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und Krankheit
von Gesundheit
Modelle
Datentypen 1
Alexa Franke
Fachhochschule Ostschweiz FHS St. Gallen, Hochschule für Angewandte Wissenschaften / 152.96.188.38 (2023-09-25 11:27)
Inhaltsverzeichnis
Als ich dieses Buch konzipierte und schrieb, hatte ich den Wunsch, dass es seinen
Weg in die Ausbildung verschiedener Gesundheitsberufe finden und dazu bei-
tragen möge, die Zusammenhänge zwischen den theoretischen Konzepten von
Gesundheit und Krankheit, der gesundheitlichen Situation von Menschen und
der gesundheitlichen Versorgung zu erkennen und zu diskutieren. Und es sollte
helfen, die eigenen Standpunkte, die eigenen Werte in diesem Feld zu reflektieren.
Dass das Buch eine dritte Auflage erfährt, zeigt, dass mein Wunsch in Erfül-
lung gegangen ist – und selbstverständlich freut mich das sehr. In Struktur und
Inhalt entspricht diese Auflage den beiden Vorgängerinnen, doch es erschien mir
wichtig, auf einige neuere Entwicklungen einzugehen.
Die meines Erachtens wichtigste aktuelle Entwicklung besteht darin, dass
die Grenzen zwischen Gesundheit und Krankheit immer mehr verschwimmen.
Zwar hält das biomedizinische Modell noch an der Zweiteilung und der klaren
Differenzierung zwischen diesen beiden «Zuständen» fest, doch paradoxerweise
sind es gerade die Fortschritte der Biomedizin, die die eigenen Grundlagen ins
Wanken bringen. Die Genforschung, die ermöglicht, Jahre, teilweise Jahrzehnte
vor der Manifestation einer Erkrankung deren Prädisposition zu diagnostizieren,
stellt ein Problem dar, das mit dem dichotomen Konzept von Gesundheit und
Krankheit (s. Kap. 6) nicht zu lösen ist.
Die Vormachtstellung, die das dichotome Modell noch vor wenigen Jahren
hatte, gerät auch dadurch ins Wanken, dass salutogenetische Modelle (s. Kap. 9)
zunehmend an Akzeptanz gewinnen. Zwar gab es medizinhistorisch – begin-
nend mit Hippokrates – zahlreiche Ansätze, Gesundheit und Krankheit als
Pole eines Kontinuums zu verstehen, innerhalb dessen man mehr oder weniger
gesund respektive krank sein kann, doch hatten diese in den Sozialsystemen
der industrialisierten Welt keine Chance, versorgungsrelevant zu werden. Erst
Antonovsky gelang mit seinem Konzept der Salutogenese der Durchbruch zur
Anerkennung eines Kontinuumsmodells von Gesundheit und Krankheit – was
vermutlich weniger der Exzellenz seines Konzepts zu verdanken ist als der Tatsa-
che des veränderten Krankheitsspektrums. Denn Aufmerksamkeit erlangte die
Idee des Kontinuums von Gesundheit und Krankheit nicht nur im Rahmen der
spielen. Und hier sehe ich die zweite wichtige Entwicklung: Während sich das
Gesundheitssystem bis vor wenigen Jahren nahezu ausschließlich mit Krank-
heiten befasste, wird plötzlich Gesundheit entdeckt. Und zwar als Ressource, die
zu einer Entlastung der Sozialsysteme führt. In der Logik einer konservativ-libe-
ralen Gesundheitspolitik werden für den Erhalt dieser Ressource die einzelnen
Bürgerinnen und Bürger in die Pflicht genommen. «Gesundheitskompetenz»
heißt die Formel, die jedem einzelnen bessere Handlungs- und Entscheidungs-
möglichkeiten in Bezug auf die eigene Gesundheit ermöglichen und seine «Pati-
entenautonomie und Konsumentensouveränität» (Deutscher Bundestag 2009,
Drucksache 16/12000) sichern soll (s. Kap. 13.3).
Und auch hier kommt es zu einem merkwürdigen Paradox: Denn während
durch internationale sozialepidemiologische Forschung immer mehr Daten
vorliegen, die den Zusammenhang zwischen Gesundheit bzw. Krankheit und
sozialer Lage belegen (s. Kap. 11), lastet die Gesundheitspolitik dem Individuum
die Verantwortung für seinen gesundheitlichen Zustand an und Medizin und
Pharmaindustrie propagieren die individualisierte Medizin. Aus Patienten und
Patientinnen werden Konsumenten, Ärztinnen, Ärzte und Pflegepersonal wer-
den medizinische Leistungserbringer – und gemeinsam befinden sie sich auf
einem Markt als Teilnehmer eines «wirkungsvollen Wettbewerbs» (www.bmg.
bund.de). Dort ist das Gedränge offenbar so groß, dass die Sozialepidemiologen
mit ihrer Botschaft, dieser Markt sei gerade für die Kränksten nicht zugänglich,
nicht durchdringen. Musste man früher darauf bestehen, dass die Versorgungs-
strukturen sich nicht nur mit Krankheiten, sondern auch mit den Bedingungen
von Gesundheit beschäftigen, so muss man inzwischen daran erinnern, dass
solidarische Sozialsysteme für die schwer Kranken gebraucht werden.
Ich habe der Versuchung widerstanden, das Buch zu erweitern, obwohl es mir
erheblich in den Fingern gejuckt hat, ausführlich auf die Ökonomisierung im
Gesundheitswesen einzugehen, die sich mit der Geschwindigkeit einer biblischen
Seuche ausbreitet. Doch ich möchte den Charakter dieses Buchs als Lehrbuch
nicht verändern. Wenn es dazu anregt, sich intensiver mit dem Thema zu
beschäftigen, hat es seinen Zweck erfüllt.
Auch wenn sich an den wesentlichen Modellen von Gesundheit und Krank-
heit in den letzten fünf Jahren wenig Grundsätzliches verändert hat, so gibt es
doch – neben den immer notwendigen Aktualisierungen von Literaturhinwei-
sen – einige Entwicklungen und neue Erkenntnisse, die mitteilenswert sind.
Ich bedanke mich bei Klaus Reinhardt, dem Lektor dieses Buchs, dass er mich
ermuntert hat, diese Neuauflage zu schreiben. Auf einige mir wichtige Punkte
möchte ich besonders hinweisen:
1. Aus den bereits in der Einleitung zur ersten Auflage beschriebenen Gründen
heraus bin ich bei der getrennten Darstellung von Krankheits- und Gesund-
heitsmodellen geblieben. Ich meine allerdings erste Hoffnungsschimmer dafür
zu sehen, dass sich die Ansicht, man könne Gesundheit und Krankheit als
dichotom betrachten, immer weniger aufrechterhalten lässt. Die Verlagerung
des Krankheitsspektrums auf die chronischen Erkrankungen, die Unklar-
heiten in der Abgrenzung zwischen altersbedingten Abbauprozessen und
Krankheiten und auch das nach Einführung der Internationalen Klassifika-
tion der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) veränderte
Verständnis von Behinderungen zeigen immer deutlicher die Willkürlichkeit
einer Grenzziehung zwischen gesund und krank.
2. Auch wenn es in Deutschland immer noch nicht gelungen ist, die Prävention
durch ein entsprechendes Gesetz als vierte Säule der gesundheitlichen Ver-
sorgung zu verankern, so gewinnen salutogene, ressourcenorientierte Ansätze
zunehmend Gehör. Aus diesem Grunde wurde das Kapitel über Resilienz
erweitert.
3. Neu hinzugefügt wurde ein Kapitel über Gesundheits- und Krankheitsverhal-
ten. Wissen über das Verhalten von Menschen in Gesundheit und Krankheit
und die Kenntnis ihrer subjektiven Ansichten darüber, was gesundheitsför-
derlich ist oder was zur Krankheit führt, sind Grundlagen einer demokrati-
schen gesundheitlichen Versorgung, in der Professionelle und Klientinnen
und Klienten im Dialog stehen.
Einleitung
Wenn man einen Zustand mit einem Namen versieht, kann man fälschlicherweise
den Eindruck gewinnen, etwas verstanden zu haben, so dass man aufhört, nachzu-
denken und Fragen zu stellen. (Robert E. Kendell 1978, S. 3)
Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht in der Tageszeitung etwas über Gesundheit
und Krankheit steht. Neben der Aufklärung über häufige und seltene Erkran-
kungen – erstere, damit eine breite Leserschaft sich angesprochen fühlt, letz-
tere, damit Bedürfnisse nach Neugier und Sensation befriedigt werden – und
Gesundheitstipps für das richtige Verhalten in Frühling, Sommer, Herbst und
Winter spielen auch gesundheitspolitische Fragen eine große Rolle. So ist die
«Gesundheitsreform» ein dominantes Politikthema der letzten Jahre geworden.
Aber welche Gesundheit soll eigentlich reformiert werden?
Die Debatte kreist nahezu ausschließlich um ökonomische Fragen. Dabei wird
nur den wenigsten deutlich, dass die Argumentationen für die eine oder andere
Art der Krankenversicherung und Vergütung von Krankenleistungen nicht nur
eine ökonomische Seite haben, sondern dass sie auch geprägt sind von sehr unter-
schiedlichen Wertvorstellungen zur Verursachung von und Verantwortlichkeit
für Krankheit. Die so genannte Gesundheitsdiskussion in Deutschland ist zu
einer Diskussion darüber geworden, wie Gesundheitsleistungen finanziert werden
können und dass die Gesundheitskosten dringend gesenkt werden müssen – aber
wer versteht in dieser Diskussion was unter Gesundheit? Die öffentliche Diskus-
sion findet statt, ohne dass dies geklärt wäre, ohne dass ein Konsens über den
Stellenwert und die Bedeutung von Gesundheit und Krankheit bestünde.
Bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass nahezu unhinterfragt das bio-
medizinische Krankheitsmodell theoretischer Ausgangspunkt der Diskussion
ist. In der Fachliteratur erobert es beinahe wie selbstverständlich immer weitere
Bereiche der Medizin, Psychologie, Psychiatrie, Pflege, Sozialpädagogik, Rehabi-
litation und Sonder- und Heilpädagogik. Die als Revolutionen gepriesenen medi-
zinischen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte wie Neuroimmunologie und
Neuropsychologie, Gentechnologie und Verhaltensgenetik unterstützen das bio-
medizinische Modell, dem zufolge in der Person liegende Defekte und Dysfunk-
tionen die Krankheit bedingen. Soziale und gesellschaftliche Faktoren werden
Äskulap, der griechische Gott der Gesundheit, hatte zwei Töchter: Hygeia und
Panakeia. Für Hygeia war Gesundheit die natürliche Ordnung der Dinge.
Sie lehrte die Griechen, dass sie gesund bleiben konnten, wenn sie sich in
allen Dingen mäßigten und vernünftig verhielten. Die Erinnerung an sie ist
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Lange habe ich darüber nachgedacht, ob ich den Krankheits- und Gesundheits-
modellen je ein eigenes Kapitel widmen oder sie in einem Kapitel zusammen
darstellen sollte. Meiner eigenen Sichtweise hätte das gemeinsame Kapitel mehr
entsprochen, da ich absolut davon überzeugt bin, dass Gesundheit und Krankheit
nicht zwei voneinander abgrenzbare Zustände sind, sondern unauflöslich zusam-
mengehören. Wir sind in jedem Moment unseres Lebens niemals ausschließlich
gesund oder ausschließlich krank. Gesundheit ist für mich ohne Krankheit nicht
denk- und definierbar und umgekehrt. Doch ich befinde mich mit dieser Ansicht
nicht in Einklang mit den dominierenden Modellen, die überwiegend auf Krank-
heit fokussieren, und habe mich daher entschlossen, das Thema konventioneller
in zwei Kapitel zu gliedern.
Da die Mehrzahl der Modelle sich mit Krankheit beschäftigt und nicht mit
Gesundheit, werden im zweiten Themenblock (Kap. 7 und 8) zunächst die
Krankheitsmodelle vorgestellt. Eingegangen wird auf biomedizinische, psycho-
somatische und soziokulturelle Krankheitsmodelle, und es werden die Konse-
quenzen diskutiert, die sich aus diesen Modellen für die Versorgung von und
für die Interaktion mit Patientinnen und Patienten ergeben. Dem vorangestellt
ist eine ausführliche Einführung in die verschiedenen Konzepte von Stress und
Bewältigung, da diese in vielen Konzeptionen über die Entstehung von Krank-
heiten eine Rolle spielen.
Der dritte Themenbereich (Kap. 9) befasst sich mit Gesundheitstheorien, vor
allem mit dem Modell der Salutogenese und den Konsequenzen eines Paradigma
wechsels von Pathogenese zu Salutogenese. Auch der Gesundheitsbegriff der
WHO und die Ottawa-Charta für Gesundheitsförderung werden in diesem Teil
vorgestellt und diskutiert.
Der vierte Themenblock (Kap. 10 bis 12) beschäftigt sich mit geschlechtsspe-
zifischen und sozialepidemiologischen Modellen sowie mit subjektiven Theorien
von Gesundheit und Krankheit. Gerne hätte ich in diesem letzten Kapitel auch
subjektive Theorien von Behinderung vorgestellt – doch abgesehen von einigen
unsystematischen eigenen kleinen Interviewstudien konnte ich keine Literatur zu
diesem Thema finden.
Ich wollte ein Buch schreiben, das über den Tellerrand meiner eigenen Diszi-
plin, der klinischen und Gesundheits-Psychologie, hinausgeht. Seit ich vor mehr
als 20 Jahren die Chance hatte, gemeinsam mit 20 Kolleginnen und Kollegen
aus verschiedenen Gesundheitsberufen und aus acht verschiedenen Ländern an
einem zweimonatigen Lehrgang teilzunehmen, weiß ich, dass wir uns dem Thema
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Das Schreiben des Buchs war mehr positive Herausforderung als Bürde. Den-
noch war es eine Anstrengung. Diese zu schultern haben mir vor allem Ariane
Raichle geholfen, die unermüdlich Literatur herangeschafft hat, und Maibritt
Witte, die Texte kritisch gelesen und mir versichert hat, dass ihr das Spaß
gemacht hat. Dafür ein herzliches Dankeschön. Mein ganz besonderer Dank
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aber gilt meinem Mann, Klaus-Peter Knabe, der die Abbildungen anfertigte und
so dazu beitrug, dass mein Text sich auch visuell veranlagten Menschen leichter
erschließt.
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Fühlen Sie sich gerade gesund oder krank? Vermutlich können Sie diese Frage
sehr spontan beantworten.
Sind Sie gerade gesund oder krank? Diese Frage ist wahrscheinlich schon weni-
ger leicht zu beantworten. Wer entscheidet darüber, ob Sie gesund oder krank
sind? Würde Ihr bester Freund zu dem gleichen Urteil kommen wie Sie selbst?
Oder Ihre Hausärztin? Käme ein nach Ihrem Gesundheitszustand befragter
Augenarzt zu einem anderen Ergebnis als Ihre Orthopädin? Und könnte irgend-
jemand – zum Beispiel eine verflossene Partnerin – meinen, Sie seien ja sowieso
krank?
Offensichtlich ist die Unterscheidung zwischen Gesundheit und Krankheit
nicht so einfach, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Damit Sie sich in die
Thematik eindenken können, lesen Sie bitte die folgenden vier Geschichten und
beantworten dann jeweils die Fragen:
zweiten Operation noch sechs Wochen lang einen Gips tragen. Nun ist der
Arm wieder frei, Herr Schneider muss aber viermal wöchentlich zur Kran-
kengymnastik, um die volle Bewegungsfreiheit wieder erreichen zu können.
Vom Arzt ist Herr Schneider weiterhin krankgeschrieben, da er sich noch
in ambulanter Rehabilitation befindet. Auf dem Weg zur «Reha» ist Herr
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Herr Wolfram Gräf, 54 Jahre alt, ist Frührentner. Mit 14 Jahren hatte er eine
Lehre als Schlosser bei der Ruhrkohle AG begonnen und von da an bis zu sei-
nem vierundvierzigsten Lebensjahr ununterbrochen als Schlosser gearbeitet.
In den letzten Jahren war er zunehmend weniger in der Lage, schwere Lasten
zu heben, und er hatte häufig Schmerzen im rechten Arm; der Arzt diagnos-
Übergewicht bedeutet. Herr Gräf sieht ein, dass er zu dick geworden ist, ihn
stört auch, dass er sich immer schlechter bewegen kann und kurzatmig gewor-
den ist. Andererseits isst er gern, trinkt gern sein Bierchen mit den Nachbarn
und bewegt sich zu wenig: Spazierengehen mit der Frau findet er langweilig,
im Schwimmbad möchte er seinen Bauch nicht zeigen, zum Radfahren und
Joggen fehlt ihm die Puste. Sein Hausarzt, zu dem er regelmäßig geht, mahnt
ihn immer wieder, abzunehmen – muss aber andererseits zugeben, dass der
Blutdruck im Normbereich liegt, die Leberwerte und auch die Blutstoffwerte
nur sehr leicht erhöht sind und sich die Wirbelsäulenbeschwerden in den letz-
ten Jahren nicht wesentlich verstärkt haben.
det er nicht so schlimm – den Schaden an der Decke des unter ihm wohnenden
Mieters hat seine Versicherung beide Male gezahlt. Warum die Nachbarn jetzt
in der vorigen Woche eine Tussi vom Gesundheitsamt vorbei geschickt haben,
ist ihm völlig unverständlich.
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1.1
Die Problematik der Abgrenzungskriterien
Der Psychoanalytiker Groddeck schrieb 1910: «[...] Wer ist gesund, wer ist krank?
Die Narren nur vermögen es zu unterscheiden.» Sie werden an den obigen Bei-
spielen gemerkt haben, dass für die Beurteilung einer Person als gesund oder
krank sehr unterschiedliche Kriterien herangezogen werden können, und dass
die Entscheidung im Einzelfall keineswegs eindeutig ist. Doch Groddeck machte
es sich sicher zu einfach. Im Folgenden soll daher den Beurteilungskriterien von
Gesundheit und Krankheit nachgespürt und damit verdeutlicht werden, warum
die Unterscheidung zwischen Gesundheit und Krankheit so schwierig ist.
1.1.1
Fehlen eindeutiger Definitionen
Der wichtigste Grund für die fehlende Unterscheidungsmöglichkeit zwischen
Gesundheit und Krankheit liegt sicherlich darin, dass es keine eindeutigen Defi-
nitionen dieser beiden «Zustände» gibt.
Einzelne Krankheitsbilder werden in Klassifikationssystemen beschrieben
und definiert. Das umfassendste dieser Systeme ist die ICD, die International
Classification of Diseases, die von Expertengremien der Weltgesundheitsorga-
nisation WHO ständig überarbeitet wird – aktuell liegt sie in der 10. Version
vor (WHO 1993; vgl. Kap. 3). Klassifikationssysteme geben aber keine Definition
von Krankheit «an sich». Es gibt auch keine juristisch einheitliche Definition von
Krankheit; je nach Gesetzestext ist Krankheit anders definiert, wobei der Krank-
heitsbegriff wesentlich durch die laufende Rechtsprechung bestimmt wird. Im
Sozialgesetzbuch V (SGB V), das die Krankenversicherung regelt, ist Krankheit
ein regelwidriger Körper- oder Geisteszustand (vgl. Kap. 3).
Hinsichtlich der Gesundheit ist die Situation keineswegs besser: Gesundheits-
definitionen gibt es in großer Zahl, aber eine allgemein akzeptierte Definition
von Gesundheit gibt es nicht (vgl. Kap. 2) und damit auch kein eindeutiges Krite-
rium, aufgrund dessen man sagen kann, dass jemand gesund ist.
1.1.2
Technische Möglichkeiten der Diagnostik und Therapie
Die zweite Ebene des Problems besteht darin, dass die Möglichkeit der Diagnos-
tik einer Erkrankung von den technischen Möglichkeiten abhängt. Aids zum
Beispiel gab es schon, bevor man den HI-Virus entdeckt hatte. Bei Menschen,
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die vor der Entdeckung des Virus infiziert waren, ließ sich die Erkrankung
nicht diagnostizieren – sie waren «ohne Befund». Andere Erkrankungen sind
erst durch technische Innovationen wie Kernspintomographie oder Positronen-
Emissionstomographie zuverlässig zu diagnostizieren. Die technischen Mög-
lichkeiten der Diagnostik beeinflussen somit, ob jemand als gesund oder krank
diagnostiziert wird. Je elaborierter die technischen Möglichkeiten der Diagnostik
werden, umso mehr erweitert sich das Spektrum potenzieller Krankheiten.
Daneben kann es auch durch die unterschiedliche Anwendung verschiedener
Technologien zu unterschiedlichen Beurteilungen kommen. Anders formuliert:
Je intensiver jemand untersucht wird, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit,
dass Krankheitssymptome gefunden werden. Ist also der gesund, der nicht lange
genug untersucht worden ist?
Schließlich führen die Weiterentwicklungen in der Therapie zur Anerkennung
neuer Krankheitsbilder: Die plastische Chirurgie ist heute in der Lage, durch
Unfälle oder Verbrennungen entstandene Entstellungen oder Verstümmelungen
oder auch Anomalien wie die Lippen-Kiefer-Gaumenspalte zu operieren. Diese
Operationen werden versicherungsrechtlich als krankheitsbedingt anerkannt
und dementsprechend auch von der Krankenversicherung bezahlt.
1.1.3
Diskrepanz zwischen Befund und Befinden
Der durch Fachleute im Gesundheitswesen objektiv erhobene Befund – z. B.
ein medizinischer, psychologischer oder sprachtherapeutischer Befund – muss
keineswegs mit dem Befinden der Betroffenen, mit ihrem subjektiven Erleben
übereinstimmen. Es gibt Menschen, bei denen es trotz intensiver fachlicher Dia-
gnostik keinen oder nur einen Minimalbefund gibt, die sich jedoch sehr krank
oder eingeschränkt fühlen. Und auf der anderen Seite zeigen Untersuchungen an
repräsentativen, unausgelesenen Stichproben immer wieder, dass viele Menschen
ernsthafte gesundheitliche Beeinträchtigungen haben, von denen sie aber nichts
wissen und die sie in ihrem Gesundheitserleben nicht beeinträchtigen (Myrtek
1998). Manche Erkrankungen, Krebserkrankungen zum Beispiel, werden in den
Frühstadien subjektiv nicht wahrgenommen und gehen nicht mit einem schlech-
ten Befinden einher – trotzdem weist der Befund eindeutig eine Krankheit auf.
Weitere Beispiele sind Bluthochdruck und Diabetes: Beides sind Erkrankungen,
die aus medizinischer Sicht ein hohes gesundheitliches Risiko bergen, von den
Betroffenen hingegen häufig kaum wahrgenommen und nicht als Beeinträchti-
gung des Befindens erlebt werden.
Im Bereich der psychosomatischen Erkrankungen hingegen sind die Verhält-
nisse oft umgekehrt: Psychosomatische Patientinnen und Patienten zeichnen sich
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häufig dadurch aus, dass sie sich als sehr krank erleben bei fehlendem oder nur
minimalem körperlichen Befund. Gesund oder krank?
1.1.4
Normabweichungen ohne Krankheitswert
Diagnosen liegen Normwerte zugrunde, in aller Regel statistische Normen,
die sich am durchschnittlichen Vorkommen eines Merkmals in einer Bevölke-
rungsgruppe orientieren. Abweichende Werte müssen aber keineswegs immer
Krankheitswert haben. Ein prominentes Beispiel ist die Adipositas, das massive
Übergewicht. Zwar ist der Grenzwert für das überzählige Fett definiert – aber
die Fachwelt ist sich keineswegs darüber einig, ob das Überschreiten dieses
Grenzwerts Krankheitswert hat, ob somit die Adipositas selbst eine Krankheit
ist. Auch gibt es Menschen, die pathologisch abweichende Werte in verschiedenen
Funktionsbereichen oder Systemen haben, welche sich aber nicht negativ auswir-
ken – Menschen, deren Herz auf der rechten Seite liegt, Menschen mit nur einer
Niere oder einem pathologisch niedrigen Wert an Leukozyten.
Darüber hinaus gibt es auch Abweichungen, die große Gruppen von Men-
schen betreffen und die für sie sogar einen gesundheitlichen Vorteil bedeuten.
So weisen etwa 40 % der Afrikaner eine Anomalie der roten Blutkörperchen auf,
die sogenannte Sichelzellanämie. Diese Erkrankung schützt jedoch, wenn sie
heterozygot vorliegt, vor Malaria.
1.1.5
Kulturgebundenheit der Beurteilung
Ein anderes Kriterium ist die Kulturgebundenheit der Beurteilung. Der ernied-
rigte Blutdruck, die Hypotonie zum Beispiel, wird in Deutschland als Krankheit
gewertet – in anderen Ländern wird der niedrige Blutdruck zwar als Normab-
weichung anerkannt, es wird ihm aber kein Krankheitswert zugesprochen; im
englischsprachigen Bereich wird der niedrige Blutdruck als «german disease»
bezeichnet. Besonders deutlich zeigt sich die Kulturgebundenheit im Bereich
der psychischen Erkrankungen, da die Abweichungen sich hier vor allem auf
soziale, nicht auf somatische Normen beziehen und sie im Zusammenhang mit
spezifischen Umgebungsbedingungen auftreten. So ist in China die Krankheit
«Frigophobie» anerkannt und verbreitet: eine ausgeprägte Angst vor Kälte, die
alle Kriterien einer Phobie erfüllt, also einer starken, auf ein Objekt bezogenen
Angst, und die es den Betroffenen unmöglich macht, ihre normalen Funktionen
aufrecht zu erhalten. In Deutschland dürfte es schwer fallen, wegen einer ver-
gleichbaren Angst krankgeschrieben zu werden.
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1.1.6
Funktionalität der Störungen
Die Funktionalität der Symptome kann dazu führen, dass gleiche Störungen bei
der einen Person eine Krankheit darstellen, während sie bei einer anderen keine
Auswirkungen haben. Eine leichte Wirbelsäulenverkrümmung kann bei einer
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Krankenschwester, die viel heben und tragen muss, zu einer massiven Beein-
trächtigung und zu starken chronischen Schmerzen führen, wohingegen eine
Lehrerin mit einer vergleichbaren Wirbelsäulendeformation ohne Probleme lebt.
Die große Gruppe der Berufskrankheiten ist letztendlich auf dem Hintergrund
dieses Aspekts der Funktionalität entstanden: Ein Bäcker, der durch das jahre-
lange Einatmen feinen Mehlstaubs eine Allergie mit massiven Atembeschwerden
entwickelt hat, wird aufgrund dieser Erkrankung nicht mehr in der Lage sein,
seinen Beruf auszuüben. Macht er eine Umschulung als Schuster, so bleibt die
Mehlallergie zwar bestehen, aber die Krankheit hat ihre Funktonalität verloren
und wird nicht mehr als Berufskrankheit anerkannt. Auch den jetzigen Schuster
wird sie nicht mehr stören, weil er mit Mehlstaub nichts mehr zu tun hat.
Berufskrankheiten sind nach SGB VII § 9 «Krankheiten, die die Bundes
regierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als
Berufskrankheiten bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versi-
cherungsschutz […] begründenden Tätigkeit erleiden. Die Bundesregierung
wird ermächtigt, in der Rechtsverordnung solche Krankheiten als Berufs-
krankheiten zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen
Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen
bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich
höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind; sie kann dabei
bestimmen, dass die Krankheiten nur dann Berufskrankheiten sind, wenn
sie durch Tätigkeiten in bestimmten Gefährdungsbereichen verursacht wor-
den sind oder wenn sie zur Unterlassung aller Tätigkeiten geführt haben,
die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der
Krankheit ursächlich waren oder sein können.»
1.1.7
Interessengeleitete Definitionsmacht
Aus verschiedenen Gründen gibt es zahlreiche Gruppierungen, die daran inte-
ressiert sind, möglichst viele Zustände des menschlichen Lebens als Krankheiten
oder zumindest krankheitsriskante Phasen darzustellen. In den letzten Jahren
Das gute Verdienen an der Krankheit wurde auch literarisch verarbeitet – hier
zwei besonders zu empfehlende Beispiele:
Der französische Schriftsteller Jules Romains setzte in seinem Dreiakter «Knock
oder der Triumph der Medizin» dem findigen Dorfarzt Knock ein Denkmal,
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krebs geschützt zu sein, sollen sie sich gegen Papillomviren (HPV) impfen lassen.
Die Ständige Impfkommission am Robert-Koch-Institut empfiehlt die Impfung
seit 2007. Im Jahr zuvor waren zwei Impfstoffe zugelassen worden, obwohl noch
keine einzige Studie zum klinischen Nutzen abgeschlossen war. Inzwischen liegt
ein Bericht vor, dessen Autoren als belegt ansehen, dass die HPV-Impfung vor
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viele andere mehr. Die neue Gesundheitsbewegung, die sich an Wellness, Life-
style und Ästhetik orientiert, ergreift alle Bereiche des menschlichen Lebens, und
letztlich gibt es nichts, was sich nicht unter dem Dach eines so weit gefassten
Verständnisses von Gesundheit verkaufen lässt.
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Bitte überlegen Sie, welche der obigen sieben Aspekte bei den eingangs dar-
gestellten Fallbeispielen eine Rolle spielen.
1.2
Die Unterscheidung als Irrtum
Vielleicht beruht die Schwierigkeit der Unterscheidungsmöglichkeit aber auch
darauf, dass es de facto gar nicht möglich ist, eindeutig zwischen zwei Zuständen
«gesund» und «krank» zu unterscheiden? Die Ärzte des Altertums, insbesondere
die Alexandriner Herophilos und Erasistratos (um 300 v. Chr.) und der aus Per-
gamon stammende, aber in Rom arbeitende große Arzt Galen (129 – 199 n. Chr.),
kannten neben Gesundheit und Krankheit den neutralen Zustand dazwischen.
Galen nannte ihn «ne-utrum». Gelegentliche Kopfschmerzen oder Schlaflosig-
keit, Durchfall oder leichtes Fieber gehörten in die Kategorie des ne-utrum: nicht
ganz gesund, nicht wirklich krank, sondern Phänomene, die zum Auf und Ab des
menschlichen Lebens gehören.
Bis ins 19. Jahrhundert hinein wurden Abweichungen leichteren Ausmaßes
durchaus als Variante von Gesundheit akzeptiert. So unterscheidet etwa Hufe-
land (1795) die «absolute» und «relative» Gesundheit: Erstere «[…] heisst ein
durchaus vollkommener regelmässiger und harmonischer Zustand der Organe,
Kräfte und Functionen des menschlichen Wesens, – gleichsam das Ideal der
Gesundheit.» Diesen hält er jedoch für so selten, dass an ihm gemessen «[…] jetzt
der allergrösste Theil der civilisirten Menschen» als krank bezeichnet werden
müsse. Als das, «[…] was wir gewöhnlich Gesundheit nennen […]» bezeichnet er
die relative Gesundheit, in der der Zustand der Organe, Kräfte oder Funktionen
«[…] zwar etwas vom naturgemässen abweichen […]» könne, aber nicht so, dass
wirkliche Störungen zu bemerken seien (Hufeland 1795; alle Zitate in Rothschuh
1975, S. 19).
Medizinhistorisch wurde die strikte Trennung zwischen krank und gesund
erst durch die Sozialgesetzgebung westlicher Staaten notwendig – gerade die
Bismarckschen Sozialgesetze leisteten ihr entscheidenden Vorschub (Bergdolt
1999). Denn mit der Einführung der Krankenversicherung wurde es notwendig,
Kriterien zu erstellen, die festlegten, für welche Krankheitszustände Versiche-
rungsleistungen in Anspruch zu nehmen waren. Berufsständische Interessen
unterstützten diese Entwicklung massiv. Die Ärzteschaft war immer eine der am
besten organisierten Berufsgruppen, der es gelang, ihre Interessen durchzusetzen.
Mit dem Anspruch, die alleinige Zuständigkeit für Krankheit zu haben, erhielt
der ärztliche Stand erhebliche Definitionsmacht und weitete seinen Zuständig-
keitsbereich in dem Maße aus, in dem Abweichungszustände als Krankheiten
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deklariert wurden.
Heute wird die strikte Trennung von Gesundheit und Krankheit zunehmend
in Frage gestellt: In die in neuerer Zeit entwickelten Gesundheits- und Krank-
heitstheorien gehen «gesund» und «krank» nicht mehr als dichotome Kategorien
ein, sondern als Pole eines Kontinuums, auf dem es unterschiedliche Ausmaße
von Gesundheit und Krankheit gibt (vgl. Kap. 6).
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Gesundheit ist einerseits ein theoretisches Konstrukt von Normen und Abwei-
chungen. Zum anderen ist sie ein praktisches, am eigenen Leibe erlebtes Phänomen.
(Milz 2004, S. 88)
Bevor Sie sich in diesem Kapitel theoretisch mit der Gesundheit befassen,
nehmen Sie ein großes Blatt und zeichnen Ihre Gesundheitslinie: Stellen Sie
in einer Linie bzw. Kurve dar, wie sich Ihre Gesundheit im Verlauf Ihres
Lebens verändert hat.
2.1
Definitionen von Gesundheit
«Hauptsache gesund» sagen schwangere Frauen, wenn sie gefragt werden, ob ihr
Kind ein Mädchen oder ein Junge würde. «Hauptsache gesund» sagen Rentner,
die sich auf der Parkbank nach einem längeren Gespräch verabschieden. Dass
etwas «für die Gesundheit» ist, reicht häufig als letztes Argument aus: Im Namen
der Gesundheit essen Kinder Spinat, joggen Manager vor Bürobeginn durch den
Park, vergrößern Pharmakonzerne ihren Umsatz und verübten Angehörige von
«Gesundheitsberufen» im Unrechtsstaat des Dritten Reichs die größten Verbrechen.
Die Frage nach Wesen und Bedeutung der Gesundheit beschäftigt die Men-
schen seit Jahrtausenden, und alle «klassischen» wissenschaftlichen Disziplinen
wie Philosophie, Medizin, Jura, Theologie, Geschichtswissenschaft, Psychologie
und Soziologie haben sich mit ihr auseinandergesetzt. Auch Schriftsteller und
Dichter haben sich zu dem Thema geäußert. Und last but not least haben auch die
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Denn Krankheit und Gesundheit sind nicht Gegensätze, die sich bekämpfen, sie
sind gleichberechtigte und notwendige Lebensäußerungen, etwa so wie Schlafen
und Wachen, Nacht und Tag, Ruhe und Arbeit… Wer ist gesund, wer ist krank?
Die Narren nur vermögen es zu unterscheiden. (Georg Groddeck 1910)
Health is a state of complete physical, mental, and social well-being and not
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merely the absence of disease or infirmity. (Gesundheit ist ein Zustand des
vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht
nur das Freisein von Krankheit und Gebrechen.) (Weltgesundheitsorganisa-
tion WHO 1946)
Bei guter Gesundheit sein heißt: Krankwerden können und noch davon gene-
sen; es ist ein biologischer Luxus. (Georges Canguilhem 1950)
Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewänne und säße in
deren Besitz mit einem Magenkrebs, Sodbrennen und Prostataschwellung!
(John Steinbeck 1953)
Gesundheit ist überhaupt nicht nur ein medizinischer, sondern überwiegend
ein gesellschaftlicher Begriff, Gesundheit wiederherstellen heißt in Wahrheit:
Den Kranken zu jener Art von Gesundheit bringen, die in der jeweiligen
Gesellschaft die jeweils anerkannte ist, ja in der Gesellschaft selbst erst gebil-
det wurde. (Ernst Bloch 1955)
Gesundheit im positiven Sinn besteht in der Fähigkeit des Organismus, ein
Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, das ihm erlaubt, mehr oder weniger frei
von starkem Schmerz, Unbehagen, Handlungsunfähigkeit oder -einschrän-
kung oder sozialer Leistungsunfähigkeit zu leben. (George Engel 1960)
Gesundheit kann definiert werden als der Zustand optimaler Leistungsfähig-
keit eines Individuums für die wirksame Erfüllung der Rollen und Aufgaben,
für die es sozialisiert worden ist. (Talcott Parsons 1967)
Gesundheit, latein. sanitas, der Zustand, in dem sich Lebewesen befinden,
wenn all ihre Organe ungestört tätig sind und harmonisch zur Erhaltung ihres
ganzen Wesens zusammenwirken sowie ihre Fortpflanzung gewährleisten (im
Gegensatz zu Krankheit). (Brockhaus 1969)
Gesundheit ist die Möglichkeit, die physischen und psychischen Anlagen voll
auszuschöpfen, d. h. die Fähigkeit, den eigenen Körper optimal zu gebrauchen.
(Giovanni Jervis 1978)
Sie (die Gesundheit) ist die Rhythmik des Lebens, ein ständiger Vorgang, in dem
sich immer wieder Gleichgewicht stabilisiert. (Hans-Georg Gadamer 1993)
Gesundheit ist das Stadium des Gleichgewichts von Risikofaktoren und
Schutzfaktoren, das eintritt, wenn einem Menschen eine Bewältigung sowohl
der inneren (körperlichen und psychischen) als auch äußeren (sozialen und
materiellen) Anforderungen gelingt. Gesundheit ist ein Stadium, das einem
Menschen Wohlbefinden und Lebensfreude vermittelt. (Klaus Hurrelmann
2006)
Das «normale» (bzw. nicht «krankhafte») subjektive Befinden, Aussehen und
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Verhalten sowie das Fehlen von der Norm abweichender ärztlicher Befunde.
(Brockhaus 2006)
2.2
Dimensionen der Gesundheit
Es geht im Folgenden nicht darum, wie falsch oder richtig eine der hier zitierten
oder sonst irgendeine Definition von Gesundheit ist, sondern um das Spektrum
der Dimensionen, die mit dem Begriff Gesundheit verbunden sind. Ich orientiere
mich dabei vor allem an einem eigenen Einteilungsversuch (Franke 1990, 1993).
Naturgemäß sind die beschriebenen Dimensionen nicht unabhängig voneinan-
der, was zu einigen Überpointierungen und Verzerrungen führt. Ich halte dies
jedoch für gerechtfertigt, da anders eine Annäherung an das komplexe Phäno-
men, das wir «Gesundheit» nennen, nicht möglich ist.
2.2.1
Gesundheit als Störungsfreiheit
Gesundheit als Störungsfreiheit bedeutet, dass gesund ist, wer nicht krank ist. In
den vorangegangenen Definitionen etwa in dem von Johann Heinrich Zedler in
den Jahren 1732 bis 1754 herausgegebenen Universallexikon:
[…] Zustand des menschlichen Leibes, in welchem derselbe an allen seinen Theilen
unverletzt seine natürlichen Verrichtungen ungehindert ausüben kann.
Gesundheit als Freisein von Störungen gehört nicht nur zu den ältesten Vorstel-
lungen, sondern kennzeichnet das Verständnis des westlich-industriellen Medi-
zinsystems und der westlichen Medizinwissenschaft. Im allgemeinen Sprachge-
brauch wird diese Definition als Negativdefinition bezeichnet, weil sie Gesundheit
über die Abwesenheit von Krankheit definiert.
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Ich teile die Ängste und den Ärger dieser Autoren hinsichtlich der Geschäfte-
macherei mit der Gesundheit. Aber ich bezweifle, dass eine negative Definition
von Gesundheit das Heilmittel gegen die «Gesundheitsfalle» (Dörner 2003) und
«Krankheitserfinder» (Blech 2003) ist. Denn auch eine Gesundheitsdefinition,
die Gesundheit als Abwesenheit von Krankheit definiert, steht vor dem Problem
der Abgrenzung von Gesundheit und Krankheit (vgl. Kap. 1). Die Diskrepanz
zwischen Befund und Befinden, die Abhängigkeit der Diagnose von technischen
Möglichkeiten und medizinischer Sorgfalt bleiben auch bei einer negativen
Definition von Gesundheit bestehen. Unter wissenschaftstheoretischen Gesichts-
punkten bedeutet die Annahme, gesund sei, wer keine Störung habe, dass
Gesundheit und Krankheit zwei klar unterscheidbare, sich ausschließende Kate-
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gorien sind, dass jemand also eindeutig entweder gesund oder krank ist. Dies
ist jedoch keinesfalls entschieden – und wird angesichts der Entwicklungen der
Genforschung immer unklarer. Ab wann ist jemand, bei dem die genetische Prä-
disposition für das Auftreten einer Altersdemenz diagnostiziert wurde, krank?
Ist er noch gesund? Und wenn ja: Wie lange noch? Meines Erachtens bedeutet die
Negativdefinition eher eine Engführung, die zahlreiche Probleme mit sich bringt
und nur scheinbar Sicherheit vermittelt.
2.2.2
Gesundheit als Wohlbefinden
Während sich die «Gesundheit als Störungsfreiheit» weitgehend über von außen
gesetzte Normen definiert und sich bei der Bewertung entscheidend auf Exper-
tenbeurteilung stützt, hebt «Gesundheit als Wohlbefinden» auf die subjektive
Ebene der Gesundheit, das Sich-Befinden des einzelnen Menschen ab.
Kein zweiter Terminus hat in der fachlichen Diskussion so viel Emotionali-
tät und Polemik ausgelöst wie derjenige des Wohlbefindens. Offiziell wurde er
erstmalig 1946 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in die Debatte ein-
gebracht. In ihrer Gründungserklärung formulierte sie die berühmt gewordene
Definition:
Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen
Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit und Gebrechen.
Die Definition der WHO ist seither immer wieder heftig angegriffen worden –
nichtsdestotrotz kann sie für sich in Anspruch nehmen, diejenige zu sein, auf
die sich weltweit die größte Expertengruppe hat jemals verständigen und einigen
können.
Gesundheit geht im Verständnis dieser Definition über das Freisein von kör-
perlichen und psychischen Erkrankungen und Beeinträchtigungen hinaus. Sie
ist mehr als das Schweigen der Organe, sie ist Wohlbefinden. Was dieses Wohl-
befinden ausmacht, wird nicht weiter ausgeführt – vielleicht ein wichtiger Grund
für die heftige Ablehnung, die diese Definition in weiten Kreisen der Medizin
erfuhr. Wohlbefinden als Kriterium von Gesundheit weckt offensichtlich Ängste,
dass diejenigen, denen es wohl geht, das Leben als bloßes Belustigungsunterneh-
men verstehen, nichts mehr leisten und sich ausschließlich darauf konzentrieren,
ihren persönlichen Spaß zu haben. Hans Schaefer, Physiologe und Pionier der
Sozialmedizin in Deutschland, einer der bekanntesten Medizinautoren mit einer
ungebrochenen Karriere von 1931 bis zu und nach seiner Emeritierung, drückt
diese Befürchtungen folgendermaßen aus:
Wir wollen uns zum Begriff des «vollkommenen Wohlbefindens» zurückwenden. Er
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ist als Forderung nicht nur utopisch. Es ist kennzeichnend für unsere Generation,
dass seine faktische Unhaltbarkeit in der Politik niemals betont worden ist.
Jedes Lebewesen muss seine Existenz in einer Welt sichern, die zahllose Gefahren für
diese Existenz birgt. Die Beschaffung von Nahrung und die Sicherung einer Umwelt,
welche vor den Wechselfällen der Natur schützt, sind an Leistungen geknüpft, die
nur unter Aufwendung von Mühe erbracht werden können. […] In der Tatenlosigkeit
degenerieren Leib und Geist. Wer sich also Anstrengungen zu entziehen sucht, der
entzieht sich selbst damit die Garantie, der Mechanismen habhaft zu sein, mit denen
Existenz zu sichern ist. [...]
Wohlbefinden entartet dann in einer zweiten Entwicklungsphase zur Hemmungslo-
sigkeit des Genießens, d. h. zu Überernährung, Konsum von Genussgiften, insbeson-
dere von Zigaretten und Alkohol, und damit zu einer direkten Gesundheitsgefahr. Die
Adaptation an solches Wohlbefinden lässt also das, was uns krank macht, als eine
die Gesundheit im Sinne der WHO garantierende Forderung erscheinen. (Schaefer
1980, S. 86)
Was aber ist Wohlbefinden? Suchen Sie Beispiele für körperliches, geistiges
und soziales Wohlbefinden.
Welches sind Ihre eigenen Kriterien für Wohlbefinden?
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Eine besonders schöne Definition des Wohlbefindens als Kriterium für Gesund-
heit stammt von Hans-Georg Gadamer in seinen Betrachtungen «Über die Ver-
borgenheit der Gesundheit»:
Es liegt ganz unzweifelhaft in der Lebendigkeit unserer Natur, dass die Bewusstheit
sich von sich selbst zurückhält, so dass Gesundheit sich verbirgt. Trotz aller Verbor-
genheit kommt sie aber in einer Art Wohlgefühl zutage, und mehr noch darin, dass wir
vor lauter Wohlgefühl unternehmungsfreudig, erkenntnisoffen und selbstvergessen
sind und selbst Strapazen und Anstrengungen kaum spüren – das ist Gesundheit. [...]
Sie besteht nicht darin, dass man sich in den eigenen schwankenden Befindlichkeiten
immer mehr um sich sorgt oder gar Unlustpillen schluckt. (1993, S. 143/144)
2.2.3
Gesundheit als Leistungsfähigkeit und Rollenerfüllung
Während sich Störungsfreiheit und Wohlbefinden auf Zustände, Prozesse und
das Erleben von Körper und Psyche beziehen, kennzeichnen die Dimensionen
der Leistungsfähigkeit und Rollenerfüllung eher funktionale Aspekte. Lei-
stungsfähigkeit und Rollenerfüllung bemessen sich an funktionalen Normen,
d.h. daran, inwieweit jemand in der Lage ist, von ihm erwartete und geforderte
Leistungen zu bringen und seinen sozialen Rollen gerecht zu werden. Gesund-
sein in diesem Sinne bedeutet, eigenen und fremden Anforderungen genügen zu
können, stark und kräftig genug zu sein für die anliegenden Aufgaben und seine
beruflichen und familiären Angelegenheiten erledigen zu können. Diese Sicht-
weise entspricht auch den sprachlichen Wurzeln: der Wortstamm: «gesund» hat
im Mittelhochdeutschen mit «geschwind» zu tun, was auch im Sinne von kräftig,
schnell, stark zu verstehen ist.
Die Kategorie der Leistungsfähigkeit weist eindeutig über medizinisches Den-
ken hinaus. Definitionen, die diesen Aspekt betonen, stammen daher nicht aus
der Schulmedizin, sondern aus der Psychologie und Soziologie; auch Politik und
Rechtsprechung haben sich mit der Leistungsfähigkeit auseinandergesetzt.
In psychologischen Gesundheitskonzeptionen ist die Leistungsfähigkeit in der
Regel ein wichtiger Faktor neben anderen – wobei er uns hier meistens im Begriff
der «Kompetenz» begegnet. Diese Kompetenz umfasst aus psychologischer Sicht
nicht nur den Bereich von Arbeits- und Erwerbstätigkeit, sondern nahezu alle
Sigmund Freud soll in einem Brief an einen Freund Gesundheit als die
Fähigkeit definiert haben, lieben und arbeiten zu können.
Wie stehen Sie zu dieser Fähigkeitsdefinition?
Der nicht kranke Mensch ist in unserem Sinne noch nicht gesund. Gesund ist der
Mensch, der, soweit erb- und rassebiologisch überhaupt möglich, im Vollbesitz sei-
ner Gesundheit und Leistungsfähigkeit ist, und sich dieses Besitzes bis ins hohe Alter
erfreuen kann. Ein solcher Mensch, ein solch gesundes Volk, wird nicht Almosen-
empfänger sein wollen und können, er wird aus einer Stärke heraus geben anstatt zu
nehmen, sich sein Recht auf Arbeit, Leben und Lebensfreude von keiner Macht dieser
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Erde nehmen lassen, und sein Recht sich und seinen Kindern wahren. (Haubold &
Heller, o. J., S. 424/425)
Ein Teilaspekt der Leistungsfähigkeit ist die Fähigkeit zur Erfüllung der Aufga-
ben und Verpflichtungen, die an soziale Rollen gebunden sind. Dieser Aspekt
wird vor allem in der Soziologie fokussiert, am prägnantesten formuliert vom
Soziologen Talcott Parsons. Seine Definition von 1967 gilt bis heute als der Proto-
typ für das soziologische Verständnis von Gesundheit als Rollenerfüllung:
Gesundheit kann definiert werden als der Zustand optimaler Leistungsfähigkeit
eines Individuums für die wirksame Erfüllung der Rollen und Aufgaben, für die es
sozialisiert worden ist. (Parsons 1967, S. 60)
Gesund ist demnach eine Person, die in der Lage ist, die Aufgaben zu erfüllen, für
die sie erzogen wurde und für die sie in der Gesellschaft gebraucht wird. Gesund-
heit wird somit auf dem Hintergrund der demographischen Charakteristika
einer Person definiert und auf dem Hintergrund der Aufgaben, die ihr aus den
von ihr eingenommenen sozialen Rollen erwachsen. Es gibt nicht «die» Gesund-
heit, sondern eine Person ist in dem Maße gesund, in dem sie ihre Aufgaben als
Hausfrau, Verkäuferin, Bergarbeiter, Fahrstuhlführerin, Vater erfüllt.
Bewertungsgrundlage für die Gesundheit einer Person ist deren Fähigkeit,
ihren Anteil am Gesamt der gesellschaftlichen Aufgaben zu leisten. Im Sinne
einer funktionalen Norm ist Gesundheit die Übereinstimmung mit dem Lei-
stungsstandard der Bezugsgruppe, und Krankheit definiert sich entsprechend
über die Unfähigkeit, den Normwert zu erfüllen.
Der soziologische Aspekt der Rollenerfüllung hat entscheidenden Nieder-
schlag in der Rechtsprechung und im Versicherungswesen gefunden. Rollener-
füllung bzw. das Nichterfüllen der sozialen Rolle als Gabelstaplerfahrer, Lehre-
rin, Betriebsschlosser ist das entscheidende Kriterium zur Leistungsbemessung:
Kann die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten voraussichtlich erhalten, wesent-
lich verbessert oder wiederhergestellt werden, dann hat der-/diejenige Anspruch
auf Leistungen aus der Krankenkasse bzw. auf rehabilitative Leistungen; andern-
falls erhält er/sie Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (SGB V).
Die Ideologie der Rollenerfüllungsgesundheit wurde besonders kritisch von
der Frauengesundheitsforschung untersucht. Gesundheit als optimale Leistungs-
fähigkeit für die Rollen und Aufgaben, für die Frauen sozialisiert werden, bindet
Frauen an überkommene Muster von Weiblichkeit und Mütterlichkeit. Diese
2.2.4
Gesundheit als Gleichgewichtszustand (Homöostase)
Gesundheit als einen Zustand von Ausgeglichenheit, Gleichgewicht, Ausgewo-
genheit zu betrachten, gehört zu den ältesten und dauerhaftesten Sichtweisen und
wohl auch zu denen, die weltweit am meisten vertreten werden. In der westlichen
Welt wurde sie bereits um 500 v. Chr. im antiken Griechenland formuliert. Alk-
maion, ein philosophisch geschulter Arzt, behauptete, die Gesundheit sei die Aus-
gewogenheit elementarer Qualitäten des Körpers: des Feuchten und Trockenen,
Kalten und Warmen, Bitteren und Süßen. Den griechischen Gesundheitsbegriff
prägt die Vorstellung einer leiblich-seelischen Harmonie, wobei körperliche Har-
monie, Gesundheit und Schönheit als Spiegelbild der Vollendung und Ordnung
des Kosmos betrachtet werden. Jeder einzelne Mensch stellt einen Mikrokosmos
dar, der sich im Zentrum eines umfassenden Systems von Beziehungen zum
Makrokosmos, der die Welt darstellt, befindet. Makrokosmos und Mikrokos-
mos werden von ähnlichen Gesetzen der Harmonie und Ordnung beherrscht
– Gesundheit ist Ausdruck dafür, dass sich das Individuum sowohl im Zustand
des inneren Gleichgewichts und der Harmonie als auch im Gleichgewicht mit der
äußeren Welt befindet.
Weiter ausgebaut und auch auf die Binnenstruktur des Mikrokosmos über-
tragen wurde diese allgemeine Idee von Hippokrates (etwa 460 – 377 v. Chr.) in
seiner Theorie der vier Körpersäfte Blut, schwarze Galle, gelbe Galle und Schleim.
Sind diese in einem Menschen angemessen verteilt und in richtiger Portion und
Proportion vorhanden, so ist der Mensch gesund. Fehlerhafte Mischungen dage-
gen bedingen je nach Überwiegen der einzelnen Säfte spezifische körperliche und
psychische Erkrankungen. In Rom wurde die Humoraltheorie des Hippokrates
von Galen (129 – 199 n. Chr.) übernommen und erweitert. Er propagierte ein aus-
geglichenes Sozialleben sowie die Harmonie zwischen den rationalen und den
irrationalen Anteilen der Seele als wesentliche Bedingungen für Gesundheit.
Je nach Zeitalter und Erkenntnisstand waren es unterschiedliche Systeme,
deren Homöostase als Basis der Gesundheit propagiert wurde. Moderne homöo-
statische Modelle betonen vor allem die Ausgeglichenheit zwischen somatischen
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und psychischen Faktoren sowie die zwischen Individuum und Gesellschaft. Ein
sehr bekannt gewordenes Homöostasemodell ist das psychoanalytische Modell
Freuds. Freud verwandte den Begriff des «inneren Gleichgewichts» und sah
dieses als Kennzeichen der seelisch gesunden Persönlichkeit an. Das von ihm
als wichtig erachtete Gleichgewicht bezog sich vor allem auf das spannungsfreie
Zusammenspiel der drei von ihm postulierten Instanzen des psychischen Appa-
rates, nämlich Ich, Es und Über-Ich.
Seit einiger Zeit finden in der westlichen Welt vor allem östliche Gleichgewichts-
theorien wie die des Yin-Yang und Ayurveda viel Zuspruch. Auch aus Südamerika
und Afrika sind Gleichgewichtstheorien bekannt. So beruht zum Beispiel die
Gesundheit eines Menschen für die Akan in Ghana auf dem Prinzip der Harmonie
nach innen und nach außen: Der Mensch besteht für sie aus der dreigeteilten Ein-
heit von sichtbar sterblichem Körper (onipadoa) und der unsichtbar unsterblichen
Dualität von Geist (sunsum) und Seele (okra). Die harmonische Ausgewogenheit
dieser drei gewährt Gesundheit. Die Harmonie nach außen wird anhand der drei
maßgeblichen Beziehungen des Menschen zu der ihn umgebenden Natur, zu sei-
nen Mitmenschen und zu der spirituellen Welt bestimmt.
Gemeinsam ist allen Gleichgewichtstheorien, dass sie eine Person als gesund
betrachten, die sich in einem ausgewogenen Zustand befindet, und die sich nach
jedem Angriff auf das Gleichgewicht wieder in kürzest möglicher Zeit auf dieses
einpendelt. Gesundheit steht somit in einem Begriffsfeld mit Harmonie, Stabili-
tät, Ordnung, Ausgeglichenheit, Ruhe, wohingegen Veränderungen sowohl der
Person als auch der Umwelt als Gefahren für die Gesundheit, als Risikofaktoren
erscheinen. Für die Akan in Ghana bedeutet dies, dass onipadoa zur Erhaltung
von Gesundheit stetig von äußeren und inneren Verunreinigungen gereinigt und
sunsum gestärkt werden muss. Da es in ständigem Kontakt mit anderen mensch-
lichen und übermenschlichen sunsum steht, muss es genug Kraft für die Ausei-
nandersetzung mit stärkeren oder feindseligen sunsum haben. Der Einzelne ist
darauf bedacht, onipadoa und sunsum als Indikatoren für Gesundheit nicht zu
gefährden, da besonders Letzteres dem schädigenden Einfluss von Hexerei und
Magie und der unsichtbaren Macht der Götter und Ahnen ausgesetzt ist.
2.2.5
Gesundheit als Flexibilität (Heterostase)
Eng verwandt mit der Homöostase-Idee und doch ihr genaues Gegenteil ist die
Vorstellung vom gesunden Menschen als demjenigen, der in der Lage ist, den Stö-
rungen, mit denen er konfrontiert ist, aktiv zu begegnen und sie zu überwinden.
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Das aktuell populärste Hetereostasemodell ist das Modell der Salutogenese des
israelischen Medizinsoziologen Aaron Antonovsky (vgl. Kap. 9). Nach Anto-
novsky liegt ein entscheidender Fehler der Homöostasemodelle darin, dass
sie die Gesundheit als den Normal- und Regelfall ansehen und Krankheiten
dementsprechend als Abweichungen vom Regelfall. Antonovsky zufolge sind
jedoch Krankheiten, Leiden und Schmerzen integrale Bestandteile menschlicher
Existenz. Der menschliche Organismus ist einem Dauerbombardement von
Stressoren ausgesetzt, denen gegenüber er sich ständig verteidigen muss. Nicht
die Ausgeglichenheit ist der Regelfall, sondern das ständige Bemühen, sich der
Angreifer zu erwehren, um gesund zu bleiben.
In der Medizin haben Flexibilitätsmodelle immer nur eine untergeordnete
Rolle gespielt. In der Psychologie allerdings sind sie sehr bedeutsam. Becker (1982)
nennt sie «Selbstaktualisierungsmodelle», und er betont damit den dynamischen
Aspekt, der ihnen zu Eigen ist. Offenheit, Spontaneität, Entwicklung und vor
allem Unabhängigkeit sind die Eigenschaften, die der seelisch gesunden Person
im Rahmen dieser Modelle zugeschrieben werden. Für gesunde Menschen ist
[…] vor allem kennzeichnend, dass sie sich frei entwickeln, ihre eigenen Anlagen
und Potentiale auf schöpferischem Weg zur Entfaltung bringen und einen gewissen
Widerstand gegen Entkulturation leisten. Sie orientieren ihr Verhalten nicht an von
außen aufgezwungenen oder kritiklos übernommenen Normen oder Wertvorstel-
lungen, sondern erreichen die Stufe der autonomen Moral und Selbstverantwort-
lichkeit für sich und andere. (Becker 1982, S. 147)
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Es ist sicher kein Zufall, dass auch Philosophen und Künstler, die sich mit der
Frage der Gesundheit auseinandergesetzt haben, den Aspekt der Dynamik, der
Beweglichkeit besonders betonen. Nietzsche erklärte es gar als «Maßstab der
großen Gesundheit» eines Menschen, «wie viel von Krankheiten er auf sich
nehmen und überwinden kann – wie viel er gesund machen kann» (erstmals
1901; 1966, S. 754). Echte Gesundheit ist nach Nietzsche nur möglich, wenn man
Krankheiten geistig überwunden hat:
Das, woran die zarteren Menschen untergehen würden, gehört zu den Stimulans-
Mitteln der großen Gesundheit. (ebd.)
2.2.6
Gesundheit als Anpassung
Anpassen müssen Menschen sich sowohl an ihre äußere, physikalische Umge-
bung als auch an die soziale und gesellschaftliche. Beide Aspekte spielen im Hin-
blick auf die Gesundheit eine Rolle.
Die Fähigkeit der Anpassung an die physikalischen Bedingungen der Umge-
bung wurde am explizitesten vom Mikrobiologen René Dubos (1959, 1965) for-
muliert. Nach Dubos beruht Gesundheit auf der Fähigkeit, sich mit den Bedin-
gungen der Umgebung angemessen auseinanderzusetzen. Der Mensch wird als
Organismus definiert, der die von Außen auf ihn eintreffenden Reize in einer
für ihn spezifischen Weise aufnimmt und verarbeitet. Gesundheit hat damit
eine sehr aktive Komponente, sie wird vom Menschen erarbeitet. Der Mensch
ist keine Körpermaschine, die funktioniert, solange kein Sand ins Getriebe
geworfen wird oder Verschleißerscheinungen auftreten. Es reicht nicht aus, dass
sich der Organismus lediglich den physikalisch-chemischen Bedingungen seiner
Umwelt mit Hilfe passiver Mechanismen anpasst, sondern Gesundheit verlangt
nach der Möglichkeit, den eigenen Bedürfnissen gerecht werden zu können.
Nicht möglichst reibungslose Anpassung an von äußeren Bedingungen diktierte
Notwendigkeiten ist Gesundheit, sondern die Fähigkeit, autonom zu adaptieren,
das heißt sich in seiner Umgebung so einzurichten, dass man eigene Ziele, Wün-
sche und Wertvorstellungen verwirklichen kann. Nach Dubos’ Theorie ist ein
solcher Mensch auch relativ geschützt vor dem Ausbruch von Krankheiten, und
dies selbst dann, wenn er von Krankheitserregern infiziert ist. Gesundheit und
Krankheit sind das Ergebnis einer Wechselwirkung zwischen dem Erreger und
der Reaktion auf ihn – wer infiziert ist, braucht noch lange nicht krank zu wer-
den. Vielmehr ist Infektion ohne Krankheit Dubos zufolge überall in der Natur
eher die Regel als die Ausnahme. Dem Menschen ist es gegeben, sich an nahezu
alle Lebensbedingungen anzupassen – an Wüsten und Hitze ebenso wie an ein
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jedoch davon überzeugt, dass nicht die Infizierung mit dem Bazillus an sich der
entscheidende Faktor für den Ausbruch der Erkrankung war, sondern dass dieser
nur auf dem Hintergrund ungünstiger hygienischer Verhältnisse wirksam werden
könnte. Während Kochs Interesse der Identifizierung weiterer Erreger galt, führte
Pettenkofer experimentelle Untersuchungen von Kanalisation, Wasser, häuslicher
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Hygiene, Abfall usw. durch. Er war überzeugt, dass mangelnde Hygiene, schlechte
Wohnverhältnisse und insbesondere verunreinigtes Trinkwasser die entschei-
denden Verursacher von Seuchen waren, und er entwickelte sich mit dieser Mei-
nung zum Gegenspieler von Koch. Zum Nachweis der Richtigkeit seiner Annah-
men trank er 1892 auf dem Höhepunkt von Choleraepidemien in Hamburg und
Paris eine ganze Kultur von Cholerabazillen – und blieb gesund. Die Themen sind
heute ausgetauscht, die Diskussionen aber sind die gleichen geblieben.
Ein zweiter Aspekt, der unter der Überschrift «Gesundheit als Anpassung»
diskutiert wird, betrifft die Frage der sozialen Anpassung, die Frage, inwieweit
jemand sich dem, was gesellschaftlich als gesund definiert wird, anzupassen
bereit ist. Naturgemäß spielt dieser Aspekt der sozialen Anpassung vor allem
in Diskussionen um die psychische Gesundheit eine Rolle, wobei die seelisch
gesunde Person nach Ansicht mancher Experten diejenige sein soll, die sich
optimal an die gesellschaftlichen Bedingungen und ihre eigenen Möglichkeiten
anpassen kann. Es ist sicher eine Frage des Wertsystems, inwieweit man gewillt
ist, dieser Gleichung zuzustimmen. Wenn Gesundheit sich allein durch die Über-
einstimmung mit sozialen Standards bestimmt und derjenige gesund ist, der sich
so verhält, wie es dem gesellschaftlichem Konsens entspricht, wie «man» sich
verhält, dann bleibt wenig Raum für Einzelgänger, Käuze, Rebellen und Genies.
Bitte schauen Sie sich jetzt noch einmal Ihre Gesundheitslinie an:
An welchen Dimensionen von Gesundheit haben Sie sich orientiert?
Möchten Sie jetzt Veränderungen an Ihrer Gesundheitslinie vornehmen?
2.3
Vom Wert der Gesundheit
Die Auseinandersetzung mit dem Phänomen, das wir «Gesundheit» nennen,
kann sich nicht darauf beschränken zu definieren, was unter Gesundheit verstan-
den wird. Denn in dem Moment, in dem man sich die Frage stellt, was Gesund-
heit ist, ist man notwendigerweise auch mit ethischen Problemen konfrontiert,
und hier vor allem mit der Frage, welchen Wert Gesundheit hat. Im Folgenden
finden Sie drei Äußerungen zum Stellenwert von Gesundheit:
Die größte aller Torheiten ist es, seine Gesundheit aufzuopfern, für was es auch
sei, für Erwerb, für Beförderung, für Gelehrsamkeit, für Ruhm, geschweige
für Wollust und flüchtige Genüsse. Vielmehr sollte man ihr alles nachsetzen.
(Arthur Schopenhauer: Aphorismen zur Lebensweisheit)
Wer sagt, dass Gesundheit der einzige Wert im menschlichen Leben ist oder
auch nur der wichtigste? (Aaron Antonovsky 1993, S. 13)
Das Leben ist nicht zimperlich, und man mag wohl sagen, dass schöpferische,
Genie sprudelnde Krankheit, Krankheit, die hoch zu Roß die Hindernisse
nimmt, in kühnem Rausch von Fels zu Felsen springt, ihm tausendmal lieber
ist als die zu Fuß latschende Gesundheit. (Thomas Mann: Dostojewski – mit
Maßen)
Das Spektrum der Einstellungen zum Wert von Gesundheit reicht somit von
derjenigen, dass Gesundheit das höchste Gut ist bis zu der, dass Gesundheit eine
relativ langweilige Angelegenheit darstellt. Im Folgenden sollen diese Einstel-
lungen und ihre Hintergründe reflektiert werden.
2.3.1
Gesundheit als höchstes Gut
Dass Gesundheit das höchste Gut ist, sagt der Volksmund, und vom Altertum
bis heute gibt es sehr viel Literatur, in der diese Position vertreten wird. In den
Gesundheitsdefinitionen zu Beginn dieses Kapitels finden Sie vom Alten Testa-
ment bis heute Beispiele für diese Position, wobei auffällt, dass der Gesundheit
in diesen Äußerungen häufig materielle Werte gegenübergestellt werden oder
aber Lust, Begierde, Bedürfnisbefriedigung – also die nicht durch den Verstand
kontrollierten «Triebe».
Damit deutet sich ein bekanntes Dilemma an: Zwar nimmt Gesundheit im
Wertesystem vieler Menschen einen hohen Stellenwert ein, ihr konkretes Verhal-
ten entspricht dieser Bedeutung jedoch keineswegs. Im realen Verhalten werden
Gesundheitsrisiken billigend in Kauf genommen – aus materiellen Gründen oder
aber, weil die Befriedigung kurzfristiger Bedürfnisse wichtiger und lohnender
erscheint als die Askese im Hinblick auf eine später eventuell zu erreichende oder
zu erhaltende Gesundheit: Eine Frau, die mit einem reichen aber lieblosen Mann
verheiratet ist, weiß, dass ihre Depressionen und psychovegetativen Beschwerden
in der Unzufriedenheit mit ihrer Lebenssituation begründet sind, doch trotzdem
entscheidet sie sich für die materielle Sicherheit und den gesellschaftlichen Status.
Ein Fußballtrainer der ersten Bundesliga kennt die gesundheitlichen Gefahren
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als höchstes Gut war Ausgangspunkt der irrwitzigen Utopie einer gesunden
Gesellschaft, in der Schwäche und Krankheit überwunden waren.
Alle Versuche, Gesundheit zu definieren, bergen unweigerlich die Gefahr,
eigene Werte bzw. die Werte derer, die die Definitionsmacht innehaben, als
gesund auszugeben. Im Namen der Gesundheit sind Menschen nicht nur in
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2.3.2
Gesundheit als relativer Wert
Doch die Gesundheit hat beileibe nicht für alle Menschen eine große Bedeutung.
In empirischen Erhebungen zum Wert der Gesundheit zeigt sich, dass zwischen
20 und 40 % der Befragten die Gesundheit nicht zu ihren fünf wichtigsten Werten
zählen. Dies gilt vor allem für jüngere Menschen und für Männer (Renner &
Weber 2003). Es lassen sich leicht viele Beispiele dafür finden, dass Menschen
gesundheitliche Überlegungen nicht in den Vordergrund ihrer Entscheidung
stellen. Menschen, die als Entwicklungshelfer in tropischen Ländern arbeiten,
akzeptieren, dass sie sich mit dieser Tätigkeit nahezu zwangsläufig bestimmte
Krankheiten – Malaria z. B. – einhandeln. Oder Leistungssportler: Sie wissen,
dass die permanenten Höchstleistungen, die sie ihrem Körper abverlangen, die-
sen überfordern und dass sie in späteren Jahren mit ernsthaften gesundheitlichen
Einschränkungen zu rechnen haben – dennoch sind ihnen der aktuelle Spaß an
ihrer Leistungsfähigkeit, die Herausforderung, der Ruhm, vielleicht auch der
materielle Erfolg wichtiger als die gesundheitlichen Schäden.
Nicht wenige Menschen vertreten somit die Position, dass Gesundheit nur
ein Wert neben anderen ist. Dies bedeutet auch anzuerkennen, dass Menschen
gesund sein können, die andere Werte vertreten als man selber – Frieden, Frei-
heit, Unabhängigkeit, Religion. Wir erleben täglich, dass Menschen andere Werte
höher gewichten als ihre Gesundheit – die nahezu allabendlichen Berichte von
Selbstmordattentaten sind nur ein Beispiel. Gesundheit ist nicht mit dem mora-
lisch Richtigen gleichzusetzen.
Auf die Argumentation, die Gesundheit als etwas Langweiliges darstellt, das
die Assoziation an Blümchenkaffee, handgestrickte Strümpfe, Kernseife und
ähnliche lustlose und erotikfeindliche Dinge weckt, möchte ich hier nicht näher
eingehen. Es gibt Menschen, die sich aus Überzeugung einem solchen Lebensstil
verschrieben haben und sich dabei körperlich, geistig und sozial wohl fühlen.
Ich jedenfalls sehe keinen Grund, warum man nicht auch gesund durchs Leben
«latschen» sollte.
2.3.3
Gesundheit als Geschenk, Leistung oder Pflicht
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Eine weitere für die Auseinandersetzung mit dem Stellenwert der Gesundheit
wichtige Unterteilung ist die nach den Entstehungsbedingungen von Gesund-
heit. Anders formuliert: Ist Gesundheit Geschenk, Leistung oder Pflicht?
Die Vorstellung, dass Gesundheit ein Geschenk ist, in die Wiege gelegt und
eine Startrampe für ein Leben, in dem der Gesunde mehr vermag als der Kranke,
zieht sich durch alle Kulturen und Zeitläufe. Vor allem den Göttern bzw. Gott
wird dieses Geschenk verdankt – auch dies ist in allen Religionen gleich. Christi
Popularität basierte zu seinen Lebzeiten sicher nicht allein auf seiner theolo-
gischen Lehre, sondern gründete sich auch in seiner Fähigkeit, Kranke zu hei-
len: «Alle wollten ihn hören und von den Krankheiten geheilt werden» (Lukas
6,18). Dass auch wir heute ein gesundes Kind oder ein hohes Alter als Geschenk
betrachten, das man dankbar annehmen kann und für das man Sorge tragen
sollte, ist sicherlich eine weit verbreitete Haltung.
In einer modernen säkularisierten Variante dieser Auffassung bezeichnet
der britische Philosoph David Seedhouse (1986) die geschenkte Gesundheit als
«commodity», als kommerzielles Objekt. Gesundheit werde wie ein kommerzi-
elles Objekt als ein Ding gesehen, das man haben könne oder das verloren gehen
könne. Die Grundlage für diese Sichtweise sieht Seedhouse im biomedizinischen
Modell (vgl. Kap. 8), demzufolge Gesundheit etwas ist, das Menschen natürli-
cherweise haben, und das ihnen auch erhalten bleibt, wenn nicht irgendwelche
äußeren widrigen Einflüsse ein körperliches Problem verursachen. Unter nor-
malen Umständen und bei normalem Glück bleiben die Menschen weitgehend
gesund. Aber so wie eine Person auch ihr Portemonnaie verlieren kann, so kann
sie dieser Sichtweise zufolge bei ungünstigen Umständen auch ihre Gesundheit
verlieren.
Dass Gesundheit nicht etwas ist, das man hat und unter ungünstigen Umstän-
den auch verlieren kann, sondern etwas, zu dem man selbst beitragen kann, ist
die Leitidee der Gesundheitsförderung und Gesundheitserziehung. Gesundheit
stellt demnach eine Leistung dar. Sie ist das Ergebnis der gelungenen Auseinan-
dersetzung mit den sie bedrohenden Risiken oder, wenn das Geschenk etwas
klein ausgefallen war, ihren natürlichen Einschränkungen (Wulfhorst & Hurrel-
mann 2009). Gesundheit wird damit als Folge eigenen Verhaltens verstanden, als
eine gelungene Bewältigung von inneren und äußeren Anforderungen. Es gibt
diverse Modelle, diese Anforderungen systematisch zu erfassen und darzustellen.
Dass Gesundheit nicht etwas ist, das man hat und unter ungünstigen Umständen
Als
auch einverlieren
besonders anschauliches
kann, sondern etwas, Modell
zu ist
demin man
Abbildung 1 das
selbst «Mandala-Modell»
beitragen kann, ist die
des Kanadiers Hancock dargestellt.
Leitidee der Gesundheitsförderung und Gesundheitserziehung. Gesundheit stellt
Zu deneine
demnach inneren Anforderungen
Leistung werden der
dar. Sie ist das Ergebnis imgelungenen
Allgemeinen die genetische
Auseinandersetzung
Veranlagung, die körperliche
mit den sie bedrohenden Risikenund psychische
oder, wenn dasKonstitution
Geschenk etwas sowie dasausgefallen
klein Immun-,
Nerven- und Hormonsystem gezählt, als äußere Anforderungen gelten
war, ihren natürlichen Einschränkungen. Gesundheit wird damit als Folge eigenen die sozio-
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Kultur
Lebensweise
Gemeinde
Psycho-
Persönliches Familie Sozio-
Verhalten Ökonom.
Umwelt
Körper
Kranken-
Versorgungs- Arbeit
system
Geist Seele
Human- Physikalische
biologie Umwelt
vom Menschen
gemachte Umwelt
Biosphäre
Abbildung Mandala-Modell
Abbildung1:1: Mandala-Modellder
derGesundheit
Gesundheitnach
nachHancock.
Hancock.
Gesunderhaltung richtig ist, und Krankheit wird zum Zeichen des unvernünf-
tigen Lebens, Ausdruck persönlichen Versagens, von Schuld. Die Philosophie
der Aufklärung passte hervorragend in die sich entwickelnden industrialisierten
Gesellschaften, denn die Prinzipien der Industriearbeit ließen sich nur mit Men-
schen realisieren, die sich rational verhalten konnten. Auch Militär und Büro-
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Weiterführende Literatur
Bergdolt, K. (1999). Leib und Seele – Eine Kulturgeschichte des gesunden Lebens. München:
C.H. Beck.
Schäfer, D., Frewer, A., Schockenhoff, E. & Wetzstein, V. (2008) (Hrsg). Gesundheitskonzepte
im Wandel. Geschichte, Ethik und Gesellschaft. Stuttgart: Franz Steiner.
3
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Ebenso wie der Gesundheitsbegriff unterliegt auch der Begriff der Krankheit
historischen Veränderungen, beeinflusst nicht nur von den Entwicklungen in
der Medizin, sondern auch von den dominierenden philosophischen, gesell-
schaftlichen, politischen Denkrichtungen und von juristischen Anforderungen.
Historisch ging der Konzentration auf Krankheiten und ihre Behandlung die
Konzentration auf die Gesundheit und Gesunderhaltung voraus. Die klassischen
Heilkulturen beruhten auf Gesundheitslehren, die vor allem darauf ausgerichtet
waren, Krankheit zu verhindern. Für den großen, ursprünglich aus Pergamon
stammenden römischen Arzt Galen (129 – 199 n. Chr.) zum Beispiel war die
Medizin die Lehre von der Gesundheit. Entsprechend dem von ihm vertretenen
Modell der Homöostase zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos verstand er
Krankheiten als Zustände, in denen der menschliche Mikrokosmos in seinen
kosmologischen Verstrebungen aus dem Gleichgewicht geraten ist. Krankheiten
wurden als Störungen in bestimmten Vorgängen interpretiert und waren nicht auf
einzelne Körperorgane beschränkt. Gesundheit und Krankheit waren in ein Sys-
tem diverser Kräfte des inneren und weltlichen Lebensumfelds und der Lebens-
führung eingebettet. Dementsprechend galten sie auch nicht als Gegensätze,
sondern lagen auf einem Kontinuum und ließen sich nur individuell bestimmen.
Gesundheit galt als Resultat der rechten Lebensführung und die Entstehung von
Krankheiten entsprechend als Ergebnis von Fehlern in der Lebensführung. Hie-
raus ergab sich für jeden einzelnen Menschen die Aufgabe, sich im Sinne einer
konstruktiven Teilhabe an der kosmischen Ordnung um Gesundheit zu bemühen.
Diese systemische Sichtweise blieb bis ins Mittelalter bestehen. Zu einer ersten
durchgreifenden Änderung kam es in der Aufklärung, die das Entstehen von
kungen im heutigen Sinne zu tun. Auch die Anorexia nervosa, die «Magersucht»,
gehört hierzu; es handelt sich bei ihr nicht um eine Abhängigkeitserkrankung,
sondern sie trägt im gängigen Sprachgebrauch einen veralteten deutschen Namen,
dessen Herkunft im Wort «siech» liegt (Franke 2003).
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Die folgenden Auszüge aus aktuellen Lexika geben einen Überblick über
das heutige definitorische Verständnis von Krankheit:
Krankheit (Morbus): Störung des körperlichen, seelischen und sozialen Wohl-
befindens. Bei der Abgrenzung der K. von Gesundheit ist eine bestimmte, aus
einer Vielzahl von Beobachtungen mit Hilfe statistischer Methoden gewon-
nene Schwankungsbreite zu berücksichtigen, innerhalb derer der Betroffene
noch als gesund angesehen wird. Bei der Beschreibung einer K. muss zwi-
schen ihren Ursachen (Krankheitsursache) und ihren sichtbaren Anzeichen
(Symptomen) unterschieden werden. Außerdem können sich unterschiedliche
Verläufe zeigen. Eine akute K. setzt plötzlich und heftig ein. Eine chronische
K. (Malum) beginnt langsam und verläuft schleichend. Manche K. verlaufen
in Schüben, d. h., es wechseln sich Phasen der Verschlechterung (Exazerbati-
onen) ab, oder sie treten nach scheinbarer Ausheilung erneut auf (Rezidiv).
Die Feststellung einer K. beruht auf der Erhebung der Krankheitsgeschichte
(Anamnese) sowie der Untersuchung des Betroffenen mit Auswertung der
geschilderten und festgestellten Symptome. Die erhobene Diagnose dient der
Festlegung einer evtl. notwendigen Behandlung, der Voraussage über den
Verlauf der K. (Prognose) und Maßnahmen der Krankheitsverhütung (Prä-
vention). (Der Brockhaus Gesundheit 2004)
Krankheit, Störung der Lebensvorgänge in einzelnen Organen oder dem
gesamten Organismus, die sich durch meist objektiv feststellbare körperliche,
seelische oder geistige Veränderungen ausdrückt. Eine Krankheit kann plötz-
lich und heftig, vorübergehend (akut) oder dauerhaft (chronisch) sein, sie kann
schubweise verlaufen oder nach vermeintlichem Abheilen wieder aufbrechen
(Rezidiv) und im schwersten Fall zum Tod führen. Man unterscheidet zwi-
schen der Krankheit eines Organs (funktionelle Krankheit) und der Krankheit
des Gesamtorganismus (Allgemeinerkrankung oder system. Krankheit) und
zwischen organischer, psychischer und psychosomatischer Krankheit. Die
Feststellung einer Krankheit (Diagnose) erfolgt durch Erfassen der Kranken-
geschichte (Anamnese) und der Krankheitszeichen (Symptome) sowie einer
Untersuchung des Kranken und ist die Voraussetzung für eine erfolgreiche
Behandlung (Therapie) und die Vorhersage des Krankheitsverlaufs (Prognose).
(Bertelsmann – das neue Lexikon 2007)
Für die Kennzeichnung von Krankheit spielen somit heute folgende Kriterien
eine Rolle:
• das Vorhandensein von objektiv feststellbaren körperlichen, geistigen und/
oder seelischen Störungen bzw. Veränderungen, also das Vorliegen eines
Befunds
• die Störung des körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens
• eine Einschränkung von Leistungsfähigkeit und Rollenerfüllung
• die Notwendigkeit professioneller (medizinischer) und sozialer, d. h. mit-
menschlicher und gesellschaftlicher Betreuung.
Für die verschiedenen Ebenen, auf denen das Phänomen «Krankheit» betrach-
tet werden muss, verfügt die englische Sprache über die Begriffstrias «disease»,
«illness» und «sickness». «Disease» bedeutet die Krankheit als objektivierbare
Abweichung von einem als normal definierten Zustand oder einer Funktions-
weise, die Krankheit als Befund. «Illness» kennzeichnet die subjektive Ebene, das
Sich-krank-Fühlen. «Sickness» beschreibt die soziale Ebene; es geht darum, wel-
che sozialen Veränderungen sich für eine Person aus ihrem Kranksein ergeben
und welche gesellschaftlichen Ressourcen ihr in dieser Situation zur Verfügung
gestellt werden.
Eine sowohl für die Betroffenen als auch für die Therapie und Rehabilitation
wichtige Frage ist, ob es sich um eine akute oder chronische Krankheit handelt:
Akute Krankheiten beginnen plötzlich, verschlimmern sich und heilen
danach – mit oder ohne Behandlung – wieder ab. Chronische Krankheiten dagegen
entwickeln sich meist langsam oder schubweise und dauern über einen längeren
Zeitraum oder das gesamte weitere Leben an. Manche dieser Erkrankungen kön-
auf die 1850er-Jahre, in denen die erste Internationale Liste von Todesursachen
erstellt wurde. Seit 1948 obliegt die permanente Aktualisierung der ICD der
WHO; aktuell gültig ist die zehnte Revision, die ICD-10. In dieser Fassung wird
sie in Deutschland seit 1994 verwendet.
Die ICD unterscheidet 21 Gruppen von Krankheiten und gesundheitsbezo-
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Klasse Bezeichnung
1 Ausgewählte infektiöse und parasitäre Krankheiten
2 Neubildungen
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Weiterführende Literatur
Rothschuh, K.E. (Hrsg.) (1975). Was ist Krankheit? Erscheinung, Erklärung, Sinngebung.
Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
4
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Ist schon der Begriff der Krankheit unklar, soweit es vor allem um somatische
Erkrankungen geht, so wird die Angelegenheit noch weitaus komplizierter, wenn
man den Bereich der psychischen Erkrankungen betrachtet. Worum handelt
es sich bei psychischen Erkrankungen? Was kennzeichnet Menschen mit einer
solchen Erkrankung?
Wenn wir die Alltagssprache betrachten, so hat diese viele Ausdrücke, um Men-
schen mit einer psychischen Störung zu kennzeichnen: Sie haben einen Sprung
in der Schüssel, nicht alle Tassen im Schrank oder eine Meise, sind balla-balla,
plemmplemm oder haben den Schuss nicht gehört. Kurz: Die Beschreibungen
sind abwertend, machen psychisch Kranke lächerlich und diskriminieren sie
als Personen, bei denen etwas defekt ist. Diese bereits im alltäglichen Sprach-
gebrauch sich findende negative Einstellung gegenüber psychischer Krankheit
zeigt sich auch in der Versorgungssituation für diese Personengruppe, und sie
lässt sich historisch weit zurück verfolgen. Im Folgenden wird daher – bevor die
aktuelle Verwendung der Begriffe psychischer Gesundheit und Störung behandelt
wird – ausführlich auf die Entwicklung des Konzepts der psychischen Krankheit
eingegangen.
4.1
Historische Entwicklung
Nähern wir uns dem Konzept der psychischen Störung historisch, so sind zwei
Aspekte zu berücksichtigen: Zum einen muss analysiert werden, inwieweit sich
psychische Störungen selbst verändert haben, zum zweiten müssen die Verän-
derungen der Erklärungen, Interpretationen und Bewertungen der Phänomene,
die in den verschiedenen Epochen als psychische Krankheit betrachtet wurden,
untersucht werden. Auf den ersten Aspekt kann ich hier nicht intensiv eingehen,
zu deklarieren und sie zu eliminieren. Psychisch Kranke boten sich mit ihren
manchmal absonderlichen oder bizarren Verhaltensweisen als Opfer der Hexen-
jagd geradezu an. Besonders gefährdet waren neben den psychisch Kranken vor
allem die Frauen: 90 % aller nach Hexenprozessen Hingerichteten waren Frauen.
Ihnen wurden vor allem Sexualverbrechen, insbesondere sexuelle Kontakte mit
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Maßnahmen, die wir heute als Unterbringung bzw. Betreuung kennen und
die die psychisch Kranken schützen sollten, sind bereits aus sehr früher Zeit
bekannt. Nach römischem Recht hatte der Geisteskranke oder Wahnsinnige
Anspruch auf einen Kurator, dem die Personen- und Vermögensfürsorge
übertragen wurde. Psychisch Kranke galten als willensunfähig und daher
auch rechtlich als willenlos. Das germanische Recht teilte diese römische
Rechtsauffassung, leitete daraus jedoch nicht das grundsätzliche Recht der
Kranken auf Betreuung ab. Erst wenn die Familie oder ein öffentliches Ver-
fahren die Handlungsunfähigkeit der Kranken festgestellt hatten und diese
offiziell für geisteskrank erklärt waren, erhielten sie einen Betreuer, in der
Regel einen aus der nächsten Verwandtschaft. Hauptaufgabe der Betreuer
war die Vermögensverwaltung.
Die früheste Operationalisierung der Diagnose «geisteskrank» findet sich
vermutlich im isländischen Rechtsbuch, der Gragas – deutsch: Graugans –
aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts: Überprüft wurde der Grad von
Erkenntnisvermögen, «vermöge dessen man nicht unterscheiden kann, ob
der Sattel richtig oder verkehrt auf dem Pferde liege, oder ob man selbst auf
demselben sitzend mit dem Gesicht nach dem Kopfe oder dem Schwanze
des Thieres gerichtet sei» (Rive 1862, S. 158). War jemand nicht in der Lage,
Pferd, Sattel und Reiter in die richtige Position zu bringen, so wurde ihm
der nächste Blutsfreund als Vormund zur Seite gestellt. Hinsichtlich der
Vermögensangelegenheiten war der Geisteskranke einem Minderjährigen
gleichgestellt.
blühenden Städte und des Bürgertums das öffentliche Gesamtbild trübten. Durch
die Aufklärung und das Erstarken der wissenschaftlichen Medizin wurde diese
Entwicklung zusätzlich verstärkt. Psychische Störungen wurden in immer grö-
ßerem Umfang in den Zuständigkeitsbereich der Medizin verlagert, sie wurden
als Krankheiten betrachtet, deren Verursachung vor allem in hirnpathologischen
Veränderungen gesehen wurde. Die Vernunft wurde zum Maß aller Dinge, und
das erwachende industrielle System ging mit der philosophischen Grundströ-
mung Hand in Hand. Die Frage der Eignung für das neue System führte zu neuen
Kriterien der Vernunft: Als vernünftig galt, wer sich möglichst reibungslos den
monotonen Arbeitsabläufen anpasste und frei von unkalkulierbaren Eigenarten
funktionierte. Wer als unvernünftig galt, wurde ausgeschieden. In ganz Europa
entstanden große Verwahrungsinstitutionen, in denen die Unvernünftigen von
der Öffentlichkeit ferngehalten wurden – Bettler und Stadtstreicher, Unmora-
lische und Straffällige, Dirnen, politische Aufrührer, Trinker, Idioten, Narren
und Verrückte (Dörner 1969, 2001).
Parallel regte sich im Bildungsbürgertum starkes Interesse am Phänomen der
psychischen Störung. Die Romantik erzeugte eine große Faszination für das Irre-
sein, für die dunklen Gefühle, das Irrationale und Geheimnisvolle im Menschen,
und psychische Störungen wurden als eine rätselhafte Verwirrung der Vernunft,
des Willens und der Moral interpretiert. Damit gewann eine pädagogische
Sichtweise zugunsten der medizinischen die Oberhand: Als geistig-moralische
Verwirrung schienen psychische Störungen geeignet für Beeinflussungen durch
Erziehung. Dies führte für einige Begünstigte zu einer humaneren und libe-
raleren Hilfe, änderte jedoch nichts am Grundsätzlichen, dass psychisch Kranke
als «Andere» aus der Gesellschaft abgesondert wurden, zum Beispiel in Narren-
türme oder in Hospitäler in ruhiger Umgebung abseits der Stadt.
Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die psychischen Störungen dann
zunehmend aus Sicht der Medizin interpretiert. Den Anfang dieser Entwicklung
markierte der Berliner Internist und Psychiater Wilhelm Griesinger, der als Vater
der naturwissenschaftlichen Psychiatrie gilt. Er definierte Geisteskrankheiten
als Gehirnkrankheiten und betrachtete sie als Ergebnis des Zusammenwirkens
von organischen, psychischen und sozialen Faktoren. Eine materialistische
Sichtweise von psychischen Störungen, die das menschliche Bewusstsein außer
Acht lässt, lehnte er ab. Mit seinem Ausspruch, Geisteskrankheiten seien Gehirn-
krankheiten, wollte er vor allem zur Anerkennung der psychischen Störungen
als «echte» Krankheiten und zur Gleichstellung von psychisch Kranken mit
körperlich Kranken beitragen. Er trug entscheidend dazu bei, dass sich die thera-
peutische Versorgung psychisch Kranker verbesserte.
habe und ebenso ihre spezifischen Symptome, ihren Verlauf und ihre Prognose.
Die meisten psychischen Krankheiten seien genetisch bedingt und daher nicht the-
rapierbar. Die Gesellschaft müsse sich gegen psychisch Kranke schützen wie «gegen
Verbrecher, oder, wenn man lieber will, wie gegen ansteckende Kranke» (1900, S. 1).
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Emil Kraepelin wurde 1856 in Neustrelitz geboren. Nach dem Studium der
Medizin in Leipzig und Würzburg bekam er Kontakt zu Wilhelm Wundt,
der in Leipzig das erste Psychologische Institut gegründet hatte. Durch
diesen Kontakt beeinflußt promovierte er zum Thema «Über den Einfluss
acuter Krankheiten auf die Entstehung von Geisteskrankheiten». Nach einer
Zeit als Assistenzarzt an verschiedenen Irrenkliniken und Irrenanstalten
wurde er ab 1886 Ordentlicher Professor für Psychiatrie an den Univer-
sitäten Dorpat, Heidelberg und München. 1917 gründete er die Deutsche
Forschungsanstalt für Psychiatrie in München. Er starb 1926.
Als erster Schritt zur Eliminierung psychisch Kranker wurde im Juli 1933 das
«Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses» verabschiedet, auf dessen
Basis bis 1945 etwa 400 000 Menschen zwangsweise sterilisiert wurden (Bund der
«Euthanasie»-Geschädigten und Zwangssterilisierten 1989, Westermann 2010).
Erbkrank im Sinne des Gesetzes waren Menschen mit angeborener Blindheit,
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gefährlich für die Kampfes- und Tötungsbereitschaft der gesamten Truppe, weil
sie mit ihrem Zittern die anderen ansteckten. Zudem suchte man nach Störungs-
begriffen und Diagnosen für die aus dem Krieg heimkehrenden Soldaten, deren
Ängste, Depressionen und psychosomatische Auffälligkeiten wie Schlafstö-
rungen, chronische Schmerzen und Phantomschmerzen sich mit den bekannten
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derschulen geschlossen.
Angesichts der herrschenden kapitalistischen Verhältnisse geriet manchen Kri-
tikern des psychiatrischen Systems das Verrücktsein gar zur gesunden Reaktion
angesichts verrückter gesellschaftlicher Bedingungen und zu einem Zeichen von
Kreativität und Spontaneität in einer durch obrigkeitsstaatliche Verordnungen
regulierten Welt. Auch hier ein Zitat, das diese radikale Position kennzeichnet:
Verrücktheit ist ein gemeinsamer sozialer Besitz, der uns gestohlen wurde, genau
wie die Realität unserer Träume und auch unseres Todes; wir müssen uns diese
Dinge politisch wiederaneignen, damit sie in einer verwandelten Gesellschaft wieder
zu Kräften der Kreativität und Spontaneität werden. (Cooper 1978, S. 9)
Die deutsche Psychiatrie stand am Ende des zweiten Weltkriegs vor einem Trüm-
merhaufen. Schuld, Scham, die aktive Beteiligung an unsäglichen Verbrechen an
den ihr anvertrauten Menschen – dies war der eine Teil des Problems. Der andere
bestand darin, dass das rassistische Krankheitsmodell, das die Hauptursachen
für psychische Erkrankungen in den genetischen Faktoren geortet hatte, nicht
mehr aufrechterhalten werden konnte. In dieser Situation ergriff die Mehrzahl der
Psychiater den Rettungsanker des medizinisch-naturwissenschaftlichen Modells
und verschanzte sich hinter den Mauern der psychiatrischen Kliniken – und dies
gleichermaßen in West- wie in Ostdeutschland. Überwiegend in Großinstituti-
onen mit bis zu 3 000 «Insassen» wurden die Patientinnen und Patienten gemäß
Kraepelin’scher Nosologie diagnostiziert und vorwiegend pharmakologisch
behandelt.
Die wenigen Ausnahmen, die nicht schweigen wollten, wurden mundtot
gemacht: Die Psychiaterin Alice Ricciardi-Platen-Hallermund, der junge und
damals noch unbekannte Arzt Alexander Mitscherlich und der Student Fred
Mielke hatten sich – anders als zuvor angefragte prominente Kollegen – bereit
erklärt, als Beobachter des Ersten Amerikanischen Gerichtshofs in Nürnberg
die dortigen Ärzteprozesse (Dezember 1946 bis August 1947) und die in ihnen
zu Tage gekommenen Verbrechen zu protokollieren und darüber zu berichten.
Obwohl offiziell von der Westdeutschen Ärztekammer beauftragt, wurde der von
Mitscherlich und Mielke 1947 noch während des Prozesses verfasste Bericht vom
Deutschen Ärztetag im Oktober 1948 als Nestbeschmutzung heftig angegriffen.
Unter dem Titel «Wissenschaft ohne Menschlichkeit» erschien er im Januar
1949 in einer für die Ärztekammer bestimmten Auflage von 10 000 Exemplaren.
Diese gelangten niemals an die Öffentlichkeit – sie verschwanden. Erst im Jahre
1960 erfolgte unter dem Titel «Medizin ohne Menschlichkeit» eine Neuauflage
(Mitscherlich & Mielke 1960). Ähnlich erging es der Publikation «Die Tötung
Geisteskranker in Deutschland» von Alice Ricciardi-Platen-Hallermund, die im
Juli 1948 in einer Auflage von 3 000 Stück erschien. Die Auflage wurde nicht voll-
ständig verbreitet und war auch in deutschen Bibliotheken kaum zu bekommen.
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Erst durch den Reprint im Jahre 1993 wurde sie wieder erhältlich; inzwischen
liegt sie in der siebten Auflage vor.
Bis in die 1960er Jahre entwickelte sich die Psychiatrie in den beiden Teilen
Deutschlands sehr ähnlich. Dies lag zum einen an der personellen Kontinuität,
zum anderen daran, dass mit den vor dem Krieg errichteten großen psychiat-
rischen Kliniken ein vergleichbares System der psychiatrischen Versorgung
etabliert war.
Kritik an der herrschenden Anstaltspsychiatrie wurde dann zuerst in der
DDR geübt: Bei einem 1963 stattfindenden internationalen Symposium verab-
schiedeten die 120 Teilnehmer Empfehlungen zur psychiatrischen Versorgung,
die «Rodewischer Thesen». In diesen wurden die wesentlichen Forderungen und
Ziele der Sozialpsychiatrie formuliert: Nicht Verwahrung der psychisch Kranken
sei Aufgabe der Psychiatrie, sondern deren Wiedereingliederung «… ins tätige,
freie und verantwortliche Leben». Gefordert werden eine Intensivierung der
therapeutischen Bemühungen, eine Reorganisation der Kliniken, der Aufbau
ambulanter und teilstationärer Dienste und die Reduzierung von Zwangsmaß-
nahmen auf «… das nur unbedingt erforderliche Minimum» sowie die Aufhe-
bung der gegenüber den Allgemeinkrankenhäusern bestehenden Unterschiede in
den Haushalts- und Stellenplänen (www.dgsp-brandenburg.de/sites/default/files/
Rodewischer_Thesen.pdf [Zugriff: 12.3.2012]). Festgefahrene Strukturen jedoch,
schlechte materielle Bedingungen und noch bestehende Vorurteile gegenüber
psychisch Kranken verhinderten eine flächendeckende Umsetzung der Rodewi-
scher Thesen (Müller & Mitzscherlich 2011).
Im Westen Deutschlands dauerte es gute zehn Jahre länger, bis vergleichbare
Kritik laut wurde. Um die Lage zu erkunden, setzte der Bundestag eine Enquete-
Kommission ein. Deren 1975 vorgelegter Abschlussbericht legte erhebliche
Mängel in der psychiatrischen Versorgung offen und führte zu einer intensiven
Diskussion der Situation psychisch Kranker und zu Anstrengungen, die ekla-
tanten Missstände zu verbessern. Unter Federführung des Bundesministeriums
für Gesundheit wurde von 1980 bis 1985 in sechs Bundesländern das Modell-
programm Psychiatrie durchgeführt, für das die damals erhebliche Summe von
186,5 Mio. DM zur Verfügung gestellt wurde. Die Auflösung der großen psychi-
atrischen Institutionen mit teilweise mehr als 2 000 Patientinnen und Patienten
zugunsten von Abteilungen in regionalen Krankenhäusern, die Einrichtung
von Tageskliniken, Wohngemeinschaften und Firmen für psychisch Kranke,
Krankheitsverständnis äußert (ausführlich hierzu Kap. 8), befindet sich die Gen-
forschung auf Erfolgskurs – gesponsert von finanzkräftigen Industrien.
Für das Verständnis und die Versorgung von Menschen mit psychischen Stö-
rungen ist vielleicht der zweite Hoffnungsträger des biomedizinischen Ansatzes
in der Psychiatrie, die Neuropsychologie, noch entscheidender. Neuropsycholo-
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gische Forschung begann bereits im 19. Jahrhundert mit der Untersuchung der
Zusammenhänge zwischen der Aktivität von Nerven und Muskeln. Späterer
Forschung gelang unter Einbeziehung des Zentralnervensytems der Nachweis,
dass durch elektrische Stimulation bestimmter Hirnareale bestimmte Muskelak-
tivitäten ausgelöst werden können – dies eröffnete den Weg zur Kartierung von
Funktionsarealen im Gehirn.
Medizinisch konnten diese Erkenntnisse dann vor allem in und nach dem
Ersten Weltkrieg genutzt werden, in dem viele Soldaten durch Schussverlet-
zungen Hirnläsionen erlitten. Der aktuelle Aufschwung der Neuropsychologie
wurde entscheidend durch die bildgebenden Verfahren ermöglicht, die nicht nur
Läsionen und strukturelle Veränderungen zeigen können, sondern auch Funkti-
onsstörungen.
Die Klinische Neuropsychologie definiert psychische Störungen als Funk-
tions- oder Strukturstörungen des Gehirns. Man geht davon aus, dass das
Gehirn in seinen Netzwerkeigenschaften gestört ist, und dass dies zu einer Stö-
rung der entsprechenden kognitiven, emotionalen und motivationalen Prozesse
führt. Ausgehend davon, dass allen psychischen Prozessen neuronale Prozesse
zu Grunde liegen, dass all unser Verhalten, Empfinden und Erleben eine Her-
vorbringung neuronaler Schaltkreise ist, werden psychische Störungen als ver-
änderte psychische Prozesse definiert, denen veränderte neuronale Vorgänge
zu Grunde liegen, und neurotische Störungen als Abweichungen von normaler
neuronaler Struktur und Funktion (Lautenbacher & Gauggel 2010, Lehrner et
al. 2010). Manche Autoren empfinden diese Sichtweise als eine revolutionäre
Wende, die geeignet ist, die Sichtweise vom Menschen als eines aus physischen
und psychischen Anteilen bestehenden Wesens zu überwinden (vgl. Kap. 8.1.1).
4.2
Definition und Klassifikation psychischer Störungen
Zur Einstimmung in das Thema lesen Sie bitte die folgenden drei Fallbeschrei-
bungen und beantworten Sie dann die Fragen:
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zu, gefühlsmäßig habe sie einfach nur «Angst, Angst, Angst». Nach einem
Angstanfall sei sie völlig erschöpft, müsse weinen; beruhigen könne sie sich
dann am besten, wenn ihr Freund da sei, sie in den Arm nehme und tröstend
auf sie einrede.
Frau Peters Leben wird durch die Angst zunehmend eingeschränkt: Wäh-
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rend die Angstanfälle kurz nach dem Unfall nur auftraten, wenn sie Blut sah
oder Buntaufnahmen von Unfällen, Operationen und Ähnlichem, wurde
das Spektrum der Angst auslösenden Situation mit der Zeit immer größer.
Aktuell lebt sie wegen der Angst vor Blut sehr zurückgezogen: Sie geht nicht
mehr in ein Restaurant, weil sie befürchtet, am Nebentisch könne jemand ein
nicht durchgebratenes Steak essen. Natürlich geht sie auch nicht ins Kino oder
Theater, weil dort immer die Gefahr blutiger Szenen besteht; das Wissen, dass
im Theater kein echtes Blut fließt, reduziert die Angst nicht. Frau Peters geht
auch nur noch zu Partys, bei denen sie ganz sicher sein kann, dass dort keine
Mediziner bzw. Medizinstudenten sind: Die könnten sich ja über Operationen
unterhalten, und bereits das Anhören solcher Gespräche löst die Angst aus.
Seit mehr als drei Jahren hat sie auch jeden Arztbesuch vermieden. Eigentlich
hat sie vor und in allen Situationen Angst, in denen sie Blut sieht oder sehen
könnte, in denen Blut auf Abbildungen erscheint oder beim Anblick oder
Kontakt mit Geräten, deren Benutzung mit Blut und Bluten im Zusammen-
hang steht. Einzige Ausnahme ist das Menstruationsblut – die Menstruation
ist regelmäßig, in Verlauf und Dauer unauffällig und der Kontakt mit dem
Menstruationsblut macht ihr keine Angst.
Noch ist Frau Peters in der Lage, ihrem Studium nachzukommen und ihren
Alltag einigermaßen zu regeln. Dabei helfen ihr auch die Kolleginnen der WG
und ihr Freund. Frau Peters sieht jedoch klar, dass deren Geduld eines Tages
erschöpft sein könnte. Ihr Freund hat zum Beispiel vor kurzem angedeutet,
dass er früher gerne in den Zoo gegangen sei – ein Ort, dem zu nähern sich
Frau Peters beim allerbesten Willen nicht vorstellen kann.
könne sich nicht mehr an Gesprächen mit mehreren Personen beteiligen, seine
sozialen Aufgaben nicht mehr erfüllen, seine Frau sexuell nicht mehr befriedi-
gen und er sei unfähig, irgendetwas zu entscheiden. Er arbeitet seit 15 Jahren
als Betriebsingenieur in einem Großunternehmen für Maschinenbau – seine
Arbeit schaffe er nur noch auf Grund der großen Routine. In den letzten vier
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Heike Schmidt ist 32 Jahre alt, hat eine Lehre als Bankkauffrau abgeschlossen
und bis vor vier Jahren in diesem Beruf gearbeitet. Ihr Mann ist Installateur,
er hat sich vor sechs Jahren mit einer eigenen Firma niedergelassen. Frau
Schmidt hat einen Zwang ausgebildet, der sich vor allem äußert, wenn sie sich
anzieht. Es gibt ein festgelegtes Ritual dafür, wie und in welcher Reihenfolge
die Kleidungsstücke angezogen werden dürfen. Kleinste Abweichungen von
diesem Ritual führen dazu, dass Frau Schmidt mit der gesamten Prozedur
wieder von vorne anfangen muss. Der BH zum Beispiel darf nur geschlossen
werden, wenn er sich genau in der Mitte des Brustbeins befindet; hat der BH
mehrere Haken, muss der oberste zuerst geschlossen werden. Der Schlüpfer
muss vor dem BH angezogen werden, wobei erst das rechte, dann das linke
Bein in den Schlüpfer gesteckt werden darf und dieser dann ganz gerade hoch
gezogen werden muss; gerät er in eine «Schieflage», muss sie den Schlüpfer
wieder ausziehen und von vorne beginnen. Die Rituale haben sich inzwischen
so ausgeweitet, dass Frau Schmidt morgens zwischen drei und vier Stunden
braucht, bevor sie angezogen ist. Anschließend ist sie völlig erschöpft, häufig in
Schweiß gebadet – und eigentlich reif dafür, wieder unter die Dusche zu gehen.
Bereits am Abend zuvor müssen die Kleidungsstücke in einer bestimmten Rei-
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henfolge auf eine Kommode im Schlafzimmer gelegt werden, und Frau Schmidt
leidet regelmäßig große Angst, ihr Mann könne aus Versehen die Anordnung
durcheinander bringen oder etwas auf ihren Kleiderstapel legen.
Herr Schmidt bemüht sich sehr, seine Frau von den Zwängen abzulenken –
bisher ohne jeden Erfolg. Ihre Berufstätigkeit in der Bank musste Frau Schmidt
aufgeben, da sie es einfach nicht schaffte, pünktlich zu Dienstbeginn an ihrem
Arbeitsplatz zu sein. Sie hilft seither ihrem Mann bei der Buchführung. Bei
der Arbeit ist bisher noch kein Zwangsverhalten aufgetreten, es kann jedoch
sein, dass Frau Schmidt während des Tages einen Teil ihres Rituals wiederho-
len muss, wenn sie zur Toilette geht.
Frau Schmidt leidet sehr unter ihrem Verhalten, das sie als «absolut blöd-
sinnig» bezeichnet. Gleichwohl ist es ihr unmöglich, die Rituale aufzugeben.
Sie habe es sich schon so oft vorgenommen, leide aber Höllenqualen, wenn
sie einmal versuche, ein «nicht richtig» angezogenes Kleidungsstück anzu-
behalten; spätestens nach einer halben Stunde müsse sie sich dann komplett
ausziehen und mit dem Ritual von vorne beginnen.
Während früher von «psychischer Krankheit» gesprochen wurde, hat sich in den
aktuellen Klassifikationssystemen der Begriff der psychischen Störung durchge-
setzt. Begründet wird dieser Namenswechsel damit, dass «Störung» deskriptiver
sei als «Krankheit» und damit weniger wertend.
Das Bemühen um eine rein beschreibende, nicht wertende Terminologie
kennzeichnet alle Definitionen psychischer Störungen. Hier zwei Beispiele:
Für die Diagnose einer psychischen Störung ist zudem maßgebend, dass das
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abweichende Verhalten nicht nur kurzfristig ist und eine verständliche Reaktion
auf ein bestimmtes Ereignis, zum Beispiel eine tiefe Trauer nach dem Tod eines
geliebten Menschen oder grenzenlose Erschöpfung nach einer anstrengenden
Examensphase oder Polarexpedition.
Wie bei den organischen Erkrankungen auch erfolgt die Gruppierung und
Beschreibung von psychischen Störungen in Klassifikationssystemen. Die am
häufigsten verwendeten sind die ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation und
das «Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen» (DSM),
das von der amerikanischen Berufsorganisation der Psychiater herausgegeben
und ständig weiter entwickelt wird. Aktuell liegt es in der Version DSM-IV vor
(deutsche Bearbeitung durch Saß et al. 1996, Textrevision DSM-IV-R 2003). In
Deutschland werden beide Systeme verwendet, sie sind in den aktuellen Versi-
onen auch sehr einander angenähert. Wegen der angestrebten Einheitlichkeit
mit somatischen Diagnosen wird im klinischen Bereich mehrheitlich die ICD
verwendet, während in der psychologischen und psychiatrischen Forschung das
DSM vorherrscht (Wittchen 2011).
Im Folgenden wird das DSM-IV näher vorgestellt: Seinem Anspruch gemäß, eine
möglichst beschreibende, wertneutrale Diagnostik zu ermöglichen, werden Störungen
im DSM-IV auf fünf Dimensionen, den so genannten Achsen (siehe Tab. 2), check-
listenmäßig nach Vorkommen und Frequenz diagnostiziert.
Auf Achse I werden 16 Hauptgruppen von psychischen Störungen aufgelistet,
darunter affektive Störungen, Angststörungen, Schizophrenie und andere psycho-
tische Störungen, sexuelle und Geschlechtsidentitätsstörungen, Ess- und Schlafstö-
rungen. Die fünf Achsen sind Ausdruck der Diskussion um das Krankheitsmodell:
Tabelle 2: Achsen des DSM-IV (APA 1994, dt.: Saß et al. 1996).
Klasse Bezeichnung
Achse I Klinische Störungen und andere klinisch relevante Probleme
Achse II Persönlichkeitsstörungen, Geistige Behinderung
Achse III Medizinische Krankheitsfaktoren
Achse IV Psychosoziale oder umgebungsbedingte Probleme
Achse V Psychosoziale oder umgebungsbedingte Probleme
Achse V Globale Beurteilung des Funktionsniveaus
Die verschiedenen Achsen erlauben nicht nur die Erfassung der körperlichen
und psychischen Auffälligkeiten, sondern auf Achse IV auch die Berücksichtigung
von schweren psychosozialen Belastungsfaktoren. Damit wurden in das DSM Teile
der gesellschaftskritischen Diskussion der 1970er und 1980er-Jahre aufgenommen.
Insgesamt jedoch fußt das DSM fest auf den Rahmenannahmen des medizinischen
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Modells (vgl. Kap. 8): Psychische Störungen werden als klar definierbare Abwei-
chungen verstanden, als Entitäten mit einer spezifischen Charakteristik, die gegen-
über anderen als Entitäten definierten Abweichungen eindeutig abgrenzbar sind.
Seit 1999 arbeiten mehr als 500 Expertinnen und Experten in diversen Arbeits-
gruppen an einer fünften Revision des DSM. 2011 wurde der Öffentlichkeit eine
erste Version im Internet vorgestellt mit der Aufforderung, diese zu kommentie-
ren. Das Erscheinen von DSM-V ist für 2013 geplant.
Einige jetzt zu diagnostizierende Störungen werden wegfallen, andere hinzu-
kommen. Eine entscheidende Neuerung wird sein, dass die Diagnostik nach Vor-
handensein oder Nichtvorhandensein zugunsten eines dimensionalen Ansatzes
aufgegeben wird, bei dem der Ausprägungsgrad einer Störung und neben der
Hauptsymptomatik auch die Begleitsymptome erfasst werden. Dies, so befürchten
Kritiker, birgt die Gefahr, dass die Grenzen zwischen psychischer Gesundheit und
Krankheit verschwimmen. Die schärfste Kritik entfacht sich im Vorfeld daran,
dass durch die Hereinnahme neuer Diagnosen wie «hypersexual disorder» für
Menschen, die seit mindestens sechs Monaten übermäßig viel Zeit mit sexuellen
Phantasien und Handlungen verbringen, oder «temper dysregulation disorder»
für Kinder, die zu unkontrollierten emotionalen Ausbrüchen tendieren, der
Bereich des psychisch Normalen immer weiter eingeengt wird. So soll es auch
möglich werden, ein Psychose-Risiko-Syndrom bei Personen zu diagnostizieren,
die Symptome einzeln oder in abgeschwächter Form zeigen, die für eine Psychose
typisch sind. Begründet wird dies mit der Möglichkeit einer möglichst frühen the-
rapeutischen Intervention. Doch die Kritiker warnen: Es gebe ausreichend empi-
rische Evidenz, dass nur sehr wenige Menschen, die einmal ein psychosetypisches
Symptom gezeigt haben, auch später manifest erkranken. Es bestehe somit die
Gefahr, Menschen zu pathologisieren und geradezu in die Krankheit hineinzutrei-
ben. Angesichts der Versorgungsrealität in der Psychiatrie fürchten diese Kritiker
auch eine weitere Flut von unnötigen medikamentösen Behandlungen.
In einem äußerst lesenswerten Buch zeigt der britische Psychologe Richard
Bentall (2003), inwiefern der Kampf um das «richtige» Verständnis psychischer
Krankheiten und die daraus folgende Art der Klassifizierung immer auch ein
berufspolitischer Kampf war. Während zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch ver-
schiedene Klassifikationssysteme nebeneinander existierten, die zum Teil stärker
psychologisch und verhaltenstheoretisch orientiert waren, markierte das 1980
veröffentlichte DSM III (APA 1980) den Sieg der amerikanischen psychiatrischen
Berufsvereinigung. Die damalige Hoffnung seiner Autoren, dass mit der Ein-
führung des neuen Klassifikationssystems die Interessen der psychiatrischen
Berufsgruppe als medizinische Profession gestützt werden konnten (Spitzer &
Endicott 1978), hat sich seither eindrücklich bestätigt.
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Und «ganz nebenbei» verdient sich die APA an den Revisionen des DSM
die berühmte goldene Nase: Während DSM-I noch ein kleines graues Heft-
chen war, das 1952 den Mitgliedern der APA kostenlos zugesandt wurde,
erschien DSM-II bereits auf 150 Seiten in Spiralbindung für 3,50 US-Dollar.
An DSM-III, das 500 Seiten umfasste, verdiente die APA geschätzte 9,8 Mil-
lionen US-Dollar. DSM-IV war bereits Ende des Jahres 2000 annähernd eine
Million Mal verkauft; die deutsche Version von DSM-IV-R kostet zurzeit
129 Euro. Für DSM-V wird ein Erlös von 80 Millionen US-Dollar kalkuliert
(Dollar-Werte aus Bentall 2003, S. 46/47, 62, 63).
4.3
Implikationen und Konsequenzen der aktuellen Klassifikation
Wie bereits gesagt, verzichtet das DSM auf den Begriff der Krankheit und
verwendet stattdessen den Begriff «Störung», weil er deskriptiver und weniger
wertend sei. Dieser Diktion hat sich auch die WHO in der ICD angeschlossen.
Mich überzeugt jedoch weder der Störungsbegriff noch teile ich die Ansicht, er
sei deskriptiver als der Begriff der Krankheit. Ich halte den Austausch der Worte
für eine Verschleierungstaktik, mit der psychische Auffälligkeit sozial weniger
diskriminierend bezeichnet werden kann, mit der aber das Stigma, das diesen
Erkrankungen immer noch anhaftet, nur scheinbar gemildert wird. Sowohl
Krankheit als auch Störung bezeichnen einen Zustand diagnostizierter Abwei-
chung – das ist das Entscheidende, weniger die damit verbundene Namensge-
bung. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um die gesellschaftlichen
Normen – und darum, wie eine Gesellschaft mit denjenigen umgeht, die diese
Normen nicht einhalten können.
So verdienstvoll der Ansatz auch sein mag, psychische Störungen deskriptiv
beschreiben zu wollen – letztlich handelt es sich bei diesen Störungen um Kon-
strukte, die weit mehr noch als körperliche Krankheiten von sozialen, politischen
und religiösen Normen und Bedingungen beeinflusst sind. Es gibt keine natur-
gegebenen Grenzen zwischen psychischer Normalität und Abweichung, und es
bleibt ein Ergebnis gesellschaftlichen Aushandelns, wie sehr wir gewillt und in
der Lage sind, Verrücktes und Verrückte als Teil des Lebens und unserer Gesell-
schaft zu akzeptieren.
Tod seiner Frau täglich zum Friedhof geht? Soll jemand, der den Verlust seines
Hundes auch nach einem Jahr noch nicht überwunden hat, eine Psychotherapie
als Kassenleistung erhalten?
Die Kreation von Krankheitsdiagnosen entfaltet sich besonders üppig, wenn
die neue Krankheit einen hohen Vermarktungsprofit erwarten lässt. Wer kannte
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Weiterführende Literatur
Dörner, K., Plog, U., Teller, C. & Wendt, F (2009). Irren ist menschlich. Bonn: Psychiatrieverlag.
Finzen, A. (1996). Massenmord ohne Schuldgefühl. Die Tötung psychisch Kranker und geis-
tig Behinderter auf dem Dienstweg. Basel: Edition Das Narrenschiff.
5
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«Behinderung» ist ein weiterer Begriff, der im Themenfeld von Gesundheit und
Krankheit zu definieren ist. Wann dieser Begriff zur Kennzeichnung von Pro-
blemen, die Menschen in ihrer körperlichen und geistigen Funktionsfähigkeit
einschränken, eingeführt wurde, ist unklar; sicher ist, dass er in Deutschland in
der Kombination «geistig und körperlich behindert» im Reichsschulpflichtgesetz
von 1938 auftauchte. Rechtlich wurde er in der Bundesrepublik Deutschland
später durch das 1961 verabschiedete Bundessozialhilfegesetz (BSHG) verankert,
und durch das sich ab Mitte der 1960er-Jahre entwickelnde Sonderschulwesen
erfuhr er weitere Verbreitung.
5.1
Historische Entwicklung
Historisch gesehen lassen sich viele Parallelen zwischen dem Umgang mit Behin-
derung und dem Umgang mit psychischen Störungen ziehen, zum Teil kommt es
zu beträchtlichen Überschneidungen. In der Antike wurden vor allem jene Men-
schen als abweichend im Sinne des heutigen Behinderungsbegriffs charakterisiert,
die durch körperliche Funktionseinschränkungen oder Anomalien auffielen:
kleinwüchsige, hinkende und verkrüppelte Menschen, solche die nicht sehen, nicht
hören oder nicht sprechen konnten. In mehreren Gesellschaften – so im antiken
Sparta, in Athen und auch in Rom – wurden Kinder mit diesen Makeln häufig
ausgesetzt oder früh getötet. Sie galten als von den Göttern gesandtes Unglück
und als gesellschaftliche Belastung. Sogar Hippokrates sprach sich dagegen aus,
Behinderte und nicht mehr heilbare Menschen medizinisch zu betreuen, da eine
Behandlung wenig Erfolg versprechend sei.
Im Mittelalter wurden behinderte Menschen wie die psychisch Kranken als
vom Teufel Besessene betrachtet. Sie entsprachen nicht der Vorstellung vom
Menschen als dem Ebenbild Gottes. Sehr viel eher konnten sie mit dem hinken-
den Satan in Verbindung gebracht werden. In großer Zahl fielen sie daher auch
der Inquisition zum Opfer. Behinderte Kinder galten einem weit verbreiteten
Glauben entsprechend als Wesen, deren sich Teufel und Hexen bemächtigt hat-
ten. Wechselbalg wurden sie genannt, und selbst Luther empfahl, man solle sie
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ersäufen, da sie lediglich ein vom Satan in die Wiege gelegtes Stück seelenloses
Fleisch darstellten.
Wie bereits in Kapitel 4 beschrieben, waren die sich im 15./16. Jahrhundert ent-
wickelnden bürgerlichen Städte sehr darum bemüht, ein prunkvolles Gesamtbild
zu entfalten. Darin störten alle, die sich nicht an die neue Ordentlichkeit halten
konnten, und man ersann neue Mittel und Wege, wie man sich dieser Personen
entledigen konnte. Neben der Verbrennung auf dem Scheiterhaufen bestand eine
Methode darin, sie Händlern und Binnenschiffern auszuliefern; diese «Narren-
schiffe» setzten ihre Fracht dann einfach an einem entfernten Ort aus. Vermutlich
aber landeten die meisten dieser Menschen in den in ganz Europa entstehenden
Verwahrungsinstitutionen, den Narrentürmen, Tollhäusern und Irrenanstalten.
In ihnen fanden sich alle ein, die das Gesamtbild trübten – und dazu gehörten
auch Hinkende, Lahme, Blinde und Blöde.
Ab dem 19. Jahrhundert kam es dann zunehmend zu einer Ausdifferenzierung
der verschiedenen Gruppen von Abweichenden und parallel zu einer Ausdiffe-
renzierung der Verwahrsysteme in karitative, pädagogische und medizinisch-
psychiatrische Institutionen. Vorwiegend in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
gründeten sich private karitative, religiöse und humanitäre Hilfsorganisationen,
die Menschen mit unterschiedlichsten Beeinträchtigungen in ihre Fürsorgeein-
richtungen aufnahmen. Im Vordergrund stand die Betreuung und Pflege der
Unselbständigen und Hilfebedürftigen. Da diese Fürsorgevereine sich privat
finanzierten, wurden in ihren Einrichtungen vor allem Menschen aus begüterten
Familien untergebracht. Parallel entwickelte sich der pädagogische Bereich, der
es nicht allein bei der Pflege der behinderten Menschen belassen wollte, sondern
sich für die Bildungsfähigkeit beeinträchtigter Kinder einsetzte und dafür, dass
sie möglichst so weit geschult werden konnten, dass sie für ihren Lebensunterhalt
selbstständig sorgen konnten. (Auf diesen pädagogischen Aspekt, die Entwick-
lung der Heil- und Sonderpädagogik, kann ich an dieser Stelle nicht eingehen.)
Durch die Einführung von Kraepelins Klassifikationssystem erhielt in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der medizinische Bereich starken Auftrieb.
Zunehmend wurden Abweichungen als medizinisch-psychiatrische Krankheits-
bilder definiert und fielen damit dem medizinischen System einschließlich seiner
Modellvorstellungen von Krankheit und Störung anheim.
Das 19. Jahrhundert war nicht nur die Zeit der Ausdifferenzierung der Ver-
wahrsysteme, sondern vor allem auch der Differenzierung der Mitglieder einer
auch die Sonderschulen aufgelöst. Ein weiterer Impuls zur Integration behin-
derter Menschen kam aus den skandinavischen Ländern mit dem so genannten
Normalisierungsprinzip. Es besagt, dass behinderte Menschen so normal wie
möglich leben können sollen, mit normalem Tages- und Jahresrhythmus, einem
angemessenen wirtschaftlichen Standard und der Respektierung von individu-
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5.2
Der Begriff der Behinderung
Stärker als der Krankheitsbegriff ist der Begriff der Behinderung der Gefahr aus-
gesetzt, auf Diskriminierung und Stigma zu verweisen. Der Ausspruch, jemand
sei ja behindert, bedeutet im Alltag häufig eine Abwertung, und umgangssprach-
lich werden bestimmte Behinderungsformen benutzt, um auf Schwächen und
Defizite von Menschen zu verweisen: «Blind» steht dann für uneinsichtig oder
ignorant, «schwerhörig» ist jemand, der sich nicht an Regeln und Vereinbarungen
hält, und «Spasti» ist ein Schimpfwort, mit dem man eine andere Person wirklich
verletzen will. In der ICF, der «Internationalen Klassifikation der Funktionsfä-
higkeit, Behinderung und Gesundheit» der WHO (siehe Kap. 5.3) heißt es zur
Anwendung des Behinderungsbegriffs:
Es bleibt eine schwierige Frage, wie man Menschen am besten bezeichnen kann,
welche ein gewisses Maß an funktionalen Einschränkungen oder Begrenzungen
erfahren. Die ICF verwendet den Begriff «Behinderung», um das mehrdimensionale
Phänomen zu bezeichnen, das aus der Interaktion zwischen Menschen und ihrer
materiellen und sozialen Umwelt resultiert. Aus vielen verschiedenen Gründen
bevorzugen einige, den Begriff «Menschen mit Behinderung», andere «behinderte
Menschen» zu verwenden. Unter Berücksichtigung dieser verschiedenen Meinungen
steht es der WHO nicht zu, hier die eine oder andere Sprachform zu wählen. Statt-
dessen bestärkt die WHO den wichtigen Grundsatz, dass Menschen ein Recht darauf
haben, so genannt zu werden, wie sie es wünschen. […] Wie immer auch «Behinde-
rung» genannt wird, sie existiert unabhängig von dieser Bezeichnung. Es handelt
sich hier nicht ausschließlich um ein sprachliches Problem, sondern vielmehr um
ein Problem der Einstellung von Einzelnen und der Gesellschaft gegenüber Behinde-
rungen. (DIMDI 2004, Seite 170)
Bitte überlegen Sie, welche Implikationen die Begriffe «Menschen mit Behin-
derung» und «behinderte Menschen» haben. Drücken sie Ihrer Meinung
nach ein unterschiedliches Verständnis aus oder sind sie austauschbar?
In der Medizin wird Behinderung als Problem einer Person verstanden, das
unmittelbar aus einer Krankheit, einem Trauma oder einem anderen Gesund-
heitsproblem entsteht und der medizinischen Versorgung bedarf. Behinderung
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ist ein Defekt, der Menschen in ihrer Funktionsfähigkeit einschränkt und häufig
zu verringerter Leistungsfähigkeit führt. Voraussichtlich ist der Defekt nicht heil-
bar, auf jeden Fall wird ein langwieriger Verlauf angenommen. Auch aus chro-
nischen psychischen Erkrankungen kann Behinderung resultieren. Die WHO
klassifiziert Behinderung erst seit 1980 als eigenständiges Konstrukt. Davor gab
es nur die Möglichkeit, Behinderung im Rahmen der ICD als Krankheit oder
Verletzung einzuordnen. Erst in den 1970er-Jahren setzte sich international
durch, dass Behinderung nicht mit Krankheit gleichzusetzen ist.
Die Abgrenzung von Behinderung gegenüber chronischer Erkrankung ist aus
medizinischer Sicht nicht eindeutig. Im medizinisch-rehabilitativen System wird
der Behinderungsbegriff vorwiegend aus sozialrechtlichen Gründen verwendet.
Im medizinischen und auch psychologischen Vokabular spielt er keine wichtige
Rolle. In diesen Disziplinen bevorzugt man den Terminus des chronischen Ver-
laufs einer Störung oder Krankheit, wenn eine Verbesserung oder Heilung des
gesundheitlichen Problems nicht zu erwarten ist.
Aus soziologischer Sicht ist Behinderung vorwiegend ein gesellschaftlich verur-
sachtes Problem, hervorgerufen dadurch, dass die Gesellschaft die volle Integration
von Menschen mit einer Beeinträchtigung und ihre Teilhabe an allen gesell-
schaftlichen Belangen nicht ermöglicht und ihnen in wesentlichen persönlichen
Bereichen Selbstbestimmung verwehrt.
Diese Sichtweise hat auch in der Pädagogik breiten Anklang gefunden. Neuere
pädagogische Definitionen betonen den interaktiven Aspekt von Behinderung
und sehen Behinderung als Konstrukt, das sich in der Auseinandersetzung eines
Menschen mit seiner Umgebung, seiner alltäglichen Realität ausbildet. Behinde-
rung entsteht in diesem Verständnis dann, wenn nicht angemessen auf Verschie-
denheit reagiert wird (Walthes 2003).
Wegen der starken Bedeutung der Schulpädagogik innerhalb der Erzie-
hungswissenschaften konzentrieren sich viele pädagogische Definitionen von
Behinderung vorwiegend auf Kinder. So formuliert beispielsweise der Deutsche
Bildungsrat:
Als behindert im erziehungswissenschaftlichen Sinne gelten alle Kinder, Jugend-
lichen und Erwachsene, die in der sprachlichen Kommunikation oder in psychomo-
torischen Fähigkeiten so weit beeinträchtigt sind, dass ihre Teilhabe am Leben der
Gesellschaft wesentlich erschwert ist. (Deutscher Bildungsrat 1973, S. 13)
5.3
Klassifikation von Behinderung
Um sowohl dem medizinischen als auch dem sozialen Verständnis von Behinde-
rung gerecht zu werden, führte die Weltgesundheitsorganisation WHO 1980 ein
Klassifikationssystem ein, in dem drei Dimensionen von Behinderung unterschie-
den wurden: Impairment, Disability und Handicap (International Classification of
Impairments, Disabilities and Handicaps, ICIDH). Im Deutschen haben sich die
Bezeichnungen Schädigung, Einschränkung und Benachteiligung durchgesetzt.
Mit Impairment wurde eine Schädigung von biologischen und/oder psy-
chischen Strukturen und Funktionen des menschlichen Organismus benannt.
Impairments, also Schädigungen, können angeboren oder erworben sein. Ange-
borene Schädigungen können genetisch bedingt sein wie überzählige Chromo-
somen oder Gendefekte, oder sie entstehen vor oder während der Geburt. Zu
den häufigsten vorgeburtlichen Schädigungen zählen Alkohol- oder Rötelnem-
bryopathien, während der Geburt ist vor allem die Unterbrechung der Sauerstoff-
zufuhr zum Gehirn des Säuglings ein wichtiger Risikofaktor. Erworbene Schä-
digungen beruhen auf Unfällen oder den Folgen und Begleiterscheinungen von
chronischen Erkrankungen, z. B. von rheumatischen Erkrankungen, Tumoren
oder neuronalen Erkrankungen wie Morbus Parkinson oder Multipler Sklerose.
Klassifikation
ICF
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Teile
Teil 1: Teil 2:
Funktionsfähigkeit und Behinderung Kontextfaktoren
Komponenten
merkmale
Internationale
Abbildung2:2:
Abbildung InternationaleKlassifikation
Klassifikationder
derFunktionsfähigkeit, Behinderung und
Funktionsfähigkeit, Behinderung und
Gesundheit
Gesundheit (ICF).
(ICF).
sowie die Einstellungen, die sie dazu haben. Eingeteilt werden Umweltfaktoren
auf Ebene des Individuums und solche auf Ebene der Gesellschaft. Zu den
Umweltfaktoren seitens des Individuums gehören alle Faktoren der unmittel-
baren, persönlichen Umwelt wie der häusliche Bereich, der Arbeitsplatz und die
Schule, aber auch die physikalischen und materiellen Gegebenheiten der Umwelt,
persönliche Kontakte, die Familie, Freunde, Peers und Fremde. Der Ebene der
Gesellschaft werden die formellen und informellen sozialen Strukturen zuge-
rechnet, alle Organisationen und Dienste der Arbeitswelt, der Kommune, der
Behörden, des Kommunikations- und Verkehrswesens sowie informelle soziale
Netzwerke, außerdem Gesetze, Vorschriften, formelle und informelle Regeln,
Einstellungen und Weltanschauungen.
Die personenbezogenen Faktoren aufzuzählen sah sich die Kommission auf-
grund der Heterogenität der Menschen nicht in der Lage. Als zu ihnen gehörend
werden beispielhaft aufgezählt: «[…] Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Alter,
andere Gesundheitsprobleme, Fitness, Lebensstil, Gewohnheiten, Erziehung,
Bewältigungsstile, sozialer Hintergrund, Bildung und Ausbildung, Beruf sowie
vergangene oder gegenwärtige Erfahrungen, (vergangene oder gegenwärtige
Ereignisse), allgemeine Verhaltensmuster und Charakter, individuelles psychisches
Leistungsvermögen […]» (DIMDI 2004, S. 22). Sie alle können eine Rolle spielen,
wenn es darum geht, Behinderung bei einem Menschen festzustellen, denn:
Behinderung ist gekennzeichnet als das Ergebnis oder die Folge einer komplexen
Beziehung zwischen dem Gesundheitsproblem eines Menschen und seinen perso-
nenbezogenen Faktoren einerseits und der externen Faktoren, welche die Umstände
repräsentieren, unter denen Individuen leben, andererseits. (DIMDI 2004, S. 22)
Erstaunlich ist, dass in der ICF der Zeitfaktor keine Rolle spielt. In der Literatur so
wie in der Rechtsprechung gibt es ansonsten einen breiten Konsens darüber, dass
neben der geringen Aussicht auf eine vollständige Heilung die Langfristigkeit der
Beeinträchtigung ein wesentlicher Bestandteil von Behinderung ist. Doch die
ICF macht hierzu keine Aussage. Dabei liegt es doch gerade, wenn Behinderung
als das Ergebnis einer Interaktion verstanden wird, nahe anzunehmen, dass die
Dauer dieser Interaktion bedeutsam ist und somit Einfluss auf das Ausmaß der
Funktionsfähigkeit hat.
Die Zukunft wird zeigen, inwieweit sich diese Klassifikation, die von dem
Bemühen getragen ist, Behinderung als interaktives Geschehen zwischen einer
Schädigung, den gesellschaftlichen Möglichkeiten zur Teilhabe und dem indi-
Weiterführende Literatur
Grüber, K. & Graumann, S. (2003). Medizin, Ethik und Behinderung. Frankfurt: Mabuse-
Verlag.
Moser, V. & Sasse, A. (2008). Theorien der Behindertenpädagogik. München: Reinhardt.
6
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Jeder, der geboren wird, besitzt zwei Staatsbürgerschaften, eine im Reich der
Gesunden und eine im Reich der Kranken. (Susan Sontag 1978, S. 5)
Gesundheit ist ohne Krankheit nicht denkbar – und umgekehrt. Jede Definition
von Gesundheit und Krankheit schließt somit notwendig auch eine Annahme
darüber ein, wie sich Gesundheit und Krankheit zueinander verhalten. Dabei
sind drei Relationen möglich, die im Folgenden als dichotomes Konzept, bipo-
lares Konzept und orthogonales Konzept beschrieben werden. In den folgenden
Kapiteln zu Krankheits- und Gesundheitsmodellen wird deutlicher werden, dass
die Annahmen über das Verhältnis von Gesundheit und Krankheit zueinander
nicht lediglich akademisch sind, sondern dass sie sehr konkrete Auswirkungen
auf unseren Umgang mit Krankheit und auf das Versorgungssystem haben.
6.1
Dichotomes Konzept
Das dichotome Konzept (siehe Abb. 3) definiert Gesundheit und Krankheit als zwei
voneinander unabhängige Zustände, die sich gegenseitig ausschließen und nicht
gleichzeitig vorhanden sein können. Es liegt dem bio-medizinischen Krankheits
modell (vgl. Kap. 8.1.1) zu Grunde und hat entscheidende Auswirkungen auf die
Art der medizinischen Versorgung. Von weit reichender Bedeutung sind auch
seine sozial- und arbeitsrechtlichen Konsequenzen. Auf dem dichotomen Kon-
zept von Gesundheit und Krankheit basiert zum Beispiel der Akt der Krank-
schreibung: Wird ärztlicherseits eine Krankheit festgestellt, so gilt die betroffene
Person so lange als arbeitsunfähig, bis die Krankschreibung abgelaufen ist und
nicht verlängert wird. Eine explizite Gesundschreibung ist in unserem Versiche-
rungssystem nicht vorgesehen.
Person
Objektive Befunde
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Eindeutige
Symptome nein
vorhanden, Normwerte gesund
überschritten?
ja
krank
einen Vortrag hält, wie man die eigenen Argumente publikumswirksam vertritt
und wie man Menschen im Theater freundlich bittet, aufzustehen und ihnen Dan-
Bitte überlegen
keschön zu sagen.Sie, welche Konsequenzen das dichotome Konzept für Personen
mit chronischer Erkrankung hat.
Bitte überlegen Sie, welche Konsequenzen das dichotome Konzept für Per-
sonen mit chronischer Erkrankung hat.
6.2
Bipolares Konzept
6.2
Im Konzept (siehe Abb. 4) werden Gesundheit und Krankheit als Pole
bipolarenKonzept
Bipolares
eines Kontinuums gesehen, auf dem man sich mehr in die eine oder die andere
Im bipolaren
Richtung Konzept
bewegen kann.(siehe Abb. 4) werden Gesundheit
Kontinuumsmodellen undMenschen
zufolge sind Krankheit als Pole
nicht ent-
eines Kontinuums gesehen, auf dem man sich mehr in die eine oder die
weder gesund oder krank, sondern immer mehr oder weniger beides. Gesundheit andere
Richtung
und bewegen
Krankheit kann.
werden Sie werden
somit deshalb
als abhängige auch Kontinuumsmodelle
Faktoren konzipiert. genannt.
Diesen Modellen zufolge sind Menschen nicht entweder gesund oder krank, son-
Person
krank
gesund
Abbildung
Abbildung 4:4:Bipolares
BipolaresKonzept von Gesundheit
Konzept von Gesundheitund
undKrankheit.
Krankheit.
dern immer mehr oder weniger beides. Gesundheit und Krankheit werden somit
als abhängige Faktoren konzipiert.
Bipolare Modelle betrachten Gesundheit und Krankheit zumeist mehr
dimensional. Das bedeutet, dass die Position einer Person auf dem Kontinuum
nicht durch ein einzelnes Merkmal definiert wird, sondern durch Merkmale auf
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6.3
Orthogonale Konzepte
Ein Nachteil bipolarer Konzepte kann darin gesehen werden, dass sie Gesundheit
und Krankheit gleichsam als eine gemeinsame Menge auffassen, so dass ein Mehr
an dem einen automatisch ein Weniger am anderen bedeutet. Diesen Nachteil
wollen orthogonale Konzepte dadurch ausschließen, dass sie Gesundheit und
Krankheit als unabhängige Faktoren darstellen, wodurch gekennzeichnet wird,
dass Menschen sowohl gesunde als auch kranke Anteile haben, die gleichzeitig
vorhanden sein können.
Im «Unabhängigkeitsmodell» nach Lutz & Mark (1995) (siehe Abb. 5) werden
gesunderhaltende und krankmachende Faktoren einander gegenübergestellt.
Zu den gesunderhaltenden Faktoren zählen individuelle und gesellschaftliche
Ressour cen, entlastende Lebensbedingungen, Widerstandsquellen, positive
Lebensereignisse, individuelle Eigenschaften und Verhaltensweisen. Krankma-
chende Faktoren sind Noxen, Belastungen, schlechte Lebensbedingungen, kör-
perliche Einschränkungen usw. Der durch diese beiden Parameter aufgespannte
Quadrant wird durch die Diagonale in ein Feld für Gesundheit und eins für
Krankheit aufgeteilt. Je nachdem, wie viel Raum eine Person in dem einen oder
anderen Feld einnimmt, umso größer ist ihr Gesamtzustand durch Gesundheit
oder Krankheit bestimmt.
Orthogonale Modelle eignen sich auch gut, um das Ausmaß der Übereinstim
mung von objektiven und subjektiven Parametern von Gesundheit und Krank-
heit, also dem Befund und dem Befinden, zu verdeutlichen. Diese können
natürlich übereinstimmen: Jemand, der sich gesund fühlt, ist auch objektiv ohne
Befund. Bei einem sich krank fühlenden Menschen ist eine Krankheit nachweis-
bar. Diese Personen befinden sich in Abbildung 6 auf der Diagonalen.
Klassifikation
viele
gesund
Faktoren
Faktoren
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Gesunderhaltende
Gesunderhaltende
gesunder
Anteil
kranker Anteil krank
wenige
wenige viele
Krankmachende Faktoren
scheingesund/
funktionell gesund
wohlbefinden
gesund
ohne eindeutig/krank
Befund
Manche Menschen jedoch fühlen sich sehr krank, obwohl objektiv kein
Befund zu erheben ist. Dies kann an mangelnden diagnostischen Mitteln liegen.
Angesichts der heutigen diagnostischen Möglichkeiten handelt es sich jedoch
häufiger um Menschen mit einer somatoformen Störung. In Abbildung 6 befinden
sich diese Personen im oberen linken Quadranten.
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Und auch das Gegenteil kommt vor, dass eine Person sich subjektiv wohl fühlt,
aber nach medizinischen Kriterien eine Erkrankung hat. Dies kann bei sehr erns
ten Erkrankungen der Fall sein, die allerdings für die Betroffenen nicht spürbar
sind und die sie (noch) nicht in ihrem Leben einschränken – wie etwa Krebser-
krankungen in einem frühen Stadium, Bluthochdruck oder ein Aneurysma. Diese
Menschen sind nur scheinbar gesund; in Abbildung 6 werden sie «scheingesund»
genannt.
Es gibt jedoch eine große Gruppe von Menschen, bei denen abweichende
Befunde erhoben werden können, die sich aber dennoch als gesund erleben und
die in keiner Weise in ihrem Leben durch die Abweichungen funktionell einge-
schränkt sind. Deren Befund ergibt sich daraus, dass sich Expertengremien auf
Normen verständigt haben, deren Über- oder Unterschreiten als Krankheit gilt.
Je größer die Möglichkeiten werden, Abweichung zu diagnostizieren, desto mehr
schwinden die Möglichkeiten der Menschen, gesund zu sein. Im obigen Modell
werden diese Menschen als «funktionell gesund» bezeichnet – eine unzureichende
Bezeichnung, aber ich kenne keine bessere. Für diejenigen, die Normwerte nicht
zum letzten Maßstab für ihren Gesundheitszustand machen, sondern Mitsprache
fordern, gibt es in unseren Theorien, Kategoriensystemen und dem Gesund-
heitssystem keinen Begriff. Im Modell befinden sie sich in einer Gruppe mit den
scheinbar Gesunden – das ist sachlich richtig, inhaltlich und von ihrem inneren
Erleben her aber sind sie dort fehlplatziert.
7
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Stress
Bäder, Wein und Liebe zehren an unseren Kräften; doch wie belebend wirken Bäder,
Wein und die Liebe […]. (aus dem Regimen Salernitanum, vermutlich gegen Ende des
13. Jh.; zitiert nach Bergdolt 1999, S. 145)
Stress ist ein Begriff, der in den unterschiedlichsten Krankheits- und Gesund-
heitsmodellen eine Rolle spielt, dessen Verwendung aber keineswegs eindeutig
ist. Vor der Auseinandersetzung mit Gesundheits- und Krankheitsmodellen ist
es daher wichtig zu wissen, was der Begriff bedeutet und wie er in den diversen
Theorien verstanden wird. Deshalb ist dem Stresskonzept hier ein eigenes Kapitel
gewidmet.
Das Wort «Stress» geht auf das lateinische «stringere» zurück, was eng ziehen,
zusammenziehen bedeutet. Die Herkunft des Wortes und seine vorwissenschaft-
liche Verwendung sind nicht eindeutig: Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts wurde
es vor allem in den Ingenieurwissenschaften benutzt, um Beanspruchungen von
Maschinen zu beschreiben. Es gibt jedoch auch Hinweise, dass der Begriff bereits
im 17. und 18. Jahrhundert verwendet wurde, um die Hungersnöte und die soziale
Not zu kennzeichnen, die damals in England und den skandinavischen Ländern
herrschten.
Wann haben Sie in den letzten drei Tagen das Wort Stress benutzt?
Was hat Ihnen Stress gemacht?
So unterschiedlich die beiden historischen Wurzeln des Wortes Stress auch sein
mögen, sie haben doch etwas Gemeinsames: Beide verweisen auf Druck und
Anforderungen, und beiden liegt die Idee zu Grunde, dass Stress zu einer Schwä-
chung des Systems führen kann; sei das System nun – im Falle der Ingenieurwis-
senschaften – eine Maschine oder – im sozioökonomischen Sinne – ein Mensch.
Im Diskurs über Stress spielten damit immer zwei Aspekte eine Rolle: Zum einen,
dass die Lebensanforderungen Abnutzung und Verschleiß bedingen, zum anderen,
dass Maschine und Körper Energie brauchen, um funktionieren zu können.
Nehmen Sie einen kleinen Block, ihr Notebook oder sonst etwas zum
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Schreiben und notieren Sie in den nächsten drei Tagen, wann Sie das Wort
Stress selbst verwenden oder hören.
Heute ist kaum mehr vorstellbar, dass das Wort «Stress» erst vor weniger als 70 Jah-
ren in dem Sinne verwendet wurde, in dem es heute umgangssprachlich geläufig
ist: Stress als Anforderung im weitesten Sinne, als etwas, das unser Reagieren pro-
voziert, uns unter Druck setzt, hetzt, nervt. Im wissenschaftlichen Bereich wurde es
erstmalig in den Psychological Abstracts des Jahres 1944 verwendet. Seither hat es
sowohl im allgemeinen Sprachgebrauch als auch in der Forschung eine steile Kar-
riere gemacht: Stress ist zum Schlüsselkonzept in den Gesundheitswissenschaften
avanciert. Aber leider existiert auch nach mehr als 60 Jahren Forschung kein Kon-
sens über die Definition von Stress und die weitere Terminologie in diesem Feld.
Versucht man, die ausschweifende Diskussion über den Stressbegriff auf das
Wesentliche zu konzentrieren, so können drei große Gruppen von Definitionen
bzw. Verwendungen des Begriffs unterschieden werden:
• Stress als Reaktion auf eine Situation, ein Ereignis. In diesem Sinne wurde der
Begriff von dem Begründer der Stressforschung, Hans Selye, benutzt. (Witzig
ist, dass der in Österreich geborene Selye 1976 eingestand, er habe den Begriff
benutzt, weil er die englische Sprache nicht ausreichend gut beherrscht habe,
um zwischen «stress» und «strain» zu unterscheiden.)
• Stress als auslösende Situation für emotionale Reaktionen – etwa ein Examen,
eine schwer wiegende Diagnose, ein der gegnerischen Mannschaft zu Unrecht
gewährter Elfmeter. In diesem Sinne wird Stress vor allem in der Life-Event-
Forschung und im Rahmen persönlichkeitstheoretischer Ansätze verstanden.
• Stress im Sinne eines Prozesses, der immer dann einsetzt, wenn eine Person
mit Anforderungen konfrontiert ist, auf die der Organismus nicht spontan
reagieren kann, die seine unmittelbar verfügbaren Ressourcen übersteigen.
Dieser interaktive Stressbegriff wurde vor allem von Richard S. Lazarus und
seiner Forschungsgruppe vertreten.
Sowohl der Elastizität des Stressbegriffs als auch der Komplexität des Konzepts
ist es zuzuschreiben, dass sich unter dem Dach der Stressforschung sehr unter-
7.1
Stress als Reaktion
Stress als Antwort des Organismus auf alles, was ihn aktiviert und eine emotio-
nale Reaktion hervorruft, wurde vor allem von Hans Selye erforscht, der als Vater
der modernen Stressforschung gilt.
Hans Selye wurde 1907 in Wien als Sohn eines wohlhabenden Chirurgen
geboren. Nach seinem Medizinstudium in Prag, Rom und Paris erhielt er ein
Rockefeller-Forschungsstipendium und ging an die Johns-Hopkins-Univer-
sität in Baltimore. 1932 übernahm er eine Assistenzprofessur für Histologie
an der McGill-Universität in Montreal, 1945 wurde er Direktor des Instituts
für experimentelle Medizin und Chirurgie an der Universität Montreal, wo
er in dieser Position bis zu seiner Emeritierung 1976 blieb. Er schrieb über 30
Bücher und mehr als 1500 Artikel. Er starb 1982 in Montreal.
Gruppe von Symptomen gemeinsam haben. Warum, so fragte sich Selye, haben all
diese Personen, die an so unterschiedlichen Erkrankungen leiden, so viele gemein-
same Symptome? Ist nicht die wichtigste Gemeinsamkeit, dass sie sich einfach
krank fühlen? Und ist dieses Allgemeine, Gemeinsame, nicht vielleicht wichtiger
als das Spezifische der jeweiligen Krankheit? Diese Beobachtung des unspezifischen
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Der Stressor löst zunächst eine Alarmreaktion aus, die aus einem Initialschock mit
verringerter Widerstandskraft besteht. Auf der Verhaltensebene besteht erhöhte
Aufmerksamkeit gegenüber Veränderungen in der Umgebung. In Extremfällen,
wenn der Stressor zu starke Reaktionen auslöst, kann es in dieser ersten Phase
zum Tod kommen.
Normalerweise jedoch versucht sich der Körper durch Veränderung wichtiger –
insbesondere endokrinologischer – Körperfunktionen an anhaltende Stressbedin-
gungen anzupassen, wodurch sich die Widerstandskraft gegenüber dem Stressor
wieder erhöht. Diese Phase wird demnach als Widerstands- bzw. Resistenzphase
bezeichnet.
Aber der Körper ist nicht unbegrenzt belastbar bzw. anpassungsfähig. Lässt
der Stress nicht nach einer gewissen Zeit nach, so kommt es zu Erschöpfung und
damit zu einem Zusammenbruch von Widerstand und Anpassung. In dieser
Phase treten wieder die Symptome der anfänglichen Alarmreaktion auf – jedoch
mit dem Unterschied, dass der Körper nicht mehr reagieren kann und Ausfalls-
erscheinungen zeigt (Selye 1956/1976).
Alarmreaktion
• Vergrößerung des adrenalen Kortex
• Aktivierung des lymphatischen Systems
• Intensivierung der Hormonausschüttung, insbesondere von Adrenalin
Widerstand/Resistenz
• Schrumpfen des adrenalen Kortex
• Rückkehr der Lymphknoten zu ihrer ursprünglichen Größe
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Erschöpfung
• Vergrößerung oder Dysfunktionalität der lymphatischen Strukturen
• Weitere Intensivierung von Hormonausschüttung oder Aufrechterhalten
der erhöhten Hormonspiegel
• Erschöpfung der adaptiven Hormone
Selyes Forschung basiert auf zwei grundlegenden Ideen – dem Modell der
Körpermaschine und der Annahme der Homöostase. Das AAS beschreibt eine
Anpassungsleistung des Menschen, die ihm seit archaischen Zeiten das Überle-
ben gesichert hat: In Bedrohungssituationen aktiviert der Körper alle Energien,
die ihm ermöglichen, Gefahren zu begegnen – sei es durch Angriff oder durch
Flucht. Doch die adaptive Energie des Körpers ist endlich. Wenn die Anforde-
rungen an den Körper dessen Adaptationsfähigkeit überfordern, kann er letzt-
lich nicht mehr in der Lage sein, die Homöostase wiederherzustellen, er wird
krank. Gesundheit liegt vor, wenn der Körper die Homöostase durch permanente
Anpassungsleistungen aufrechterhalten kann, Krankheit tritt ein, wenn ein
Erreger oder eine sonstige Bedingung den dynamischen Status der Homöostase,
von dem die Integrität des Organismus abhängt, zu zerstören beginnt. In diesem
Sinne können alle Krankheiten als Störungen der Adaptation verstanden werden.
renrinden (siehe Abb. 7). Innerhalb kürzester Zeit wird der Organismus darauf
vorbereitet, eine mögliche Gefahr zu bekämpfen oder sich ihr durch Flucht
zu entziehen, indem all die Funktionen angeregt werden, die für Kampf oder
schnelles Entweichen notwendig sind. All die Körperfunktionen hingegen, die
eher der Regeneration oder Reproduktion dienen – also Verdauung, Sexualität,
Wachstum –, werden gehemmt.
Selyes biologisch-physiologische Stressforschung wurde von stärker psycho-
logisch orientierten Forscherinnen und Forschern weitergeführt. Sie ergänzten
die Stressforschung um die Analyse der Beziehung zwischen dem Nervensystem
und dem Immunsystem und entwickelten so das Feld der Psychoneuroimmu-
nologie. Die zentrale Frage psychoneuroimmunologischer Forschung ist, ob die
Vulnerabilität für Erkrankungen erhöht ist, wenn das Immunsystem geschwächt
ist, und ob und inwiefern Stress das Immunsystem schwächen kann. Die bisher
gefundenen Antworten sind keineswegs eindeutig, wenngleich man vorsichtig
eine positive Beziehung zwischen geschwächtem Immunsystem und erhöhtem
Krankheitsrisiko bejahen kann. Das Risiko ist insbesondere erhöht, wenn der
Stress lang andauernd ist. Während phasische Aktivierung durchaus leistungs-
steigernd wirken kann und als lustvoll und motivierend erlebt wird, führt lang
andauernde physische und psychosoziale Belastung zu einem Nachlassen der
Anpassungsfähigkeit des Körpers und zu einer immunologischen Schwächung.
In Metaanalysen konnte ein solcher Zusammenhang vor allem bei Anwendung
objektiver Stressmaße – zum Beispiel von relevanten Lebensereignissen wie
Umzug, Kündigung oder Tod der Partnerin – festgestellt werden, weniger dann,
wenn die Befragten ihr Stressniveau subjektiv bewerteten (Segerstrom & Miller
2004).
Die rasche Popularität, die die Psychoneuroimmunologie erreichen konnte,
ist vermutlich der Tatsache geschuldet, dass diese neue Disziplin den objektiven
Beweis anzutreten verspricht, dass unsere Persönlichkeit und unsere Emotionen
Einfluss auf die Gesundheit haben – eine Überzeugung, die Psychologinnen,
Soziologen und alle nicht dem biomedizinischen Krankheitsmodell verhafteten
Medizinerinnen und Mediziner schon immer hatten. Psychoneuroimmunologie
erweist sich somit als Hoffnungsträger, die naturwissenschaftlich orientierte
Medizin gleichsam mit den eigenen Mitteln zu schlagen.
Stressor
Limbisches System
Hypothalamus
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CRH/ADH
Sympathisches
Nervensystem
Hypophyse
ACTH
Nebennierenrinde
Nebennierenmark
CRH – Corticotropin-Releasinghormone
ADH – Antidiuretisches Hormon
ACTH – Adrenocorticotropes Hormon
Abbildung
Abbildung 7: Die
7: Die zweizwei Achsen
Achsen derder körperlichenStressreaktion.
körperlichen Stressreaktion.
usw. Und schließlich gehören auch noch all die Ansätze in die Kategorie «Stress als
Auslöser», die die relevanten Stressoren in der Persönlichkeit von Menschen oder
in ihren (gelernten) Verhaltensweisen sehen.
Im Folgenden werden zwei Ansätze der Stressforschung vorgestellt, die sich
vor allem auf die auslösende Situation konzentrieren: Die Life-event-Forschung
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7.2.1
Life-event-Forschung
Lebensereignisse sind im Rahmen der Stressforschung unter der Fragestellung
interessant, ob – und wenn ja, wie – sie gesundheitliche Veränderungen bedingen.
Der im Deutschen gebräuchliche Begriff «kritische Lebensereignisse» zeigt, dass es
sich dabei vor allem um größere Lebensveränderungen wie Umzug, Geburt eines
Kindes, Kündigung oder neuer Job, Heirat, Scheidung, Konkurs oder Lottogewinn
handelt. Es sollte sich um ein auch von außen erkennbares Ereignis handeln, nicht
um etwas primär subjektiv Erlebtes. Angenommen wird, dass Ereignisse, wie die
oben beschriebenen, Adaptation erfordern, und dass alle Ereignisse im Leben eines
Menschen, die eine solche Anpassung erfordern, die Gesundheit beeinflussen und
Krankheit auslösen können. Da die Ereignisse nicht automatisch bzw. reflexhaft
«abgehakt» werden, lösen sie eine emotionale Erregung aus, die Veränderungen in
physiologischen Prozessen bedingt und schließlich zu Erkrankungen führen kann.
Protagonisten der Life-event-Forschung waren Holmes und Rahe, die 1967
ein Messinstrument zur Erfassung von Lebensereignissen (Social Readjustment
Rating Scale) entwickelten, dessen Summenwert sie in direkte Verbindung mit
dem Risiko für bestimmte Erkrankungen brachten. Unter der Annahme, dass
das Wesentliche an einem Lebensereignis ist, dass es etwas im Leben verändert
und Anpassung erfordert, und nicht, ob es als positiv oder negativ bewertet
wird, ließen sie zur Entwicklung der Skala ausgehend von dem Referenzereignis
«Heirat» mehr als 5000 Personen unterschiedliche Lebensereignisse daraufhin
beurteilen, ob sie ein Ereignis darstellten, das Anpassung erforderte. Insgesamt
43 Lebensereignisse wurden von den befragten Personen daraufhin bewertet, wie
viel Anpassung sie erforderten. Aus den Antworten wurde dann für jede Person
ein Lebensveränderungsindex (Life Change Unit - LCU) berechnet; der höchst-
mögliche Summenwert ist 300. Tabelle 3 zeigt einige Items aus der Skala.
Holmes und Rahe zufolge sind Personen, deren Lebensveränderungs-Score im
Laufe eines Jahres 150 Scorepunkte oder mehr umfasst, in einer Lebenskrise
und gefährdet zu erkranken. In verschiedenen empirischen Studien konnten sie
Zusammenhänge zwischen dem Ausmaß der Lebenskrise und dem Risiko für
plötzlichen Herztod nachweisen.
Tabelle 3: Auszug aus der Social Readjustment Scale (Holmes & Rahe 1967).
4 Gefängnisstrafe 63
6 Krankheit oder Verletzung 53
7 Heirat 50
8 Kündigung der Arbeitsstelle 47
12 Schwangerschaft 40
13 Sexuelle Schwierigkeiten 39
26 Ehefrau beginnt einen Job oder hört auf 26
35 Veränderung in kirchlichen Gemeindeaktivitäten 19
40 Veränderung der Essgewohnheiten 15
42 Weihnachten 12
43 Kleine Gesetzesübertretungen 11
Holmes’ und Rahes Forschung wurde sowohl wegen methodischer Mängel als
auch wegen der ungeklärten theoretischen Basis angegriffen. Auch konnten spä-
tere – vor allem prospektive – Studien die prognostizierten Zusammenhänge
zwischen lebensveränderndem Ereignis und verschiedenen Erkrankungen nicht
eindeutig bestätigen.
Die Methodenkritik machte sich vor allem am Messinstrument fest. Einige
Items zum Beispiel lassen sehr viel Raum für Interpretation: Was sind kleine Geset-
zesübertretungen? Falschparken etwa, Schwarzfahren oder Falschangaben bei
der Einkommenssteuererklärung? Andere Items sind untauglich zur Erfassung
von Auslösern für gesundheitliche Beeinträchtigungen, weil sie die Folge einer
gesundheitlichen Beeinträchtigung sein können; dies gilt etwa für das Item der
veränderten Essgewohnheiten. Und auch, dass die Ereignisse je nach Geschlecht
unterschiedliche Anpassungsleistungen erfordern, berücksichtigen die Items
nicht – am Beispiel der Schwangerschaft müsste dies auch denen einleuchten, die
bar jeder Sensibilität für die Unterschiedlichkeit von Frau und Mann sind.
In der Folgezeit wurden diverse andere Ereignislisten konstruiert, die jedoch die
grundsätzlichen methodischen Probleme dieses Instruments nicht lösen konnten.
Die Prämisse, dass Lebensereignisse für alle Menschen die gleiche Relevanz
haben, bedeutet eine vollständige Ignoranz gegenüber den unterschiedlichen
Lebenslagen. Denn völlig unabhängig von dem emotionalen Leid, das der Tod
des Ehemanns bedeutet, macht es einen Unterschied, ob die Witwe anschließend
mit einer guten Pension und auf der Basis von zwei hohen Lebensversicherungen
lebt oder ob sie und ihre drei Kinder den Alleinverdiener der Familie verloren
haben. Beide Ereignisse mit einem Score von 100 zu belegen, ist Zynismus, nicht
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wissenschaftliche Objektivität.
Da Ereignislisten sich auf einen recht langen zurückliegenden Zeitraum
beziehen – in der Regel auf ein Jahr – unterliegen sie in Abhängigkeit von der
Person und ihren Bewältigungsmöglichkeiten, ihren Lebensumständen und den
Konsequenzen des Ereignisses zahlreichen Erinnerungsfehlern. Als alternatives
Verfahren wurden vor allem Interviews angewandt; diese sind jedoch in Durch-
führung und Auswertung sehr zeitintensiv und als retrospektive Methode eben-
falls ungeeignet, Stressbelastungen zu erfassen.
Die Annahme, es sei weniger ausschlaggebend, ob das Ereignis als positiv
oder negativ bewertet wird, sondern es komme darauf an, ob das Ereignis etwas
im Leben verändert und Anpassung erfordert, wurde seit Beginn der Life-event-
Forschung angezweifelt. In der Tat konnten die von Holmes & Rahe gezeigten
Zusammenhänge zwischen dem Ausmaß der Lebensveränderung und dem
Eintreten von Krankheiten nicht bestätigt werden. Es scheint sogar eher so zu
sein, dass positive Ereignisse die Funktion eines Stresspuffers angesichts nega-
tiver Ereignisse übernehmen können, dass also zum Beispiel die Freude an einer
neuen Wohnung den Schmerz über die Trennung vom Partner, die Anlass für
den Umzug war, schneller bewältigen lässt.
Und last but not least erweist es sich als weiteres entscheidendes metho-
disches Problem der Ereignislisten, dass sie die wichtigen «Nicht-Ereignisse» im
Leben von Menschen nicht berücksichtigen: Die ersehnte, aber nicht eingetre-
tene Schwangerschaft; die erhoffte, aber ausgebliebene Beförderung; die nicht
fertiggebrachte Promotion; Ereignisse, deren Nichteintreten für die Betrof-
fenen einen erheblichen – oft chronischen – Stress bedeuten.
Besonders heftig wurde der Life-event-Ansatz von der Gruppe um Richard S.
Lazarus (vgl. Kap. 7.3) angegriffen. Diese Forscherinnen und Forscher stellten
die Grundannahme in Frage, dass es personenunabhängige, objektivierbare
Lebensereignisse gibt, die für alle Menschen gleichermaßen Stress auslösen. Ein
Lebensereignis könne, so ihre Kritik, immer nur in dem Maße als Stress wirken,
in dem es subjektiv von der Person als stressreich erlebt werde. Je nach Person
und ihren persönlichen Bewältigungsfähigkeiten könne ein Lebensereignis somit
für unterschiedliche Personen völlig Unterschiedliches bedeuten.
Aus diesem Grunde sei auch die Annahme unsinnig, nur die «großen» Lebens-
ereignisse hätten Relevanz für Gesundheit und Krankheit. Es seien vielmehr die
kleinen täglichen Widrigkeiten, die «daily hassles», die Menschen belasteten,
(vgl. Kap. 12): Wir bringen den Brustkrebs einer Frau damit in Verbindung, dass
ihr Mann sie ein halbes Jahr vor der Diagnosestellung verlassen hat, erklären
das schnelle Grauwerden der Haare einer jungen Mutter mit dem schweren Ver-
kehrsunfall ihres Kindes, das seither gelähmt ist, und führen den Schlaganfall
eines Rentners darauf zurück, dass seine Frau vor vier Monaten verstorben ist.
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In entsprechenden Befragungen zeigte sich, dass etwa die Hälfte der Befragten
bestimmte Erkrankungen mit dem Auftreten von Life-events in Zusammenhang
bringen – Professionelle im Gesundheitssystem und Laien unterscheiden sich
diesbezüglich nicht.
7.2.2
Persönlichkeits- und verhaltenstheoretische Ansätze
Den persönlichkeits- und verhaltenstheoretisch orientierten Ansätzen der Stress-
forschung liegt die Annahme zu Grunde, dass es überdauernde Persönlichkeits-
züge oder Verhaltensweisen gibt, die den Umgang mit Stress beeinflussen und auf
diesem Wege Einfluss auf die Krankheitsentstehung haben.
Das bekannteste Konzept dieser Richtung ist das «Typ-A-Verhaltensmuster»,
das aus klinischen Beobachtungen an Patienten mit Herzerkrankungen resultiert.
Diesen Beobachtungen zufolge zeichnen sich Personen mit Herzerkrankungen,
insbesondere Herzinfarkt, häufig durch überhöhten Ehrgeiz, verbissenes Arbeits-
verhalten, permanenten Zeitdruck und Ungeduld aus, sie sind ständig in Kampf-
bereitschaft und auf der Überholspur. Diesem charakteristischen Muster von
Verhalten und emotionalen Reaktionen gaben Friedman und Rosenman (1959)
den Namen «Typ-A-Verhalten», und sie lösten eine rege Forschungstätigkeit aus,
die Zusammenhänge zwischen diesem Persönlichkeits- und Reaktionsmuster
und Herzerkrankungen untersuchte. Wenn sich auch die Zusammenhänge im
Großen und Ganzen in den meisten Studien bestätigen ließen, so zeigte sich doch,
dass das Ausmaß der gefundenen Abhängigkeit erheblich davon abhing, wie
Typ-A-Verhalten konkret definiert und mit welchen Methoden es erfasst wurde.
Nach heutigem Wissensstand steht vor allem das Vorhandensein von negativen,
feindlichen Emotionen mit dem Auftreten von Herzerkrankungen in Verbindung.
Unbefriedigend ist sicherlich, dass – selbst wenn sich ein Zusammenhang mit Cha-
rakteristika der Typ-A-Persönlichkeit noch deutlicher nachweisen ließe – immer
noch nicht klar ist, in welcher Weise gerade dieses Verhaltensmuster die riskanten
körperlichen Reaktionen auslöst und noch weniger, unter welchen Bedingungen
eine Person gerade dieses Verhalten erlernt und aufrechterhält, obwohl es ihrer
Gesundheit schadet.
Doch es wurde in der Stressforschung nicht nur nach Persönlichkeits- und
Verhaltensvariablen gesucht, die mit dem Auftreten von Krankheiten in Ver-
bindung stehen, sondern auch nach solchen, die Menschen besonders stressre-
sistent machen und die die Gesundheit fördern. Auf eines dieser Konzepte, das
Konstrukt des Kohärenzgefühls nach Antonovsky, wird in Kapitel 9.1.2 näher
eingegangen. Als weitere wichtige Variablen werden Persönlichkeitsvariablen
wie Optimismus, Widerstandsfähigkeit, Selbstwertgefühl und internale Kon-
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trollüberzeugung, also die Überzeugung, Kontrolle über sein Leben und seine
Handlungen zu haben, diskutiert und untersucht (Rice 1999).
7.3
Stress als Interaktion
Die entscheidenden Impulse, Stress als interaktiven Prozess zu untersuchen,
gingen von Richard S. Lazarus und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in
Berkeley aus. In Lazarus’ Verständnis ist Stress «[…] not just an environmental
stimulus or a response, but a troubled relationship between a person and the envi-
ronment» (1998, S. 168).
man sich schwer vorstellen kann, wie die Menschen vor 1950 ohne den Begriff
Stress ausgekommen sind, ist heute auch kaum mehr vorstellbar, dass der Begriff
«Coping» erst 1967 zum ersten Mal offiziell als Fachterminus auftauchte, und zwar
in den Psychological Abstracts (Snyder & Dinoff 1999). In seiner Autobiographie
(1998) beansprucht Lazarus die Begriffsprägung für sich – wobei er allerdings
mit feiner Ironie darauf verweist, dass sich die hinter diesem Konzept stehende
moderne Idee bis etwa 1400 vor Christus zurückverfolgen lasse. Offensichtlich
machte es Lazarus Spaß, sich über psychologische Richtungen zu mokieren, die
sich aus einem der «Objektivität» verpflichteten Wissenschaftsverständnis einem
nomothetischen und behavioralen Ansatz verschrieben haben. In seiner Autobi-
ographie wird deutlich, dass er sich hiermit Genugtuung gegenüber berühmten
Kollegen in Berkeley verschafft, denen als naturwissenschaftlichen Psychologen
leichter die wissenschaftliche Anerkennung zufiel, die ihm als klinisch orien-
tiertem Psychologen im akademischen Kontext nur schwer zugebilligt wurde.
Lazarus’ Arbeit und die seiner Kolleginnen und Kollegen konzentrierte sich
auf drei Phänomene: Stress, Appraisal und Coping. Diese Begriffe haben sich
auch im Deutschen weitgehend eingebürgert; die deutsche Übersetzung für App-
raisal ist «kognitive Bewertung», für Coping «Bewältigung». Appraisal, Stress
und Coping sind untrennbar miteinander verwobenen, Stress existiert nicht per
se. Stress ist nur das, was von einer Person als solcher bewertet wird, und auch
nur dann kommt es zur Notwendigkeit des Coping. Stress ist relational: Er ist
durch die Beziehung zwischen Mensch und Umwelt gekennzeichnet und nicht
durch ein typisches Reaktionsmuster oder durch bestimmte Situationsbedin-
gungen. Um die gegenseitigen Beeinflussungen von Stressoren und Reaktionen
zu kennzeichnen, wird das Modell der Stressverarbeitung transaktional genannt.
Wie er Stress versteht, definierte Lazarus mit seiner Mitarbeiterin Susan Folk-
man in einer geradezu berühmt gewordenen Definition:
Psychologischer Stress bezieht sich auf eine Beziehung mit der Umwelt, die vom
Individuum im Hinblick auf sein Wohlergehen als bedeutsam bewertet wird, aber
zugleich Anforderungen an das Individuum stellt, die dessen Bewältigungsmöglich-
keiten beanspruchen oder überfordern. (Lazarus & Folkman 1984, S. 63; Überset-
zung A.F.)
Nach dieser Definition kann somit jede Situation einen Stressor darstellen, wenn
die mit der Situation konfrontierte Person die Situation in irgendeiner Weise als
herausfordernd erlebt und nicht unmittelbar weiß, wie sie mit ihr umgehen soll.
Die Unsicherheit über die möglichen Bewältigungsmöglichkeiten ist somit ein
entscheidendes Kriterium dafür, ob ein Reiz oder eine Situation als Stressor erlebt
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In der ersten Phase der Auseinandersetzung mit einem Stressor, der Phase des
primary Appraisal, überprüft die Person den Reiz, mit dem sie konfrontiert
wird, im Hinblick auf ihr Wohlergehen. Hierbei sind drei Bewertungen möglich.
Der Reiz kann (1) irrelevant für die Person sein, er kann (2) als positiv bewertet
werden oder aber (3) als einer, der die unmittelbaren Bewältigungsmöglichkeiten
überfordert, das heißt als stresshaft. Relevant für den weiteren Coping-Prozess ist
nur eine Bewertung des Reizes als stresshaft – irrelevante Reize werden ignoriert,
als positiv bewertete spielen in Lazarus’ Modell keine weitere Rolle. In seinen
jüngsten Publikationen (Lazarus 2001) fügt er noch als vierte mögliche Bewer-
tungskategorie «benefit» hinzu, also die Bewertung des Reizes als möglicherweise
etwas Gutes verheißend. Diese Kategorie spielt aber hinsichtlich des weiteren
Coping-Prozesses ebenfalls keine Rolle.
Wird der Reiz als stresshaft eingeschätzt, so wird – ebenfalls noch im primary
Appraisal – des Weiteren eingeschätzt, ob (1) bereits ein Schaden oder Verlust
eingetreten ist, ob (2) eine Beeinträchtigung droht oder ob es sich (3) um eine
positive Herausforderung handelt, das heißt um eine Auseinandersetzung oder
Anstrengung, die zwar stresshaft ist, aber für die Person interessant oder mög-
licherweise lohnend. Im Englischen wird diese Art der attraktiven Herausforde-
rung als «challenge» bezeichnet – ein Begriff, für den eine adäquate Entsprechung
im Deutschen leider fehlt.
Hat die Person nun im Rahmen des primary Appraisal festgestellt, welche
Relevanz und welche Konsequenzen der Reiz für sie haben könnte, so kommt
es in der Phase des secondary Appraisal zu einer Abschätzung der Ressourcen,
die ihr zur Bewältigung zur Verfügung stehen. In der zweiten Bewertungsphase
überprüft die Person somit, inwieweit sie Möglichkeiten und Fähigkeiten hat,
sich dem von ihr als Stressor definierten Reiz zu stellen.
Diese beiden Prozesse folgen nicht strikt zeitlich aufeinander, sondern sie beein-
flussen sich gegenseitig und können sich auch zeitlich überlappen. Und natürlich
kann es im Verlauf dieses Prozesses auch zu Neubewertungen kommen: So kann
sich bei Überprüfung der Ressourcen in der zweiten Bewertungsstufe durchaus
herausstellen, dass ein Stressor, der zunächst auf drohenden Verlust hinwies,
angesichts der als positiv eingeschätzten Möglichkeiten, mit ihm umzugehen,
als Herausforderung, als Challenge, definiert werden kann. Andererseits kann
sich eine zunächst als Herausforderung bewertete Situation bei Überprüfung der
Bewältigungsmöglichkeiten durchaus als größeres Hindernis erweisen und eine
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Hat die Person die Bedeutung des Reizes und ihre Bewältigungsmöglichkeiten
abgeklärt, kommt es zur eigentlichen Bewältigungsphase, dem Coping. In der
Literatur, insbesondere der deutschen Literatur, hat sich eingebürgert, vom
Coping-Prozess zu sprechen, wenn eigentlich der zweiphasige Gesamtprozess
von Appraisal und Coping gemeint ist. Lazarus und Folkman jedoch unterschei-
den sehr deutlich zwischen diesen beiden Prozessen und definieren Coping als
[…] die sich dauernd verändernden kognitiven und verhaltensmäßigen Anstren-
gungen, spezifische externale und/oder internale Anforderungen zu bewältigen
(manage), die von der Person so eingeschätzt werden, dass sie ihre Ressourcen
beanspruchen oder übersteigen. (Lazarus & Folkman 1984, S. 141; Übersetzung A.F.)
Dieser Prozess des Coping, also die kognitiven und verhaltensmäßigen Anstren-
gungen, mit dem Stressor umzugehen – anders formuliert: Der Prozess des
Managements mit den Anforderungen, die als die eigenen Ressourcen beanspru-
chend oder übersteigend bewertet wurden –, folgt somit als Phase zwei den zwei
Phasen des Appraisal. Und wiederum wird zwischen zwei Arten unterschieden:
Dem problembezogenen, instrumentellen Coping und dem emotionsbezogenen
Coping. Emotionsbezogenes Coping ist primär darauf ausgerichtet, mit den eige-
nen Gefühlen in der Situation klar zu kommen. Dem instrumentellen Coping
werden all die Anstrengungen zugeordnet, die auf eine Veränderung der Situa-
tion abzielen.
Situation/Reiz
Dimensionen: Intensität, Dauer, Ambiguität
Vorhersagbarkeit, Kontrollbarkeit
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Kognitive Bewertung
Primäre Bewertung
positiv irrelevant
Reiz ist:
Appraisal
Stresshaft
Copingprozes
Überzeugungen
Person
Sekundäre Bewertung
nein nein
ja
Bewältigung
Coping
Instrumentelles Emotionales
Coping Coping
Abbildung8:8:Transaktionales
Abbildung TransaktionalesStressmodell
Stressmodellnach
nach R.
R.S.S.Lazarus.
Lazarus.
dann wird die Miete erhöht – und wenn dann auch noch im Winter die Heizung
ausfällt, kommt es zu Wohnungskündigung und Umzug. Und ebenso ziehen
große Veränderungen kleine Widrigkeiten nach sich: Die Witwe muss nicht nur
den Tod ihres Mannes verarbeiten, sondern auch, dass sie als Alleinstehende
nicht mehr zum Sommerfest des Ruderclubs eingeladen wird, dass sie im Restau-
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rant an einem kleinen Ecktisch platziert wird und dass sie sich jetzt allein um
Bankangelegenheiten und Steuern kümmern muss.
Andere Versuche, Stressoren zu kategorisieren, unterscheiden nach der Dauer
der Stressoren – akut oder chronisch – oder nach den Lebensbereichen, in denen
sie primär auftreten wie Familie, Arbeitsplatz, Wohnumfeld. Auch Stressoren,
die im Umgang mit Krankheiten, der Krankenversorgung und medizinischen
Maßnahmen eine Rolle spielen, haben gesonderte Aufmerksamkeit erfahren.
Dimensionen wie die Intensität des Reizes, die Eindeutigkeit einer Situation und
ihre Kontrollierbarkeit, ob sie bekannt ist oder eine Person vor eine gänzlich
neue, unvorhergesehene Situation stellt, dies alles sind Variablen, die überprüft
wurden und die den Forschungsergebnissen entsprechend mit darüber entschei-
den können, ob ein Reiz oder eine Situation einen Stressor darstellen oder nicht.
Letztlich kann man als Ergebnis festhalten, dass jedes Ereignis und jeder Reiz
Stressor sein kann – oder eben auch nicht, je nachdem, ob er von einer Person als
solcher bewertet wird – oder eben nicht.
Viel forscherische Energie ist auch darein geflossen, Coping-Strategien und
ihre Angemessenheit im Hinblick auf die Problemlösung zu untersuchen. Dem
instrumentellen, problembezogenen Coping werden u. a. problemorientiertes
Handeln, konfrontative Auseinandersetzung und das Einholen von Informatio-
nen und von sozialer Unterstützung zugeordnet, während das emotionsbezogene
Coping häufig als defensive Strategie bewertet und daher auch als palliatives
Coping bezeichnet wird – es lindert den Schmerz, hilft aber nicht, das Problem zu
lösen. Insgesamt suggeriert die Einteilung, es könne zwei unterscheidbare Strate-
gien geben: Eine, die geeignet ist, das Problem zu lösen, die andere, die allenfalls
dazu taugt, die eigenen negativen Gefühle zu verändern.
Doch die Trennung zwischen emotionalem und instrumentellem Coping,
die Lazarus und Folkman im Zuge der Entwicklung eines Fragebogens (Ways-
of-Coping-Checklist, WOCCL) auf Basis einer Faktorenanalyse vornahmen,
ließ sich in Nachfolgestudien nicht so eindeutig replizieren. Und auch in der
Praxis ist sie keineswegs so klar, wie es auf den ersten Blick scheinen mag: Der
Wutausbruch einer überforderten Mutter von drei Teenagern mag dem emoti-
onalen Dampfablassen dienen, er kann aber auch der Auslöser dafür sein, dass
der Ehemann endlich die Garage aufräumt und der Sohn sein Zimmer, dass
eine Tochter die Blumen gießt und die andere ihre Haare aus dem Waschbecken
wischt.
Das emotionale Coping kann somit sehr wohl problemlösend sein. Auch wenn
eine Person in einer für sie schwierigen Situation weint, so ist das zunächst ein-
mal die Äußerung von Unwohlsein. Man kann es als hilflos-emotionale Reaktion
auffassen und könnte dann untersuchen, welches Coping-Verhalten geeignet sein
kann, Weinen zu verhindern. Man kann Weinen aber auch selbst als Coping auf-
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fassen. Weinen bringt Erleichterung und reduziert Anspannung und kann in die-
sem Sinne als emotionsgerichtete Coping-Strategie verstanden werden, weil sie das
Unwohlsein auflöst. Und es gibt auch ausreichend Hinweise darauf, dass Weinen
erhebliche Auswirkungen auf das Verhalten anderer Menschen hat: Es löst Hilfe
aus und stoppt gegen die Person gerichtetes aggressives Verhalten. So betrachtet
kann Weinen durchaus auch als problemorientierte, instrumentelle Coping-
Strategie betrachtet werden. Und bei anhaltendem Streit mit dem Partner einfach
alleine in Urlaub zu fahren, sich abzulenken und neue Leute kennen zu lernen,
kann – obwohl der Coping-Kategorie «Fluchtverhalten» zuzuordnen – durchaus
erfolgreicher sein als ein erneutes zermürbendes Beziehungsgespräch zu führen.
Die Zuordnung von Coping-Strategien zu Funktionen mag somit forschungsme-
thodisch wünschenswert sein, sie lässt sich jedoch in der Praxis nicht aufrecht-
erhalten. Bei näherer Betrachtung zeigt sich vielmehr, dass nahezu alle Verhal-
tensweisen beiden Funktionen dienen und allenfalls eine Gewichtung (häufig in
zeitlicher Variation) zwischen Emotions- und Situationsregulation möglich ist.
Der Versuch, Coping-Strategien zu finden, die besonders geeignet sind, war
letztlich erfolglos. Wichtiger, als die eine gute Coping-Strategie zu suchen, ist es
offenbar, viele verschiedene Bewältigungsfertigkeiten zu haben, die je nach Situ-
ation flexibel einsetzbar sind – manchmal empfiehlt sich Schweigen, manchmal
Reden, mancher Stress erledigt sich mit Humor, anderer durch konzentriertes
Arbeiten und wieder anderer durch Ausschlafen.
In seinen letzten Publikationen fasst Lazarus (1999, 2001) die wesentlichsten
Ergebnisse seiner Forschung wie folgt zusammen:
Angesichts der immensen Zahl von Forschungsarbeiten, die über Stress und
seine Bewältigung geschrieben worden sind, wirkt die Drei-Punkte-Zusammen-
fassung etwas mager. Aber ohne Frage ist sie die Essenz des Wissens über Stress
und Coping.
7.4
Stress und Gesundheit und Krankheit
Daran, dass Stress mit Gesundheit und Krankheit in Verbindung steht, gibt es
wohl kaum Zweifel. Aber auf welchen Wegen beeinflusst Stress die Gesundheit?
Schaut man sich die Forschungsliteratur an, die sich mit diesem Thema
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beschäftigt, so fällt als Erstes auf, dass die negativen Auswirkungen von Stress
ungleich intensiver untersucht worden sind als die potentiell gesundheitsförder-
lichen. Die Frage, ob und wenn ja, inwieweit positiver, als attraktive, lohnende
Herausforderung erlebter Stress gesundheitsförderlich ist, und auf welchem Wege
diese Effekte entstehen, hat die Forschung bisher wenig umgetrieben. Deutlich
mehr Aktivität wurde investiert, um die negativen gesundheitlichen Auswir-
kungen von Stress zu untersuchen. Diese werden im Wesentlichen in direkte und
indirekte Einflüsse unterteilt und unter folgenden Aspekten diskutiert:
Ausgehend von der These, dass der Stress direkten Einfluss auf den Organis-
mus hat, wird als ein Haupteffekt die nicht abgebaute Erregung angenommen.
Die wenigsten Menschen sind heute in der Lage, aufgebaute Erregung motorisch
abzuführen. Eine meiner Freundinnen pflegt zu sagen, dass der Mensch schließ-
lich für die Steinzeit erschaffen worden sei, nicht für ein zivilisiertes Leben in
überfüllten U- und S-Bahnen, in Büros und 60-Quadratmeter-Wohnungen, in
denen er Kleiderordnungen, Höflichkeitsregeln und andere Einschränkungen
seiner archaischen Reaktionen beherrschen muss. Nicht abgebaute Erregung
jedoch führt zu einer Dauererregung, Entspannung wird unmöglich, und die
durch das hohe Erregungsniveau ausgelösten physiologischen Reaktionen führen
letztendlich zu körperlichen Schädigungen.
Werden Belastungsphasen nicht von Phasen der Entspannung und der Erho-
lung unterbrochen, in denen der Körper sich wieder regenerieren kann, so passt
er sich an ein Leben mit der chronischen Belastung an. Die Ausdehnung des
Widerstandsstadiums ist jedoch nicht unbegrenzt möglich, und bei nicht mehr
möglicher Anpassung bricht der Organismus schließlich erschöpft zusammen.
In diesem Erschöpfungsstadium kann es zu ernsthaften Organerkrankungen
kommen. Hinzu kommt, dass der Organismus bei einem über lange Zeit auf-
rechterhaltenen erhöhten Widerstandsniveau seine natürliche Fähigkeit zur
Selbstregulation verliert und auch in Phasen minderer Belastung nicht mehr auf
ein normales Ruheniveau zurückkehren kann.
Ein weiterer wichtiger Faktor ist die durch andauernden Stress geschwächte
Immunkompetenz. Während kurzfristige, akute Belastungen das Immunsystem
durchaus positiv stimulieren können, scheinen chronische Belastungen zu einer
Abschwächung immunologischer Parameter zu führen. Psychoneuroimmu-
nologische Forschung zeigt, dass es Verbindungen zwischen dem vegetativen
Nervensystem und den Zellen des Immunsystems gibt, was auf die Möglichkeit
Weiterführende Literatur
Rensing, L., Koch, M., Rippe, B. & Rippe, V. (2005). Mensch im Stress: Psyche, Körper, Mole-
küle. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag.
Vingerhoets, A. (2004). Stress. In A. Kaptein & J. Weinman (eds.), Health Psychology (pp.
113–140). Malden/Oxford/Carlton: Blackwell Publishing.
Situation/Reiz
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Kognitive Bewertung
Subjektiver Stressor
Moderierende Variablen:
– Alter – Coping
– Geschlecht – soziale Unterstützung
– Persönlichkeitsvariablen
– Konstitution
– erworbene Schädigungen
– Lebensstil
– soziale Schicht
Erregung/AAS
Gesundheitsstatus
Gesundheitsverhalten,
Risikoverhalten
– Rauchen
– Bewegungsmangel
– Ernährung
8
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Krankheitsmodelle
Ebenso, wie sich die Krankheiten selbst und ihre sozialen Auswirkungen ver-
ändert haben, haben sich auch die Erklärungen des Phänomens verändert. Die
Bemühung, Krankheiten nicht als göttliche Botschaft – zumeist im Sinne einer
Strafe oder Prüfung – zu verstehen, sondern als Phänomen, für das natürliche
Ursachen gefunden werden können, geht auf Hippokrates zurück. Nach der von
ihm begründeten Humoralpathologie entstand Krankheit durch den Einfluss
von Nahrung und Umwelt und hatte ihren Ort in den vier Körpersäften. Diese
Ideologie prägte das medizinische Denken in unserer westlichen Welt bis in das
18. Jahrhundert hinein, wenngleich sich parallel eine Sichtweise ausbildete, die
Krankheiten in Veränderungen der Organe, Gewebe und kleinsten Elemente
begründet sah. In der Romantik – also um 1800 – wurde Krankheit vor allem
auf dem Hintergrund einer Polarität von Natur und Geist betrachtet, wobei dem
Geist großer Einfluss auf den Körper zugeschrieben wurde.
Die Wende zur heute vorherrschenden naturwissenschaftlichen Betrachtungs-
weise der Krankheit geschah in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der
endgültige Durchbruch zu dieser Interpretation erfolgte durch die von Rudolf
Virchow 1858 begründete Zellularpathologie, nach der Krankheit durch Verände-
rungen der Organe, der Gewebe und ihrer kleinsten Elemente bedingt ist. Krankheit
wird damit Folge pathologischer Organveränderungen, sie hat einen körperlichen
Sitz, vor allem in der Zelle, und sie entsteht durch pathophysiologische Prozesse
und Reaktionen. Dieses neue Verständnis von Krankheit wird – insbesondere
nachdem Robert Koch in den 1880er-Jahren den Tuberkel- und Choleraerreger
identifiziert hatte – entscheidend durch das Modell der Infektionskrankheiten
geprägt: Krankheit erwächst aus einer spezifischen biologischen Ursache, und ihr
Verlauf kann beeinflusst werden, indem man auf die Krankheitserreger oder auf
die Überträger der Krankheit einwirkt. Zunehmend griff ein dichotomes Den-
ken um sich, in dem Menschen entweder als krank oder als gesund klassifiziert
wurden. Diese Zweiteilung entsprach den Bedürfnissen der sich entwickelnden
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Mit der Zeit jedoch offenbarte sich seine begrenzte Reichweite: Sozialepidemi-
ologische Erhebungen zeigten, dass neben den Keimen auch Umweltfaktoren
eine Rolle im Krankheitsgeschehen spielen, die Psychoanalyse demonstrierte
den Einfluss psychischer Variablen, und für die im Krankheitsspektrum immer
wichtiger werdenden chronischen und degenerativen Erkrankungen reichte die
Dichotomie von «gesund» und «krank» nicht aus. Die Diskussion um die Erklä-
rung des Phänomens «Krankheit» geht somit weiter.
Neben der Medizin beschäftigten und beschäftigen sich viele andere Wissen-
schaftsdisziplinen mit den Phänomenen von Gesundheit und Krankheit, und so
verwundert es nicht, dass sehr unterschiedliche Modelle entwickelt wurden, um
diese Phänomene zu erfassen und zu systematisieren.
nen Belange im Auge hatte, die Krebserkrankung als Zeichen dafür, dass man
etwas im Leben verändern muss, oder das behinderte Kind als besondere Prü-
fung für die Frau, die das Leben bisher auf die leichte Schulter genommen hat,
sind typische Beispiele für die in der modernen Welt schlummernden Reste
animistischen Denkens.
• Philosophisch-spekulative Modelle. Philosophische Modelle haben das
Denken über Krankheiten so lange entscheidend beeinflusst, wie empirische
Erkenntnisse noch nicht zur Verfügung standen. Das seit Hippokrates vor-
herrschende Modell der Humoralpathologie basierte auf einem philosophi-
schen Krankheitskonzept, das erst im 17. Jahrhundert durch erfahrungswis-
senschaftliche Erkenntnisse nach und nach seinen Einfluss einbüßte.
• Naturalistische Modelle. Mit dem Erstarken der Naturwissenschaften gewan-
nen naturalistische Modelle an Bedeutung. Diese betrachten Krankheit als
Naturerscheinung und als beobachtbares und zu erforschendes Phänomen.
Naturalistische Krankheitsmodelle bilden zweifelsohne die Hauptgruppe der
modernen Vorstellungen über Krankheit. Auch sie kommen in unterschied-
licher Form daher: Ontologische Krankheitsmodelle sprechen der Krankheit
ein hohes Maß an selbstständiger Existenz zu, andere betrachten Krankheit
mehr als Folge einer gestörten Ordnung im Zusammenhang bzw. der Funk-
tionsweise des Organismus. Das heute in der Medizin vorherrschende biolo-
gische Modell ist eindeutig der Gruppe der naturalistischen Krankheitsmo-
delle zuzuordnen.
• Psychosomatische, anthropologische und soziokulturelle Modelle. Die Dis-
kussion um den Krankheitsbegriff konzentrierte sich bis in das 20. Jahrhun-
dert hinein vorwiegend auf das körperliche Geschehen. Mit der Psychoanalyse
einerseits und den Erkenntnissen der Sozialepidemiologie andererseits aber
zeigte sich, dass die Definitionen der somatischen Pathologie nicht mehr ausrei-
chten. Gesundheit und Krankheit wurden zunehmend nicht als ausschließlich
somatisches, sondern als ein somato-psycho-soziales Geschehen begriffen, was
zur Folge hatte, dass diese drei Ebenen – Körper, Psyche und Soziales – in ein
Modell von Krankheit integriert werden mussten. Seither wurden zahlreiche
somatopsychische oder auch biopsychosoziale Krankheitsmodelle entwickelt,
die häufig mit dem Anspruch der «Ganzheitlichkeit» auftreten.
Ich habe gegen das Wort Ganzheitlichkeit wegen seiner mangelnden Prä-
zision einen heftigen Widerwillen: Wann und durch wen der Begriff in die
Gesundheitsdiskussion eingegangen ist, ist nicht eindeutig nachzuvollziehen.
In der psychosomatischen Diskussion wird vor allem auf G.L. Engel verwie-
sen, der 1977 ein neues medizinisches Modell forderte, das er biopsychoso-
ziales Modell nannte. In den Gesundheitswissenschaften bezieht man sich
häufig auf die WHO-Definition der Gesundheit, die auf das körperliche, psy-
chische und soziale Wohlbefinden von Menschen in allen Lebensbereichen
abhebt. Insgesamt lässt sich jedoch eine Tendenz feststellen, jeweils das als
«ganzheitlich» zu bezeichnen, was der eigenen Sichtweise zufolge dringend
berücksichtigt werden muss – und was von anderen nicht angemessen
berücksichtigt wird. Exemplarisch habe ich in einem Buch zur Gesundheits-
förderung (Amann & Wipplinger 1998) alle Stellen herausgesucht, in denen
der Begriff laut Stichwortverzeichnis erscheint. Bei den insgesamt zehn
Nennungen wurde er zweimal nicht näher definiert, dreimal bezeichnete
er Körper + Psyche + Gesellschaft, einmal individuelle + organisatorische
Faktoren, einmal Ernährung + Bewegung + Wohlbefinden + psychosoziale
Aspekte, einmal wurde er als Synonym für «systemisch» verwendet – alles in
allem ein Ergebnis, das nahe legt, den Begriff nicht zu verwenden, sondern
klar auszudrücken, welche Variablen man selbst bei der Beschreibung eines
Gegenstandes, Prozesses oder Verhaltens für relevant hält.
Rothschuhs Systematik zu Grunde legend spielt heute aus der Gruppe der natu-
ralistischen Modelle vor allem das biomedizinische Modell eine Rolle. Außerdem
sind psychosomatische und soziokulturelle Modelle sowohl in der Theoriebildung
als auch in der gesundheitlichen Versorgung von Bedeutung. Ich stelle daher im
Folgenden eine Auswahl von Modellen aus diesen beiden Gruppen vor. Dabei
betone ich ausdrücklich, dass hier wie schon in früheren Kapiteln gilt, dass die
von mir gewählte Einteilung nicht sakrosankt ist! Angesichts der Komplexität
des Gegenstandsbereichs einerseits und der theoriebildenden Disziplinen und
Schulen andererseits ist eine Überschneidung zwischen verschiedenen Modellen
unumgänglich. Nicht alle Modelle haben die gleiche Reichweite, einige haben
einen höheren Erklärungswert für eher somatische, andere einen höheren für
eher psychische Störungen. Und häufig liegt der wesentliche Unterschied mehr
in der Betonung und besonderen Berücksichtigung einzelner Variablen oder
Prozesse als darin, dass gänzlich andere Variablen Eingang in das Modell finden.
8.1
Fachhochschule Ostschweiz FHS St. Gallen, Hochschule für Angewandte Wissenschaften / 152.96.188.38 (2023-09-25 11:27)
Naturalistische Modelle
8.1.1
Biomedizinisches Krankheitsbild
Ohne Frage ist das biomedizinische Krankheitsmodell – auch medizinisches
Modell oder biologisches Modell genannt – nicht nur in der Medizin, sondern
auch in allen anderen Bereichen der gesundheitlichen Versorgung das heute
vorherrschende Modell. Es basiert auf den Annahmen und Erkenntnissen der
Bakteriologie aus der letzten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dem Krankheitsver-
ständnis der «Zellularpathologie» jener Epoche zufolge entstehen Krankheiten
dann, wenn ein Krankheitserreger (Agens) einen Überträger (Vektor) findet, der
auf einen Menschen mit einer gegenüber dem Erreger geschwächten Immunität
trifft. Unter Umweltbedingungen, die eine Ansteckung fördern, erkrankt der
betroffene Mensch, der in der Terminologie des Modells «Wirt» genannt wird.
Das biomedizinische Modell bietet damit eine einfache Kausalität: Wo ein
Keim ist, da entsteht eine Krankheit – und im Umkehrschluss muss da, wo eine
Krankheit auftritt, ein Keim sein. Dass sich dieser eindeutige Zusammenhang
von Ursache und Wirkung für die Infektionskrankheiten, die zum damaligen
Zeitpunkt die Haupttodesursachen bildeten, so überzeugend nachweisen ließ,
trug maßgeblich dazu bei, dass sich das biomedizinische Modell erfolgreich
gegenüber seinen Konkurrenzmodellen durchsetzte. Auf diesen Punkt der Über-
zeugungskraft des Modells wird weiter unten näher eingegangen. Im Folgenden
werden zunächst das Modell und seine Grundannahmen beschrieben.
dass ein solcher existiert und dass Krankheit eine Abweichung von eben diesem
angenommenen Zustand der Natürlichkeit, der Normalität ist. Krankheit ist
damit gleichsam ein Herausfallen aus einer als normal angesehenen Situation.
Krankheit steht nicht in Kontinuität mit Gesundheit, sondern Krankheit und
Gesundheit verhalten sich dichotom zueinander.
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Jede Krankheit zeichnet sich durch eine bestimmte Schädigung aus – diese
kann sowohl biochemischer als auch mechanischer oder genetischer Art sein.
Aufgrund ihrer Ursachen und ihres Verlaufs lassen sich Krankheiten klassifi-
zieren, wobei das biomedizinische Modell davon ausgeht, dass jede Krankheit
eine spezifische Ätiologie hat und einen vorbestimmten Verlauf nimmt, wenn
sie nicht angemessen behandelt wird. Die Klassifizierung der Erkrankungen ist
möglich aufgrund der Symptome, ihrer Ätiologie und ihres Verlaufs und ohne
dass der soziale Kontext des «Wirts» einbezogen werden muss. Das Erkennen
der typischen Merkmale einer Erkrankung, das heißt die Diagnose und die The-
rapie sind eine fachwissenschaftliche, in der Regel medizinische Aufgabe. Die
beobachtbaren Verhaltensweisen und Symptome von Patientinnen und Patienten
sind Zeichen für zu Grunde liegende Prozesse, deren Diagnostik und Behandlung
ebenfalls Aufgabe der fachlich geschulten Professionellen ist. Eine Beseitigung
der Symptome ohne eine Heilung der zu Grunde liegenden Ursachen führt zu
einer Verschlimmerung der Erkrankung oder zu einer anderen Neuerkrankung.
Am Beispiel des Fiebers ist die Plausibilität dieses Modells unmittelbar einsichtig:
Alleinige Fiebersenkung kann den Tod eines Menschen bedeuten, wenn nicht
geklärt ist, ob das Fieber durch einen grippalen Infekt, einen Malariaschub oder
einen entzündeten Blinddarm verursacht ist.
Hinsichtlich der von der Krankheit betroffenen «Wirte» ergibt sich, dass diese
für ihre Krankheit weitgehend nicht verantwortlich sind; sie befinden sich in der
sozialen Rolle von Patientinnen und Patienten und haben als solche eine Entla-
stung von ihren alltäglichen Aufgaben, sind andererseits aber auch verpflichtet,
alles zu tun, was nach Ansicht der medizinischen Fachleute für ihre Heilung
erforderlich ist.
Wegen der Bedeutung des biomedizinischen Modells sollen seine wesentlichen
Inhalte hier noch einmal zusammengefasst werden:
• Krankheit ist Abweichung vom natürlichen Zustand des Organismus.
• Krankheit steht nicht in Kontinuität mit Gesundheit.
• Jede Krankheit hat eine spezifische Ätiologie und nimmt einen bestimmten
Verlauf.
• Klassifizierung von Krankheiten erfolgt ohne Einbeziehung des sozialen Kon-
texts.
Dafür, dass das biomedizinische Modell einen so großen Erfolg hatte und hat,
sind sicherlich viele Gründe entscheidend. Der wichtigste liegt unbezweifelbar
darin, dass es ein plausibles Rahmenmodell für die erfolgreiche Behandlung der
Infektionserkrankungen bildete. Das in der medizinischen Literatur hier immer
wieder auftauchende Zauberwort heißt «kausal»: Es war ein Sieg der naturwis-
senschaftlichen Medizin, dass sie den Grund für eine Erkrankung eindeutig
benennen und durch Behandlung dieses ursächlichen Grundes, der Causa, zu
einer Heilung führen konnte. Kausalitäten zu erkennen, war schon immer etwas,
was Menschen fasziniert hat – Menschen wollen wissen, warum etwas eintrifft,
was die Ursache ist, und die Kenntnis der Ursachen eröffnet Handlungsmöglich-
keiten und vermittelt Einfluss und Macht. Dabei profitierte das Modell davon,
dass Infektionskrankheiten in der Regel monokausal, also durch einen bestimm-
ten Erreger verursacht werden; diese Tatsache vergrößerte die Erfolgsbilanz und
damit die Faszination des biomedizinischen Modells.
Doch darüber hinaus ließ sich das biomedizinische Modell auch auf Erkran-
kungen anwenden, die auf den ersten Blick nichts mit einer Infektionskrankheit
zu tun hatten – die psychischen Erkrankungen.
Nach den körperlichen Ursachen psychischer Störungen hatten Psychia-
ter gesucht, seit diese Wissenschaft sich zu etablieren begonnen hatte. Johann
Christian Reil prägte den Begriff Psychiatrie: eine Zusammensetzung aus dem
griechischen «psyche», Seele, und «iatros», Arzt. 1811 startete die neue Disziplin
an einer medizinischen Fakultät offiziell an der Universität Leipzig und breitete
sich bald in ganz Deutschland aus. Die Ursachen für die psychischen Störungen
Die progressive Paralyse war eine um 1900 herum bei Männern verbreitete
Erkrankung des schizophrenen Formenkreises. Friedrich Nietzsche war ihr
wohl prominentestes Opfer. Die progressive Paralyse tritt etwa im Alter von
30 bis 50 Jahren auf, erste Erscheinungsformen sind in der Regel Gedächt-
nisstörungen, Nachlässigkeit in der äußeren Erscheinung und auffälliges,
die sozialen Regeln missachtendes Verhalten. Einige Patienten sind deutlich
antriebsvermindert, wohingegen andere zu Größenfantasien neigen. Nach
und nach kommt es zu einem zunehmenden intellektuellen Abbau, ohne
Behandlung tritt nach wenigen Jahren zunehmend geistige Absenz und
schließlich der Tod ein.
wissenschaftlichen Kreativität, bis alles bekannt ist, was schief laufen kann.
Anhänger des Modells bezeichnen dieses Verständnis als rational und natur-
wissenschaftlich und sehen sich in diesem rationalen Umgang mit Krankheiten
dadurch bestätigt, dass das Modell die allgemeine Lebenserwartung erhöht hat.
Lebensverlängerung ist im Rahmen des biomedizinischen Modells gleichsam das
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ultimative Kriterium für therapeutischen Erfolg und damit für die Richtigkeit
der dem Modell zu Grunde liegenden Prämissen. Das folgende Zitat fasst diese
Sichtweise noch einmal prägnant zusammen:
Die wissenschaftliche Medizin geht davon aus, dass Krankheiten natürliche, mit
wissenschaftlichen (und das heißt rationalen) Methoden erforschbare Ursachen
haben – äußere, innere, genetische, psychische. Diese Ursachen setzen pathogene-
tische Kausalketten in Gang, welche die klinischen Manifestationen und den Verlauf
der Krankheit bestimmen. Alle bekannten Krankheiten sind in einem nosologischen
System geordnet. Jede der mehreren tausend Krankheiten trägt einen Namen, er
entspricht einer Diagnose, die der Arzt erstellt. Damit verbindet sich eine Theorie der
jeweiligen Krankheit, die überindividuell gültige Aussagen über Ätiologie und Pathoge-
nese, Phänomenologie, Verlauf (Prognose) und Therapie enthält.
[…] Dieses Konzept einer Krankheitslehre wurde erst in den letzten 200 Jahren ent-
wickelt. Mit ihm unterscheidet sich die wissenschaftliche Medizin von allen anderen
früheren oder heutigen Medizinen. Es ist die Grundlage unseres theoriegeleiteten
Handelns, unserer Therapie und unserer Prävention. Überall dort, wo es angewendet
worden ist (und die für seine Anwendung erforderlichen Ressourcen verfügbar sind),
ist die Lebenserwartung von früher 30 bis 35 Jahren auf 74 bis 80 Jahre angestiegen.
Beurteilt nach diesem härtesten Kriterium für den Erfolg einer Medizin ist es, verg-
lichen mit allen anderen Medizinen, das erfolgreichste, ja das einzig erfolgreiche in der
ganzen Geschichte der Medizin. (Bock 1999, S. 37)
Die starke Unterstützung, die das biomedizinische Modell politisch erfährt – und
dies sowohl in der gesundheitlichen Versorgung als auch in der Forschung – ist
jedoch nicht nur in seiner Naturwissenschaftlichkeit begründet, sondern vor
allem auch darin, dass die in ihm verankerte Individualisierung hervorragend in
die konservativ-liberale Gesundheitspolitik passt, die Gesundheit und Krankheit
zur Sache der Einzelnen macht und die Verantwortlichkeit sozialer und gesell-
schaftlicher Faktoren für Gesundheit und Krankheit ausblendet.
8.1.2
Risikofaktorenmodelle
Als Risikofaktoren werden im Bereich von Gesundheit und Krankheit alle die
Variablen bezeichnet, die das Risiko für das Auftreten bestimmter Krankheiten
erhöhen. Die Risikofaktorenmodelle wurden im Rahmen epidemiologischer
Untersuchungen entwickelt, also im Rahmen von Untersuchungen, die sich mit
der Verteilung von Morbidität und Mortalität in der Bevölkerung befassen.
Die Erforschung von Risikofaktoren und ihrer Bedeutung für das Krankheits-
geschehen setzte etwa in den 1960er-Jahren ein. Es war notwendig geworden,
das biomedizinische Modell zu erweitern, da sich immer deutlicher zeigte, dass
dieses sich an den Infektionskrankheiten orientierende Modell der immer größer
werdenden Gruppe von chronischen und degenerativen Erkrankungen sowie
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werden:
8.2
Psycho-somatische Krankheitsmodelle
Etwa seit Mitte des 19. Jahrhunderts war in der Medizin der Einfluss des Nerven-
systems auf die Krankheitsentstehung betont worden. Neurasthenie und nervöse
Erschöpfung galten als Diagnosen, die Menschen daran hinderten, ihre Aufgaben
und Rollen zu erfüllen. Diese frühen Ideen wurden durch die psychosomatische
Medizin, die Krankheit nicht nur als Resultat einer Schädigung oder Infektion
ansah, sondern auch als Ergebnis der Auseinandersetzung des «Wirts» mit dem
pathogenen Agens, weiterentwickelt und formalisiert. Die psychosomatische
Medizin blieb in ihren Anfängen streng dem biomedizinischen Krankheitsmo-
dell verhaftet, auch sie nahm als Grundlage für das Entstehen einer Krankheit
eine Schädigung oder Infektion an. Der Unterschied bestand darin, dass dem
biomedizinischen Modell zufolge diese Infektion automatisch zur Krankheit
führt, wohingegen im psychosomatischen Modell postuliert wurde, dass der
Krankheitsverlauf wesentlich durch den Umgang der infizierten Person mit dem
schädigenden Agens beeinflusst wird.
Unter dem Dach der psychosomatischen Medizin fanden sich nach und nach
sehr heterogene Disziplinen ein. Während die psychosomatische Medizin in
Europa vor allem durch die Psychoanalyse beeinflusst war, basierte die US-ame-
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René Descartes wurde 1596 in La Haye als Spross eines vornehmen Adels-
geschlechts geboren. Nach seiner Ausbildung in einer Jesuitenschule, dem
Militärdienst und ausgedehnten Reisen durch Europa widmete er sich der
Philosophie, die seiner Überzeugung zufolge nicht auf der Empirie, sondern
ausschließlich auf dem Denken beruhen sollte. Die Welt teilte er auf in die
zwei Bereiche der körperlichen Welt, der res extensae, und der Welt des Geisti-
gen, der res cogitans. Den Menschen und sein Verhalten betrachtete Descartes
als eine Art Automat, der die Bewegungen ausführt, die der immaterielle
Geist ihm eingibt, wobei die Verbindungsstelle zwischen dem Körperlichen
und dem Geistigen in der Zirbeldrüse des Menschen angesiedelt sei. Descartes
lebte viele Jahre in den Niederlanden und starb 1650 in Stockholm.
8.2.1
Psychoanalytische Modelle
Die von Sigmund Freud begründete Psychoanalyse hat im Verlauf ihrer etwa
hundertjährigen Geschichte zahlreiche Veränderungen erfahren. Ursprünglich
zur Erklärung und Therapie der Hysterie entwickelt, weitete sich das psychoa-
nalytische Modell später vor allem zu einer Ätiologietheorie neurotischer und
somatoformer Erkrankungen aus. Im Verlauf der Jahrzehnte entstanden zahl-
reiche Abspaltungen und neue Gruppierungen, was dazu geführt hat, dass die
Zahl der sich als psychoanalytisch verstehenden Schulen heute kaum mehr über-
schaubar ist.
Und zweitens die Annahme, dass Störungen und Krankheiten nicht durch aktu-
elle Lebensumstände verursacht werden, sondern in der Kindheit begründet
sind. Traumatisierende Kindheitserfahrungen bilden die Grundlage, auf der die
aktuellen Konflikte mehr oder weniger gut gelöst werden und sich bei unzurei-
chender Lösung zu Störungen entwickeln.
Die traumatisierenden Kindheitserfahrungen werden je nach psychoanaly-
tischer Schulrichtung als unbewusste Konflikte, unbewusste Fantasien, patho-
gene Überzeugungen, Traumatisierungen, Entwicklungsdefizite, Hemmungen
und Einschränkungen wichtiger Kompetenzen oder Störungen des Selbstwerter-
lebens beschrieben. Gemeinsam ist ihnen, dass sie den Menschen in seinem aktu-
ellen Denken, Fühlen und Handeln bestimmen, solange er sie nicht psychisch
verarbeitet hat.
mit der Entwicklung eines falschen Selbst, dies vor allem durch vermeintlich
erlebnis-aktivierende Substanzen und Tätigkeiten wie Drogen, Alkohol, exzes-
siven Sport oder übermäßiges Arbeiten.
• dass nicht das äußerlich Beobachtbare die eigentliche Krankheit ist, sondern
dass diese sich im Inneren vollzieht und sich nur in äußeren Zeichen, Sym-
ptomen äußert
• dass Krankheit Veränderung in einer Person und damit individuelles Gesche-
hen ist, rückführbar auf innere Prozesse.
Natürlich richten sich die Annahmen über die Ursachen einer Erkrankung
nicht auf physiologische, anatomische, bakterielle oder sonstige nachweisbare,
messbare Faktoren, sondern auf das Unbewusste. Dies ändert jedoch nichts am
grundsätzlichen Rahmenmodell, also nichts an der Annahme, dass «das Eigent-
liche» der Erkrankung sich im Inneren vollzieht, ein individueller Prozess ist,
der einer eigenen Dynamik unterliegt, und dass es sich um eine Abweichung von
einem als normal definierten Zustand handelt. Letztlich führte gerade die Psy-
choanalyse dazu, dass das medizinische Modell auch zur Erklärung psychischer
Störungen herangezogen wurde und sich in der Psychiatrie und später auch in
der klinischen Psychologie fest verankern konnte.
Mit der Annahme, dass traumatisierende Kindheitserfahrungen Schädigungen
darstellen, die in erheblichem Maße mitbestimmen, wie aktuelle Konflikte verar-
beitet werden, kann das psychoanalytische Modell zudem durchaus auch den in
Kapitel 8.2.4 dargestellten Diathese-Stress-Modellen zugerechnet werden.
Dank der besonderen Berücksichtigung der Triebstruktur des Menschen hat
das psychoanalytische Modell einen hohen Erklärungswert für die Entstehung
sexueller Störungen. Angesichts seiner besonderen Beschäftigung mit den nicht-
kognitiven Anteilen des Erlebens ist es häufig auch anderen Theorieansätzen über-
legen, wenn es darum geht, Erklärungen für rational schwer verständliches oder
für Außenstehende schwer nachvollziehbares Erleben und Verhalten zu finden, wie
es etwa bei autoaggressivem oder suizidalem Verhalten der Fall sein kann.
8.2.2
Verhaltenstheoretische Modelle
Verhaltenstheoretische Modelle entstanden etwa zeitgleich um 1960 in England,
Südafrika und den USA. Die Ursprünge lagen in dem Versuch, Kenntnisse der all-
gemeinen Psychologie für die Anwendung im Gesundheitsbereich umzusetzen.
Dabei konzentrierte man sich vor allem auf die Kenntnisse über menschliches
Lernen, die man für die Behandlung von erkrankten Personen nutzen wollte. Der
für die neue Methode gewählte Begriff «Behaviour Theory» (Verhaltenstheorie)
sollte kennzeichnen, worauf man fokussierte: auf das Verhalten von Menschen.
Für die Anwendung im therapeutischen Bereich setzte sich der Terminus «Behavi-
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our Therapy» (Verhaltenstherapie) durch. Mit diesem Terminus wollte man auch
eine klare Trennungslinie zu der ein halbes Jahrhundert früher entstandenen
Psychoanalyse ziehen: Während die Psychoanalyse das offenbare Verhalten eines
Menschen nur als Ausdruck eines eigentlich zu Grunde liegenden psychischen
Prozesses ansieht und es als Symptom bezeichnet, sieht die Verhaltenstherapie in
dem, wie eine Person sich verhält und was sie tut, «das Eigentliche».
Heute ist die Verhaltenstherapie eine heterogene Schule mit diversen Grup-
pierungen, die jedoch grundlegende Annahmen über die Verursachung von
Erkrankungen teilen. Wegen ihrer Herkunft aus der klinischen Psychologie rich-
tete sie ihr Augenmerk zunächst vorwiegend auf psychische und somatoforme
Störungen. Inzwischen findet sie jedoch – unter dem Namen «Verhaltensmedi-
zin» – auch bei anderen Erkrankungen, insbesondere im Bereich der Orthopädie
und der Schmerztherapie, Anwendung sowie bei Menschen mit chronischen
Erkrankungen, die Strategien erlernen, mit den bestehenden Einschränkungen
so gesund wie möglich zu leben und Verschlechterungen aufzuhalten (Margraf
& Schneider 2008).
Die Verhaltenstherapie geht nicht auf einen Gründer zurück und entstand
nicht primär im klinischen Bereich, sondern sie entwickelte sich an ver-
schiedenen Orten und aus verschiedenen Disziplinen. Wichtige Gründer-
väter waren die folgenden:
Iwan Petrowitsch Pawlow wurde 1849 in der Nähe von Moskau in der
Familie eines orthodoxen Geistlichen geboren. Nach ersten Studien in The-
ologie, Jura, Tierphysiologie und Chemie schloss er ein Medizinstudium an
der militärärztlichen Akademie in St. Petersburg ab. Sein Schwerpunkt lag
in der Physiologie. Er wurde Professor für Pharmakologie und später für
Physiologie in St. Petersburg.
Pawlow ist der Entdecker des bedingten Reflexes: Bei Untersuchungen zum
Verdauungsverhalten von Hunden hatte er beobachtet, dass nach mehr-
maligem Glockenläuten, das die Fütterung begleitete, bereits die Glocke
ausreichte, um bei einem Hund Speichelfluss auszulösen. Der von Pawlow
beobachtete Lernvorgang wurde später unter dem Begriff der klassischen
Konditionierung weiter untersucht und auf menschliches Lernen übertragen.
Pawlow erhielt 1904 den Nobelpreis für Medizin, und er arbeitete bis kurz
vor seinem Tode 1936 bei seinen Hunden im Labor.
und lebte eine Zeit lang als Bohemien, beschloss dann aber, Psychologie zu
studieren. Nach Tätigkeiten an verschiedenen Universitäten wurde er 1948
Professor in Harvard und blieb dort bis zu seinem Tod 1990.
Skinner war einer der einflussreichsten Psychologen. Er erforschte insbe-
sondere das instrumentelle Konditionieren, das er vor allem an Ratten und
Tauben erprobte. Von Anfang an war er jedoch an der Übertragung seiner
Ergebnisse auf pädagogisches und therapeutisches Lernen des Menschen
interessiert und schrieb neben psychologischer Fachliteratur auch Bücher, in
denen er die Utopie einer Gesellschaft entwickelte, die nach den Prinzipien
der experimentellen Verhaltensforschung organisiert ist. Das berühmteste
dieser Bücher ist «Walden Two» (1948; deutsche Fassung 2002).
Hans Eysenck wurde 1916 in Berlin geboren, 1934 ging er nach Großbri-
tannien ins Exil. Nach seinem Psychologiestudium arbeitete er zunächst in
der Psychiatrie, wurde später Direktor der psychologischen Abteilung der
Maudsley-Klinik und Professor für Psychologie an der Universität London.
Er starb 1997 in London.
Eysencks Werk ist ungeheuer vielfältig: Er befasste sich intensiv mit der
Intelligenz- und Persönlichkeitsforschung, entwickelte zahlreiche Verfah-
ren zur Persönlichkeitsdiagnostik und versuchte, Persönlichkeitstypologien
mit bestimmten physiologischen Prozessen in Verbindung zu bringen. Als
entschiedener Anhänger empirischer und statistischer Methoden führte er
empirische Methodik auch in die Psychotherapieforschung ein und erteilte
der Psychoanalyse ein ausgesprochen mangelhaftes Zeugnis. Er gehörte zu
den Ersten, die die Ergebnisse der empirisch fundierten Lerntheorie für die
Psychotherapie nutzten und ist damit einer der Gründer der praktischen
Anwendung der Lerntheorien in der Therapie, somit der Verhaltenstherapie.
Situation
• Was passiert?
• – Jemand macht mir ein nettes Kompliment
• – Ich habe eine anstrengende Arbeit vor mir
• – Das Wetter schlägt um
• – Ich bekomme Besuch
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Körperreaktion
PHYSIOLOGISCH
• Wie reagiert mein Organismus?
• – Ich kriege rote Ohren
• – Mein Herz klopft
• – Meine Knie zittern
• – Meine Hände werden feucht
• – Mein Kopf dröhnt usw.
Gedanken
• Was denke ich dann?
• – Was will der wohl von mir
• – Ich kann nicht mehr
• – Toll – der mag mich
• – Es wird schon klappen
• – Abwarten und Tee trinken usw.
KOGNITIV
Gefühle
• Wie fühle ich mich dann?
• – Ich fühle mich gelöst
• – Ich fühle mich unsicher
• – Ich koche vor Wut
• – Ich freue mich
• – Ich bin gespannt usw.
Verhalten
• Was tue ich (was nicht)?
MOTORISCH
• – Ich schweige
• – Ich mache einen Spaziergang
• – Ich rauche
• – Ich gehe zum Friseur
• – Ich schimpfe
tens
• Modelllernen: Lernen via Beobachtung
• Sozial-kognitives Lernen: Lernen über kognitive und soziale Faktoren
wie Erwartungen, Einstellungen, Bewertungen, Symbolbildung, Regelbil-
dung usw.
Ein adipöser und ein normalgewichtiger Mann zum Beispiel haben diesem
Modell zufolge nach den gleichen Prinzipien essen gelernt: Durch Prozesse des
klassischen Konditionierens haben sie gelernt, auf bestimmte Signale hin zu
essen, zum Beispiel auf den Geruch von frischem Brot, den Anblick einer Wurst-
oder Salatplatte oder auf 12.30 Uhr als Zeit für das Mittagessen. Sie haben auch
gelernt, dass Essen eine wirksame positive Verstärkung sein kann: Der Lieblings-
pudding als Belohnung für das Bravsein bei Mutters Einkaufbummel, das Eis,
das darüber hinwegtröstet, dass das Knie nach der Rutschpartie am Kiesstrand
erheblich blutet, oder das große Abendessen als Lohn für einen gelungenen
Geschäftsabschluss. Modelllernen hat dazu beigetragen, dass Esspräferenzen
entstanden sind: Der normalgewichtige und der dicke Mann haben in ihrer Fami-
lie gelernt, bestimmte Speisen zu bevorzugen und andere abzulehnen – auf diese
Weise mögen bei dem Einen die Präferenzen für Currywurst und Pommes Frites
entstanden sein, beim Anderen für Obst und Salat. Schließlich und endlich haben
sie noch viel soziales Wissen über Essen und seine Bedeutung gelernt – und auch
diese Lernerfahrungen können unterschiedlich gewesen sein: Während dem
Einen beigebracht wurde, dass die Nerven in Fett schwimmen müssen und Essen
Leib und Seele zusammenhält, hat der andere gelernt, dass nur Dank schlank
macht.
oder zur falschen Zeit erfolgt und dadurch, dass die betroffene Person selbst
darunter leidet, dass sie sich so verhält und nicht anders. Grüßt ein Wanderer
eine ihm auf einem Tiroler Höhenweg entgegenkommende Wanderin, ist dieses
Verhalten normal – jemand, der das gleiche Verhalten «Begrüßen jeder entge-
genkommenden unbekannten Person» in der Fußgängerzone einer Großstadt
praktizieren würde, würde in dieser Umgebung ziemlich merkwürdig wirken.
Gleiches gilt für Lachen auf dem Friedhof, Singen im Kino, Sich-Umziehen auf
dem Balkon …
gesetzt, was als normal, gesund angesehen wird. Zwar gibt es in der verhaltens-
therapeutischen Literatur eine breite Diskussion über die Definition und Erarbei-
tung von Therapiezielen, doch werden die Ziele in der Regel als Soll-Zustand auf
dem Hintergrund eines von der Klientin oder dem Klienten und ihrer sozialen
Umgebung nicht tolerierten oder tolerierbaren Ist-Zustands diskutiert, nicht auf
der Folie einer allgemeinen Vorstellung vom gesunden Menschen.
8.2.3
Kommunikationstheorie
Fernab von den Hauptströmungen der Psychoanalyse und der Verhaltenstheorie
entwickelte eine Gruppe von Forschern, die sich mit menschlicher Kommuni-
kation, ihren Regeln und ihren Störungen beschäftigte, ein Modell zur Entste-
hung und Aufrechterhaltung von psychischen Störungen. Dieses Modell ist als
kommunikationstheoretisches Modell der Palo-Alto-Gruppe bekannt geworden,
benannt nach einer produktiven Denkfabrik in Palo Alto, Kalifornien (Watzla-
wick, Beavin & Jackson 1969; Watzlawick, Weakland & Fisch 1974). In den letzten
Jahren ist das kommunikationstheoretische Modell etwas in Vergessenheit gera-
ten, zum Teil wurde es im Rahmen von systemischen Modellen weiterentwickelt.
Meines Erachtens ist es dieses Modell wert, wieder stärker beachtet zu werden, da
es eine neue Perspektive auf Krankheiten ermöglicht. Das kommunikationsthe-
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Menschen, die sich in einer schwierigen Situation befinden, tun häufig nicht das,
was zu einer konstruktiven Änderung dieser Situation führen würde; vielleicht
wollen sie das Problem nicht wahrhaben, oder sie wissen zwar, dass etwas anders
werden muss und soll, haben aber keine Idee, wie dieses «anders» aussehen soll,
vielleicht fehlen ihnen aber auch die Mittel zu einer effektiven Veränderung. In
solchen Situationen tun Menschen häufig etwas, das den Anschein von Aktivität
gibt, letztlich aber nicht zur Lösung des Problems beiträgt, sondern im Gegenteil
eine noch unübersichtlichere, kompliziertere Lage schafft. Eine junge Frau zum
Beispiel, die mit ihrer Beziehung unzufrieden ist, die sich von ihrem Freund oft
allein gelassen fühlt und spürt, dass er ihr recht ambivalent gegenübersteht, traut
sich nicht, sich und ihren Freund mit ihrer Unzufriedenheit zu konfrontieren.
Stattdessen überlegt sie, dass er sie zu dick findet, und beginnt, eine Diät zu
machen, sehr viel Sport zu treiben und sich zu sagen, dass erst das Schlankwer-
den wichtig ist. Die erste Fehllösung zieht andere Fehllösungen nach sich, und
nach einiger Zeit entsteht eine komplexe, unübersichtliche Gemengelage, in der
das eigentliche, ursprüngliche Problem nach und nach aus dem Blickfeld ver-
schwindet – die junge Frau macht sich Sorgen, dass die Menstruation ausbleibt,
der Freund ärgert sich, dass sie zu viel Zeit im Fitnessstudio verbringt, die Mutter
bemängelt, dass sie sonntags nicht mehr zum Kaffeetrinken kommt …
Es entstehen eine Reihe konkreter neuer Probleme, und das ursprüngliche
Problem kann sich in Ruhe zurücklehnen, es ist vor Enttarnung sicher. Denn je
mehr Lösungen zur Aufhebung der neu entstandenen Probleme gesucht und aus-
probiert werden, desto weniger wird das eigentliche Problem tangiert. Es ist gut
an einer ganz anderen Stelle als der aktiven Lösungsfront versteckt. Und je tätiger
man dort ist, desto sicherer kann sich das Problem sein, dass es nicht entdeckt
und beseitigt wird, kann gleichsam zusehen, wie die Energie an der falschen
Stelle vergeudet wird und wie sich mit wachsender Frustration der Beteiligten
eine unlösbare Aufgabe entwickelt. Diese ist es dann, die nach gewisser Zeit als
psychisches Symptom erscheint. Je mehr Lösungen des Typs «Mehr vom Glei-
chen» versucht werden, umso mehr stabilisiert sich das Problem.
Leugnung: Leugnet die oben erwähnte junge Frau, dass in ihrer Beziehung
etwas nicht stimmt, und versucht stattdessen, den dicken Po zu verschmä-
lern, kommt sie der Klärung ihrer Beziehung nicht näher.
Utopie: Wenn die junge Frau versucht, ihren anlagebedingt dicken Po
zu verkleinern, wird sie zwar insgesamt abnehmen, ein schmales Gesicht
bekommen, dünne Arme und eine noch schlankere Taille – der Po wird pro-
portional zum übrigen Körper dicker bleiben und eventuell am sehr schlank
gewordenen Körper noch deutlicher hervortreten.
Paradoxie: Tätschelt der Freund der oben erwähnten jungen Frau ihren
etwas zu dicken Po, grinst dabei und sagt, er liebe schlanke Frauen, so schafft
er eine paradoxe Situation, die geeignet ist, die Unsicherheit der jungen Frau
zu intensivieren. Vermutlich wird sie mit dem utopischen Lösungsversuch
«… wenn ich erst einen dünnen Po habe …» weitermachen und das Problem
stabilisieren.
Der Kommunikation kommt bei der Entstehung psychischer Störungen eine zen-
trale Rolle zu, da in jedem zwischenmenschlichen Kontakt Kommunikation statt-
findet. Ausgehend davon, dass psychische Störungen sich im zwischenmenschlichen
Bereich entwickeln, ergibt sich folgerichtig, dass sie sich in der Kommunikation
entwickeln. Watzlawick und Mitarbeiter postulieren, dass menschlicher Kommu-
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Eine Frau schenkt ihrem Mann zum Geburtstag zwei Krawatten, eine
gestreifte und eine gepunktete. Um seiner Frau zu zeigen, dass er sich über das
Geschenk gefreut hat, bindet der Mann am nächsten Morgen die gepunktete
Krawatte um. Als er damit zum Frühstückstisch kommt, sagt seine Frau: «Ich
hab gestern gleich gemerkt, dass Dir die Gestreifte nicht gefällt.»
Es gibt Kommunikationen, die in sich ein Double-bind darstellen, wie zum Bei-
spiel der Satz: «Sei spontan». Auch der Satz «… nun setz dich doch endlich mal
gegen mich durch …» versetzt das Gegenüber in eine Situation, in der das Ein-
gehen auf die Inhaltsebene der Botschaft das Beachten der Beziehungsbotschaft
unmöglich macht.
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Die Natur einer Beziehung ist durch die Interpunktion der Kommunikati-
onsabläufe bedingt: Jeder Kommunikationsteilnehmer strukturiert die Inter-
aktionen, die objektiv einen ununterbrochenen Austausch von Mitteilungen
darstellen, für sich. Beziehungskonflikte beruhen oft auf unterschiedlichen Inter-
punktionen von Kommunikationsabläufen – was dann in nicht enden wollenden
Auseinandersetzungen nach dem Motto: «Aber du hast doch gesagt …» – «Ja,
aber du hattest gesagt …» – mündet.
8.2.4
Diathese-Stress-Modelle
Diathese-Stress-Modelle, auch Vulnerabilitäts-Stress-Modelle genannt, betrachten
Krankheit als das Ergebnis einer Wechselwirkung zwischen einer Person und
äußeren Belastungsfaktoren. Unter der Diathese versteht man all die Faktoren der
Person, die sie für eine bestimmte Krankheit besonders anfällig machen – anla-
gebedingt oder erworben. Diese Faktoren lösen jedoch nicht per se Krankheit
aus, sondern erst wenn sie durch äußere Belastungsfaktoren aktiviert werden: Ein
Mensch mit der Diathese für eine bestimmte Erkrankung wird nur dann erkran-
ken, wenn er mit Stressoren konfrontiert wird, die seine Konstitution in einer Form
reizen, auf die er keine gesunden Abwehrreaktionen zur Verfügung hat.
Herr Vogel ist ein 55-jähriger Spätaussiedler aus Russland, der in ärm-
lichsten Verhältnissen in der Nähe von Odessa geboren wurde und während
seiner Jugend über verschiedenste Aufenthaltsorte schließlich nach Sibirien
kam. Schon als Kind musste er hart körperlich arbeiten. Aus Gründen,
über die er nicht berichten kann, wurde er zu zehn Jahren Zwangsarbeit
verurteilt, danach arbeitete er als Holzfäller und später als Verlader bei der
Eisenbahn und im Straßenbau. Vor zehn Jahren erhielt er zusammen mit
seiner Familie – seine Frau und er haben neun Kinder – die Erlaubnis, nach
Deutschland auszureisen. Hier arbeitete er im Straßenbau.
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Seit Herr Vogel einen im Prinzip leichten Autounfall auf der Heimfahrt von
der Arbeitsstelle hatte, hat sich sein Leben völlig verändert. Er habe seit dem
Unfall vor zwei Jahren ständig Kopfschmerzen, alle Wirbel täten im weh,
er könne den Hals nicht mehr bewegen, auch den Oberkörper nicht. Der
Schmerz ziehe durch den ganzen Körper, ständig seien die Hände und Füße
kalt, außerdem habe er ein ständiges Ohrgeräusch. Er schlafe schlecht, fühle
sich schwindelig, sei unsicher beim Gehen und selbst kleinste Anstrengungen
erschöpften ihn völlig. Er könne nur noch kurze Strecken gehen und habe
keinerlei Kraft mehr in den Armen. Er fühle sich völlig überflüssig, er tauge
für gar nichts mehr. Außerdem sei er schrecklich nervös, das ganze Leben
mache ihm keinen Spaß mehr. Früher habe er viel gesungen und gepfiffen,
jetzt störe ihn Musik nur noch. Der Unfall habe ihm das Genick gebrochen.
Faktoren in Betracht, die für die betreffende Person einen Stressor darstellen.
Dies können einzelne äußere Ereignisse sein, aber auch eine nicht zu bewältigende
psychische Anspannung oder eine langfristig schwierige Lebenssituation – letztlich
alles, was als akuter oder chronischer Stressor die Bewältigungskräfte der Person
überfordert.
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8.3
Soziokulturelle Krankheitsmodelle
Ausgangspunkt aller soziokulturellen Modelle ist die Grundüberzeugung, dass
Krankheit kein kulturfreier Sachverhalt ist. Das biomedizinische Verständnis,
demzufolge eine Leberzirrhose in Mailand das Gleiche ist wie auf Java und eine
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bipolare Depression in Sibirien das Gleiche wie in Havanna, greift aus soziokul-
tureller Sicht zu kurz. Das biologische Modell der Medizin berücksichtigt im
Bemühen, die Krankheit naturwissenschaftlich zu fassen, aus soziologischer Sicht
allenfalls das medizinische Substrat der Krankheit, nicht aber die mit Krankheit
immer einhergehende soziale Abweichung.
Im Mittelpunkt des soziologischen Interesses steht eher das Phänomen der
Krankheit in einer Gesellschaft als der Erklärungsversuch, wie sich bei einzelnen
Menschen Erkrankung entwickelt. Krankheit wird als soziale Devianz interpre-
tiert, als Abweichung von gesellschaftlichen Normen, zu deren Verhinderung
und Behandlung Prozesse der sozialen Kontrolle wirksam werden.
In Anlehnung an Gerhardt (1999) lassen sich die soziologischen Theorien in
drei großen Gruppen zusammenfassen:
8.3.1
Konflikttheorien
Konflikttheorien machen einen strukturellen Grundkonflikt zwischen Per-
son und Gesellschaft sowie zwischen Körper und Kultur zum Ausgangspunkt
ihrer Überlegungen. Menschen brauchen diesen Theorien zufolge Regeln und
Normen, um gesund leben zu können, und auf Brüche und Unsicherheiten
reagieren sie mit Verwirrung und Störungen. Je weniger die gesellschaftlichen
Bedingungen den Bedürfnissen der Menschen Rechnung tragen, je unsicherer
die individuelle Existenz in der Gesellschaft ist, je weniger die Menschen sich auf
bestimmte Strukturen und Werte verlassen können und je weniger Kontrolle sie
über ihr eigenes Leben ausüben können, umso mehr bleiben ihnen als Reaktion
allein Verzweiflung, Entfremdung, Selbstschädigung und Krankheit. Krankheit
wird damit als Leiden in der Gesellschaft interpretiert, das sich insbesondere in
psychischen und psychosomatischen Störungen äußert.
Besonders bekannt wurde aus der Gruppe der Konflikttheorien die Suizidtheo-
rie des Franzosen Emile Durkheim. Seine 1897 erstmalig veröffentlichte Anomiet-
heorie besagt, dass der Grad der Integration eines Individuums in die Gesellschaft
und seine Akzeptanz ihrer Normen und Regeln als ein Maß für das Suizidrisiko
anzusehen sind. Wenn die Stützen der Gesellschaft wie Familien, Kirchen, staat-
liche Organe und Verwaltungen nicht mehr den Einfluss auf das Individuum aus-
üben, der nötig wäre, damit Menschen sich zugehörig und eingebunden fühlen,
besteht Desintegration. Je nach Art und Ausmaß der sozialen Integration und der
sozialen Regulation kommt es zu typischen Arten des Suizids:
Der «egoistische Suizid» gilt als Ausdruck einer zu starken Individuation, eines
mangelnden Gemeinschaftsbewusstseins und einer ungenügenden Verbunden-
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heit mit der Gemeinschaft. Die Folgen sind Entfremdung, Vereinsamung und
Isolierung des Einzelnen. Der «altruistische Suizid» ist Ausdruck einer zu starken
Abhängigkeit von der Gesellschaft und einer zu gering ausgeprägten Individua-
lität. Und die dritte Form, der «anomische Suizid», tritt auf, wenn Regelsysteme
fehlen, die Orientierung ermöglichen, und wenn der Einzelne mit der Regel- und
Schrankenlosigkeit seines eigenen Handelns nicht mehr klarkommt.
Obwohl sich Durkheims Annahmen über die verschiedenen Suizidformen
nicht haben empirisch erhärten lassen, zeigt die Tatsache, dass sein Buch in den
letzten hundert Jahren immer wieder aufgelegt wurde, dass seine Grundgedanken
nicht überholt sind. Eher das Gegenteil ist der Fall: In der Soziologie werden Fra-
gen der Art und Bedeutung sozialer Beziehungen und Kommunikation seit den
1990er-Jahren intensiv unter dem Oberbegriff des sozialen Kapitals diskutiert.
Eine einheitliche Definition dieses Begriffs existiert nicht. In den verschiedenen
Konzepten spielen mit unterschiedlicher Gewichtung zwei Faktoren eine Rolle:
Zum einen die individuellen Ressourcen, die Menschen aus ihrer Zugehörigkeit
zu einer oder mehreren Gruppen gewinnen, zum zweiten der Grad des gesell-
schaftlichen Zusammenhalts, der sich aus der Zugehörigkeit zu einer Gemein-
schaft ergibt (für einen Überblick: Braun 2002). Die Diskussion bezieht sich vor
allem auf die allgemeinen gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen der
Beziehungen und Netze in den verschiedenen sozialen Gruppen. Doch wird die
Relevanz sozialen Kapitals zunehmend auch im Gesundheitsbereich thematisiert.
Ziemlich übereinstimmend zeigen die bisherigen Studien, dass Menschen, die
über ein geringeres Maß an sozialem Kapital verfügen, einen objektiv schlech-
teren Gesundheitszustand haben und sich auch subjektiv als kränker erleben
(Kroll & Lampert 2007, von dem Knesebeck 2011). Faktoren wie soziale Inte-
gration und Desintegration, das Fehlen allgemein gültiger sozialer Normen und
Verhaltensregeln sowie Vereinzelung haben sich als wichtige Einflussfaktoren für
das Auftreten von Erkrankungen in Gesellschaften erwiesen (vgl. Kap. 11).
der Lebensverläufe erreichen, stellt sich für die meisten mehr als Risiko denn
als Chance dar. Die Schere zwischen Arm und Reich wird weiter, und wer seine
Arbeit aufgrund von Insolvenzen, Sanierungen oder Firmen-Hochzeiten verloren
hat, wird dies nicht als neue Freiheit begrüßen, sondern fühlt sich zu Recht im
Stich gelassen, hat Angst vor der Zukunft und befindet sich mit höherer Wahr-
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scheinlichkeit auf einer sozialen Rutsche als im Fahrstuhl zur Führungsetage der
Gesellschaft.
8.3.2
Strukturfunktionalistisches Modell
In den 1950er-Jahren entwickelte der amerikanische Soziologe Talcott Parsons
eine Theorie, in der er die Beziehungen zwischen Persönlichkeits- und Gesell-
schaftsstrukturen beschrieb. Der Gesellschaft wird in diesem Modell eine über-
aus mächtige Bedeutung für das Leben des einzelnen Menschen zugeschrieben,
und sie hat erheblichen Einfluss darauf, ob ein Mensch gesund oder krank ist.
Die Persönlichkeit eines Menschen wird nach Parsons durch drei Systeme orga-
nisiert: Das biologisch-organische System versorgt den Menschen mit Energie
für physiologische und psychische Grundfunktionen, das psychische System
kontrolliert diese Antriebsenergien und lenkt es in gesellschaftlich erlaubte und
vorgeschriebene Bahnen. Das soziale System Gesellschaft definiert, wie sich die
Einzelnen zu verhalten haben.
Die gesunde Persönlichkeit bildet sich nach Parsons dadurch aus, dass sie ihre
inneren Bedürfnisse mit den gesellschaftlichen Normen und Kontrollsystemen
in Übereinstimmung bringt. Im Idealfall hat sie diese so verinnerlicht, dass die
Befolgung der gesellschaftlichen Regeln das persönliche Bedürfnissystem befrie-
digt. Körperlich und psychisch gesund kann nach Parsons nur der Mensch sein,
der seine Bedürfnisse so an die Anforderungen der Gesellschaft angeglichen
hat, dass er selbst aus seinem tiefen Inneren möchte, was die gesellschaftlichen
Normen und Regeln von ihm erwarten. Gesundheit ist nach Parsons damit ein
Gleichgewichtszustand zwischen den biologisch-organischen und psychischen
Grundstrukturen der Persönlichkeit auf der einen, und dem sozialen System
Gesellschaft auf der anderen Seite.
Krankheit definiert Parsons dementsprechend als eine Störung der Fähigkeit,
die Anforderungen der sozialen Rolle zu erfüllen (vgl. Kap. 2). Wer krank ist, kann
den ihm zugeschriebenen und von ihm übernommenen Aufgaben nicht mehr
gerecht werden. Die Legitimierung für diese Nichteinhaltung der normalen Rol-
lenverpflichtungen vollbringt das medizinische System in Gestalt von Ärztinnen
und Ärzten. Sie sind die von der Gesellschaft legitimierte Instanz, Menschen von
ihren Rollenverpflichtungen zu entbinden und ihnen die neue Rolle des Kranken
Juli Zeh malt in ihrem Roman «Corpus delicti – ein Prozess» das Bild einer
Gesellschaft aus, in der Gesundheit zur allgemeinen Pflicht geworden ist.
Nichteinhalten der gesundheitlichen Regeln gilt als krimineller Akt, und
die gesellschaftliche Ordnung erfährt durch eine terroristische Vereinigung
namens R.A.K. (Recht Auf Krankheit) ihre größte Bedrohung. Eine düstere
Vision einer Gesundheitsdiktatur des 21. Jahrhunderts, geschrieben 2009.
8.3.3
Interaktionstheorien
Interaktionstheorien wurden in der Medizinsoziologie als Gegenmodell zum
strukturfunktionalistischen Modell von Parsons entwickelt. Insbesondere hin-
sichtlich psychiatrischer Patienten war offensichtlich, dass das Modell der Nicht-
erfüllung von Rollen zu kurz griff.
Als aus der Soziologie entwickelter Ansatz betonen auch die Interaktionsthe-
orien den Einfluss, den die Gesellschaft auf den Erkrankungsprozess nimmt.
Ihnen zufolge entspringt Krankheit jedoch nicht unbewussten Motivationen und
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Der Kerngedanke des Labeling-Modells ist somit die Frage danach, was aus einer
Handlung gesellschaftlich gemacht wird. Für jede Handlung kann man sich
einen Kontext denken, innerhalb dessen sie als regelverletzend wahrgenommen
normal» bewertet, oder aber als sanktionswürdig. Lautet das Urteil «sanktions-
würdig», so kommt es zur sekundären Abweichung, das heißt dazu, dass sich die
Identität einer Person um das Merkmal ihrer so fixierten Abweichung herum
zu stabilisieren beginnt. Ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass das Merkmal sich
nicht wesentlich in eine gewünschte bzw. gesellschaftlich akzeptierte Richtung
verändern wird, so wird versucht, die potentiellen negativen Konsequenzen
einzudämmen oder zu verhindern – zum Beispiel durch die Einweisung in eine
psychiatrische Klinik.
Tabelle 4 (S. 168) veranschaulicht diesen sozialen Definitionsprozess am Beispiel
psychischer Störungen (nach Bastine 1998, S. 160).
Das Labeling-Modell hat vor allem im Bereich der psychischen Störungen und
der Behinderungen positive Resonanz erfahren. Behinderung ist wie psychische
Krankheit ein in hohem Maße durch soziale Wertungen und Normvorstellungen
beeinflusstes Phänomen, weshalb Etikettierungsprozesse entscheidenden Anteil
daran haben können, dass jemand zum Behinderten erklärt wird (vgl. Kap. 5).
Zudem verdeutlicht das Modell, wie wenige Schritte notwendig sind, damit
aus einem irgendwie abweichenden Verhalten eine institutionelle Angelegenheit
wird. Labels sind nicht wie die Etiketten auf Marmeladengläsern abwaschbar,
sondern sie haften einer Person meistens dauerhaft an. Dies umso mehr, je stär-
ker angenommen wird, dass es sich um ein stabiles Merkmal handelt, bei dem
Besserung nicht zu erwarten ist. Dies betrifft vor allem Menschen mit Behinde-
rung. Aber auch psychisch Kranke haben unter der Langlebigkeit von Labels sehr
zu leiden. Obwohl neuere Forschungen gezeigt haben, dass psychische Störungen
keineswegs im überwiegenden Maße chronisch verlaufen (Bentall 2003), hält sich
die allgemeine Auffassung vom psychisch Kranken als chronisch Kranken zäh.
Weiterführende Literatur
Gerhardt, M.; Kolb, S. u. a. (Hrsg.) (2008). Medizin und Gewissen. Im Streit zwischen Markt
und Solidarität. Frankfurt/M.; Mabuse.
Overbeck, G. (1984). Krankheit als Anpassung. Frankfurt: Suhrkamp.
9
Fachhochschule Ostschweiz FHS St. Gallen, Hochschule für Angewandte Wissenschaften / 152.96.188.38 (2023-09-25 11:27)
Gesundheitsmodelle
9.1
Das Modell der Salutogenese
Antonovskys salutogenetisches Modell beruht auf zwei Grundannahmen: der
Annahme, dass Krankheiten eine normale Erscheinung im menschlichen Leben
sind und nicht Abweichungen von der Normalität, und derjenigen, dass Gesund-
heit und Krankheit Pole eines gemeinsamen Kontinuums sind.
Aaron Antonovsky wurde 1923 als Sohn jüdischer Eltern in Brooklyn gebo-
ren, studierte Soziologie und kam eher zufällig mit der Medizinsoziologie in
Berührung. 1960 emigrierte er gemeinsam mit seiner Frau Helen nach Israel,
wo er zunächst diverse Projekte im Bereich der Stressforschung durchführte.
Eines dieser Projekte hatte ethnische Unterschiede in der Verarbeitung der
Menopause bei in Israel lebenden, aber in anderen Ländern geborenen und
aufgewachsenen Frauen zum Thema. Unter den untersuchten Frauen befan-
den sich auch Frauen, die in nationalsozialistischen Konzentrationslagern
überlebt hatten, und die nach allen Kriterien psychischer und physischer
Gesundheit recht gesund waren. Dass sie es geschafft hatten, ihr Leben neu
aufzubauen, empfand Antonovsky als Wunder – und der Erforschung dieses
Wunders des Gesundbleibens widmete er von da an sein Engagement. Er
arbeitete später als Professor an der Negev-Universität in Beer-Sheva, wo
er eine an den Bedürfnissen von Patientinnen und Patienten orientierte
Medizin-Ausbildung einführte.
Antonovsky war aktiv in der israelischen Friedensbewegung «Peace
Now». Er starb 1994 in Beer-Sheva.
9.1.1
Heterostase, HEDE-Kontinuum und Widerstandsressourcen
Die Idee, dass Krankheiten zur Normalität des Lebens gehören, kennzeichnet
Antonovsky mit dem Begriff der Heterostase (vgl. Kap. 2), und er sieht in der
Annahme der Heterostase den radikalen Unterschied zwischen salutogenetischem
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Entropie ist ein Begriff aus der Thermodynamik. Entropie ist ein Maß für
die Unordnung in einem System. Ungeordnete, entropiereiche Zustände
sind wahrscheinlicher als geordnete, entropiearme Zustände: Wenn ein
Laster eine Ladung Briketts auskippt, entsteht eher ein ungeordneter Hau-
fen als ein geordneter Stapel.
Geordnete Zustände gehen leicht in ungeordnete über, wie jeder Mensch
vom eigenen Schreibtisch weiß. Der umgekehrte Weg von der Unordnung
zur Ordnung erfordert Energie.
Natürlich befinden wir uns nicht alle im gleichen Fluss. Das Wesen der Flüsse,
in denen sich Menschen unterschiedlicher Kulturen und Sozialschichten, Män-
ner oder Frauen befinden, ist unterschiedlich. Die Gefahrenquellen variieren,
aber niemand wird ohne jede Störung durch den Fluss getragen – und erst
recht befindet sich niemand jemals am sicheren Ufer. Wie kommt es aber, dass
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einige ohne größere Anstrengungen und Blessuren durch den Fluss kommen,
andere hingegen immer wieder um ihr Überleben kämpfen? Während sich die
Stress- und Risikofaktorenforschung zur Beantwortung dieser Frage vor allem
mit denen befasst, die zu ertrinken drohen, konzentriert sich die salutogene-
tische Forschung auf diejenigen, die es schaffen, sich auf dem Kontinuum von
Gesundheit und Krankheit (vgl. Kap. 6.2) möglichst nah zum gesunden Pol zu
bewegen. Antonovsky bezeichnet die Endpunkte des Kontinuums als «health-
ease» und «dis-ease», weshalb er das Kontinuum HEDE-Kontinuum nennt.
Dieses Wortspiel lässt sich im Deutschen am ehesten mit «Gesundheit» und
«Ent-Gesundung» übersetzen.
Die Kriterien zur Bestimmung der Lokalisation einer Person auf dem HEDE
Kontinuum können sich je nach Fragestellung und Problematik unterscheiden;
in jedem Fall umfassen sie aber sowohl objektive als auch subjektive Faktoren.
Zu den objektiven gehören vor allem Parameter des professionellen – z. B. des
medizinischen, psychologischen, logopädischen – Befunds und der professio-
nellen Prognose. Wichtige subjektive Kriterien sind das Befinden, das Schmerzer-
leben und die subjektiv erlebte Funktionsfähigkeit. Hinsichtlich jeder Dimension
kann sich jemand auf einem anderen Punkt des Kontinuums befinden.
Krankheit ist im salutogenetischen Verständnis weder der Ausfall eines Sys-
tems noch ein abgrenzbares, isoliertes Ereignis, sondern sie wird im Sinne einer
EntGesundung (dis-ease) als Prozess verstanden, der in die Geschichte eines
Menschen eingebettet ist. Wie in Kapitel 8 beschrieben, stellen pathogenetische
Modelle – allen voran das biomedizinische Modell – die Erkrankung selbst in das
Zentrum der Aufmerksamkeit; die betroffene Person ist der Krankheitsträger oder
«Wirt». Aus salutogenetischer Sicht hingegen gelingt das Verständnis des Prozesses
des Krankwerdens nur durch ein möglichst breites Wissen über einen Menschen,
über seine gesamte innere und äußere Situation, und damit selbstverständlich auch
über seine Stärken und Möglichkeiten, also seine gesunden Anteile.
Das Modell des mehrdimensionalen Kontinuums impliziert auch, dass ein
Mensch in einem gewissen Ausmaß gesund ist, solange er lebt. Selbst wenn er sich
auf einer Dimension nahe dem Krankheitspol befindet, kann er auf einer anderen
Dimension durchaus gesund sein – und dies bis zum Tod. Der Tod ist in diesem
Modell nicht letztes Versagen der Medizin, sondern Bestandteil des Lebens.
Für die Bewegung auf dem Kontinuum sind Stressoren bzw. der Umgang mit
ihnen von zentraler Bedeutung. Ganz in der Tradition der interaktiven Coping
Individuelle Widerstandsressourcen
dass sie in Notzeiten gerne einmal länger bleibt, ansonsten aber auf Einhaltung
der Arbeitszeit besteht, so schützt sie sich durch diese psychische Ressource vor
Überarbeitung und Ausbeutung. Und einer allein erziehenden Mutter, die über
ausreichend Geld für einen Babysitter verfügt, ermöglicht diese ökonomische
Ressource, sich vielen potentiell gesundheitsgefährdenden Stressoren erst gar
nicht stellen zu müssen. Stehen einer Person ausreichend internale und externale
Widerstandsressourcen zur Verfügung, so können die Stressoren ihr gesundheits-
schädigendes Potential nicht entfalten, da die Person immer wieder die Erfahrung
macht, dass sie sie meistern kann und ihnen nicht hilflos ausgeliefert ist.
9.1.2
Das Kohärenzgefühl
Je häufiger eine Person die Erfahrung macht, dass sie Stress nicht wehrlos aus-
gesetzt ist – und dies wird umso wahrscheinlicher sein, je mehr generalisierte
Widerstandsressourcen ihr zur Verfügung stehen –, desto mehr wird sie davon
überzeugt sein, dass sie versteht, was um sie herum passiert und was von ihr ver-
langt wird, dass sie das Leben meistern wird und dass nichts sie wirklich aus den
Schuhen kippt. Das Ausmaß dieser Überzeugung, der er den Namen «Kohärenz-
gefühl» (Sense of Coherence, SOC) gab, ist nach Antonovsky der entscheidende
Parameter für die Platzierung auf dem Gesundheits-Krankheits-Kontinuum,
also für ein Mehr oder Weniger an Gesundheit.
1. die Stimuli, die sich im Verlauf des Lebens aus der inneren und äußeren
Umgebung ergeben, strukturiert, vorhersehbar und erklärbar sind
2. einem die Ressourcen zur Verfügung stehen, um den Anforderungen,
die diese Stimuli stellen, zu begegnen
3. die Anforderungen Herausforderungen sind, die Anstrengung und
Engagement lohnen. (Antonovsky 1997, S. 36)
Verstehbarkeit ist das Ausmaß, in dem eine Person interne und externe Stimuli als
kognitiv sinnhaft wahrnimmt, als geordnete, konsistente, strukturierte und
klare Information, und nicht als Rauschen – chaotisch, ungeordnet, willkürlich,
zufällig und unerklärlich. Personen mit einem hohen Ausmaß an Verstehbarkeit
gehen davon aus, dass Stimuli, denen sie in Zukunft begegnen, in gewisser Weise
vorhersehbar sein werden oder dass sie zumindest, sollten sie völlig überraschend
auftreten, eingeordnet und erklärt werden können.
Bedeutsamkeit repräsentiert das Ausmaß, in dem eine Person das Leben als sinn-
voll empfindet und in welchem sie erlebt, dass wenigstens einige der ihr gestellten
Probleme und Anforderungen es wert sind, dass sie sich für sie einsetzt und sich
ihnen verpflichtet. Ein hohes Ausmaß an Bedeutsamkeit lässt einen – wie es
Antoine de Saint-Exupéry in «Wind, Sand und Sterne» ausdrückt, «[...] fühlen,
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dass man mit seinem eigenen Stein mitwirkt am Bau der Welt». Menschen mit
einem hohen Ausmaß an Bedeutsamkeit erleben Aufgaben und Anforderungen
mehr als Herausforderung denn als Last und Bürde.
Bedeutsamkeit kennzeichnet den motivationalen Aspekt des Kohärenzge-
fühls, und sie macht nach Antonovsky den wichtigsten Teilaspekt aus: Gibt es
nicht wenigstens einige Bereiche, in denen man sich für wichtig hält und in denen
man davon ausgehen kann, dass es einen Unterschied macht, ob man da ist oder
nicht, ob man selbst etwas tut oder irgendeine andere Person, so macht es wenig
Sinn, sich für irgendetwas einzusetzen. Wenn es keine Lebensbereiche gibt, die
einer Person wichtig sind und in denen sie wichtig ist, ist die Wahrscheinlichkeit
für ein hohes Kohärenzgefühl gering.
Damit sich ein starkes Kohärenzgefühl ausbilden kann, müssen Menschen im
Verlauf ihres Lebens immer wieder erfahren können, dass ihnen ausreichend
Widerstandsressourcen zur Verfügung stehen, dass ihr Leben nicht chaotisch,
zufällig, willkürlich ist, sondern dass sie Einfluss nehmen können, und dass das,
was sie tun, Sinn hat, dass sie den Anforderungen gewachsen sind. Hierbei sind
vor allem drei Erfahrungen wichtig:
Die Erfahrung der Konsistenz, d. h. die Erfahrung, dass Dinge sich wiederho-
len, dass Abläufe unter vergleichbaren Bedingungen ähnlich sind, dass Dinge,
Abläufe, Beziehungen überdauern. Konsistente Lebenserfahrungen tragen vor
allem zur Ausbildung der Verstehbarkeitskomponente des Kohärenzgefühls bei.
Zweitens die Erfahrung der Belastungsbalance: Menschen dürfen weder chro-
nisch überlastet und überfordert sein, noch dürfen die Belastungen so gering
sein, dass sie sich dauernd unterfordert fühlen. Das Erleben einer Ausgeglichen-
heit zwischen Überlastung und Unterforderung ist notwendig zur Ausbildung
eines starken Gefühls der Handhabbarkeit.
Und drittens die Erfahrung der Partizipation, d. h. die Erfahrung, dass man Ein-
fluss auf die Welt um sich herum nehmen und an der Gestaltung von Ergebnissen
mitwirken kann. Diese Erfahrung dient vor allem der Ausbildung der Bedeut-
samkeitskomponente.
Als grundlegend für die Möglichkeit, solche das Kohärenzgefühl steigernde
Lebenserfahrungen machen zu können, betrachtet Antonovsky kulturelle Fak-
toren, Stabilität und Frieden in der politischen und sozialen Situation. Sie bieten
die Basis für eine Lebenssituation, in der Menschen sich darauf verlassen können,
dass sie nicht täglich aufs Neue oder von jetzt auf gleich mit bedrohlichen Situ-
ationen und unlösbaren Aufgaben konfrontiert werden. Darüber hinaus spielen
die individuellen Möglichkeiten, Konsistenz in der engeren sozialen Umgebung
zu erfahren, langfristig weder über- noch unterfordert zu sein und an der Gestal-
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Versetzen Sie sich in die Rolle einer leitenden Krankenschwester, des Lei-
ters einer Behindertenwerkstatt oder einer Erziehungsberatungsstelle, der
Verwaltungschefin einer Klinik oder irgendeiner anderen einflussreichen
Person in einer Einrichtung des Gesundheitswesens und überlegen Sie,
welche Maßnahmen Sie im Sinne des salutogenetischen Konzepts einführen
könnten, um die Gesundheit der Klientel und der Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter zu fördern. Vergessen Sie auch nicht Ihre eigene Gesundheit!
Die Wahrscheinlichkeit für ein starkes Kohärenzgefühl ist gering, wenn Personen
keine Lebensbereiche haben, die ihnen wichtig sind. Ebenso klar ist jedoch, dass
jeder Mensch Grenzen ziehen muss, da das Gefühl, mit dem Leben und seinen
Anforderungen schon fertig zu werden, sich nur entwickeln kann, wenn Men-
schen einige Bereiche als für sie irrelevant ausklammern – egal, ob dies die Politik
ist, die Kunst oder der Fußball, das Engagement in Bürgerinitiativen, für Alten-
heime, Asylbewerber oder die bedrohte Tierwelt. Entscheidend ist vielmehr, dass
es überhaupt Lebensbereiche gibt, die von subjektiver Bedeutung für die Person
sind, und dass die Grenzen nicht so eng gezogen sind, dass die folgenden vier
Bereiche ausgeschlossen sind: die eigenen Gefühle, die unmittelbaren interperso-
nellen Beziehungen, die wichtigste eigene Tätigkeit und existentielle Fragen wie
Tod, Schuld, Isolation oder Scheitern.
9.1.3
Kohärenzgefühl und Stressbewältigung
Die dem salutogenetischen Konzept zu Grunde liegende Annahme der Heterostase
impliziert, dass uns das Leben permanent mit Reizen bombardiert, die Spannung
erzeugen und auf die wir reagieren müssen. Nach Antonovsky ist es entscheidend,
diese Annahme auf alle Reize zu beziehen, die unsere Ressourcen herausfordern,
unabhängig davon, ob sie als erfreulich begrüßt oder als potentiell gefährdend
bewertet werden. Wie im transaktionalen Coping-Modell nach Lazarus (vgl. Kap.
7.3) ist nicht der Reiz als solcher entscheidend, sondern seine Bewertung, und diese
wird in allen Phasen des Bewältigungsprozesses – Antonovsky unterscheidet fünf
Bewertungsphasen – entscheidend durch das Kohärenzgefühl beeinflusst:
Personen mit einem starken Kohärenzgefühl definieren Reize eher als Nicht
Stressoren, bewerten als Stressoren definierte Reize eher als positive Herausforde
rung oder als irrelevant denn als bedrohlich, nehmen stresshafte Situationen
eher geordnet und differenziert wahr und gehen davon aus, dass ihre Ressourcen
ausreichen, mit der Anforderung fertig zu werden. Sie können in Ruhe aus dem
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großen Repertoire von verfügbaren Strategien die geeigneten auswählen und fle-
xibel diejenigen einsetzen, die die Spannung reduzieren. Ihre größere Sicherheit
im Umgang mit Stressoren und ihr Vertrauen darauf, dass sie die Situation schon
bewältigen werden, ermöglichen ihnen auch, die eingesetzten Strategien konti-
nuierlich auf ihre Effektivität hin zu überprüfen.
Für Personen mit einem niedrigen Kohärenzgefühl hingegen stellen wahrschein
lich mehr Reize viel eher einen Stressor dar, den sie dann auch mit höherer Wahr
scheinlichkeit häufiger als bedrohlich und seltener als interessante Herausforderung
erleben. Die durch den Stressor verursachte Situation können sie weniger differen
ziert einschätzen, und sie geraten leichter in emotionale Verwirrung. Angesichts
weniger Ressourcen stehen ihnen nur wenige spannungsreduzierende Strategien
zur Verfügung, und sie tendieren (notgedrungen) dazu, diese wenigen Strategien
rigide einzusetzen und starr an dem einmal eingeschlagenen Lösungsversuch fest
halten. Abbildung 11 verdeutlicht diesen unterschiedlichen Umgang von Personen mit
hohem und niedrigem Kohärenzgefühl in den von Antonovsky postulierten fünf
Phasen des Bewältigungsprozesses:
Situation / Reiz
Kohärenzgefühl Kohärenzgefühl
Psychophysiologischer
Kein Spannungsgefühl Primäre Spannungszustand
Nicht-Stessor Bewertung 1 Stressor
Flexibler Einsatz
Auswahl
und Einsatz Wenig spannungs-
effektiver, reduzierende Strategien,
spannungsreduzierender geeigneter rigider Einsatz
Strategien Strategien
krank
gesund
Abbildung Zusammenhang
Abbildung11:11: Zusammenhangvon
vonKohärenzgefühl und Stressverarbeitung
Kohärenzgefühl und Stressverarbeitungnach
nachAntonovsky.
Antonovsky.
Anforderungen, die für eine Person mit hohem Kohärenzgefühl einen «Klacks»
darstellen oder die von ihr geradezu als positive Herausforderung erlebt werden, an
der sie ihre Kräfte messen kann, stellen für eine Person mit schwachem Kohärenz-
gefühl einen Stressor dar, der ihre Ressourcen überfordert – vielleicht versteht sie
schon gar nicht, was von ihr verlangt wird, noch weiß sie, was zu tun ist und schon
gar nicht, wozu das alles gut sein soll und welche Konsequenzen es haben kann.
9.1.4
Ressourcenorientierte Erweiterung des Salutogenese-Modells
Mit der Fokussierung auf die Bewältigung von stresshaften Anforderungen
vernachlässigt Antonovsky die Faktoren, die als positive Ressourcen direkt,
gleichsam per se, Gesundheit fördern. Zwar erwähnt er in der Diskussion um
gelungene Adaptation an die Umwelt auch Fantasie, Liebe und Spiel als för-
derliche Faktoren, doch werden deren Bedeutung und ihr Zusammenhang mit
Gesundheit nicht weiter expliziert. Sie fließen auch nicht in die Konzeption des
Kohärenzgefühls ein. Die drei Komponenten des Kohärenzgefühls sind aus-
schließlich reaktiv formuliert, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht die
individuelle Reaktion auf einen Stressor.
Die Reaktivität des Konstrukts ergibt sich nicht nur aus den Grundannah-
men der Stressforschung, sondern folgt zum Teil auch aus der Annahme der
Heterostase: Wenn soziale und menschliche Systeme ständig dem Druck der
Entropie und damit der Tendenz zu Unordnung, Auflösung und Zerfall ausgesetzt
sind, müssen sie dieser Tendenz ständig negative Entropie entgegensetzen, um
das Chaos zu ordnen. Anders ausgedrückt: Menschen müssen dem beständigen
Bombardement von Stimuli mit Coping-Strategien begegnen, um handlungsfähig
zu bleiben und sich weiterzuentwickeln. Ressourcen, bei Antonovsky nicht ohne
Grund als «Widerstandsressourcen» bezeichnet, dienen dazu, die Bewältigung
zu optimieren. Persönliche und soziale Ressourcen, die nicht im Zusammen-
hang mit aktiver Bewältigung stehen, sondern eher im Sinne positiver Gefühle,
Motivationen und Bedürfnisbefriedigungen Entwicklungen ermöglichen – wie
etwa die Fähigkeit, ein positives Lebensgefühl und Wohlbefinden herzustellen,
Zielgerichtetheit, Selbstaktualisierungstendenz, Motivation zum Lernen und zur
Weiterentwicklung –, finden keinen Eingang in das Modell.
Damit ist Antonovskys Konzept zwar salutogenetisch, bleibt aber stress- und
anforderungsorientiert. Personen bewegen sich durch optimales Bewältigen von
HEDE – Kontinuum
krank
gesund
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Welche Faktoren sind daran beteiligt, dass Menschen ihre Position auf dem
Kontinuum beibehalten oder sich zum gesunden Pol hin bewegen können?
Optimales Ressourcenförderndes
Bewältigungsverhalten + Erleben und Verhalten =
Die Erweiterung des Modells möchte ich noch einmal in der Flussmetapher ver
deutlichen:
Wir alle sind von unserer Geburt bis zum Tod im Fluss des Lebens. Dieser Fluss
zeichnet sich durch schwer zu bewältigende Abschnitte wie Wasserfälle und
Stromschnellen aus, und es gibt sogar Gebiete, in denen gefährliche Wasserlebe-
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wesen lauern. Dort kommt es darauf an, wachsam zu sein und alle verfügbaren
Bewältigungsressourcen zu aktivieren, um den schwierigen Situationen gewach-
sen zu sein. Es gibt aber auch Abschnitte, in denen der Fluss kaum Strömung hat,
sondern gemächlich an Wiesen und unter Bäumen entlang plätschert. Hier gibt
es keine Notwendigkeit, um das eigene Überleben zu kämpfen. Man kann sich auf
dem Rücken treiben lassen, die Blumen am Ufer bewundern, einen Baumstamm
als Floss benutzen oder sich mit anderen Schwimmern und Schwimmerinnen
bei Wasserspielen vergnügen. Dies alles dient der Entspannung und Erholung,
reaktiviert also Bewältigungsressourcen und erhöht das Gefühl der Belastungs-
balance und damit der Handhabbarkeit, macht aber auch einfach Spaß, steigert
Lebensfreude und Lebensqualität und fördert damit die Gesundheit. Von der
Quelle bis zur Mündung hat der Fluss einen wechselvollen Verlauf, und es ist
wichtig zu erkennen, wann es zu kämpfen gilt und wann Erholen und Genießen
im Vordergrund stehen, da für die unterschiedlichen Phasen unterschiedliche
Fähigkeiten notwendig sind. Für die gelungene Adaptation an die Umwelt scheint
in jedem Fall beides ausschlaggebend zu sein.
alle Diagnose- und Klassifikationsschemata ins Wanken bringen, da für sie die
eindeutige Diagnostizierbarkeit von Krankheiten eine unabdingbare Voraus-
setzung ist (und als solche beibehalten wird, obwohl sie weder vom gesunden
Menschenverstand noch durch Empirie gestützt wird). Im Grunde hatten auch
die verhaltenstheoretischen Ansätze immer ein Störungsmodell, das von einem
graduellen Übergang von Gesundheit zu Krankheit ausging (vgl. Kap. 8.2.2). Die
Etablierung des verhaltenstheoretischen Modells als Verhaltenstherapie in der
medizinischen Versorgung hat jedoch dazu geführt, dass diese Modellannahmen in
der Praxis dem dichotomen Denken des medizinischen Modells geopfert wurden.
Wirklich neue Perspektiven eröffnet das salutogenetische Modell für die
Gesundheitsförderung. Der dem Risikofaktoren-Modell verpflichteten Präventi-
onsforschung liegt die Annahme zu Grunde, dass die Kenntnis krankheitsverur-
sachender Bedingungen ermöglicht, dass diese eliminiert oder modifiziert werden
können und daraus Gesundheit resultiert. Diese Annahme halte ich für falsch. Eine
Wegnahme negativer Faktoren muss nicht automatisch in Positivem resultieren.
Prävention, die Krankheitsverhinderung bedeutet, kann immer nur einseitig
auf einzelne Risiken und einzelne Erkrankungen konzentriert sein, sie bleibt dem
pathogenetischen Modell verhaftet. Nach Antonovsky bedeutet sie lediglich, dass
die am Ufer stehenden Expertinnen und Experten den Blick stromaufwärts rich-
ten und fragen, wer oder was die Leute in den Fluss schmeißt – verändert wird
allenfalls der Zeitpunkt der Intervention. Die relative Erfolglosigkeit präventiven
Tuns in der Vergangenheit bestätigt ausreichend, dass krankheitsorientierte Prä-
vention an der falschen Stelle ansetzt. Das Salutogenese-Konzept schafft dage-
gen die theoretische Basis für eine Gesundheitsförderung, die die Stärkung der
individuellen und der gesellschaftlichen Ressourcen beinhaltet (Franke & Witte
2009). Die individuellen Erlebnisse sind von der makro-sozialen Umwelt geformt,
und die eigentlichen Quellen des Kohärenzgefühls und damit der Gesundheit lie-
gen in der Natur der Gesellschaft und der sozialen Situation, in die der Einzelne
eingebunden ist.
Abschließend möchte ich noch zwei Details erwähnen, die ich persönlich am
salutogenetischen Modell besonders schätze:
Das Konzept der «legitimierten anderen» empfinde ich als wohltuend in
unserer «Gesellschaft der Ichlinge» (Keupp 2001), in der so einseitig Werte wie
Autonomie, Selbstwirksamkeit, Selbststeuerung, Kompetenz, Selbstbestimmung
und Autarkie hoch gehalten werden. Sich auf andere Menschen wirklich verlas-
sen zu können, zu wissen, dass man auf jemand anderen wirklich zählen kann,
ist nicht nur ein sozialer Wert, sondern eine Stress reduzierende Variable. Und
vielleicht lohnt es ja sogar einmal, darüber nachzudenken, ob nicht die Fähigkeit,
sich verlassen zu können, auch ein Zeichen von Gesundheit ist.
Und last but not least betrachte ich es als eine Stärke des salutogenetischen
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Modells, dass es den Tod nicht ausschließt. Sterben ist Bestandteil des Lebens,
und bis zum Tod ist irgendetwas in uns noch gesund. Dies ist nicht nur eine
philosophische Aussage, sondern auch eine Haltung mit erheblicher praktischer
Relevanz für den Umgang mit Menschen mit chronischen, letalen Erkrankungen
und in der Sterbebegleitung.
9.2
Das Resilienz-Modell
Der Begriff Resilienz kommt aus den Materialwissenschaften, wo er die Fähig-
keit eines Materials bezeichnet, seine ursprüngliche Form wieder einzunehmen,
nachdem es gequetscht, zusammengedrückt, gedehnt oder gezerrt wurde. Über-
tragen auf den Gesundheitsbereich geht es bei der Resilienz darum, wie gut Men-
schen in der Lage sind, sich von Krisen und Katastrophen nicht «aus der Form»
bringen zu lassen.
Eine allgemein gültige Definition von Resilienz gibt es (noch) nicht, doch ist
allen veröffentlichten Definitionen gemeinsam, dass sie auf diesen Prozess des
Reagierens auf schwere Lebensereignisse fokussieren. Hier einige Beispiele:
Resilienz ist der Prozess, sich angesichts von Not, Trauma, Tragödie, Bedro-
hungen oder auch signifikanten Ursachen von Stress – so wie Problemen
in Familie und Partnerschaft, ernsthaften gesundheitlichen Problemen oder
Stressoren am Arbeitsplatz oder in finanzieller Hinsicht – gut anzupassen.
Es bedeutet, sich von schwierigen Erfahrungen nicht unterkriegen zu lassen.
(American Psychological Association APA, www.apahelpcenter.org; Übers.
A.F.)
Resilienz, die: die psychische Widerstandsfähigkeit von Menschen, die es
ermöglicht, selbst widrigste Lebenssituationen und hohe Belastungen ohne
nachhaltige psychische Schäden zu bewältigen. (Meyers Universallexikon
2007).
Resilienz bedeutet «seelische Widerstandsfähigkeit» – und Resilienzförde-
rung zielt darauf ab, die «Widerstandsfähigkeit» von Kindern (und Erwachse-
nen) in belasteten und risikobehafteten Lebenssituationen durch schützende
Faktoren zu entwickeln, zu ermutigen und zu stärken. (Zander 2008)
Ein fünfjähriger Junge beobachtete hilflos, wie sein Bruder ertrank. Im selben Jahr
begann ein Glaukom seine Welt zu verdunkeln. Seine Familie war zu arm, medizi-
nische Hilfe zu zahlen, die sein Augenlicht hätte retten können. Als er Teenager war,
starben seine Eltern, und er musste in eine staatliche Blindenanstalt. Als schwarzer
Afrikaner durfte er an vielen Aktivitäten der Institution, einschließlich der Musik,
nicht teilnehmen. [...] Der Name dieses Mannes war Ray Charles. (Goldstein & Brooks
2005, S. xiii; Übersetzung A.F.)
Der überwiegende Teil der Resilienzforschung konzentriert sich auf Kinder und
Jugendliche, die unter widrigen Bedingungen aufwachsen oder schwere Traumen
erleben mussten: Kinder, die geschlagen und missbraucht werden, Kinder aus
sozial dysfunktionalen Milieus, arme Kinder. Resilienz wird in diesem Kontext
als die Fähigkeit eines Kindes definiert, sich trotz schlechter Bedingungen positiv
zu entwickeln. Kennzeichnend für die Resilienzforschung ist, dass sie sich auf
Kinder konzentriert, die hohen Risiken ausgesetzt sind oder waren. Die Frage,
was gesunden Kindern hilft, gesund zu bleiben, ist – zumindest bisher – kein
Thema dieser Forschungsrichtung.
schnell verarbeiten und können dabei häufig auf ein gutes soziales Netz zurück-
greifen. Der Verband amerikanischer Psychologen entwickelte unter dem Titel
«Die Straße zur Resilienz» zehn Punkte, wie Resilienz aufgebaut werden kann.
Online vermitteln amerikanische Gesundheitspsychologen, wie sie sich die Stei-
gerung von Resilienz vorstellen:
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Seit der Begriff der Resilienz in den 1990er-Jahren aus den Materialwissenschaften
in die Gesundheitswissenschaften übernommen wurde, hat er eine erstaunliche
Karriere gemacht. Im ursprünglichen Ansatz fokussierte Resilienz nicht die Pro-
bleme und Situationen, die den meisten Menschen im Laufe ihres Lebens auferlegt
sind, sondern den Umgang mit großen Traumen und Katastrophen: Kriegser-
lebnissen, Entführung einer Tochter, Tod von Familienmitgliedern durch einen
Amokläufer, Zerstörung des Hauses durch Waldbrand … Inzwischen begegnet er
einem überall da, wo es um die Bewältigung von schwierigen Lebenssituationen
oder Ereignissen geht und kennzeichnet die Menschen, die mit diesen Ereignissen
umgehen, ohne daran krank zu werden. Eine Operationalisierung des Konstrukts
«Resilienz» steht jedoch aus. Der überwiegende Teil der Forschung beschäftigt
sich weniger damit, herauszufinden, was Resilienz ist und welche Dynamiken ihr
zugrunde liegen, als damit, wie man Resilienz fördern kann. Es ist fraglich, ob die-
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9.3
Gesundheit im Sinne der WHO
Die Weltgesundheitsorganisation WHO (World Health Organization) ist eine
von 14 Sonderorganisationen der Vereinten Nationen, mit Sitz in Genf. Oberstes
Entscheidungsgremium der WHO ist die Weltgesundheitsversammlung, deren
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verabschiedete (vgl. Kap. 2), ist viel Wasser die Flüsse der Welt hinab geflossen.
Als Welt-Organisation muss die WHO Konzepte entwickeln, die gleichermaßen
für die industrialisierten Länder wie für die weniger entwickelten Länder Gültig-
keit besitzen, und so hat sie durch ihre Politik im Laufe der Jahre neue Akzente
gesetzt. Doch die WHO hat sich niemals offiziell von ihrer Definition losgesagt.
Trotz erheblicher Kritik am Begriff des Wohlbefindens ist die WHO nicht von
der Utopie des umfassenden körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens
abgerückt. Sie hat aber im Laufe der Jahre den Fokus verändert. Während die
1946er Definition nichts über die Rahmenbedingungen von Gesundheit aussagt
und Gesundheit eher auf der individuellen Ebene lokalisiert, betonen spätere
Verlautbarungen der WHO den gesellschaftlichen Charakter von Gesundheit
und verstehen sie als einen wesentlichen Bestandteil des alltäglichen Lebens. Die
WHO betont, dass so verstandene Gesundheit nur zu erreichen ist, wenn die
gesellschaftlichen Bedingungen Gesundheit ermöglichen:
Grundlegende Bedingungen und konstituierende Momente von Gesundheit sind Frie-
den, angemessene Wohnbedingungen, Bildung, Ernährung, Einkommen, ein stabiles
Öko-System, eine sorgfältige Verwendung vorhandener Naturressourcen, soziale
Gerechtigkeit und Chancengleichheit. (WHO 1986)
Die Erkenntnis, dass Gesundheit nicht dadurch weltweit hergestellt werden kann,
dass das medizinische Wissen westlich-naturwissenschaftlicher Prägung in die
übrige Welt exportiert wird, fand 1978 auf einer internationalen Konferenz der
WHO in Alma-Ata (damals UdSSR) ihren Niederschlag. Die Deklaration von
Alma-Ata führte eine neue Utopie ein: Die Gesundheit für alle. Bis zum Jahr
2000 sollten alle Menschen auf dieser Welt einen Gesundheitsstatus erreichen
können, der es ihnen ermöglichte, ein sozial und ökonomisch produktives Leben
zu führen. Die Deklaration von Alma-Ata setzte sich für eine weltweit gleichmä-
ßige Verteilung der Gesundheitsressourcen ein, und sie formulierte Strategien,
mit der das hoch gesteckte Ziel erreicht werden sollte. Hierbei stand vor allem die
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sich gar selbst beschränken lassen. Ein Beispiel hierfür ist ein aus dem Jahre
1959 stammendes Abkommen zwischen der WHO und der Internationalen
Atomenergieorganisation IAEO, in dem der IAEO die Hauptverantwortung für
atomare Forschungsprojekte zugestanden wird. Kritiker dieses Abkommens wie
die Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs, Ärzte in sozialer
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Verantwortung IPPNW betrachten es als ein Instrument, mit dem die WHO sich
den Interessen der Atomlobby untergeordnet hat und legen zahlreiches Daten-
material vor mit dem sie belegen, dass die WHO an Forschung zu ionisierender
Strahlung und der Veröffentlichung von Forschungsergebnissen gehindert wird
(Wilmen 2009, www.independentwho.info). Zudem werden der WHO eine
zu enge Verbindung mit der Pharmaindustrie und Abhängigkeit von privaten
Geldgebern vorgeworfen. Letztere finanzieren inzwischen mehr als ein Viertel
des Budgets der WHO, was die Gefahr beinhaltet, dass gesundheitspolitische
Entscheidungen zunehmend von wirtschafts- und finanzpolitischen Akteuren
beeinflusst werden (Gebauer 2011).
Weiterführende Literatur
Bengel, J., Strittmatter, R. & Willmann, H. (2001). Was erhält Menschen gesund? Antonovskys
Modell der Salutogenese – Diskussionsstand und Stellenwert. Köln: Bundeszentrale für
gesundheitliche Aufklärung.
Kaba-Schönstein, L. (2011). Gesundheitsförderung I bis VI. In Bundeszentrale für gesund-
heitliche Aufklärung (Hrsg.), Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention.
Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden (S. 137–218). Gamburg: Verlag für
Gesundheitsförderung.
10
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Geschlechtsspezifische
Modelle von Gesundheit und Krankheit
«In der Regel deutet überhaupt nichts darauf hin, dass ich wieder diese totale
Panik kriege. Ich tue gerade irgendetwas, ganz oft ist es sogar was ganz
Ruhiges, zum Beispiel beim Fernsehen, oder letztes Mal, da hab ich gerade
telefoniert. Ganz plötzlich kommt dann dieses merkwürdige Gefühl, und
dann werde ich sofort fürchterlich nervös. Und dann fängt mein Herz an wie
irre zu schlagen, ich atme dann auch ganz schnell, krieg wackelige Knie und
schweißnasse Hände. Ich krieg dann einfach total die Panik, das ist, als ob
ich überhaupt keine Kontrolle mehr hätte, ich denke dann, dass ich sterben
muss oder aber, dass ich verrückt werde. Die Angst, verrückt zu werden ist
eigentlich am schlimmsten. Ich weiß dann nicht mehr ein noch aus.»
«Meine Eltern nerven mich so, mit ihrem ewigen: Du musst essen. Ich weiß
schon ganz genau, wann ich essen muss – und ich esse ja auch. Aber eben
nicht so viel, wie sie wollen und vor allen Dingen: Wenn ich schon sehe, wie
meine Mutter immer zu meinem Teller schielt, ob ich jetzt das Kartöffelchen
auch noch esse – dann geht einfach nichts mehr. Es stimmt ja vielleicht, dass
meine Eltern und vor allen Dingen auch die Oma es gut mit mir meinen,
aber die wissen eben nicht, was für mich wichtig ist. Ich will eben schlank
werden, das find ich total schön und auch wichtig für meinen Sport. Meine
Eltern sagen ja, ich hab eine Anorexie, aber die sollten lieber mal sehen, dass
sie ihr Übergewicht loswerden.»
«Acht Jahre hab ich das jetzt schon, immer wieder diese Herzbeschwerden.
Das fängt so im linken Thoraxbereich an, meistens mit Stichen, dann hab
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«Jetzt bin ich 31 Jahre alt, und seit meinem 18. Lebensjahr spiele ich an Geld-
automaten. In der letzten Zeit ist das wirklich sehr intensiv geworden, ich hab
jetzt so etwa 32 000 Euro Schulden. Wie das weitergehen soll, weiß ich nicht.
Das ist ja bei allen so, die spielen – erst geht das eigene Geld hops, dann fängt
man an, Leute anzupumpen und kann die Schulden nicht zurückzahlen, das
gibt dann eben auch Ärger und am Ende ist man ganz alleine. Ich bin total in
einer Sackgasse, ich kann auch nicht mehr schlafen und ich hab Angst, dass
ich bald auch meinen Beruf gefährde. Ich komm morgens immer schlecht
aus dem Bett und dann den ganzen Tag am Bankschalter stehen, nett zu
den Leuten sein, ordentlich und adrett und wissen, dass das alles nur eine
Fassade ist – manchmal kotze ich mich selber an. Vorige Woche habe ich
gedacht, ich versuche es jetzt noch mal – aber das hat natürlich wieder nicht
geklappt, meine Verluste sind jetzt nur noch größer geworden.»
Im Jahre 1746 erstellte Antoine Deparcieux die erste nach dem Geschlecht
trennende Sterbetafel, und er kam zu einem Ergebnis, das seither immer wieder
repliziert wurde: Frauen leben länger als Männer. Dies gilt – allerdings mit teil-
weise erheblichen Unterschieden in den absoluten Werten – weltweit. Ein heute
in Deutschland geborenes Mädchen wird fünf bis sechs Jahre länger leben als ein
am gleichen Tag geborener Junge (siehe Abb. 13). In den osteuropäischen Ländern
liegt diese Differenz mit etwa 10 Jahren deutlich höher. Nach Angaben der Deut-
schen Stiftung Weltbevölkerung (2011) haben die Männer nur in drei Ländern des
südlichen Afrika, in Simbabwe, Lesotho und Swasiland, eine um ein Jahr höhere
Lebenserwartung als die Frauen. Doch ist hier die wichtigste Information nicht
90 Jahre 82,6
81,6 82,1
81,3
79,0
76,9
73,8
72,4
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59,9
48,3 56,0
Frauen
44.8 40 Jahre Männer
1901 – 1924 – 1932 – 1949 – 1960 – 1970 – 1980 – 1991 – 2001 – 2002 – 2004 – 2006 –
1910 1926 1934 1951 1962 1972 1982 1993 2003 2004 2006 2008
Ein reizendes Beispiel für die Zuständigkeit von Frauen für die partner-
schaftlichen und familiären gesundheitlichen Belange von www.mann-
intakt.de (zitiert nach Altgeld 2004, S. 207):
«Ihr Partner leidet an Erektionsstörungen. Darunter wiederum leiden
auch Sie. Weil Sie auf ein beglückendes Sexualleben verzichten müssen. Weil
Sie sehen, wie Ihr Partner verunsichert ist und seine Probleme zu verbergen
sucht. Und weil Sie möglicherweise spüren, wie Ihre ganze Beziehung in
einen Strudel aus Zurückweisung und Misstrauen gezogen wird. Ihr Part-
ner braucht Unterstützung. Es ist bekannt, dass Männer und Frauen dieses
Problem ganz unterschiedlich wahrnehmen. Und deshalb finden Sie das
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10.1
Biomedizinisches Modell
Wie bereits mehrmals erwähnt, ist aus biomedizinischer Sicht der genetische
Ausgangsstatus eines Organismus der entscheidende Faktor für Gesundheit,
Krankheit und Lebensdauer. Alle Informationen zur Entwicklung des Menschen
und seines Verhaltens und Erlebens sind biomedizinischen Modellen zufolge
biologisch determiniert und im Genom angelegt. Die weitere Entwicklung wird
durch das chromosomale, hormonale (gonadale) und morphologische (soma-
tische) Geschlecht determiniert. Das chromosomale Geschlecht ergibt sich
aus der Kombination des Geschlechtschromosoms der Eizelle (X) mit dem der
Samenzelle (X oder Y). Das chromosomale Geschlecht entwickelt sich durch die
Differenzierung in Ovarien oder Hoden zum gonadalen Geschlecht. Die weitere
Steuerung der somatischen Geschlechtsdifferenzierung erfolgt durch die von den
Gonaden produzierten Hormone, wobei vor allem der Einfluss der Androgene
eine wichtige Rolle spielt. Nachdem sich etwa in der siebten Schwangerschafts-
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10.2
Psychosoziale Modelle
Wie die Benennung dieser Modelle bereits zeigt, erklären diese die Unterschiede
zwischen den Geschlechtern in Gesundheit und Krankheit vor allem durch
psychische, verhaltensbezogene und soziale Variablen. Sie tun dies auf dem Hin-
tergrund einer unhinterfragten Akzeptanz der Kategorie «Geschlecht», gehen
somit wie die biomedizinischen Modelle von der Zweigeschlechtlichkeit der
Menschen aus. Anders als diese messen sie jedoch dem Faktor Geschlecht nicht
eine biologisch-kausale Bedeutung bei, sondern die einer Moderator- oder Medi-
atorvariablen. Sie nehmen folglich an, dass zwischen psychosozialen Merkmalen
und Gesundheit bzw. Krankheit je nach Geschlecht andere Zusammenhänge
fast ausschließlich auf einem Niveau, auf dem zwar Zusammenhänge zwischen
bestimmten Variablen des Geschlechts und dem untersuchten Gesundheits- bzw.
Krankheitskriterium aufgezeigt werden können, auf dem aber noch nahezu gänz-
lich unklar ist, auf welchem Wege diese Zusammenhänge zustande kommen. Da
Männer und Frauen sich in unserer Gesellschaft in ihrem Erleben, ihrem Verhal-
ten und dem von ihnen erwarteten Verhalten unterscheiden, außerdem in ihren
wichtigen Lebens- und Arbeitsräumen, ist die Zahl der Variablen, die prinzipiell
Einfluss nehmen können, sehr groß und die Auswahl in den Forschungsprojekten
dementsprechend willkürlich.
In der Regel gehen psychosoziale Modelle nicht davon aus, dass organische
geschlechtsspezifische bzw. geschlechtstypische Faktoren keine Rolle spielen. Sie
werden lediglich in der Modellbildung und der empirischen Forschung wenig
10.3
Gender-Theorien
Gender-Theorien leugnen nicht die empirisch gefundenen Geschlechtsunter-
schiede im Geschehen um Gesundheit und Krankheit, sie bestreiten jedoch, dass
diese Unterschiede biologischen Ursprungs sind oder überhaupt mit biologischen
Variablen in Beziehung stehen. Sie gehen davon aus, dass die Unterschiede zwi-
schen den Geschlechtern durch kulturelle und soziale Variablen bedingt und
somit sozial konstruiert sind.
Folgenden Variablen wird in diesen Konstruktionsprozessen besondere Bedeu-
tung zugesprochen:
10.3.1
Geschlechtsstereotype
Darüber, wie Mann und Frau sich jeweils zu verhalten haben, gibt es in einer
Gesellschaft recht eindeutige Vorstellungen, die als Stereotype das Verhalten und
Erleben jeder einzelnen Person beeinflussen. Geschlechtsstereotype sind auch ein
wichtiger Maßstab, an dem sich die gegenseitige Beurteilung orientiert. Sich nicht
geschlechtsstereotyp zu verhalten, kann einen erheblichen Stressfaktor darstel-
len – ein junger Mann zum Beispiel, der die von ihm erwarteten «männlichen»
Verhaltensweisen in seiner Bundeswehrzeit ablehnt, wird wahrscheinlich Kritik,
Häme und Aggression als Weichei und «Mädchen» erleiden müssen.
Der Einfluss von Geschlechtsstereotypen auf die Beurteilung von Men-
schen als gesund oder krank zeigt sich am deutlichsten im Bereich der psychi-
schen Störungen. Die Vorstellung von psychisch gesunden Menschen ist nicht
geschlechtsneutral, sondern erheblich durch Geschlechtsstereotype beeinflusst.
Dies haben zahlreiche Untersuchungen immer wieder belegt. Broverman und
ihre Arbeitsgruppe zeigten bereits 1970 den Doppelstandard auf, der für Männer
und Frauen bezüglich der psychischen Gesundheit gilt – ihre Ergebnisse sind mit
unterschiedlicher Methodik in unterschiedlichen Ländern mit unterschiedlichen
Gruppen von Personen immer wieder eindrücklich bestätigt worden.
10.3.2
Ungleiche Macht- und Statusverteilung
Einen weiteren wichtigen Faktor im Gesundheits- und Krankheitsgeschehen
erkennen die Gender-Theorien in den ungleichen Verteilungen von Macht und
Status in der Gesellschaft. Die Literatur zu diesem Punkt ist jedoch von einem
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men die validesten Daten, bei Frauen sind dagegen der Bildungsstand und das
Familieneinkommen relevantere Indikatoren (Babitsch 2005, vgl. Kap. 11).
10.3.3
Ungleiche gesellschaftliche Wertung
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10.3.4
Ungleiche Anpassungsleistungen an die «geschlechtsfremde» Rolle
In der Soziologie gilt als nahezu unbestritten, dass sich die Geschlechtsrollen in
der heutigen Gesellschaft mehr und mehr aneinander angleichen. Ohne diese
Erkenntnis grundsätzlich in Frage stellen zu wollen, scheint es mir jedoch so zu
sein, dass diese Angleichung weitgehend darauf beruht, dass Frauen in immer
mehr männliche Räume einbrechen dürfen – dies gilt insbesondere für den beruf-
lichen Bereich – , wohingegen Männer weiterhin enorm vorsichtig sind, sich auf
weibliches Terrain – wie z. B. Hausarbeit und soziale Kontaktpflege – einzulas-
sen. Auch die gesundheitlichen Konsequenzen, die sich aus dieser «Angleichung»
ergeben, scheinen unterschiedlich zu sein: Während die größere Integration von
Frauen in den Arbeitsmarkt und auch das Eindringen von Frauen in höhere
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10.4
Gender-Mainstreaming
Das Konzept des Gender-Mainstreaming stellt im wissenschaftlichen Sinn keine
Theorie dar, sondern ist eine politische Strategie. Da diese Strategie aber erheb-
lichen Einfluss auch auf den Bereich der Gesundheit und Krankheit von Frauen
und Männern hat, stelle ich sie hier vor.
Der Begriff des Gender-Mainstreaming wurde bei der Welt-Frauenkonferenz
in Beijing 1995 geprägt. Im Jahre 1998 legte der Europarat den konzeptuellen
Rahmen für das Programm des Gender-Mainstreaming fest und definierte
Gender-Mainstreaming wie folgt:
Frauen und Männer in allen Lebensbereichen das Recht haben, ohne Diskrimi-
nierung zu leben und Zugang zu Gesundheitsversorgung, Erziehung und glei-
cher Bezahlung für gleiche Arbeit zu haben, formuliert das Madrid Statement,
dass alle Frauen und Männer das Recht auf den höchsten erreichbaren Gesund-
heitsstandard haben. Das Erreichen des höchstmöglichen Gesundheitsstandards
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wird als ein fundamentales Recht jedes Menschen verstanden, unabhängig von
Rasse, Religion, politischer Anschauung und Überzeugung sowie ökonomischen
und sozialen Bedingungen. Als Voraussetzung zur Erreichung dieses höchsten
Standards an Gesundheit muss die Gesundheitspolitik der WHO zufolge berück-
sichtigen, dass Frauen und Männer aufgrund der zwischen ihnen bestehenden
biologischen Differenzen und aufgrund der unterschiedlichen Geschlechtsrollen
unterschiedliche gesundheitliche Bedürfnisse haben, und dass auch ihre Chancen
auf Gesundheit und die Hindernisse, die einer guten Gesundheit im Wege stehen,
unterschiedlich sind. Gender wird im Konzept des Gender-Mainstreaming somit
nicht in einem sozialkonstruktivistischen Sinne verstanden, sondern sowohl als
biologische wie auch als psychosoziale Kategorie:
To achieve the highest standard of health, health policies have to recognize that
women and men, owing to their biological differences and their gender roles, have
different needs, obstacles and opportunities. (WHO 2002)
Damit dies geschehen kann, müssen folgende Forderungen erfüllt und in die Tat
umgesetzt werden:
Frauen geprüft wurden. Voraussetzung hierfür ist, dass endlich das Geschlecht
in der Pharmaforschung berücksichtigt wird. Erst seit der Änderung des Arznei-
mittelgesetzes im Juli 2004 fordert der deutsche Gesetzgeber, dass Frauen an kli-
nischen Studien im Zulassungsverfahren beteiligt werden. Bis zu diesem Datum
war es Usus, dass Medikamente nahezu ausschließlich an Männern erprobt wur-
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den, bevor sie für den Handel freigegeben wurden. Da Medikamente jedoch von
Frauen anders verstoffwechselt werden als von Männern, wurden Frauen bisher
weitgehend Medikamente verschrieben, deren Wirkungsweise im weiblichen
Organismus nicht bekannt war – von Wechselwirkungen mit anderen Medika-
menten ganz zu schweigen. Dies hat sich zum Glück seit Juli 2004 in Deutschland
verändert: Im Juni 2011 informierte die Bundesregierung, dass in 83 % der nach
2004 zugelassenen klinischen Prüfungen neuer Medikamente Männer und Frauen
beteiligt waren; die verbleibenden Medikamente waren indikationsbedingt nur für
jeweils ein Geschlecht (Bundestagsdrucksache 17/6634). Natürlich werden die vor
2004 zugelassenen Medikamente weiterhin an Frauen verschrieben, obwohl ihre
spezifische Wirksamkeit nicht überprüft wurde.
Ein großer weißer Fleck auf der Karte der pharmazeutischen Forschung ist
noch die Entwicklung von Medikamenten für schwangere Frauen. Dass es sich
bei ihnen um eine aus Sicht der Pharmaindustrie besonders heikle Gruppe han-
delt, ist klar. Unter Berücksichtigung des Gender-Mainstreaming jedoch kann es
geradezu als Gebot angesehen werden, dieser Gruppe besondere Aufmerksam-
keit zukommen zu lassen.
Eine weitere Forderung ist die nach einer stärkeren Berücksichtigung der spe-
zifischen Lebenslagen von Frauen und Männern – dies sowohl in der Forschung
als auch vor allen Dingen in der Gesundheitsversorgung. Es fehlen in unserem
Versorgungssystem ausreichende Angebote in der stationären Versorgung und
in der Rehabilitation für Mütter, für allein erziehende Väter und für alte Män-
ner und Frauen. Das dichotome Denken des medizinischen Modells ist für die
Gruppe der Älteren und Alten, die gesundheitliche Beeinträchtigungen haben,
in anderen Funktionen und Bereichen aber noch sehr gesund sind, ein Fallbeil.
Ohne dass ihre Ressourcen ausreichend berücksichtigt werden können, fallen sie
unter die Kategorie «krank» und werden in Pflege-Einrichtungen abgeschoben.
Dass Männer und Frauen jedoch gerade im Alter über unterschiedliche, durch
geschlechtsspezifische Sozialisation erworbene Repertoires von Ressourcen ver-
fügen, die ihnen viele gesunde Optionen eröffnen können, ist in unserem Versor-
gungssystem nicht vorgesehen.
Gender-Mainstreaming im Gesundheitswesen zu realisieren würde auch
bedeuten, dass die Störungen und Risiken, die jeweils bei Frauen bzw. bei Män-
nern häufiger auftreten, stärker unter Berücksichtigung der Geschlechterperspek-
tive erforscht würden: Was hat das Frausein mit der Depression zu tun? Stehen
Aspekte mit berücksichtigen. Die bisherigen Ansätze sind zu einem großen Teil
absolut ungenügend oder sogar kontraproduktiv – wie zum Beispiel das Angebot
einer einmal wöchentlich stattfindenden Frauengruppe für alkoholabhängige
Frauen in einer Klinik, in der der überwiegende Teil der Patienten männliche
Alkoholabhängige sind. Solche Gruppen bedeuten eher eine Stigmatisierung der
Frauen und haben nichts mit einer frauengerechten Therapie zu tun.
Ein weiterer Aspekt ist die bessere Aufklärung und Information über die weib-
liche Ausgestaltung früher typischer Männerkrankheiten und die männliche
Ausgestaltung typischer Frauenkrankheiten. Herzinfarkt und Angina pectoris
etwa äußern sich bei Frauen anders als bei Männern, was ein Grund dafür ist,
dass die Überlebensrate nach Herzinfarkt bei Frauen niedriger ist als bei Män-
nern. Anorexia nervosa und Bulimia nervosa hingegen werden bei jungen Män-
nern häufig diagnostisch übersehen oder fehldiagnostiziert, wodurch sich die
Krankheits- und Leidensgeschichte der Betroffenen erheblich verlängern kann.
Zur besseren Einbeziehung der unterschiedlichen Lebenslagen von Frauen
und Männern gehört auch, dass die Forschung über familiäre Stressoren und
Ressourcen bei Männern intensiviert werden muss. Obwohl z. B. der Zusammen-
hang von Scheidung und Alkoholabhängigkeit bei Männern epidemiologisch
offensichtlich ist, ist er wissenschaftlich unerforscht und wird in den gängigen
Behandlungskonzepten nicht berücksichtigt. Gleiches gilt für Frauen und die
berufliche Situation: Die frauenspezifische Gesundheitsforschung hat sich inten-
siv mit der so genannten Doppelbelastung von Frauen durch Familie und Beruf
befasst, aber bisher kaum mit dem Zusammenhang zwischen den beruflichen
Stressoren von Frauen und ihrem Gesundheitsverhalten oder zwischen Arbeits-
losigkeit und weiblicher Depression (Franke 2011).
Konsequenzen des Gender-Mainstreaming-Konzepts ergeben sich natürlich
auch für die Professionellen im Gesundheitswesen. So müssen genderspezifische
Aspekte in der Ausbildung zu allen Gesundheitsberufen implementiert werden,
und die Forderung nach einer gleichen beruflichen Partizipation von Männern
und Frauen in allen Berufen und auf allen Hierarchiestufen des Gesundheits-
wesens stellt eine Selbstverständlichkeit dar. Dass Forderung und Realität hier
gerade für Deutschland noch weit auseinander klaffen, ist jedem klar, der einmal
ein deutsches Krankenhaus betreten hat.
Eine Utopie ist leider auch noch die Forderung nach der Wahlmöglichkeit
des Geschlechts der Behandler und Pflegenden und die Forderung, dass die
männliche Ausgestaltung
typischer Frauenkrank-
heiten
Implementierung gender-
spezifischer Aspekte in
der Ausbildung zu allen
Gesundheitsberufen
Weiterführende Literatur
Franke, A. & Kämmerer, A. (Hrsg.) (2001). Klinische Psychologie der Frau. Ein Lehrbuch.
Göttingen: Hogrefe.
Hurrelmann, K. & Kolip, P. (Hrsg.) (2002). Geschlecht, Gesundheit und Krankheit – Männer
und Frauen im Vergleich. Bern: Huber.
11
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Sozialepidemiologische
Modelle
The key message … is that the circumstances in which people are born, grow, live,
work, and age are the fundamental drivers of health, and health inequality. (Sir
Michael Marmot 2008)
Die soziale Epidemiologie beschäftigt sich mit der Auftretenshäufigkeit, der Ent
stehung und dem Verlauf von Krankheiten sowie der Verteilung von Gesund-
heit und Krankheit in der Gesellschaft in Abhängigkeit von sozialen Variablen.
Dass zum Beispiel die Lebensdauer, einer der wichtigsten Indikatoren für den
Gesundheitszustand einer Bevölkerung, von sozialen Faktoren beeinflusst ist,
lässt sich bereits für die Zeit um Christi Geburt belegen. Während Sklaven und
Sklavinnen in Rom durchschnittlich 17,5 Jahre lebten, wurden die Freigelassenen
durchschnittlich bereits 25,2 Jahre alt. Die gebildeten Männer konnten ihr Leben
40,3 Jahre lang genießen – bei den gebildeten Frauen allerdings bestand kein
Unterschied zur Lebensdauer der Frauen in den anderen sozialen Gruppen (nach
Mielck 2000, S. 126).
Diese anhand der Angaben auf 6 414 Grabsteinen innerhalb und außerhalb
Roms durchgeführte Erhebung zeigt bereits zwei wichtige soziale Variablen
auf, die in sozialepidemiologischen Untersuchungen Berücksichtigung finden:
gesellschaftliche Stellung und Geschlecht. Erstere ist ein wichtiges Merkmal der
so genannten vertikalen, letzteres ein Merkmal der horizontalen Differenzierung,
und gemeinsam kennzeichnen sie den sozioökonomischen Status einer Person
oder einer Gruppe. Die früheren Begriffe «soziale Klasse» und «soziale Schicht»
sind, da sie als politisch gefärbt gelten, heute unüblich.
Vertikale soziale Ungleichheit bezeichnet eine ungleiche Verteilung in den
unteren und oberen Bevölkerungsschichten. Wesentliche Kriterien, mit denen
die vertikale Ungleichheit erfasst wird, sind der Bildungsstand, der meistens
Wie das obige Beispiel zeigt, sind vertikale und horizontale Ungleichheit nicht
unabhängig voneinander: Während sich im alten Rom das vertikale Merkmal
der sozialen Stellung in der Lebenserwartung der Männer sehr deutlich nie-
derschlug, war bei den Frauen das horizontale Merkmal der Geschlechtszuge-
hörigkeit bedeutsamer: Zahlreiche Schwangerschaften und die hohe Mortalität
bei Geburten betrafen die Frauen unabhängig von der sozialen Schicht, der sie
angehörten.
Auch heute kommt den Merkmalen der vertikalen Ungleichheit je nach hori-
zontalem Merkmal eine unterschiedliche Bedeutung zu. So steht der sog. soziale
Gradient, also die Abhängigkeit eines Erkrankungsrisikos von der Positionie-
rung innerhalb der sozialen Hierarchie, bei Männern entscheidend mit ihrem
Einkommen in Zusammenhang, bei Frauen hingegen ist der Bildungsabschluss
eine aussagekräftigere Variable. Insgesamt ist nach aktuellem Kenntnisstand
der soziale Gradient bei Männern ausgeprägter als bei Frauen, die Beziehung
zwischen gesundheitlichem Zustand und sozialem Status ist somit bei Männern
enger als bei Frauen (Babitsch 2005).
Trotz des engen Zusammenhangs beschäftigt sich dieses Kapitel vornehm-
lich mit der vertikalen sozialen Ungleichheit. Mit dem horizontalen Ungleich-
heitskriterium «Geschlecht» hat sich das vorige Kapitel befasst, auf die anderen
wichtigen Parameter, insbesondere Alter und Nationalität, kann ich im Rahmen
dieses Buchs nicht eingehen.
11.1
Entwicklung der Sozialepidemiologie in Deutschland
Dass Gesundheit und Krankheit nicht individuelles Schicksal sind, sondern
durch die Gesellschaft beeinflusst werden und durch staatliche Maßnahmen
gefördert werden können, formulierte erstmalig ausgangs des 17. Jahrhunderts
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der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 – 1716). Seine Ideen aufgreifend
entwarfen Ärzte und Gesundheitsverwaltungen Reformpläne, die der Medizin
wichtige öffentliche Aufgaben zuwiesen: Sie sollte Institutionen schaffen, die für
die Gesundheit förderlich waren, daneben aber auch die Lebensführung der Men-
schen überwachen. Neben der Sorge für die Gesundheit und das Wohlergehen
der Einzelnen standen bei all diesen Überlegungen deutlich utilitarische Aspekte
im Vordergrund, denn man hatte erkannt, dass die gesellschaftlichen Aufgaben
nicht erbracht werden konnten, wenn zu viele Menschen aus der «Produktion»
ausfielen. So schrieb bereits 1764 der Stadt- und Landphysicus Thomas Rau:
Die Geschäfte des Friedens können durch kranke Menschen nicht verrichtet, noch
der Acker durch schwächliche Leute gebaut werden. Und zum Krieg führen werden
starke und dauerhafte Leute erfordert [...] Kurz, sieche Menschen sind in keinem
Stande vermögend, zu dem Besten des Staates etwas beyzutragen. (zitiert nach
Bergdolt 2004, S. 209)
Von besonderem Einfluss war Johann Peter Frank, der umfassende Vorschläge
zur Verbesserung der Hygiene und der Arbeits- und Wohnverhältnisse machte,
die Gründung von Waisenhäusern und Krankenhäusern veranlasste und Vor-
schläge zur Schwangerenfürsorge und Betreuung von Gebärenden machte.
Johann Peter Frank wurde 1745 in Rodalben in Rheinland Pfalz als eins
von 14 Kindern eines kleinen Händlers geboren. Nach dem Medizinstudium
arbeitete er als Landarzt in Lothringen, dann in Rastatt als Hofmedicus.
Vom aufgeklärten Bischof und Grafen von Speyer wurde er nach Bruchsal
gerufen, wo er seine medizinischen Überzeugungen in die Realität umset-
zen konnte: Er hatte als Landarzt erkannt, dass die hauptsächlichen Erkran-
kungsursachen in der Armut und Leibeigenschaft von Menschen begründet
waren, und wollte eine Wissenschaft begründen, die Regeln entwickelt, nach
denen Krankheiten und Krankheitsursachen «durch die obrigkeitliche Vor-
sorge beseitigt» werden konnten. In Bruchsal gründete er eine Hebammen-
schule, zwei Krankenhäuser, eine chirurgische Schule – und er schrieb sein
Hauptwerk, das sechsbändige «System einer vollständigen medicinischen
Polizey» (1799 – 1819). Durch das Werk berühmt geworden wurde er Profes-
sor in Göttingen und folgte von dort dem Ruf des habsburgischen Kaisers
Aber Franks aufklärerische Arbeit zeigt auch bereits deutlich das Janusgesicht
sozialepidemiologisch begründeter Gesundheitsfürsorge: Zweifellos brachte
sie für Betroffene und ganze Bevölkerungsschichten gesundheitliche Verbesse-
rungen, doch damit einher gingen Reglementierungen, Normierungen und der
staatliche Anspruch, sich in die gesundheitlichen Belange der Einzelnen einmi-
schen zu dürfen. Dabei machte Frank mit der «medicinischen Polizey» auch vor
eugenischen Überlegungen nicht halt. Er zielte an, «[...] dass schöne, mit einem
starken, wohlgebauten und gesunden Körper prangende Menschen [...] mit
ihresgleichen an Gesundheit und Körpervollkommenheit und in Erziehung [...]»
die Ehe schließen. Die Ehe zwischen Menschen mit chronischen oder erblichen
Krankheiten hielt er dagegen für gesellschaftlich unverantwortlich (zitiert nach
Bergdolt 2004, S. 214).
Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg war die Sozialepi
demiologie in Deutschland sowohl theoretisch als auch empirisch auf einem
hohen Stand. Die herausragende Persönlichkeit im 19. Jahrhundert war Rudolf
Virchow, dessen 1858 veröffentlichte Theorie der Zellularpathologie ihm Welt-
ruhm als Mediziner einbrachte. Als Vertreter einer streng naturwissenschaftlich
orientierten Medizin sah er jedoch gleichzeitig die größten Krankheitsrisiken in
den Lebens- und Arbeitsbedingungen insbesondere der unteren sozialen Schich-
ten und in der hygienischen Versorgung.
verlor er 1848, weil er während der Märzrevolution in Berlin auf Seiten der
Demokraten kämpfte. Vor seiner Suspension hatte er im Auftrag der Regie-
rung eine Typhusepidemie in Oberschlesien untersucht und in seinem Bericht
die «volle und unumschränkte Demokratie», ohne die Gesundheit und
Wohlstand nicht möglich seien, gefordert. Nachdem er schriftlich versichert
hatte, sich nicht mehr radikal-politisch engagieren zu wollen, erhielt er 1949 in
Würzburg einen Lehrstuhl für pathologische Anatomie. Als Ergebnis einer im
Auftrag der württembergischen Regierung durchgeführten Untersuchung des
gesundheitlichen Zustands der Bevölkerung in Elendsquartieren im Spessart
forderte er Bildung, Wohlstand und Freiheit als Voraussetzung für einen bes-
seren Gesundheitszustand der Betroffenen. 1856 erhielt er einen Ruf an die
Berliner Universität, wo er mit seiner Schrift «Die Cellularpathologie in ihrer
Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre» eine neue
naturwissenschaftliche Krankheitslehre begründete, die die Jahrhunderte
alte Humoralpathologie ablöste. 1859 wurde er Mitglied der Berliner Stadt-
verordnetenversammlung, später Mitbegründer der Liberalen Deutschen
Fortschrittspartei und Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses für
die Fortschrittspartei. Er setzte sich für die Einführung der obligatorischen
Trichinenschau in Preußen und eine zentrale Kanalisation mit Wasserversor-
gung und -entsorgung in Berlin ein. Im Abgeordnetenhaus forderte er gerin-
gere Ausgaben für das Militär und den Ausbau der öffentlichen Sozialfürsorge
und brachte den Reichskanzler Bismarck so gegen sich auf, dass dieser ihn
zum Duell forderte. Durch Vermittlung des Kriegsministers sah Bismarck
später von seiner Forderung ab. Virchow kämpfte für die Rechte von Minder-
heiten wie die Polen in Preußen und bekämpfte entschieden aufkommende
antisemitische Tendenzen. Neben diesen vielfältigen Tätigkeiten betätigte er
sich auch noch als Archäologe und war entscheidend an der Gründung des
ethnologischen Museums und des Völkerkundemuseums in Berlin beteiligt.
Rudolf Virchow starb 1902 in Berlin.
Sein wohl bekanntester Ausspruch ist: «Wer kann sich darüber wundern,
dass die Demokratie und der Socialismus nirgend mehr Anhänger fand als
unter den Ärzten? Dass überall auf der äußersten Linken, zum Theil an der
Spitze der Bewegung, Ärzte stehen? Die Medicin ist eine sociale Wissen-
schaft, und die Politik ist weiter nichts als Medicin im Großen.»
11.2
Erklärungsmodelle
11.2.1
Empirische Ausgangslage
1977 beauftragte die britische Regierung eine Arbeitsgruppe unter Vorsitz von Sir
Douglas Black, empirische Daten zu sozialen Unterschieden in der Mortalität und
Morbidität zu sammeln, zu erklären und Maßnahmen zu ihrer Reduzierung vor-
zuschlagen. Der Bericht dieser Arbeitsgruppe offenbarte als wichtigstes Ergebnis,
dass Gesundheit, Krankheit und soziale Ungleichheit in einem engen Zusammen-
hang stehen. Es folgten mehrere groß angelegte Studien, zunächst in Großbritan-
nien, den skandinavischen Ländern und den USA, später auch im internationalen
Vergleich. Alle Studien bestätigten die zentrale Aussage des sog. Black-Reports.
Unterschiede zwischen den Menschen am oberen und unteren Ende der sozi-
alen Hierarchie offenbaren sich in den unterschiedlichsten Variablen – auch in
solchen, bei denen man es kaum vermuten würde. So ist der Befund, dass mehr
Menschen der unteren sozialen Schicht schlechtere Zähne haben als solche der
oberen Schicht, wenig überraschend; dass sie aber auch signifikant kleiner sind,
ist ein eher unvermutetes Ergebnis. Einige weitere Daten zur sozialen vertikalen
Ungleichheit seien hier exemplarisch aufgeführt – die Liste ließe sich erheblich
verlängern. Menschen am unteren Ende der sozialen Hierarchie:
• sterben früher
• haben sechsmal häufiger Übergewicht und Adipositas
• haben mehr sexuell übertragbare Krankheiten
• leider häufiger an Angina pectoris, chronischer Bronchitis und Lungenkrebs
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sich zudem weitgehend unabhängig vom gewählten Kriterium zur Erfassung der
vertikalen Ungleichheit ein sozialer Gradient. Das Ausmaß sozialer Ungleich-
heit von gesundheitlichen Risiken ist nicht einfach eine Folge von ungleichem
Einkommen, ungleicher Ausbildung und unterschiedlicher beruflicher Situation,
sondern es folgt einer gesellschaftlichen Hierarchie. Von Stufe zu Stufe verbessert
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bzw. verschlechtert sich die Situation, und denen, die privilegiert sind, geht es
noch etwas schlechter als denen, die sozial noch über ihnen stehen. Der alte Satz:
«Weil Du arm bist, musst Du früher sterben», muss nach aktuellem Erkenntnis-
stand abgewandelt werden in: «Weil Du ärmer bist, musst Du früher sterben»
(Geene & Rosenbrock 2004, Vonneilich & Trojan 2009).
Doch wie lassen sich die Zusammenhänge erklären? Die Datenlage ist erschla-
gend eindeutig, doch die Theoriebildung zum Zusammenhang zwischen sozialer
Ungleichheit, Gesundheit und Krankheit hinkt hinterher. Die Literatur vermittelt
ein sehr heterogenes Bild, viele Variablen wurden überprüft und erwiesen sich als
relevant, aber die Auswahl der untersuchten Variablen orientiert sich häufiger an
pragmatischen als an theoretisch abgeleiteten Kriterien: Es wurden und werden
solche Variablen gewählt, die sich leicht erheben lassen, die leicht operationali-
sierbar und messbar sind – und letztlich auch solche, für deren Untersuchung am
ehesten Forschungsgelder zu erwarten sind und die in die politische Landschaft
passen. Zudem schlagen sich da, wo es um sozialpolitische Aspekte geht, natür-
lich auch die persönlichen Plausibilitäten und politischen Überzeugungen der
Forschenden in den untersuchten Hypothesen nieder.
Das Spektrum der Variablen, die in einer sozioökonomischen Theorie von
Gesundheit und Krankheit berücksichtigt werden müssen, illustrieren Dahlgren
und Whitehead (2006) (siehe Abb. 14), und es verwundert nicht, dass es angesichts
dieser Fülle möglicher Einflussfaktoren auch eine Fülle von Erklärungsansätzen
über die möglichen Zusammenhänge zwischen diesen Variablen gibt.
Als Ausgangspunkt für die eigene Modellbildung dient den meisten Forscher-
gruppen der Black-Report, in dem vier Erklärungsansätze als möglich formuliert
worden waren. Diese erwiesen sich durch die empirische Forschung als unter-
schiedlich tragfähig. Ich fasse den aktuellen Stand der Diskussion ebenfalls unter
vier Oberpunkten zusammen, die ich «Perspektiven» nenne, um auszudrücken,
dass eine gute Theorie des Zusammenhangs zwischen den sozioökonomischen
Variablen und der gesundheitlichen Lage noch in der Zukunft liegt.
e, kulturelle und Um
o misch we
kon lt b e
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Fachhochschule Ostschweiz FHS St. Gallen, Hochschule für Angewandte Wissenschaften / 152.96.188.38 (2023-09-25 11:27)
lg
Al
nd soziales Umf
in de u el d
me
Ge
id ueller Lebensstil
In d iv
Alter, Geschlecht,
Veranlagungen
11.2.2
Lebenslaufperspektive
Eine der im Black-Report vertretenen Erklärungen für den sozialen Gradienten
war, dass sich in den unteren sozialen Gruppen deshalb mehr kranke Personen
befinden, weil Krankheit zu sozialem Abstieg führt, dass Krankheit somit arm
macht. Andererseits hatten dieser Annahme zufolge Gesunde eher die Mög-
lichkeit des sozialen Aufstiegs. Diese sog. Drift-Hypothese bzw. These der sozial
bedingten Mobilität wurde häufig herangezogen, um den statistisch unstrittigen
schlechteren Gesundheitszustand von Arbeitslosen zu erklären.
Längsschnittuntersuchungen haben zu einer deutlichen Relativierung dieses
Ansatzes geführt. Zu den in dieser Beziehung wichtigsten Untersuchungen zählen
die Whitehall-Studien I und II, in denen eine Arbeitsgruppe um Sir Michael Mar-
mot über zehn Jahre knapp 10 000 britische Angestellte im öffentlichen Dienst
beobachtete und zeigen konnte, dass nicht der Gesundheitsstatus die berufliche
Situation beeinflusst, sondern dass umgekehrt die berufliche Position Einfluss
auf die gesundheitlichen Beschwerden hat. Marmot und Mitarbeiter wiesen
nach, dass junge Männer aus der niedrigsten Berufsgruppe im Vergleich zu ihren
Alterskollegen in den höchsten beruflichen Gruppierungen ein vierfach erhöhtes
Sterberisiko hatten (Marmot 2004; Marmot & Wilkinson 2006): Der soziale
Gradient zeigte sich nicht nur für die allgemeine Sterblichkeit, sondern auch für
die Haupttodesursachen wie Herzinfarkt und Schlaganfall sowie für chronisch
degenerative Krankheiten und für gesundheitsriskante Verhaltensweisen.
11.2.3
Verhaltensperspektive
Dieser Erklärungsansatz macht die Unterschiede im gesundheitlichen Status der
verschiedenen Bevölkerungsgruppen vor allem an Unterschieden in ihrem Ver-
halten fest. Man konzentrierte sich dabei zunächst auf zwei Verhaltensbereiche:
das direkte Gesundheitsverhalten und das Inanspruchnahmeverhalten.
11.2.4
Perspektive materielle Lebensbedingungen
Der Erklärungsansatz «materielle Lebensbedingungen» sieht die Ursache gesund-
heitlicher Ungleichheit direkt in den sozioökonomischen Lebensbedingungen der
Menschen. Feuchte Wohnung, schlechte Ernährung, ungünstiges Wohnumfeld,
Staub und Lärm bei der Arbeit – diese und andere Faktoren tragen ebenso fraglos
zu einem schlechteren Gesundheitsstatus bei, wie es gute materielle Lebensbe-
dingungen erleichtern, gesund zu bleiben. Bereits die Autoren des Black Reports
(Townsend & Davidson 1982, Townsend, Davidson & Whitehead 1990) attes-
tierten dem Erklärungsansatz der materiellen Lebensbedingungen die größte
Überzeugungskraft und hielten ihn dem des Gesundheitsverhaltens und dem des
gesundheitsbedingten sozialen Abstiegs für überlegen. Nachfolgestudien konnten
ihre Ergebnisse so, dass die Variablen der Lebensumgebung eindeutig mehr
Einfluss auf die Verbreitung der Gonorrhö haben als individuelle Variablen der
Personen wie ethnische Zugehörigkeit, Armut und Arbeitslosigkeit.
Fachhochschule Ostschweiz FHS St. Gallen, Hochschule für Angewandte Wissenschaften / 152.96.188.38 (2023-09-25 11:27)
11.2.5
Perspektive Einkommensungleichheit
Während bei den bisher vorgestellten Perspektiven das Individuum im Zentrum
steht, zielt die Perspektive Einkommensungleichheit auf die gesamte Gesellschaft
ab. Besonders bekannt wurde hier der Ansatz des britischen Epidemiologen
Richard Wilkinson, der Einkommensungleichheit innerhalb einer Gesellschaft
als das wesentliche Kriterium zur Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit in
Seine These belegt Wilkinson mit umfangreichem Datenmaterial aus der ganzen
Welt und einem Vergleich von 50 amerikanischen Bundesstaaten (Wilkinson
2001, Wilkinson & Pickett 2009). Er basiert seine Berechnungen auf Daten der
Weltbank aus den fünfzig reichsten Ländern der Erde. Arme Länder schließt
er aus, weil er in diesen die materiellen Lebensbedingungen für entscheidend
ansieht: sauberes Wasser, ausreichende Nahrung, menschenwürdige Wohnver-
hältnisse, Zugang zu primärer Gesundheitsversorgung, Schutz vor Seuchen usw.
Wilkinson misst das Ausmaß sozialer Ungleichheit über das Ausmaß der Ein-
kommensunterschiede und setzt dieses mit so unterschiedlichen Gesundheitma-
ßen wie Lebenserwartung, Kindersterblichkeit, Adipositas, psychischen Störungen
oder Teenagerschwangerschaften in Beziehung. Und er findet stets die gleiche
Relation: Die gesundheitlichen Werte sind umso besser, je geringer die Einkom-
mensunterschiede in dem betreffenden Land sind (Abb. 15 bis 17).
Eindrücklich zeigt er auch, dass die Unterschiede nicht davon abhängen, wie
viel in einem Land für die gesundheitliche Versorgung ausgegeben wird: Die
durchschnittliche Lebenserwartung steigt keineswegs linear mit den Ausgaben
für den Gesundheitssektor an. Sie ist umso höher, je mehr Einkommensgleich-
heit herrscht, nicht wie viel Geld für das Gesundheitswesen ausgegeben wird.
Nach Wilkinson beleuchten die anderen Erklärungsmodelle zum Teil, warum
es den Menschen der unteren Schichten gesundheitlich schlechter geht als denen
der oberen Gruppen, nicht aber, warum es allen Menschen in Gesellschaften mit
großen Einkommensunterschieden schlechter geht. Er interpretiert seine Daten
damit, dass egalitäre Gesellschaften über einen größeren sozialen Zusammenhalt
82
Japan
Lebenserwartung in Jahren
Fachhochschule Ostschweiz FHS St. Gallen, Hochschule für Angewandte Wissenschaften / 152.96.188.38 (2023-09-25 11:27)
Schweden
80
USA
Irland
Dänemark
Portugal
76
niedrig Einkommensungleichheit hoch
7 USA
Kindersterblichkeit auf 1 000 Lebendgeburten
6 Neuseeland Portugal
Irland
Großbritannien
Israel
Dänemark Kanada
Griechenland
5 Belgien
Schweiz Australien
Österreich
Italien
Niederlande
Deutschland Frankreich
4 Spanien
Norwegen
Finnland
Japan Schweden
3 Singapur
USA
30
Griechenland
Großbritannien
Fachhochschule Ostschweiz FHS St. Gallen, Hochschule für Angewandte Wissenschaften / 152.96.188.38 (2023-09-25 11:27)
Prozentanteil Adipöse
20 Finnland
Deutschland
Irland Australien
Portugal
Neuseeland
Dänemark Österreich
Frankreich
Belgien
Kanada
Spanien
Norwegen Niederlande
10 Schweden Italien
Schweiz
Japan
0
niedrig Einkommensungleichheit hoch
Abbildung 17: Adipositas und Einkommensungleichheit (nach Wilkinson & Pickett 2009, S. 92)
verfügen, dass mehr soziale Netzwerke bestehen, weniger Neid und Abgrenzung.
Dieses positive soziale Klima vermittelt ein Gefühl von Sicherheit, schafft Ver-
trauen in die staatlichen Institutionen und lässt die Menschen mit Zuversicht in
die Zukunft blicken. Die Gründe für den besseren Gesundheitsstatus sind also
nicht vorwiegend ökonomischer, sondern sozialpsychologischer Natur. Ungleich-
heit löse Angst aus und führe zu subjektiv erlebtem sozialen Druck, der sich in
fortwährenden Stressreaktionen und damit biochemischen und immunologischen
Beeinträchtigungen niederschlage. Dies betreffe nicht nur die unteren Schichten,
sondern alle Mitglieder der Gesellschaft:
Ungleichheit bedeutet eine psychologische Last, die das Wohlbefinden der gesamten
Gesellschaft beeinträchtigt. (Wilkinson 2001, XXI)
Wie deutlich wurde, gibt es bisher keine plausible Theorie zur Erklärung der sozi-
11.3
alepidemiologisch
Ein festgestellten Zusammenhänge.
Modell des Zusammenhangs von sozialerDochund stehen die einzelnen Fak-
gesundheitlicher
toren auch
Ungleichheitnicht gänzlich zusammenhangslos nebeneinander. Das von Mielck (2000)
entworfene Erklärungsmodell (siehe Abb. 14) ist ein meines Erachtens gelungener
Wie deutlich
Versuch wurde, gibt
die Faktoren es bisher die
darzustellen, keine plausible
daran Theorie
teilhaben, dasszur Erklärung
soziale der sozi
Ungleichheit zu
alepidemiologisch festgestellten Zusammenhänge. Doch stehen die einzelnen
gesundheitlicher Ungleichheit führt. Es ist kein Erklärungsmodell in dem Sinne, dass
Faktoren auchdarüber
es Aufschluss nicht gänzlich zusammenhangslos
geben könnte, nebeneinander.
«wie» die einzelnen Faktoren derEssozialen
gibt diverse
Un-
Modelle, die die Zusammenhänge aufzeigen – in Deutschland wurde
gleichheit zu gesundheitlicher Ungleichheit führen. Aber es zeigt, dass die verhal-vor allem
das von Mielck
tensmäßigen (2000) entworfene
Risikofaktoren Erklärungsmodell
keineswegs unabhängig sind (siehe
vonAbb. ) bekannt.
den18Risiken und Res-
Doch gelingt es seinem Modell so wenig wie den anderen, Aufschluss
sourcen der Umgebung, der gesundheitlichen Versorgung, der Arbeitsbedingungen darüber
zu
– kurz: derwie
geben, die einzelnen
Verhältnisse. Und Faktoren der dass
es zeigt auch, sozialen Ungleichheit
gesundheitliche zu gesundheit-
Ungleichheit wie-
licher Ungleichheit führen. Was deutlich wird ist, dass die verhaltensmäßigen
derum auf soziale Ungleichheit zurückwirkt, dass Kranke somit in unserer Gesell-
Risikofaktoren keineswegs unabhängig sind von den Risiken und Ressourcen der
schaft geringere soziale Chancen, geringere Möglichkeiten zur Teilhabe haben.
Umgebung, der gesundheitlichen Versorgung, der Arbeitsbedingungen – kurz:
Soziale Ungleichheit
(Unterschiede in Wissen, Macht, Geld und Prestige)
Unterschiede im Gesundheitsverhalten
(z.B. Ernährung, Rauchen, Gesundheits-/Krankheitsverhalten)
Gesundheitliche Ungleichheit
(Unterschiede in der Morbidität und Mortalität)
(modifiziert nach Mielck 2000, S. 173)
Abbildung 14: Gesundheitliche Ungleichheit.
Abbildung 18: Gesundheitliche Ungleichheit.
der Verhältnisse. Und deutlich wird auch, dass gesundheitliche Ungleichheit wie-
derum auf soziale Ungleichheit zurückwirkt, dass Kranke somit in unserer Gesell-
schaft geringere soziale Chancen, geringere Möglichkeiten zur Teilhabe haben.
Diese Feedbackschleife von der gesundheitlichen auf die soziale Ungleichheit
wird in den meisten heutigen Erklärungsmodellen ausgeklammert. Dies geschieht
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In einer neueren Publikation schlägt Mielck (2005) vor, sich weniger um die
Erklärung der status-spezifischen Unterschiede in Morbidität und Mortalität
zu bemühen und statt dessen pragmatisch danach zu fragen, ob und wie die
gesundheitliche Ungleichheit verringert werden soll. Mit dieser Argumentation
entspricht er dem aktuellen Trend im Bereich der Gesundheitsförderung. Sowohl
in der Wissenschaft als auch in der Politik besteht ein gewisser Konsens, dass
die gesundheitliche Ungleichheit verringert werden muss, und es werden Pro-
gramme und Maßnahmen entwickelt, mit denen eine Verbesserung der gesund-
heitlichen Situation der sozial Schwächeren erreicht werden soll. Zielgruppen
sind die Benachteiligten und es wird nach Modellen guter Praxis gesucht, mit
denen Übergewicht und Teenageschwangerschaften reduziert, Zahngesundheit
und Kondomgebrauch hingegen gefördert werden.
Obwohl ich wie Mielck bezweifle, dass (in absehbarer Zeit) ein Modell gefun-
den wird, das alle sozialepidemiologisch relevanten Faktoren berücksichtigt,
halte ich es für nicht richtig, die Theoriebildung aufzugeben. Im Gegenteil: Wir
brauchen nicht noch mehr Daten, die das immer gleiche Ergebnis bestätigen,
sondern wir müssen Theorien entwickeln, die diese Daten auf dem Hintergrund
der gesellschaftlichen Situation analysieren. Wie die Zahlen der Organisation für
wirtschaftliche Zusammenarbeit OECD zeigen, nimmt die soziale Ungleichheit
in fast allen Ländern zu, wobei das Tempo des Auseinanderdriftens zwischen
den sozial unteren und oberen Schichten in Deutschland besonders rasant ist
(www.oecd.org). Es ist somit zu erwarten, dass sich auch die gesundheitliche
Schere noch weiter verbreitern wird.
In dieser Situation sind Maßnahmen, die sich speziell an die unteren Schichten
richten, allenfalls ein Trostpflaster, das die Auswirkungen der ungleichen Res-
sourcenverteilung überdeckt. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass diese Maßnah-
men die Situation noch verschärfen, da sie diejenigen, die angesprochen werden
sollen, nicht erreichen. Vorsichtig formulieren Weyers und Richter:
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(Es) werden Maßnahmen konzipiert, die auf vulnerablen Gruppen fokussieren wie
z. B. Arbeitslose, Migranten, Hauptschüler. Während der Wirksamkeitsnachweis die-
ser Maßnahmen oft ausbleibt, wurde in keinem uns bisher bekannten Fall geprüft, ob
sich nach einer Intervention der gesundheitliche Abstand zwischen der vulnerablen
Gruppe und einer besser gestellten Gruppe verkleinert hat. (2010, S. 386)
wird durch empirisches Material gestützt. Und dennoch: Ist nicht vorstellbar,
dass sich der arbeitslos werdende Mechaniker mehr auf sein soziales Netz verlas-
sen kann als der geschasste junge Banker? Ist er nicht vielleicht genauso gut oder
sogar eher in der Lage, seine materielle Situation an die neue Lebenssituation
anzupassen? Laufen viele der gutgemeinten Gesundheitsförderungsprogramme
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ins Leere, weil die, die sie planen und durchführen, blind sind für die Ressourcen
derer, die sie fördern sollen? Welche Ressourcen bieten die sozialen Netzwerke
der unteren gesellschaftlichen Gruppen? Welche Dienstleistungen werden in
diesen Netzen im reziproken Austausch erbracht? Welche kommunikativen
Kompetenzen helfen im Umgang mit Behörden? Vielleicht käme man zu ande-
ren Lösungen, wenn man sich weniger auf die Defizite konzentrieren und den
vorhandenen Ressourcen mehr Beachtung schenken würde.
Meines Erachtens wird auch der Wert, den Gesundheit für die Menschen in
den unteren sozialen Gruppen hat und haben kann, zu wenig berücksichtigt.
Fünfzehn Kilo Übergewicht sind für die Vorstandssekretärin einer Großbank
ein schweres Problem; die in gleichem Ausmaß übergewichtige alleinerziehende
Frau, die mit ihren Kindern von Hartz IV lebt, hat andere Sorgen als ihr Gewicht.
Gesundheit, Schlanksein, Sportlichsein – das sind Werte, die für andere gelten
mögen – sie selbst ist froh, wenn sie ihren Alltag möglichst ohne Schmerzen und
gravierende Funktionseinschränkungen bewältigt.
Lohnend wäre auch, manche der Kriterien in Frage zu stellen, die in der
Forschung verwendet werden. So wird der Bewegungsmangel in der Regel über
sportliche Aktivitäten erfasst – läuft der golfende Manager wirklich mehr als
der Postbote? Und würden sich die Ergebnisse verändern, wenn statt nach den
Stunden, die man beim Joggen oder im Fitnessstudio verbringt, danach gefragt
würde, wie viel Zeit man im Schrebergarten arbeitet, ob man mit dem Fahrrad
zum Einkaufen fährt und wie viele Stufen zwischen Keller und Wohnung liegen?
Manche der Theorien scheinen mir sogar explizit nicht geeignet zu sein, die
Unterschiede zwischen den oberen und unteren Klassen zu erklären. Als Beispiel
das Modell beruflicher Gratifikationskrisen: Sind nicht gerade in der aktuellen
Situation am Arbeitsmarkt besonders Menschen der oberen Gruppen betroffen,
die sich verausgaben in der Annahme, sie könnten hierdurch einen beruflichen
Aufstieg schaffen? Also zum Beispiel Assistenzärztinnen und Juniorprofessoren,
Berufseinsteiger in Wirtschaftsprüfungsunternehmen und Werbeagenturen?
Der Kardinalfehler aller Programme jedoch, die sich anschicken, gesundheit-
liche Chancengleichheit dadurch herstellen zu wollen, dass sie sich an benachtei-
ligte Gruppen richten, besteht darin, dass sie zwar die soziale Hierarchie berück-
sichtigen, nicht aber die soziale Schere.
Nach meiner persönlichen Überzeugung erklärt das Modell von Wilkinson
die gesundheitlichen Unterschiede am besten. Denn es fokussiert nicht nur auf
die unteren sozialen Gruppen sondern auf die gesamte Gesellschaft, und diesbe-
züglich zeigt Wilkinson, dass wir alle im gleichen Boot sitzen. Wenn gesundheit-
liche Ungleichheit da am größten ist, wo die sozialen Unterschiede am größten
sind, hat dies auch entscheidende Auswirkungen auf die Planung gesundheits-
förderlicher Maßnahmen. Maßnahmen, die nur für «die da unten» sind, laufen
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Weiterführende Literatur
Deppe, H.-U. & Regus, M. (Hrsg.) (1975). Seminar: Medizin, Gesellschaft, Geschichte. Beiträ-
ge zur Entwicklungsgeschichte der Medizinsoziologie. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
McKeown, T. (1979). Die Bedeutung der Medizin. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
12
Fachhochschule Ostschweiz FHS St. Gallen, Hochschule für Angewandte Wissenschaften / 152.96.188.38 (2023-09-25 11:27)
Subjektive Theorien
von Gesundheit und Krankheit
Die übliche Tranquilizerparole lautete: Glauben Sie ja nicht, der Erste und Einzige
auf der Welt zu sein, der eine Krankheit hat; Millionen sind vor Ihnen gestorben und
werden nach Ihnen sterben. Das interessiert aber den Moribunden zuallerletzt, er
fühlt, dass das Leben immer in der Ichform gelingt oder scheitert. (Hermann Burger:
Die künstliche Mutter)
Theorienbildung stellt eine der Hauptaufgaben von Wissenschaft dar, aber die
Formulierung und Überprüfung von Theorien ist keineswegs eine exklusive
Aufgabe oder Beschäftigung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern.
Vielmehr bilden sich alle Menschen im Laufe ihres Lebens Theorien über sich
und die Welt – jeder Mensch ist in diesem Sinne wissenschaftlich tätig: Er
oder sie reflektiert über sich selbst und die Umwelt und bildet Annahmen und
Argumentationsstrukturen über Vorgänge, Zusammenhänge und eigenes und
fremdes Handeln und Erleben. Diese Theorien werden als «subjektive Theorien»,
«Alltagstheorien» oder «Laientheorien» bezeichnet.
Alltagstheorien wurden in der Wissenschaft lange sträflich behandelt, und
auch heute werden sie durchaus nicht überall ernst genommen. Dass dies auch –
oder vielleicht sogar besonders – für den Bereich von Gesundheit und Krankheit
gilt, wurde in den vorausgegangenen Kapiteln deutlich. Das biomedizinische
Krankheitsmodell basiert darauf, dass Experten und Expertinnen den aktuellen
Wissensstand kennen und damit wissen, was richtig ist. Auch Risikofaktoren-
und Diathese-Stress-Modelle so wie die wichtigsten psychosomatischen und
soziokulturellen Modelle betrachten Krankheit aus fachlicher Perspektive von
außen. Die eigentlich Betroffenen werden als Nicht-Fachleute, als Laien, igno-
riert. Das, was sie – «die Menschen da draußen» – über Gesundheit, Krankheit
und Behinderung denken, spielt in der Theoriebildung zumeist keine Rolle.
12.1
Subjektive Theorien als Thema der Gesundheitswissenschaften
Etwa seit den 1970er-Jahren jedoch wurden subjektive Theorien auch als Thema für
die Gesundheitswissenschaften entdeckt. Dies nicht nur aus der grundsätzlichen
wissenschaftlichen Neugier heraus, der zufolge alles zu erforschen ist, was existiert,
Fachhochschule Ostschweiz FHS St. Gallen, Hochschule für Angewandte Wissenschaften / 152.96.188.38 (2023-09-25 11:27)
sondern auch, weil damit ein breites Spektrum von Zielen verfolgt werden kann:
Die Untersuchung subjektiver Theorien verspricht Einblick in das Gesund-
heitsund Krankheitsverhalten von Menschen. Geht man davon aus, dass
Menschen nicht «einfach drauf los» agieren, sondern dass sie aktiv handeln,
Absichten verfolgen und begründete Annahmen darüber haben, was zu tun sinn-
voll, zweckmäßig und zielführend ist, ist die Kenntnis dieser Annahmen, sprich:
dieser Theorien, notwendig, um die Motive und Handlungen von Personen zu
verstehen. Von der Untersuchung subjektiver Theorien von Gesundheit und
Krankheit ist somit zu erwarten, dass mehr Aufschluss darüber gewonnen wird,
warum Menschen sich richtig oder zu fett ernähren, unter welchen Bedingungen
sie sich mehr oder weniger bewegen, warum sie rauchen, obwohl sie Lungenkrebs
haben, oder auch nach dem zweiten Herzinfarkt nicht aufhören, pausenlos zu
arbeiten und sich für jeden Kleinkram verantwortlich zu fühlen. Dieses Wissen
befriedigt nicht nur wissenschaftlichen Forscherdrang, sondern ist direkt nutz-
bar für Gesundheitsförderung, Therapie und Rehabilitation.
Wenn auch das biomedizinische Modell auf dem Monopol des Experten-
wissens basiert, so existieren in der Realität der gesundheitlichen Versorgung
wissenschaftliche Theorien und Laientheorien nebeneinander. Klientinnen und
Klienten, Patientinnen und Patienten verhalten sich nicht unbedingt so, wie es
wissenschaftlich richtig ist. Die meisten akzeptieren die fachlichen Regeln und
Theorien nur insoweit, wie sie sie überzeugend finden – und das heißt meistens:
wie sie mit ihren eigenen Vorstellungen übereinstimmen. Die Kenntnis von Lai-
enkonzepten ermöglicht daher auch den Behandelnden, sich besser in die Vor-
stellungswelt der Patientinnen und Patienten einzufühlen und die subjektiven
Konzepte in der Planung von Maßnahmen berücksichtigen zu können.
Forscherinnen und Forscher erwarten darüber hinaus von der Kenntnis
subjektiver Theorien Impulse für ihre eigene wissenschaftliche Theoriebildung
(Heckhausen 1975; Groeben, Wahl, Schlee & Scheele 1988). Betrachtet man Laien
als die wahren Expertinnen und Experten ihres Lebens, so ist es nicht nur hoch-
mütig, sondern ignorant und dumm, gerade auf dieses Wissen bei der eigenen
wissenschaftlichen Theoriebildung zu verzichten.
Die am häufigsten verwendete Methode zur Erforschung der subjektiven
Theorien sind Interviewstudien, wobei verschiedene Formen des Interviews und
entsprechend verschiedene Auswertungsmethoden zur Anwendung kommen.
Im Gesundheitsbereich wurden auch Fragebogen zur Erfassung subjektiver
Theorien entwickelt. Diese haben in der Forschung den Vorteil, dass sie hypo-
thesengeleitet eingesetzt und ausgewertet werden können. Der Nachteil besteht
allerdings darin, dass nur solche Inhalte erfasst werden können, die von den
Forschern vorgegeben wurden. Damit sind Fragebogen gerade nicht in der Lage,
das hervorzulocken, was sie eigentlich zu erfassen beanspruchen: die dem Exper-
Fachhochschule Ostschweiz FHS St. Gallen, Hochschule für Angewandte Wissenschaften / 152.96.188.38 (2023-09-25 11:27)
12.2
Subjektive Theorien von Gesundheit
Ein interessantes Ergebnis der bisherigen Forschung zu subjektiven Gesundheits-
theorien ist, dass in allen Untersuchungen eindeutig die Nennung von positiven
Gesundheitsdefinitionen überwiegt. Die meisten «Laien» definieren Gesundheit
somit nicht primär als Abwesenheit von Krankheit, sondern sie verbinden mit
dem Begriff eigene positive Inhalte und Vorstellungen. Das der medizinischen
Versorgung zu Grunde liegende dichotome Modell von Gesundheit oder Krank-
heit ist nicht das Modell, das die Mehrzahl der Menschen teilt und das ihrem
Erleben entspricht. In einer Untersuchung einer repräsentativen Stichprobe von
über 7 000 Personen in Großbritannien beispielsweise (Blaxter 1990) definierten
nur 13 % der Befragten die Gesundheit als Abwesenheit von Krankheit – die
anderen nannten positive Inhalte, die sie mit Gesundheit verbinden. Die Kate-
gorien, die als häufigste als Indikator und Bestandteil von Gesundheit genannt
werden, sind
• (psychisches) Wohlbefinden
• Leistungsfähigkeit
• körperliche Fitness.
In Bezug auf die relative Gewichtung dieser Variablen unterscheiden sich die
Menschen je nach Geschlecht, sozialer Schicht, Berufszugehörigkeit und Alter
deutlich: Frauen betonen vor allem die Bedeutung des Wohlbefindens, Männer
assoziieren Gesundheit vor allem mit Leistungsfähigkeit und damit, dass sie
ihren Körper nicht irgendwie negativ spüren. Menschen unterer Sozialschichten
sind Variablen des Funktionierens, der Leistungsfähigkeit besonders wichtig, alte
Menschen beurteilen ihren Gesundheitszustand vor allem daran, dass sie wenige
Der Verdienst solcher Einteilungen liegt darin, dass sie das Spektrum aufzeigen,
das Menschen mit dem Begriff «Gesundheit» verbinden. Sie können damit ein
wichtiger Schritt auf dem Weg sein, Gesundheitstheorien in ihrer Abhängigkeit
von Personengruppen, Lebenssituationen und Lebensphasen zu erforschen. Eine
bessere Kenntnis der subjektiven Gesundheitstheorien kann nicht nur zu einer
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12.3
Subjektive Krankheitstheorien
Die Untersuchung subjektiver Krankheitstheorien konzentriert sich auf zwei
Schwerpunkte: Zum einen auf die Erforschung der Konzepte, die Menschen
generell von Krankheit haben, und zweitens auf die Erforschung der Konzepte
von Patientinnen und Patienten einer bestimmten Erkrankungsgruppe über
diese Krankheit.
Bisher hat sich die Forschung sehr viel mehr mit der zweiten Thematik beschäf-
tigt, wobei insbesondere Menschen mit Krebserkrankungen, Herz-Kreislauf-
Erkrankungen, Aids und psychischen Erkrankungen im Zentrum des Interesses
stehen. Im Bezug auf die subjektiven Theorien werden dabei vor allem die fol-
genden Aspekte untersucht:
• Wie wird die Krankheit erkannt? Wie wird sie wahrgenommen?
• Welche Annahmen bestehen über die Ursachen der Erkrankung?
• Welche Erwartungen bestehen über den zeitlichen Verlauf und die Dauer der
Erkrankung?
• Welche Erwartungen bestehen über die unmittelbaren und langfristigen Fol-
gen der Erkrankung?
• Welche Annahmen bestehen über Möglichkeiten von Krankheitsüberwin-
dung und Heilung?
was ich wahrnehme, tatsächlich eine Abweichung vom gesunden Zustand? Und
wenn ja, wofür steht dann das Symptom? Hängen die ständigen Kopfschmerzen
damit zusammen, dass ich zu viele Stunden vor dem Computer verbracht habe
oder sind sie Symptome eines Hirntumors? Ist meine Vergesslichkeit normal für
mein Alter oder Zeichen einer beginnenden Alzheimererkrankung? Zumeist wer-
den zunächst Personen der näheren Umgebung um eine Bestätigung der eigenen
Wahrnehmung gefragt – «Meinst Du, das könnte etwas Krankes sein?» – und bei
weiter bestehender Unsicherheit wird dann die ärztliche, «fachliche» Diagnose
eingeholt. Die Zeitspanne, in der sich dieser Vorgang abspielt, ist sehr unterschied-
lich: Während die einen aus Angst vor Bestätigung ihrer düstersten Prognosen
eine Abklärung möglichst lange hinaus zögern, halten andere die Unsicherheit
nicht aus und wollen schnell die fachliche Diagnose. In jedem Fall aber scheinen
Menschen sich den bisherigen Untersuchungen zufolge hinsichtlich ihrer Eigen-
Definition als «krank» weniger auf sich selbst verlassen, als wenn es darum geht,
ob sie gesund sind.
Die bisher wichtigste Erkenntnis aus der Erforschung subjektiver Krankheits-
theorien ist aus meiner Sicht, dass Laien den psychosozialen Bedingungen und
Umweltfaktoren eine größere Bedeutung im Krankheitsgeschehen beimessen,
als dies in den meisten wissenschaftlichen Theorien der Fall ist. Besonders
Frauen betrachten psychische und soziale Faktoren als wesentlich sowohl bei
der Annahme über die Verursachung von Krankheit als auch hinsichtlich der
Chancen für ihre Überwindung (Faltermeier & Brütt 2009, Franke 1984, 1987).
Das weitere Forschungsergebnis, dass die subjektiven Theorien über Krank-
heit sehr heterogen sind und deutlich durch das Alter, das Geschlecht, die soziale
Schicht der Betroffenen und ihr Bildungsniveau determiniert sind, finde ich
wenig überraschend.
Erstaunlicherweise gibt es bisher nur wenige Erkenntnisse darüber, wie
Krankheit subjektiv definiert wird. Auf der körperlichen Ebene wird Krank-
heit vor allem als Störung der normalen Körperfunktionen begriffen und mit
Schmerzen assoziiert. Auf der sozialen Ebene sind mit Krankheit – vor allem
bei Frauen – Befürchtungen verbunden, in soziale Abhängigkeit zu geraten oder
– vor allem bei Männern – durch Krankheit einen sozialen Abstieg und soziale
Ausgrenzung zu erleiden. Auf der psychischen Ebene sind mit Krankheit vor
allem die Wahrnehmung eigener Schwäche und Einschränkungen der eigenen
Handlungsmöglichkeiten verbunden. Aber auch positive Aspekte von Krankheit
werden geäußert: So ist Krankheit ein deutliches Warnsignal, kann auf Überfor-
derung des Organismus hinweisen und ein Denkanstoß zu Veränderungen im
Leben sein.
Ein vermutlich wichtiger – aber ebenfalls noch kaum untersuchter – Aspekt
der subjektiven Theorien von Krankheit sind auch religiöse, spirituelle oder
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13
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Zur Klärung von Fragen wie den oben stehenden wurden zahlreiche Modelle ent-
wickelt, wobei der Schwerpunkt der Theoriebildung eindeutig bei den Modellen
des Gesundheitsverhaltens liegt. Übergeordnetes Ziel der Forschung ist, Zusam-
menhänge zwischen gesundheitsförderlichem Verhalten und seinen Determi-
nanten zu beschreiben – oder besser noch: zu erklären, um dieses Wissen für die
Gesundheitsförderung zu nutzen. Das Verhalten von kranken Menschen wurde
demgegenüber erstaunlicherweise nur wenig untersucht – obwohl Einigkeit
darüber besteht, dass die Kenntnis der Reaktionen kranker Menschen notwen-
dige Faktoren für Therapie und Rehabilitation sind.
13.1
Modelle des Gesundheitsverhaltens
Im Folgenden werden zunächst zwei Modelle vorgestellt, die der Gruppe der
kognitiven Modelle zugerechnet werden – das Modell gesundheitlicher Über-
zeugungen und die Theorie des geplanten Verhaltens. Diese in der Psychologie
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13.1.1
Kognitive Modelle
Das Modell gesundheitlicher Überzeugungen (Health Belief Model, Abb. 19)
wurde von Rosenstock (1966) entworfen und später von Becker weiterentwickelt
(Becker 1974, Janz & Becker 1984). Das ursprüngliche Ziel war herauszufinden,
wie Menschen bewegt werden können, an Vorsorgeuntersuchungen teilzuneh-
men und ärztliche Maßnahmen zu befolgen. Dabei gingen die Autoren von der
Überzeugung aus, dass Menschen rational denken und handeln und dass sie den
Wunsch haben, Krankheiten zu vermeiden bzw. wieder gesund zu werden. Zeige
man ihnen auf, inwieweit ihr aktuelles Verhalten negative Konsequenzen habe
und ein alternatives Verhalten positive, so könne dies zu einer Verhaltensände-
rung führen.
Den Kern des Modells bilden Kosten-Nutzen-Überlegungen: Eine Verhaltens-
änderung wird demnach nur stattfinden, wenn der zu erwartende gesundheit-
liche Nutzen die Anstrengungen und Unannehmlichkeiten, die die Veränderung
mit sich bringt, übersteigt. Als entscheidende Kosten-Nutzen-Faktoren betrach-
tet das Modell dabei auf der einen Seite die wahrgenommene Gesundheitsbe-
drohung, auf der anderen Seite die erwartete gesundheitliche Verbesserung. Je
höher der Grad der wahrgenommenen Gesundheitsbedrohung auf der einen und
das Maß des erwarteten Nutzens der Verhaltensänderung auf der anderen Seite
erscheinen, umso wahrscheinlicher ist, dass eine Person sich künftig gesund-
heitsförderlicher verhalten wird.
Die wahrgenommene Gesundheitsbedrohung wird dem Modell zufolge durch
zwei Aspekte bestimmt: Dadurch, wie anfällig sich jemand für eine bestimmte
Erkrankung fühlt und dadurch, für wie ernsthaft die Person diese Erkrankung
Demografische Variablen
(Alter, Geschlecht, etc.)
Sozio-psychologische Variablen
(Persönlichkeitsmerkmale, soz. Schicht etc.
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Wahrgenommene Wahrgenommener
Anfälligkeit für eine Nutzen einer
Erkrankung Handlung
Wahrgenommene Wahrgenommene
Ernsthaftigkeit der Barrieren
Erkrankung
Wahrgenommene Erwarteter
Gesundheitsbedrohung Nutzen
Handlungsanstöße
(extern oder intern)
Gesundheitsverhalten
ansieht: Eine Frau, deren Großmutter, Mutter und ältere Schwester an Brustkrebs
erkrankt sind, wird ihre eigene Anfälligkeit für eine Brustkrebserkrankung aufgrund
der genetischen Belastung als sehr hoch einschätzen. Gleichzeitig hat sie durch den
Verlauf der Erkrankung bei ihren Verwandten erlebt, wie schwer diese Erkrankung
verläuft und mit welchen Schmerzen und Komplikationen sie verbunden sein kann.
Diese Frau wird sich durch ein Mammakarzinom potenziell sehr bedroht fühlen,
wohingegen ihre Freundin, in deren Familie kein Familienmitglied diese Erkran-
kung hatte und die auch sonst keine Erfahrungen mit der Erkrankung machen
konnte, ihre eigene Gesundheitsbedrohung eher als niedrig einschätzen wird.
Der erwartete Nutzen ist davon abhängig, wie hoch der mögliche Nutzen einer
Handlung bewertet wird sowie dadurch, welche Komplikationen bzw. Barrieren
dem entgegenstehen. Hat die Frau mit dem hohen Brustkrebsrisiko wahrgenom-
men, dass ihre Mutter regelmäßig zu den Vorsorgeuntersuchungen gegangen ist,
die Knoten in der Brust aber dennoch nicht rechtzeitig entdeckt wurden, so ist
Ergebnisüberzeugung
Einstellung
gegenüber
dem
Verhalten
Ergebnisbewertung
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Normative
Überzeugungen
Subjektive Verhaltens-
intension Verhalten
Norm
Motivation den
Normativen
Erwartungen zu
entsprechen
Control beliefs
Wahrgenommene
Kontrolle
Perceived Power
Abbildung 20: Theorie des rationalen Handelns und Theorie des geplanten Verhaltens.
wird sich umso stärker auf die Verhaltensintention auswirken, je mehr die Person
denkt, dass andere ein bestimmtes Verhalten von ihr erwarten und je mehr sie
bereit ist, diesen Erwartungen zu entsprechen. Glaubt sie, dass es den anderen
egal ist, wie sie sich verhält, und/oder ist ihr egal, ob sie den vermeintlichen
Erwartungen entspricht oder nicht, so wird dies die Intention, das Verhalten zu
realisieren, nicht stärken. Unser Marathonläufer wird somit umso schneller mit
dem Rauchen aufhören, je wichtiger ihm die Beurteilung seiner Kollegen und die
der am Ziel wartenden ebenfalls sportlichen Freundin sind.
Die wahrgenommene Verhaltenskontrolle steht für die Überzeugung einer
Person, dass sie Kontrolle über das fragliche Verhalten hat. Je höher das Ausmaß
dieser Überzeugung, umso mehr wird es sich auf die Intention auswirken und
damit ein bestimmtes Verhalten begünstigen. Das Ausmaß der wahrgenom-
menen Verhaltenskontrolle hängt nach Ajzen von zwei Faktoren ab: «control
beliefs» und «perceived power». Diese beiden Begriffe sind terminologisch
unscharf und weichen von der üblichen Sprachregelung ab: Unter «control
beliefs» wird verstanden, welche Ressourcen und Barrieren eine Person für sich
sieht, um Kontrolle ausüben zu können, und «perceived power» kennzeichnet,
für wie potent sie diese Kontrollmöglichkeiten einschätzt.
13.1.2
Stadienmodelle
Stadienmodelle wollen den Prozess der Veränderung beschreiben. Sie haben
nicht den Anspruch zu erklären, warum und unter welchen Bedingungen Ver-
halten entsteht und sich verändert. Dabei gehen Stadienmodelle davon aus, dass
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Verhaltensänderung nicht ein Ereignis darstellt, sondern dass sie sich in einem
Prozess vollzieht – der unter Umständen lange dauern und in dem es auch zu
Stagnation und Rückfällen kommen kann. Begründer der Stadienmodelle waren
Prochaska und DiClemente (1983), deren ursprüngliches Projekt darin bestan-
den hatte, eine vergleichende Analyse der Wirkvariablen in den verschiedenen
psychotherapeutischen Konzepten durchzuführen. Dabei kamen sie zu dem
Schluss, dass die Mehrzahl der Psychotherapieschulen einen wesentlichen Faktor
des Veränderungsprozesses schlicht übersah: die Zeit. Sie entwickelten daraufhin
ihr Transtheoretisches Modell der Phasen der Verhaltensänderung (Tab. 8), in
dem fünf (später sechs) Phasen des Veränderungsprozesses unterschieden wer-
den. Jede dieser Phasen gilt als von den anderen Phasen qualitativ abgrenzbar,
was bedeutet, dass sich die Menschen in dieser Phase in Motivation, Kognitionen
und Verhalten ähnlich sind und sich diesbezüglich von den Personen in allen
anderen Stadien des Prozesses unterscheiden. Das Modell heißt transtheoretisch,
weil es Komponenten verschiedenster Modelle einbezieht. Kernstück sind jedoch
die sechs Phasen. Gemäß dem Modell muss man diese durchlaufen, um erfolg-
reich eine Änderung des Verhaltens durchzuführen.
Die Phasen laufen nicht nach einem immer gleichen Schema ab, sondern die
Autoren nennen eine Vielzahl von Variablen, die Einfluss auf den Veränderungs-
prozess haben: Hierzu gehören Selbstwirksamkeitserwartungen, Entscheidungs-
balance, Bewusstseinserweiterung, Neubewertung der eigenen Person und der
Umwelt, hilfreiche Beziehungen, aber auch die Versuchung durch das alte Ver-
halten oder durch alte Anreize wie Schokolade, Zigaretten, Drogen (Prochaska,
Redding & Evers 2002). Diese Prozessvariablen wirken sich je nach der Phase,
in der sich eine Person befindet, unterschiedlich aus. So steigt zum Beispiel die
Selbstwirksamkeitserwartung kontinuierlich an, während die Versuchung durch
Faktoren, die dem Zielverhalten konträr sind, nach und nach sinkt: Je länger
eine Person nicht mehr raucht, um so mehr ist sie davon überzeugt, dass sie für
den Rest ihres Lebens auf Tabak verzichten können wird, und in immer weniger
Situationen wird sie den Wunsch verspüren, doch eine Zigarette zu schnorren.
Phase Prozess
Absichtslosigkeit Die Person hat kein Problembewusstsein, keine Absicht
(precontemplation) zur Veränderung. Für problembezogene Informationen ist
sie wenig empfänglich.
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dass die Intention lediglich etwa 20 bis 30 % der Varianz im Verhalten erklären
kann (Sheeran 2002, Cooke & French 2008).
Die kognitiven Modelle eignen sich somit noch nicht, zufriedenstellend das
große Problem der Gesundheitserziehung zu lösen, wie man Menschen bewegen
kann, sich auch so zu verhalten, wie es ihrer eigenen Überzeugung zufolge gut
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wäre. Ein Grund dafür liegt wohl darin, dass sie der Ratio große Bedeutung bei-
messen, die emotionale Seite jedoch vernachlässigen – also das, was Menschen
mit dem Satz: «Vom Verstand her seh ich’s ja ein, aber …» ausdrücken. Um den
Vorhersagewert zu erhöhen, müssten emotionale Komponenten in den kogni-
tiven Modellen sehr viel stärker berücksichtigt werden.
Eine weiterer Mangel der kognitiven Modelle liegt in der ungenügenden Berück-
sichtigung der Tatsache, dass die Gewichtung der unabhängigen Variablen je nach
Person sehr! variieren kann. Eine Frau, der ihre schlanke Figur wichtig ist, kann
hundert gute rationale Gründe haben, warum es gut wäre, mit dem Rauchen auf-
zuhören und zudem die Sicherheit, dass ihre gesamte soziale Umwelt es wunderbar
fände, wenn sie nicht mehr rauchen würde – wenn sie Angst hat, durch die Auf-
gabe des Rauchens fünf Kilo zuzunehmen, wird sie weiterrauchen – hundert guten
Gegenargumenten zum Trotz.
Die Theorie des geplanten Verhaltens hat zudem dadurch eine begrenzte Reich-
weite, dass sie grundsätzlich nur für Verhalten geeignet ist, bei dem die soziale
Wertung eine Rolle spielt – und dies ist keineswegs bei allen aus gesundheitlicher
Sicht gewünschten Verhaltensweisen der Fall. Für die soziale Anerkennung vie-
ler Männer etwa wird es wichtiger sein, dass sie beruflich leistungsfähig sind,
im Verein beim Biertrinken mithalten und dem Nachbarn beim Umzug helfen
können als dass sie regelmäßig ein Entspannungstraining machen, sich täglich
zweimal die Zähne putzen und fünf Portionen Obst essen. Und braungebrannt
aus dem Urlaub zurück zu kommen bringt immer noch mehr Anerkennung im
Kollegenkreis als gesund sonnengeschützt – aber weiß.
Die Stadienmodelle haben, obwohl sie nur Beschreibungsmodelle sind, in der
Praxis sehr viel Anerkennung gefunden. Sie sind z. B. in der Arbeit mit Drogen-
abhängigen sehr hilfreich, wenn es gilt, den schwierigen Prozess des Ausstiegs
zu begleiten und den Betroffenen in den verschiedenen Stadien des Prozesses ihr
eigenes Verhalten und Erleben verständlich zu machen. Kritik kommt hier mehr
von der wissenschaftlichen Seite: Zum einen gelten die definierten Zeiteinheiten
als zu statisch, außerdem ist empirisch noch unklar, ob die Stadien wirklich
qualitativ unterschiedlich sind oder ob es sich nicht um kontinuierliche Merk-
malsausprägungen handelt, die willkürlich in voneinander abgrenzbare Phasen
eingeteilt worden sind.
13.2
Modelle des Krankheitsverhaltens
Der Begriff Krankheitsverhalten wurde von dem Medizinsoziologen David
Mechanic (1962) geprägt. Er bezeichnete damit alle Reaktionen auf ein oder meh-
rere Symptome und unterteilte die Komponenten dieser komplexen Reaktion in:
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Therapietreue
13.2.1
Phasenmodelle
Phasenmodelle beschreiben die Reaktionen von Menschen nach einer schweren
plötzlichen Erkrankung, nach einem Unfall oder der Mitteilung der Diagnose
einer chronischen und ggf. lebensbedrohenden Krankheit. In den meisten dieser
Modelle wird der Prozess nach einem solchen Ereignis in fünf oder sechs Phasen
eingeteilt, wobei die Phasen nicht streng voneinander getrennt sind, sondern
immer wieder auch Reaktionsweisen einer früheren Phase auftreten können. Ich
beschreibe im Folgenden nicht einzelne Modelle, sondern fasse zusammen, wel-
che Phasen in den diversen Modellen (z. B. Berry & Zimmermann 1983, Horowitz
1983) ziemlich übereinstimmend genannt werden.
Nach einer ersten Schock- oder Aufschreiphase kommt es zu folgenden Reak-
tionen:
• Verleugnung: Die Person fühlt sich taub und benommen, nimmt Informationen
und Reize selektiv wahr, hat Gedächtnislücken, fantasiert positive Entwicklungen,
die den realen Informationen entgegen stehen. Menschen erinnern sich in dieser
Phase zum Beispiel nicht an für sie negative Informationen aus einem Arztge-
spräch und verhalten sich so, wie wenn es die Diagnose nicht gäbe. Manche
verfallen in hektische Aktivitäten, andere ziehen sich zurück und isolieren sich.
• Intrusion, Ärger: Die Gedanken kreisen ständig um die Erkrankung und ihre
möglichen Konsequenzen und es kommt zu emotionalen Ausbrüchen, die sich
in Wut und Ärger äußern können. Das Nicht-wahrhaben-Wollen weicht einem
Das-darf nicht-wahr-sein, einem Zorn auch auf Behandler und Pflegekräfte,
die den Kranken ja schon durch ihre bloße Existenz mit seiner Krankheit
konfrontieren. Vor diesem Zorn sind auch nahe stehende Menschen nicht
verschont, denn auch sie geraten naturgemäß in die der Krankenrolle komple-
mentäre soziale Rolle.
• Verhandeln: Mit Ärzten, Pflegern, aber auch mit Gott und dem eigenen Körper
wird versucht, zu verhandeln: «Wenn ich die Medikamente jetzt regelmäßig
nehme, wird das dann sicher helfen?» Versprechen werden gemacht: «Wenn
ich dieses Mal davonkomme, dann werde ich nie mehr rauchen», oder auch
Gelübde abgelegt.
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• Depression: Mit wachsender Erkenntnis, dass die Krankheit nicht nur ein
vorübergehendes Ereignis ist, sondern lebenslänglich oder auch zum Tode
führend, kann es zu depressiven Reaktionen kommen. Diese Phase ist von
Mut- und Hoffnungslosigkeit geprägt, Rückzug und Traurigkeit.
• Akzeptanz, Anpassung: Auch in den Phasenmodellen wird davon ausgegan-
gen, dass es den meisten Menschen gelingt, ihre Realität letztlich anzunehmen
und sich auf ein Leben mit der Krankheit oder Behinderung einzustellen. In
dieser Phase werden Pläne für das weitere Leben gemacht, notwendige Verän-
derungen in Beruf, Wohnung, Tagesablauf vorgenommen. Der Kontakt zu dem
betreuenden Personal wird besser, ärztliche Verordnungen werden akzeptiert.
13.2.2
Chronisches Krankheitsverhalten
Was aber ist mit den Menschen, die die Krankheit nicht bewältigen, die sich nicht
auf ein Leben mit der Erkrankung oder Behinderung einstellen können, die in
einer Phase der Bewältigung verharren? Gerade die sind es doch, die besonders lei-
den und alle negativen Auswirkungen der Erkrankung am meisten spüren, die den
Professionellen das Leben besonders schwer machen, weil sie sich allen gängigen
Hilfsangeboten versagen, und die zudem auch besonders hohe Kosten verursachen.
Diese Gruppe geriet bei der Suche nach Verlauf und Strategien der Bewältigung
leider ins Abseits der forscherischen Interessen. Es handelt sich um Patientinnen
und Patienten, die sich nach Expertenmeinung «zu krank» verhalten. Aber wie
kann man beurteilen, ob das Ausmaß des Krankheitsverhaltens dem Ausmaß
der Erkrankung «an sich» entspricht? Befund und Befinden können bekannter-
maßen erheblich differieren.
Einen konstruktiven Ausweg aus diesem Dilemma fanden Zielke, Sturm &
Leidig 1986, als sie die primäre Erkrankung von dem, was sich im langjährigen
Verlauf an Auffälligkeiten um sie herum bildet, entkoppelten. Das Bündel der
Verhaltensauffälligkeiten nannten sie chronisches Krankheitsverhalten. Die
Deskription chronischen Krankheitsverhaltens ist in Tabelle 9 zusammengefasst:
bei unrealistischer Zielperspektive möglichst wieder alles so ist «wie früher»; keine
Zieldefinition, die die Erkrankung einbezieht.
Permanenter Wunsch nach Häufige Inanspruchnahme aller medizinischen
professioneller Intervention und psychosozialen Institutionen, häufiger
Arztwechsel, hoher Medikamentenkonsum,
Forderung von allen technischen
Untersuchungs- und Behandlungsmitteln; im
Kontakt fordernd und ungeduldig.
Verantwortungsübertragung an Die Verantwortung für den eigenen
Professionelle gesundheitlichen Zustand wird den
Professionellen und dem Gesundheitssystem
übertragen, eigene Beteiligung wird
ausgeblendet.
Vordergründige «Dankbar» wird im Behandlungszimmer
Kooperationsbereitschaft jeder neue Therapievorschlag akzeptiert, eine
entsprechende Umsetzung erfolgt jedoch nicht.
Persistieren der Krankenrolle Auch im Alltag ist die Krankenrolle die zentrale
soziale Rolle. Die Definition der eigenen Person
erfolgt über die Erkrankung: «Ich bin Diabetiker,
Epileptikerin, Depressive …»
Ausgeprägtes Eigene Möglichkeiten werden nicht mehr
Vermeidungsverhalten überprüft, wodurch der gesunde Anteil
zunehmend schrumpft.
Sozialer Rückzug Soziale Kontakte werden durch medizinische
Termine (Arztbesuche, Medikamenteneinnahme
…) und Schonverhalten eingeschränkt; auf
Seiten der Sozialpartner auch dadurch, dass
sich nicht alle in die komplementäre Zuhörer-
und Helferrolle einbinden lassen.
häufig mit Schmerzen oder auch mit einer Verschlechterung der materiellen
Ressourcen einher. Eine Verringerung dieser Einschränkungen erfordert viel
Kraft und Energie bei häufig sehr vager Möglichkeit, den potentiellen Nutzen
dieser Anstrengungen kalkulieren zu können. Chronisches Krankheitsverhalten
erweist sich angesichts solch einer Situation für viele Menschen als die weniger
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auseinanderzusetzen als es in den letzten Jahren geschehen ist und die Zusam-
menhänge zwischen personalen und institutionellen Faktoren aufzuklären, die
dieses Verhalten begünstigen.
Wie eingangs bereits erwähnt hat sich die Erforschung des Verhaltens von Men-
schen während und mit einer Krankheit seit einiger Zeit auf diejenigen konzen-
triert, die die Krankheit gut bewältigen. Dies birgt nicht nur die Gefahr, zwei
Klassen von guten, erfolgreichen und schlechten, krank bleibenden Patientinnen
und Patienten zu schaffen, sondern verhindert auch, die vielfältigen Arten des
Umgangs mit Krankheit aus dem Auge zu verlieren. Männer und Frauen, Alte
und Junge, Menschen aus unterschiedlichen Kulturen – sie alle haben unter-
schiedliche Arten und Kommunikationsformen, um ihre Beschwerden auszudrü-
cken. Und sie treffen im Versorgungssystem auf Professionelle, die in vielfältige
strukturelle Zwänge eingebunden sind und zudem ihre eigenen Erwartungen an
den «richtigen» Umgang mit Krankheit haben. Nicht nur angesichts der immer
größeren Zahl von Menschen mit chronischen Erkrankungen sondern auch
angesichts unserer pluralistischen und multikulturellen Gesellschaft scheint es
mir dringend geboten, sich wieder stärker mit dem Krankheitsverhalten und
seinen institutionellen Bedingungen zu beschäftigen.
13.3
Gesundheitskompetenz
Gesundheitskompetenz ist ein neuer Begriff im Bereich des Gesundheits- und
Krankheitsverhaltens. Zwar ist er (noch) nicht einheitlich definiert, doch er
hat eine schnelle Karriere gemacht. Sein englisches Synonym «health literacy»
verweist besser als der deutsche Begriff auf seine Ursprünge und das zugrunde
liegende Anliegen, einen Begriff für die Fähigkeiten von Menschen zu finden,
Gesundheitsinformationen zu verstehen, sich gesundheitsgerecht zu verhalten
und sich im Gesundheitssystem zurechtzufinden. Zahlreiche Untersuchungen
bestätigen die klinischen Erfahrungen, dass viele Menschen sich deshalb nicht
gesundheitsförderlich verhalten, weil ihnen das dafür notwendige Wissen fehlt:
weder wissen sie, an wen sie sich bei bestimmten Problemen wenden können,
noch verstehen sie, was der Arzt ihnen sagt und was auf dem Beipackzettel steht.
Den Arzt oder Apotheker fragen kann nur, wer bereits über Wissen verfügt, und
dass Rauchen tödlich ist, leuchtet auch nur demjenigen ein, der die Zusammen-
hänge von Rauchen und Krebsentstehung verstanden hat.
In den letzten zehn Jahren wurden diverse Modelle der Gesundheitskompe-
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tenz entwickelt. Einige konzentrieren sich auf das Verhalten kranker Menschen
im Gesundungsprozess und weisen starke Überschneidungen mit den Konzepten
der Compliance und Adhärenz auf. Andere haben ihre Herkunft in der Gesund-
heitsförderung und Prävention; hier kommt es zu gemeinsamen Schnittmengen
mit Konzepten wie Gemeinschaftsentwicklung, soziale Netzwerke und Empo-
werment (Abel, Sommerhalder & Bruhin 2011, Soellner et al. 2009). Ein Modell,
das Gesundheitskompetenz in fünf Teilkompetenzen untergliedert und relativ
gut sowohl für den therapeutischen als auch den gesundheitsfördernden Bereich
angewandt werden kann, zeigt Tabelle 10.
Kompetenzbereich
Persönliche Gesundheit Grundkenntnisse über Gesundheit, förderliches Verhalten
in Gesundheit und bei Krankheit, Selbstpflege, Betreuung
der Familie, erste Hilfe
Systemorientierung Sich-Zurechtfinden im Gesundheitssystem, kompetentes
Auftreten gegenüber Professionellen
Konsumverhalten Fähigkeit, Konsum- und Dienstleistungsentscheidungen
unter gesundheitlichen Gesichtspunkten zu treffen, seine
Rechte einzufordern
Gesundheitspolitik Fähigkeit, informiert gesundheitspolitisch zu handeln und
sich ggf. zu engagieren
Arbeitswelt Arbeitsunfälle vermeiden, sich für gesundheitsförderliche
Arbeitsbedingungen einsetzen, Balance zwischen Arbeits-
und Privatbereich finden.
dass es um die Stärkung der Rechte von Patientinnen und Patienten geht und
darum, dass alle eine auf ihre Person zugeschnittene maßgerechte Versorgung
erhalten. De facto entspringen sie jedoch einem Denkmodell, das dem Einzelnen
eine immer größere Verantwortung für die eigene Gesunderhaltung aufbürdet
und ihn darüber hinaus für das Funktionieren des gesamten Gesundheitssystems
in die Pflicht nimmt. Wer Vorsorgeuntersuchungen nicht wahrnimmt, eine ver-
schriebene Diät nicht einhält, wer raucht, seine Kinder nicht impfen lässt oder
sich als Schwangere nicht der Pränataldiagnostik unterzieht, schadet in diesem
Denksystem nicht nur der eigenen Gesundheit, sondern auch der Solidargemein-
schaft.
Soweit ich es sehe, wird in der Diskussion um die Gesundheitskompetenz
bisher weitgehend ausgespart, dass Menschen, die mehr als zehn Tropfen nicht
abzählen, einen Beipackzettel nicht lesen und verstehen und Bagatellerkran-
kungen nicht mit eigenen Hausmitteln behandeln können, nicht nur Defizite
im gesundheitlichen Bereich haben, sondern dass es ihnen insgesamt an kogni-
tiven und lebenspraktischen Fähigkeiten fehlt. Es ist davon auszugehen, dass ein
geringes Ausmaß an Gesundheitskompetenz vor allem in den unteren sozialen
Schichten zu finden ist – und damit stellt sich das Problem als ein soziales dar, das
keineswegs auf den Gesundheitssektor beschränkt ist.
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Ich möchte dieses Buch mit einem Gedicht schließen, das ich sehr liebe:
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