Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
Verstehen im Unterricht
Die Rolle von Phantasie
und Erfahrung
Arno Combe,
Ulrich Gebhard,
Universität Hamburg
Hamburg, Deutschland
Springer VS
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung,
die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zu-
stimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Über-
setzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen
Systemen.
Springer VS ist eine Marke von Springer DE. Springer DE ist Teil der Fachverlagsgruppe
Springer Science+Business Media
www.springer-vs.de
Inhalt
1 Verstehen im Unterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
5
Inhalt
9 Fallgeschichten:
Die Wiederherstellung der Vieldeutigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
9.1 Wissenakkumulation und Engführung – 1. Fallgeschichte . . . . . . . . 66
9.2 Fragen als Eröffnung – 2. Fallgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
9.3 Der Aufbau einer mentalen Infrastruktur im
Mathematikunterricht – 3. Fallgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
9.4 Pluralität, die nicht beliebig ist – 4. Fallgeschichte . . . . . . . . . . . . . . 76
9.5 Unterrichtsanfänge im Zeichen der Berührung und
Konfrontation – 5. Fallgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
9.6 Das Projekt: Expeditionen in fremde Sinnwelten? –
6. Fallgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
6
1 Verstehen im Unterricht
Die Schule verspricht Verstehen. Mehrfach ist die Frage nach der Qualität und
Reichweite des Verstehens im Unterricht – zuletzt in Zusammenhang mit den
Ergebnissen der internationalen Vergleichsstudien wie PISA, TIMMS oder
IGLU – auf die Tagesordnung gesetzt worden. Die Interpretation des teilweise
enttäuschenden Abschneidens der Jugendlichen lautete: der Unterricht an deut-
schen Schulen ist wenig „verständnisvoll“ (Baumert/Köller 2000) bzw. „ver-
ständnisintensiv“ (Fauser 2003).
Wer Verstehen zum Leitbegriff einer Untersuchung macht, sieht sich einer
Bedeutungsfülle und der Verwendungsvielfalt des Begriffs gegenüber (vgl. etwa
die Übersichtsarbeiten von Scholz 2001; Horstmann 2004). Das wirft die Frage
auf: Wie lässt sich angesichts einer solchen Bedeutungsfülle und Verwendungs-
vielfalt das Problem des Verstehens im Unterricht überhaupt lokalisieren?
Das Problem des Verstehens hat aus unserer Sicht etwas zu tun mit einem
Riss zwischen den Wissensformen. Auf der einen Seite steht die Struktur und
Logik der fachlichen Konzepte und fachsprachlichen Mittel. Auf der anderen
Seite tragen Schüler ihre in der Alltagswelt bewährten Erfahrungen, Vorstellun-
gen und Perspektiven an ein Thema und Gegenstand heran. Es geht also beim
Verstehen im Unterricht um Brückenschläge zwischen diesen unterschiedlichen
Wissensbeständen, und die uns interessierende Frage ist, wie der Übergang von
der Alltagspersperspektive zur Sachperspektive gestaltet werden kann: mit wel-
chen Mitteln, Implikationen und Folgen.
Oskar Negt charakterisiert die Problematik des Verstehens im Unterricht mit
dem Stichwort „Dualismus“. Er deutet eine Möglichkeit des Übergangs und ei-
nen Weg zur Bewältigung des Dualismus an: „Der Lehrer muss wissen, was
in den Kindern vorgeht, was sie mitbringen an Vorurteilen, an Neugierverhal-
ten, an schon besetzter Phantasie. Pädagogische Arbeit kann nur darin bestehen,
die Alltagsspekulation der Kinder, die Phantasie als Materie aufzugreifen und
umzustrukturieren, zu entwickeln, nicht einfach parallel dazu oder dagegen et-
was zu setzen“ (1982, 134). Es gilt also, die subjektive und die objektive Welt
nicht als polar gegenüberstehende Seiten voneinander abzugrenzen. Die Kunst
ist vielmehr, sie produktiv miteinander zu vermitteln und das Spannungsverhält-
nis nicht nach der einen wie der anderen Seite aufzulösen. Das Ziel ist weder die
Eliminierung der alltäglichen Vorstellung noch die Preisgabe eines allgemeinen
7
A. Combe, U. Gebhard, Verstehen im Unterricht, DOI 10.1007/978-3-531-94281-0_1,
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
1 Das Problem des Verstehens im Unterricht
8
1 Das Problem des Verstehens im Unterricht
9
1 Das Problem des Verstehens im Unterricht
10
1 Das Problem des Verstehens im Unterricht
Aber kann denn eine so unspektakuläre unterrichtspraktische Figur wie die Ab-
arbeitung von Deutungsperspektiven überhaupt größere Wirksamkeit entfalten,
Verstehenspotentiale anregen und neue Gestaltungsmöglichkeiten des Unter-
richts entfalten? Eine erste Reaktion von Lehrkräften auf dieses Perspektiven-
spiel könnte sein: Die Anwendung und Nutzung von Vergleichsperspektiven ge-
hört ohnehin zu den Grundprinzipien aufgeklärten didaktischen Arbeitens und
Unterrichtens. Wir möchten dies an späterer Stelle durch Unterrichtsbeispiele in
Frage stellen, zumindest hinterfragen. In einer anderen Version könnte die her-
meneutische Abarbeitung von Deutungsperspektiven im Unterricht als eine sehr
schwierige intellektuelle und soziale Leistung eingeschätzt werden, etwa auch
vor dem Hintergrund entwicklungspsychologischer Befunde, die besagen, dass
die sogenannte „Perspektivenübernahme“ oder der „Perspektivenwechsel“ erst
während der Kindheit, vor allem aber in der frühen Adoleszenz richtig zur Aus-
prägung kommen kann. Eine solche Einschätzung ist nicht von vornherein von
der Hand zu weisen. Denn die Abarbeitung von Perspektiven heißt nicht – wo-
bei auch der Begriff „Perspektivenübernahme“ irreführen kann –, dass das In-
teraktionsangebot des Anderen mittels des Vorstellungsvermögens gewisserma-
ßen „nachgeahmt“ wird. Vielmehr gilt es darüber hinaus, eine eigensinnige, aber
zugleich zur Perspektive des Anderen passende Antwort zu finden. So ausge-
legt ist der Gedanke des Verstehens des Eigenen vom Anderen her Bestandteil
verschiedener Theorietraditionen, nicht zuletzt der von A. Honneth aufgenom-
menen anerkennungstheoretischen Idee, dass „kognitive Weltbeziehungen (...)
an Einstellungen der Anerkennung gebunden sind“ (2005, 54). Dieser anerken-
nungstheoretische Gedanke ist in unterrichtsbezogener Weise bislang nur ver-
einzelt diskutiert worden (Helsper u. a. 2005; Hericks 2007, Ricken 2009).
Im Interesse eines verstehenden Lernens im Unterricht legen wir in unserem
Ansatz den Akzent auf ein intensives, hermeneutisch rekonstruierendes Einho-
len der inhaltsbezogenen Differenzerfahrungen. Der Weg führt dabei vom in-
dividuellen, oft intuitiven Zugang und Prozess der Annäherung an den Lernge-
genstand über eine vergleichende Gegeneinanderführung und Abarbeitung der
verschiedenen Deutungsmuster zum Verstehen der Sache. Dazu müssen die in-
tuitiven und spontanen Zugänge der Schüler der Überprüfung und Kommunika-
tion mit anderen zugänglich gemacht werden. Dies erfordert natürlich viel Zeit,
um die Vielfalt der Perspektiven gedanklich zu bewältigen. Aber nur so kann
der Sinn der fachlichen Wissensbestände immer wieder neu erzeugt werden.
Wir antworten also in dieser Arbeit auf die Pluralität von Welt mit dem Hinweis
11
1 Das Problem des Verstehens im Unterricht
12
1 Das Problem des Verstehens im Unterricht
13
1 Das Problem des Verstehens im Unterricht
14
2 Erfahrungsprozesse in der Handlungswelt und in der
geistig-literarischen Weltbegegnung
„Jeder Mensch“, so Max Frisch, „nicht nur der Dichter, erfindet seine Ge-
schichten – nur dass er sie, im Gegensatz zum Dichter, für sein Leben hält –
anders bekommen wir unsere Erlebnismuster, unsere Ich-Erfahrung, nicht zu
Gesicht“(GW IV, 262 f.) Dieses Zitat von Max Frisch enthält zwei ineinan-
der spielende Ebenen, die zu erfassen bedeutsam sind, um die Eigenart des Er-
fahrungsprozesses zu begreifen (vgl. Müller-Roselius 2008). Diese Eigentüm-
lichkeit des Erfahrungsprozesses herauszuarbeiten, hat für uns eine bestimmte
Funktion: Mit der Darstellung der Kategorien eines Erfahrungsprozesses lässt
sich eine Modellvorstellung davon bilden und systematisch diskutieren, wel-
che Elemente und Abläufe die Qualität eines intensiven Verstehens ausmachen.
Auf das Vokabular des Erfahrungsprozesses zurückzugreifen, ist der Ver-
such, sich die schwierigen Verstehensvollzügen vergegenwärtigen und systema-
tisch bearbeiten zu können. Inhaltlich rechtfertigt sich die Heranziehung des Er-
fahrungskonzepts durch folgende Gesichtspunkte.
1. In Erfahrungsprozessen geht es um die Differenz zwischen eigenen und
fremden Perspektiven.
2. Sie verweisen auf eine bestimmte Erkenntnisdramaturgie, also auf ein span-
nungsreiches Geschehen, bei dem sich der Verständnishorizont, mit dem wir
der Welt und uns selbst begegnen, erweitern oder auch grundsätzlich ver-
ändern kann. Eigenwelt und fremde Sinnwelt treffen also im Erfahrungs-
prozess krisenhaft aufeinander. Mit Christiane Thompson lässt sich sagen,
dass es gerade diese „veränderungsträchtige Relationierung zwischen Ich
und Welt“ ist, die mit dem Erfahrungskonzept angesprochen wird (2009, 14)
und dieses Konzept für die Beschreibung von Lern- und Verstehensprozes-
sen interessant macht.
Dem Gedanken von Max Frisch folgend, sind zwei Arten von Erfahrung zu un-
terscheiden: einmal ein subjektiv erlebtes Geschehen („Erlebnismuster“) und
zum anderen die erzählte, sozusagen narrativ formatierte und in Worte gefasste
Erfahrung. Der Vergleich mit dem Dichter will andeuten, dass die in Worte ge-
fasste, ja reflektierte Erfahrung immer auch eine Art „Neuerfindung“ ist, die
aber auf den szenischen Figuren des Erlebens aufsitzt. Was bedeutet dieses Ver-
hältnis von erlebter und reflektierter Erfahrung für das Problem Verstehen?
15
A. Combe, U. Gebhard, Verstehen im Unterricht, DOI 10.1007/978-3-531-94281-0_2,
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
2 Erfahrungsprozesse in der Handlungswelt
Mit dem Stichwort des Erlebens wird dezidiert auf eine subjektive, affektiv
getönte Inbezugsetzung zu einem Gegenstand abgestellt. Offenkundig greifen
wir bei der Bewertung von Gegenständen zunächst einmal auf eine spezifische,
man könnte sagen: körperlich-emotional engagierte Wahrnehmungsweise zu-
rück. Bewertet wird, inwiefern ein Sachverhalt als erstrebenswert, vermeidens-
wert, bedrohlich oder herausfordernd erlebt wird. Im Sinne dieses körperbezo-
genen Resonanzgeschehens gibt es kein Subjekt, das „disengaged“ wäre, wie
Charles Taylor (1988) sagt. Dass uns das Erlebte schließlich als äußerliches und
objekthaftes Gegenüber erscheint, über das wir zu reflektieren beginnen, ist kei-
neswegs der typische Fall für unser gewohntes Verhältnis zur Wirklichkeit. „Es
muss einen Grund geben, die Geschichte zu produzieren oder sich der gelebten
Geschichte bewusst zu werden“ (Stern 2005,72). Es sind ganz bestimmte Erfah-
rungskrisen, in denen das Individuum in die Situation gerät, das Geschehen un-
ter einem reflexiven Licht zu betrachten. Auslöser ist das Neuartige, Unerwar-
tete, ein Konflikt oder irgendeine Schwierigkeit oder Beunruhigung. Im Bereich
der geistig-literarischen Weltbegegnung gehört es zu den selbstverständlichen
Annahmen, dass wir uns eben in das Unstimmige, Unbegreifliche, Fragliche und
Unsichere eines Sachverhalts vertiefen, und das geschieht im Bereich der geisti-
gen Erfahrung oft um seiner selbst willen, wobei uns der zu erwartende Genuss
und die Antizipation der Erfüllung und des Gelingens weitertreibt. Eben ein sol-
ches, intellektuelles Vergnügen bereitendes Einlassen auf Zumutungen, Irritati-
onen und Fremdheit kann nun keineswegs selbstverständlich vorausgesetzt wer-
den, was vor allem in Bezug auf die Schule vielfach beklagt wird.
Anders liegen die Dinge bei „Widerfahrnissen“ in der Alltagsumwelt, die
zu Auslösern eines Erfahrungsprozesses werden. Niemand wünscht sich eine
Krankheit oder Katastrophe herbei. Eine Krise unter Umständen selbst zu er-
zeugen, wie im Falle der geistigen Erfahrung, wäre nicht nur töricht, sondern
unterschlüge auch, dass solchen Krisen in der Alltagswelt ein enormer, gera-
dezu existentieller Handlungsdruck zugrunde liegen kann. Wir müssen also die
Komponenten einer geistigen Weltbegegnung von einem Erfahrungsprozess im
Bereich des Alltags unterscheiden, der oft in schmerzhafter Form zur Umkehr
und zum „Umlernen“ (Buck 1967, 18) führt, und unser Selbst- und Weltverhält-
nis kategorial durchaus auf ganz neuen Boden stellen kann. Auch die Konfron-
tation mit dem Fremden, etwa im Bereich des interkulturellen Bezugrahmens,
zumal der persönlichen Begegnung, kann jene Beunruhigung darstellen, die das
Selbst- und Weltverhältnis in zentralen Bereichen betreffen kann und das Ver-
stehen überhaupt an seine Grenze bringt (vgl. Kokemohr 2007; Koller 2005b).
Was aber bleibt dann für die Möglichkeit von Erfahrung in der Schule, und in-
wiefern lässt sich mit Horst Rumpf sagen, dass es auch in der Schule um eine
Gegenstandserfahrung geht, „die Fremdheiten (...) im Interesse der Intensität“
16
2 Erfahrungsprozesse in der Handlungswelt
(1996, 498) ausgräbt? Müssen also die Aussichten für die von Rumpf gekenn-
zeichneten intensiven Gegenstandserfahrungen im Bereich der Schule skeptisch
beurteilt werden? (Baumert 2006)
Hartmut v. Hentig hat mit der Forderung nach der „Schule als Erfahrungs-
raum“ (1973) zunächst ein treffendes Stichwort geliefert. Dabei ist es ein großes
Problem bis heute, dass Lernumgebungen und Arrangements, in denen sich die
Lernenden „bewähren“ können, oft konstruiert und künstlich ist. Erfahrungs-
räume sind im Sinne Hentigs Gelegenheiten, die eigenverantwortliches Han-
deln fördern, in denen Schwierigkeiten gelöst, Irritationen und Krisen bewältigt
sowie Entscheidungen getroffen werden müssen. Es besteht die Möglichkeit,
Ideen zu testen, ihre Bedeutung zu klären und ihre praktische Tragfähigkeit aus-
zuloten. Ihren Ernstcharakter gewinnen solche Situationen dadurch, dass den
Protagonisten ein „Für-sich-selbst-Einstehen“ abverlangt wird. Es gibt Schulen,
die Projekte machen, in denen „der Ernstfall zum Lehrmeister wird“, wie Anne-
marie von der Groeben formuliert (2006, 6).
Aber bleibt das nicht eine künstlich herbeigeführte Unternehmung? Denn
natürlich ist es so, dass die Schüler keine Erfahrung der in Frage stehenden
Thematik „von innen“ haben, sondern auf die Darstellung zumeist auch von
Wissensbeständen und textuell vermittelten Formen angewiesen sind, die durch
interpretative Analysen erst erschlossen werden müssen. Zugleich wissen wir
auch, dass sich Erfahrungsprozesse auch in Lektüren, Erzählungen, Filmen oder
anderen Medien vollziehen können, d.h. „nicht alles, was diesbezüglich rele-
vant ist, muss man unmittelbar am eigenen Leib erfahren haben“ (Straub 2010,
74). Ein Erfahrungsprozess ergibt sich bekanntlich dann, wenn man ein Thema
für eine gewisse Zeit selber bearbeitet und dabei Gelegenheit hat, etwas zu ent-
decken und rekonstruieren. Und recht eigentlich ist das Machen von Erfahrung
immer wieder in das Wechselverhältnis mit anderen eingebunden, in Vorgänge,
bei denen sich das, was je „meine“ Erfahrung ist, erst im Vergleich und gedan-
kenexperimentellen Aufrufen der spannungsvollen Differenz zum Fremden und
Anderen ergeben kann. Eine genauere Untersuchung der Erkenntnisdramatur-
gie des Erfahrungsprozesses wird darüber hinaus zeigen (siehe nächstes Kapi-
tel), dass es in diesem von Irritation, Experiment und Phantasie gekennzeichne-
ten Prozess zwar notwendige Rückzüge auf sich selbst gibt, aber zugleich ein
Bedürfnis nach fremder Rede und Außensicht, nicht zuletzt die Suche nach ei-
ner Verortung in Hinsicht auf das Allgemeine in Gestalt der anderen Menschen
und der Gesellschaft. In Momenten besonderer Hellsichtigkeit vermögen wir
uns selbst oder einen Sachverhalt ganz neu zu sehen. Somit ist angedeutet, dass
wir anhand von Erfahrungsprozessen studieren können, was einen verständnis-
intensiven Lernprozess ausmacht.
17
3 Zur Erkenntnisdramaturgie von Erfahrungsprozessen
bei „geistigen Erfahrungen“
19
A. Combe, U. Gebhard, Verstehen im Unterricht, DOI 10.1007/978-3-531-94281-0_3,
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
3 Zur Erkenntnisdramaturgie von Erfahrungsprozessen bei „geistigen Erfahrungen“
20
3 Zur Erkenntnisdramaturgie von Erfahrungsprozessen bei „geistigen Erfahrungen“
21
3 Zur Erkenntnisdramaturgie von Erfahrungsprozessen bei „geistigen Erfahrungen“
Ein die Person erreichendes Lernen hat also keinesfalls nur harmonische
Ausgangskonstellationen zur Voraussetzung. Deshalb muss bedacht werden,
was denn dazu ermutigen kann, sich auf solche Wege in fremde Sinnwelten zu
begeben. Wie können, so lautet die Frage, die Irritationen in konstruktive Lern-
prozesse transformiert werden und geradezu als Motor für Lernprozesse und als
„fruchtbarer Moment im Bildungsprozess“ (Copei 1969) fungieren?
Im Folgenden wird es um die Frage gehen, ob und unter welchen Bedingun-
gen man sich der irritierenden Situation überhaupt aussetzen will. Die irritie-
rende Situation kann Unlust hervorrufen, sich bisweilen auch als kränkend er-
weisen und berührt uns in unserer leibnahen Affektkonstitution. Das kann dazu
führen, dass solche Situationen gemieden werden oder – was weitaus häufiger
der Fall sein wird – dass die mentale Beschäftigung damit gewissermaßen zu-
rückgewiesen wird. Vermieden wird also nicht die Irritation (das geht in der Re-
gel nämlich nicht), sondern die mentale Beschäftigung damit und also die Re-
flexion derselben. Eben diese Beschäftigung wäre jedoch – und das ist unsere
zentrale These – eine Bedingung dafür, dass das Potenzial der Krise, der Irrita-
tion zu fruchtbaren Momenten führen kann. Hier taucht also schon in der Im-
pulszone des Erfahrungsprozesses das Problem auf, ob man bereit ist, überhaupt
Erfahrungen zu machen, das heißt sich einer irritierenden Situation zu öffnen,
einer krisenhaften Situation, die nur fruchtbar werden kann, in dem bewährte
Vorstellungen überschritten und transformiert werden.
Betrachten wir in Bezug auf die Schule, was es bedeutet, sich dem Fremden
zu öffnen. Lernwiderstände werden schon dadurch heraufbeschworen, dass auf-
grund einer kompakten Darbietung des Stoffes die Räume für Fragen und Zwei-
fel zugestellt scheinen. Wenn sich Schüler offen und vertrauensvoll mit Lernpro-
blemen, Unwissen und Nicht-Verstandenem oder wiederkehrenden Fehlern an
ihre Lehrer wenden, gehen sie damit durchaus das Risiko einer Etikettierung als
„schlechte Schüler“ (Höhn 1972) ein. Verlangt sind also soziale Kontexte, die
Verunsicherungen zulassen, Kontexte, in denen man, um ein Wort Adornos zu
variieren, Schwäche zulassen und zeigen kann, ohne Stärke (und Nachteile) zu
provozieren. Weiter sind auch persönliche Dispositionen im Aushalten und Ver-
arbeiten von Diskrepanzerfahrungen für Verdrängungs- und Abwehrprozesse
verantwortlich, die im wesentlichen von der Sozialisation in der Herkunftsfami-
lie und den dortigen Stilen der Verarbeitung abhängig sind. Außerdem hat man
oft gar nicht die Zeit, um dem Überraschenden innerlich Raum zu geben – und
man hat vielleicht gar nicht gelernt, einem Innenbereich, in dem man auf Sinn
verweisende Bilder aufkommen lassen kann, zu vertrauen. Genau aber dies ist
notwendig, um Irritationen gegenüber hellhörig und offen bleiben zu können.
Das Problem der Akzeptanz der irritierenden Situation wird noch komple-
xer, bedenkt man zusätzlich den Unterschied zwischen Krisen und Irritationen
22
3 Zur Erkenntnisdramaturgie von Erfahrungsprozessen bei „geistigen Erfahrungen“
23
3 Zur Erkenntnisdramaturgie von Erfahrungsprozessen bei „geistigen Erfahrungen“
mation von Widerständen bieten. Im Falle des Widerstands kommt es statt einer
Öffnung gegenüber dem Gegenstand zu einer Verengung. Der irritationsbe-
dingte Prozess wäre zu Ende, bevor er in produktiver Weise begonnen hat. An-
ders im Falle der Eröffnung eines Vorstellungs- und Phantasieraumes. Wir sehen
hier vor allem zwei ineinanderspielende Prozesse:
Ein erster Zugang zu diesem Prozess der Öffnung dem Fremden gegenüber
ergibt sich vor dem Hintergrund von Ansätzen der psychoanalytischen Abwehr-
theorie. Die Annahme ist, dass ein Großteil der Abwehrvorgänge dazu dient, vor
Kränkungen, Verletzungen und Einbrüchen des Selbstgefühls zu schützen, wie
umgekehrt ein stabiles Selbstwertgefühl die Notwendigkeit von Abwehroperati-
onen herabsetzen dürfte (Hoffmann 1987, 34). Die Abwehroperationen werden
hier also in einen narzisstischen Zusammenhang und in den Kontext der Selbst-
Psychologie gestellt (vgl. zu Erweiterungen der Psychoanalyse in Richtung
Selbstpsychologie, Bittner 1998). Angewandt auf das Problem des Sich-Einlas-
sens auf eine irritierende Ausgangssituation von Erfahrungsprozessen bedeu-
tet dies, dass eine Phantasie des Gelingens und damit verbunden eine Vorfreude
auf ein gelungenes Werk eine konstruktive Wendung herbeiführen könnte. Man
könnte hier geradezu von einer Utopie des Gelingens sprechen.
Es genügt also nicht, nur den irritierenden Anfang eines Erfahrungsprozes-
ses zu betrachten, sondern es gilt, diesen auch von seinem – wenn auch fragilen
– Ende her in Augenschein zu nehmen. Hierbei ist die Krise also nur ein Durch-
gangsstadium eines Prozesses, an dessen Ende ein Zustand des Gelingens steht
– ein zwar flüchtiges Glück, das jedoch das Verlangen nach Wiederholung und
Dauer wecken kann. In der Romantik, etwa bei Herder, wird wie später auch
im Bildungsbürgertum von einem „geistigen Genuss“ die Rede sein, wobei die
Wortgeschichte von Genuss inhaltlich andeutet, was das Glück hier ausmacht:
nämlich die Verbindung von „sich einer Sache erfreuen“ und „der Sache und da-
mit der Welt in ihrer Bedeutungsfülle teilhaftig werden“ (Ritter 1971). Unsere
Überlegung ist also, dass vom Überwinden der Krise im Bereich der geistigen
Erfahrung eine tiefe Bestätigung ausgeht. Am wie immer vorläufigen Ende des
Prozesses steht ein erweitertes Ich. Man sieht etwas, was man bisher nie so ge-
sehen hat. Dass ein stabiles Selbstwertgefühl, Zuversicht und Selbstvertrauen
die Notwendigkeit von defensiven Abwehrmaßnahmen herabsetzen können und
für eine produktive Krisenlösung unerlässlich sind, davon spricht schon Nietz-
sche. In einem „genialischen Vorgefühl“ des Gelingens liegt, so Nietzsche, „eine
treibende Kraft und gleichsam die Hoffnung zukünftiger Fruchtbarkeit“ (1966,
362). Das Attribut „genialisch“ verweist auf das Vorgefühl der Erweiterung des
Selbst im Zustand des Gelingens, der einen immer wieder aus der Zwangsjacke
der alten Routinen und des Auf-Nummer-Sicher-Gehens lockt. Aber Nietzsche
lässt keine Zweifel daran, dass in der Phantasiewelt nur imaginär vorweggenom-
24
3 Zur Erkenntnisdramaturgie von Erfahrungsprozessen bei „geistigen Erfahrungen“
men werde, was später in Gestalt der realen Begegnungen und Anforderungen
noch durchlebt werden muss. Ansonsten spräche man von Phantasterei.
Zusätzlich lässt sich eine produktive Verarbeitung von Zuständen der Irri-
tation vom Pragmatismus her entfalten. Oevermann (1991, 267 ff.) hat im An-
schluss an George Herbert Mead herausgearbeitet, inwiefern Phantasien und
innere Bilder als Medium einer gedankenexperimentellen Abarbeitung von Pro-
blemkonstellationen und Problemlösungen fungieren. Mittels der Phantasie und
korrespondierenden inneren Bildern findet eine intensive Austauschbewegung
zwischen Ich und Sache statt, es kommt zu Konstruktions- und Rekonstrukti-
onsbewegungen, bei denen die inneren Bilder gleichsam als „Text“ anzuspre-
chen sind. Diese von der Sozialphilosophie Meads herkommende und auch von
Dewey geschätzte Variante der Funktionsweise der Phantasie ist letztlich Sinn-
arbeit – ein anspruchsvoller Prozess der Konstruktion und Rekonstruktion einer
Problemlage und ihrer möglichen Lösungen. Diese Konstruktionen und Rekon-
struktionen von Bedeutungskonfigurationen sind das Werk der Arbeit mit inne-
ren Bildern und Phantasien. Interessanterweise kommen die psychologischen
Forschungsaktivitäten, die unter dem Begriff der Herstellung mentaler Modelle
(Seel 2000) diskutiert werden, der Konzeption einer Phantasie, die gleichsam
wie ein Text benutzt und verstanden wird, nahe: „Diese Vorstellungstätigkeit
ermöglicht uns, ,vor unserem geistigen Auge‘ statische und dynamische Bil-
der von realen oder erdachten Szenen und Vorgängen entstehen zu lassen, die
dann vor diesem inneren Auge betrachtet und analysiert werden können“ (Ban-
nert/Schnotz 2006, 73). Die Ingangsetzung einer auf eine Aufgabe und Heraus-
forderung bezogenen Phantasie geschieht allerdings nicht von allein. Phantasien
brauchen „ihr“ Setting: zum einen Handlungsentlastungen und Rückzugsräume
und zum anderen innere Bündelung der Konzentration. Man muss Ruhe haben,
aber auch eine gewisse Konfliktspannung in sich tragen, damit gleichschwe-
bend, mußevoll, fast hinter dem Rücken des Ichs Eindrücke, Erinnerungen und
Phantasien produziert und umstrukturiert werden können, die dann als neuer
Vorstellungszusammenhang wieder ins Bewusstsein eintreten. Diese Phantasie-
szenarien sind Ideenkeime einer möglichen Problemlösung. Sie organisieren
sich um, lassen sich wie Texte zu neuen Zusammenhängen fügen, bis eine „ge-
staltrichtige“, d.h. eine lösungsversprechende Zuordnung der inneren Bilder zu
objektiven Krisen- und Problemkonstellationen möglich ist. Der Schriftsteller
Wellershoff bringt diese Zuordnung der inneren Bilder in Hinsicht auf die zu lö-
senden Krisen- und Problemsituationen die Figur des Pendelns in Anschlag. Er
sagt: „So zwischen Gesamtgestalt und Detail, Plan und Einfall, Weite und Enge
hin- und herpendelnd, lässt sich auch lernen, mit dem Widerstand des entstehen-
den Werkes elastisch umzugehen. Es kommt nicht darauf an, den Widerstand
mit Gewalt zu brechen, sondern ihn wie ein erfahrener Judokämpfer durch Rich-
25
3 Zur Erkenntnisdramaturgie von Erfahrungsprozessen bei „geistigen Erfahrungen“
Risiken und Zwängen der Praxis entlastet sind, können wir das Geländer loslas-
sen, das uns daran hindert, zur Symbolisierung (noch) „phantastischer“ Mög-
lichkeiten weiter vorzudringen. Für ein nachhaltiges Verstehen ist es wichtig,
Ausdrucksmöglichkeiten für die uns vorschwebenden Bedeutungen zu finden.
Es treibt das Verstehen voran, wenn es gelingt, Verknüpfungen auszudrücken
und eine Verbindung zu schon ins Unbewusste abgesunkenen und verloren ge-
glaubten Fragmenten und Themen herstellen zu können, die mit einem aktuellen
Thema oder Problem korrespondieren. Es ist dieser Rückgriff auf innere Bilder,
die unsere Zuversicht tragen und in der wir unsere Empfindlichkeiten – über die
Zeiten hinweg – gespiegelt sehen. Rückblickend suchen wir auch nach Erfah-
rungen, die sich für die aktuelle Herausforderung so aktualisieren lassen, dass
sie Kräfte verleihen, statt Kräfte zu nehmen.
Die Bildung von Begriffen hat dabei einen etwas anderen Stellenwert als
die Metaphorisierung. Begriffen wohnt die Neigung inne, einen Erfahrungszu-
sammenhang in eine allgemein verbindliche Sprachregelung und ein allgemei-
nes Bedeutungsuniversum einzurücken. In diesem Sinne sind sie, wie Berthold
Brecht in „Flüchtlingsgespräche“ sagt, „Griffe“ (Brecht 1967, 56). Aber die be-
griffliche Artikulation der Erfahrung fixiert auch, setzt fest, abstrahiert vom
Fluss der Erscheinungen.
Eine Voraussetzung des sprachlichen Ausdrucks ist somit auch ein inneres
Durchspielen von Möglichkeiten. Zugleich handelt es sich um einen Komprimie-
rungsprozess, um das, was zum Ausdruck drängt, schließlich in jenem sprachli-
chen Medium auszudrücken, das wir mit anderen teilen können und das so ver-
lässlich erscheint, dass wir ihm zutrauen, einen Sachverhalt in einer für andere
Menschen verstehbaren Weise darzustellen (vgl. hierzu auch Joas 1992, 119).
Eine besondere Ebene der sprachlichen Artikulation ist das Schreiben, nicht
nur als Möglichkeit der Klärung, sondern als eine Form des Weiterverarbeitens
eigenen Wissens. Das Schreiben ist durch seine Möglichkeit des Speicherns,
Wiederholens und Revidierens nicht nur Instrument, Schon-Gedachtes und Wis-
sen zu verausgaben, sondern auch Instrument des Präzisierens, Erweiterns, ja
des Entwickelns von Wissen (vgl. Eigler 2006). Insofern ist die Sprache nicht
„Werkzeug“ zum Transport eines vorher innerlich schon feststehenden Inhalts,
sondern Medium und – in Humboldts treffender Bezeichnung – „bildendes Or-
gan des Gedankens“ (Humboldt 1903).
Trotz dieser immer wieder betonten Klärungsfunktion der Sprache wäre die
Vorstellung eines definitiven Abschlusses des Verstehensprozesses allzu opti-
mistisch, so, als ob man Prozesse in all ihren Bedingtheiten durchschauen könne
und ein Phänomen wie das Sich-Selbst-Gleich-Seins und -Bleibens durch den
Fluss der Veränderung hindurch immer noch in Aussicht stünde. Darauf werden
wir zurückkommen.
27
4 Irritations- und Krisenkonzepte
29
A. Combe, U. Gebhard, Verstehen im Unterricht, DOI 10.1007/978-3-531-94281-0_4,
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
4 Irritations- und Krisenkonzepte
Dieser Krisentyp gehört nun eben zur besagten geistigen Erfahrung. Das
„Fernsein von Geschäften oder Abhaltungen“, wie schon Grimms Wörterbuch
die Muße definiert, verweist erst einmal auf einen von praktischen Dringlichkei-
ten entlasteten Raum als Eingangsvoraussetzung. Wie aber soll gerade in einem
solchen Raum eine Krise entstehen? Die Krise ist hier in der Tat vermeidbar,
wird aber vom Subjekt selbst oft in unermüdlichen Anläufen selbst herbeige-
führt. Man begibt sich, wie Oevermann sagt, etwa bei einem Museums- oder
Theaterbesuch „freiwillig in die potentiell zur Krise sich öffnende Kontempla-
tion“. Die Situation ist also offensichtlich dazu angetan, eine bestimmte Wahr-
nehmungseinstellung zu entfalten, die als „selbstgenügsam“ zu bezeichnen ist:
bei dieser Form der Wahrnehmung „lassen wir ein gegenüberstehendes Ande-
res, eine Welt ganz auf uns wirken, nehmen wir sie neugierig ganz in uns auf,
schmiegen wir uns dem anderen ganz an, öffnen wir uns für Neues, für bis da-
hin Undenkbares, Unvorstellbares, selbst dann, wenn es sich um ganz vertraute
Gegenstände handelt. Daher steht dieses Wahrnehmen polar einer in eine ziel-
gerichtete, zweckorientierte Praxis eingebetteten Wahrnehmung gegenüber“
(Oevermann 1996, 2)
Es sind also Situationen, die vom Bewertungsdruck temporär suspendiert
sind. Und eben im Zuge dieser selbstgenügsamen Wahrnehmung entwickelt der
Einzelne, wie Oevermann in der Argumentation sinngemäß fortfährt, eine ge-
wissermaßen weite Aufmerksamkeit für Überraschendes und für Details, die
wiederum dazu angetan sind, bisher ganz selbstverständliche, routinierte Wahr-
nehmungsweisen und Blickwinkel in Frage zu stellen. „Wenn man Dinge um ih-
rer selbst willen betrachtet, dann wächst die Wahrscheinlichkeit, dass man an ih-
nen Seiten sehen kann, die man vorher noch nie gesehen hat – dass also Krisen
erzeugt werden, sehr schnell und exponentiell zunehmen“ (2004, 170).
Geschildert wird hier die Grundsituation der ästhetischen Erfahrung. Cha-
rakteristisch für diese die ästhetische Erfahrung konstituierende Wahrneh-
mungseinstellung ist schon allein die Öffnung der Aufmerksamkeit gegenüber
dem Überraschenden und Fremden, wodurch ein Austausch zwischen innerer
und äußerer Realität ermöglicht wird. Schon der Kontext etwa des Museums
oder des Theaters fordert zu dieser Einstellung heraus. Dadurch wird die Wahr-
nehmung des Neuen begünstigt. Damit ist auch ein bestimmtes Person-Gegen-
stands-Verhältnis angedeutet, das für den Bereich geistiger Erfahrung typisch
ist.
Gibt es nun Anhaltspunkte dafür, wie man diese Strukturen der ästhetischen
Erfahrung auf das schulische Lernen übertragen kann? Gilt es, durch geschickte
Inszenierungen und spektakuläre Experimente die Schüler zu überraschen und
aus ihrer oft distanzierten Position herauszuzwingen? Hat man die dramaturgi-
schen Instrumente, um wie auf dem Theater durch Mittel der Verfremdung, be-
30
4 Irritations- und Krisenkonzepte
stimmte Botschaften, die wehtun, schier unerträglich sind – und die sich der
einzelne Zuschauer bisher nicht vorstellen konnte in seiner ordentlichen und re-
gelmäßigen Denkkultur – in der Schule zu inszenieren? Gibt es in der Schule
überhaupt szenische Experimente, die so gründlich zerstören können?
Es lassen sich letztlich schulische Lernprozesse in Hinsicht auf den Einbe-
zug der persönlichen Ganzheit der Person nicht mit dem vergleichen, was im
Bereich der ästhetischen Erfahrung „Erhabenheit“ oder „Ergriffenheit“ genannt
wird, die, im Sinne der Arbeiten Klaus Mollenhauers, allemal idiosynkratische
Geschichten des Selbst – also die sensibelsten Empfindlichkeitszonen – berüh-
ren können (vgl. die Auseinandersetzung zwischen G. Otto und K. Mollenhauer,
Otto 1998, 9).
Ein Begriff, der so etwas wie eine Parallelfigur zur ästhetischen Erfahrung
und ihrer Resonanzen bezogen auf schulische Lernprozesse sein könnte, ist un-
seres Erachtens die Figur der Nachdenklichkeit. Denn Nachdenklichkeit ist eben
auch in der Irritation gegründet, in dem, was „in der deutschen Sprache etymo-
logisch Wahrnehmung ursprünglich heißt: bewahren, was die Aufmerksamkeit
zwingend erregt hat“ (Oevermann 1996, 3). Die Eröffnung eines neuen Verhält-
nisses zu einem Gegenstand setzt allerdings auch hier voraus, dass man mit der
Dynamik des Phantasieprozesses in Kontakt bleibt, so wie es Dewey in Bezug
auf den künstlerischen Schaffensprozess beschreibt: „Nur durch die allmähliche
Organisation von miteinander verbundenem inneren und äußeren Material kann
etwas entstehen, das weder ein gelehrtes Dokument noch die Wiedergabe von
Althergebrachtem ist“ (Dewey 1988, 91).
Damit sind wir bei der Frage angelangt, wie wir uns den auf das schulische
Lernen und Verstehen bezogenen Begriff der Krise und Irritationen vorstellen.
Der Begriff der Irritation oder Krise trifft aus unserer Sicht für eine Diskrepanz-
erfahrung zu, die ansteckt und die eigene Nachdenklichkeit aufleben lässt. Das
Grundprinzip stellen wir als Schaffung einer Fremdheit vor, die nicht überwäl-
tigt, sondern anregt und zum Mitmachen und Mitspielen anregt.
Wie ist eine solche Irritation und ihre Verarbeitung zu denken? Die Schüler
bringen aus der Alltagwelt eine Vielzahl von Perspektiven mit, eine Vielzahl von
unausgesprochenem Wissen um Dinge. Wir glauben, dass es im Übergang zur
der objektivierten, fachlichen Seite des Wissens notwendig ist, mit Elementen
des für selbstverständlich gehaltenen Alltäglichen zu arbeiten, aus diesen Pers-
pektiven etwas zu machen, was freilich irritiert und provoziert.
Wir gehen davon aus, dass eine solche Irritation der routinierten Selbst- und
Weltinterpretationen vor allem durch Vergleichshorizonte erzeugt wird, z.B.
durch systematische Gegeneinanderführung von mitgebrachten Perspektiven
oder durch das Aufmerksammachen auf die Implikationen, Konsequenzen und
Inkompatibilitäten eines Zugangs. Auch eine Funktion des Lehrers als „Krisen-
31
4 Irritations- und Krisenkonzepte
32
5 Phantasien als Abkömmlinge des Unbewussten
33
A. Combe, U. Gebhard, Verstehen im Unterricht, DOI 10.1007/978-3-531-94281-0_5,
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
5 Phantasien als Abkömmlinge des Unbewussten
34
5 Phantasien als Abkömmlinge des Unbewussten
ber machen kann. „Ja, von manchen dieser latenten Zustände müssen wir aussa-
gen, sie unterscheiden sich von den bewussten eben nur durch den Wegfall des
Bewusstseins“, formuliert Freud unzufrieden und geradezu selbstironisch in sei-
nem Aufsatz „Das Unbewusste“ (Freud 1915, 265). Eben diese „Unsagbarkeit“
des Unbewussten hat es der Psychoanalyse auch bisweilen schwer gemacht, sich
in rationalen, wissenschaftlichen Diskursen zu etablieren, weil stets der Irrati-
onalismusverdacht im Raume stand. Das hat sich insofern geändert, als sowohl
von der Neurobiologie als auch von der experimentellen Kognitions- und Sozi-
alpsychologie Hinweise kommen, dass dem Bereich der unbewussten „Informa-
tionsverarbeitung“ weitaus größere Bedeutung zukommt als bisher angenom-
men oder zugestanden (siehe 5.3).
Freud hält die „Annahme des Unbewussten“ für „notwendig, weil die Da-
ten des Bewusstseins in hohem Grade lückenhaft sind“ (Freud 1915, 265). Sehr
deutlich wird dies nicht nur bei der Erklärung von neurotischen Symptomen,
sondern gilt für jedermann und in allen Fragen des alltäglichen Lebens: „Unsere
persönlichste tägliche Erfahrung macht uns mit Einfällen bekannt, deren Her-
kunft wir nicht kennen, und mit Denkresultaten, deren Ausarbeitung uns ver-
borgen geblieben ist“ (Freud a.a.O.). Wir gehen also davon aus, dass die Psy-
choanalyse nicht nur eine Methode psychotherapeutischer Praxis ist und die
Annahme der unbewussten Verankerung der seelischen Tätigkeiten des Men-
schen nicht nur für neurotische Veränderungen in der seelischen Entwicklung
gilt. Die Psychoanalyse begreifen wir vor allem auch als eine (hermeneutische)
Theorie zum tiefenpsychologischen Verständnis aller menschlichen affektiven
und kognitiven Verhaltensweisen.
Bereits in der Traumdeutung formuliert Freud: „Das Unbewusste muss [...]
als allgemeine Basis des psychischen Lebens angenommen werden. Das Un-
bewusste ist der größere Kreis, der den kleineren des Bewussten in sich ein-
schließt; alles Bewusste hat eine unbewusste Vorstufe, während das Unbewusste
auf dieser Stufe stehenbleiben und doch den vollen Wert einer psychischen Leis-
tung beanspruchen kann“ (Freud 1900, 617).
Der zentrale Grundpfeiler des psychoanalytischen Theoriegebäudes ist also
die Annahme eines Unbewussten, das — weit mehr, als uns eben bewusst ist —
unser Verhalten, Denken, Fühlen und Bewerten bedingt. Wir sind gewisserma-
ßen nicht Herr im eigenen Haus, formuliert Freud sehr pointiert. Jedoch: ”Be-
wusstheit [...] bleibt das einzige Licht, das uns im Dunkel des Seelenlebens
leuchtet und leitet” (Freud 1938, 147).
Mit der Annahme des Unbewussten wird eine der Grundannahmen abendlän-
dischen Denkens, nämlich dass sich menschliche Existenz zuerst und vor allem
in einer bewussten Reflexion bzw. Selbstreflexion erfährt und auslegt, korrigiert
(Brumlik 2006). Das ist durchaus als ein revolutionärer Bruch im Selbstver-
35
5 Phantasien als Abkömmlinge des Unbewussten
36
5 Phantasien als Abkömmlinge des Unbewussten
Die „Sprache“ des Unbewussten ist weniger nach syntaktischen und seman-
tischen Gesetzen organisiert, sondern bildhaft und assoziativ.
37
5 Phantasien als Abkömmlinge des Unbewussten
Tab 1: Intuitives und reflektierendes System: ein Merkmalsvergleich (nach Haidt 2007)
38
5 Phantasien als Abkömmlinge des Unbewussten
Der automatisierte Modus schließt nach Evans (2007) die Möglichkeit ein,
die Umwelt unmittelbar zu kategorisieren und auf sie zu reagieren. Die Wahr-
nehmung von Situationen scheint unmittelbar mit Handlungsoptionen gekoppelt
zu sein, sodass ein flüssiges, psychische Kapazität sparendes Handeln-Können
möglich ist. Sozialpsychologische Autoren (z.B. Evans 2007) bieten dafür eine
schemabezogene Herleitung als Erklärung an. Aus vielfältigen Erfahrungen mit
einem Gegenstand und einer Handlung lassen sich situativ invariante gemein-
same Merkmale herauslösen und zunehmend verdichten, so dass „ein spezielles
von uns als häufig wiederkehrend erlebtes Muster von eingehenden Reizen ein
automatisches „Erkennen“ auslöst“ (Hennings/Mielke 2005, 243). Das Unbe-
wusste wird hier also analog zur Bildung und Wirkungsweise von Schemata ge-
dacht. Sie sind in dieser Sicht gewissermaßen gedächtnismäßig aktualisierbare
Abrufpläne zur Aufmerksamkeitssteuerung, die unmittelbar Kohärenz und Ver-
ständnis erzeugen bzw. als Information selegierende Rahmungen wirken.
Was ergibt sich nun aus dieser Übersicht? Begriffe wie implizit, assozia-
tiv, automatisch, intuitiv, holistisch oder metaphorisch, die hier für die Ebene
der unbewussten Informationsbearbeitung als repräsentativ gelten, werden zu-
nächst in sich nicht weiter ausdifferenziert. Aber eines lässt sich als durchschla-
gendes Ergebnis dieses Untersuchungsansatzes feststellen: Es handelt sich auf
der Ebene der unbewussten Informationsverarbeitung nicht um eine Form der
Erfahrungs- und Erkenntnisbildung, die auf begrifflich-diskursiven Bestimmun-
gen eines Sachverhalts beruht. Wir entnehmen den Ergebnissen vielmehr, dass
es auf dieser nicht-propositionalen Ebene um eine rasche Orientierung geht, um
einen schnellen Anschluss und ein spontanes Urteil über einen Sachverhalt. Es
geht um das, was intuitiv und spontan einleuchtet oder sich gar unmittelbar auf-
drängt, was sich möglicherweise gar nicht klar und vollständig in diskursives
Wissen transformieren lässt, aber gerade aufgrund der schöpferischen Spontane-
ität unerlässlich ist. Offensichtlich ist dieser Bereich der unbewussten Informati-
onsverarbeitung stark mit einer Heuristik verbunden, die wir im Alltagshandeln
brauchen (Gigerenzer 2007). Die intuitive und schnell herstellbare Sicherheit
ergibt sich daraus, dass die impulsiven Reaktionsweisen sich gleichsam auto-
matisch als das Ergebnis vielfältiger Erfahrungen von selbst herstellen. Die In-
halte des impulsiven Systems, die Reaktionsweisen der unbewussten Informa-
tionsverarbeitung ergeben sich deshalb so mühelos, weil sie durch gleichsam
tausendfache Bahnungen automatisch ablaufen. Das Fahrradfahren ist dafür ein
gutes Beispiel. Insofern ist die Funktionsweise der unbewussten Informations-
verarbeitung weniger „automatisch“ als vielmehr „automatisiert“. Vor allem da-
durch kann das kognitive System entlastet werden.
39
5 Phantasien als Abkömmlinge des Unbewussten
5.4 Fazit
Dass sich Psychoanalyse und empirisch ausgelegte Kognitionspsychologie kon-
struktiv auf einander zu bewegen (z.B. Epstein 1994, Mertens 2005), ist bemer-
kenswert. Beide akzentuieren unterschiedliche Aspekte des Unbewussten, die
wir nicht gegeneinander ausspielen, sondern in ihrer Eigenlogik beachten und
abschließend herausstellen wollen.
Im Grunde geht es in den Modellen der Sozial- und Kognitionspsychologie
um die Passung von äußeren Informationen einerseits mit inneren, automatisier-
ten Schemata andererseits. Damit wird die Entlastung des Informationsverar-
beitungssystems augenfällig und auch plausibel erklärt. Die damit verbundene
Sicherheit und Effizienz funktioniert nur bei Konfliktfreiheit. Kommt es zu Pro-
blemen und Konflikten, tritt das reflektierende System auf den Plan.
Offen bleibt dabei allerdings die Frage, ob die in einem Schema aktuali-
sierten Gedächtnisinhalte in irgendeiner Form eine symbolische, sinnkonstitu-
ierende Bedeutung repräsentieren. Eben dies ist der Akzent des Unbewussten
bei der Psychoanalyse, die das Unbewusste als Ausdruck des Verdrängten eher
als Ort psychodynamischer Konflikte ansieht. Das macht das Bedeutungshal-
tige und Tiefsinnige des psychodynamisch Unbewussten gegenüber dem Ziel-
orientierten des automatisierten Unbewussten aus. Während die Abkömmlinge
des Unbewussten der Psychoanalyse uns gewissermaßen „zu denken geben“
(Ricoeur 1974), machen die Heuristiken der automatisierten Informationsverar-
beitung das Denken im Grunde überflüssig. Menschen brauchen und haben of-
fenbar beide Umgangsweisen mit dem Unbewussten
Die kognitionspsychologischen Zwei-Prozess-Modelle zum Unbewuss-
ten haben allerdings eine gewisse Neigung, die Schicht der inneren Bilder und
Phantasien als Ausdrucksform des Dynamisch-Unbewussten in ihrer Bedeu-
tungshaftigkeit und Eigenlogik zu unterschätzen. Die mangelnde Wertschätzung
der Bedeutungshaftigkeit von inneren Bildern und Phantasien, von der wir ge-
sprochen haben, kommt vor allem da zum Ausdruck, wo die schnellen und dem
Unbewussten zugerechneten Entscheidungen als „automatisierte“ Vorgänge ver-
standen werden. Dabei besteht zumindest die Gefahr, dass die symbolische, be-
deutungstragende, bilderreiche Dimension des Unwussten, die gewissermaßen
nach Ausdruck, letztlich nach Bewusstsein verlangt, in ihrer sinnkonstituieren-
den Funktion vernachlässigt wird. Es ist die Ebene, die Freud mit dem Begriff
des „Dynamisch-Unbewussten“ bezeichnet hat.
Diese aus dem Unbewussten gespeiste Phantasiedynamik ist nun für uns die
zentrale. Denn eine wesentliche Annahme unseres Ansatzes ist gerade die Sinn-
und Bedeutungshaltigkeit der Phantasien und inneren Bilder, weil darüber ein
Zugang zu den Gegenständen der äußeren und inneren Welt aufgebaut bzw. ge-
40
5 Phantasien als Abkömmlinge des Unbewussten
funden werden kann. Phantasien haben insofern eine besondere Bedeutung bei
der Gegenstandskonstituierung.
41
6 Phantasien und die Bildung von Möglichkeitsräumen.
Manifestationen beim Problemlösen
Man steht bei der Darstellung der Formen und der Bedeutung von Phantasien
vor dem Problem, dass diese Ausdruck eines inneren Geschehens und im Prin-
zip nur für den Handelnden selbst wahrnehmbar sind. Das heißt aber nun nicht,
dass Phantasien für die Erfahrung und Beschreibung gänzlich unzugänglich
seien. Phantasien sind auch eingebettet in eine Welt, die uns doch durch unsere
kreative Handlungsfähigkeit erschlossen und vertraut ist. Ob beim Suchen und
Entwerfen, beim Probieren oder Testen – stets sind Phantasien im Spiel.
Wir greifen zurück auf die Annahme, dass das, was kreativ hervorgebracht
und gestaltet wird, von Phantasien bewegt wird. Allerdings nehmen die psy-
chologischen Kreativitätsdefinitionen den Phantasiebegriff kaum auf. Sie ent-
halten ihn aber implizit oder legen ihn selbstverständlich zugrunde. Mit dem
Stichwort „Kreativität“ berühren wir ein widersprüchliches „Heilswort“ (H. v.
Hentig 2000) – gleichsam einen vom Einzelnen geforderten Modus der Selbst-
führung. Bei seinem typologisierenden Versuch, die wichtigsten Zusammen-
hänge zu charakterisieren, in denen die Idee der Kreativität auftauchte und Ein-
fluss gewann, setzt Hans Joas (1992) mit Rückgriff auf den Pragmatismus von
Dewey das problemlösende Handeln von psychologischen Kreativitätstheorien
ab. Kreativität ist im Rahmen problemlösenden Handelns situiert; sie antwor-
tet auf Herausforderungen, die gleichermaßen neue wie angemessene Lösungen
verlangen. Aber was hat das mit den Möglichkeiten zu tun, Phantasien in ihrem
Wirken und in ihren Formen sichtbar zu machen?
Entgegen kommt uns nun die Analogie, die zwischen der Herstellung ei-
nes literarischen Prosatextes oder dem Schreiben einerseits und dem Problemlö-
sungsprozess andererseits gesehen wird. Hier können Vorgänge dargestellt wer-
den, die sich vergleichen lassen (Eigler 2006). Was den Problemlösungsprozess
mit dem Schreibprozess verbindet, ist schon allein der gesamte Charakter des
Ablaufs: diese Produktionsprozesse sind oft verschlungen und diskontinuier-
lich. Langsam baut sich etwas auf. Man kann einem die Entscheidungen nicht
abnehmen. Verschiedenes wird ausprobiert, Konsequenzen bewertet, Möglich-
keiten getestet. Irritationen müssen produktiv gewendet werden. Die Verlaufsfi-
guren in solchen Prozessen bestehen weniger in einer nur nach vorne gerichteten
Bewegung. Ihre Bewegungsform ist vielmehr die einer zyklischen Entfaltung in
Rück- und Vorgriffen, ein Ineinander von Entwürfen und deren Evaluation. Wir
43
A. Combe, U. Gebhard, Verstehen im Unterricht, DOI 10.1007/978-3-531-94281-0_6,
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
6 Phantasien und die Bildung von Möglichkeitsräumen
44
6 Phantasien und die Bildung von Möglichkeitsräumen
sene Buchidee haben, muss ich mich erst labyrinthisch verlieren, um überhaupt
an die Materie heranzukommen. Erst wenn es soweit ist, kann die Spracharbeit
richtig beginnen“ (Nizon 1985, 125).
Die Natur der Schwierigkeit, die Paul Nizon hier beschreibt, ist die Suche
nach einer Idee oder einer „Spur“, die zu ersten Schreibversuchen führen könnte.
Wo ergibt oder findet sich eine Konstellation, die die Kraft hat, eine weiterzu-
verfolgende Spur oder Idee zu tragen? Der Anfang der produktiven Erkenntnis
wird immer noch stark voluntaristisch, als eine vom Willen abhängige Bereit-
schaft gedeutet. Aber gelingende Anfänge zeichnen sich auch durch andere Mo-
mente der Annäherung aus: Es braucht „Andockpunkte“, nämlich innere Bilder
und Phantasien. Denn genau genommen verhält es sich so: Es fängt an, nicht
ich fange an. Ich komme dann erst dazu und nehme den Vorgang in meine Re-
gie. Aber ganz so passiv, als bloßes Treibenlassen vom Gedankenstrom, ist die-
ses Anfangen nicht. „Ein in die Welt verteiltes Ich“, wie Paul Nizon sagt, ist auf
den Wechsel der Blickwinkel und die Veränderung des Assoziationsfeldes ver-
wiesen.
Dewey beschreibt diese Phase als „Bestimmung der Problemlösung“. Sie
ist gekennzeichnet durch ein Ineinander zwischen der Wahrnehmung der „Tat-
sachen des Falles“ (2002, 136) einerseits und problembezogenen, unvoreinge-
nommenen „Suggestionen“, Problemaspekten und Gedankenverknüpfungen
andererseits. Wir meinen Dewey richtig zu interpretieren, wenn wir trotz der an-
gedeuteten tagträumerischen Gedankenflanerie („suggestions“) annehmen, dass
neben dem Spielerischen dieser Phase auch harte, sachhaltige Arbeit ansteht, bis
sich die zunächst unverbundenen Elemente und assoziativen Zusammenhänge
zu einer neuen „Gestalt“ und Idee fügen.
Analog hierzu spricht Thomas Mann von „Erinnern und Herbeibringen von
Material, Zubehör, um dem vorschwebenden Schatten einen Körper zu schaf-
fen“ (1949, 31). Und auch Christa Wolf möchte sich nicht nur von der „Gnade
des Einfalls“ abhängig machen: „Es ist ja nicht so, dass man irgendwo sitzt und
wartet: Wann kommt denn nun endlich ein Einfall? Man ist ja dauernd beschäf-
tigt. Innerhalb dieser allgemeinen Beschäftigung zieht sich dann diese Unruhe
irgendwie (man weiß ja nicht, wie) auf ihren Kernpunkt zusammen, und die Idee
ist „da“. Das ist einer der schönsten Momente. Neulich sagte ich am Ende eines
Traumes mir selbst laut die Idee für ein Kapitel, an dem ich arbeitete – ein Satz,
den ich beim Erwachen noch wusste und akzeptieren konnte“ (Wolf 1980, 61f.).
Dass von Christa Wolff der nächtliche Traum erwähnt wird, in dem sich das
bisher Getrennte und Fragmentarische gleichsam hinter ihrem Rücken ordnet
und schließlich zur Idee zusammenschließt und fassbar wird, kommt uns bei
unserer Untersuchung über Phantasieformate natürlich entgegen – so wie wir
in der obigen Eingangsphase den Aufbau von Assoziationsfeldern aus je unter-
45
6 Phantasien und die Bildung von Möglichkeitsräumen
46
6 Phantasien und die Bildung von Möglichkeitsräumen
47
7 Phantasieformen – Versuch einer Systematisierung
Wir werden im Folgenden systematisch darlegen, dass und inwiefern bei der
Annäherung an Gegenstände und Problemkonstellationen verschiedene Phan-
tasieaktivitäten beteiligt sind. Im Einzelnen nehmen wir die eben genannten
„Phantasieformate“ in den Blick:
den Traum,
die Intuition,
die Assoziation,
das Gedankenexperiment als Konstruktion und Rekonstruktion.
49
A. Combe, U. Gebhard, Verstehen im Unterricht, DOI 10.1007/978-3-531-94281-0_7,
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
7 Phantasieformen – Versuch einer Systematisierung
Im Zentrum des Träumens steht ein Fluss von Vorstellungen, Bildern, Affek-
ten und Strebungen, die nicht logisch in wohl unterschiedene Elemente ausei-
nander gelegt werden können. Da sie dem bewussten Verstand meist unlogisch
erscheinen, werden diese sogenannten „Primärprozesse“ (Freud 1915, 285)
oft beiseite getan, nicht beachtet. Dennoch: der Traum ist nicht bloßes Chaos
und jedem Verständnis entzogen. Er steht vor allem für unerledigte, in Erinne-
rungsspuren abgelegte Wünsche und Konflikte, die durch eine aktuelle, sinnver-
wandte Erfahrung aufgerührt wurden. Unter der Bedingung der, wenn auch nur
herabgesetzten, aber nicht völlig ausgeschalteten Zensur können sich diese Er-
innerungsspuren und Wünsche im Traum bemerkbar machen. Freud unterschei-
det in diesem Sinne die „Traumarbeit“ während des Träumens von der darauf
folgenden „Deutungsarbeit“ (Freud 1917/1918). Diese Deutungsarbeit vollzieht
sich zuerst bildhaft und assoziativ in unterschiedlichen Symbolisierungsformen,
bevor eine Artikulation im Medium des sprachlichen Sinns möglich ist. Etwas
von der Konfliktspannung, die diesem Unerledigten zugrunde liegt, zeigt sich
dadurch, dass selbst im Schlaf die entstehenden Bilder durch die Mechanismen
der Traumarbeit wie Verdichtung, Verschiebung sowie durch die Rücksicht auf
Darstellbarkeit umgeformt werden.
Freud beschreibt diese Eigenart der Primärprozesse und der Eigenschaften
der Traumbilder sehr genau und hebt ihre Besonderheiten gegenüber dem Be-
reich des logischen Denkens hervor. So können Vorstellungen austauschbar sein
(„Verschiebung“), oder sie treten in ihrem Gegenteil verwandelt auf. Auch sind
oft mehrere Vorstellungen und Gedanken in einer Repräsentanz vertreten („Ver-
dichtung“). Gegensätze und Widersprüche werden nicht auseinandergehalten:
Es gibt „in diesem System keine Negation, keinen Zweifel, keine Grade von Si-
cherheit“ (1915, 285). Allerdings kann bei dieser Bildproduktion normalerweise
Inkompatibles und weit auseinander Liegendes in ein Zusammenspiel kommen,
so, als ob die Karten neu gemischt würden. So kann das Träumen, „indem es
Verbindungen löst und neue erschafft, eine veränderte Ausgangslage zur Prob-
lemlösung im Wachzustand bereitstellen“ (Deserno 2007, 919). Träume sind oft
wirr und nicht immer lässt sich etwas Bestimmtes daraus entnehmen. Doch kön-
nen sie auch zu erzählbaren Gebilden werden, ja sie können zum Erzählen, zu
Bildern und Assoziationen verlocken.
Da, wo es gelingt, sich den symbolischen Szenarien des Traumes in schwe-
bender Aufmerksamkeit zu öffnen, sind diese Phantasieszenarien aus den wich-
tigen lebensgeschichtlichen Motivierungslinien und abgesunkenen Utopien
gespeiste Hinweise und Ideenkeime für die der jeweiligen Person möglichen
Problemlösungen. Auch Tagträume, nach innen verlegte Gedankenspiele über
Lebensperspektiven, verlangen, wie die Träume, eine Sinnarbeit. Sonst werden
50
7 Phantasieformen – Versuch einer Systematisierung
51
7 Phantasieformen – Versuch einer Systematisierung
Was dabei Voraussetzung des intuitiven Urteils und der prospektiven Erinne-
rung ist, zeigen die Arbeiten zu den Urteilsformen von Experten im Gegensatz
zu Novizen (zusammenfassend Gruber 1994). Voraussetzungen sind Erfahren-
heit im Umgang mit der Sache, Umsicht und, wie man zu sagen pflegt, ein Blick
für die Situation. Die vielversprechende Rede vom „Bauchgefühl“ unterschlägt
gelegentlich diese praktische Vertrautheit mit der Sache und gibt der gefühlsmä-
ßigen Situations- und Optionseinschätzung ein zu starkes Gewicht, sowie auch
gesagt werden muss, dass die erwähnte Erfahrenheit sich durch diskursives Wis-
sen nicht gänzlich einholen lässt. Es gibt letztlich keinen Zweifel, dass Gefühle
und die von ihnen ausgelösten Phantasien zur Bewertung von Optionen beitra-
gen (vgl. z. B. Gigerenzer 2007, de Sousa 2009). In den Worten des kanadischen
Sozialphilosophen Charles Taylor handelt es sich bei dieser emotionalen Situa-
tionseinschätzung um eine Art „background understanding“ (1988), das immer
eine mehr oder minder bewusste Beziehung zum eigenen Wohl, zur „Sorge“
im Sinne von Heidegger enthält. Das ist eine auch für den Prozess des Verste-
hens bemerkenswerte Aussage. Wir sind immer schon mit unseren Empfindun-
gen „beteiligt“, bevor wir einen Sachverhalt bewusst und sprachlich aufgreifen.
Für das Verstehen kann es deshalb wichtig sein, sich den kognitiven Gehalt sei-
ner Empfindungen zu vergegenwärtigen.
52
7 Phantasieformen – Versuch einer Systematisierung
53
7 Phantasieformen – Versuch einer Systematisierung
beruhende Ahnung lassen sich die manchmal erstaunlichen Leistungen der In-
tuition nicht erklären.
In Bezug auf das mit der Assoziation verknüpfte Erkenntnisziel muss aller-
dings gesagt werden, dass das Assoziationsmaterial seinen Sinn nicht als sol-
ches schon freigibt. Was mit dem Assoziationsfeld vorliegt, ist nicht mehr oder
nicht weniger als eine Verdichtung von Konstellationen, deren Richtung aber
durch eine Deutungsinitiative und eine Deutungshypothese erst noch zu formu-
lieren ist. Im Grunde bedeutet das, die Assoziationsreihen wieder rückwärts zu
gehen, um im Zuge dieser Vergegenwärtigung eine Art von Leitfaden zu bilden.
54
7 Phantasieformen – Versuch einer Systematisierung
Wir befinden uns mit dem Gedankenexperiment allerdings auf einer dezi-
diert sprachlich-systematischen Ebene. Genutzt werden die reichhaltigen und
systematischen Möglichkeiten, die die Sprache bietet, denkbare Möglichkeiten
zu entwerfen. Ein intuitives Regelwissen des „native speaker“ lässt ein sinnlo-
gisches und systematisches Durchspielen von Optionen und ein entsprechen-
des Urteil – eine Prüfung und Kritik (!) der Angemessenheit von Optionen – zu.
7.5 Fazit
In dieser Arbeit soll die Aufmerksamkeit auf das verstehende Lernen im Un-
terricht gelenkt werden. Wir plädieren um des besseren Verstehens willen für
einen mehrperspektivischen Zugang zum Gegenstand des Unterrichts, für den
Versuch, die in der Lerngruppe existierenden Perspektiven unter Einbeziehung
fachlicher Versionen vergleichend bewusst werden zu lassen.
Betrachtet man die Phantasieformate unter dem Aspekt, inwieweit sie der
mehrperspektivischen Deutung von Sachverhalten dienlich sein können, so las-
sen sich diese typologisch ordnen. Der Traum macht uns mit seinen Bilder-
strömen in verdeckter Weise auf übergangene Perspektiven aufmerksam. Die
Intuition vollzieht sich immer als spontanes Entwerfen auf dem Hintergrund
von Erinnerungsspuren, wobei die entworfenen Perspektiven im Horizont von
Konsequenzen „evaluiert“ werden. Die Assoziation ist schon ein Spiel mit Ähn-
lichkeiten und Unterschieden. Auch die versuchsweise Ausgestaltung von al-
ternativen Perspektiven auf der Ebene von Angemessenheitsurteilen ist assozi-
ativ möglich. Schließlich können im Gedankenexperiment Perspektiven auch in
sprachlich-argumentativen Zusammenhängen von Begründung und Ableitung
vergegenwärtigt werden.
Das Pendeln zwischen diesen Phantasieformen trägt vermutlich zur produk-
tiven Bewältigung von Irritationen und Erfahrungskrisen bei. Die Leistung von
Phantasieaktivitäten bei der Entstehung einer neuen Erfahrung und Erkenntnis
wäre dann zu fassen als „eine Transformation, die sich zuerst bildhaft und as-
soziativ in unterschiedlichen Symbolisierungsformen vollzieht, bis sich eine
Transformation im Medium sprachlichen Sinns vollziehen kann“ (Helsper 2009,
165/166).
55
8 Die Fremdheit des Gegenstandes und die Möglichkeit
des Verstehens. Bildungstheoretische Anmerkungen
Zum Verstehen gehört nach allem, was wir theoretisch entwickelt haben: Erfah-
rungsprozesse und Erfahrungskrisen wagen, Fremdheiten ausgraben, die Un-
terschiedlichkeit der Bilder und Blickwinkel nutzen. Diese Verschiebung von
Blickwinkeln ist ein ausgezeichnetes Mittel, um die Dinge neu zu sehen und die
Selbstverständlichkeiten und Vorannahmen zum Zwecke eines besseren Verste-
hens unter Veränderungsdruck zu setzen. Eine von Differenzsensibilität getra-
gene Abarbeitung von Interpretationen und Perspektiven erscheint uns als Mög-
lichkeit, dieser „Welt der Zeichen und Formen, der Bücher und der Phantasie“
(Prange/Strobel-Eisele 2006, 172) in der Schule Bedeutsamkeit abzugewinnen.
Gerade aber weil wir im Verstehen den Kernbegriff schulischen Lernens se-
hen, sind wir skeptisch gegenüber Statements, die die prinzipielle Möglichkeit
von persönlichkeitswirksamen Bildungsprozessen im Bereich der Schule von
vorneherein für unmöglich erklären – also die Entstehung reflexiver Momente,
die biographisch bedeutsam sind bzw. werden können. „Mit der Ausrichtung
am Begriff der Bildung gerät das Schulwesen unter einen Überforderungsdruck
und in das Dilemma der Stofffülle. Und zugleich wird der Bildungsprozess im
Zuge seiner Verschulung seines ursprünglichen Wesens entfremdet. Bildung ist
nicht mehr ein selbstbestimmter und sich selbst organisierender Lernprozess.
Die Umsetzung von angelesenem Wissen in persönliche Erfahrung kann im Un-
terricht einer Klasse nicht gewährleistet werden. Mögliche biografische Wand-
lungsprozesse liegen außerhalb der Reichweite öffentlicher Bildungseinrichtun-
gen. Bildung geht über in schulisches Lernen“ (Schulze 2007, 157). Diese am
Bildungsbegriff aufgehängte Skepsis nehmen wir nun in diesem Kapitel auf und
versuchen damit, unseren Ansatz ins Verhältnis zu bildungstheoretischen Kon-
zepten zu setzen.
Thema der Bildungstheorie seit Humboldt ist die „Verknüpfung unseres
Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regsten und freiesten Wechselwirkung“
(1903, 283). Eine umfassende und nach Humboldt zugleich möglichst ausgewo-
gene Bildung ist nicht im ständigen Kreisen um sich selbst zu haben, sondern
hat einen äußeren Gegenstand zur Bedingung, an dem das Subjekt sich abar-
beiten kann. Der Bildungsbegriff ist nicht nur historisch, sondern auch syste-
matisch jener Ort, „an dem über Legitimation, Zielsetzung und Kritik pädago-
57
A. Combe, U. Gebhard, Verstehen im Unterricht, DOI 10.1007/978-3-531-94281-0_8,
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
8 Die Fremdheit des Gegenstandes und die Möglichkeit des Verstehens
gischen Handelns methodisch reflektiert und gestritten werden kann und soll“
(Koller 1999, 11f.).
Hier spielt nun die Unterscheidung zwischen Lernprozessen höherer Ord-
nung („Bildung“) und (einfachen) Lernprozessen („Lernen“) eine Rolle. Aus-
gehend vom Bildungsbegriff heißt es abgrenzend: „Als Besonderheit dieses
erziehungswissenschaftlichen Grundbegriffs kann gelten, dass der bildungstheo-
retische Blick auf pädagogisch relevante Situationen in erster Linie weder (wie
im Falle der Erziehungsbegriffs) der pädagogischen Beeinflussung der zu Er-
ziehenden noch (wie im Kontext von Didaktik und Unterrichtstheorie) der di-
daktischen Gestaltung von Lehr-Lern-Prozessen gilt, sondern einem Bildungs-
geschehen, das als Selbsttätigkeit der sich bildenden Subjekte verstanden wird“
(Koller 2005a, 48).
Koller knüpft mit dem Begriff der Selbsttätigkeit an den neuhumanistischen
Ursprungskontext an. Die Kategorie der Bildung war eingebunden in die Diskus-
sion um Autonomie, Selbstbestimmung und der Möglichkeit der Selbst-Bildung
(vgl. z.B. Meyer-Drawe 1998, 2005). Allerdings muss heute die Geschlossen-
heit des Identitätsbegriffs, in der eine Synthese der verschiedenen Lebensberei-
che, in denen man sich bewegt, vorausgesetzt wird, in Frage gestellt werden.
Identität meint ja auf der Basis zahlreicher geglückter synthetischer Konfliktlö-
sungen des sich bildenden Bewusstseins das Sich-Selbst-Gleich-Sein und Sich-
Selbst-Gleich-Bleiben durch den Fluss der äußeren Veränderungen hindurch.
Aber das einst im deutschen Idealismus so glanzvoll gefeierte bürgerliche Sub-
jekt, das sich durch die Einheit von Charakter, Berufsentwurf und Lebensform
auszeichnete, wird im Stadium des Rückzugs angetroffen. Ins Zentrum rückt
damit auch die Kontingenz der (post-)modernen Biographie: Tradierte Muster
tragfähiger Identitäts- und Lebensentwürfe büßen hier ihre Orientierungsver-
bindlichkeit ein (Marotzki 1990, 24). Wenn schließlich das Subjekt der Bildung
nicht mehr schlicht als ein mit sich Identisches zu denken ist, rückt das Prozess-
hafte von Bildung in den Vordergrund (Kokemohr 2007, 35). In den Blickpunkt
rücken hier die Bedingungen und Formen der biographischen Wandlungs- und
Transformationsprozesse. So kann man eher von einem „transformatorischen
Bildungskonzept“ sprechen, das durch Arbeiten von Kokemohr, Schäfer, Ma-
rotzki und Koller vertreten wird. Dieses Konzept ist für uns deshalb interessant,
weil mehrere Facetten des Erfahrungskonzepts hineinspielen.
Das Markante in unserem Zusammenhang am transformatorischen Bil-
dungskonzept ist die Betonung einer Krisenerfahrung als „Anlass“ bzw. als
„Herausforderung für Bildungsprozesse“ (Koller/Marotzki/Sanders 2007, 7).
Damit wird der potentiell konflikthafte Charakter von Bildungsprozessen etwa
im Verhältnis zum Harmonisch-Ausgleichshaften bei Humboldt deutlicher in
den Blick genommen. Bildungswirksam kann die Krise insofern werden, als sie
58
8 Die Fremdheit des Gegenstandes und die Möglichkeit des Verstehens
als eine Situation verstanden wird, „in die ein Mensch gerät, wenn er Erfahrun-
gen macht, für deren Bewältigung seine bisherigen Orientierungen nicht ausrei-
chen“ (Koller 2007, 56).
Koller zieht zur näheren Beschreibung die postmoderne Gegenwartsdiag-
nose von Lyotard heran. Was bei dieser Gesellschaftsdiagnose als dominant an-
gesehen wird, ist eine pluralistische Konkurrenz von Sinnwelten, die erst so
richtig in der Vielfalt von Sprachspielen und einer „Heterogenität von Diskurs-
arten“ fassbar wird (1999, 17). In diesen Widerstreit von Diskursarten eingebun-
den muss sich der Einzelne sprechend auf den Sinn seiner je eigenen Welt hin
entwerfen, ohne dass er sich auf eine alles überwölbende „große Erzählung“ als
Ausdruck irgendeiner höheren Autorität berufen könnte.
Koller hebt in seinem Transformationskonzept neben der permanenten Mög-
lichkeit des Nicht-Verstehens und des Scheiterns der Verständigung letztlich die
schöpferische Seite der kulturellen Differenzerfahrung hervor, die zur Artiku-
lation eines bisher am Ausdruck gehinderten Potentials führen kann, aber nicht
muss. Der Widerstreit der Diskursarten hat sich dabei so zugespitzt, dass die
„radikale Pluralität unter Umständen an Stelle einer bloßen Erweiterung auch
eine radikale Transformation des je eigenen Welt- und Selbstverhältnisses er-
forderlich machen kann“ (Koller 2009, 44). Und auf diese „radikale“ Transfor-
mation des Selbst- und Weltverhältnisses kommt bei der Unterscheidung von
Bildung und Lernen aus dem Blickwinkel dieser bildungstheoretischen Trans-
formationsansätze alles an. Auf diese Tiefenstruktur der Erfahrung, auf die mit
dem Wort „radikal“ verwiesen wird, rekurriert vor allem auch der Ansatz von
Alfred Schäfer.
Ein zentraler Ausgangspunkt in Schäfers Bildungskonzept (Schäfer 2009)
ist der Hegelsche Erfahrungsbegriff. Schäfer führt aus, dass ein Individuum die
Grundfiguren seines Selbst- und Weltverhältnisses dadurch verändert, dass es
sich auf eine fremde, nicht nach eigenen Kategorien vorgefertigte Welt einlässt
und über dieses Einlassen das Fremde als verändertes Eigenes wiedergewinnt.
Gemeint ist also das Hegelsche Im-Anderen-zu-sich-selbst-Kommen (vgl. Schä-
fer 2009, 18). Schäfer warnt zugleich davor, dass der Umgang mit Fremdheit
hierbei leicht auf eine Art „Eingemeindung“ hinauslaufen kann: der Gesichts-
punkt der „Selbstbewährung“ kann überwiegen, so dass der Einzelne gewisser-
maßen „Herr im eigenen Hause“ bleiben möchte (Schäfer 2009, 18).
Es scheint klar, dass Schäfer hier die Sensibilität gegenüber möglichen For-
men der Übergriffigkeit einklagt. Übergangen würde bei fehlender „Differenz-
sensibilität“ (Straub 2007, 124) leicht eine zentrale, tiefgreifende Erfahrung: die
letztendlich unüberschreitbare Grenze der Fremdheit und Unverfügbarkeit des
Anderen.
59
8 Die Fremdheit des Gegenstandes und die Möglichkeit des Verstehens
60
8 Die Fremdheit des Gegenstandes und die Möglichkeit des Verstehens
61
8 Die Fremdheit des Gegenstandes und die Möglichkeit des Verstehens
einerseits und der Bildung einer eigenen Fachkultur andererseits nicht so gravie-
rend empfunden werden wie in den Naturwissenschaften. Aber auch die soge-
nannten geisteswissenschaftlichen Fächer bilden eine fachliche Kultur für sich
selbst. Sie sind oft auch fachlich geschlossene, in sich kreisende Sprachwelten
und Kommunikationszirkel. Ihre Eigenlogik in Gestalt der fachlichen Ansprü-
che an differenziertes Verstehen ist auch hier ausgeprägt. Auch hier können die
fachlichen Ansprüche vom Schüler als ein ihm entgegenstehendes Fremdes er-
lebt werden. Am Beispiel des Schreibens soll deshalb die Diskrepanz zwischen
der Eigenwelt eines Schüler und der fremden Sinnwelt des Faches Deutsch kurz
vor Augen geführt werden.
Zentrales Anliegen des Deutschunterrichtes ist es, in eigenen Schreibver-
suchen die Wirkung sprachlicher und stilistischer Elemente zu erproben und
sich Texte verstehend, experimentierend und handelnd anzueignen (Döpp u. a.
2009). Gerade das Schreiben erfordert einen hypothetisch-spekulativen Denk-
akt, wie wir diesen im Rahmen des Erfahrungs- und Problemelöseprozesses
gekennzeichnet haben: das Anfangsstadium ist noch unbestimmt, die Zielzu-
stände sind noch unklar. Das Material muss gesichtet werden, und auch hier
muss schon an mehrere Perspektiven gedacht werden. Es gilt, eine Gestalt für
den Text zu finden, die auf einen imaginären oder realen Leser zugeschnitten ist.
So ruht die Produktion eines Textes auf einem dynamisch wachsenden Funda-
ment an Erfahrungen, bei dem eine Spiralbewegung zwischen innerer Klärung
und Strukturierung der Ausgangsintention einerseits und Angemessenheitsurtei-
len über das Produkt andererseits den gesamten Schreibprozess begleiten. Rück-
und Vorgriffe sind ebenso nötig, wie eine produktiv gewendete Irritation (vgl.
Groeben 2009, 44ff).
Die Verfasserinnen schildern nun die Situation eines Schülers, der solche
Maßstäbe durchaus als aufgepfropft empfinden dürfte. Der Schüler hat sich of-
fensichtlich jahrelang mit dem Problem des Versagens in der besonderen Sprach-
kultur der Schule herumgeschlagen. Dies zeigt sich beim Anfertigen von Texten,
deren Herstellung er als Qual empfindet: „Das Blatt wurde einfach nicht voller,
es wurde einfach nicht mehr“ (Döpp u.a. 2009, 430). Der Widerstand im schrift-
sprachlichen Bereich setzt sich bei der Lektüre der klassischen, aber zeitgenös-
sischen Literatur fort. Diese findet er „dröge“. Mehr interessieren ihn Fernsehen,
Computer, Unternehmungen mit anderen Jugendlichen und Sport. „Alle Jungs
machen es so“. Es seien ja die Mädchen, die die Romane lesen.
Man sieht an diesem Beispiel, dass es nicht einfach ist, den kulturellen An-
spruch einerseits und die „Profanität“ der Alltagwelt andererseits in ein Wech-
selverhältnis zu bringen. Im obigen Falle genügt schon die bloße Ahnung und
die gedankliche Vorwegnahme des fremden Gegenstandes, um Mechanismen
der Abwehr zu mobilisieren. Es könnte nun durchaus sein, dass der obige Schü-
62
8 Die Fremdheit des Gegenstandes und die Möglichkeit des Verstehens
ler an einem kritischen Moment seiner Biographie das Schreiben als seine Ent-
wicklungsaufgabe definiert und so die Verantwortung für das Lernen in die ei-
gene Regie nimmt. Der Schüler müsste einen wirklichen Mangel spüren bzw.
muss den Sinn den erhellenden Sinn des Schreibens am eigenen Leibe erfahren,
damit sich seine Haltung ändert – er also mit diesem kulturellen Lernbereich
„etwas anfangen“ kann, sich zumindest dessen Fremdheit sich nicht schlicht
verweigert. Für dieses erfahrungsvermittelte Vorgehen gibt es aus didaktischer
Sicht Beispiele, nicht zuletzt den Versuch, Literatur schreibend zu erfahren, da-
mit nicht verloren geht, was Schüler empfinden, denken sich und ihren Alltags-
spekulationen gemäß ausdrücken wollen.
Hier muss im Unterricht also Raum gegeben werden, um die Offenheit des
erfahrungsorientierten Zugangs einerseits und die Ansprüche der Fachsystema-
tik andererseits miteinander zu verbinden. Bezogen auf den Unterricht kann also
die Idee einer bereits in sich vollständig bestimmten Fachlichkeit ebenso wenig
eine Lösung sein, wie ein beliebiges, assoziatives Treibenlassen. In dieser Situa-
tion plädieren wir im Interesse eines verstehenden Unterrichts für ein intensives,
hermeneutisch-rekonstruktives Einholen der Differenzerfahrung auf dem Weg
der vergleichenden Gegeneinanderführung und Abarbeitung von unterschiedli-
chen Deutungsperspektiven. Wie sich ein solches Vorhaben im Unterricht dar-
stellt, soll jetzt an Fallgeschichten gezeigt werden.
63
9 Fallgeschichten:
Die Wiederherstellung der Vieldeutigkeit
Es geht uns bei dem Rückgriff von Phantasie und Erfahrung um die Wiederher-
stellung der Vieldeutigkeit des Unterrichtsgegenstandes und eine stärker herme-
neutisch bestimmte kommunikative Unterrichtssituation. In normativer Hinsicht
folgen wir damit dem folgendem Diktum von Nietzsche: „Seien wir zuletzt als
Erkennende nicht undankbar gegen solche resolute Umkehrungen der gewohn-
ten Perspektiven und Wertungen (...), so dass man sich gerade die Verschieden-
heit der Perspektiven und Affekt-Interpretationen für die Erkenntnis nutzbar zu
machen weiß“ (Nietzsche 1966, 860 f.).
Unser Vorschlag für die Anbahnung und Ermöglichung von Verstehenspro-
zessen im Unterricht ist damit eine Gegeneinanderführung von Perspektiven.
Das ist keineswegs notwendig eine nebulöse und bloß spekulative Tätigkeit. Na-
türlich ist dabei die Frage nach den äußeren Bedingungen und Konstellationen
des Unterrichts nicht überflüssig.
Um das Aushandeln über Sinn und Geltung von unterschiedlichen Perspek-
tiven vor Augen zu führen, greifen wir nun auf kontrastierende Szenen zurück,
die im Zuge der qualitativ-rekonstruktiven Unterrichtsforschung dokumentiert
und z. T. unter ganz anderen Gesichtspunkten interpretiert worden sind. Wir zie-
hen diese Protokollausschnitte im Sinne von Beispielen und Fallgeschichten he-
ran. Gilt die sogenannte „Fallarbeit“ einem Praxisproblem und eine „Fallstudie“
einer wissenschaftlichen Analyse, so zielt eine „Fallgeschichte“ auf den Zusam-
menhang zwischen konkreten Konstellationen und einer möglicherweise darin
sichtbar werdenden allgemeinen Erkenntnis (vgl. Combe 2001; Combe/Helsper
1994; Combe/Kolbe 2010, 871f.). Im Grunde beginnt man mit Fallgeschichten
einen Suchprozess. Man möchte etwas aufgreifen und in seinen Facetten sicht-
bar machen, was dann letzten Endes durchaus eine „exemplarische Gültigkeit“
haben kann, also in mehr als einem Fall gültig sein könnte. Durch die Arbeit mit
Beispielen und Fallgeschichten kann die Kommunikabilität und Reflexivität be-
züglich einer dringend zu bearbeitenden Frage erhöht werden (Hörster 1999),
wobei das Hüpfen von Beispiel zu Beispiel durch eine durchgetragene Frage
oder auch durch ein sich erst herstellendes Allgemeines sinnvoll wird (tertium
comparationis).
Einschränkend muss von der methodologischen Seite her bedacht werden,
dass wir mit diesen Beispielen nicht alle Fächer abdecken und die untersuch-
65
A. Combe, U. Gebhard, Verstehen im Unterricht, DOI 10.1007/978-3-531-94281-0_9,
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
9 Fallgeschichten: Die Wiederherstellung der Vieldeutigkeit
ten Fächer nicht systematisch variieren. Insofern bleibt die Rekonstruktion der
Beispiele ein erster vergleichender Zugriff, der immerhin zeigt, dass wir nicht
nur ein Problem im Bereich der Naturwissenschaften oder Mathematik, son-
dern auch in anderen Lernbereichen haben. Im Sinne eines fächerübergreifen-
den Grundverständnisses lässt sich zum verstehenden Lernen Folgendes sagen:
Ein verstehendes Lernen gestaltet den Übergang zwischen Subjekt und Sa-
che als hermeneutische Abarbeitung von Deutungsperspektiven. Und das wird
ohne den Entwurf von hypothetischen Räumen auf dem Boden von Erfahrung
und Phantasie nicht möglich sein. In den folgenden Fallgeschichten versuchen
wir die Grenzen und Möglichkeiten der im Unterricht praktizierten Hermeneu-
tik in den Blick zu bekommen.
66
9 Fallgeschichten: Die Wiederherstellung der Vieldeutigkeit
67
9 Fallgeschichten: Die Wiederherstellung der Vieldeutigkeit
Für den Referendar sind solche „Vorführstunden“ – selbst wenn die vorlie-
gende Sequenz nicht aus einer „Prüfungslehrprobe“ stammt –, durch bestimmte
Normen in zeitlicher wie inhaltlicher Hinsicht charakterisiert. Eine dieser Nor-
men wird auf jeden Fall lauten: das Geschehen darf nicht aus dem Ruder laufen!
Die kurze Einlassung des Mentors deutet auf diese Bewährungsdynamik hin,
auf die Gefahr, dass die „Performance“ misslingt.
Nach einer Herstellung des Rahmens beginnt der Referendar relativ offen –
und gerade nicht mit komplexitätsreduzierenden Sicherheitsstrategien: Er ver-
weist darauf, dass er sich ein freies Erinnern wünscht.
Die erste Antwort des Schülers gibt eine Minimalbedingung des Improvisie-
rens wieder: Es soll sich auf keine fixierte Partitur bezogen werden. (Der Ideal-
fall und Ausdruck dieser Kreativitätsnorm ist die spontane „Jam Session“, ohne
vorausgegangene Planung.)
Was beim ersten antwortenden Schüler problematisch bleibt, ist der Ein-
druck der Beliebigkeit, die sich hier einschleichen könnte, angesichts des Nach-
satzes: „(...) sondern einfach so gespielt wird“. An dieser Stelle taucht aus der
Perspektive des Lehrers – aus inhaltlichen Gründen – die Frage auf, ob man
„nachhaken“ soll. Aber der Referendar entscheidet sich schon hier nicht für die
Beibehaltung einer „weiten“ Aufmerksamkeit, sondern für eine additive, stich-
wortartige Abfrage („was noch“?), die sich in der nächsten Sequenz nochmals
festigt („was ham’ wir noch“?).
Die von der ersten Schülerreaktion schon mitgeführte Assoziation der Belie-
bigkeit wird im Übrigen von der zweiten Schülerantwort bekräftigt, bei der die
Improvisation zum Pausenfüller gemacht wird. Dass das alles nicht ganz so be-
liebig sein kann, deutet der Hinweis einer Rückbindung des Geschehens an den
Takt an, selbst wenn der Schüler nicht explizit macht, was er damit meint, und
der Referendar auch nicht auf dieser Explizitheit besteht. Aber an dieser Stelle
ist die Tendenz zur Engführung und zum Einklinken des linearen, additiven Ab-
fragens von Stichworten so dominant, dass eine Umkehr des Ablaufschemas nur
schwerlich noch möglich ist, einem Ablaufmuster, von dem sich wohl nicht ge-
nau ausmachen lässt, wer diesem erliegt: der Lehrer oder die Schüler.
Natürlich sind Wiederholungsformen zu Anfang einer Stunde auch Abkür-
zungsformen, sozusagen Abstoßpunkte zum Neuen. Dennoch sind auch hier
expandierende „Einschubsequenzen“ (Schegloff 1972) denkbar, die, ob Nach-
fragen, paraphrasierender Akt oder z. B. auch Exkurs, weitere Klärungen er-
möglichen (vgl. hierzu Lüders 2003; Rickert 2005). Deuten wir an, welche in-
haltlichen Aspekte bei der obigen Engführung auf der Strecke bleiben.
Ohne Plan und Vorbereitung vorzugehen heißt nicht nur im Jazz, probierend
in eine Sache oder Situation hineinfinden zu müssen, mit dem Risiko, sich da-
bei zu verlieren. Dann muss man im Gegensatz zur Annahme der Beliebigkeit
68
9 Fallgeschichten: Die Wiederherstellung der Vieldeutigkeit
eine Art Selbstaufmerksamkeit für tragfähige Ideen entwickeln. Meist geht man
darüber hinaus auf das ein, was Mitspieler getan haben und tun. Ihre musika-
lischen Figuren in der Vorstellung präsent haltend müssen die Musiker eigene,
passende Anschlüsse und neue Kontextualisierungen entwickeln. Es ist Jazzmu-
sikern wichtig, dass sie in dem Prozess des Austausches und der Deutung ihrer
Perspektiven von den anderen Mitspielern „verstanden“ werden und ein produk-
tiv-spielerisches „Arbeitsbündnis“ entsteht.
Vergleichen lässt sich dieser Vorgang des musikalischen Improvisierens mit
einer konversationsförmigen Struktur, wo es im Sinne eines mitlaufenden Mo-
nitorings ebenfalls um ein Wechselverhältnis von Perspektiven geht (vgl. hierzu
auch Mollenhauer 1996, 121).
Im Sinne einer nicht realisierten Option möchten wir anmerken, dass diese
Einführung in die Improvisation (Jazz) nicht völlig aller Erfahrung und Phanta-
sie hätte entbehren müssen, denkt man an die Instrumente, die im Raum schon
aufgebaut waren. Ein Schüler tut zunächst das, wozu das Arrangement verlockt
und „wohin ihn die Hand zieht“: Er betätigt, aus welchem Grund auch immer,
die im Raum griffbereit verfügbaren Instrumente. Der Referendar hat nun ge-
wiss nicht die Routine und den Mut, um diese Situation spielerisch–produktiv
und offen zu gestalten, ja, er riskiert dies nicht einmal in Ansätzen und darf es
bei Strafe des Untergangs nicht wagen, sich einer offenen Situation auszusetzen
und die eingefahrenen Abläufe und die Komplexität reduzierende Engführung
der Frageweise zu verlassen. Die Schüler hätten mit den Instrumenten vorfüh-
ren können, was sie unter Improvisation verstehen und der Begriff wäre noch-
mals der Erprobung und Phantasie ausgesetzt worden. Anders gesagt: der men-
tale Vorstellungsraum wäre zum Begriff hin geweitet worden
So könnte man sich vorstellen, dass der von den Schülern ansatzweise ver-
suchte Subdialog von flüchtigen und unfertigen Gedanken ganz anders hätte ge-
würdigt werden können, in denen die Ausdrückbarkeit eines doch schwer Sag-
baren gesucht wird.
Um nicht missverstanden zu werden: es muss im Unterricht auch solche Ver-
fahren geben, die sich durch bewusste Routine auszeichnen, in denen syntheti-
sierende, formende, ordnende Funktionen ins Spiel kommen, insofern ist dies
keine Abwertung einer geschlossenen Unterrichtsordnung, wenn man sich ihrer
Logik und Funktion bewusst ist.
Bezogen auf unser Thema, der Form des Übergangs von der subjektiven zur
sachlich-objektiven, fachsprachlichen Deutung könnte man sagen: Im vorlie-
genden Fall wird das Allgemeine in Form einer Definition der Improvisation
privilegiert. Sie schreibt vor, was bedeutsam und gültig ist. Der „Objektivität“
wird ein Wert an sich zugeschrieben. Sie ist das Validierungskriterium, an dem
die Versuche der Schüler „gemessen“ werden. Die einzelnen Perspektiven und
69
9 Fallgeschichten: Die Wiederherstellung der Vieldeutigkeit
70
9 Fallgeschichten: Die Wiederherstellung der Vieldeutigkeit
Lehrer: Ja. Vielleicht guckt ihr mal einen Moment erstmal, bevor ihr was sagt,
vergleichend, nicht lange. (Pause)
Olaf: Ich habe eine Frage.
Lehrer: Hmh, Olaf, bitte.
Olaf: Was meinen, meinen Sie mit schädlicher, schädlichen Folgen des
Freiheitsentzugs ist entgegenzuwirken, meinen sie damit, dass …
Lehrer: Nee, da steht, dessen schädlichen Neigungen entgegenzuwirken.
Olaf: Nee, nee, ich meine das Gesetz, der, den Gesetzestext, bei, beim
zweiten...
(Lehrer und Schüler verständigen sich über die gemeinte Textstelle. Der Schüler
äußert, dass er nicht weiß, wie er das verstehen soll.)
Lehrer: Ja, stell dir mal vor, jemand ist sehr lange im Gefängnis. Erst besucht
ihn noch seine Ehefrau und seine Kinder, nach fünf Jahren kommen
sie seltener, nach zehn Jahren ganz selten und nach fünfzehn Jahren
kümmert sich niemand mehr um ihn. Das wäre doch eine schädliche
Folge, jedenfalls in seinem Sinn.
Olaf: Ja, ist das aber dann, ich weiß nicht, dann entspricht das aber nicht
so der Realität, so, finde ich, dieser Satz, weil, weil ich meine, wenn
jemand ins Gefängnis gekommen ist für irgendeine Straftat und da-
durch seinen Job verloren hat und wieder rauskommt, dann ist das ja
eine schädliche Folge darauf, daß er wahrscheinlich nicht so schnell
einen anderen Job wieder bekommen wird, weil er vorbestraft ist. (...)
Aber wenn er rauskommt, dann ist es ja so, daß er von, von dem Ge-
setz selber irgendwie aus der Gesellschaft, ja, herausgenommen wor-
den ist, so, also, noch weiter distanziert ist als vorher.
Lehrer: Ja, ich glaube, ich verstehe schon, was du meinst. Du meinst, mit Ge-
fängnisaufenthalt als solchem ist eine gewisse schädliche Folge für
den Betreffenden immer verbunden.
Olaf: Ja. Ja, gut. Ich meine, er ist, er wird, er wird dem System ja entfrem-
det, sozusagen.
Lehrer: Ja, besonders, wenn es lange ist. (Olaf: Ja.) So, aber wenn, wenn ...
(Lachen der Schüler) Ja klar, wenn die Strafe sehr lange ist, dann fin-
det er sich hinterher nicht mehr zurecht, ne? Aber davon mal abgese-
hen, kann ja der, der Aufenthalt im Gefängnis auch sehr verschieden
71
9 Fallgeschichten: Die Wiederherstellung der Vieldeutigkeit
gestaltet werden, ne? Und das kann günstiger oder ungünstiger für
den Betreffenden sein ... Ja, Christina?
Christina: Ja, ich wollte auch sagen, daß die Strafe erst nach dem Gefängnis,
also, anfängt.
Der Lehrer verweist nun auf den Arbeitsauftrag und schlägt vor, die Diskussion
abzubrechen.
Was geschieht hier? Der für uns maßgebliche Ausgangspunkt dieser Szene ist
die begriffliche Fassung eines Arbeitsauftrages, der für die Schüler, dem offi-
ziellen Stadium des Stundenverlaufs nach, eine Verständnisfrage rechtfertigt.
Olafs Frage stellt den Lehrer allerdings vor ein hermeneutisches, aber auch auf-
grund der drohenden Ausdehnung der Szene vor ein zeitliches Problem.
Zunächst wird, wie bei einer Abstimmung über Sinn und Verstehen üblich,
sich vergewissert, auf welchen Text sich die Frage der Auslegung überhaupt be-
ziehen soll. Aber die Rückfrage Olafs hat auch einen gewissen Aufforderungs-
charakter. Genau genommen gerät der Lehrer durch die Rückfrage in Gefahr,
die Antwort auf diese Frage selbst vorgreifend geben zu müssen. Der Lehrer
wählt deshalb intuitiv ein konkretes Beispiel, das einen möglichen Fall testweise
umspielt. Er unterlegt seine Frage mit Bildern bzw. einem Vergleich.„Stell dir
mal vor...“
Mit seinen Fragen versucht der Schüler, die vom Lehrer formulierte Auf-
gabe für sich zu übersetzen. Dabei greifen Lehrer wie Schüler mit Vermutungen
und dem Entwurf möglicher Kontexte auf aufsteigende Bilder und Phantasien
zurück. Dabei besetzt die Phantasie des Schülers im Verhältnis zum Verständ-
nis des Lehrers gewissermaßen einen anderen Ort. Der Schüler phantasiert das
„Nachher“ aus, letztlich die Konsequenzen einer „negativen Karriere“.
Es ist ersichtlich, wie Lehrer und Schüler in einer bestimmten, die Denkmög-
lichkeiten einschränkenden, selektiven Weise in ihrem Vorverständnis gefangen
sind. Beide müssen sich nun für alternative Möglichkeiten und Anschlüsse öff-
nen. Das gelingt zunächst nicht, weil der Lehrer die von ihm favorisierte kontex-
tuelle Einbettung mit einer dafür typischen Geschichte ausbuchstabiert. Erst als
sich der Lehrer mit der Bemerkung „Du meinst mit Gefängnisaufenthalt als sol-
chem ...“ ansatzweise zu einem Perspektivwechsel anschickt, signalisiert Olaf
Zustimmung („ja, ja, gut, ...“). Der Lehrer gibt dabei mit seinen Formulierun-
gen zu erkennen, dass er verstanden hat, dass Olaf die innere Situation im Ge-
fängnis nicht differenziert thematisieren will, sondern hier generell von schädli-
chen Folgen ausgeht und er, Olaf, an die Vertiefung des Gegenstands „Folgen“
denkt. Der Unterschied zwischen beiden Zugängen bleibt aber eher implizit.
Der Lehrer bekräftigt vielmehr, welche Perspektive weiter verfolgt werden soll,
72
9 Fallgeschichten: Die Wiederherstellung der Vieldeutigkeit
und auch die Feststellung Christinas, die in der Linie von Olaf liegt, bleibt im
Raume stehen.
Im Normalfall eines Gesprächs wird ein solches Beharren auf einer Pers-
pektive mit einer Begründung eingeleitet. Schon allein die Thematisierung der
Differenz zwischen den Zugängen hätte den Perspektiven der Schüler eine ent-
sprechende Anerkennung gezollt. Nachvollziehbar ist aber auch, dass der Leh-
rer auf der Systematik der Bearbeitung beharrt, da die Spontandiskussion natür-
lich schnell ausufern kann.
Der Fall zeigt, wie die vom Lehrer gesetzte Perspektive („die schädlichen
Folgen des Freiheitsentzugs“) von Seiten des Schülers (und auch des Lehrers)
umspielt wird. Die aus der Sicht des Schülers Zweifel auslösende begriffliche
Formulierung des Arbeitsauftrages wird dadurch „eingeholt“, dass ein mentaler
Vorstellungsraum an Volumen gewinnt und das nicht Fassbare imaginiert und
mental durchdrungen wird.
73
9 Fallgeschichten: Die Wiederherstellung der Vieldeutigkeit
richt der Grundschule, das aus einer Arbeit von Markus Schütte (2009, 158)
entnommen ist. Schütte untersucht die Bedeutungsaushandlungen im Mathe-
matikunterricht. Thema dieser Unterrichtsstunde ist die Einführung in „Spiege-
lung“ bzw. „Symmetrie“.
Markus Schütte betrachtet diese Stunde unter der Perspektive, wie ein mathe-
matisches Problem nicht nur zu einer klaren Vorstellung geführt, sondern auch
in einer begrifflich präzisen sprachlichen Fassung dargestellt werden kann, die
dazu beiträgt, dass im Laufe der Schuljahre „ein konsistentes Begriffsystem der
gesamten Thematik“ aufgebaut wird (2009, 156). Die von ihm verwendete und
protokollierte Episode zeigt, dass sich dem fachlichen Anspruch nicht eigentlich
gestellt wird. Bemerkenswert ist unseres Erachtens allerdings der Versuch der
Lehrerin, eine szenische und gewiss auch Assoziationen hervorlockende Form
der Hinführung zu finden, die ermöglichen soll, die Kluft zur fachsprachlichen
Ebene zu überbrücken. Die Einführung der Lehrerin vertraut darauf, die Sach-
verhalte der Spiegelung und Symmetrie ließen sich über eine spielerische Pan-
tomime – also handlungsmäßig und anschaulich – nachvollziehen.
L: Ihr kennt alle einen Spiegel ... und ihr wisst auch, was ihr damit macht. Ne?
Soo. Dann möcht ich ma’ Sami hier haben.
S: [kommt nach vorne]
L: So Sami du bist jetzt mal mein Spiegel … [L nimmt die Hände auf Brusthöhe
hoch], das heißt alles was ich mache, machst du auch ...
S: [steht vor der Lehrerin] Okaaay ...
L: So ..: [L nimmt die Hände runter und gleich wieder hoch]
S: [Sami nimmt seine Hände hoch]
L: [bewegt ihre rechte Hand nach rechts]
S: [bewegt zeitlich leicht versetzt seine linke Hand nach links]
L: [ hebt ihren rechten Arm hoch]
S: [Sami hebt seinen linken Arm hoch] … (mehrere Durchgänge) ...
L: was macht der Spiegel, wenn ich mein rechtes Bein ausstrecke?
L: [L streckt ihr rechtes Bein nach vorne und nimmt es zurück]
S: [Sami streckt sein linkes Bein aus und nimmt es zurück]
S1: links
S2: linkes
(...)
L: Also, das ist die Seite ist immer vertauscht ist. So. Danke schön, Sami.
S: [Sami geht zu seinem Platz.]
Anschließend fordert die Lehrerin die Schüler und Schülerinnen dazu auf, die
Pantomime mit einem jeweiligen Partner nachzuspielen. Sie korrigiert dabei
74
9 Fallgeschichten: Die Wiederherstellung der Vieldeutigkeit
75
9 Fallgeschichten: Die Wiederherstellung der Vieldeutigkeit
76
9 Fallgeschichten: Die Wiederherstellung der Vieldeutigkeit
77
9 Fallgeschichten: Die Wiederherstellung der Vieldeutigkeit
ser, wenn wir ihn umbringen. Also, da ist ja auch nichts gut zu ma-
chen. Claudia.
Claudia: Ja, also ich finde auch, er wusste ja nicht genau, was er getan hat und
da hat er dann auch ne zweite Chance verdient, so zumindest zu ver-
suchen sich zu bessern. Peter.
Peter: Also, ich stimme auch nicht zu, weil man muss ihm helfen. Also ich
finde schon/So wohl nicht zeigen, was Liebe ist und so. Aber man
könnte ja versuchen, dass er sich nicht mehr hasst und dann hasste er
auch andere nicht mehr vielleicht. Dirk.
Dirk: Aber überlegen wir mal, Samuel jetzt, bringt mich um. Und dann
würde der Rest der Stadt ihm helfen und dann bin ich umsonst gestor-
ben oder was? [alle lachen]. Das hat doch keine Logik. Er bringt ein-
fach alle um und dann am Ende wird er wieder normal und dann ist
er wieder frei. Er kann ja auch so tun, ja O.K., ich bin wieder normal,
und dann nach ‚ner Zeit fängt er wieder damit an. Und was dann? Ja,
ähm, Jasmin.
Das Gespräch findet im „Stuhlkreis“ statt. Es wird vor allem unter Schülern ge-
führt und zwar in einer so genannten „Meldekette“.
In der vorliegenden Szene gibt der Lehrer den individuellen Perspektiven der
Schüler im Gespräch eine Chance. Den Schülern wird hier ein Spielraum für Ei-
genbeiträge zugestanden. Dadurch bricht sich, was die Schüler wirklich denken,
fassen und ausdrücken möchten, Bahn. Es ist nicht gebrochen durch das Über-
gewicht des Erwachsenenblicks. Der Lehrer versucht auch nicht, wie in zahlrei-
chen Fallstudien angesichts einer solchen „interaktiven Verdichtung“ (Krumm-
heuer/Brandt 2001) gezeigt worden ist, den „interaktiven Gleichfluss“ (a.a.O.)
des Gesprächs in Form einer Themenfokussierung wieder herzustellen, weil er
fürchtet, das Geschehen könnte aus dem Ruder laufen (vgl. zu einem ähnli-
chen Muster: Combe/Helsper 1994; Krummheuer/Brandt 2001; Schütte/Gogo-
lin/Kaiser 2005; Helsper 2009).
So führt nun der Beitrag von Marco im wahrsten Sinne des Wortes an eine
„Schmerzgrenze“, die der Lehrer nicht unkommentiert lässt. Sogleich aber
rückt der Lehrer mit seiner, auf die latente Sinnstruktur gemünzten Bemerkung
und Frage die Aggressivität von Marcos Aussage wieder in den distanzierteren
Raum, in dem sich ein Urteil erst bilden kann: er fragt nach einer Begründung.
Im weiteren Ablauf zeichnet sich eine Pluralität an Perspektiven ab, die von
Schülerseite eingebracht wird: Julias Antwort markiert zunächst eine Differenz.
Man wird ihren begonnenen Satz ergänzen können: „Ich bin da nicht so sicher“.
Sie übernimmt zwar die Perspektive Marcos, hält diese aber in der Vorstellung
gewissermaßen präsent und verwendet diese zur Produktion einer eigenen Ant-
78
9 Fallgeschichten: Die Wiederherstellung der Vieldeutigkeit
wort (das ist im Übrigen der genaue Sachverhalt, wenn von Perspektivenüber-
nahme gesprochen wird).
Bei dem folgenden Beitrag von Swenja handelt es sich um eine eigene Um-
schreibung dessen, was Julia inhaltlich geantwortet hat. Claudia bringt dieses
Paraphrasieren schließlich begrifflich auf den Punkt: „Zweite Chance“. Sie er-
kennt das durchgängige Prinzip der vorhergehenden Sequenzen. Charakteris-
tisch für diese Gesprächsstruktur ist, dass hier die Perspektive eines anderen,
nämlich Marcos Sicht, aus der je eigenen Sicht der Schülerinnen ausgestaltet
wird. Das „Ego“ muss dazu die Vorgabe eines „Alters“ in der Vorstellung prä-
sent halten und mit einem eigenen Anschluss fortfahren.
Bei Peters Beitrag kommt nun eine zusätzliche Dimension ins Spiel. Er
nimmt Bezug auf Vorstellungen, die sein könnten oder sollen (Peter: „Man
könnte ja versuchen…“). Mit anderen Worten: Peters Gedanken bewegen sich
auf der Ebene eines Möglichkeits- und Phantasieraumes; er imaginiert einen Zu-
stand, der nie empirische Wirklichkeit war oder gewesen sein muss. Sein „Stellt-
euch-vor...“ operiert auf der Ebene des gedanklichen Ausprobierens von Mög-
lichkeiten, und eben dies ist kennzeichnend für die Phantasien.
Vollends führt nun die im Stile eines advocatus diaboli vorgetragene Inter-
vention Dirks einen hypothetischen Raum des noch nicht Bewiesenen, aber
Möglichen ein. In der Folgezeit zeigt sich, dass die Schüler diese Gesprächs-
ebene übernehmen. Charakteristisch für diese hypothetische Ebene ist, dass ein
Sachverhalt im Hinblick auf vergangene und zukünftige Möglichkeiten hin tran-
szendiert werden kann. Diese Möglichkeiten werden gleichsam im Inneren ei-
ner Person kreiert, und diese Phantasien ermöglichen das Perspektivenspiel.
Kommen wir zu einer anderen Auffälligkeit dieses Falles: Wir treffen den
Lehrer in unterschiedlichen Haltungen an. Moderierend ist noch seine Frage,
wer eigentlich das Recht hat, über Tod und Leben zu entscheiden, aber im Laufe
der Diskussion interveniert der Lehrer durchaus auch als Fachexperte.
Nun könnte man argumentieren, gerade der Religionsunterricht sei gewis-
sermaßen prädestiniert für die Entwicklung eines persönlichen Verhältnisses
zu den jeweils angebotenen interkulturellen und interreligösen Unterrichtsge-
genständen (vgl. Knauth/Weiße 1996). Damit lägen die Ressourcen für dialogi-
sche Unterrichtsprozesse in Gestalt des lebensweltlichen Erfahrungspotentials
im Religionsunterricht praktisch vor der Tür. Man könnte also sagen, das Fach
Religion hat es hier besonders leicht. Dennoch spricht schon die oben charakte-
risierte Diskussionsform dafür, dass eine solche Artikulation und Verarbeitung
von Schülerperspektiven kultiviert werden muss, zumal die Diskussion auch
durch die vorangegangene Erarbeitung von fundierten Grundlagen wohl vor-
bereitet war. Interessant ist für unser Thema des Übergangs von der Alltagswelt
zur Fachwelt ja nicht nur, wie der Lehrer mit der Pluralität von konkurrierenden
79
9 Fallgeschichten: Die Wiederherstellung der Vieldeutigkeit
80
9 Fallgeschichten: Die Wiederherstellung der Vieldeutigkeit
Ein zentrales Strukturelement dieser Szene ist also tatsächlich, dass hier mit
Versionen und Perspektiven gearbeitet und Pluralität zugelassen wird, ohne dass
diese beliebig würde. Die Interventionen des Lehrers helfen zugleich zu vermei-
den, dass die Anknüpfung an religiöse und kulturelle Erfahrungen der Schüler
und Schülerinnen in ein Gespräch mit wenig inhaltlicher Substanz führt oder
sich das Gespräch im Kreise dreht. Der Lehrer scheut sich mit seinen Inter-
ventionen nicht zu sagen, was er für relevant oder für angemessen hält. Er setzt
das Allgemeine aber nicht absolut. Vielmehr nehmen die Verstehensbemühun-
gen der Schüler in dieser Stunde den zentralen Raum ein. Gadamer, von dessen
Werk für die Hermeneutik vielerlei Anregung ausging, hat noch gefolgert, dass
zwischen den in der Konfrontation mit dem Gegenstand abgearbeiteten Vorver-
ständnishorizonten eine Art „Horizontverschmelzung“ möglich sei, wo in der
Traditionslinie „Altes und Neues immer wieder zu lebendiger Geltung zusam-
menwächst“ (Gadamer 1960, 289) . Sieht man sich die obige Gesprächssequenz
an, so hat man allen Grund, mehr Differenz, Widerstreit, ja Unüberbrückbarkeit
in ein Verstehenskonzept einzubauen. Die Thematisierung muss hier weniger
auf die vorschnelle Übereinstimmung zielen, sondern die Tiefe des Verstehens
besteht eher in der wechselseitigen Erkenntnis und Anerkenntnis der Differenz.
81
9 Fallgeschichten: Die Wiederherstellung der Vieldeutigkeit
„In der ersten Stunde der neuen Unterrichtseinheit lege ich stumm eine Fo-
lie auf den Overheadprojektor. Sie zeigt je ein Gemälde aus der Zeit zu Beginn
und zur Blütezeit der Industrialisierung. Ich stelle mich an die hintere Wand
und schweige. Der Unterrichtseinstieg verblüfft die Schüler. Sie schauen zu mir,
wirken nervös und beginnen zu tuscheln, fangen an, ihre Unsicherheit hinter
vermeintlich coolen Sprüchen zu verbergen: „Das wird wohl eine Schweige-
stunde.“ „Sprechen Sie heute nichts?“ usw. Ich warte und schweige. Selbst der
vorlaute Christian rutscht unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Er und die an-
deren drehen sich immer öfter zu mir um. Sie erwarten eine Ansage, und wis-
sen nicht, was sie tun sollen. „Was sollen wir denn jetzt machen?“ Lena bricht
das Schweigen, andere nicken. Es wird aber nicht laut, kein Zettel wird weiter-
gereicht, man wartet gespannt auf meine „Befehle“. (…). Die Anspannung ist
kaum auszuhalten, ich breche mein Schweigen: „Wenn ich nichts sage, seid ihr
dran“. Sollen wir jetzt etwas zu den Bildern sagen? Ich nicke. Die ersten melden
sich zaghaft, beschreiben, was sie sehen, andere ziehen nach, die Schüler sind
bei der Sache, denn jeder sieht etwas und kann etwas dazu sagen.
Dann frage ich, was sie hören. Einen Moment lang herrscht Unverständnis,
Fragezeichen schweben im Raum. Die Schüler sind konzentriert, blicken wort-
los zu den Bildern, schauen sich an. Die ersten trauten sich und formulieren ihre
Ideen. Jenny hört im ersten Bild einen Bach rauschen, da unterhalten sich zwei
Leute, ab und zu hört man Kühe muhen. Auch das zweite Bild hat Geräusche,
sie sind sehr laut, ein Hammerwerk mit vielen Arbeitern, die sich laut zurufen
müssen, um sich zu verständigen. Und was riecht ihr? Ein Schüler kichert: Ich
habe noch nie ein Bild gerochen. Die anderen bleiben ernst, es bleibt bei diesem
einen Kommentar. Sie lassen sich darauf ein, sie riechen die Bilder. Das zweite
Bild stinkt, Steffi hält sich spontan die Nase zu. Ich strahle, freue mich und zeige
dies auch meinen Schülern – sie freuen sich, dass ich mich freue. Dann schrei-
ben sie auf Stichwort Karten was ihnen zu den Bildern eingefallen ist, und hän-
gen die Karten auf. Es finden sich auch Stichworte zu den Geräuschen, den Ge-
rüchen und vor allem zu den persönlichen Empfindungen der Schüler. (….) Die
folgenden Stunden arbeiten wir auch mit Texten und Quellen, beantworten Fra-
gen zu Texten und fassen Handlungsabläufe zusammen. Während der gesamten
Unterrichtseinheit blicken die Schüler immer wieder auf die Einstiegsstunden
zurück und ziehen Parallelen“ (Riedel 2005).
Die Lehrerin berichtet, wie schwierig es bislang gewesen sei, die Schüler auf
Dauer bei der Stange zu halten. Die Logik dieses Anfangs ist, zusammenfassend
gesagt: Wenn die fachlichen Anforderungen „pur“ und unvermittelt an die Schü-
ler herangetragen werden, bauen sie fachliche Sperren auf.
Aber das Vorgehen der Lehrerin ist riskant, sie weiß am Anfang selbst noch
nicht, wohin die von ihr gesetzte Irritation führt. Sie hätte die Schüler mit der
82
9 Fallgeschichten: Die Wiederherstellung der Vieldeutigkeit
83
9 Fallgeschichten: Die Wiederherstellung der Vieldeutigkeit
den und damit die Aneignung eines Themas mitbestimmen, ohne im üblichen
Verlauf des Unterrichts überhaupt je zum Thema zu werden.
Aufschlussreich ist das Unterrichtsbeispiel auch hinsichtlich des Problems
der Aufmerksamkeit und Konzentration in der Schule. Zumeist wird argumen-
tiert, der Fülle und Dominanz medialer Bilder sei kaum etwas entgegenzusetzen.
Diese Fülle der Bilder lässt die eigene Phantasie und die eigenen inneren Bil-
der überflüssig und antiquiert erscheinen. Das Beispiel zeigt aber, dass über den
Augenblick hinaus gehende Aufmerksamkeit voraussetzt, dass ich der Wahrneh-
mung mit eigenen inneren Bildern begegne. Ohne solche im eigenen Inneren
entstehenden Bilder gibt es keine längerfristige Bindung der Aufmerksamkeit
an eine Sache. Diesem Unterbau, der vielfach im Impliziten und Unbewussten
bleibt, muss Raum gegeben werden. Aber vielfach wird es sogar für ungesund
gehalten, den Stimmungen und Phantasien zu viel Aufmerksamkeit zu schen-
ken. Die Meinung ist hier, man sollte sich lieber mit der richtigen und realen
Welt beschäftigen. Und es ist in der Tat kaum üblich, in der Schule die Aufmerk-
samkeit auf innere Zustände zu fokussieren. Natürlich gibt es auch den Fall, wo
man im Abhorchen der eigenen inneren Stimmen versinken kann, wo man sich
nur noch mit sich selbst beschäftigt und ganz von den eigenen Gedanken in An-
spruch genommen wird. Uns interessieren aber Situationen, wo qua Phantasie
ein innerer Dialog mit einer Sache und ihren Perspektiven beginnt – wo es zum
flüssigen inneren Austausch zwischen subjektiver Empfindung und einem Lern-
gegenstand kommt, wie anscheinend im vorliegenden Beispiel.
84
9 Fallgeschichten: Die Wiederherstellung der Vieldeutigkeit
85
9 Fallgeschichten: Die Wiederherstellung der Vieldeutigkeit
erscheint. Vielleicht ist diese Selektion schon mit Blick auf die Möglichkeit der
Präsentation zustande gekommen, denn Gruschka zeigt insgesamt, wie sehr die
Antizipation und das Gewicht der Präsentation den Umgang mit dem Gegen-
stand bestimmte. Heisst das aber nun, dass der Ablauf vom Pflichtprogramm
kaum angekränkelt war und damit die alltagsweltlich übertragenen Bilder und
Denkstereotypen keiner weiteren Korrektur und Verfremdung unterlagen, die
Alltagsbegriffe also roh und unbehauen blieben – zwar Nähe zum Gegenstand
zu entstehen schien, dies aber auf Kosten nicht nur der analytischen Distanz
sondern auch der Würdigung des, sagen wir: Eigensinns der Sache selbst ging.
Ziehen wir ein Beispiel aus der Präsentation heran, um die hier auftretende
Übergangsproblematik zwischen der Alltagswelt der Schüler und der fachwis-
senschaftlichen Ebene zu kennzeichnen.
Der Schüler A kündigt für die Präsentation an, dass sie unter anderem von
den „Bedingungen als Ritter“ handle. Er führt aus: „Die Bedingungen als Ritter
waren also jetzt (erst mal vor der Zeit?) das waren jetzt zwei Zeiten. Er musste
erst mal reich sein oder ein Adel oder ähm musste halt Arbeiter haben, weil man
kann ja nicht gleichzeitig Ritter sein und mitten im Kampf und sich dann noch
um die Familie kümmern. Das geht ja nicht. Und äh später wollten die Adelige
aber das Geld genießen (weil sie denken?) es wäre dumm nur arbeiten, äh als
Ritter arbeiten wenn man das Geld genießen kann. Deswegen wurde konnte spä-
ter einfach ein Bauer Ritter werden als auf den Pferden (?) zumindest, weil die
Araber wollten halt die Franken fertig machen, da sind die Franken auf Pferde
umgestiegen, ähm aber später da wurden es dann halt zu viele Ritter, deswegen
haben die äh halt ausgemacht, es kann nur der Ritter werden, dessen Vater Rit-
ter wurde, äh Ritter war.“ (aus Gruschka 2008, 64)
Wir sehen an dieser Sequenz, dass hier die Deutung mit kulturell bereit-
liegenden Stilfiguren, Bildern und Situationsphantasien bestritten wird, die der
Schüler zur Verfügung hat. Offensichtlich ist seine eigene Lebenswelt Ideenge-
ber für diese Konstruktionen, etwa wenn er sagt, erst wenn die Ritter nicht „ar-
beiteten“, konnten sie sich um ihrer Familie kümmern. Der Schüler verweist
auch auf geschichtliche Stufen: Der Ritter musste erst einmal reich sein und von
Adel. Aber nach getaner Arbeit die Freizeit zu genießen, steht auch einem Rit-
ter zu. In einer dritten Phase konnten auch arme Bauern Ritter werden. Wegen
Überfüllung dieses „Berufsstandes“ wurde schließlich die Erbfolge eingeführt
(vgl. Gruschka, 2008, 69/70).
Bevor man nun dazu neigen könnte, diesen gerade zitierten Schüler der be-
sonderen Naivität zu zeihen, sei gesagt: In einer Präsentation einer Schülerin,
deren Informationsfülle beeindruckend war, lässt sich dieselbe am Lebenswelt-
kontext hängende Darstellungsebene feststellen, in der, wie bei dem vorigen
Schüler, die Distanz zum zeitlich und räumlich Entlegenen zu bewältigen ge-
86
9 Fallgeschichten: Die Wiederherstellung der Vieldeutigkeit
sucht wird. Dieser Zugang mündet bei der Schülerin in den Satz: „Bauer konn-
ten also schon deshalb keine Ritter sein, weil sie gar nicht genug Geld hatten,
um sich die Rüstung und die Waffen zu leisten“ (S. 81). Auch dieser Satz zeigt
etwas von der Schablonenhaftigkeit, die solchen alltagsweltlichen Vorstellun-
gen anhaftet.
Zweifellos verschafft zunächst das Festhalten an den konkreten Lebens-
umständen und der Vergleich zur eigenen Lebenswelt den Schülern ein unmit-
telbaren Zugang. Das Problem ist, wie sodann Gruschka hervorhebt, dass ein
Verfremden dieser alltäglichen Perspektiven ausgespart blieb, vor allem auch
deshalb, weil die Präsentationsform das „rhetorische Wie“- in den Worten der
Schüler, das „Rüberbringen“ – in den Vordergrund rückte und zum dominanten
Erfolgsmaßstab machte.
Ansonsten halten die Schüler – wie im vorliegenden Fall – an der Projek-
tion ihrer Alltagsvorstellungen fest, und es gelingt offenkundig nicht so ohne
weiteres, sich von der Fremdheit des Gegenstandes wirklich bewegen lassen,
geschweige denn sich ihrer Verstehensrückstände vergewissern. Es ist also im
vorliegenden Projekt offenkundig nicht eine wirkliche Nötigung entstanden, zu
der Position eines am historischen Geschehen beteiligten Subjekts hinüber zu
wechseln und von da aus Handlungsmöglichkeiten und Handlungsbegründun-
gen zu konstruieren. Immer ist dieser Perspektivenwechsel hypothetisch, und er
ist schließlich durch Belege des wirklichen historischen Geschehens zu verifi-
zieren.
An bestimmten Strukturstellen des Ablaufs kann man sich den Lehrer durch-
aus auch konfrontativer vorstellen. So bleibt das alltägliche Material, das die
Schüler um ihrer Inbezugsetzung willen produzierten, unbefragt – der Gedanke,
man müsse „hier wie da Geld haben, um etwas zu erreichen“. So erscheint bei
aller Offenheit des erfahrungsorientierten Vorgehens Zurückhaltung, aber nicht
Rückzug des Lehrers angebracht, soll die für die Projektform an sich charak-
teristische Spannweite von fachsystematischen Anspruch einerseits und Erfah-
rungsoffenheit andererseits wirklich ausgelotet werden (vgl. hierzu Combe u.a.
2000).
87
10 Verweilräume und Übergänge
89
A. Combe, U. Gebhard, Verstehen im Unterricht, DOI 10.1007/978-3-531-94281-0_10,
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
10 Verweilräume und Übergänge
90
10 Verweilräume und Übergänge
selbst zu eigen machen können – was dann der von uns reklamierte Punkt der
„Nachdenklichkeit“ (und nicht Erschütterung!) wäre (vgl. Kapitel 3). Dabei ler-
nen die Schüler durchaus mit der Möglichkeit von Perspektivenwechseln zu
rechnen, sofern sie immer wieder exemplarische Erfahrungen machen, dass die
Lehrer ihre Verstehensbemühungen auch wahrnehmen, aufgreifen und schätzen.
In der Schule treffen wir dabei auf „Fachkulturen“ mit unterschiedlichen
„Wirklichkeitskonstruktionen“ und „Problemsichten“ (Huber 1991). Somit
muss sich die Frage nach verständnisintensiven Prozessen auf die Spannung
und Differenz zwischen der Eigenwelt und den Alltagsvorstellungen der Schü-
ler einerseits und dem kulturellen Allgemeinheitsanspruch der fachlichen Ge-
genstände und Gehalte andererseits beziehen lassen. Es gilt, sich dieser Eigen-
dynamik einer gegenüber dem Erfahrungssubjekt abgehobenen Fachkultur zu
vergegenwärtigen. Das ist die von der Schule zu erbringende Generalisierungs-
leistung: alle Schüler sollen tendenziell auf Grundlagen des gesellschaftlichen
Wissens zurückgreifen können und damit zur Teilhabe befähigt werden. Dies
ist die eine Seite, diejenige der objektivierten Welt, die dem Schüler oft wie
ein Berg gegenüberstehen mag. Andererseits muss diese Ausgangssituation un-
ter dem Blickwinkel einer Verstehenssituation betrachtet werden. Verstehen ist
nicht nur ein Abbilden dessen, was objektiv gegeben ist. Wir spiegeln ja beim
Erkennen und Verstehen die Merkmale der Dinge nicht photomechanisch ab,
so wie sie „an sich“ sind, sondern Gegenstandserfahrungen müssen erst aufge-
baut werden. Vor dem Hintergrund oft sehr verschiedener Anregungsgeschich-
ten, Prägungen und Einbindungen der Schüler lässt sich sagen: dieses Verstehen
ist zunächst ein ganz und gar individueller Konstruktionsprozess. Denn immer
mehr wird deutlich, dass das Subjekt hier eine aktive Rolle innehat und dem
Subjektiven zugehörige Komponenten, wie etwa ein Probedenken und ein ge-
dankliches Austesten eines Sachverhalts oder Problems tragend sind. Daraus
folgt natürlich weder logisch noch empirisch, dass alle Sachverhalte Produkte
unseres Erkenntnisvermögens sind. Es genügt nicht, so sagten wir oben, über
diese Gegenstände nur auf das Geradewohl zu reden. Dieser Eigensinn der Ge-
genständlichkeit macht sich immer auch als Widerständigkeit bemerkbar.
Es geht also letztlich beim Verstehen nicht um einfache dichotomische Ver-
teilungen, hier das Subjekt, und da die objektivierte Fachwelt. Vielmehr haben
wir Argumente dafür beigebracht, dass es beim Verstehen gilt, Übergänge zwi-
schen dem Allgemeinem und dem Besonderem zuzulassen und in den Über-
gangsräumen um des Verstehens willen zu verweilen. Der Dualismus kann nur
aufgehoben werden, wenn, wie Oskar Negt sagt, „konkrete Berührungsflächen
zwischen der Alltagsspekulation des Kindes und den organisierten Angeboten
(geschaffen werden), die dieser Alltagssituation nie ganz fremd sein dürfen“
(1982, 134). Negt gibt auch in dieser Formulierung die antinomische Spannung
91
10 Verweilräume und Übergänge
wieder, die dieser Leistung der Schule zu Grunde liegt. Eng mit einer theoreti-
schen Klärung hängt nun zusammen, was die Schule hinsichtlich dieser Kluft
zwischen Alltags- und Fachwelt an praktischen Möglichkeiten entwickelt hat.
Wir setzen, wie der Ansatz der didaktischen Arbeit mit Alltagsphantasien
zeigen wird, auf kooperative Deutungsvorgänge, bei denen die Zugänge der an-
deren als Spiegelfläche dienen, in der sich das Eigene in einer bisweilen irri-
tierenden Weise reflektieren lässt. „Am Nebenmenschen lernt … der Mensch
erkennen“, heißt es in Freuds „Entwurf einer Psychologie“ (Freud 1895). Die
Erkenntnis eines Gegenstandes kann also im Spiegel der anderen reifen, in der
Auseinandersetzung und Abarbeitung von unterschiedlichen Perspektiven. Das
beginnt mit der Identifizierung von Ähnlichkeiten und Unterschieden sowie dem
Versuch, den Anspruch eines Gegenüber in der Vorstellung präsent zu halten
und dessen Perspektive weiterzuführen und auszugestalten. Schließlich kann
es bei diesem Austauschprozess zu einer auf der Metaebene liegenden Gegen-
einanderführung von Perspektiven kommen. Diese Gegeneinanderführung muss
keineswegs in bloßer Harmonie und Übereinstimmung enden. Sie kann gera-
dezu in die gegenseitige Anerkennung einer vielleicht sogar unüberbrückba-
ren Differenz münden. Das kann auch ein vertieftes Verstehen eines Sachver-
halts befördern.
Hier gibt es also Feinheiten des Austauschs, die einer besonderen Sensibi-
lität bedürfen. Auch in der von Hegel ausgehenden Anerkennungstheorie wird
darauf sehr deutlich hingewiesen (Honneth1992/2003). Es gilt aber nun – und
das ist ein Akzent unseres Ansatzes – diese Austauschprozesse im Blick auf
eine Theorie des Unterrichts konkret zu betrachten. Es müssen nämlich die in-
stitutionellen, der Vermittlung fachlicher Sachverhalte geltenden professionel-
len Beziehungen in ihrer Bedeutung für ein tiefes Verstehen gewürdigt werden
(Hericks 2006,118 ff.,2007; Helsper/Sandring/Wiezorek (2006); Ricken 2009).
10.2 Szenarien
Wir haben in Kapitel 9 ein Assoziationsfeld an Beispielen aus dem Unterricht
herangezogen, um diesem Austausch, der in einem hypothetischen Raum spielt,
näherzutreten. Die Beispiele und Fallgeschichten sind in anderen Forschungen
entstanden und erfüllen dort den Anspruch von Fallrekonstruktionen (hierzu
Wernet 2001; 2005). Als Fallgeschichten können sie in unserem Kontext eine
Art Mitvollzug ermöglichen und sollen erlauben, sich in die konkrete Situation
zu versetzen. Sie legen auch dar, was Kant als „Tunlichkeit“ von Handlungen
bezeichnet hat: sie zeigen, was möglich ist. Sie folgen dem Prinzip der Bestim-
mung von Zusammenhängen „aus dem entfalteten Besonderen heraus“, wie Os-
kar Negt sagt (1997, 210f).
92
10 Verweilräume und Übergänge
93
10 Verweilräume und Übergänge
94
10 Verweilräume und Übergänge
dern als eine, die an vielfältigen von den Schülern eingebrachten Blickwinkeln
gebrochen ist. Um diese Grundstruktur auf den Begriff zu bringen, könnte man
sagen: Der Umgang mit Perspektiven ist hier demokratisiert!
Wir sehen in dieser Stunde auch, wie hier nicht der Lehrer sondern ein Schü-
ler die Rolle des advocatus diaboli spielt. Der Schüler versucht, die in die glei-
che friedfertige Richtung laufende Diskussion mit einer durchaus riskanten In-
tervention zu irritieren. Er macht dies, ohne einen ersichtlichen Schaden zu
nehmen, neben anderen Indizien ein Zeichen einer auch sehr durchgearbeite-
ten Gesprächskultur. Insofern dürften Lehrer und Schüler in dieser Klasse ei-
nen gemeinsamen Entwicklungsweg in der wechselseitigen gedanklichen und
sprachlichen Ausbreitung und der gemeinsamen vergleichenden Verarbeitung
von Perspektiven zu gehen versuchen. Indizien für diese verstehensorientierte
Interaktionsdynamik sind zum Beispiel, wenn Beiträge des einen Schülers von
einem anderen inhaltlich weitergeführt werden oder wenn in Zwischenbilanzen
Versuche der Perspektivenkoordination gemacht werden, die auf dahinter lie-
gende Prinzipien verweisen.
Wir haben nun in den Teilkapiteln dieser Arbeit herauszuarbeiten versucht,
dass das Verstehen zwar als spontanes Evidenzerlebnis verstanden werden kann,
aber auch mehrstufige, längere Wege erfordert, in denen Einsichten gewonnen,
Zusammenhänge erkannt oder frühere Ergebnisse revidiert werden können.
Bilanzieren wir nun kurz den mehrstufigen Prozess des Verstehens, sofern er
sich auf schulisch bereitliegende Verfahren bezieht. Wenn man so will, ist der
Inbegriff der in die deutschen Schulen eingedrungenen konstruktivistisch ver-
standenen Lernumgebung die Idee des Projektunterrichts (10.6). Um es vorweg
zu sagen: Allzu große Abarbeitungskrisen an den Widerständen und der Fremd-
heit des Themas „Mittelalter“ scheint es beim herangezogenen Projekt – und es
gibt wenige in dieser Art qualitativ rekonstruierte Studien – nicht gegeben zu ha-
ben. Vielmehr erwiesen sich die Schüler im Rahmen der sogenannten Präsenta-
tion als wahre Meister der Übertragung ihrer Alltagsstereotypen auf die fremde
Umgebung. Da diese short-cut-Urteile nicht durch Rückfragen irritiert wurden,
machten sie auch keine wirklichen Erfahrungsprozesse, in denen das Eigene ge-
genüber dem Fremden abgearbeitet und eine fremde Sinnwelt wirklich betre-
ten wird.
Aus schulischer Sicht wird nun oft unterschätzt, in welch vielfältiger Weise
und in welch ungewöhnlichen Verwendungskontexten der Projektbegriff eine
Rolle spielt und angesiedelt ist. So werden z.B. auch Paarbeziehungen, Kinder
oder das Leben als Projekt bezeichnet; neben der Wirtschaft ist die kulturelle
Produktion der Bereich, in dem die Projektform am stärksten ausgeprägt ist. In-
zwischen scheint es nahezu selbstverständlich, dass auch der Forschungsprozess
in Projektform gerahmt ist. Die Grundidee des Projekts lässt sich mit Anselm
95
10 Verweilräume und Übergänge
„Es ist nicht erlaubt, den Schüler (…) im Sinne erwünschter Meinungen zu
überrumpeln und dabei an der Gewinnung eines selbständigen Urteils zu hin-
dern (…).
Was in Wissenschaft kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers er-
scheinen. Optionen und Standpunkte dürfen nicht unterschlagen werden. Der
Lehrer dürfte sogar die Korrekturfunktion haben, die Standpunkte und Opti-
onen, die Alternativen kenntlich zu machen, die in der Klasse vertreten sind.
96
10 Verweilräume und Übergänge
Selbständigkeit und Eigenarbeit der Schüler haben Vorrang vor den Formen
des Belehrens“ (2001, 30).
Das sind Voraussetzungen, auf denen der für die Abarbeitung von Deutungs-
mustern notwendige hypothetische Raum auf dem Boden von Erfahrung und
Phantasie entstehen kann. Im Vergleich hierzu ist, wie die Fallbeispiele zeigen,
nicht überraschend, dass die Fragen und Zugänge der Schüler im gelenkten Un-
terrichtsgespräch angesichts der fokusdirigierenden Fragen der Lehrkraft nur
eine geringe Rolle spielen, obwohl ja gerade das gelenkte Unterrichtsgespräch
auch ein gemeinsamer Denk- und Aneignungsweg ist, der bis zu einem gewis-
sen Grad Spielräume für sachliche Aushandlungen in Form von weiterführen-
den und vertiefenden Fragen sowie zum Paraphrasieren und Vergleichen bietet
(vgl. hierzu Lüders 2003; Meyer/Meyer 2005). Problematisch ist eher der Ein-
druck, hier würden immer fachlich eindeutige Wissensbestände vermittelt. Ge-
nau das schafft seitens der Schüler einen Abstand, wie das Beispiel aus dem
Deutschunterricht andeuten sollte, der oft nicht mehr überbrückbar und unein-
holbar erscheint.
Das Vergleichen von Perspektiven kann unter der Hand auch leicht zu einem
Angleichen werden, wobei die unterschiedlichen Blickwinkel der Schüler zwar
als unterrichtstaktischer Einstieg genutzt, aber schließlich von der in der Fach-
welt vorliegenden Deutung übertrumpft werden. Der Vergleich wird so zu ei-
ner „Aneignung des Anderen nach eigenem Maß“ (Matthes 1992, 84). Das ge-
naue Gegenteil will und vermag der Ansatz der Alltagsphantasien, wie wir im
abschließenden Kapitel zeigen werden. In der Religionsstunde (9.4) sehen wir
Spielräume für Verhandlungen und eine kontroverse Debatte gegeben. Das Ge-
sprächssetting hierfür ist gewiss kultiviert worden. Der Lehrer ist Moderator,
aber auch ein Gesprächspartner, der nicht alles besser weiß, obwohl er seinen
Beitrag – die Distanz zu den Schülern nicht einfach einebnend – als Perspektive
der kollegialen Fachwelt einführt. Die Religionsstunde (9.4) verweist zunächst
auf prinzipielle Erkenntnisse, die auch den Fall 9.6 strukturell kennzeichnen.
1. Was sich zeigt, ist, dass die Schüler überhaupt einen Ausdrucksmöglich-
keit für ihre eigenen Deutungen bekommen müssen: Erst im Moment des
selbständigen Austragens von Prozessen wird erkennbar, was die Schüler
mitbringen. Und erst dadurch ist gewährleistet, dass sie sich in ihren Äuße-
rungsformen wiedererkennen können und die Sachverhalte damit einen ih-
nen zurechenbaren subjektiven Anteil haben. Erst in unseren Äußerungsfor-
men „erfahren wir (...), was dieses Selbst ist, das wir verwirklichen“ (Joas
1992, 120).
97
10 Verweilräume und Übergänge
2. Die hermeneutische Arbeit mit Vergleichsfolien setzt eine längere Phase des
Erarbeitens von Basics voraus, so dass in der anschließenden kontroversen
Debatte gemeinsame Denkräume und Fragen entstehen können: ein tertium
comparationis, das den Vergleich überhaupt möglich macht. Das ist z.B. in
der Schlussrunde des Projekts (9.6) nicht sichtbar geworden. Der Unterricht
verlangt nach robusten Routinen des Übersichtslernens, aber gleichwohl
Sensibilität für aufbrechende Erfahrungsbewegungen.
3. Was die Ausdifferenzierung eigener und fremder Perspektiven anlangt,
scheinen die Schüler meist auf der Ebene der konkreten Erfahrung verhaftet
zu bleiben. Allerdings: Sie können im geübten Gesprächssetting der Religi-
onsstunde über die Folgen der Hypothese eines Schülers, der in der Rolle des
„Kriseninduzierers“ auftritt, nachdenken. Sie können andere Perspektiven
von ihren Annahmen her qualifizieren – wenn auch seltener auf eine Meta-
Ebene „hinter“ den Positionen eingegangen wird bzw. werden kann, in de-
nen bestimmte Denkprinzipien oder die Aspekthaftigkeit einer spezifischen
Hinsicht auf Wirklichkeit (vgl. Wagenschein 1976, 107; Hericks 1993, 7 ff.,
2006, 115) herausgearbeitet werden. Eine solche mit „Aspekthaftigkeit“ an-
gesprochene Ebene dürfte eher selten erreicht werden.
Die Frage, die hier aufgeworfen wird, ist, ob wir mit der Idee der Gegeneinan-
derführung von Deutungsperspektiven unter dem Blickwinkel der Debatte über
die Perspektivenübernahme nicht eine allzu schwierige intellektuelle Operation
ins Feld führen. Denn es handelt sich ja möglicherweise nicht nur darum, die
Unterschiede nebeneinander zu stellen, sondern diese auch in ihrer Verfasstheit
in einem Prozess offener Erfahrung und Phantasie vergleichend weiterzufüh-
ren, die dabei auftretenden Krisenkonstellationen und Irritationen durchzuste-
hen, sich auch in Distanz zu sich selbst zu setzen und gedanklich mit Möglich-
keiten zu experimentieren.
In der Religionsstunde (9.4) sehen wir, was möglich ist, nämlich nicht nur
die Wahrnehmung der Differenz von Perspektiven, sondern auch die eigene Aus-
gestaltung der Perspektive des je anderen bis hin zu einem auf der Metaebene
vollzogenen Zusammenschluss durch Nennung eines dahinterliegenden Prin-
zips. Damit haben wir die oben aufgeworfene Frage, ob wir eine allzu schwie-
rige intellektuelle Leistung der Perspektivenübernahme zum Kern unseres Ver-
stehenskonzepts machen, nicht generell beantwortet.
Wer nun an dieser Stelle die Wissenschaft etwa nach eindeutigen Altersan-
gaben befragt, begegnet einer Kontroverse, die mit Piagets Stufentheorie be-
gonnen hat. In den Worten und der Zusammenfassung Klaus-Jürgen Tillmanns
kann ein Jugendlicher mit ca. 11 bis 12 Jahren z.B. „nicht nur über Hypothesen
nachdenken und die möglichen Folgen abschätzen, sondern auch in allgemei-
98
10 Verweilräume und Übergänge
99
10 Verweilräume und Übergänge
Ebene I: Sich von der Fremdheit des Gegenstandes bewegen lassen. Erfahrungs-
fähigkeit.
Auf dieser Ebene steht die Annäherung an den Gegenstand zur Debatte: die
Offenheit für die Revision von Überzeugungen, der Umgang mit der Krise im
Sinne erst zu fassender unklarer Problemlagen, Brüche und Irritationen. Es han-
delt sich also um eine grundständige Qualität, ohne die ein Tiefenschichten be-
rührendes Verstehen überhaupt nicht denkbar ist. Gleichwohl sind hier nicht
nur Voraussetzungen angesprochen, sondern auch Resultate durchgestandener
Lernkrisen. Wir haben in den vergangenen Kapiteln gesehen, wie sehr diese Ak-
zeptanz von Fremdheit davon abhängt, sich einer, von Irritationen inspirierten
Phantasie bedienen zu können, die den Wechselverkehr zwischen der inneren
und äußeren Welt erlaubt und entsprechende Übergänge zwischen Subjekt und
Gegenstand ermöglicht. Wir möchten im Sinne des flexiblen Wechselverkehrs
zwischer innerer und äußerer Welt von Erfahrungfähigkeit sprechen, die gera-
dezu die Erwartung des Überraschenden und Neuen einschließt.
100
10 Verweilräume und Übergänge
101
10 Verweilräume und Übergänge
nis und das erfahrende Subjekt erlebt sich zudem in der Beziehung zu einem
Allgemeinen. Dewey schreibt: „Wird eine dunkle Landschaft von einem Blitz
erhellt, so lassen sich die Gegenstände einen Moment lang erkennen. Das Er-
kennen selbst ist jedoch kein bloßer Punkt in der Zeit. Es ist der Gipfel und der
Brennpunkt langer, allmählicher Reifungsprozesse. Es bedeutet das Hervortre-
ten des Zusammenhangs zwischen einer geordneten zeitlichen Erfahrung und
einem plötzlich auftretenden, einzelnen, momentanen Höhepunkt“ (1980, 33).
Aber das Plötzliche in solchen bildenden Momenten täuscht. Lange Prozesse
der Suche und des Testens sind vorausgegangen.
102
11 Der Ansatz der Alltagsphantasien
103
A. Combe, U. Gebhard, Verstehen im Unterricht, DOI 10.1007/978-3-531-94281-0_11,
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
11 Der Ansatz der Alltagsphantasien
Der Übergang bzw. die Vermittlung zwischen der Logik der Wissenschaft und
der Logik der Erfahrung und der Phantasie erfordert eine didaktische Haltung,
die die Phantasien und Konnotationen, die Symbolisierungen, die ein Lernge-
genstand auslöst, nicht als unpassendes Ornament des eigentlichen Lernstoffes
denunziert (Gebhard 1999a; 2003; Combe/Gebhard 2007). Schon unter diesem
Blickwinkel darf das Konzept der Alltagsphantasien, das wir nun darstellen wol-
len, als Prototyp des Erfahrungslernens gelten.
An Stellen, wo gewissermaßen der Unterbau des Lernens angesprochen ist,
setzt also die Theorie der Alltagsphantasien an. Der Lerngegenstand wird in ei-
nen Spielraum des Möglichen versetzt. Der Rückgriff auf vergangene Erfahrun-
gen fügt einem Lerngegenstand insofern eine neue, zukunftsträchtige und meist
lösungsrelevante Dimension hinzu.
Alltagsphantasien verstehen wir als Andockpunkte und Teil einer „Annähe-
rungsarbeit“ an den Gegenstand. Die Mobilisierung von Phantasien ermöglicht
darüber hinaus, festgefahrene Gegenstandsbezüge zu „modalisieren“ (Koke-
mohr 1985). Die explizite Reflexion von durch den Lerngegenstand ausgelösten
Phantasien und intuitiven Deutungsmustern vertieft das gegenstandsbezogene
Lernen vor allem deshalb, weil unbewusste und bewusste, subjektivierende und
objektivierende Erfahrungsbewegungen aufeinander bezogen werden. In die-
sem Zusammenhang verweist eine Erfahrungstheorie auf ein weiteres zentrales
Problem des Erfahrungs- und Sinnaufbaus im Bereich des fachlichen Lernens.
Es handelt sich um die Vergewisserung über den Umgang mit den Bruchstellen,
die zwischen den konkreten Erfahrungssubjekten einerseits und der Eigenlogik
der fachlichen Wissenssysteme bestehen, die sich im Status ihrer Allgemeinheit
von der Konkretion der einzelnen Lebenswelt gelöst haben, ja um der Allge-
meinverbindlichkeit willen lösen mussten.
104
11 Der Ansatz der Alltagsphantasien
105
11 Der Ansatz der Alltagsphantasien
king sence of human life“ (Habermas 1988, 94). Habermas weist zusätzlich auf
eine mit dieser Funktion verbundene Immunisierung gegen Deutungsalterna-
tiven hin, weil sie die Individuen „mit einem Kernbestand von Grundbegrif-
fen und Grundannahmen versorgen“ (Habermas 1988, 100). Dabei können die
„subjektiven Welten ... als Spiegelflächen dienen“ (Habermas 1988, 106). Die
explizite Reflexion der Alltagsphantasien verflüssigt somit auch diese Spiegel-
flächen und trägt damit zu einer geradezu philosophischen Tiefe in der Ausein-
andersetzung mit Lerngegenständen bei. Die oft intuitiven, nicht immer bewusst
verfügbaren Zugänge der Schüler müssen dabei der Kommunikation und Re-
flexion mit anderen zugänglich gemacht werden, ein Prozess, in den auch die
fachlichen Perspektiven gleichsam als strittiger Fall einbezogen werden. Die Er-
fahrungsbewegung weist damit eine Verschränkung zwischen subjektiven und
objektiven Momenten auf, in denen Phantasieaktivitäten als oszillierendes Me-
dium eine zentrale Rolle spielen.
Alltagsphantasien aktivieren also seitens der Schüler ein implizites, kultu-
relles Wissen und eine ihrem gesellschaftlich-kulturellen Umfeld entsprechende
Wahrnehmung. Durch die explizite Thematisierung der Alltagsphantasien, die
ein Lerngegenstand hervorruft, kann ein Bezug zwischen fachlichem Wissen
und lebensweltlichen Vorstellungen und kulturellen Bildern begünstigt werden.
Vorraussetzung dafür ist allerdings, dass diese kulturellen Bilder immer wie-
der aktiviert und im Verhältnis zur wissenschaftlichen, fachsprachlichen Deu-
tung qualifiziert werden. Damit sind wir wieder beim Problem des Übergangs
von lebensweltlichen und fachsystematischen Vorstellungen angelangt, für des-
sen Lösung wir im folgenden die Kultivierung einer gewissen „Zweisprachig-
keit“ vorschlagen.
106
11 Der Ansatz der Alltagsphantasien
107
11 Der Ansatz der Alltagsphantasien
108
11 Der Ansatz der Alltagsphantasien
Wir sind davon ausgegangen, dass sich das Problem der Bruchstellen zwi-
schen subjektivem Sinnkonzept einerseits und den fachlichen und fachsprach-
lichen Wissenssystemen andererseits, will man es weiter untersuchen und di-
daktisch bearbeiten, an der Schnittstelle von Sprachspielen aufgesucht werden
muss. Nicht die Zurückdrängung der einen Seite um der anderen willen scheint
die Lösung zu sein, sondern eher das Nebeneinanderstellen, die Zweisprachig-
keit, Formen einer produktiven, spannungsreichen Mehrfachkodierung und
mehrperspektivischen Sicht des Unterrichtsgegenstandes. Nicht nur ein Sprach-
spiel mit eingeschränkter Bedeutungsvariation der Fachbegriffe ist zugelassen,
sondern auch ein Konzept der „Familienähnlichkeit“ (Wittgenstein 1977). Die
alltägliche Form des Sprachspiels geht von unscharfen Rändern aus, von der
Begrenztheit, über die Identität und Verschiedenheit von Eigenschaften und
Merkmalen eine eindeutige logische Bestimmtheit eines Begriffs zu erreichen.
Alltagssprachlich stehen Begriffe und Vorstellungen vielmehr in einem losen
Verbund, der je nach Kontext und Situation aufeinander verweisen und ähnli-
ches einander zugesellen kann. Im Alltag können wir mit pragmatisch hinrei-
chender Sicherheit und auf Grund unserer Erfahrung mit Kontexten und Kon-
ventionen sagen, welche Verwendung eines Ausdrucks angemessen ist. Damit
ist aber die alltägliche Sprachverwendung – und darauf kommt es hier an –
für Anschlüsse, Resonanzen und Perspektiven offen. Was die besondere Pointe
einer solchen zweisprachigen Position ausmacht, ist allerdings, dass es keine
übergreifende Sicht gibt. Das Bildungserlebnis besteht darin, von einer Lesart
in die andere überwechseln zu können – und das immer wieder und hin und zu-
rück. Man experimentiert gleichsam mit Beschreibungen und Vokabularen: den
eigenen, und denen, die man bei anderen findet. Mit anderen Worten: Hier gibt
es keinen „Gipfelblick“ (Rorty 1987), um sich über die Vielfalt der Erscheinun-
gen zu erheben. Es gilt vielmehr im Sinne einer Grundhaltung, mit einer relatio-
nalen Bestimmung von Gegenständen und mit einer damit zusammenhängenden
nicht zu tilgenden Pluralität zu Recht zu kommen. Diese Pluralität wird sich nun
im nächsten Kapitel anhand einiger ausgewählter Beispiele zeigen.
109
11 Der Ansatz der Alltagsphantasien
len und sozialen Konzepte, unsere impliziten Welt- und Menschenbilder trans-
portieren. Zudem machen sie als Intuitionen natürlich nicht vor Fächergrenzen
halt. Im Gegenteil: durch die Einbeziehung der Alltagsphantasien erfährt der
Fachunterricht gewissermaßen eine kulturelle Einbettung und die explizite Re-
flexion der Alltagsphantasien eröffnet projektartige, fachübergreifendene Mög-
lichkeiten (Decke-Cornill/Gebhard 2007).
Um auf die Ebene der Phantasien und der latenten Sinnstrukturen zu gelan-
gen, bedarf es besonderer methodischer Zugänge. Deshalb haben wir ein Grup-
pendiskussionsverfahren als qualitative Forschungsmethode angewandt, das
Anregungen aus der Kinderphilosophie aufgreift (vgl. Gebhard, Billmann-Ma-
hecha, Nevers 1997). Insbesondere der von Matthews (1989) gut dokumentierte
Ansatz, durch das Vorlesen einer im Ausgang offenen Geschichte eine eigen-
ständige Diskussion anzuregen, hat sich in unseren bisherigen Forschungser-
fahrungen gut bewährt. Verschiedene, begründbare Positionen werden durch ein
kontrovers geführtes Gespräch zwischen zwei Jugendlichen in der Geschichte
repräsentiert.
Die Diskussionen werden wörtlich transkribiert und nach Verfahrensvor-
schlägen der grounded theory ausgewertet. Im Folgenden zunächst die Alltags-
phantasien, die auf der Grundlage von 30 Gruppendiskussionen mit Oberstufen-
schülern zum Thema „Gentechnik“ rekonstruiert wurden (Gebhard 2002 a u. b,
2009, Gebhard/Mielke 2002):
Diese Übersicht zeigt die Vielfalt und auch Vielschichtigkeit der Alltagsphanta-
sien. Die einzelnen Erzählungen sprechen natürlich nicht für sich, sondern müs-
sen in einem sorgfältigen hermeneutischen Prozess ausgedeutet werden. Das
gilt vor allem im Hinblick auf die impliziten Welt- und Menschenbilder. In den
110
11 Der Ansatz der Alltagsphantasien
111
11 Der Ansatz der Alltagsphantasien
112
11 Der Ansatz der Alltagsphantasien
113
11 Der Ansatz der Alltagsphantasien
Alltagsphantasien positiv beeinflusst wird. Hier liegen die Mittelwerte der In-
terventionsgruppen zu allen drei Messzeitpunkten bedeutsam über denen der
Kontrollgruppe (Monetha 2009). Offenbar wird durch die Einbeziehung der All-
tagsphantasien das Erleben sozialer Eingebundenheit gefördert, da die Schüler-
perspektive ernst genommen wird. Der Weg zum Verstehen der Sache vom Ich
zum verallgemeinernden Wir geht vom Geltenlassen des Einzelnen über syste-
matischen Austausch und Vergleich mit anderen. Dies scheint besonders gut in
einer sozialen Atmosphäre des Angenommenseins zu funktionieren.
Die größten Effekte sind bei der intrinsischen Motivation zu verzeichnen
(Monetha/Gebhard 2008). Die Mittelwerte der Interventionsklassen liegen zu
allen drei Messzeitpunkten über denen der Kontrollklasse.
Auch auf die Verstehensprozesse hat die Reflexion der Alltagsphantasien ei-
nen Einfluss: Die Kontrollklasse schnitt im Leistungstest zwar nur geringfügig
schlechter ab als beide Interventionsklassen. Doch nach zwölf Wochen können
die Schülerinnen und Schüler der Interventionsklassen sich an mehr Unter-
richtsinhalte erinnern als die der Kontrollklasse. Diese Ergebnisse deuten darauf
hin, dass die besagten Andockpunkte zu einer tieferen und nachhaltigeren Be-
schäftigung mit dem Lerngegenstand geführt haben.
Die hier skizzierten Ergebnisse der Wirkung von Alltagsphantasien auf das
Erinnerungsvermögen bestätigen die früheren Ergebnisse von Born (2007).
Auch in dieser Studie wurden (in der Klassenstufe 11) bessere Leistungsergeb-
nisse bei den Lernenden festgestellt, deren Alltagsphantasien im Unterricht be-
rücksichtigt wurden.
Vor dem Hintergrund unseres Verständnisses von Lernen als das Konstituie-
ren von Sinn nehmen wir an, dass das Willkommenheißen der subjektivierenden
Sinnentwürfe zu einer subjektnahen und offenbar auch nachhaltigen Verarbei-
tung des Unterrichtsgegenstandes führt. Vor allem die Ergebnisse der Follow-
up-Erhebungen deuten in diese Richtung. Das Willkommenheißen allein genügt
dabei natürlich nicht, sondern es kommt zusätzlich darauf an, ob und wie die
subjektiven Sinnentwürfe konkret verarbeitet und weiter verarbeitet werden.
In einer weiteren Studie wurden diese Befunde im Hinblick auf ihre kogniti-
onspsychologischen Mechanismen genauer untersucht (Oschatz 2011, Oschatz/
Gebhard/Mielke 2010, 2011). Dabei sind wir von der theoretischen Annahme
ausgegangen, dass die mentale Integration der Alltagsphantasien und die Verar-
beitung unterschiedlicher Zugänge durch zusätzliche kognitive Anstrengungen
gewährleistet werden muss (Kruglanski et al. 1999). Diese zusätzliche kognitive
Leistung könnte Lernen unterstützen.
In laborexperimentellen Untersuchungen (n = 203) im Versuchs-Kontroll-
gruppen-Design aktivierten wir Alltagsphantasien zum Thema Gentechnik bei
Probanden der Versuchsgruppe und untersuchten u.a. die Effekte auf Denkpro-
114
11 Der Ansatz der Alltagsphantasien
zesse zu biologischen Themen. Die Probanden lasen einen Text zum Thema
Gentransfer. Mithilfe eines Multiple Choice Tests sowie speziell entwickelter
Transferaufgaben zum Verständnis der grundlegenden Prozesse des Gentrans-
fers (Oschatz 2010) wurden die Auswirkungen auf Verstehensprozesse erfasst.
Die Ergebnisse zeigen nun, dass die Kontrollgruppen die Transferaufgabe
signifikant besser als die Versuchsgruppe, die sich ja mit den subjektivierenden
Alltagsphantasien beschäftigt haben, lösen. Eine ähnliche Tendenz zeigt sich
auch in Bezug auf die Multiple Choice Aufgaben.
Außerdem haben wir bei den Probanden noch das sogenannte „Bedürfnis
nach Kognition“ (Need for Cognition, Cacioppo & Petty 1982) erfasst. Dabei
handelt es sich um eine Persönlichkeitseigenschaft, die den Grad der Freude am
Denken und Nachsinnen abbildet. Personen mit hohem Bedürfnis nach Kog-
nition haben Freude am Denken und investieren hohen analytischen Aufwand,
wenn sich ihnen die Gelegenheit hierzu bietet. Personen mit einem geringen Be-
dürfnis nach Kognition vermeiden eher aufwendiges Denken, wenn sie nicht
durch entsprechende Anforderungen hierzu gleichsam „gezwungen“ werden.
Hier haben wir sehr interessante Befund zu verzeichnen: Die Effekte des
Bedürfnisses nach Kognition wurde nämlich durch die Aktivierung der Alltags-
phantasien nivelliert. Während die Probanden der Kontrollgruppe in Abhängig-
keit ihres Bedürfnisses nach Kognition besser abschnitten, fanden sich in der
Versuchsgruppe keine Unterschiede. Die Alltagsphantasien beschäftigen offen-
bar die Subjekte sehr und lenken zunächst von der Beschäftigung mit den Lern-
gegenständen ab. Gerade diejenigen, die sich durch ein hohes Bedürfnis nach
Kognition auszeichnen, die also gern und oft nachdenken und Dinge in Frage
stellen, sind davon am meisten betroffen.
Man kann also auch empirisch von einem durch die Alltagsphantasien aus-
gelösten Irritationseffekt sprechen. Die Beschäftigung mit den Alltagsphanta-
sien ist also offenbar eine „wirkliche“ Erfahrung; und die ist eben – das ist eine
unserer theoretischen Hauptaussagen – irritierend. Die Einbeziehung intuitiver
Vorstellungen erfordert möglicherweise zusätzliche kognitive Anstrengung, um
die Beanspruchung durch die Reflexion der sonst intuitiven Ideen auszubalan-
cieren (Kruglanski et al. 1999). Auch der nivellierende Effekt auf die Einflüsse
des Bedürfnisses nach Kognition der Probanden der Versuchsgruppen kann als
Zeichen kognitiver Beanspruchung gedeutet werden.
115
11 Der Ansatz der Alltagsphantasien
– etwa mit dem Blick auf den dadurch erzeugten offenen Anfang, der ein Einlas-
sen auf die Thematik provozieren kann – ist das nicht mehr erstaunlich: Wenn
wir wollen, dass die Schüler in der Auseinandersetzung mit Lerngegenständen
berührt, konfrontiert und persönlich involviert sind, wird dies mehr in Anspruch
nehmen als glatte Lernprozesse. Das kann natürlich irritieren und auf „Abwege“
führen. Allerdings – und das zeigen die Interventionsstudien – lohnt sich diese
irritierende Tiefe: Wenn die Phantasien willkommen sind, wenn sie immer wie-
der zum Gegenstand expliziter, mit Anderen geteilter Reflexion gemacht werden
– auch wenn sie abschweifig sind – wird ein Unterricht, der Alltagsphantasien
berücksichtigt, sinnhafter erlebt, unterstützt die Motivation und ist auch im Hin-
blick auf den kognitiven Wissenserwerb – langfristig, meist schon mittelfristig
– effizienter (s.o.). Möglich ist nämlich, dass gerade durch die zusätzliche kog-
nitive Beanspruchung langfristig eine breitere und tiefer gehende Verarbeitung
erfolgt, die zu nachhaltigen Lernergebnissen führt. Auch unabhängig davon sind
die subjektivierenden Phantasien für Bildungsprozesse deshalb besonders wich-
tig, weil sie den Fachunterricht – darauf haben wir schon hingewiesen – mit den
kulturellen und sozialen Konzepten und den damit implizierten Welt- und Men-
schenbildern der Schülerinnen und Schüler verbinden können.
Vor diesem Hintergrund soll nun abschließend diskutiert werden, dass
und wie Irritationen fruchtbar werden können. Irritationen könnten zumindest
auch in den immer wieder zitierten „fruchtbaren Moment im Bildungsprozess“
(Copei 1969) führen. Copei sagt, dass es einer „Triebfeder“, einer Spannung,
eben einer krisenhaften Konstellation bedürfe, um mehr als nur eine „gedächt-
nismäßige Einprägung überlieferter Sinngehalte“ (Copei 1969, 102) zu bewir-
ken. In solchen Momenten leuchte – so Copei – die Erkenntnis zwar auf, sei aber
als solche noch unfertig. Genau um diesen Zustand und seine Transformationen
geht es uns. Was hier passiert, ist das, was wir in Kapitel 4 „Entselbstverständli-
chung“ genannt haben: das Arbeiten mit der Irritation des für selbstverständlich
Gehaltenen, der zunehmenden Verflüssigung der gewohnten Verschränkungen
zwischen Subjekt und Objekt. Dazu müssen die unterschiedlichen Perspektiven
auf einander bezogen werden.
Bei den Irritationen geht es eher darum, etwas zu schaffen, was nicht rest-
los aufgeht in Verständlichkeit. Jedenfalls ist es das Prinzip der geistigen Pro-
duktivität, solche labilen Zonen in das Bewusstsein einzulassen und diese Span-
nungszonen produktiv zu machen. Die Alltagsphantasien beunruhigen das
Subjekt auch deshalb, weil sie inhaltlich unsere kulturell erzeugten Welt- und
Menschenbilder transportieren und somit das Subjekt in den Grundfesten seiner
Existenz berühren können.
116
11 Der Ansatz der Alltagsphantasien
117
Literatur
Adorno, Th. W. (1973): Negative Dialektik. In: Gesammelte Schriften, Bd. 6. Frankfurt
am Main.
Anderson, J. R. (1983): The architecture of cognition. Cambridge.
Angehrn, E. (2004): Interpretation und Dekonstruktion. Untersuchungen zur Hermeneu-
tik. Weilerswist.
Ansermet, F./Magistretti, P. (2005): Die Individualität des Gehirns. Frankfurt am Main
Arnold, E./Bastian, J./Combe, A./Schelle, C./Reh, S. (2000): Schulentwicklung und
Wandel der pädagogischen Arbeit. Hamburg.
Bannert, M./Schnotz, W. (2006): Vorstellungsbilder und Imagery-Strategien. In: Mandl,
H./Friedrich, H.F. (Hg.): Handbuch Lernstrategien, Göttingen, 72-88.
Baumert, J. (2006): Was wissen wir über die Entwicklung von Schulleistungen? In: Päd-
agogik 58, H. 4, 2006 40-46.
Baumert, J./Köller, O. (2000): Unterrichtsgestaltung, verständnisvolles Lernen und mul-
tiple Zielerreichung im Mathematik- und Physikunterricht der gymnasialen Ober-
stufe. In: Baumert, J./Bos, W./Lehmann, R. (Hg.): TIMMS-III, Opladen 271-316.
Benjamin, W. (1977): Der Erzähler (1936). In: Benjamin, W.; Gesammelte Schriften, Bd.
II, Frankfurt am Main, 438-465.
Benner, D. (2005): Über pädagogisch relevante und erziehungswissenschaftlich frucht-
bare Aspekte der Negativität menschlicher Erfahrung (Einleitung): In: Benner, D.
(Hg.): Erziehung-Bildung-Negativität. Zeitschrift für Pädagogik 51, Beiheft 49, 7-23.
Bittner, G. (1998): Metaphern des Unbewussten. Eine kritische Einführung in die Psy-
choanalyse. Stuttgart.
Bittner, G. (1981): Die imaginären Szenarien. In: Schöpf, A.: Phantasie als anthropologi-
sches Problem. Würzburg: 95-114
Blumenberg, H. (1981): Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt am Main
Blumenberg, H. (1987): Das Lachen der Thrakerin. Eine Urgeschichte der Theorie.
Frankfurt am Main.
Boesch, E.E. (1980): Kultur und Handlung. Einführung in die Kulturpsychologie. Bern/
Stuttgart.
Bollnow, O.F. (1968): Der Erfahrungsbegriff in der Pädagogik. Zeitschrift für Pädago-
gik 14. 221-252.
Borich, G. D. (2007): Effective teaching methods: research-based practice. New Jersey.
Born, B. (2007): Lernen mit Alltagsphantasien. Studien zur Schul- und Bildungsfor-
schung (Bd.10). Wiesbaden.
Born, B., Gebhard, U. (2005): Intuitive Vorstellungen und explizite Reflexion: Zur Be-
deutung von Alltagsphantasien bei Lernprozessen zur Bioethik. In: Schenk, B. (Hg.):
Bausteine einer Bildungsgangtheorie. Wiesbaden, 255-271.
119
A. Combe, U. Gebhard, Verstehen im Unterricht, DOI 10.1007/978-3-531-94281-0,
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
Literatur
Bräu, K. (2007): Die Betreuung der Schüler im individualisierenden Unterricht der Se-
kundarstufe, Strategien und Handlungsmuster der Lehrenden. In: Rabenstein, K./
Reh, S. (Hg.): Kooperatives und selbständiges Arbeiten von Schülern. Zur Qualitäts-
entwicklung von Unterricht. Wiesbaden 173-195.
Brecht, B. (1967): Gesammelte Werke, Bd. 14 (Flüchtlingsgespräche). Frankfurt am
Main.
Brumlik, M (2006): Sigmund Freud. Der Denker des 20. Jahrhunderts. Weinheim und
Basel 2006.
Buck, G. (1967): Lernen und Erfahrung. Stuttgart.
Cacioppo, J. T. & Petty, R.E. (1982): The need for cognition. Journal of Personality and
Social Psychology, 42 (1), 116-131.
Chaiken, S. & Trope, Y. (Hg.): (1999). Dual-proces theories in social psychology. New
York.
Combe, A. (1992): Bilder des Fremden. Romantische Kunst und Erziehungskultur, Op-
laden.
Combe, A. (1996): Pädagogische Professionalität, Hermeneutik und Lehrerbildung. Am
Beispiel der Berufsbelastung von Grundschullehrkräften. In: Combe, A./Helsper, W.
(Hg.) (1996): Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogi-
schen Handelns. Frankfurt am Main
Combe, A. (2001): Fallgeschichten in der universitären Lehrerbildung und die Rolle der
Einbildungskraft. In: Hericks, K./Keuffer, J./Kräft, H. Chr. (Hg.): Bildungsgangdi-
daktik. Opladen, 167-190.
Combe, A. (2004): Brauchen wir eine Bildungsgangforschung? Grundbegriffliche Klä-
rungen. In: Trautmann, M. (Hg.): Entwicklungsaufgaben im Bildungsgang. Wiesba-
den.
Combe, A. (2005): Lernende Lehrer – Professionalisierung und Schulentwicklung im
Lichte der Bildungsgangforschung. In: Schenk, B. (Hg.): Bausteine einer Bildungs-
gangtheorie. Wiesbaden, 69-90.
Combe, A. (2006):Hatten die schon Schuhe? Zur Theorie des Erfahrungslernens. In: Pä-
dagogik 58, Heft 6, 32-36.
Combe, A. (2010): Wie lassen sich in der Schule Erfahrungen machen? Lernen aus der
Sicht der Erfahrungstheorie. In: Pädagogik 62, Heft 7/8, 72-77.
Combe, A./Buchen, S. (1996): Belastungen im Lehrberuf. Fallstudien aus unterschiedli-
chen Schulformen. Weinheim und München.
Combe, A./Gebhard, U. (2007): Sinn und Erfahrung. Zum Verständnis fachlicher Lern-
prozesse in der Schule. Opladen/Farmington Hills.
Combe, A./Gebhard, U. (2009): Irritation und Phantasie. Zur Möglichkeit von Erfahrun-
gen in schulischen Lernprozessen. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 12, H.
3, 549-57.
Combe, A./Helsper, W. (Hg.) (1991): Hermeneutische Jugendforschung. Theoretische
Konzepte und methodologische Ansätze. Opladen.
Combe, A./Helsper, W. (Hg.) (1996): Pädagogische Professionalität. Frankfurt am Main
Combe, A./Kolbe, F. (2004): Lehrerprofessionalität: Wissen, Können, Handeln. In: Hel-
sper, W./Böhm, J. (Hg.): Handbuch der Schulforschung, Wiesbaden, 833-852.
120
Literatur
121
Literatur
Epstein, S. (1994): Integration of the Cognitive and the Psychodynamic Unconscious. In:
American Psychologist 49, 8, 709-724.
Evans, J. St. B. T. (2007): Dual-Processing Accounts of Reasoning. Judgement, and So-
cial Cognition. In: Annual Review of Psychology, 59, 255-278.
Fauser, P./Madelung, E./Rentschler, I. (Hg.) (2003): Bilder im Kopf. Texte zum imagina-
tiven Lernen. Seelze.
Freud, S. (1895): Entwurf einer Psychologie. In: Aus den Anfängen der Psychoanalyse.
(Hg: Bonaparte, M./Freud, A./Kris, E.) Frankfurt am Main 1962.
Freud, S. (1900): Die Traumdeutung. GW Band II/III, Frankfurt am Main.
Freud, S. (1905): Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. GW VI, Frankfurt
am Main.
Freud, S. (1915): Das Unbewußte. GW X, S. 263-303, Frankfurt am Main.
Freud, S. (1917/1918): Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. GW 11, Frank-
furt am Main.
Freud, S. (1919): Vorrede zu Theodor Reiks: Probleme der Religionspsychologie. GW
XII, 325-329, Frankfurt am Main.
Freud, S. (1938): Abriss der Psychoanalyse. GW XVII, 63-139, Frankfurt am Main.
Frisch, M. (1976): Gesammelte Werke (GW). Hg.: H. Mayer u. Mitwirkung von A.
Schmitz. Frankfurt am Main.
Gadamer, H. (1960): Wahrheit und Methode. Tübingen.
Gardner, H. (1989): Dem Denken auf der Spur. Der Weg der Kognitionswissenschaft.
Stuttgart.
Gebhard, U. (1992): Träumen im Biologieunterricht? – Psychoanalytische Betrachtun-
gen zu unbewussten Einflüssen auf das Denken. In: Unterricht Biologie 172, 44-46.
Gebhard, U. (1999a): „Länger leben hat schon seine Vorteile“. Gentechnik im Bewußt-
sein von Jugendlichen. In: Friedrich Jahresheft 1999 „Mensch – Natur – Technik“.
Velber, 90-94
Gebhard, U. (1999b): Weltbezug und Symbolisierung: Zwischen Objektivierung und
Subjektivierung. In: Gesellschaft für Didaktik des Sachunterrichts (Hg.) Probleme
und Perspektiven des Sachunterrichts: Bd. 9. Umwelt, Mitwelt, Lebenswelt im Sach-
unterricht, Bad Heilbrunn, 33-53.
Gebhard, U. (2002a). Tod und Unsterblichkeit in Alltagsphantasien von Jugendlichen zur
Gentechnik. Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik (1), 14-21.
Gebhard, U. (2002b): Wie die Gene ins Feuilleton kommen: Phantasien und Alltagsmy-
then. In: Dally, A./Wewetzer, Ch. (Hg.): Die Logik der Genforschung. Wohin ent-
wickeln sich molekulare Biologie und Medizin? Rehburg-Loccum 2002 (Loccumer
Protokolle 24/01), 55-72
Gebhard, U. (2003): Die Sinndimension im schulischen Lernen: Die Lesbarkeit der Welt.
Grundsätzliche Überlegungen zu Lernen und Lehren im Anschluss an PISA. In: Mo-
schner, B./Kiper, H./Kattmann, U. (Hg.): PISA 2000 als Herausforderung. Balt-
mannsweiler, 205-223.
Gebhard, U. (2005): Symbole geben zu denken. Sprache und Verstehen im naturwis-
senschaftlichen Unterricht. Plädoyer für das Philosophieren im naturwissenschaftli-
chen Unterricht. In: Hößle, C., Michalik, K. (Hg.): Philosophieren mit Kindern und
122
Literatur
123
Literatur
124
Literatur
125
Literatur
Lüders, M. (2003): Unterricht als Sprachspiel. Eine systematische und empirische Studie
zum Unterrichtsbegriff und zur Unterrichtssprache. Bad Heilbrunn.
Lüders, J. (2007):Ambivalente Selbstpraktiken:eine Foucault’sche Perspektive auf Bil-
dungsprozesse in Weblogs. Bielefeld.
Mann, Th. (1949): Die Entstehung des „Doktor Faustus“. In: Die neue Rundschau 13,
18-74.
Marotzki, W. (1985): Normativität und geschichtliches Lernen. Überlegungen zu einem
konstruktivistischen Lernbegriff anhand des Unterrichtsbeispiels „Von der Kontinen-
talsperre zum Russlandfeldzug Napoleons“. Frankfurt am Main, 261-291.
Marton, F. & Säljö, R. (1984): Approaches to learning. In: F. Marton, D. J. Hounsell & N.
J. Entwistle (Eds.), The experience of learning (pp. 36-55). Edinburgh.
Matthes, J. (1992): The Operation Called „Vergleichen“. In: Matthes, J. (Hg.): zwischen
den Kulturen? Die Sozialwissenschaften vor dem Problem des Kulturvergleichs. In:
Soziale Welt, Sonder-Bd. 8, Göttingen, 75-102.
Matthews, G.B. (1989): Philosophische Gespräche mit Kindern. Berlin.
Mead, G. H. (1903/1980): Die Definition des Psychischen. In: Mead, G. H.: Gesammelte
Aufsätze, Bd. 1, Hg. von Hans Joas, Frankfurt am Main, 83-148.
Mertens W. (2005): Das Unbewusste in der Kognitionspsychologie – wird damit das psy-
choanalytische Unbewusste hinfällig? In: M.B. Buchholz/G. Gödde (Hg.): Das Un-
bewusste. Ein Projekt in drei Bänden. Bd. II Das Unbewusste in aktuellen Diskur-
sen. Gießen, 264-309.
Meyer, H./Meyer, M. A. (2005): Lob des Frontalunterrichts. Argumente und Anregun-
gen. In: Basiswissen Unterricht. Friedrich Jahresheft, 40- 43.
Meyer, M. A./Jessen, S. (2000): Schülerinnen und Schüler als Konstrukteure des Unter-
richts. In: Zeitschrift für Pädagogik 46, 711-730.
Meyer-Drawe, K. (1996): Vom anderen lernen. Phänomenologische Betrachtungen in der
Pädagogik. In: Borelli, M./Ruhloff, J. (Hg.): Deutsche Gegenwartspädagogik, Bd. 2.
Baltmannsweiler, 85-98.
Meyer-Drawe, K. (2005): Lernen als Erfahrung. In: Zeitschrift für Erziehungswissen-
schaft 6, 505-514.
Meyer-Drawe, K.(2008): Diskurse des Lernens. München.
Mollenhauer, K. (1988): Ist ästhetische Bildung möglich? In: Zeitschrift für Pädagogik
34, 4, 443-461.
Mollenhauer, K. (1996): Grundfragen ästhetischer Bildung. Weinheim.
Monetha, S. & Gebhard, U. (2008): Alltagsphantasien, Sinn und Motivation. In: Koller,
H.-C. (Hg.): Sinnkonstruktion und Bildungsgang. Zur Bedeutung individueller Sinn-
zuschreibungen im Kontext schulischer Lehr-Lernprozesse. Opladen, 65-86.
Monetha, S. (2009): Alltagsphantasien, Motivation und Lernleistung. Opladen.
Müller-Roselius, K. (2008): Max Frisch. Gebilde Literatur – literarische Bildung. Pader-
born u. a.
Neber, H. (2004): Förderung epistemischen Fragens im Religionsunterricht. In: Unter-
richtswissenschaft 32, 308-320.
Neber, H. (2006): Fragen stellen. In: Mandl, H./Friedrich, H. F. (2006) (Hg.): Handbuch
Lernstrategien. Göttingen, 50-58.
126
Literatur
Negt, O. (1982): Die Alternativpädagogik ist ohne Alternative. In: Beck, J./Boehnke, H.
(Hg.): Jahrbuch für Lehrer 7. Selbstkritik der Pädagogischen Linken: Einsichten und
Aussichten. Reinbek b. Hamburg, 114-144.
Nietzsche, F. (1966): Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn. In: Werke, Bd.
III, Hg. von Karl Schlechta, München, 313ff.
Nietzsche, F. (1982): Die fröhliche Wissenschaft. Frankfurt am Main.
Nizon, P. (1985): Am Schreiben gehen. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt am Main.
Oerter, R. (Hg.) (1999): Menschenbilder in der modernen Gesellschaft. Konzeptionen
des Menschen in Wissenschaft, Bildung, Kunst, Wirtschaft und Politik, Stuttgart.
Oevermann, H. (1996): Krise und Muße. Struktureigenschaften ästhetischer Erfahrung
aus soziologischer Sicht. Frankfurt am Main, 1-46 (www.w-f-k.de/PDF-Dateien/
Ulrich Oevermann: Krise und Muße).
Oevermann, U. (1991): Genetischer Strukturalismus und das sozialwissenschaftliche
Problem der Entstehung des Neuen. In: Müller-Dohm, S. (Hg.) (1991): Jenseits der
Utopie. Frankfurt am Main, 267-338.
Oevermann, U. (1996): Theoretische Skizze einer revidierten Theorie professionalisier-
ten Handelns. In: Combe, A./Helsper, W. (Hg.) (1991): Pädagogische Professionali-
tät. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns. Frankfurt am Main, 70-
182.
Oevermann, U. (2004): Sozialisation als Prozess der Krisenbewältigung. In: Geulen, D./
Veit, H. (Hg.): Sozialisationstheorie interdisziplinär. Stuttgart, 155-181.
Otto, G. (1998): Lehren und Lernen zwischen Didaktik und Ästhetik. Bd. 1. Ästhetische
Erfahrung und Lernen. Seelze.
Oschatz, K. (2011): Intuition und fachliches Lernen. Zum Verhältnis von epistemischen
Überzeugungen und Alltagsphantasien. Wiesbaden
Oschatz, K., Gebhard, U. & Mielke R. (2010). Alltagsphantasien und Irritation – Die Ef-
fekte der Berücksichtigung intuitiver Vorstellungen beim Nachdenken über Gentech-
nik. In U. Harms & I. Mackensen-Friedrichs (Hg.), Heterogenität erfassen – indivi-
duell fördern im Biologieuntericht: Lehr- und Lernforschung in der Biologiedidaktik
(Bd.4). Innsbruck 55-70
Oschatz, K., Mielke, R. & Gebhard, U. (2011): Fachliches Lernen mit subjektiv bedeut-
samem implizitem Wissen – Lohnt sich der Aufwand? In: Witte, E. & Doll, J. (Hg.),
Sozialpsychologie, Sozialisation, Schule, 246-254
Pauli, C./Reusser, K. (2000): Zur Rolle der Lehrperson beim kooperativen Lernen.
Schweizerische Zeitschrift für Bildungswissenschaften 22, H. 3, 421-442.
Peukert, H. (2003): Die Logik transformatorischer Bildungsprozesse und die Zukunft
von Bildung. In: Peukert, H./Arens, E./Mittelstraß, J./Ries, M. (Hg): Geistesgegen-
wärtig. Zur Zukunft universitärer Bildung. Luzern.
Pintrich, P. (1999): Motivational Beliefs as Resources for and Constraints on Conceptual
Change. In: Schnotz, W./Vosniadou, S./Carretero, M.: New Perspectives on Concep-
tual Change. Oxford.
Popitz, H. (2000): Wege der Kreativität, 2. Aufl., Tübingen.
Prange, K./Strobel-Eisele, G.: Die Formen pädagogischen Handelns, Stuttgart 2006.
127
Literatur
128
Literatur
129
Literatur
130