schülerschaft ahnen sie, was gemeint ist.
Und so erweist sich die Gruppe der Lernenden unter der Hand als Ko-Konstruk-
teure der im Unterricht zum Tragen kommenden Sinnkonstruktion des Gegen-
standes. Die hermeneutischen Leistungen der Schüler bestehen hier in ihrem
Ausgriff auf Möglichkeitsräume, genauer auf im rückgreifenden Vorgriff aus-
phantasierte Anschlussmöglichkeiten, die auch die Eventualreaktionen der Leh-
rerin noch antizipieren.

9.4 Pluralität, die nicht beliebig ist – 4. Fallgeschichte


Fragen bringen, so hatten wir gesagt, das Erfahrungssubjekt ins Spiel. Man kann
sich ein weiterfragendes Sprechen und Artikulieren idealtypisch im Wechsel-
spiel des Dialogs vorstellen. Das Gespräch ist dann Teilhabe an der Perspektive
und Subjektivität eines Anderen. Die Vorstellungskraft als Voraussetzung des
Verstehens ermöglicht es, die Welt von verschiedenen Standpunkten aus zu be-
trachten, sich mögliche oder reale Standpunkte anderer vorzustellen. So lebt die
Erfahrungsmöglichkeit, die dem Gespräch innewohnt, eigentlich im artikulie-
renden Zeigen verschiedener bisher nicht erkannter Zusammenhänge und Ver-

76
9 Fallgeschichten: Die Wiederherstellung der Vieldeutigkeit

weisungsbezüge, eben Bedeutungsbezüge oder Perspektiven. „Darum kann es


geschehen, dass ich erst im Sagen und Handeln erfahre, was ich wusste, dass
erst die Fragen eines Anderen meine Antwortmöglichkeiten hervorbringen und
nicht nur abrufen“ (Meyer-Drawe 1995, 132).
Diese Situation könnte im Unterricht etwa bei Zugängen gegeben sein, in de-
nen beide Seiten, Lehrer wie Schüler, in den Sog eines Problems und dessen Lö-
sung kommen – oder wo Situationen geschaffen werden, in denen Lernende in
sprachlichen Aushandlungsprozessen gemeinsam Wissen konstruieren.
Im Folgenden geht es um eine Religionsstunde zum Thema „Todesstrafe“
in der neunten Klasse eines Hamburger Gymnasiums. Diese Unterrichtsstunde
zeigt ansatzweise solche Bedingungen eines produktiven Umgang mit der Kluft
zwischen einem zu vermittelnden sachlichen Wissensanspruch einerseits und
der alltagsweltlichen Deutung und Sprache der Schüler andererseits,
In dieser Unterrichtseinheit werden Texte gelesen und besprochen zum
Thema Gewalt, Recht und Unrecht, Sozialisation, Höflichkeit und Unhöflich-
keit. Hier wird Erfahrung im Sinne der Vertrautheit mit einem Thema aufge-
baut. Im Anschluss daran wird ein Fallbeispiel über einen 16-jährigen Mörder
gelesen. In der nun folgenden Szene ist die Unterrichtseinheit bei der Diskus-
sion des Fallbeispiels angekommen. Der Text handelt von einem Jugendlichen,
der einen Menschen gequält und anschließend erstochen hat. Auch die Erklä-
rung eines Psychoanalytikers „Wie Adam so wurde, wie er heute ist“ muss als
Hintergrund des folgenden Szenenausschnitts einbezogen werden (vgl. Kolenda
2010, 119ff.).

Gülhan: Ach so, ja Marco.


Marko: Ich stimme teilweise zu, weil man könnte ihn ja auch ein bisschen
quälen, also Schmerzen zufügen und foltern und dann kurz vorm Tod
dann Stopp machen, und dann [alle lachen]. Ja, weil er weiß ja nicht,
was er falsch gemacht hat und so lernt er das ja auch. [alle reden
durcheinander]
Lehrer: Hm, Marco, hört sich ’n bisschen brutal an, ne?
Marco: Ja.
Lehrer: Aber die Begründung haben die meisten gar nicht mitgekriegt (…)
Julia: Also ich bin da nicht so/Also was Marco gesagt hat/Dann zeigen wir
ihm kein besseres Bild, weil er hat ja den Menschen, den er umge-
bracht hat ja auch vorher gequält. Und dann denkt er ja, oh, das ma-
chen die ja auch. Dann ist das ja eigentlich in Ordnung. Weil dann
lernt er ja nichts daraus, sondern das ist ja so/Ähm, Swenja.
Swenja: Also wir haben das auch so gesagt, dass er ja jemanden umgebracht
hat und dass das natürlich falsch ist. Aber wir sind ja auch nicht bes-

77
9 Fallgeschichten: Die Wiederherstellung der Vieldeutigkeit

ser, wenn wir ihn umbringen. Also, da ist ja auch nichts gut zu ma-
chen. Claudia.
Claudia: Ja, also ich finde auch, er wusste ja nicht genau, was er getan hat und
da hat er dann auch ne zweite Chance verdient, so zumindest zu ver-
suchen sich zu bessern. Peter.
Peter: Also, ich stimme auch nicht zu, weil man muss ihm helfen. Also ich
finde schon/So wohl nicht zeigen, was Liebe ist und so. Aber man
könnte ja versuchen, dass er sich nicht mehr hasst und dann hasste er
auch andere nicht mehr vielleicht. Dirk.
Dirk: Aber überlegen wir mal, Samuel jetzt, bringt mich um. Und dann
würde der Rest der Stadt ihm helfen und dann bin ich umsonst gestor-
ben oder was? [alle lachen]. Das hat doch keine Logik. Er bringt ein-
fach alle um und dann am Ende wird er wieder normal und dann ist
er wieder frei. Er kann ja auch so tun, ja O.K., ich bin wieder normal,
und dann nach ‚ner Zeit fängt er wieder damit an. Und was dann? Ja,
ähm, Jasmin.

Das Gespräch findet im „Stuhlkreis“ statt. Es wird vor allem unter Schülern ge-
führt und zwar in einer so genannten „Meldekette“.
In der vorliegenden Szene gibt der Lehrer den individuellen Perspektiven der
Schüler im Gespräch eine Chance. Den Schülern wird hier ein Spielraum für Ei-
genbeiträge zugestanden. Dadurch bricht sich, was die Schüler wirklich denken,
fassen und ausdrücken möchten, Bahn. Es ist nicht gebrochen durch das Über-
gewicht des Erwachsenenblicks. Der Lehrer versucht auch nicht, wie in zahlrei-
chen Fallstudien angesichts einer solchen „interaktiven Verdichtung“ (Krumm-
heuer/Brandt 2001) gezeigt worden ist, den „interaktiven Gleichfluss“ (a.a.O.)
des Gesprächs in Form einer Themenfokussierung wieder herzustellen, weil er
fürchtet, das Geschehen könnte aus dem Ruder laufen (vgl. zu einem ähnli-
chen Muster: Combe/Helsper 1994; Krummheuer/Brandt 2001; Schütte/Gogo-
lin/Kaiser 2005; Helsper 2009).
So führt nun der Beitrag von Marco im wahrsten Sinne des Wortes an eine
„Schmerzgrenze“, die der Lehrer nicht unkommentiert lässt. Sogleich aber
rückt der Lehrer mit seiner, auf die latente Sinnstruktur gemünzten Bemerkung
und Frage die Aggressivität von Marcos Aussage wieder in den distanzierteren
Raum, in dem sich ein Urteil erst bilden kann: er fragt nach einer Begründung.
Im weiteren Ablauf zeichnet sich eine Pluralität an Perspektiven ab, die von
Schülerseite eingebracht wird: Julias Antwort markiert zunächst eine Differenz.
Man wird ihren begonnenen Satz ergänzen können: „Ich bin da nicht so sicher“.
Sie übernimmt zwar die Perspektive Marcos, hält diese aber in der Vorstellung
gewissermaßen präsent und verwendet diese zur Produktion einer eigenen Ant-

78
9 Fallgeschichten: Die Wiederherstellung der Vieldeutigkeit

wort (das ist im Übrigen der genaue Sachverhalt, wenn von Perspektivenüber-
nahme gesprochen wird).
Bei dem folgenden Beitrag von Swenja handelt es sich um eine eigene Um-
schreibung dessen, was Julia inhaltlich geantwortet hat. Claudia bringt dieses
Paraphrasieren schließlich begrifflich auf den Punkt: „Zweite Chance“. Sie er-
kennt das durchgängige Prinzip der vorhergehenden Sequenzen. Charakteris-
tisch für diese Gesprächsstruktur ist, dass hier die Perspektive eines anderen,
nämlich Marcos Sicht, aus der je eigenen Sicht der Schülerinnen ausgestaltet
wird. Das „Ego“ muss dazu die Vorgabe eines „Alters“ in der Vorstellung prä-
sent halten und mit einem eigenen Anschluss fortfahren.
Bei Peters Beitrag kommt nun eine zusätzliche Dimension ins Spiel. Er
nimmt Bezug auf Vorstellungen, die sein könnten oder sollen (Peter: „Man
könnte ja versuchen…“). Mit anderen Worten: Peters Gedanken bewegen sich
auf der Ebene eines Möglichkeits- und Phantasieraumes; er imaginiert einen Zu-
stand, der nie empirische Wirklichkeit war oder gewesen sein muss. Sein „Stellt-
euch-vor...“ operiert auf der Ebene des gedanklichen Ausprobierens von Mög-
lichkeiten, und eben dies ist kennzeichnend für die Phantasien.
Vollends führt nun die im Stile eines advocatus diaboli vorgetragene Inter-
vention Dirks einen hypothetischen Raum des noch nicht Bewiesenen, aber
Möglichen ein. In der Folgezeit zeigt sich, dass die Schüler diese Gesprächs-
ebene übernehmen. Charakteristisch für diese hypothetische Ebene ist, dass ein
Sachverhalt im Hinblick auf vergangene und zukünftige Möglichkeiten hin tran-
szendiert werden kann. Diese Möglichkeiten werden gleichsam im Inneren ei-
ner Person kreiert, und diese Phantasien ermöglichen das Perspektivenspiel.
Kommen wir zu einer anderen Auffälligkeit dieses Falles: Wir treffen den
Lehrer in unterschiedlichen Haltungen an. Moderierend ist noch seine Frage,
wer eigentlich das Recht hat, über Tod und Leben zu entscheiden, aber im Laufe
der Diskussion interveniert der Lehrer durchaus auch als Fachexperte.
Nun könnte man argumentieren, gerade der Religionsunterricht sei gewis-
sermaßen prädestiniert für die Entwicklung eines persönlichen Verhältnisses
zu den jeweils angebotenen interkulturellen und interreligösen Unterrichtsge-
genständen (vgl. Knauth/Weiße 1996). Damit lägen die Ressourcen für dialogi-
sche Unterrichtsprozesse in Gestalt des lebensweltlichen Erfahrungspotentials
im Religionsunterricht praktisch vor der Tür. Man könnte also sagen, das Fach
Religion hat es hier besonders leicht. Dennoch spricht schon die oben charakte-
risierte Diskussionsform dafür, dass eine solche Artikulation und Verarbeitung
von Schülerperspektiven kultiviert werden muss, zumal die Diskussion auch
durch die vorangegangene Erarbeitung von fundierten Grundlagen wohl vor-
bereitet war. Interessant ist für unser Thema des Übergangs von der Alltagswelt
zur Fachwelt ja nicht nur, wie der Lehrer mit der Pluralität von konkurrierenden

79
9 Fallgeschichten: Die Wiederherstellung der Vieldeutigkeit

Schülerperspektiven umgeht. Genau so bedeutsam ist, inwieweit diese mit einer


allgemeinen und fachlichen Perspektive vermittelt werden (vgl. Weiße 1996, 18-
28; Knauth 2000, 88-93).
Im Laufe der Diskussion interveniert der Lehrer durchaus als Fachexperte,
indem er eine Art Zwischenergebnis formuliert: „Also, ehm, für uns als Lehrer
ist es ganz interessant zu beobachten, dass jetzt ganz viele aus dem Islam gesagt
haben, das geht nicht, Gott entscheidet über Leben und Tod. Und Menschen,
Schüler, die aus dem Christentum kommen, sagen eigentlich genau das gleiche.
Das ist eigentlich ganz interessant, ne?“ Damit wird den Schülern inhaltlich zu
verstehen gegeben bzw. rückgemeldet, dass – obwohl jeder von seinem eigenen
religiösen Hintergrund aus argumentiert – die Religionen einen gemeinsamen
Bezugspunkt haben dürften, nämlich dass Gott über Leben und Tod entscheidet.
Man könnte hier zum Widerspruch geneigt sein, und über den Inhalt dieses Sat-
zes ließe sich trefflich streiten.
Was zeigt diese Intervention des Lehrers in Bezug auf unser Thema, den
Übergang von der Alltagswelt zur Fachwelt? Die „religionstheoretische“ und an
dieser Stelle vom Lehrer eingeführte Perspektive ist nicht eine von vornherein
privilegierte! Sie wird eingeführt als eine Perspektive unter anderen. Selbst
wenn seine Zuordnung zur Gruppe der Lehrer auch Züge einer individuell über-
greifenden Allgemeinheit hat, rückt er von jeglicher Haltung ab, bei der eine
Seite immer im Recht ist. Das Zulassen von perspektivischer Vielfalt der Blick-
winkel verweist zumindest implizit auf den Konstruktcharakter auch der vom
Lehrer vertretenen fachlichen Sicht. Und was ganz wichtig ist: Die Schlussfol-
gerung des Lehrers ist aus den Perspektiven der Schüler extrahiert und stellt ge-
wissermaßen eine „Perspektivenkoordination“ (Edelstein u.a. 1982) dar.
Wichtig ist uns an dieser Szene auch die Entstehung der Haltung der Nach-
denklichkeit. Die Schüler bringen ihr Vorverständnis ein. Die Erweiterung und
Veränderung des Vorverständnisses verlangt darüber hinaus eine selbstkritische
Haltung. Man beobachtet an diesem Fall, wie die Schüler das eigene Wissen auf
seine mögliche Erweiterung oder Veränderung hin zur Disposition stellen, „um
so Erweiterungen oder Veränderungen bereits zur Verfügung stehender, begrün-
deter Orientierungen zu erreichen“ (Marotzki 1985, 177). Eine Schülerin sagt
beispielsweise: „Also, ich weiß jetzt nicht, ob ich richtig denke.“ Die Schüler
stellen ihre eigenen Perspektiven auf ihre mögliche Erweiterung oder Verände-
rung hin zur Disposition. Sie beginnen die vom anderen mitgeteilten Erfahrun-
gen in eigenen Worten auszugestalten im Hinblick auf Konstellationen, wie oder
was so oder so hätte sein können oder sollen. Sie rechnen schließlich selbst mit
der Notwendigkeit von Perspektivenwechseln, erwarten diese und bereiten ihr
Auftreten mit vor (vgl. hierzu auch Hericks 1993, 118).

80
9 Fallgeschichten: Die Wiederherstellung der Vieldeutigkeit

Ein zentrales Strukturelement dieser Szene ist also tatsächlich, dass hier mit
Versionen und Perspektiven gearbeitet und Pluralität zugelassen wird, ohne dass
diese beliebig würde. Die Interventionen des Lehrers helfen zugleich zu vermei-
den, dass die Anknüpfung an religiöse und kulturelle Erfahrungen der Schüler
und Schülerinnen in ein Gespräch mit wenig inhaltlicher Substanz führt oder
sich das Gespräch im Kreise dreht. Der Lehrer scheut sich mit seinen Inter-
ventionen nicht zu sagen, was er für relevant oder für angemessen hält. Er setzt
das Allgemeine aber nicht absolut. Vielmehr nehmen die Verstehensbemühun-
gen der Schüler in dieser Stunde den zentralen Raum ein. Gadamer, von dessen
Werk für die Hermeneutik vielerlei Anregung ausging, hat noch gefolgert, dass
zwischen den in der Konfrontation mit dem Gegenstand abgearbeiteten Vorver-
ständnishorizonten eine Art „Horizontverschmelzung“ möglich sei, wo in der
Traditionslinie „Altes und Neues immer wieder zu lebendiger Geltung zusam-
menwächst“ (Gadamer 1960, 289) . Sieht man sich die obige Gesprächssequenz
an, so hat man allen Grund, mehr Differenz, Widerstreit, ja Unüberbrückbarkeit
in ein Verstehenskonzept einzubauen. Die Thematisierung muss hier weniger
auf die vorschnelle Übereinstimmung zielen, sondern die Tiefe des Verstehens
besteht eher in der wechselseitigen Erkenntnis und Anerkenntnis der Differenz.

9.5 Unterrichtsanfänge im Zeichen der Berührung und


Konfrontation – 5. Fallgeschichte
Einen Übergang zwischen den vorhandenen Alltagsvorstellungen und dem zu
vermittelnden fachlichen Wissen zu bauen, bezeichnet die im schulischen Un-
terricht stets zu erneuernde Aufgabe des Verstehens. Auch der Lehrer muss er-
kennen: Ich kann nicht voraussetzen, dass mein Verständnis mit dem der Ler-
nenden übereinstimmt und in restlose Übereinstimmung gebracht werden kann.
Anfänge prägen den Verlauf unseres Handelns oft mehr als uns lieb sein
kann. Wir bemerken das an dem Aufwand und den Ausgleichshandlungen, die
dann entstehen, wenn man versucht, bestimmte Bedeutungsstrukturen der Er-
öffnung wieder zu tilgen. Die Vorstellung von Formen des Anfangens im Un-
terricht unterliegen häufig einer Engführung: Es wird nicht richtig klar, wie das
manifest werden soll, was Schüler zu einem Thema mitbringen. Vor allem wird
seitens der Didaktik nicht realisiert, dass Lernprozesse einen sinnstiftenden Un-
terbau haben, der sich aus Phantasien, Intuitionen und unbewussten Repräsen-
tanzen nährt.
Das folgende Beispiel stammt aus einer Gesellschaftslehrestunde mit dem
Thema „Industrielle Revolution“. Wir verwenden als Grundlage der Darstellung
die szenische Erzählung der Lehrerin. Die Lehrerin gibt die für sie bedeutsamen
Szenen folgendermaßen wieder:

81
9 Fallgeschichten: Die Wiederherstellung der Vieldeutigkeit

„In der ersten Stunde der neuen Unterrichtseinheit lege ich stumm eine Fo-
lie auf den Overheadprojektor. Sie zeigt je ein Gemälde aus der Zeit zu Beginn
und zur Blütezeit der Industrialisierung. Ich stelle mich an die hintere Wand
und schweige. Der Unterrichtseinstieg verblüfft die Schüler. Sie schauen zu mir,
wirken nervös und beginnen zu tuscheln, fangen an, ihre Unsicherheit hinter
vermeintlich coolen Sprüchen zu verbergen: „Das wird wohl eine Schweige-
stunde.“ „Sprechen Sie heute nichts?“ usw. Ich warte und schweige. Selbst der
vorlaute Christian rutscht unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Er und die an-
deren drehen sich immer öfter zu mir um. Sie erwarten eine Ansage, und wis-
sen nicht, was sie tun sollen. „Was sollen wir denn jetzt machen?“ Lena bricht
das Schweigen, andere nicken. Es wird aber nicht laut, kein Zettel wird weiter-
gereicht, man wartet gespannt auf meine „Befehle“. (…). Die Anspannung ist
kaum auszuhalten, ich breche mein Schweigen: „Wenn ich nichts sage, seid ihr
dran“. Sollen wir jetzt etwas zu den Bildern sagen? Ich nicke. Die ersten melden
sich zaghaft, beschreiben, was sie sehen, andere ziehen nach, die Schüler sind
bei der Sache, denn jeder sieht etwas und kann etwas dazu sagen.
Dann frage ich, was sie hören. Einen Moment lang herrscht Unverständnis,
Fragezeichen schweben im Raum. Die Schüler sind konzentriert, blicken wort-
los zu den Bildern, schauen sich an. Die ersten trauten sich und formulieren ihre
Ideen. Jenny hört im ersten Bild einen Bach rauschen, da unterhalten sich zwei
Leute, ab und zu hört man Kühe muhen. Auch das zweite Bild hat Geräusche,
sie sind sehr laut, ein Hammerwerk mit vielen Arbeitern, die sich laut zurufen
müssen, um sich zu verständigen. Und was riecht ihr? Ein Schüler kichert: Ich
habe noch nie ein Bild gerochen. Die anderen bleiben ernst, es bleibt bei diesem
einen Kommentar. Sie lassen sich darauf ein, sie riechen die Bilder. Das zweite
Bild stinkt, Steffi hält sich spontan die Nase zu. Ich strahle, freue mich und zeige
dies auch meinen Schülern – sie freuen sich, dass ich mich freue. Dann schrei-
ben sie auf Stichwort Karten was ihnen zu den Bildern eingefallen ist, und hän-
gen die Karten auf. Es finden sich auch Stichworte zu den Geräuschen, den Ge-
rüchen und vor allem zu den persönlichen Empfindungen der Schüler. (….) Die
folgenden Stunden arbeiten wir auch mit Texten und Quellen, beantworten Fra-
gen zu Texten und fassen Handlungsabläufe zusammen. Während der gesamten
Unterrichtseinheit blicken die Schüler immer wieder auf die Einstiegsstunden
zurück und ziehen Parallelen“ (Riedel 2005).
Die Lehrerin berichtet, wie schwierig es bislang gewesen sei, die Schüler auf
Dauer bei der Stange zu halten. Die Logik dieses Anfangs ist, zusammenfassend
gesagt: Wenn die fachlichen Anforderungen „pur“ und unvermittelt an die Schü-
ler herangetragen werden, bauen sie fachliche Sperren auf.
Aber das Vorgehen der Lehrerin ist riskant, sie weiß am Anfang selbst noch
nicht, wohin die von ihr gesetzte Irritation führt. Sie hätte die Schüler mit der

82
9 Fallgeschichten: Die Wiederherstellung der Vieldeutigkeit

Aufforderung konfrontieren können: „Stellt euch mal vor...“ Stattdessen setzt


sie auf Anmutungen, auf synästhetische Erfahrungen, auf die durch die Erinne-
rung hervorgerufenen körperlichen Reaktionen und Assoziationen, auf Gerüche
und Stimmungen. Die Form der Annäherung hat zunächst nichts zu tun mit je-
nem Ausphantasieren von Positionen, das wir etwa im Falle der Debatte in der
Religionsstunde sahen. Zweifellos aktiviert die Lehrerin durch diesen Anfang
aber gleichermaßen Assoziationen und Phantasien. Ja, ihr Anfang ist geradezu
eine Aufforderung, dem Assoziieren freien Lauf zu lassen.
Bei aller Ästhetisierung dieses Anfangs ist es das Problem dieser Stunde
oder zumindest ihrer Darstellung, dass wir nicht genau erfahren und wissen, wie
diese Aktivierung von Alltagsspekulationen aufgenommen, verarbeitet, struktu-
riert und weiterentwickelt wird. Dies zu wissen wäre aber notwendig, um eine
Vorstellung davon zu bekommen, wie die Lehrerin ans andere Ufer gekommen
ist: wie also die durch die Irritation mobilisierten „Innenzustände“ und Phan-
tasien in sachliche Bahnen gelenkt werden konnten, gewissermaßen zum An-
ker geworden sind, der durch den Verlauf der Stunde oder der Unterrichtseinheit
„durchgetragen“ wird. John Dewey spielt auf einen solchen aus dem Unbewuss-
ten gespeisten Anfang und dessen Verarbeitung an, wenn er sagt: „Am Anfang
darf bei der Behandlung des Stoffes ein großes Maß an freiem und unbewusstem
Gedankenspiele gestattet werden, sogar wenn Gefahr besteht, dass einige plan-
lose Experimente damit verbunden sind. In einem späteren Stadium soll man
zur bewusster Formulierung und kritischem Zusammenfassen ermutigen. Pla-
nen soll mit Überlegen, Vorwärtsgehen soll mit Rückschauhalten abwechseln.
Das Unbewusste verleiht Spontaneität und Frische, das Bewusste gibt Gewiss-
heit und übt eine Kontrolle auf den Denkprozess aus“ (2002, 156/157).
Allerdings zeigt uns das Beispiel, dass jedes zu vermittelnde Wissen – ei-
gentlich eine Selbstverständlichkeit – einen Erfahrungskontext braucht, durch
den dieses Wissen von den Schülern als bedeutsam und in seiner Besonderheit
wahrgenommen und erkannt werden kann. Das Beispiel zeigt weiter, dass diese
sinnkonstituierende Einbettung nicht nur auf fachlichen Anknüpfungspunkten
in engerem Sinne beruht. Es wird vor Augen geführt, wie vielfältig die subjek-
tive Seite des Zugangs sein kann. In der Logik des geschilderten Anfangs hat der
Mensch in seiner ganzen, ihm eigenen lebensweltlichen Situiertheit die Chance,
in das Unterrichtsthema einbezogen zu werden. Das bedeutet, dass nicht nur die
direkten Überschneidungszonen zwischen Fachwelt und Alltagswelt interessant
sind. Empfindungen, emotionale Resonanzen, Weltbilder, epistemische Motive,
aber auch Konfliktspannungen im Bereich des Entwurfs der eigenen Person und
der eigenen Personwerdung sind die Ausgangspunkte des „Persönlichen im Er-
kenntnisinteresse“ (Negt 1997, 297), die die Anregungsgeschichte eines Lernen-

83
9 Fallgeschichten: Die Wiederherstellung der Vieldeutigkeit

den und damit die Aneignung eines Themas mitbestimmen, ohne im üblichen
Verlauf des Unterrichts überhaupt je zum Thema zu werden.
Aufschlussreich ist das Unterrichtsbeispiel auch hinsichtlich des Problems
der Aufmerksamkeit und Konzentration in der Schule. Zumeist wird argumen-
tiert, der Fülle und Dominanz medialer Bilder sei kaum etwas entgegenzusetzen.
Diese Fülle der Bilder lässt die eigene Phantasie und die eigenen inneren Bil-
der überflüssig und antiquiert erscheinen. Das Beispiel zeigt aber, dass über den
Augenblick hinaus gehende Aufmerksamkeit voraussetzt, dass ich der Wahrneh-
mung mit eigenen inneren Bildern begegne. Ohne solche im eigenen Inneren
entstehenden Bilder gibt es keine längerfristige Bindung der Aufmerksamkeit
an eine Sache. Diesem Unterbau, der vielfach im Impliziten und Unbewussten
bleibt, muss Raum gegeben werden. Aber vielfach wird es sogar für ungesund
gehalten, den Stimmungen und Phantasien zu viel Aufmerksamkeit zu schen-
ken. Die Meinung ist hier, man sollte sich lieber mit der richtigen und realen
Welt beschäftigen. Und es ist in der Tat kaum üblich, in der Schule die Aufmerk-
samkeit auf innere Zustände zu fokussieren. Natürlich gibt es auch den Fall, wo
man im Abhorchen der eigenen inneren Stimmen versinken kann, wo man sich
nur noch mit sich selbst beschäftigt und ganz von den eigenen Gedanken in An-
spruch genommen wird. Uns interessieren aber Situationen, wo qua Phantasie
ein innerer Dialog mit einer Sache und ihren Perspektiven beginnt – wo es zum
flüssigen inneren Austausch zwischen subjektiver Empfindung und einem Lern-
gegenstand kommt, wie anscheinend im vorliegenden Beispiel.

9.6 Das Projekt: Expeditionen in fremde Sinnwelten? –


6. Fallgeschichte
Wir haben die Bedeutung, die mehrstufige Prozesse für das Verstehen haben,
mehrfach hervorgehoben. Beim Problemlösen können Formen erkundender
Phantasie zum Tragen kommen. Auch müssen immer wieder Rückkopplungs-
schleifen eingebaut werden, die nicht nur linear sind, in denen auf die im Laufe
des Prozesses entstehenden Bedingungen reagiert werden muss. Die Bewe-
gungsform besteht hier also weniger in einer nur nach vorne gerichteten Bewe-
gung. Vielmehr entspricht die Bewegungsform einer zyklischen Entfaltung in
Rück- und Vorgriffen, Entwürfen und deren Evaluation. Auf den Punkt gebracht
könnte man sagen: in einer solchen konstruktivistisch verstandenen Lernform
finden unentwegt Entwurfs- und Abgrenzungsvorgänge zwischen der Phantasie
einerseits und den realen Gegebenheiten und Möglichkeiten statt.
Sucht man solche Prozessmuster in der Schule, so stößt man auf das „Pro-
jektlernen“. Programmatisch werden in die Projektform große Hoffnungen ge-
setzt, zumal der Schwerpunkt dieser Unterrichtsform auf „Zukunftsfähigkeit“

84
9 Fallgeschichten: Die Wiederherstellung der Vieldeutigkeit

liegt: hier würden Wissensformen und Haltungen entwickelt, die Heranwach-


sende brauchen, um in fremden Situationen selbstbestimmt handeln zu können.
In der Realität bestimmt die Projektform jedoch selten ein Schulprofil mit. Es
sind eher die sogenannten Leuchtturmschulen, in denen die Projektarbeit ein
fester Bestandteil des Unterrichtarrangements ist und da auch profilbildenden
Status für eine Schule gewinnen kann (vgl. die Übersicht über die Situation und
Akzeptanz des Projektunterrichts bei Idel/Carvalho 2011). Wasmann-Frahm de-
finiert die Projektmethode als Unterrichtsabschnitt, „der durch die umfassende
Bearbeitung eines zusammenhängenden Sachthemas oder Problems, das ge-
meinschaftlich und handlungsorientiert aus verschiedenen Perspektiven bear-
beitet wird und zu einem deutlich sichtbaren Produkt führt, charakterisiert ist“
(2009, 79).
In der internationalen Literatur findet sich unter dem Stichwort Disco-
very Learning und Inquiry Based Learning eine der Projektform vergleichbare
Idee (Borich 2007): Hier wird vergleichsweise die Offenheit und Riskanz be-
tont. Eine solche Lernumgebung zeichnet sich aus durch eine offene Anfangs-
gestalt, die erst der Diagnose des Problems bedarf. Betont wird das Konstruie-
ren und darauffolgende Testen von Vermutungen und Hypothesen, was mit der
Annahme verbunden ist, dass sich bei diesem „Discovery Learning“ bevorzugt
mentale Aktivierungsprozesse vollziehen.
Zu den hohen Erwartungen an die Projektform trägt auch die kooperative
Lernphase bei, in der Lernende durch gegenseitigen Austausch ein Verständ-
nis eines Sachverhalts aufbauen, das in dieser Form bei keinem der Lernenden
vorher verfügbar war (ähnlich zu den Möglichkeiten der Gruppenarbeit: Pauli/
Reusser 2010).
Wir beziehen uns in der folgenden Fallstudie auf eine Darstellung einer pro-
jektartig angelegten vierwöchigen Unterrichtseinheit zum Thema „Mittelalter“
in einer achten Klasse (vgl. Gruschka 2008). Der Rahmen des Projekts „Mittel-
alter“ sei, der Rekonstruktion von Andreas Gruschka folgend, kurz skizziert: Er
besteht aus einem Pflicht- und Wahlprogramm für die Schüler, so z.B. zum The-
menblock „Dorf und Bauernleben“, der Pflichtaspekte wie „Das mittelalterliche
Bauerndorf“ enthält, sowie mehrere Wahlthemen zu „Neuerungen in der Land-
wirtschaft, der Drei-Felder-Wirtschaft, etc.“.
Beim Wahlverhalten der Schüler, das im Zusamenhang mit den späteren Prä-
sentationen stand, fällt auf, dass hier „neun bis zehn der durchgeführten Themen
das Leben der Ritter, zwei bis drei das in den Klöstern, zwei das Alltagsleben,
das der Kinder und der Bedrohung durch Seuchen (variieren)“ (Gruschka 2008,
46). D.h. mit anderen Worten: diese Wahlthemen werden von den Schülern stark
auf die personalisierende Illustration von Lebenszusammenhängen zugeschnit-
ten, zu denen ein Zugang von der Alltagswelt der Schüler unmittelbar möglich

85
9 Fallgeschichten: Die Wiederherstellung der Vieldeutigkeit

erscheint. Vielleicht ist diese Selektion schon mit Blick auf die Möglichkeit der
Präsentation zustande gekommen, denn Gruschka zeigt insgesamt, wie sehr die
Antizipation und das Gewicht der Präsentation den Umgang mit dem Gegen-
stand bestimmte. Heisst das aber nun, dass der Ablauf vom Pflichtprogramm
kaum angekränkelt war und damit die alltagsweltlich übertragenen Bilder und
Denkstereotypen keiner weiteren Korrektur und Verfremdung unterlagen, die
Alltagsbegriffe also roh und unbehauen blieben – zwar Nähe zum Gegenstand
zu entstehen schien, dies aber auf Kosten nicht nur der analytischen Distanz
sondern auch der Würdigung des, sagen wir: Eigensinns der Sache selbst ging.
Ziehen wir ein Beispiel aus der Präsentation heran, um die hier auftretende
Übergangsproblematik zwischen der Alltagswelt der Schüler und der fachwis-
senschaftlichen Ebene zu kennzeichnen.
Der Schüler A kündigt für die Präsentation an, dass sie unter anderem von
den „Bedingungen als Ritter“ handle. Er führt aus: „Die Bedingungen als Ritter
waren also jetzt (erst mal vor der Zeit?) das waren jetzt zwei Zeiten. Er musste
erst mal reich sein oder ein Adel oder ähm musste halt Arbeiter haben, weil man
kann ja nicht gleichzeitig Ritter sein und mitten im Kampf und sich dann noch
um die Familie kümmern. Das geht ja nicht. Und äh später wollten die Adelige
aber das Geld genießen (weil sie denken?) es wäre dumm nur arbeiten, äh als
Ritter arbeiten wenn man das Geld genießen kann. Deswegen wurde konnte spä-
ter einfach ein Bauer Ritter werden als auf den Pferden (?) zumindest, weil die
Araber wollten halt die Franken fertig machen, da sind die Franken auf Pferde
umgestiegen, ähm aber später da wurden es dann halt zu viele Ritter, deswegen
haben die äh halt ausgemacht, es kann nur der Ritter werden, dessen Vater Rit-
ter wurde, äh Ritter war.“ (aus Gruschka 2008, 64)
Wir sehen an dieser Sequenz, dass hier die Deutung mit kulturell bereit-
liegenden Stilfiguren, Bildern und Situationsphantasien bestritten wird, die der
Schüler zur Verfügung hat. Offensichtlich ist seine eigene Lebenswelt Ideenge-
ber für diese Konstruktionen, etwa wenn er sagt, erst wenn die Ritter nicht „ar-
beiteten“, konnten sie sich um ihrer Familie kümmern. Der Schüler verweist
auch auf geschichtliche Stufen: Der Ritter musste erst einmal reich sein und von
Adel. Aber nach getaner Arbeit die Freizeit zu genießen, steht auch einem Rit-
ter zu. In einer dritten Phase konnten auch arme Bauern Ritter werden. Wegen
Überfüllung dieses „Berufsstandes“ wurde schließlich die Erbfolge eingeführt
(vgl. Gruschka, 2008, 69/70).
Bevor man nun dazu neigen könnte, diesen gerade zitierten Schüler der be-
sonderen Naivität zu zeihen, sei gesagt: In einer Präsentation einer Schülerin,
deren Informationsfülle beeindruckend war, lässt sich dieselbe am Lebenswelt-
kontext hängende Darstellungsebene feststellen, in der, wie bei dem vorigen
Schüler, die Distanz zum zeitlich und räumlich Entlegenen zu bewältigen ge-

86
9 Fallgeschichten: Die Wiederherstellung der Vieldeutigkeit

sucht wird. Dieser Zugang mündet bei der Schülerin in den Satz: „Bauer konn-
ten also schon deshalb keine Ritter sein, weil sie gar nicht genug Geld hatten,
um sich die Rüstung und die Waffen zu leisten“ (S. 81). Auch dieser Satz zeigt
etwas von der Schablonenhaftigkeit, die solchen alltagsweltlichen Vorstellun-
gen anhaftet.
Zweifellos verschafft zunächst das Festhalten an den konkreten Lebens-
umständen und der Vergleich zur eigenen Lebenswelt den Schülern ein unmit-
telbaren Zugang. Das Problem ist, wie sodann Gruschka hervorhebt, dass ein
Verfremden dieser alltäglichen Perspektiven ausgespart blieb, vor allem auch
deshalb, weil die Präsentationsform das „rhetorische Wie“- in den Worten der
Schüler, das „Rüberbringen“ – in den Vordergrund rückte und zum dominanten
Erfolgsmaßstab machte.
Ansonsten halten die Schüler – wie im vorliegenden Fall – an der Projek-
tion ihrer Alltagsvorstellungen fest, und es gelingt offenkundig nicht so ohne
weiteres, sich von der Fremdheit des Gegenstandes wirklich bewegen lassen,
geschweige denn sich ihrer Verstehensrückstände vergewissern. Es ist also im
vorliegenden Projekt offenkundig nicht eine wirkliche Nötigung entstanden, zu
der Position eines am historischen Geschehen beteiligten Subjekts hinüber zu
wechseln und von da aus Handlungsmöglichkeiten und Handlungsbegründun-
gen zu konstruieren. Immer ist dieser Perspektivenwechsel hypothetisch, und er
ist schließlich durch Belege des wirklichen historischen Geschehens zu verifi-
zieren.
An bestimmten Strukturstellen des Ablaufs kann man sich den Lehrer durch-
aus auch konfrontativer vorstellen. So bleibt das alltägliche Material, das die
Schüler um ihrer Inbezugsetzung willen produzierten, unbefragt – der Gedanke,
man müsse „hier wie da Geld haben, um etwas zu erreichen“. So erscheint bei
aller Offenheit des erfahrungsorientierten Vorgehens Zurückhaltung, aber nicht
Rückzug des Lehrers angebracht, soll die für die Projektform an sich charak-
teristische Spannweite von fachsystematischen Anspruch einerseits und Erfah-
rungsoffenheit andererseits wirklich ausgelotet werden (vgl. hierzu Combe u.a.
2000).

87
10 Verweilräume und Übergänge

10.1 „Entselbstverständlichung“, Irritation und Verstehen


„Wir haben uns angewöhnt“, so Helmut Peukert, „zwei Weisen des Lernens zu
unterscheiden. Die eine Art ist eher ein additives Lernen, d.h. im Rahmen eines
gegebenen Grundgerüsts von Orientierungen und Verhaltensweisen lernen wir
immer mehr Einzelheiten, die aber diese Grundorientierungen und die Weisen
unseres Verhaltens und unser Selbstverständnis nicht verändern, sondern eher
bestätigen. Daneben gibt es auch Erfahrungen, die, wenn wir sie wirklich zu-
lassen, unsere bisherigen Weisen des Umgangs mit der Wirklichkeit und un-
ser Selbstverständnis sprengen, die unsere Verarbeitungskapazität überschrei-
ten. Wollen wir solche Erfahrungen wirklich aufnehmen, so verlangt dies eine
Transformation der grundlegenden Strukturen unseres Verhaltens und unseres
Selbstverhältnisses“ (2003, 10).
Wir gehen davon aus, dass angesichts der Kontingenz moderner Biographien
Vorstellungen von kontinuierlichen Prozessen der Entwicklung auf dem Hinter-
grund fraglos gültiger Normalitätsmuster des Lebenslaufs nicht mehr als realis-
tisch bezeichnet werden können. Ganz im Gegenteil: Welt- und Selbstverhält-
nisse werden „ständig in Frage gestellt, destabilisiert oder gar völlig außer Kraft
gesetzt“ (Koller 2005b,138).
Es gibt Krisensituationen (vgl. Kapitel 4), in denen wir in solche umwälzen-
den Veränderungen gerissen werden. Existentielle Angst, Zusammenbruch, Zer-
störung, Erschütterung sind die Begleiterscheinungen solcher Widerfahrnisse.
Das wären in der Tat Erlebnisse, die einen radikalen Kern haben, eine Neuheit,
die „aus dem Bisherigen nicht abgeleitet werden kann“ (Koller 2005b, 138).
Wird der Bildungsbegriff mit solchen Problemlagen assoziiert, in denen dann
das Welt- und Selbstverhältnis „destabilisiert oder gar völlig außer Kraft gesetzt
wird“ (Koller 2005b, 138), so ließe sich ein solches Krisenkonzept wohl kaum
für den Bereich des schulischen Lernens reklamieren.
Die Frage ist auch, ob sich ein Verstehenskonzept diesem krisenhaften Mo-
ment gewachsen zeigt. Hier überwiegt in der Form des geisteswissenschaftli-
chen Verstehenskonzepts möglicherweise die Leitvorstellung, als könnte die
Pluralität der Lesarten und Zugänge schließlich in harmonischer Weise über-
einkommen.

89
A. Combe, U. Gebhard, Verstehen im Unterricht, DOI 10.1007/978-3-531-94281-0_10,
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
10 Verweilräume und Übergänge

So geht die klassische Form der geisteswissenschaftlichen Erfahrungs- und


Erkenntnisbildung in Gestalt des Ansatzes von Gadamer von der Vorstellung
aus, dass das Verstehen jeweils durch ein bestimmtes unvermeidbares Vorver-
ständnis geleitet wird. Die Interpretation ist nicht neutral, sondern interessiert.
Das Vorverständnis muss „an den Sachen“ geprüft, verworfen, bestätigt wer-
den (vgl. Gadamer 1960, 251f.). Es wandelt sich im Zuge des Verstehensvor-
gangs und der Abarbeitung und Überprüfung am Text, ja muss sich wandeln,
will das Verstehen nicht den der Sache eigenen Sinn verfehlen. In den Schritten
der sukzessiven Korrektur und Weiterentwicklung des Verständnisses und der
Überprüfung am Text reift das Wissen um die Eigenheit des vorliegenden Tex-
tes – wenn auch nur unter der Voraussetzung der Fähigkeit zur Kritik und Selbst-
kritik. Denn das bedeutet, „dass ich in mir etwas gegen mich gelten lassen muss,
auch wenn es keinen anderen gäbe, der es gegen mich geltend machte“ (Gada-
mer, 1960, 343). Allerdings ist das Verstehen „nicht so sehr als eine Handlung
der Subjektivität zu denken“ (1960, 272). Auch und vor allem bedarf es des Ge-
sprächs, in dem die Differenzen artikulierbar und aushandelbar sind.
In den Texten Gadamers wird der Optimismus spürbar, den er bezüglich des
Gesprächs hegte, wo auch das Eigene und Vertraute fraglich und kritisierbar
werden muss. Interpretationsbedürftig ist gerade angesichts dieser Öffnung ge-
genüber der Selbstkritik und Vielfalt von Deutungen Gadamers Vorstellung, es
kristallisiere sich zunehmend eine „Einheit des Sinnes“ (1960, 251f.), ein Ein-
rücken des Gegenstandes in eine Text und Leser übergreifende historische Kon-
tinuitätslinie heraus. Gadamer plädiert also für ein offenes Einlassen auf ein
Gespräch, weil anders der eigene Horizont nicht erweitert wird. Seine hermeneu-
tische Theorie des Verstehens ist allerdings mit großem Vertrauen in die Kraft ei-
nes gemeinsamen Überlieferungszusammenhangs ausgestattet. Neuere „dekon-
struktivistische“ Ansätze registrieren eher die Grenzen, ja die Unerreichbarkeit
solchen Einklangs. Sie sehen Anlass, die Möglichkeit des Widerstreits, der letzt-
endlichen Anerkennung und Explizitmachung von Unterschieden einzuklagen,
ja diese systematisch und methodisch abzusichern (vgl. Angehrn 2004, 231f.).
So kann jene Strategie verstanden werden, die wir im Kapitel 4 mit dem Be-
griff der „Entselbstverständlichung“ beschrieben haben. Wir haben zum Aus-
druck gebracht, dass sich jene bis zur Erschütterung gehende Resonanz im Be-
reich der ästhetischen Erfahrung, die wir als Vergleichsfall heranzogen, nicht so
ohne weiteres auf den Kontext des Unterrichts übertragen lässt. „Das Ästheti-
sche“ sei für die „pädagogische Kiste“ zu sperrig, soll schon Mollenhauer nach
Auskunft von Gunter Otto (1998, Bd. 1, 9) gesagt haben (vgl. auch Mollen-
hauer 1988). Die von uns verfolgte Devise ist: Es gilt durchaus, das Wissens-
und Verständnisniveau der Schüler unter Veränderungsdruck zu setzen, aber so,
dass diese mitspielen und mitdenken können, und das heißt: die Irritationen sich

90
10 Verweilräume und Übergänge

selbst zu eigen machen können – was dann der von uns reklamierte Punkt der
„Nachdenklichkeit“ (und nicht Erschütterung!) wäre (vgl. Kapitel 3). Dabei ler-
nen die Schüler durchaus mit der Möglichkeit von Perspektivenwechseln zu
rechnen, sofern sie immer wieder exemplarische Erfahrungen machen, dass die
Lehrer ihre Verstehensbemühungen auch wahrnehmen, aufgreifen und schätzen.
In der Schule treffen wir dabei auf „Fachkulturen“ mit unterschiedlichen
„Wirklichkeitskonstruktionen“ und „Problemsichten“ (Huber 1991). Somit
muss sich die Frage nach verständnisintensiven Prozessen auf die Spannung
und Differenz zwischen der Eigenwelt und den Alltagsvorstellungen der Schü-
ler einerseits und dem kulturellen Allgemeinheitsanspruch der fachlichen Ge-
genstände und Gehalte andererseits beziehen lassen. Es gilt, sich dieser Eigen-
dynamik einer gegenüber dem Erfahrungssubjekt abgehobenen Fachkultur zu
vergegenwärtigen. Das ist die von der Schule zu erbringende Generalisierungs-
leistung: alle Schüler sollen tendenziell auf Grundlagen des gesellschaftlichen
Wissens zurückgreifen können und damit zur Teilhabe befähigt werden. Dies
ist die eine Seite, diejenige der objektivierten Welt, die dem Schüler oft wie
ein Berg gegenüberstehen mag. Andererseits muss diese Ausgangssituation un-
ter dem Blickwinkel einer Verstehenssituation betrachtet werden. Verstehen ist
nicht nur ein Abbilden dessen, was objektiv gegeben ist. Wir spiegeln ja beim
Erkennen und Verstehen die Merkmale der Dinge nicht photomechanisch ab,
so wie sie „an sich“ sind, sondern Gegenstandserfahrungen müssen erst aufge-
baut werden. Vor dem Hintergrund oft sehr verschiedener Anregungsgeschich-
ten, Prägungen und Einbindungen der Schüler lässt sich sagen: dieses Verstehen
ist zunächst ein ganz und gar individueller Konstruktionsprozess. Denn immer
mehr wird deutlich, dass das Subjekt hier eine aktive Rolle innehat und dem
Subjektiven zugehörige Komponenten, wie etwa ein Probedenken und ein ge-
dankliches Austesten eines Sachverhalts oder Problems tragend sind. Daraus
folgt natürlich weder logisch noch empirisch, dass alle Sachverhalte Produkte
unseres Erkenntnisvermögens sind. Es genügt nicht, so sagten wir oben, über
diese Gegenstände nur auf das Geradewohl zu reden. Dieser Eigensinn der Ge-
genständlichkeit macht sich immer auch als Widerständigkeit bemerkbar.
Es geht also letztlich beim Verstehen nicht um einfache dichotomische Ver-
teilungen, hier das Subjekt, und da die objektivierte Fachwelt. Vielmehr haben
wir Argumente dafür beigebracht, dass es beim Verstehen gilt, Übergänge zwi-
schen dem Allgemeinem und dem Besonderem zuzulassen und in den Über-
gangsräumen um des Verstehens willen zu verweilen. Der Dualismus kann nur
aufgehoben werden, wenn, wie Oskar Negt sagt, „konkrete Berührungsflächen
zwischen der Alltagsspekulation des Kindes und den organisierten Angeboten
(geschaffen werden), die dieser Alltagssituation nie ganz fremd sein dürfen“
(1982, 134). Negt gibt auch in dieser Formulierung die antinomische Spannung

91
10 Verweilräume und Übergänge

wieder, die dieser Leistung der Schule zu Grunde liegt. Eng mit einer theoreti-
schen Klärung hängt nun zusammen, was die Schule hinsichtlich dieser Kluft
zwischen Alltags- und Fachwelt an praktischen Möglichkeiten entwickelt hat.
Wir setzen, wie der Ansatz der didaktischen Arbeit mit Alltagsphantasien
zeigen wird, auf kooperative Deutungsvorgänge, bei denen die Zugänge der an-
deren als Spiegelfläche dienen, in der sich das Eigene in einer bisweilen irri-
tierenden Weise reflektieren lässt. „Am Nebenmenschen lernt … der Mensch
erkennen“, heißt es in Freuds „Entwurf einer Psychologie“ (Freud 1895). Die
Erkenntnis eines Gegenstandes kann also im Spiegel der anderen reifen, in der
Auseinandersetzung und Abarbeitung von unterschiedlichen Perspektiven. Das
beginnt mit der Identifizierung von Ähnlichkeiten und Unterschieden sowie dem
Versuch, den Anspruch eines Gegenüber in der Vorstellung präsent zu halten
und dessen Perspektive weiterzuführen und auszugestalten. Schließlich kann
es bei diesem Austauschprozess zu einer auf der Metaebene liegenden Gegen-
einanderführung von Perspektiven kommen. Diese Gegeneinanderführung muss
keineswegs in bloßer Harmonie und Übereinstimmung enden. Sie kann gera-
dezu in die gegenseitige Anerkennung einer vielleicht sogar unüberbrückba-
ren Differenz münden. Das kann auch ein vertieftes Verstehen eines Sachver-
halts befördern.
Hier gibt es also Feinheiten des Austauschs, die einer besonderen Sensibi-
lität bedürfen. Auch in der von Hegel ausgehenden Anerkennungstheorie wird
darauf sehr deutlich hingewiesen (Honneth1992/2003). Es gilt aber nun – und
das ist ein Akzent unseres Ansatzes – diese Austauschprozesse im Blick auf
eine Theorie des Unterrichts konkret zu betrachten. Es müssen nämlich die in-
stitutionellen, der Vermittlung fachlicher Sachverhalte geltenden professionel-
len Beziehungen in ihrer Bedeutung für ein tiefes Verstehen gewürdigt werden
(Hericks 2006,118 ff.,2007; Helsper/Sandring/Wiezorek (2006); Ricken 2009).

10.2 Szenarien
Wir haben in Kapitel 9 ein Assoziationsfeld an Beispielen aus dem Unterricht
herangezogen, um diesem Austausch, der in einem hypothetischen Raum spielt,
näherzutreten. Die Beispiele und Fallgeschichten sind in anderen Forschungen
entstanden und erfüllen dort den Anspruch von Fallrekonstruktionen (hierzu
Wernet 2001; 2005). Als Fallgeschichten können sie in unserem Kontext eine
Art Mitvollzug ermöglichen und sollen erlauben, sich in die konkrete Situation
zu versetzen. Sie legen auch dar, was Kant als „Tunlichkeit“ von Handlungen
bezeichnet hat: sie zeigen, was möglich ist. Sie folgen dem Prinzip der Bestim-
mung von Zusammenhängen „aus dem entfalteten Besonderen heraus“, wie Os-
kar Negt sagt (1997, 210f).

92
10 Verweilräume und Übergänge

In der Fallgeschichte 9.1, einem lehrergelenkten Unterrichtsgespräch, ist die


Form von der Funktion her bestimmt: Was in einem einzelnen spezialisiertem
Wissensgebiet arbeitsteilig entwickelt und zu einem Lehrstoff zusammengefügt
wird, soll als systematische Grundlage möglichst allen Kindern zu Verfügung
gestellt werden. Bis in die sprachlichen, fokusdirigierenden Handlungsmuster
hinein geht es hier um die Darstellung und das Herausfiltern und Kenntlichma-
chen des Allgemeingültigen. Das Problem dieses Unterrichts besteht in Bezug
auf die Vermittlung zwischen objektivierten fachlichen Tatbeständen und Be-
griffen einerseits und dem sinnsuchenden und sinnentwerfenden Subjekts an-
dererseits darin, dass das Allgemeine gleichsam schlagartig, auf einen Blick er-
fasst werden soll, so, wie es schon Hegel ironisch kommentiert hat: Als ob „ich
nicht selber dächte, als ob ich diese Bestimmungen nicht selbst in meinem Den-
ken produzierte, sondern dieselben als Steine in dasselbe geworfen würden“
(Hegel 1970, 363). Als Schüler wird mir etwas als allgemeingültig vermittelt,
was eine Position in einer Fachkultur darstellt. Hier haben die Phantasien nur
eine Chance, wenn das Muster des fragend-entwickelnden Unterrichts aufgelo-
ckert wird, so dass Spielräume, gemeinsame Verhandlungen über Sinn und Gel-
tung von Perspektiven entstehen können.
Dass ein Begriff nicht aus sich selbst und auch nicht von allen Schülern auf
eindeutige Weise verstanden werden kann, zeigt das Beispiel 9.2. Die Fragen
des Schülers Marco beziehen sich auf Störerfahrungen auslösende Formulie-
rungen des Arbeitsauftrages eines Lehrers. Mit den Fragen tritt das Subjekt auf
den Plan. Es sind Versuche abzutasten, in welcher Hinsicht ein Tatbestand ver-
standen bzw. abgearbeitet werden soll. Mit seiner Frage startet der Schüler eine
Deutungsinitiative. Man kann verfolgen, wie hier in immer neuen Anläufen und
Szenarien vor dem „geistigen Auge“ mögliche Perspektiven und Erfahrungsla-
gen entworfen, abgestimmt und zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. Hier
gewinnt ein mentaler Vorstellungsraum an Volumen, und das nicht Fassbare
wird mental durchdrungen. Ohne solche von Phantasien inspirierten Anläufe
werden Netze zwischen alltagssprachlichen Deutungssystemen und den fach-
sprachlichen Sinnmustern nicht zu knüpfen sein.
Überhaupt ist die Annäherung oder der Zugang zu einem fachlichen Bereich
und Thema kein neutrales Vorkommnis, kein bloßes Registrieren und Konsta-
tieren. Immer ist die Frage virulent, was einen die Dinge angehen. Bedeutun-
gen, und seien sie noch so vorläufig, vorschnell, ja fehlgehend, führt der Ler-
nende immer schon mit. Immer gilt es – und Unterrichtsanfänge sind hierfür
oft viel zu eng geführt – wie in der Kunst, Gegenwart und sinnliche Präsenz ei-
nes Gegenstandes erst zu schaffen. Natürlich ist das alles nicht unbekannt. Man-
ches, was altbekannt scheint, muss neuen Bedingungen in neuer Weise abgerun-
gen werden.

93
10 Verweilräume und Übergänge

Uns interessieren Situationen, wo es zu einem flüssigen inneren Austausch


zwischen subjektiver Empfindung und einem Lerngegenstand kommt, wie im
Fall der Lehrerin (9.5), die gleichsam dem Gedanken folgt, dass Lernprozesse
im Unbewussten beginnen und einen sinnstiftenden Unterbau haben, der sich
aus Phantasien, Intuitionen und unbewussten Repräsentanzen nährt. Ob man ein
Bild riechen könne, so die überraschende Frage der Lehrerin. Wir sind in diesem
Falle übrigens abgewichen davon, einen protokollierten Unterrichtsverlauf zum
Ausgangspunkt zu nehmen. Wir stützen uns hier auf die Erzählung der Lehre-
rin, auch in der Annahme, dass solche Erzählungen als Prozesse der Erfahrungs-
bildung nicht ungehört verhallen sollten.
Es bleibt, trotz dieses die Schüler sichtlich beeindruckenden szenisch-sinnli-
chen Ankers die Aufgabe der Lehrerin, ein konsistentes Begriffssystem auch zu
dieser, im Bereich der Gesellschaftslehre angesiedelten Thematik aufzubauen.
Es gilt, bei aller Öffnung einer inneren Welt und des emotional-intuitiven Reso-
nanzerlebens nicht in Emotionen zu versinken, sondern diese auch wieder aus-
zulösen und an eine begrifflich objektivierte Welt anzubinden. Diesem Sach-
verhalt ist der Ausschnitt aus einer Mathematikstunde im Grundschulbereich
gewidmet (9.3), wo die Bewegung des Unterrichts sofort zur alltäglichen Nähe,
Erfahrung und szenischen Sättigung strebt, aber der für den Sachverhalt zutref-
fende umfassende Begriff, vielleicht auch aus Gründen des mangelnden Zutrau-
ens zur Verarbeitungsfähigkeit der Kinder, außen vor bleibt. Dass diese in ih-
rer Schullaufbahn in mancher Hinsicht zu gewieften Hermeneuten werden, lässt
sich auch an dieser Fallgeschichte zeigen, wo die Schüler mit ihren je eigenen
Deutungen den latenten gegenständlichen Sinn und die Eventualreaktionen der
Lehrerin antizipieren.
In der Religionsstunde (9.4) wird das fachliche Kommunikationssystem ei-
nerseits nicht unterlaufen, anderseits wird ein Setting geschaffen, ja offenkun-
dig „gepflegt“, bei dem Lernende in sprachlichen Auseinandersetzungsprozes-
sen gemeinsam Wissen konstruieren können. Zugelassen wird eine Pluralität
der Perspektiven, ohne dass diese beliebig werden würden. Wir treffen den Leh-
rer einmal in einer moderierenden Funktion an, die bisherige Diskussion zuspit-
zend. Aber auch noch in einer anderen Rolle: Er scheut sich nicht, eine über-
greifende „religionstheoretische“ Sicht und Perspektive einzuführen – und zwar
an einer Stelle, wo dieses Allgemeine wenigstens annäherungsweise mit kon-
kreten Gehalten, Perspektiven und Beispielen gleichsam gesättigt ist. Der Ver-
weilraum im Austausch und in der Zulassung individuell differenzierter Pers-
pektiven führt aber – und das ist die Pointe dieser Szene – zu einer neuen Sicht
auf die vom Lehrer vertretene verallgemeinerungsfähige Objektivität. Der Leh-
rer formuliert seine Aussage aus einer Perspektive des generalisierten Anderen,
aber die hier vermittelte Einsicht erscheint nicht mehr als fertiges Wissen, son-

94
10 Verweilräume und Übergänge

dern als eine, die an vielfältigen von den Schülern eingebrachten Blickwinkeln
gebrochen ist. Um diese Grundstruktur auf den Begriff zu bringen, könnte man
sagen: Der Umgang mit Perspektiven ist hier demokratisiert!
Wir sehen in dieser Stunde auch, wie hier nicht der Lehrer sondern ein Schü-
ler die Rolle des advocatus diaboli spielt. Der Schüler versucht, die in die glei-
che friedfertige Richtung laufende Diskussion mit einer durchaus riskanten In-
tervention zu irritieren. Er macht dies, ohne einen ersichtlichen Schaden zu
nehmen, neben anderen Indizien ein Zeichen einer auch sehr durchgearbeite-
ten Gesprächskultur. Insofern dürften Lehrer und Schüler in dieser Klasse ei-
nen gemeinsamen Entwicklungsweg in der wechselseitigen gedanklichen und
sprachlichen Ausbreitung und der gemeinsamen vergleichenden Verarbeitung
von Perspektiven zu gehen versuchen. Indizien für diese verstehensorientierte
Interaktionsdynamik sind zum Beispiel, wenn Beiträge des einen Schülers von
einem anderen inhaltlich weitergeführt werden oder wenn in Zwischenbilanzen
Versuche der Perspektivenkoordination gemacht werden, die auf dahinter lie-
gende Prinzipien verweisen.
Wir haben nun in den Teilkapiteln dieser Arbeit herauszuarbeiten versucht,
dass das Verstehen zwar als spontanes Evidenzerlebnis verstanden werden kann,
aber auch mehrstufige, längere Wege erfordert, in denen Einsichten gewonnen,
Zusammenhänge erkannt oder frühere Ergebnisse revidiert werden können.
Bilanzieren wir nun kurz den mehrstufigen Prozess des Verstehens, sofern er
sich auf schulisch bereitliegende Verfahren bezieht. Wenn man so will, ist der
Inbegriff der in die deutschen Schulen eingedrungenen konstruktivistisch ver-
standenen Lernumgebung die Idee des Projektunterrichts (10.6). Um es vorweg
zu sagen: Allzu große Abarbeitungskrisen an den Widerständen und der Fremd-
heit des Themas „Mittelalter“ scheint es beim herangezogenen Projekt – und es
gibt wenige in dieser Art qualitativ rekonstruierte Studien – nicht gegeben zu ha-
ben. Vielmehr erwiesen sich die Schüler im Rahmen der sogenannten Präsenta-
tion als wahre Meister der Übertragung ihrer Alltagsstereotypen auf die fremde
Umgebung. Da diese short-cut-Urteile nicht durch Rückfragen irritiert wurden,
machten sie auch keine wirklichen Erfahrungsprozesse, in denen das Eigene ge-
genüber dem Fremden abgearbeitet und eine fremde Sinnwelt wirklich betre-
ten wird.
Aus schulischer Sicht wird nun oft unterschätzt, in welch vielfältiger Weise
und in welch ungewöhnlichen Verwendungskontexten der Projektbegriff eine
Rolle spielt und angesiedelt ist. So werden z.B. auch Paarbeziehungen, Kinder
oder das Leben als Projekt bezeichnet; neben der Wirtschaft ist die kulturelle
Produktion der Bereich, in dem die Projektform am stärksten ausgeprägt ist. In-
zwischen scheint es nahezu selbstverständlich, dass auch der Forschungsprozess
in Projektform gerahmt ist. Die Grundidee des Projekts lässt sich mit Anselm

95
10 Verweilräume und Übergänge

Strauss am Beispiel einer medizinischen Operation darstellen, in der Kompli-


kationen auftreten (vergl. hierzu auch Tolka 2009, 32). Der Routinebruch ist
eine entscheidende Bedingung dafür, damit sich ein Handlungszusammenhang
potentiell projektförmig entwickeln kann: Was von wem wann getan werden
muss, bedarf nun der interaktiven Generierung zur Durchsetzung und Evalu-
ation einer neuen gemeinsamen Lösungsidee! Im Sinne der von der Projekt-
idee aufgegriffenen Spannung zwischen Offenheit einerseits und fachsystema-
tischen Anspruch andererseits könnten hier Sachverhalte in lebendige Formen
der Annäherung zurückverwandelt werden, um an eine Formulierung von Hein-
rich Roth (1957, 116f.) anzuschließen. G. H. Mead hat derartige Prozessfor-
men als phantasiereiche, verstehensintensive Verarbeitung von Irritationen fol-
gendermaßen beschrieben: „Da gibt es das kaleidoskopartige Aufblitzen einer
Ahnung, die Dringlichkeit des Unpassenden, den unablässigen Fluss der Klei-
nigkeiten aller möglichen Objekte, die unangemessen sind, den immer erneuten
Zusammenstoß mit harten, unverrückbaren, objektiven Bedingungen des Prob-
lems, das übergreifende Gefühl der Anstrengung und Erwartung, wenn wir das
Gefühl haben, auf der richtigen Spur zu sein, längere Ruhepunkte, während de-
rer eine Vorstellung an Bestimmtheit gewinnt“ (Mead 1903, 129).

10.3 Die Schaffung hypothetischer Räume auf dem Boden von


Phantasie und Erfahrung
Wir gehen davon aus, dass das, was im Unterricht Sache wird, nicht schon im
Voraus feststeht. Wir haben ein bestimmtes Zusammenspiel von Schüler- und
Lehrerbeiträgen im Unterricht im Interesse eines verstehenden Lernens ins Zen-
trum gestellt. Wir sehen einen entschiedenen Bedarf an Hermeneutik: an ver-
gleichender Interpretation und Abarbeitung von Deutungsperspektiven und ei-
ner stärker relativierenden Bestimmung der Unterrichtsgegenstände. Bringt man
in Analogie zu einem auf den Politikunterricht bezogenen Entwurf von Edel-
stein/Fauser (2001) die dafür relevanten Lernelemente „verständnisintensiven“
Arbeitens auf den Begriff, so könnte man sagen:

„Es ist nicht erlaubt, den Schüler (…) im Sinne erwünschter Meinungen zu
überrumpeln und dabei an der Gewinnung eines selbständigen Urteils zu hin-
dern (…).
Was in Wissenschaft kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers er-
scheinen. Optionen und Standpunkte dürfen nicht unterschlagen werden. Der
Lehrer dürfte sogar die Korrekturfunktion haben, die Standpunkte und Opti-
onen, die Alternativen kenntlich zu machen, die in der Klasse vertreten sind.

96
10 Verweilräume und Übergänge

Selbständigkeit und Eigenarbeit der Schüler haben Vorrang vor den Formen
des Belehrens“ (2001, 30).

Das sind Voraussetzungen, auf denen der für die Abarbeitung von Deutungs-
mustern notwendige hypothetische Raum auf dem Boden von Erfahrung und
Phantasie entstehen kann. Im Vergleich hierzu ist, wie die Fallbeispiele zeigen,
nicht überraschend, dass die Fragen und Zugänge der Schüler im gelenkten Un-
terrichtsgespräch angesichts der fokusdirigierenden Fragen der Lehrkraft nur
eine geringe Rolle spielen, obwohl ja gerade das gelenkte Unterrichtsgespräch
auch ein gemeinsamer Denk- und Aneignungsweg ist, der bis zu einem gewis-
sen Grad Spielräume für sachliche Aushandlungen in Form von weiterführen-
den und vertiefenden Fragen sowie zum Paraphrasieren und Vergleichen bietet
(vgl. hierzu Lüders 2003; Meyer/Meyer 2005). Problematisch ist eher der Ein-
druck, hier würden immer fachlich eindeutige Wissensbestände vermittelt. Ge-
nau das schafft seitens der Schüler einen Abstand, wie das Beispiel aus dem
Deutschunterricht andeuten sollte, der oft nicht mehr überbrückbar und unein-
holbar erscheint.
Das Vergleichen von Perspektiven kann unter der Hand auch leicht zu einem
Angleichen werden, wobei die unterschiedlichen Blickwinkel der Schüler zwar
als unterrichtstaktischer Einstieg genutzt, aber schließlich von der in der Fach-
welt vorliegenden Deutung übertrumpft werden. Der Vergleich wird so zu ei-
ner „Aneignung des Anderen nach eigenem Maß“ (Matthes 1992, 84). Das ge-
naue Gegenteil will und vermag der Ansatz der Alltagsphantasien, wie wir im
abschließenden Kapitel zeigen werden. In der Religionsstunde (9.4) sehen wir
Spielräume für Verhandlungen und eine kontroverse Debatte gegeben. Das Ge-
sprächssetting hierfür ist gewiss kultiviert worden. Der Lehrer ist Moderator,
aber auch ein Gesprächspartner, der nicht alles besser weiß, obwohl er seinen
Beitrag – die Distanz zu den Schülern nicht einfach einebnend – als Perspektive
der kollegialen Fachwelt einführt. Die Religionsstunde (9.4) verweist zunächst
auf prinzipielle Erkenntnisse, die auch den Fall 9.6 strukturell kennzeichnen.

1. Was sich zeigt, ist, dass die Schüler überhaupt einen Ausdrucksmöglich-
keit für ihre eigenen Deutungen bekommen müssen: Erst im Moment des
selbständigen Austragens von Prozessen wird erkennbar, was die Schüler
mitbringen. Und erst dadurch ist gewährleistet, dass sie sich in ihren Äuße-
rungsformen wiedererkennen können und die Sachverhalte damit einen ih-
nen zurechenbaren subjektiven Anteil haben. Erst in unseren Äußerungsfor-
men „erfahren wir (...), was dieses Selbst ist, das wir verwirklichen“ (Joas
1992, 120).

97
10 Verweilräume und Übergänge

2. Die hermeneutische Arbeit mit Vergleichsfolien setzt eine längere Phase des
Erarbeitens von Basics voraus, so dass in der anschließenden kontroversen
Debatte gemeinsame Denkräume und Fragen entstehen können: ein tertium
comparationis, das den Vergleich überhaupt möglich macht. Das ist z.B. in
der Schlussrunde des Projekts (9.6) nicht sichtbar geworden. Der Unterricht
verlangt nach robusten Routinen des Übersichtslernens, aber gleichwohl
Sensibilität für aufbrechende Erfahrungsbewegungen.
3. Was die Ausdifferenzierung eigener und fremder Perspektiven anlangt,
scheinen die Schüler meist auf der Ebene der konkreten Erfahrung verhaftet
zu bleiben. Allerdings: Sie können im geübten Gesprächssetting der Religi-
onsstunde über die Folgen der Hypothese eines Schülers, der in der Rolle des
„Kriseninduzierers“ auftritt, nachdenken. Sie können andere Perspektiven
von ihren Annahmen her qualifizieren – wenn auch seltener auf eine Meta-
Ebene „hinter“ den Positionen eingegangen wird bzw. werden kann, in de-
nen bestimmte Denkprinzipien oder die Aspekthaftigkeit einer spezifischen
Hinsicht auf Wirklichkeit (vgl. Wagenschein 1976, 107; Hericks 1993, 7 ff.,
2006, 115) herausgearbeitet werden. Eine solche mit „Aspekthaftigkeit“ an-
gesprochene Ebene dürfte eher selten erreicht werden.

Die Frage, die hier aufgeworfen wird, ist, ob wir mit der Idee der Gegeneinan-
derführung von Deutungsperspektiven unter dem Blickwinkel der Debatte über
die Perspektivenübernahme nicht eine allzu schwierige intellektuelle Operation
ins Feld führen. Denn es handelt sich ja möglicherweise nicht nur darum, die
Unterschiede nebeneinander zu stellen, sondern diese auch in ihrer Verfasstheit
in einem Prozess offener Erfahrung und Phantasie vergleichend weiterzufüh-
ren, die dabei auftretenden Krisenkonstellationen und Irritationen durchzuste-
hen, sich auch in Distanz zu sich selbst zu setzen und gedanklich mit Möglich-
keiten zu experimentieren.
In der Religionsstunde (9.4) sehen wir, was möglich ist, nämlich nicht nur
die Wahrnehmung der Differenz von Perspektiven, sondern auch die eigene Aus-
gestaltung der Perspektive des je anderen bis hin zu einem auf der Metaebene
vollzogenen Zusammenschluss durch Nennung eines dahinterliegenden Prin-
zips. Damit haben wir die oben aufgeworfene Frage, ob wir eine allzu schwie-
rige intellektuelle Leistung der Perspektivenübernahme zum Kern unseres Ver-
stehenskonzepts machen, nicht generell beantwortet.
Wer nun an dieser Stelle die Wissenschaft etwa nach eindeutigen Altersan-
gaben befragt, begegnet einer Kontroverse, die mit Piagets Stufentheorie be-
gonnen hat. In den Worten und der Zusammenfassung Klaus-Jürgen Tillmanns
kann ein Jugendlicher mit ca. 11 bis 12 Jahren z.B. „nicht nur über Hypothesen
nachdenken und die möglichen Folgen abschätzen, sondern auch in allgemei-

98
10 Verweilräume und Übergänge

nem Sinne formale Operationen als „Operationen zweiter Ordnung“ nachvoll-


ziehen; über Gedanken nachdenken; hinter der Menge von Einzelfällen die all-
gemeinen Gesetze erkennen“ (Tillmann 1997, 90). Allerdings scheint empirisch
Übereinstimmung erzielt worden zu sein, dass Verzögerungen und Beschleu-
nigungen beim Durchlaufen der Entwicklungsstufen auf den Anregungsgehalt
der Umwelt zurückgeführt werden können, wobei dieser Anregungsgehalt wie-
derum mit der Struktur und Qualität der sozialen Interaktionen zwischen einem
sich entwickelnden Menschen und seinen Bezugspersonen oft gleichgesetzt
wird (Honneth 2007, 107). Ja, unter der Voraussetzung persönlicher Anerken-
nungsbeziehungen nimmt Tomasello an, die Erfahrung, dass andere je andere
Perspektiven auf Gegenstände (!) haben können, setze lebensgeschichtlich früh
ein. Tomasello (2003) spricht von einem „9 month miracle“(vgl. hierzu Ricken
2009; Honneth 2007).
Wenn wir nach dem Versuch der breiteren Verortung der Grundfigur der her-
meutischen Abarbeitung von Deutungsperspektiven wiederum die Unterrichts-
situation prüfen, so drängt sich der Eindruck ständiger Vergleiche auf, die sich
allerdings auf die Ebene der Leistungszuschreibung und Platzierung beziehen
und die nicht nur unter der Gruppe der Lehrer, sondern auch unter Schülern zur
ständigen Begleiterscheinung des Alltags gehören (vgl. etwa Zabarowski/Maier/
Breitenstein 2010). So lässt sich fragen, ob es denn überhaupt möglich ist, die
prinzipiell unabwendbaren Vergleiche der Schüler (…) auf die sachliche Arbeit
rückzubeziehen (vgl. Hericks 2007). Genau für diese Notwendigkeit und ihre
Ingredenzien wollen wir in dieser Arbeit den Blick öffnen: für die Öffnung hy-
pothetischer Räume auf dem Boden von Erfahrung und Phantasie. Es geht uns
darum, dass Unterschiede erkundet werden, und, wie wir wiederholt betont ha-
ben, darum, dass die Differenzerfahrung im Unterricht eingeholt wird. Und dies
heißt: sich und sein Verhältnis zur Welt zum Thema zu machen. Wird diese Dif-
ferenzerfahrung im Unterricht ausgelotet, ist dessen Persönlichkeitswirksamkeit
keine Phantasterei mehr. Die Deutung einer Sache im Unterricht schließt in die-
sem Sinne Positionierungen und Identitätsbezug ein. Zumindest dies lässt sich
zu bedenken geben: Die im Klassenzimmer ablaufenden Prozesse der Themen-
konstitution sind also nicht nur auf der bloßen Sachebene zu sehen, „sondern
zugleich die Anwendung einer Praktik, seine Identität so zu inszenieren, dass
sie von den für ihn bedeutsamen Gruppierungen bestätigt wird. Für den Akteur
steht, wenn er sich mit einem Beitrag in das Zentrum des themenkonstituieren-
den Geschehens vorwagt, die über seine Zugehörigkeit konstruierte Identität zur
Disposition“ (Rust/Thiemann 2003, 16).

99
10 Verweilräume und Übergänge

10.4 Zur „Tiefe“ des Verstehens


Wir stehen am Schluss dieses Kapitels über Verstehensprozesse im Unterricht
vor der Frage, wie sich die Qualität des Wissens und des Verstehensvorgangs un-
terscheiden und fassen lässt und was dabei als persönlichkeitswirksames Lernen
bezeichnet werden kann. Für die Interpretation dieser Lernebenen ist folgende
Unterscheidung hilfreich: zwischen einer oberflächlichen Verarbeitung, bei der
es vor allem um das Behalten von Informationen (z. B. durch Wiederholung)
geht, und einer Tiefenverarbeitung (Marton/Seljö 1984), in der etwa eine Um-
strukturierung und Verknüpfung von Vorwissen und neuen Inhalten stattfindet.
Auf dieser Ebene geht es darum, den Unterschied zwischen Neuem und Altem
in eigene Worte zu fassen oder durch eine Reihe von Beispielen zu illustrieren
und kritisch zu prüfen. Die auf das tiefere Verstehen ausgerichtete Lernhaltung
wird von Entwistle/Tait (1985) als Bedeutungsorientierung bezeichnet und von
einer Reproduktionsorientierung abgesetzt. Elaborationsstrategien, also Strate-
gien des Verknüpfens von Inhalten, Strategien der Generalisierung und zugleich
der Diskriminierung stehen bei der bedeutungsorientierten Haltung und bei dem
Versuch der Identifizierung von „distinktive approaches to studying“ im Vorder-
grund (Entwistle/Tait 1995).
Vor dem Hintergrund der entfalteten theoretischen Zusammenhänge und
auch der von uns kommentierten Unterrichtsbeispiele identifizieren wir fol-
gende Ebenen eines verstehenden Erschließens eines Lerngegenstandes, die für
Reichweite und Tiefe des Verstehens bedeutsam sind:

Ebene I: Sich von der Fremdheit des Gegenstandes bewegen lassen. Erfahrungs-
fähigkeit.
Auf dieser Ebene steht die Annäherung an den Gegenstand zur Debatte: die
Offenheit für die Revision von Überzeugungen, der Umgang mit der Krise im
Sinne erst zu fassender unklarer Problemlagen, Brüche und Irritationen. Es han-
delt sich also um eine grundständige Qualität, ohne die ein Tiefenschichten be-
rührendes Verstehen überhaupt nicht denkbar ist. Gleichwohl sind hier nicht
nur Voraussetzungen angesprochen, sondern auch Resultate durchgestandener
Lernkrisen. Wir haben in den vergangenen Kapiteln gesehen, wie sehr diese Ak-
zeptanz von Fremdheit davon abhängt, sich einer, von Irritationen inspirierten
Phantasie bedienen zu können, die den Wechselverkehr zwischen der inneren
und äußeren Welt erlaubt und entsprechende Übergänge zwischen Subjekt und
Gegenstand ermöglicht. Wir möchten im Sinne des flexiblen Wechselverkehrs
zwischer innerer und äußerer Welt von Erfahrungfähigkeit sprechen, die gera-
dezu die Erwartung des Überraschenden und Neuen einschließt.

100
10 Verweilräume und Übergänge

Ebene II: Sich seiner Verstehensrückstände vergewissern. Prozessfähigkeit.


Diese Ebene bezeichnet die Bereitschaft, das eigene Wissen als Verstehen zu
überprüfen und in Frage zu stellen. Man könnte von einem Monitoring des ei-
genen Verstehens sprechen. Fragen wie „Weiß ich das?“ und „Wodurch?“ spie-
len hier eine zentrale Rolle und kennzeichnen eine reflexive Haltung zum eige-
nen Lernen. Auf dieser Ebene liegt auch eine Form der Prozessfähigkeit, indem
ich beginne, einen unbekannten Erfahrungszusammenhang gleichsam zu um-
stellen, ihn im Bekannten einzugrenzen, mit ihm umzugehen und zu experimen-
tieren. Damit entsteht ein neues Verweisgefüge, das die Lücke im Wissensbe-
stand schließt. Bezog sich die erste Dimension des Verstehens auf den Umgang
mit der Krise, mit Irritationen und Brüchen, so bezieht sich diese Ebene auf den
kritischen und selbstkritischen Umgang mit Wissen insofern, als die Krise sozu-
sagen selbst erzeugt wird.

Ebene III: Den Eigensinn eines Faches und seine „Gegenstandskonzeption“


nachvollziehen können. Nachdenklichkeit.
Gemeint sind hier Einblicke in das, was in Zusammenhang mit dem Literali-
tätsgedanken als die „Natur“ oder das „Wesen“ des Faches beschrieben wird.
Eine solche Erkenntnis bzw. Erfahrung über eine spezifische, eigensinnige Form
des fachlichen Forschens und Wissens setzt den Einzelnen auch neu und an-
ders zur Welt ins Verhältnis. Denn erkannt werden kann diese „Aspekthaftig-
keit“ (Wagenschein 1976, Hericks 1993) eines Faches nur im Durchgang der
Rekonstruktion einer Differenz zu anderen kulturellen Lernbereichen. Auf die-
ser Ebene kann auch deutlich werden, dass allen eindringlichen Versuchen des
Verstehens eine normativ-wertende Dimension innewohnt. Berührt wird auf
dieser Ebene nicht nur die Frage, was ein Sachzusammenhang in seiner the-
matischen und methodischen Ausprägung in einem übergreifenden (etwa: ge-
sellschaftlichen) Relevanzrahmen bedeutet. Berührt wird zugleich auch die Be-
deutung eines Gegenstandes für mich als Person.
Man könnte nun die beiden ersten Ebenen im Anschluss an das Forschung-
feld über selbstregulative Strategien als zentrale Voraussetzungen bezeichnen,
einem krisenhaften Bildungs- und Erfahrungsprozess standzuhalten. Auf der
dritten Ebene ergibt sich ein persönliche Tiefenschichten berührendes Verste-
hen einer Sache, aus der die Person in ihrer Selbst- und Weltsicht verändert her-
vorgeht.
Solche Prozesse können uns berühren, gerade weil sie uns konfrontieren. Es
sind jene „fruchtbaren Momente“, in denen sich ein Zusammenhang herstellt
und „Persönliches im Erkenntnisinteresse“ (Negt 1997, 216) sichtbar wird. Eine
Hellsichtigkeit entsteht, als könnten wir mit einem Blick das So-Sein einer Sa-
che sehen. Aus zusammenhanglosen Fragmenten fügt sich eine neue Erkennt-

101
10 Verweilräume und Übergänge

nis und das erfahrende Subjekt erlebt sich zudem in der Beziehung zu einem
Allgemeinen. Dewey schreibt: „Wird eine dunkle Landschaft von einem Blitz
erhellt, so lassen sich die Gegenstände einen Moment lang erkennen. Das Er-
kennen selbst ist jedoch kein bloßer Punkt in der Zeit. Es ist der Gipfel und der
Brennpunkt langer, allmählicher Reifungsprozesse. Es bedeutet das Hervortre-
ten des Zusammenhangs zwischen einer geordneten zeitlichen Erfahrung und
einem plötzlich auftretenden, einzelnen, momentanen Höhepunkt“ (1980, 33).
Aber das Plötzliche in solchen bildenden Momenten täuscht. Lange Prozesse
der Suche und des Testens sind vorausgegangen.

102
11 Der Ansatz der Alltagsphantasien

11.1 Phantasien und die Konstituierung des Lerngegenstands


Bei gegenstandsorientierten Lernprozessen geht es um eine Beziehung des Men-
schen zur Welt und zu sich selbst. Gerade bei bildungs- und persönlichkeits-
wirksamen Lernprozessen gilt es, diese Beziehung nicht aus dem Auge zu ver-
lieren. In einem wohlverstandenen Sinne berührt diese Gegenstandsbeziehung
auch das, was wir mit Interesse bezeichnen können: Interessen haben nämlich
etwas mit unserer Person zu tun. Wofür wir uns interessieren, ist Teil unseres
Selbstkonzepts, und das ist insofern in einem noch viel tieferen Sinne bildungs-
wirksam als nur im Hinblick auf die Effizienzsteigerung von Lernprozessen.
Wenn wir uns mit etwas beschäftigen, wofür wir uns als Person interessieren,
können wir diese Tätigkeit bzw. solche Momente als sinnvoll interpretieren, es
ist Merkmal eines „guten Lebens“.
Es verwirklicht sich nämlich in jeder Aneignung von Lerngegenständen, von
Wirklichkeit überhaupt, auch eine Möglichkeit der Subjekte. Alle Dinge haben
subjektive Bedeutungen und Valenzen, die zudem in sozialem und kulturellen
Ausstausch ausgeformt werden. Damit formen sie über das rein Faktische hin-
aus unser Selbst. Mit jedem objektiven „Stoff“, den wir an Kinder und Jugend-
liche herantragen, beeinflussen wir auch ihre Persönlichkeits- bzw. Identitäts-
entwicklung. Es ist also davon auszugehen, dass sich Lerngegenstände erst im
Zusammenspiel von „objektiver“ Bedeutung und dadurch aktualisierten (intui-
tiven) subjektiven Vorstellungen als solche konstituieren. Das genau ist Gegen-
stand des Ansatzes der Alltagsphantasien.
Wir sind in den bisherigen Kapiteln davon ausgegangen, dass wir mehr
über das Verstehen im Unterricht wissen müssen. Phantasien haben wir dabei
als eine Art „Plattform“ oder „Stützbalken“ für das Verstehen von oft weit von
der subjektiven Bedeutungswelt entfernten Gegenständen konzeptualisiert. „Er-
fahrung“ bezeichnet dabei gewissermaßen den Gesamtprozess, wobei die von
Irritationen inspirierten und zugleich ihrerseits irritierenden Phantasien eine
zentrale Rolle spielen. Aus unserer Sicht einer Erfahrungstheorie des Lernens
gilt es, den Bezug zu Lerngegenständen so zu ermöglichen, dass sich an ihnen
innere Seelenzustände abbilden können. „Der Stoff, an dem ich meine Seele
übe“, sagte Alexander Humboldt dazu. So geraten Erfahrungen in den Blick,
die eine innere Bewegung in Beziehung zu einem Lerngegenstand ermöglichen.

103
A. Combe, U. Gebhard, Verstehen im Unterricht, DOI 10.1007/978-3-531-94281-0_11,
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
11 Der Ansatz der Alltagsphantasien

Der Übergang bzw. die Vermittlung zwischen der Logik der Wissenschaft und
der Logik der Erfahrung und der Phantasie erfordert eine didaktische Haltung,
die die Phantasien und Konnotationen, die Symbolisierungen, die ein Lernge-
genstand auslöst, nicht als unpassendes Ornament des eigentlichen Lernstoffes
denunziert (Gebhard 1999a; 2003; Combe/Gebhard 2007). Schon unter diesem
Blickwinkel darf das Konzept der Alltagsphantasien, das wir nun darstellen wol-
len, als Prototyp des Erfahrungslernens gelten.
An Stellen, wo gewissermaßen der Unterbau des Lernens angesprochen ist,
setzt also die Theorie der Alltagsphantasien an. Der Lerngegenstand wird in ei-
nen Spielraum des Möglichen versetzt. Der Rückgriff auf vergangene Erfahrun-
gen fügt einem Lerngegenstand insofern eine neue, zukunftsträchtige und meist
lösungsrelevante Dimension hinzu.
Alltagsphantasien verstehen wir als Andockpunkte und Teil einer „Annähe-
rungsarbeit“ an den Gegenstand. Die Mobilisierung von Phantasien ermöglicht
darüber hinaus, festgefahrene Gegenstandsbezüge zu „modalisieren“ (Koke-
mohr 1985). Die explizite Reflexion von durch den Lerngegenstand ausgelösten
Phantasien und intuitiven Deutungsmustern vertieft das gegenstandsbezogene
Lernen vor allem deshalb, weil unbewusste und bewusste, subjektivierende und
objektivierende Erfahrungsbewegungen aufeinander bezogen werden. In die-
sem Zusammenhang verweist eine Erfahrungstheorie auf ein weiteres zentrales
Problem des Erfahrungs- und Sinnaufbaus im Bereich des fachlichen Lernens.
Es handelt sich um die Vergewisserung über den Umgang mit den Bruchstellen,
die zwischen den konkreten Erfahrungssubjekten einerseits und der Eigenlogik
der fachlichen Wissenssysteme bestehen, die sich im Status ihrer Allgemeinheit
von der Konkretion der einzelnen Lebenswelt gelöst haben, ja um der Allge-
meinverbindlichkeit willen lösen mussten.

11.2 Was sind Alltagsphantasien?


Das didaktische Konzept „Alltagsphantasien“ (Gebhard 2007) zielt auf ein ver-
tiefendes Verständnis der individuellen Aneignungs- und Bewertungsprozesse
in der Auseinandersetzung mit fachlichen Inhalten und stützt sich neben den
ausgeführten theoretischen Zusammenhängen (Phantasien, Unbewusstes, Er-
fahrung, Symboltheorie) auf subjektorientierte Ansätze der Vorstellungs- und
Interessensforschung, die die Bedeutsamkeit individueller Zugänge und Verar-
beitungsprozesse hervorheben (Krapp/Ryan 2002, Duit 2006). Alltagsphanta-
sien als besondere Form von Alltagsvorstellungen beeinflussen fachliches Ler-
nen und deren Explikation kann mit einem Zugewinn an Sinnbezug, Personnähe
und Aufmerksamkeit einhergehen. Biologische Themen beispielsweise, die an
den „Kern“ des Lebens und der lebendigen Natur rühren, können ein reichhal-

104
11 Der Ansatz der Alltagsphantasien

tiges Spektrum an Vorstellungen, Hoffnungen und Ängsten aktivieren. Dieses


Spektrum aktivierter Kognitionen umfasst sowohl explizite Vorstellungen, die
im Fokus der Aufmerksamkeit liegen und die sprachlich artikuliert werden kön-
nen, als auch implizite Vorstellungen, die sich in Form von Assoziationen, Intui-
tionen oder Gedankenexperimenten äußern. Diese „Phantasien“, die eine andere
Qualität haben als die in der Fachdidaktik normalerweise anvisierten Alltags-
vorstellungen, sind mit dem Begriff der „Alltagsphantasien“ gemeint. Mit dem
Begriff „Alltagsphantasien“ soll sprachlich markiert werden, dass es sich hier-
bei um eine besondere Form von Alltagsvorstellungen handelt. Neben inhaltli-
chen Gründen der Begriffswahl hat die Bezeichnung „Phantasien“ den Effekt,
die vielerorts routiniert wirkende Rede über Alltagsvorstellungen, schülerorien-
tierten Unterricht in ihrer Selbstverständlichkeit aufzubrechen und für die Tie-
fendimension fachübergreifender Inhalte und impliziter Vorstellungen zu sensi-
bilisieren.
Alltagsphantasien verweisen also auch auf eine bislang nur selten themati-
sierte Ausgangssituation des Lernens: Lernen hat danach – schon lange, bevor
wir sprachlich und explizit reagieren – in einem unbewussten (impulsiv infor-
mationsverarbeitenden) System immer schon begonnen (vgl. Combe/Gebhard
2007, 49ff.). Und die Alltagsphantasien fassen wir in diesem Kontext gleichsam
als „Abkömmlunge des Unbewussten“ (vgl. Kapitel 5) auf. In der Schule wird
nämlich mehr gelernt, als curriculare Vorgaben, seien sie auch noch so durch-
dacht, sich träumen lassen (vgl. Lehmkuhl 2002, Walter 2002). Unabhängig,
gleichsam unter den offiziellen Versionen, gibt es nämlich die – da sich aus un-
bewussten Quellen speisend: subversive und bisweilen auch beunruhigende –
Schicht der Alltagsphantasien.
Alltagsphantasien gehen zum Teil weit über die jeweils thematisierte fachli-
che Dimension hinaus, sie treten eher als implizites denn als explizites Wissen
in Erscheinung und nehmen aufgrund ihrer Bedeutungstiefe (sie beinhalten As-
pekte des Selbst-, Menschen- und Weltbildes) Einfluss auf Werthaltungen, Inte-
ressen und Verhaltensweisen.
In unseren Untersuchungen (siehe unten die inhaltlichen Beispiele in 11.4)
hat sich gezeigt, dass Alltagsphantasien neben bzw. geradezu durch ihren intu-
itiven und azzoziativen Charakter implizit Menschen- und Weltbilder transpor-
tieren (Gebhard 1999 b, 2002 a u.b, 2007, 2009, Gebhard/Mielke 2002, 2003).
Solche Menschen- und Weltbilder sind im Zuge der ontogenetischen Krisen-
bewältigungen eines sehr spezifischen Sozialisationmilieus erworben (Oer-
ter 1999) und erweisen sich auch in der Regel als persönlichkeitsbildend. „Im
Rahmen ihres Weltbildes verständigen sich die Angehörigen einer Sprachge-
meinschaft über zentrale Themen ihres persönlichen und gesellschaftlichen Le-
bens“ (Habermas 1988, 93). Damit gewährleisten sie die Möglichkeit „of ma-

105
11 Der Ansatz der Alltagsphantasien

king sence of human life“ (Habermas 1988, 94). Habermas weist zusätzlich auf
eine mit dieser Funktion verbundene Immunisierung gegen Deutungsalterna-
tiven hin, weil sie die Individuen „mit einem Kernbestand von Grundbegrif-
fen und Grundannahmen versorgen“ (Habermas 1988, 100). Dabei können die
„subjektiven Welten ... als Spiegelflächen dienen“ (Habermas 1988, 106). Die
explizite Reflexion der Alltagsphantasien verflüssigt somit auch diese Spiegel-
flächen und trägt damit zu einer geradezu philosophischen Tiefe in der Ausein-
andersetzung mit Lerngegenständen bei. Die oft intuitiven, nicht immer bewusst
verfügbaren Zugänge der Schüler müssen dabei der Kommunikation und Re-
flexion mit anderen zugänglich gemacht werden, ein Prozess, in den auch die
fachlichen Perspektiven gleichsam als strittiger Fall einbezogen werden. Die Er-
fahrungsbewegung weist damit eine Verschränkung zwischen subjektiven und
objektiven Momenten auf, in denen Phantasieaktivitäten als oszillierendes Me-
dium eine zentrale Rolle spielen.
Alltagsphantasien aktivieren also seitens der Schüler ein implizites, kultu-
relles Wissen und eine ihrem gesellschaftlich-kulturellen Umfeld entsprechende
Wahrnehmung. Durch die explizite Thematisierung der Alltagsphantasien, die
ein Lerngegenstand hervorruft, kann ein Bezug zwischen fachlichem Wissen
und lebensweltlichen Vorstellungen und kulturellen Bildern begünstigt werden.
Vorraussetzung dafür ist allerdings, dass diese kulturellen Bilder immer wie-
der aktiviert und im Verhältnis zur wissenschaftlichen, fachsprachlichen Deu-
tung qualifiziert werden. Damit sind wir wieder beim Problem des Übergangs
von lebensweltlichen und fachsystematischen Vorstellungen angelangt, für des-
sen Lösung wir im folgenden die Kultivierung einer gewissen „Zweisprachig-
keit“ vorschlagen.

11.3 Alltagsphantasien und Zweisprachigkeit


Häufig wird die Rationalität des wissenschaftlichen Zugangs zu den Phänome-
nen der Welt positiv abgehoben von als naiv oder irrational geltenden lebens-
weltlichen Vorstellungen. Diese Gegenüberstellung birgt das Risiko, dass die
lebensweltlichen Vorstellungen aus der Kommunikation ausgeschlossen oder al-
lenfalls zu Motivationszwecken in der Einstiegsphase des Unterrichts nur ober-
flächlich gestreift werden. Für den Ansatz der Alltagsphantasien ist dagegen die
Grundannahme wichtig, dass beide Wirklichkeitszugänge – der wissenschaft-
liche und der lebensweltliche – als komplementäre Rationalitäten verstanden
werden. In beiden Fällen handelt es sich um Versuche, Phänomene der Welt be-
züglich ihrer Zusammenhänge und Entstehungshintergründe zu verstehen und
damit in Auseinandersetzung mit fachlichen Inhalten einen Sinn zu konstituie-
ren (Gebhard 2003).

106
11 Der Ansatz der Alltagsphantasien

Das Lebensweltkonzept ist sehr vielschichtig; vom Verstehen her gedacht


geht es dabei um eine Art von Erkenntnis, die vor und neben den wissenschaft-
lichen Erkenntnisformen existieren, ohne die wir uns in alltäglichen und prag-
matischen Handlungs- und Urteilszusammenhängen nicht hinreichend erfolg-
reich bewegen könnten. Es geht hierbei um ein unmittelbares und intuitives
Mit-etwas-Zurechtkommen oder Auskennen. Unterschiede zwischen alltägli-
chem und wissenschaftlichen Verstehen resultieren aus dem Maß an Reflexion,
Systematisierung und Explizitheitsverpflichtung. Damit verbunden ist ein dar-
auf bezogener Vorrat an professionellem Sonderwissen und ein geschärftes Me-
thodenbewusstsein bei wissenschaftlich ausdifferenzierten Weltzugängen. Im
Zusammenhang mit der Lebensweltperspektive ist eine Diskussion darüber ent-
standen, ob der wissenschaftliche Alleinvertretungsanspruch auf Rationalität zu
halten ist. Wir meinen, man müsste im Bereich des Lernens mehr Sensibilität
entwickeln für Zugänge, die über ein reflexives Gegenstandsverhältnis hinaus-
gehen. Mit dem Ansatz der Alltagsphantasien betonen wir eine bestimmte Form
eines grundlegenden Sich-Einlassens auf ein Thema, eine In-Bezug-Setzung zu
einem Thema, das leiblich-affektive Resonanzen ebenso einschließt wie höchste
Reflektiertheit.
Zwar ist es in den meisten didaktischen Entwürfen inzwischen Konsens, die
wissenschaftlichen Konzepte und die alltäglichen Vorstellungen zu verbinden,
doch geht dies eben nicht wirklich, wenn die Alltagsvorstellungen gegenüber
den wissenschaftlichen Vorstellungen als irrational und zweitrangig gelten. Die
Folge ist eine bloße pädagogische Duldung der Alltagsvorstellungen, nicht je-
doch deren Anerkennung als notwendige und komplementäre Wirklichkeitszu-
gänge, ohne die auch die wissenschaftlichen Zugänge keinen Sinn machen wür-
den. Die objektivierende Aneignung wissenschaftlicher Zusammenhänge muss
sich nämlich auf die subjektivierenden Sinnentwürfe des Alltags, die oft intuitiv,
bilderreich, geschichtenreich und metaphorisch sind, stützen. Beide Bewegun-
gen – Annäherung (durch Subjektivierungen) und Distanzierung (durch fachli-
che Objektivierungen) – sind komplementäre Aspekte einer bildenden Ausein-
andersetzung mit Welt und Selbst. Was die Schüler an spontanen und intuitiven
Zugängen in der je individuellen In-Bezug-Setzung zu einem fachlichen Unter-
richtsthema artikulieren, wird schließlich auf der Ebene der Lerngruppe in sei-
nem Wechselverhältnis zwischen Subjektivierung und Objektivierung explizit
gedeutet und bearbeitet.
Wissenschafts- und Alltagssprache sind zwei unterschiedliche Symbolisie-
rungssysteme, die man weder gegeneinander ausspielen noch eine von beiden
bevorzugen sollte, wenn es gilt, das Denken und Handeln der Menschen in ih-
rem Alltag zu verstehen. In didaktischer Hinsicht geht es also um die Kompetenz

107
11 Der Ansatz der Alltagsphantasien

der „Zweisprachigkeit“ (Gebhard 2005). Jeder Versuch, eine Sprache eindeu-


tig zu machen (als Fachsprache), setzt die (mehrdeutige) Alltagssprache voraus.
In Anlehnung an die kulturpsychologische Terminologie von Boesch (1980)
werden mit der Perspektive der „Alltagsphantasien“ die Subjektivierungen und
die spontanen In-Bezug-Setzungen verfolgt, die ein Gegenstand auslösen kann.
Diese Subjektivierungen finden sich in Gestalt von symbolisch aufgeladenen
biographischen Vorstellungen und Geschichten, in denen Wünsche, Wertori-
entierungen, Befürchtungen und grundlegende Sinnzuschreibungen verdichtet
sind. Durch „Alltagsphantasien“ wird eine Transformation wissenschaftlicher
Erkenntnisse ins Alltagsdenken ermöglicht. Sie dimensionieren diese Erkennt-
nisse und reduzieren die Komplexität, wodurch objektivierte Fakten wieder zu
Elementen der Lebenswelt werden können (Beispiele siehe in 11.4).
Allerdings – und das muss unbedingt hinzugefügt werden – ist es nicht so,
dass die Phänomene objektivierenden Verhaltens und der Versuch, die in der
Kultur existierenden Weltbeschreibungen in objektivierender Weise darzustellen
und zu rezipieren, überflüssig wären. Es führt in den hoch formalisierten Wis-
sensbereichen – im Unterschied zum Alltag bzw. zur Lebenswelt – kein Weg
an der einschränkten Bedeutungsvariation von Begriffen vorbei. Die objektivie-
rende Fachsprache muss sich vom Alltagsgebrauch lösen, muss den Gegenstand
als Objekt vom Menschen gewissermaßen entfremden. Auch wir sehen die Not-
wendigkeit eines solchen distanzierenden Gegenstandsverhältnisses und dessen
Symbolisierung.
Zugleich aber betrachten wir diese erkenntnis- und wissenschaftstheoreti-
sche Lage unter dem Aspekt der „bildenden Erfahrung“. Hier ist, unter dem Ge-
sichtspunkt eines Bildungsprozesses, ein anderer Blickwinkel vonnöten. Indem
lediglich ein privilegiertes System von Beschreibungen vorgeführt wird, wird
einem möglichen Gespräch von vorneherein ein Ende gemacht. Und da eben
das Verstehen der Welt notwendig symbolisch vermittelt und nie unmittelbar ist,
so muss unter dem Gesichtspunkt der Aneignung eine Beziehung zu den sub-
jektiven Strukturen der Lernenden hergestellt werden, damit Lerngegenstände
eine persönliche Bedeutung gewinnen können. Genau dies will auch die vorlie-
gende Arbeit, ohne einseitig zu argumentieren, energisch in Erinnerung rufen.
Denn wenn man das Verhältnis zu den Naturwissenschaften unter den Bedingt-
heiten des Verstehens betrachtet, so ist auch hier die Annäherung an diese bzw.
das Verstehen ihrer Konzepte nichts anderes als eine Fortschreibung auch des ei-
genen Bildungsromans, geradezu ein verfeinerter, ausdifferenzierterer Diskurs
über sich selbst – sofern das Ringen um sachliches Verstehen Erfolg hat. Um
Bildung zu ermöglichen, muss man im Medium der Sacherfahrung auch eine
Erfahrung über sich selbst machen können.

108
11 Der Ansatz der Alltagsphantasien

Wir sind davon ausgegangen, dass sich das Problem der Bruchstellen zwi-
schen subjektivem Sinnkonzept einerseits und den fachlichen und fachsprach-
lichen Wissenssystemen andererseits, will man es weiter untersuchen und di-
daktisch bearbeiten, an der Schnittstelle von Sprachspielen aufgesucht werden
muss. Nicht die Zurückdrängung der einen Seite um der anderen willen scheint
die Lösung zu sein, sondern eher das Nebeneinanderstellen, die Zweisprachig-
keit, Formen einer produktiven, spannungsreichen Mehrfachkodierung und
mehrperspektivischen Sicht des Unterrichtsgegenstandes. Nicht nur ein Sprach-
spiel mit eingeschränkter Bedeutungsvariation der Fachbegriffe ist zugelassen,
sondern auch ein Konzept der „Familienähnlichkeit“ (Wittgenstein 1977). Die
alltägliche Form des Sprachspiels geht von unscharfen Rändern aus, von der
Begrenztheit, über die Identität und Verschiedenheit von Eigenschaften und
Merkmalen eine eindeutige logische Bestimmtheit eines Begriffs zu erreichen.
Alltagssprachlich stehen Begriffe und Vorstellungen vielmehr in einem losen
Verbund, der je nach Kontext und Situation aufeinander verweisen und ähnli-
ches einander zugesellen kann. Im Alltag können wir mit pragmatisch hinrei-
chender Sicherheit und auf Grund unserer Erfahrung mit Kontexten und Kon-
ventionen sagen, welche Verwendung eines Ausdrucks angemessen ist. Damit
ist aber die alltägliche Sprachverwendung – und darauf kommt es hier an –
für Anschlüsse, Resonanzen und Perspektiven offen. Was die besondere Pointe
einer solchen zweisprachigen Position ausmacht, ist allerdings, dass es keine
übergreifende Sicht gibt. Das Bildungserlebnis besteht darin, von einer Lesart
in die andere überwechseln zu können – und das immer wieder und hin und zu-
rück. Man experimentiert gleichsam mit Beschreibungen und Vokabularen: den
eigenen, und denen, die man bei anderen findet. Mit anderen Worten: Hier gibt
es keinen „Gipfelblick“ (Rorty 1987), um sich über die Vielfalt der Erscheinun-
gen zu erheben. Es gilt vielmehr im Sinne einer Grundhaltung, mit einer relatio-
nalen Bestimmung von Gegenständen und mit einer damit zusammenhängenden
nicht zu tilgenden Pluralität zu Recht zu kommen. Diese Pluralität wird sich nun
im nächsten Kapitel anhand einiger ausgewählter Beispiele zeigen.

11.4 Alltagsphantasien – Inhaltliche Beispiele


Wie kann man sich nun Alltagsphantasien inhaltlich vorstellen? Es geht um die
Phantasien, Intuitionen und Assoziationen, die durch einen (beliebigen) Lern-
gegenstand aktualisiert werden können. Man kann sagen, dass Alltagsphanta-
sien „wie ein Gerüst von Stützbalken das im Diskurs konstruierte Objekt tragen“
(Wagner 1994, 159). Um die Rekonstruktion und Konstruktion dieser „Stützbal-
ken“ geht es beim Ansatz der Alltagsphantasien. Diese Stützbalken sind – wie
gesagt – für Bildungsprozesse deshalb besonders wichtig, weil sie die kulturel-

109
11 Der Ansatz der Alltagsphantasien

len und sozialen Konzepte, unsere impliziten Welt- und Menschenbilder trans-
portieren. Zudem machen sie als Intuitionen natürlich nicht vor Fächergrenzen
halt. Im Gegenteil: durch die Einbeziehung der Alltagsphantasien erfährt der
Fachunterricht gewissermaßen eine kulturelle Einbettung und die explizite Re-
flexion der Alltagsphantasien eröffnet projektartige, fachübergreifendene Mög-
lichkeiten (Decke-Cornill/Gebhard 2007).
Um auf die Ebene der Phantasien und der latenten Sinnstrukturen zu gelan-
gen, bedarf es besonderer methodischer Zugänge. Deshalb haben wir ein Grup-
pendiskussionsverfahren als qualitative Forschungsmethode angewandt, das
Anregungen aus der Kinderphilosophie aufgreift (vgl. Gebhard, Billmann-Ma-
hecha, Nevers 1997). Insbesondere der von Matthews (1989) gut dokumentierte
Ansatz, durch das Vorlesen einer im Ausgang offenen Geschichte eine eigen-
ständige Diskussion anzuregen, hat sich in unseren bisherigen Forschungser-
fahrungen gut bewährt. Verschiedene, begründbare Positionen werden durch ein
kontrovers geführtes Gespräch zwischen zwei Jugendlichen in der Geschichte
repräsentiert.
Die Diskussionen werden wörtlich transkribiert und nach Verfahrensvor-
schlägen der grounded theory ausgewertet. Im Folgenden zunächst die Alltags-
phantasien, die auf der Grundlage von 30 Gruppendiskussionen mit Oberstufen-
schülern zum Thema „Gentechnik“ rekonstruiert wurden (Gebhard 2002 a u. b,
2009, Gebhard/Mielke 2002):

1. Das Leben ist heilig.


2. „Natur“ als sinnstiftende Idee.
3. Tod und Unsterblichkeit
4. Gesundheit
5. Dazugehörigkeit versus Ausgrenzung
6. Ambivalenz von Erkenntnis und Wissen
7. Der Mensch als homo faber
8. Der Mensch als Schöpfer
9. Mensch als Maschine
10. Perfektion und Schönheit
11. Individualismus
12. „Sprache der Gene“
13. Geld regiert die Welt

Diese Übersicht zeigt die Vielfalt und auch Vielschichtigkeit der Alltagsphanta-
sien. Die einzelnen Erzählungen sprechen natürlich nicht für sich, sondern müs-
sen in einem sorgfältigen hermeneutischen Prozess ausgedeutet werden. Das
gilt vor allem im Hinblick auf die impliziten Welt- und Menschenbilder. In den

110
11 Der Ansatz der Alltagsphantasien

folgenden Abschnitten werden nun beispielhaft die Phantasiekonstruktionen zu


„Natur als sinnstiftende Idee“ ausgebreitet.
Die Alltagsphantasie „Natur als sinnstiftende Idee“ ist bei der Auseinander-
setzung mit der modernen Gentechnik relativ häufig anzutreffen, insbesondere
in Form eines normativen Naturbegriffs. „Was natürlich ist, ist gut.“ Es handelt
sich hier um eine Argumentationsfigur, die in der Philosophie als klassischer
„naturalistischer Fehlschluss“ bezeichnet wird, die das Sein mit dem Sollen ver-
mengt. Im Hinblick auf das damit implizierte Menschenbild bedeutet dies, dass
die Natur zum Inbegriff einer normativen Instanz wird, die den Maßstab für mo-
ralische Urteile liefert. „Natürlich“ und „moralisch richtig“ fallen bei einer sol-
chen naturalistischen Ethik zusammen. Zum Beispiel: „Aber ich denke mal,
dass es von der Natur so gegeben ist, dass das so passiert ist.“ Oder: „Ich habe
gerade das Bild von Tieren im Kopf, ich weiß nicht, also wenn jetzt eine Ti-
germama ein Tigerbaby kriegt. Also sie kriegt vier Stück und eins davon ist
blind oder so, dann stößt sie es doch auch weg. Und ich weiß nicht, ich mein,
das ist Natur und dem Menschen ist es halt selber überlassen und ich schätz mal
nicht, dass es unbedingt negativ ist.“
Die normstiftende Funktion von Natur ist am verlässlichsten und unver-
brüchlichsten, wenn die Natur stabil und ewig ist. In diesem Zusammenhang er-
fordert der „Mythos Natur“ einen statischen Naturbegriff (Weltbild): „Die Na-
tur soll so bleiben, wie sie ist.“ Vor diesem Hintergrund ist es folgerichtig auch
„frevelhaft“, diese ewige und immergleiche Natur zu verändern. Im Gegen-
teil: entsprechend der innerhalb dieses Mythos vorherrschenden physiozentri-
schen Ethik ist die Natur hierarchisch über dem Menschen angesiedelt und der
Mensch darf sich nicht über die Natur stellen (Menschenbild). Einige Beispiele:
„Man soll der Natur nicht ins Handwerk pfuschen.“ – „Ich weiß nicht, ich finde,
wie haben die Natur schon genug verpfuscht und es sollen auch noch natürliche
Sachen bleiben.“ – „Das ist halt nicht natürlich, und das finde ich irgendwie ein
bisschen beängstigend.“
Indem der Naturbegriff in eine Allaussage überführt wird, wird er inhaltlich
entleert. Insofern Natur alles ist, werden auch seine traditionellen Entgegen-
setzungen (wie vor allem Technik und Mensch) in ihn aufgenommen. Mit dem
Hinweis auf Natur kann nun alles (und damit nichts) legitimiert werden: „Man
kann auch anders fragen, man kann auch sagen, dass das der natürliche, dass das
zur Natur gehört. Dass wir Menschen uns so weiterentwickelt haben, dass wir
in unsere eigene Natur eingreifen können, dass das ja ein natürlicher Prozess ist,
dass wir uns so weiterentwickelt haben, dass wir in der Lage sind, solche Krank-
heiten vorherzusagen. ... Der Mensch mischt sich eigentlich nur dann richtig ein,
wenn er das Leben nicht entstehen lässt.“

111
11 Der Ansatz der Alltagsphantasien

Im Zusammenhang mit der Alltagsphantasie „Natur als sinnstiftende Idee“


finden sich auch häufig evolutionäre Positionen und naturalistische Argumen-
tationsmuster. Besonders deutlich wird dies bei der Verwendung naturwissen-
schaftlicher, insbesondere evolutionsbiologischer Konzepte bei der Bewertung
der Gentherapie. Verbunden damit ist ein evolutionäres Menschenbild: „Für die
Betroffenen sicherlich gut, aber der Mensch ist auch nur ein biologischer Kreis-
lauf, den man nicht um Jahrzehnte aufhalten sollte.“ – „Für das Individuum eine
optimale Lösung. Für die Menschheit als Ganzes aber an sich nicht nur gut. Bis-
her gelten die Gesetze des Stärkeren (- er überlebte)... aber die Krankheiten sind
von der Natur eingeführt worden, um eine Selektion durchführen zu können,
diese wird dadurch aber unterbrochen, verhindert.“ – „Finde ich positiv, wenn
es kranken Menschen eine Erleichterung bringt. Doch wo bleibt dann eine na-
türliche Auslese?“
„Natürliche Auslese“ und „Selektion“ werden bemerkenswert häufig als Ka-
tegorien zur Bewertung der Gentherapie verwendet. Solche eugenischen, z.T.
auch sozialdarwinistischen Vorstellungen offenbaren sich in der Befürchtung,
dass sich die „Stärkeren“ nicht mehr durchsetzen könnten, wenn durch genthe-
rapeutische Möglichkeiten kranke Menschen geheilt werden oder durch eine
gentechnisch optimierte Landwirtschaft zu viele Menschen überleben würden.
Zwar wird im Kontext solcher Argumentation die mögliche Bewältigung des
Hungerproblems mit Hilfe der Gentechnik durchaus begrüßt, jedoch wird ge-
fragt, ob dies im Sinne der „natürlichen Selektion“ sein könne. Die Stärkeren,
in diesem Fall die Satten, könnten sich möglicherweise als Konsequenz der gen-
technisch unterstützten Bewältigung des Hungerproblems nicht mehr durchset-
zen. Ausgesprochen häufig gibt es das Überbevölkerungsargument. „Das Prob-
lem der 3. Welt ist nicht der Hunger der dort lebenden Menschen, sondern die
Tatsache, dass zu viele Menschen in einem Gebiet leben, das einfach von der
Natur nicht für so viele Menschen vorgesehen ist.“ – „Die Natur sollte das Hun-
gerproblem in Afrika lösen.“

11.5 Zur Wirksamkeit der expliziten Reflexion von


Alltagsphantasien in Lernprozessen – empirische Hinweise
Die zentrale normative These des Ansatzes der Alltagsphantasien ist, dass durch
deren Einbezug in gegenstandsorientierte Lernprozesse und vor allem explizite
Reflexion Sinn konstituiert werden kann. Genauer: die Subjekte konstituieren
im Zusammenspiel von subjektivierenden Alltagsphantasien und den objektivie-
renden Fakten des Gegenstandsbereichs ihren jeweils eigenen Sinn. Die pädago-
gische bzw. didaktische Annahme ist, dass Lernprozesse dann erfolgreicher und
sinnvoller sind, wenn der alltägliche, subjektivierende, intuitive Zugang zu den

112
11 Der Ansatz der Alltagsphantasien

Phänomenen im Unterricht nicht nur geduldet, sondern zum Gegenstand expli-


ziter Reflexion und des sozialen Austausches gemacht wird.
Hier sollen nun einige ausgewählte empirische Befunde zu den Wirkungen
der expliziten Reflexion von Alltagsphantasien dargestellt werden. Sie sind in
der Hamburger Arbeitsgruppe „Intuition und Reflexion“ entstanden. Bei diesen
Untersuchungen handelt es sich um den Versuch, die normative, bildungsbezo-
gene Argumentation zur Bedeutung von Phantasien und Erfahrungen in Lern-
prozessen zusätzlich empirisch zu erhärten. Diese empirischen Untersuchun-
gen können natürlich nicht die gesamte Komplexität des Ansatzes abbilden, sie
können jedoch als zusätzliche „Hinweise“ für die Wirksamkeit und Produktivi-
tät des Ansatzes der „Alltagsphantasien“ gelten. Um Missverständnissen vorzu-
beugen: Auch wenn die Berücksichtigung von Alltagsphantasien keinen nach-
weisbaren lernförderlichen Effekt haben würden, täte das ihrer Funktion bei der
Sinnkonstituierung in Lernprozessen keinen Abbruch. Das bildungstheoretische
Sinn-Argument bleibt gewissermaßen von den Befunden der Lehr-Lern-For-
schung unberührt.
In zwei schulischen (Born 2007, Monetha 2009) und einer laborexperimen-
tellen Interventionsstudie (Oschatz 2011) hat die Hamburger Arbeitsgruppe die
lernpsychologische Wirksamkeit der expliziten Reflexion von Alltagsphantasien
untersucht.
In den beiden schulischen Interventionsstudien konnten wir zeigen, dass ein
Biologieunterricht, der die Alltagsphantasien der Schülerinnen und Schüler ex-
plizit zum Thema macht und immer wieder darauf zurückkommt, sinnhafter in-
terpretiert wird, motivierender ist und darüber hinaus auch zu einem nachhalti-
geren Lernerfolg führt.
Ob sich die Berücksichtigung von Alltagsphantasien auf die Motivation
und die Lernleistung auswirkt, wurde in einer Interventionsstudie von Mone-
tha (2009) untersucht. Es handelt sich um ein quasiexperimentelles Design, an
der drei Parallelklassen der Jahrgangsstufe 10 einer Hamburger Gesamtschule
teilnahmen. Die Datenerhebung umfasste 14 Unterrichtsstunden je Klasse. Die
Untersuchung war im Vorher-Nachher-Follow-up-Kontrollgruppendesign ange-
legt. Die Gruppen sind im Hinblick auf das Vorwissen zur Gentechnik, die non-
verbalen kognitiven Fähigkeiten, Leistung im Fach Biologie, Alter, Geschlecht,
motivationale Orientierung, dispositionales Interesse an Gentechnik und Biolo-
gie, das Fähigkeitsselbstkonzept Biologie, die Selbstwirksamkeitserwartungen
und epistemischen Überzeugungen zu den Naturwissenschaften vergleichbar.
Vor dem Hintergrund der Selbstbestimmungstheorie der Motivation (Deci/
Ryan 1993) wurden in der Untersuchung motivationale Faktoren erhoben.
Die Ergebnisse im Hinblick auf die psychologischen Grundbedürfnisse zei-
gen, dass v.a. das Erleben sozialer Eingebundenheit durch das Einbeziehen der

113
11 Der Ansatz der Alltagsphantasien

Alltagsphantasien positiv beeinflusst wird. Hier liegen die Mittelwerte der In-
terventionsgruppen zu allen drei Messzeitpunkten bedeutsam über denen der
Kontrollgruppe (Monetha 2009). Offenbar wird durch die Einbeziehung der All-
tagsphantasien das Erleben sozialer Eingebundenheit gefördert, da die Schüler-
perspektive ernst genommen wird. Der Weg zum Verstehen der Sache vom Ich
zum verallgemeinernden Wir geht vom Geltenlassen des Einzelnen über syste-
matischen Austausch und Vergleich mit anderen. Dies scheint besonders gut in
einer sozialen Atmosphäre des Angenommenseins zu funktionieren.
Die größten Effekte sind bei der intrinsischen Motivation zu verzeichnen
(Monetha/Gebhard 2008). Die Mittelwerte der Interventionsklassen liegen zu
allen drei Messzeitpunkten über denen der Kontrollklasse.
Auch auf die Verstehensprozesse hat die Reflexion der Alltagsphantasien ei-
nen Einfluss: Die Kontrollklasse schnitt im Leistungstest zwar nur geringfügig
schlechter ab als beide Interventionsklassen. Doch nach zwölf Wochen können
die Schülerinnen und Schüler der Interventionsklassen sich an mehr Unter-
richtsinhalte erinnern als die der Kontrollklasse. Diese Ergebnisse deuten darauf
hin, dass die besagten Andockpunkte zu einer tieferen und nachhaltigeren Be-
schäftigung mit dem Lerngegenstand geführt haben.
Die hier skizzierten Ergebnisse der Wirkung von Alltagsphantasien auf das
Erinnerungsvermögen bestätigen die früheren Ergebnisse von Born (2007).
Auch in dieser Studie wurden (in der Klassenstufe 11) bessere Leistungsergeb-
nisse bei den Lernenden festgestellt, deren Alltagsphantasien im Unterricht be-
rücksichtigt wurden.
Vor dem Hintergrund unseres Verständnisses von Lernen als das Konstituie-
ren von Sinn nehmen wir an, dass das Willkommenheißen der subjektivierenden
Sinnentwürfe zu einer subjektnahen und offenbar auch nachhaltigen Verarbei-
tung des Unterrichtsgegenstandes führt. Vor allem die Ergebnisse der Follow-
up-Erhebungen deuten in diese Richtung. Das Willkommenheißen allein genügt
dabei natürlich nicht, sondern es kommt zusätzlich darauf an, ob und wie die
subjektiven Sinnentwürfe konkret verarbeitet und weiter verarbeitet werden.
In einer weiteren Studie wurden diese Befunde im Hinblick auf ihre kogniti-
onspsychologischen Mechanismen genauer untersucht (Oschatz 2011, Oschatz/
Gebhard/Mielke 2010, 2011). Dabei sind wir von der theoretischen Annahme
ausgegangen, dass die mentale Integration der Alltagsphantasien und die Verar-
beitung unterschiedlicher Zugänge durch zusätzliche kognitive Anstrengungen
gewährleistet werden muss (Kruglanski et al. 1999). Diese zusätzliche kognitive
Leistung könnte Lernen unterstützen.
In laborexperimentellen Untersuchungen (n = 203) im Versuchs-Kontroll-
gruppen-Design aktivierten wir Alltagsphantasien zum Thema Gentechnik bei
Probanden der Versuchsgruppe und untersuchten u.a. die Effekte auf Denkpro-

114
11 Der Ansatz der Alltagsphantasien

zesse zu biologischen Themen. Die Probanden lasen einen Text zum Thema
Gentransfer. Mithilfe eines Multiple Choice Tests sowie speziell entwickelter
Transferaufgaben zum Verständnis der grundlegenden Prozesse des Gentrans-
fers (Oschatz 2010) wurden die Auswirkungen auf Verstehensprozesse erfasst.
Die Ergebnisse zeigen nun, dass die Kontrollgruppen die Transferaufgabe
signifikant besser als die Versuchsgruppe, die sich ja mit den subjektivierenden
Alltagsphantasien beschäftigt haben, lösen. Eine ähnliche Tendenz zeigt sich
auch in Bezug auf die Multiple Choice Aufgaben.
Außerdem haben wir bei den Probanden noch das sogenannte „Bedürfnis
nach Kognition“ (Need for Cognition, Cacioppo & Petty 1982) erfasst. Dabei
handelt es sich um eine Persönlichkeitseigenschaft, die den Grad der Freude am
Denken und Nachsinnen abbildet. Personen mit hohem Bedürfnis nach Kog-
nition haben Freude am Denken und investieren hohen analytischen Aufwand,
wenn sich ihnen die Gelegenheit hierzu bietet. Personen mit einem geringen Be-
dürfnis nach Kognition vermeiden eher aufwendiges Denken, wenn sie nicht
durch entsprechende Anforderungen hierzu gleichsam „gezwungen“ werden.
Hier haben wir sehr interessante Befund zu verzeichnen: Die Effekte des
Bedürfnisses nach Kognition wurde nämlich durch die Aktivierung der Alltags-
phantasien nivelliert. Während die Probanden der Kontrollgruppe in Abhängig-
keit ihres Bedürfnisses nach Kognition besser abschnitten, fanden sich in der
Versuchsgruppe keine Unterschiede. Die Alltagsphantasien beschäftigen offen-
bar die Subjekte sehr und lenken zunächst von der Beschäftigung mit den Lern-
gegenständen ab. Gerade diejenigen, die sich durch ein hohes Bedürfnis nach
Kognition auszeichnen, die also gern und oft nachdenken und Dinge in Frage
stellen, sind davon am meisten betroffen.
Man kann also auch empirisch von einem durch die Alltagsphantasien aus-
gelösten Irritationseffekt sprechen. Die Beschäftigung mit den Alltagsphanta-
sien ist also offenbar eine „wirkliche“ Erfahrung; und die ist eben – das ist eine
unserer theoretischen Hauptaussagen – irritierend. Die Einbeziehung intuitiver
Vorstellungen erfordert möglicherweise zusätzliche kognitive Anstrengung, um
die Beanspruchung durch die Reflexion der sonst intuitiven Ideen auszubalan-
cieren (Kruglanski et al. 1999). Auch der nivellierende Effekt auf die Einflüsse
des Bedürfnisses nach Kognition der Probanden der Versuchsgruppen kann als
Zeichen kognitiver Beanspruchung gedeutet werden.

11.6 Irritation, Krise und fruchtbare Momente


Die primäre Wirkung der Alltagsphantasien kann also als eine Irritation be-
schrieben werden, die zunächst von der routinierten und effizienten Beschäf-
tigung mit einer Thematik wegzuführen scheint. Bereits auf den zweiten Blick

115
11 Der Ansatz der Alltagsphantasien

– etwa mit dem Blick auf den dadurch erzeugten offenen Anfang, der ein Einlas-
sen auf die Thematik provozieren kann – ist das nicht mehr erstaunlich: Wenn
wir wollen, dass die Schüler in der Auseinandersetzung mit Lerngegenständen
berührt, konfrontiert und persönlich involviert sind, wird dies mehr in Anspruch
nehmen als glatte Lernprozesse. Das kann natürlich irritieren und auf „Abwege“
führen. Allerdings – und das zeigen die Interventionsstudien – lohnt sich diese
irritierende Tiefe: Wenn die Phantasien willkommen sind, wenn sie immer wie-
der zum Gegenstand expliziter, mit Anderen geteilter Reflexion gemacht werden
– auch wenn sie abschweifig sind – wird ein Unterricht, der Alltagsphantasien
berücksichtigt, sinnhafter erlebt, unterstützt die Motivation und ist auch im Hin-
blick auf den kognitiven Wissenserwerb – langfristig, meist schon mittelfristig
– effizienter (s.o.). Möglich ist nämlich, dass gerade durch die zusätzliche kog-
nitive Beanspruchung langfristig eine breitere und tiefer gehende Verarbeitung
erfolgt, die zu nachhaltigen Lernergebnissen führt. Auch unabhängig davon sind
die subjektivierenden Phantasien für Bildungsprozesse deshalb besonders wich-
tig, weil sie den Fachunterricht – darauf haben wir schon hingewiesen – mit den
kulturellen und sozialen Konzepten und den damit implizierten Welt- und Men-
schenbildern der Schülerinnen und Schüler verbinden können.
Vor diesem Hintergrund soll nun abschließend diskutiert werden, dass
und wie Irritationen fruchtbar werden können. Irritationen könnten zumindest
auch in den immer wieder zitierten „fruchtbaren Moment im Bildungsprozess“
(Copei 1969) führen. Copei sagt, dass es einer „Triebfeder“, einer Spannung,
eben einer krisenhaften Konstellation bedürfe, um mehr als nur eine „gedächt-
nismäßige Einprägung überlieferter Sinngehalte“ (Copei 1969, 102) zu bewir-
ken. In solchen Momenten leuchte – so Copei – die Erkenntnis zwar auf, sei aber
als solche noch unfertig. Genau um diesen Zustand und seine Transformationen
geht es uns. Was hier passiert, ist das, was wir in Kapitel 4 „Entselbstverständli-
chung“ genannt haben: das Arbeiten mit der Irritation des für selbstverständlich
Gehaltenen, der zunehmenden Verflüssigung der gewohnten Verschränkungen
zwischen Subjekt und Objekt. Dazu müssen die unterschiedlichen Perspektiven
auf einander bezogen werden.
Bei den Irritationen geht es eher darum, etwas zu schaffen, was nicht rest-
los aufgeht in Verständlichkeit. Jedenfalls ist es das Prinzip der geistigen Pro-
duktivität, solche labilen Zonen in das Bewusstsein einzulassen und diese Span-
nungszonen produktiv zu machen. Die Alltagsphantasien beunruhigen das
Subjekt auch deshalb, weil sie inhaltlich unsere kulturell erzeugten Welt- und
Menschenbilder transportieren und somit das Subjekt in den Grundfesten seiner
Existenz berühren können.

116
11 Der Ansatz der Alltagsphantasien

So verweisen Alltagsphantasien auch auf den komplexen und irritierenden


Beginn einer Beschäftigung mit einem (neuen) Thema. Damit sind wir bei der
Frage der Verbindung zu den Prozesskategorien von Erfahrung angelangt.
Es zeigt sich: Ein solcher Anfang, bei dem Alltagsphantasien erhoben, expli-
zit gemacht und mit den Schülern in ihren differenten Perspektiven kommuni-
ziert werden, irritiert. Diese Irritation lohnt sich allerdings – zumindest das ha-
ben die Interventionsstudien gezeigt. Auch in qualitativen Fallstudien, die die
Rolle der Alltagsphantasien unter dem Blickwinkel verstehensorientierter Inter-
aktionsdynamiken untersuchen, zeigt sich, dass ein solcher Beginn als krisen-
haft empfunden wird (Combe/Kolenda 2012). Einerseits betrachten Schüler die-
sen Zugang nicht als „legitim“, ja als befremdlich. Andererseits aber nehmen sie
positiv wahr, dass sie als partizipationsfähige Teilnehmer des Unterrichts ange-
sprochen werden, dass ihre ganz persönliche Erfahrung gefragt ist und sie als
Person anerkannt werden. So ist ersichtlich, dass die Schüler durch die Thema-
tisierung von Alltagsphantasien sowohl kognitiv als auch affektiv in besonderer
Weise herausgefordert werden – ein Gesichtspunkt, der im Kontext des Concep-
tual Change seit langem eingeklagt wird (Pintrich 1999; Treagust/Duit 2008). In
Bezug auf die Nutzung der Alltagsphantasien zeigt sich, dass diese ihre eigene
Zähigkeit haben. Zugleich aber bilden sie eine Plattform, von der aus sich Netze
zwischen dem Alten und dem Neuen, zwischen der fachlichen und der alltägli-
chen Sicht knüpfen lassen.
Das Beispiel der Alltagsphantasien zeigt, wie in einem irritationsbedingten
Prozess eine Erfahrungsbewegung zwischen Ich und Gegenstand in Gang ge-
setzt werden kann. Es reicht also nicht, wenn Lernenden die Dinge nur in ih-
rer objektivierenden Variante beigebracht werden. Eine geradlinige objektivie-
rende Sicht der Dinge unterschlägt die subjektivierenden Schattierungen und
Perspektiven, ent-sinn-licht die Phänomene, grenzt den subjektiv gemeinten
Sinn aus und bringt die Dinge den Subjekten nicht nahe. Objekte der Außen-
welt haben nicht nur eine Bedeutung als objektive Gegebenheiten, sondern auch
eine symbolische Bedeutung, in der persönliche Erfahrungen, Beziehungen und
Phantasien, Narrationen zusammenfließen (Gebhard 2003). In der Vermittlung
zwischen beiden Zugängen besteht die Chance, einer an sich unbegreiflichen
Welt (Blumenberg 1981) Sinn zu verleihen bzw. diese als sinnhaft zu erleben.
Eine entsprechende didaktische Haltung lädt ein zum Phantasieren, hat Zeit und
Muße zum Verweilen und gibt damit dem Aufbau von Erfahrung und Sinn eine
Chance.

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