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Fachhochschule Ostschweiz FHS St. Gallen, Hochschule für Angewandte Wissenschaften / 152.96.188.

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3., überarbeitete Auflage


Alexa Franke

und Krankheit
von Gesundheit
Modelle
Datentypen 1

Alexa Franke Verlag Hans Huber


Modelle von Gesundheit Programmbereich Gesundheit
und Krankheit
Wissenschaftlicher Beirat:
Felix Gutzwiller, Zürich
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Manfred Haubrock, Osnabrück


Klaus Hurrelmann, Berlin
Petra Kolip, Bielefeld
Doris Schaeffer, Bielefeld

© 2012 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern.


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Aus: Franke, Modelle von Gesundheit und Krankheit, 3. Auflage.
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Datentypen 3

Alexa Franke
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Modelle von Gesundheit


und Krankheit
3., überarbeitete Auflage

Verlag Hans Huber


© 2012 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern.
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Aus: Franke, Modelle von Gesundheit und Krankheit, 3. Auflage.
4 Ergebnisse

Anschrift der Autorin:


Prof. Dr. Alexa Franke
alexa.franke@gmx.net
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Lektorat: Dr. Klaus Reinhardt


Herstellung: Peter E. Wüthrich
Illustration: Klaus-Peter Knabe
Umschlag: Claude Borer, Basel
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3., überarbeitete Auflage 2012


© 2006/2010/2012 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern
E-Book-ISBN (PDF) 978-3-456-95120-1

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort zur 3. Auflage ............................................................................................. 9


Vorwort zur 2. Auflage ............................................................................................. 11
Einleitung ................................................................................................................. 15

1. Von der Schwierigkeit, Gesundheit und Krankheit abzugrenzen .............. 21


1.1 Die Problematik der Abgrenzungskriterien ............................................. 24
1.1.1 Fehlen eindeutiger Definitionen ................................................................ 24
1.1.2 Technische Möglichkeiten der Diagnostik und Therapie ....................... 25
1.1.3 Diskrepanz zwischen Befund und Befinden ............................................ 25
1.1.4 Normabweichungen ohne Krankheitswert .............................................. 26
1.1.5 Kulturgebundenheit der Beurteilung ........................................................ 26
1.1.6 Funktionalität der Störungen ..................................................................... 28
1.1.7 Interessengeleitete Definitionsmacht ......................................................... 28
1.2 Die Unterscheidung als Irrtum .................................................................. 32

2. Was ist Gesundheit? ............................................................................................ 35


2.1 Definitionen von Gesundheit ..................................................................... 35
2.2 Dimensionen der Gesundheit ..................................................................... 38
2.2.1 Gesundheit als Störungsfreiheit ................................................................. 38
2.2.2 Gesundheit als Wohlbefinden .................................................................... 40
2.2.3 Gesundheit als Leistungsfähigkeit und Rollenerfüllung ........................ 42
2.2.4 Gesundheit als Gleichgewichtszustand (Homöostase) ........................... 45
2.2.5 Gesundheit als Flexibilität (Heterostase) .................................................. 47
2.2.6 Gesundheit als Anpassung .......................................................................... 48
2.3 Vom Wert der Gesundheit .......................................................................... 50
2.3.1 Gesundheit als höchstes Gut ....................................................................... 51
2.3.2 Gesundheit als relativer Wert ..................................................................... 53
2.3.3 Gesundheit als Geschenk, Leistung oder Pflicht ..................................... 54
Weiterführende Literatur ............................................................................ 57

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6 Inhaltsverzeichnis

3. Was ist Krankheit? .............................................................................................. 59


Weiterführende Literatur ............................................................................ 65

4. Was sind psychische Störungen? ..................................................................... 67


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4.1 Historische Entwicklung ............................................................................. 67


4.2 Definition und Klassifikation psychischer Störungen ............................ 79
4.3 Implikationen und Konsequenzen der aktuellen Klassifikation ........... 85
Weiterführende Literatur ............................................................................ 87

5. Was ist Behinderung?.........................................................................................89


5.1 Historische Entwicklung ............................................................................. 89
5.2 Der Begriff der Behinderung ...................................................................... 92
5.3 Klassifikation von Behinderung ................................................................. 94
Weiterführende Literatur ............................................................................ 98

6. Das Verhältnis von Gesundheit und Krankheit zueinander ........................ 99


6.1 Dichotomes Konzept .................................................................................... 99
6.2 Bipolares Konzept ......................................................................................... 101
6.3 Orthogonale Konzepte ................................................................................ 102

7. Stress ................................................................................................................. 105


7.1 Stress als Reaktion ........................................................................................ 107
7.2 Stress als Auslöser ......................................................................................... 111
7.2.1 Life-event-Forschung ................................................................................... 112
7.2.2 Persönlichkeits- und verhaltenstheoretische Ansätze ............................ 116
7.3 Stress als Interaktion .................................................................................... 117
7.4 Stress und Gesundheit und Krankheit ...................................................... 125
Weiterführende Literatur ............................................................................ 126

8. Krankheitsmodelle .............................................................................................. 129


8.1 Naturalistische Modelle ............................................................................... 133
8.1.1 Biomedizinisches Krankheitsbild .............................................................. 133
8.1.2 Risikofaktorenmodelle ................................................................................ 137
8.2 Psycho-somatische Krankheitsmodelle .................................................... 140
8.2.1 Psychoanalytische Modelle ......................................................................... 142
8.2.2 Verhaltenstheoretische Modelle ................................................................. 146
8.2.3 Kommunikationstheorie ............................................................................. 153

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Inhaltsverzeichnis 7

8.2.4 Diathese-Stress-Modelle .............................................................................. 158


8.3 Soziokulturelle Krankheitsmodelle ........................................................... 162
8.3.1 Konflikttheorien ........................................................................................... 162
8.3.2 Strukturfunktionalistisches Modell .......................................................... 164
8.3.3 Interaktionstheorien .................................................................................... 165
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Weiterführende Literatur ............................................................................ 167

9. Gesundheitsmodelle ............................................................................................ 169


9.1 Das Modell der Salutogenese ...................................................................... 170
9.1.1 Heterostase, HEDE-Kontinuum und Widerstandsressourcen .............. 171
9.1.2 Das Kohärenzgefühl ..................................................................................... 174
9.1.3 Kohärenzgefühl und Stressbewältigung ................................................... 177
9.1.4 Ressourcenorientierte Erweiterung des
Salutogenese-Modells ................................................................................... 180
9.2 Das Resilienz-Modell ................................................................................... 185
9.3 Gesundheit im Sinne der WHO ................................................................. 190
Weiterführende Literatur ............................................................................ 195

10. Geschlechtsspezifische Modelle von Gesundheit und Krankheit ........... 197


10.1 Biomedizinisches Modell ............................................................................ 203
10.2 Psychosoziale Modelle ................................................................................. 204
10.3 Gender-Theorien ........................................................................................... 207
10.3.1 Geschlechtsstereotype ................................................................................. 207
10.3.2 Ungleiche Macht- und Statusverteilung .................................................... 209
10.3.3 Ungleiche gesellschaftliche Wertung ......................................................... 210
10.3.4 Ungleiche Anpassungsleistungen an die
«geschlechtsfremde» Rolle .......................................................................... 211
10.4 Gender-Mainstreaming ............................................................................... 212
Weiterführende Literatur ............................................................................ 218

11. Sozialepidemiologische Modelle ..................................................................... 219


11.1 Entwicklung der Sozialepidemiologie in Deutschland ........................... 221
11.2 Erklärungsmodelle ....................................................................................... 225
11.2.1 Empirische Ausgangslage ............................................................................ 225
11.2.2 Lebenslaufperspektive ................................................................................. 228
11.2.3 Verhaltensperspektive .................................................................................. 229
11.2.4 Perspektive materielle Lebensbedingungen ............................................. 232
11.2.5 Perspektive Einkommensungleichheit ...................................................... 234

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8 Inhaltsverzeichnis

11.3 Ein Modell des Zusammenhangs von sozialer


und gesundheitlicher Ungleichheit ............................................................ 238
Weiterführende Literatur ............................................................................ 242

12. Subjektive Theorien von Gesundheit und Krankheit .................................. 243


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12.1 Subjektive Theorien als Thema


der Gesundheitswissenschaften ................................................................. 244
12.2 Subjektive Theorien von Gesundheit ......................................................... 245
12.3 Subjektive Krankheitstheorien ................................................................... 247

13. Modelle des Gesundheits- und Krankheitsverhaltens .............................. 251


13.1 Modelle des Gesundheitsverhaltens .......................................................... 252
13.1.1 Kognitive Modelle ........................................................................................ 252
13.1.2 Stadienmodelle .............................................................................................. 256
13.2 Modelle des Krankheitsverhaltens ............................................................. 259
13.2.1 Phasenmodelle ............................................................................................. 260
13.2.2 Chronisches Krankheitsverhalten ............................................................. 261
13.3 Gesundheitskompetenz ............................................................................... 264
Weiterführende Literatur ............................................................................ 266

Literatur ..................................................................................................................... 268

Sach- und Personenregister ................................................................................. 281

Über die Autorin ....................................................................................................... 285

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Vorwort zur 3. Auflage

Als ich dieses Buch konzipierte und schrieb, hatte ich den Wunsch, dass es seinen
Weg in die Ausbildung verschiedener Gesundheitsberufe finden und dazu bei-
tragen möge, die Zusammenhänge zwischen den theoretischen Konzepten von
Gesundheit und Krankheit, der gesundheitlichen Situation von Menschen und
der gesundheitlichen Versorgung zu erkennen und zu diskutieren. Und es sollte
helfen, die eigenen Standpunkte, die eigenen Werte in diesem Feld zu reflektieren.
Dass das Buch eine dritte Auflage erfährt, zeigt, dass mein Wunsch in Erfül-
lung gegangen ist – und selbstverständlich freut mich das sehr. In Struktur und
Inhalt entspricht diese Auflage den beiden Vorgängerinnen, doch es erschien mir
wichtig, auf einige neuere Entwicklungen einzugehen.
Die meines Erachtens wichtigste aktuelle Entwicklung besteht darin, dass
die Grenzen zwischen Gesundheit und Krankheit immer mehr verschwimmen.
Zwar hält das biomedizinische Modell noch an der Zweiteilung und der klaren
Differenzierung zwischen diesen beiden «Zuständen» fest, doch paradoxerweise
sind es gerade die Fortschritte der Biomedizin, die die eigenen Grundlagen ins
Wanken bringen. Die Genforschung, die ermöglicht, Jahre, teilweise Jahrzehnte
vor der Manifestation einer Erkrankung deren Prädisposition zu diagnostizieren,
stellt ein Problem dar, das mit dem dichotomen Konzept von Gesundheit und
Krankheit (s. Kap. 6) nicht zu lösen ist.
Die Vormachtstellung, die das dichotome Modell noch vor wenigen Jahren
hatte, gerät auch dadurch ins Wanken, dass salutogenetische Modelle (s. Kap. 9)
zunehmend an Akzeptanz gewinnen. Zwar gab es medizinhistorisch – begin-
nend mit Hippokrates – zahlreiche Ansätze, Gesundheit und Krankheit als
Pole eines Kontinuums zu verstehen, innerhalb dessen man mehr oder weniger
gesund respektive krank sein kann, doch hatten diese in den Sozialsystemen
der industrialisierten Welt keine Chance, versorgungsrelevant zu werden. Erst
Antonovsky gelang mit seinem Konzept der Salutogenese der Durchbruch zur
Anerkennung eines Kontinuumsmodells von Gesundheit und Krankheit – was
vermutlich weniger der Exzellenz seines Konzepts zu verdanken ist als der Tatsa-
che des veränderten Krankheitsspektrums. Denn Aufmerksamkeit erlangte die
Idee des Kontinuums von Gesundheit und Krankheit nicht nur im Rahmen der

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10 Vorwort zur 3. Auflage

Gesundheitswissenschaften (was zu erwarten und nicht weiter verwunderlich


war), sondern vor allem auch in Hinblick auf Menschen mit chronischen Erkran-
kungen und Behinderungen (s. Kap. 5). Es wird spannend sein, wie die Frage, wer
gesund ist und wer krank, weiter diskutiert und entschieden wird.
Bei dieser Diskussion werden ökonomische Aspekte eine gewichtige Rolle
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spielen. Und hier sehe ich die zweite wichtige Entwicklung: Während sich das
Gesundheitssystem bis vor wenigen Jahren nahezu ausschließlich mit Krank-
heiten befasste, wird plötzlich Gesundheit entdeckt. Und zwar als Ressource, die
zu einer Entlastung der Sozialsysteme führt. In der Logik einer konservativ-libe-
ralen Gesundheitspolitik werden für den Erhalt dieser Ressource die einzelnen
Bürgerinnen und Bürger in die Pflicht genommen. «Gesundheitskompetenz»
heißt die Formel, die jedem einzelnen bessere Handlungs- und Entscheidungs-
möglichkeiten in Bezug auf die eigene Gesundheit ermöglichen und seine «Pati-
entenautonomie und Konsumentensouveränität» (Deutscher Bundestag 2009,
Drucksache 16/12000) sichern soll (s. Kap. 13.3).
Und auch hier kommt es zu einem merkwürdigen Paradox: Denn während
durch internationale sozialepidemiologische Forschung immer mehr Daten
vorliegen, die den Zusammenhang zwischen Gesundheit bzw. Krankheit und
sozialer Lage belegen (s. Kap. 11), lastet die Gesundheitspolitik dem Individuum
die Verantwortung für seinen gesundheitlichen Zustand an und Medizin und
Pharmaindustrie propagieren die individualisierte Medizin. Aus Patienten und
Patientinnen werden Konsumenten, Ärztinnen, Ärzte und Pflegepersonal wer-
den medizinische Leistungserbringer – und gemeinsam befinden sie sich auf
einem Markt als Teilnehmer eines «wirkungsvollen Wettbewerbs» (www.bmg.
bund.de). Dort ist das Gedränge offenbar so groß, dass die Sozialepidemiologen
mit ihrer Botschaft, dieser Markt sei gerade für die Kränksten nicht zugänglich,
nicht durchdringen. Musste man früher darauf bestehen, dass die Versorgungs-
strukturen sich nicht nur mit Krankheiten, sondern auch mit den Bedingungen
von Gesundheit beschäftigen, so muss man inzwischen daran erinnern, dass
solidarische Sozialsysteme für die schwer Kranken gebraucht werden.
Ich habe der Versuchung widerstanden, das Buch zu erweitern, obwohl es mir
erheblich in den Fingern gejuckt hat, ausführlich auf die Ökonomisierung im
Gesundheitswesen einzugehen, die sich mit der Geschwindigkeit einer biblischen
Seuche ausbreitet. Doch ich möchte den Charakter dieses Buchs als Lehrbuch
nicht verändern. Wenn es dazu anregt, sich intensiver mit dem Thema zu
beschäftigen, hat es seinen Zweck erfüllt.

Dortmund, im März 2012 Alexa Franke

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Vorwort zur 2. Auflage

Auch wenn sich an den wesentlichen Modellen von Gesundheit und Krank-
heit in den letzten fünf Jahren wenig Grundsätzliches verändert hat, so gibt es
doch – neben den immer notwendigen Aktualisierungen von Literaturhinwei-
sen – einige Entwicklungen und neue Erkenntnisse, die mitteilenswert sind.
Ich bedanke mich bei Klaus Reinhardt, dem Lektor dieses Buchs, dass er mich
ermuntert hat, diese Neuauflage zu schreiben. Auf einige mir wichtige Punkte
möchte ich besonders hinweisen:
1. Aus den bereits in der Einleitung zur ersten Auflage beschriebenen Gründen
heraus bin ich bei der getrennten Darstellung von Krankheits- und Gesund-
heitsmodellen geblieben. Ich meine allerdings erste Hoffnungsschimmer dafür
zu sehen, dass sich die Ansicht, man könne Gesundheit und Krankheit als
dichotom betrachten, immer weniger aufrechterhalten lässt. Die Verlagerung
des Krankheitsspektrums auf die chronischen Erkrankungen, die Unklar-
heiten in der Abgrenzung zwischen altersbedingten Abbauprozessen und
Krankheiten und auch das nach Einführung der Internationalen Klassifika-
tion der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) veränderte
Verständnis von Behinderungen zeigen immer deutlicher die Willkürlichkeit
einer Grenzziehung zwischen gesund und krank.
2. Auch wenn es in Deutschland immer noch nicht gelungen ist, die Prävention
durch ein entsprechendes Gesetz als vierte Säule der gesundheitlichen Ver-
sorgung zu verankern, so gewinnen salutogene, ressourcenorientierte Ansätze
zuneh­mend Gehör. Aus diesem Grunde wurde das Kapitel über Resilienz
erweitert.
3. Neu hinzugefügt wurde ein Kapitel über Gesundheits- und Krankheitsverhal-
ten. Wissen über das Verhalten von Menschen in Gesundheit und Krankheit
und die Kenntnis ihrer subjektiven Ansichten darüber, was gesundheitsför-
derlich ist oder was zur Krankheit führt, sind Grundlagen einer demokrati-
schen gesundheitlichen Versorgung, in der Professionelle und Klientinnen
und Klienten im Dialog stehen.

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12 Vorwort zur 2. Auflage

4. Das Kapitel über sozialepidemiologische Modelle wurde erheblich erwei-


tert. Dies ist Zeichen der erfreulichen Entwicklung, dass weltweit – und
auch endlich wieder in Deutschland – daran gearbeitet wird, die Zusam-
menhänge zwischen sozialer Situation und Gesundheit und Krankheit zu
erforschen. Erfreulich auch, dass hier die Empirie dazu beitragen konnte,
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theoretische Ansätze zu verifizieren und andere unwahrscheinlicher werden


zu lassen. Insbesondere Längsschnittuntersuchungen führen dazu, dass die
Modellbildung im Bereich der Sozialepidemiologie deutliche Fortschritte
macht. Auf der anderen Seite aber ist das, was sozialepidemiologische
Forschung erhellt, erschreckend und beängstigend. Abgesehen von einigen
Krebsarten und Allergien folgt die Auftretenshäufigkeit aller Erkrankungen
sowie die Zeitigkeit des Todes einem schlichten linearen Muster: je ärmer,
desto kränker und desto früher tot. Diese Datenlage wird auch in der Politik
nicht geleugnet, und Wissenschaft und Politik intensivieren derzeit Initia-
tiven, die gesundheitliche Situation der unteren sozialen Gruppen zu ver-
bessern. Angesichts der Schwierigkeit, eine Theorie des Zusammenhangs
von sozialer Lage, Gesundheit und Krankheit zu formulieren, tendiert
der Mainstream dahin, die Theoriebildung zugunsten praktischer Maß-
nahmen hintan zu stellen. Ich halte dies für ein gefährliches Unterfangen!
Bereits jetzt zeigen Ergebnisse, dass Maßnahmen, die zur Verbesserung der
gesundheitlichen Lage unterer sozialer Gruppen gedacht waren, ihr Ziel
verfehlen und völlig konträr zu den guten Absichten zu einer Vergrößerung
der Schere zwischen denen am oberen und denen am unteren Ende der
sozialen Leiter beitragen. Dieses in der Literatur als «Gesundheitsparadox»
bezeichnete Phänomen ist meines Erachtens ein Zeichen dafür, dass die
ihm zugrundeliegende Theorie fehlerhaft ist. Gerade angesichts der Schwie-
rigkeit der Aufgabe gilt es, die Zusammenhänge zwischen sozialer Lage,
Gesundheit und Krankheit in ein schlüssiges Modell zu bringen, aufgrund
dessen dann eine Gesundheitsförderung initiiert werden kann, die allen
zugute kommt. Auch für die Sozial­epidemiologie gilt, dass nichts so prak-
tisch ist wie eine gute Theorie.
5. (Medizin-) Historiker haben in jüngster Zeit erschreckende neue Daten und
Zusammenhänge über die im Gesundheitswesen begangenen Verbrechen in
der Zeit des Nationalsozialismus aufgedeckt. Diese Verbrechen standen nicht
nur mit einer politischen Ideologie in Zusammenhang, sondern ließen sich
aus medizinischen Theorien wie der Rassenhygiene und Humangenetik legi-
timieren. In den aktuellen Ausbildungscurricula finden diese Themen keinen
Platz. Damit, dass ich ihnen hier Platz gebe, möchte ich nicht nur einen Bei-
trag leisten, dem Vergessen entgegenzuwirken. Ich bin davon überzeugt, dass
die Kenntnis der damaligen Vorgänge notwendig ist für die Bewertung von

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Vorwort zur 2. Auflage 13

aktuellen wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Entwick-


lungen, denen wir uns nicht entziehen können sondern stellen müssen.

Dortmund, im September 2009 Alexa Franke


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Einleitung

Wenn man einen Zustand mit einem Namen versieht, kann man fälschlicherweise
den Eindruck gewinnen, etwas verstanden zu haben, so dass man aufhört, nachzu-
denken und Fragen zu stellen. (Robert E. Kendell 1978, S. 3)

Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht in der Tageszeitung etwas über Gesundheit
und Krankheit steht. Neben der Aufklärung über häufige und seltene Erkran-
kungen – erstere, damit eine breite Leserschaft sich angesprochen fühlt, letz-
tere, damit Bedürfnisse nach Neugier und Sensation befriedigt werden – und
Gesundheitstipps für das richtige Verhalten in Frühling, Sommer, Herbst und
Winter spielen auch gesundheitspolitische Fragen eine große Rolle. So ist die
«Gesundheitsreform» ein dominantes Politikthema der letzten Jahre geworden.
Aber welche Gesundheit soll eigentlich reformiert werden?
Die Debatte kreist nahezu ausschließlich um ökonomische Fragen. Dabei wird
nur den wenigsten deutlich, dass die Argumentationen für die eine oder andere
Art der Krankenversicherung und Vergütung von Krankenleistungen nicht nur
eine ökonomische Seite haben, sondern dass sie auch geprägt sind von sehr unter-
schiedlichen Wertvorstellungen zur Verursachung von und Verantwortlichkeit
für Krankheit. Die so genannte Gesundheitsdiskussion in Deutschland ist zu
einer Diskussion darüber geworden, wie Gesundheitsleistungen finanziert werden
können und dass die Gesundheitskosten dringend gesenkt werden müssen – aber
wer versteht in dieser Diskussion was unter Gesundheit? Die öffentliche Diskus-
sion findet statt, ohne dass dies geklärt wäre, ohne dass ein Konsens über den
Stellenwert und die Bedeutung von Gesundheit und Krankheit bestünde.
Bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass nahezu unhinterfragt das bio-
medizinische Krankheitsmodell theoretischer Ausgangspunkt der Diskussion
ist. In der Fachliteratur erobert es beinahe wie selbstverständlich immer weitere
Bereiche der Medizin, Psychologie, Psychiatrie, Pflege, Sozialpädagogik, Rehabi-
litation und Sonder- und Heilpädagogik. Die als Revolutionen gepriesenen medi-
zinischen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte wie Neuroimmunologie und
Neuropsychologie, Gentechnologie und Verhaltensgenetik unterstützen das bio-
medizinische Modell, dem zufolge in der Person liegende Defekte und Dysfunk-
tionen die Krankheit bedingen. Soziale und gesellschaftliche Faktoren werden

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16 Einleitung

konsequent ausgeblendet, obwohl sie zuverlässigen weltweiten epidemiologischen


Untersuchungen zufolge in stärkerem Maße für Morbidität und Mortalität in
einer Gesellschaft verantwortlich sind, und die Ergebnisse der Gesundheitsde-
batten vergangener Jahrzehnte werden als soziale Spinnereien belächelt. In den
1970/80er-Jahren war die Gesundheitsbewegung in Deutschland eine breite poli-
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tische Bewegung, in der die gesundheitliche Versorgung und Gesundheitspolitik


als gesellschaftliche Querschnittsaufgaben verstanden wurden, die alle Bereiche
des privaten und öffentlichen Lebens tangierten. Heute wird zunehmend versucht,
Gesundheit und Krankheit zu individualisieren, den Einzelnen die Verantwortung
und Finanzierung aufzubürden – und ihnen auch noch ein schlechtes Gewissen
zu machen, dass sie durch Langlebigkeit zu viele Kosten verursachen.
Ilona Kickbusch, langjährige Leiterin des Europabüros der Weltgesundheits-
organisation WHO, schreibt zu dieser Entwicklung:
Der gesellschaftliche Grundkonsens über die Gesundheitsversorgung geht in den
europäischen Wohlfahrtsstaaten gegenwärtig zunehmend verloren. Die politische
Herausforderung liegt nun darin, unter Einbeziehung der BürgerInnen in einen
gesellschaftlichen Dialog zu der Frage einzutreten, auf welche Weise proaktiv eine
Gesundheitsgesellschaft europäischer Prägung bewusst gestaltet werden kann.
(Kickbusch, 2004, S. 36)

Diese politische Herausforderung wird nur angenommen werden können, wenn


den Bürgerinnen und Bürgern Alternativen zum gegenwärtig die Diskussion
beherrschenden Modell bekannt sind. Eine besondere Verantwortung kommt in
dieser Diskussion denjenigen zu, die im Bereich des Gesundheitswesens arbeiten.
An sie und an diejenigen, die in ihm arbeiten wollen, wendet sich dieses Buch. Es
informiert über die Definitionen und Modelle von Gesundheit, Krankheit und
Behinderung und zeigt auf, welche Konsequenzen die unterschiedlichen Theo-
rieansätze für die Gesundheitsversorgung haben. Hier einige Hinweise zu seinem
Aufbau:
Der erste Themenblock (Kap. 1 bis 6) beschäftigt sich mit Definitionen und
Dimensionen von Gesundheit, Krankheit und Behinderung – und den Schwie-
rigkeiten der Abgrenzung zwischen diesen Konstrukten. Das Kapitel über die
Definitionen von Gesundheit ist dabei sehr viel länger ausgefallen als das über
Krankheitsdefinitionen – was in einem merkwürdigen Gegensatz dazu steht,
dass es – wie die nächsten Themenblöcke zeigen – sehr viel mehr Modelle von
Krankheit als von Gesundheit gibt. Die geistige Auseinandersetzung mit dem
Konstrukt «Gesundheit» war zwar schon immer für viele Disziplinen reizvoll.
Von größerer wissenschaftlicher und praktischer Durchschlagskraft war (und
ist) aber zweifelsohne die Beschäftigung mit der Krankheit – Panakeia hat Hygeia
eindeutig das Heft aus der Hand genommen.

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Aus: Franke, Modelle von Gesundheit und Krankheit, 3. Auflage.
Einleitung 17

Äskulap, der griechische Gott der Gesundheit, hatte zwei Töchter: Hygeia und
Panakeia. Für Hygeia war Gesundheit die natürliche Ordnung der Dinge.
Sie lehrte die Griechen, dass sie gesund bleiben konnten, wenn sie sich in
allen Dingen mäßigten und vernünftig verhielten. Die Erinnerung an sie ist
Fachhochschule Ostschweiz FHS St. Gallen, Hochschule für Angewandte Wissenschaften / 152.96.188.38 (2023-09-25 11:27)

im Wort «Hygiene» lebendig. Panakeia hingegen war eine heilende Gottheit,


die in der Herstellung von Heilmitteln bewandert war. Die englische Sprache
ehrt sie im Wort «panacea», das Allheilmittel bedeutet.

Lange habe ich darüber nachgedacht, ob ich den Krankheits- und Gesundheits-
modellen je ein eigenes Kapitel widmen oder sie in einem Kapitel zusammen
darstellen sollte. Meiner eigenen Sichtweise hätte das gemeinsame Kapitel mehr
entsprochen, da ich absolut davon überzeugt bin, dass Gesundheit und Krankheit
nicht zwei voneinander abgrenzbare Zustände sind, sondern unauflöslich zusam-
mengehören. Wir sind in jedem Moment unseres Lebens niemals ausschließlich
gesund oder ausschließlich krank. Gesundheit ist für mich ohne Krankheit nicht
denk- und definierbar und umgekehrt. Doch ich befinde mich mit dieser Ansicht
nicht in Einklang mit den dominierenden Modellen, die überwiegend auf Krank-
heit fokussieren, und habe mich daher entschlossen, das Thema konventioneller
in zwei Kapitel zu gliedern.
Da die Mehrzahl der Modelle sich mit Krankheit beschäftigt und nicht mit
Gesundheit, werden im zweiten Themenblock (Kap. 7 und 8) zunächst die
Krankheitsmodelle vorgestellt. Eingegangen wird auf biomedizinische, psycho-
somatische und soziokulturelle Krankheitsmodelle, und es werden die Konse-
quenzen diskutiert, die sich aus diesen Modellen für die Versorgung von und
für die Interaktion mit Patientinnen und Patienten ergeben. Dem vorangestellt
ist eine ausführliche Einführung in die verschiedenen Konzepte von Stress und
Bewältigung, da diese in vielen Konzeptionen über die Entstehung von Krank-
heiten eine Rolle spielen.
Der dritte Themenbereich (Kap. 9) befasst sich mit Gesundheitstheorien, vor
allem mit dem Modell der Salutogenese und den Konsequenzen eines Paradigma­
wechsels von Pathogenese zu Salutogenese. Auch der Gesundheitsbegriff der
WHO und die Ottawa-Charta für Gesundheitsförderung werden in diesem Teil
vorgestellt und diskutiert.
Der vierte Themenblock (Kap. 10 bis 12) beschäftigt sich mit geschlechtsspe-
zifischen und sozialepidemiologischen Modellen sowie mit subjektiven Theorien
von Gesundheit und Krankheit. Gerne hätte ich in diesem letzten Kapitel auch
subjektive Theorien von Behinderung vorgestellt – doch abgesehen von einigen
unsystematischen eigenen kleinen Interviewstudien konnte ich keine Literatur zu
diesem Thema finden.

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18 Einleitung

Ich wollte ein Buch schreiben, das über den Tellerrand meiner eigenen Diszi-
plin, der klinischen und Gesundheits-Psychologie, hinausgeht. Seit ich vor mehr
als 20 Jahren die Chance hatte, gemeinsam mit 20 Kolleginnen und Kollegen
aus verschiedenen Gesundheitsberufen und aus acht verschiedenen Ländern an
einem zweimonatigen Lehrgang teilzunehmen, weiß ich, dass wir uns dem Thema
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«Gesundheit und Krankheit» nur in einer multiprofessionellen Anstrengung


nähern können. Dem steht oft entgegen, dass wir in den verschiedenen Professio­
nen unterschiedliche Sprachen sprechen, die die Kommunikation miteinander
erschweren. Die Unkenntnis der jeweils anderen Sprache lässt Unterschiede
manchmal größer erscheinen, als sie de facto sind. Ich habe zum Beispiel als
klinische Psychologin an einer vorwiegend pädagogisch orientierten Fakultät für
Rehabilitationswissenschaften Jahre gebraucht, um angesichts unterschiedlicher
Sprachregelungen Gemeinsamkeiten in unseren professionellen Ansätzen zu
erkennen. Aber Sprache kann auch gravierende Unterschiede verschleiern. Wenn
man sich in einem sehr heterogenen Team zum Beispiel darauf verständigt, einen
ganzheitlichen oder eklektischen Ansatz zu wählen, wird ohne weitere Klärung
dieses Ansatzes jedes Teammitglied seine eigenen Vorstellungen von Ganzheit-
lichkeit oder Eklektizismus realisieren, was für die gemeinsam betreute Klientel
mehr Verwirrung als Orientierung stiftet.
Ich möchte in diesem Sinne Übersetzungsarbeit leisten. Ich möchte Studie-
rende der diversen Ausbildungsgänge – Medizin, Psychologie, Psychiatrie, Pflege,
Sozial­pädagogik, Rehabilitation und Sonder- und Heilpädagogik etc. – anspre-
chen und ihnen in verständlicher Sprache den Diskussionsstand zu den Model-
len von Gesundheit und Krankheit nahe bringen. Es gibt viel Literatur zum
Thema Gesundheit und Krankheit, aber das meiste ist sehr spezialisiert und als
Einführungstext nicht geeignet. Abgesehen von den spezifischen Fachtermi-
nologien ist ein großer Teil der Literatur nur für jene verständlich, die sich seit
etwa 1970 an der Debatte beteiligen oder sie zumindest aufmerksam verfolgt
haben.
Ich verstehe dieses Buch als meinen Beitrag zu dem notwendigen gesellschaft-
lichen Diskurs über eine Gesundheitsgesellschaft europäischer Prägung. Wir
haben eine reiche Tradition und Ideengeschichte, aus der wir Anregungen und
positive Erfahrungen ziehen können. Wir haben aber auch eine Historie voller
abschreckender Beispiele für den menschenverachtenden Umgang mit Kranken,
Schwachen, Abweichenden. Aus beiden müssen wir lernen. Ich halte Gesundheit
nicht für den höchsten Wert. Aber der Wert, den eine Gesellschaft der Gesund-
heit beimisst und die Art und Weise, wie sie mit Kranken und Behinderten
umgeht, sind nicht nur für die Lebensqualität jeder und jedes Einzelnen relevant.
Sie zählen auch zu den Kriterien, an denen sich eine Gesellschaft messen lassen
muss, die beansprucht, human und solidarisch zu sein.

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Einleitung 19

Das Schreiben des Buchs war mehr positive Herausforderung als Bürde. Den-
noch war es eine Anstrengung. Diese zu schultern haben mir vor allem Ariane
Raichle geholfen, die unermüdlich Literatur herangeschafft hat, und Maibritt
Witte, die Texte kritisch gelesen und mir versichert hat, dass ihr das Spaß
gemacht hat. Dafür ein herzliches Dankeschön. Mein ganz besonderer Dank
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aber gilt meinem Mann, Klaus-Peter Knabe, der die Abbildungen anfertigte und
so dazu beitrug, dass mein Text sich auch visuell veranlagten Menschen leichter
erschließt.

Dortmund, im November 2005 Alexa Franke

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21

1
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Von der Schwierigkeit, Gesund-


heit und Krankheit abzugrenzen

Fühlen Sie sich gerade gesund oder krank? Vermutlich können Sie diese Frage
sehr spontan beantworten.
Sind Sie gerade gesund oder krank? Diese Frage ist wahrscheinlich schon weni-
ger leicht zu beantworten. Wer entscheidet darüber, ob Sie gesund oder krank
sind? Würde Ihr bester Freund zu dem gleichen Urteil kommen wie Sie selbst?
Oder Ihre Hausärztin? Käme ein nach Ihrem Gesundheitszustand befragter
Augenarzt zu einem anderen Ergebnis als Ihre Orthopädin? Und könnte irgend-
jemand – zum Beispiel eine verflossene Partnerin – meinen, Sie seien ja sowieso
krank?
Offensichtlich ist die Unterscheidung zwischen Gesundheit und Krankheit
nicht so einfach, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Damit Sie sich in die
Thematik eindenken können, lesen Sie bitte die folgenden vier Geschichten und
beantworten dann jeweils die Fragen:

Ist die beschriebene Person gesund oder krank?


Welche Kriterien liegen Ihrer Beurteilung zu Grunde?
Für Thorsten Schneider, 32 Jahre alt, war es immer wichtig, sich im Beruf nicht
zu verausgaben und viel Zeit für seine sportlichen Hobbys zu haben. Schon
während der Schulzeit war ihm der Sport wichtiger als das Lernen. Nach der
Mittleren Reife ging er zur Stadtverwaltung und absolvierte eine Inspektoren-
laufbahn; dies erlaubt ihm nun, einen sicheren Job mit geregelten Arbeits-
zeiten zu haben. Vor vier Monaten ist Herr Schneider beim Inline-Skaten so
unglücklich gefallen, dass er sich einen äußerst komplizierten Bruch im linken
Schultergelenk zugezogen hat. Er wurde zweimal operiert und musste nach der

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22 1. Schwierigkeit der Abgrenzung

zweiten Operation noch sechs Wochen lang einen Gips tragen. Nun ist der
Arm wieder frei, Herr Schneider muss aber viermal wöchentlich zur Kran-
kengymnastik, um die volle Bewegungsfreiheit wieder erreichen zu können.
Vom Arzt ist Herr Schneider weiterhin krankgeschrieben, da er sich noch
in ambulanter Rehabilitation befindet. Auf dem Weg zur «Reha» ist Herr
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Schneider mehrmals in seinem Büro vorbeigegangen, um die Kolleginnen und


Kollegen zu begrüßen – das tut er seit drei Wochen aber nicht mehr, weil die
Kolleginnen und Kollegen zunehmend sauer auf seine Besuche reagiert haben.
Bedingt dadurch, dass die Dezernate in der Stadtverwaltung neu eingeteilt
wurden, gibt es in Herrn Schneiders Behörde derzeit weitaus mehr Arbeit als
üblich, und ein Kollege hat ihm ziemlich unverblümt gesagt, dass er nicht sehe,
warum Schneider, der ja topfit sei und äußerst ausgeruht, nicht seine sitzende
Tätigkeit wieder aufnehmen könne. Gerade bei der aktuellen Umstellung gebe
es viele Arbeiten, bei denen er seinen linken Arm überhaupt nicht zu belasten
brauche; er könne die Kollegen zum Beispiel enorm entlasten, wenn er Bürger-
Sprechstunden und sonstige Arbeiten, bei denen es vor allem auf Sitzfleisch,
Köpfchen und Rede­f ähigkeit ankomme, übernehmen würde.

Karin Weber, 23 Jahre alt, wendet sich an einen Schönheitschirurgen, weil


ihre Brust zu groß ist – oder besser: weil sie ihre Brüste zu groß findet. Die
meisten ihrer Freundinnen, mit denen sie sich getraut hat, über ihr Problem zu
reden, finden zwar auch, dass die Brüste etwas zu groß sind, meinen allerdings
mehrheitlich, dass Frau Weber dieses Problem zu ernst nehme. Sie habe doch
ansonsten eine tolle Figur, um die alle anderen sie beneiden würden – andere
Frauen müssten sich mit dicken Oberschenkeln, Hautekzemen oder anderen
wirklich entstellenden Schönheitsmängeln abfinden. Solche Ratschläge ihrer
Freundinnen, sie solle das Ganze lockerer sehen, können Frau Weber über-
haupt nicht helfen. Im Gegenteil: Sie fühlt sich unverstanden und zieht sich
immer mehr von ihren Freundinnen zurück. Mit Männern hat sie sowieso
Probleme, sie traut sich kaum, sich vor einem Mann auszuziehen, weil sie
befürchtet, er könne sie wegen ihrer großen und etwas hängenden Brust
hässlich finden. In sexuellen Kontakten ist sie entsprechend gehemmt, was
zusätzlich nicht dazu beiträgt, ihre Zurückgezogenheit, ihre Grübeleien und
ihre depressive Stimmungslage zu bessern.

Herr Wolfram Gräf, 54 Jahre alt, ist Frührentner. Mit 14 Jahren hatte er eine
Lehre als Schlosser bei der Ruhrkohle AG begonnen und von da an bis zu sei-
nem vierundvierzigsten Lebensjahr ununterbrochen als Schlosser gearbeitet.
In den letzten Jahren war er zunehmend weniger in der Lage, schwere Lasten
zu heben, und er hatte häufig Schmerzen im rechten Arm; der Arzt diagnos-

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1. Schwierigkeit der Abgrenzung 23

tizierte Verschleiß, und nach einem Bandscheibenvorfall mit anschließender


Operation wurde Herr Gräf in den vorläufigen Ruhestand geschickt. Die Rente
war wohl auch deshalb sehr leicht zu erreichen, weil die Ruhrkohle AG Stellen
abbaute. Seit Herr Gräf nicht mehr arbeitet, hat er kontinuierlich zugenommen;
aktuell wiegt er 152 Kilo, was bei seiner Körpergröße von 179 cm ein massives
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Übergewicht bedeutet. Herr Gräf sieht ein, dass er zu dick geworden ist, ihn
stört auch, dass er sich immer schlechter bewegen kann und kurzatmig gewor-
den ist. Andererseits isst er gern, trinkt gern sein Bierchen mit den Nachbarn
und bewegt sich zu wenig: Spazierengehen mit der Frau findet er langweilig,
im Schwimmbad möchte er seinen Bauch nicht zeigen, zum Radfahren und
Joggen fehlt ihm die Puste. Sein Hausarzt, zu dem er regelmäßig geht, mahnt
ihn immer wieder, abzunehmen – muss aber andererseits zugeben, dass der
Blutdruck im Normbereich liegt, die Leberwerte und auch die Blutstoffwerte
nur sehr leicht erhöht sind und sich die Wirbelsäulenbeschwerden in den letz-
ten Jahren nicht wesentlich verstärkt haben.

Der 63-jährige Konrad Köppen führt einen Kiosk in Bochum. Da dieser


direkt neben einer Gesamtschule liegt, hat Köppen regelmäßige und gute
Einkünfte. Vor langer Zeit konnte er das Grundstück einschließlich Kiosk
erwerben. Beides ist inzwischen schuldenfrei, und der Grundstückswert ist
enorm gestiegen. Früher hat Köppen den Kiosk mit seiner Frau betrieben, seit
diese vor zwei Jahren verstorben ist, führt er den Kiosk allein weiter. Da schon
immer er es war, der den Einkauf gemacht hat und auch derjenige, der den
Kontakt zu den Kunden pflegte, hat er mit der Führung des Kiosks keine Pro-
bleme. Schwierigkeiten hatte er allerdings immer schon mit Behörden, Ban-
ken, Ämtern und so weiter. Diesen Bereich hat früher seine Frau erledigt, weil
sie es besser konnte und auch, weil er sich immer so schrecklich über Banken,
Ämter und Behörden ärgern musste. Seit die Frau nun tot ist, muss sich Köp-
pen auch um diesen Bereich kümmern, und seitdem hat er ständig Ärger. Sei-
ner Meinung nach haben es alle Ämter, Banken und Behörden auf den kleinen
Mann abgesehen und bescheißen ihn, so gut es geht. Immer wieder fühlt er
sich betrogen und macht entsprechend Eingaben, vor allem beim Finanzamt.
Zurzeit führt er sechs Prozesse. Außerdem muss sich Köppen in der letzten
Zeit sehr über die Nachbarn ärgern. Sie verargen ihm, dass es ihm wirtschaft-
lich so gut geht und lassen ihren Ärger an ihm aus, indem sie ihn schikanieren
und ihm vorwerfen, er halte sich nicht an die Hausordnung. Köppen gibt zu,
dass er im letzten Jahr mehrfach vergessen hat, die Treppe zu wischen und die
gelbe Tonne herauszustellen, wenn er an der Reihe war. Er findet aber, dass
ihm das ja schließlich mal passieren könne, wo er jetzt so viel um die Ohren
habe. Auch dass im letzten Jahr zweimal die Badewanne übergelaufen ist, fin-

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24 1. Schwierigkeit der Abgrenzung

det er nicht so schlimm – den Schaden an der Decke des unter ihm wohnenden
Mieters hat seine Versicherung beide Male gezahlt. Warum die Nachbarn jetzt
in der vorigen Woche eine Tussi vom Gesundheitsamt vorbei geschickt haben,
ist ihm völlig unverständlich.
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1.1
Die Problematik der Abgrenzungskriterien
Der Psychoanalytiker Groddeck schrieb 1910: «[...] Wer ist gesund, wer ist krank?
Die Narren nur vermögen es zu unterscheiden.» Sie werden an den obigen Bei-
spielen gemerkt haben, dass für die Beurteilung einer Person als gesund oder
krank sehr unterschiedliche Kriterien herangezogen werden können, und dass
die Entscheidung im Einzelfall keineswegs eindeutig ist. Doch Groddeck machte
es sich sicher zu einfach. Im Folgenden soll daher den Beurteilungskriterien von
Gesundheit und Krankheit nachgespürt und damit verdeutlicht werden, warum
die Unterscheidung zwischen Gesundheit und Krankheit so schwierig ist.

1.1.1
Fehlen eindeutiger Definitionen
Der wichtigste Grund für die fehlende Unterscheidungsmöglichkeit zwischen
Gesundheit und Krankheit liegt sicherlich darin, dass es keine eindeutigen Defi-
nitionen dieser beiden «Zustände» gibt.
Einzelne Krankheitsbilder werden in Klassifikationssystemen beschrieben
und definiert. Das umfassendste dieser Systeme ist die ICD, die International
Classification of Diseases, die von Expertengremien der Weltgesundheitsorga-
nisation WHO ständig überarbeitet wird – aktuell liegt sie in der 10. Version
vor (WHO 1993; vgl. Kap. 3). Klassifikationssysteme geben aber keine Definition
von Krankheit «an sich». Es gibt auch keine juristisch einheitliche Definition von
Krankheit; je nach Gesetzestext ist Krankheit anders definiert, wobei der Krank-
heitsbegriff wesentlich durch die laufende Rechtsprechung bestimmt wird. Im
Sozialgesetzbuch V (SGB V), das die Krankenversicherung regelt, ist Krankheit
ein regelwidriger Körper- oder Geisteszustand (vgl. Kap. 3).
Hinsichtlich der Gesundheit ist die Situation keineswegs besser: Gesundheits-
definitionen gibt es in großer Zahl, aber eine allgemein akzeptierte Definition
von Gesundheit gibt es nicht (vgl. Kap. 2) und damit auch kein eindeutiges Krite-
rium, aufgrund dessen man sagen kann, dass jemand gesund ist.

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1.1 Problematik der Abgrenzungskriterien 25

1.1.2
Technische Möglichkeiten der Diagnostik und Therapie
Die zweite Ebene des Problems besteht darin, dass die Möglichkeit der Diagnos-
tik einer Erkrankung von den technischen Möglichkeiten abhängt. Aids zum
Beispiel gab es schon, bevor man den HI-Virus entdeckt hatte. Bei Menschen,
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die vor der Entdeckung des Virus infiziert waren, ließ sich die Erkrankung
nicht diagnostizieren – sie waren «ohne Befund». Andere Erkrankungen sind
erst durch technische Innovationen wie Kernspintomographie oder Positronen-
Emissionstomographie zuverlässig zu diagnostizieren. Die technischen Mög-
lichkeiten der Diagnostik beeinflussen somit, ob jemand als gesund oder krank
diagnostiziert wird. Je elaborierter die technischen Möglichkeiten der Diagnostik
werden, umso mehr erweitert sich das Spektrum potenzieller Krankheiten.
Daneben kann es auch durch die unterschiedliche Anwendung verschiedener
Technologien zu unterschiedlichen Beurteilungen kommen. Anders formuliert:
Je intensiver jemand untersucht wird, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit,
dass Krankheitssymptome gefunden werden. Ist also der gesund, der nicht lange
genug untersucht worden ist?
Schließlich führen die Weiterentwicklungen in der Therapie zur Anerkennung
neuer Krankheitsbilder: Die plastische Chirurgie ist heute in der Lage, durch
Unfälle oder Verbrennungen entstandene Entstellungen oder Verstümmelungen
oder auch Anomalien wie die Lippen-Kiefer-Gaumenspalte zu operieren. Diese
Operationen werden versicherungsrechtlich als krankheitsbedingt anerkannt
und dementsprechend auch von der Krankenversicherung bezahlt.

1.1.3
Diskrepanz zwischen Befund und Befinden
Der durch Fachleute im Gesundheitswesen objektiv erhobene Befund – z. B.
ein medizinischer, psychologischer oder sprachtherapeutischer Befund – muss
keineswegs mit dem Befinden der Betroffenen, mit ihrem subjektiven Erleben
übereinstimmen. Es gibt Menschen, bei denen es trotz intensiver fachlicher Dia-
gnostik keinen oder nur einen Minimalbefund gibt, die sich jedoch sehr krank
oder eingeschränkt fühlen. Und auf der anderen Seite zeigen Untersuchungen an
repräsentativen, unausgelesenen Stichproben immer wieder, dass viele Menschen
ernsthafte gesundheitliche Beeinträchtigungen haben, von denen sie aber nichts
wissen und die sie in ihrem Gesundheitserleben nicht beeinträchtigen (Myrtek
1998). Manche Erkrankungen, Krebserkrankungen zum Beispiel, werden in den
Frühstadien subjektiv nicht wahrgenommen und gehen nicht mit einem schlech-
ten Befinden einher – trotzdem weist der Befund eindeutig eine Krankheit auf.
Weitere Beispiele sind Bluthochdruck und Diabetes: Beides sind Erkrankungen,

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26 1. Schwierigkeit der Abgrenzung

die aus medizinischer Sicht ein hohes gesundheitliches Risiko bergen, von den
Betroffenen hingegen häufig kaum wahrgenommen und nicht als Beeinträchti-
gung des Befindens erlebt werden.
Im Bereich der psychosomatischen Erkrankungen hingegen sind die Verhält-
nisse oft umgekehrt: Psychosomatische Patientinnen und Patienten zeichnen sich
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häufig dadurch aus, dass sie sich als sehr krank erleben bei fehlendem oder nur
minimalem körperlichen Befund. Gesund oder krank?

1.1.4
Normabweichungen ohne Krankheitswert
Diagnosen liegen Normwerte zugrunde, in aller Regel statistische Normen,
die sich am durchschnittlichen Vorkommen eines Merkmals in einer Bevölke-
rungsgruppe orientieren. Abweichende Werte müssen aber keineswegs immer
Krankheitswert haben. Ein prominentes Beispiel ist die Adipositas, das massive
Übergewicht. Zwar ist der Grenzwert für das überzählige Fett definiert – aber
die Fachwelt ist sich keineswegs darüber einig, ob das Überschreiten dieses
Grenzwerts Krankheitswert hat, ob somit die Adipositas selbst eine Krankheit
ist. Auch gibt es Menschen, die pathologisch abweichende Werte in verschiedenen
Funktionsbereichen oder Systemen haben, welche sich aber nicht negativ auswir-
ken – Menschen, deren Herz auf der rechten Seite liegt, Menschen mit nur einer
Niere oder einem pathologisch niedrigen Wert an Leukozyten.
Darüber hinaus gibt es auch Abweichungen, die große Gruppen von Men-
schen betreffen und die für sie sogar einen gesundheitlichen Vorteil bedeuten.
So weisen etwa 40 % der Afrikaner eine Anomalie der roten Blutkörperchen auf,
die sogenannte Sichelzellanämie. Diese Erkrankung schützt jedoch, wenn sie
heterozygot vorliegt, vor Malaria.

1.1.5
Kulturgebundenheit der Beurteilung
Ein anderes Kriterium ist die Kulturgebundenheit der Beurteilung. Der ernied-
rigte Blutdruck, die Hypotonie zum Beispiel, wird in Deutschland als Krankheit
gewertet – in anderen Ländern wird der niedrige Blutdruck zwar als Normab-
weichung anerkannt, es wird ihm aber kein Krankheitswert zugesprochen; im
englischsprachigen Bereich wird der niedrige Blutdruck als «german disease»
bezeichnet. Besonders deutlich zeigt sich die Kulturgebundenheit im Bereich
der psychischen Erkrankungen, da die Abweichungen sich hier vor allem auf
soziale, nicht auf somatische Normen beziehen und sie im Zusammenhang mit
spezifischen Umgebungsbedingungen auftreten. So ist in China die Krankheit

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1.1 Problematik der Abgrenzungskriterien 27

«Frigophobie» anerkannt und verbreitet: eine ausgeprägte Angst vor Kälte, die
alle Kriterien einer Phobie erfüllt, also einer starken, auf ein Objekt bezogenen
Angst, und die es den Betroffenen unmöglich macht, ihre normalen Funktionen
aufrecht zu erhalten. In Deutschland dürfte es schwer fallen, wegen einer ver-
gleichbaren Angst krankgeschrieben zu werden.
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Der Kulturgebundenheit des Krankheitsbegriffs ist es auch zuzuschreiben,


dass neue Krankheiten entstehen und andere Normabweichungen nicht mehr
als Krankheiten gelten. Ein Beispiel für ersteres ist der Alkoholismus: Seit 1968
gilt «Abhängigkeit» nach einem Urteil des Bundessozialgerichts als Krankheit im
Sinne der Krankenversicherung. Damit entstand für die Betroffenen ein Rechts-
anspruch auf Behandlung und auf Rehabilitation.
Ein Beispiel für das «Verschwinden» einer Krankheit ist die Homosexualität:
Nachdem am 15. Dezember 1973 in der APA, der Berufsorganisation der ame-
rikanischen Psychiater, mehrheitlich dafür gestimmt wurde, Homosexualität
als psychiatrische Diagnose abzuschaffen, verschwand sie aus dem Diagnostik-
manual der American Psychiatric Association. Dieses Diagnostikmanual, das
«Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders» (DSM), unterliegt wie
die ICD regelmäßigen Revisionen, wodurch es möglich wird, psychische Krank-
heiten sowohl entstehen als auch verschwinden zu lassen. Homosexualität war
im DSM-II noch eine Krankheit, im DSM-III (APA 1980) gab es noch eine Rest-
kategorie «ich-dystone Homosexualität» für die Homosexuellen, die mit ihrer
eigenen sexuellen Orientierung nicht einverstanden waren, und im DSM-III-R
(APA 1987) gibt es dann schließlich keine Möglichkeit mehr, Homosexualität als
Krankheit zu diagnostizieren. In Lehrbüchern der Verhaltenstherapie nehmen
Kapitel zur Behandlung von Homosexuellen noch in den 1970er-Jahren erheb-
lichen Raum ein. Heute ist Homosexualität – zumindest in Deutschland – eine
gesellschaftlich anerkannte Lebensform. Sicher werden Homosexuelle auch heute
noch in bestimmten gesellschaftlichen Gruppen belächelt oder nicht kommen-
tarlos akzeptiert – dass sie krank sind, meint aber vermutlich nur noch eine
kleine Minderheit der Bevölkerung.
Ob ein Phänomen als Krankheit anerkannt wird oder nicht, hängt somit von
gesellschaftlichen Wertungen ab. Was in einer Gesellschaft als krank gilt und
was nicht, das ist jeweils auch Ergebnis eines gesellschaftlichen Diskurses und
Ausdruck gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Eine gesellschaftlich neutrale
Verwendung der Begriffe «krank» und «gesund» ist nicht möglich; in jedem Kul-
turkreis und in jeder historischen Phase kann die Frage, was als gesund gilt und
was als krank, nur durch gesellschaftliche Konventionen bestimmt werden.

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28 1. Schwierigkeit der Abgrenzung

1.1.6
Funktionalität der Störungen
Die Funktionalität der Symptome kann dazu führen, dass gleiche Störungen bei
der einen Person eine Krankheit darstellen, während sie bei einer anderen keine
Auswirkungen haben. Eine leichte Wirbelsäulenverkrümmung kann bei einer
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Krankenschwester, die viel heben und tragen muss, zu einer massiven Beein-
trächtigung und zu starken chronischen Schmerzen führen, wohingegen eine
Lehrerin mit einer vergleichbaren Wirbelsäulendeformation ohne Probleme lebt.
Die große Gruppe der Berufskrankheiten ist letztendlich auf dem Hintergrund
dieses Aspekts der Funktionalität entstanden: Ein Bäcker, der durch das jahre-
lange Einatmen feinen Mehlstaubs eine Allergie mit massiven Atembeschwerden
entwickelt hat, wird aufgrund dieser Erkrankung nicht mehr in der Lage sein,
seinen Beruf auszuüben. Macht er eine Umschulung als Schuster, so bleibt die
Mehlallergie zwar bestehen, aber die Krankheit hat ihre Funktonalität verloren
und wird nicht mehr als Berufskrankheit anerkannt. Auch den jetzigen Schuster
wird sie nicht mehr stören, weil er mit Mehlstaub nichts mehr zu tun hat.

Berufskrankheiten sind nach SGB VII §  9 «Krankheiten, die die Bundes­
regierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als
Berufskrankheiten bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versi-
cherungsschutz […] begründenden Tätigkeit erleiden. Die Bundes­regierung
wird ermächtigt, in der Rechtsverordnung solche Krankheiten als Berufs-
krankheiten zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen
Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen
bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich
höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind; sie kann dabei
bestimmen, dass die Krankheiten nur dann Berufskrankheiten sind, wenn
sie durch Tätigkeiten in bestimmten Gefährdungsbereichen verursacht wor-
den sind oder wenn sie zur Unterlassung aller Tätigkeiten geführt haben,
die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der
Krankheit ursächlich waren oder sein können.»

1.1.7
Interessengeleitete Definitionsmacht
Aus verschiedenen Gründen gibt es zahlreiche Gruppierungen, die daran inte-
ressiert sind, möglichst viele Zustände des menschlichen Lebens als Krankheiten
oder zumindest krankheitsriskante Phasen darzustellen. In den letzten Jahren

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1.1 Problematik der Abgrenzungskriterien 29

lässt sich nachweisen, dass immer mehr körperliche Phänomene, Verhaltenswei-


sen oder sogar Lebensphasen zu Krankheiten gemacht werden. Sind abstehende
Ohren eine Krankheit? Oder Cellulitis? Wie ist es mit Haarausfall? Oder Erek­
tionsstörungen? Ist die Pubertät eine behandlungsbedürftige Lebensphase? Oder
das Klimakterium?
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Im amerikanischen Raum wurde für das Phänomen der Ausweitung von


Krankheitsbildern der Begriff des «Disease Mongering» geprägt, also «Krank-
heitshandel». Das Wort zeigt, worum es geht: um die Angst der Menschen vor
Krankheiten und um deren ökonomische Verwertbarkeit (Blech 2003, Moy-
nihan, Heath & Henry 2002). Im Deutschen ist der Begriff der Medikalisierung
üblicher: Medikalisierung bezeichnet das Phänomen, dass Phasen, die Menschen
naturgemäß im Leben durchlaufen, zu einem behandlungsbedürftigen Krank-
heitsphänomen erklärt werden.
Ein Beispiel, an dem sich eine Medikalisierung besonders deutlich zeigen lässt,
ist das weibliche Klimakterium. In dieser Lebensphase reduziert der Körper von
Frauen die Produktion der für die Fortpflanzung wichtigen Hormone. Ein natür-
licher Prozess, unter dem viele Frauen nicht nur nicht leiden, sondern den sie
begrüßen, müssen sie sich doch jetzt weder mit Menstruationsschmerzen plagen
noch weiter um die Verhütung Gedanken machen. Die Medikalisierung hat
jedoch dazu geführt, dass das Klimakterium als Hormonmangelstatus definiert
wird, dem es mit der medikamentösen Zufuhr von Hormonen zu begegnen gilt
(Lademann 2000) – eine Interpretation, die der Pharmaindustrie zu enormen
Verschreibungszahlen von sogenannten Hormonersatzpräparaten verholfen hat.
Für die Konsumentinnen dieser Produkte ist das Geschäft mit ihrer Gesundheit
weniger positiv verlaufen: Umfangreiche Langzeitstudien in Großbritannien
und den USA haben eindeutig belegt, dass die Hormone für viele Frauen weit-
aus schädlicher sind als nützlich (Landtag Nordrhein-Westfalen 2004, Million
Women Study Collaborators 2003, Women’s Health Initiative 2004, Writing
Group for the Women’s Health Initiative Investigators 2002). Insbesondere für
Brustkrebs steht nach neuen Untersuchungen zweifelsfrei ein kausaler Zusam-
menhang zwischen der Hormonersatztherapie und dem Auftreten der Erkran-
kung fest, doch auch alarmierende Anstiege von Schlaganfällen, Herzinfarkten
und Thrombosen werden durch sie verantwortet.
Die Verschreibungen von Hormonpräparaten für Frauen im Klimakterium
gingen nach den Veröffentlichungen weltweit zurück – und dies zum Nutzen der
Frauen: Internationale Vergleiche zeigen, dass die Inzidenz der Brustkrebser-
krankungen mit sinkenden Verordnungszahlen der Hormonersatzpräparate
hoch korreliert und ebenfalls abnimmt (Glaeske & Schicktanz 2010, Verkooijen
et al. 2009). Doch schon wurde eine neue lukrative Konsumentinnengruppe
entdeckt: alle Mädchen zwischen 12 und 17 Jahren. Um vor Gebärmutterhals-

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30 1. Schwierigkeit der Abgrenzung

Das gute Verdienen an der Krankheit wurde auch literarisch verarbeitet – hier
zwei besonders zu empfehlende Beispiele:
Der französische Schriftsteller Jules Romains setzte in seinem Dreiakter «Knock
oder der Triumph der Medizin» dem findigen Dorfarzt Knock ein Denkmal,
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der es schafft, aus ehemals gesunden Dorfbewohnern Kranke zu machen, die


ständiger ärztlicher Betreuung bedürfen. Während sein Vorgänger angesichts
der gesunden Dorfbewohner, die ihn selten konsultierten, verarmte, bringt
Knock den Dorfbewohnern nahe, welche gesundheitlichen Gefahren ihnen
drohen und diagnostiziert neue Erkrankungen. Gemäß seinem Motto, dass
jeder gesunde Mensch ein Kranker ist, der es noch nicht weiß, veranlasst er
auch den Lehrer des Dorfes, sich an der Gefahrenaufklärung zu beteiligen,
und bald zeigen sich die Früchte ihrer Kampagne. Knock, der Apotheker des
Dorfes und der Wirt, dessen Gasthof als Notlazarett ausgelastet ist, werden
reich – und Knock sieht allabendlich zufrieden, wie um zehn Uhr in 250 hell
erleuchteten Krankenzimmern 250 Fieberthermometer eingeschoben werden.

Der Schweizer Schriftsteller Hermann Burger erhielt den Hölderlin-Preis für


den Roman «Die künstliche Mutter», in dem er beschreibt, wie gut sich am
psychischen Leiden von Menschen verdienen lässt und wie Berufszweige und
Organisationen um das Leiden herum kreiert werden: «Doktor Ladislaus Was-
serfallen, gelernter Bergbauingenieur, hatte sich, leider ohne medizinische Vor-
bildung, zum Gruppentherapeuten umschulen lassen in einer sechsjährigen
Schnellbleiche beim umstrittenen Guru Memmon, der gesunden Menschen
einzureden verstand, sie litten unter dem Limes-Syndrom, seien Grenzwert­
existenzen und kippten demnächst über ins Niemandsland des Unendlichen,
wenn sie sich nicht einer mehrjährigen, alttestamentlich geführten Grup-
penorgie unterzögen. Sein Trick bestand darin, aus Gesunden Patienten, aus
Patienten Co-Therapeuten und aus observierten Sitzungsleitern selbständig
erwerbende Analytiker zu machen, wodurch ein Teil des verplauderten Geldes
in eine sogenannte Ausbildung investiert war. Doch die Krankenkassen wei-
gerten sich, die Memmoniten zuzulassen, weil sie keine Ahnung hatten vom
menschlichen Körper und am laufenden Band Grenzfallpatienten erfanden,
die keine waren, denen mit einem Nerventonikum oder einem Schlafmittel
geholfen werden konnte. Den fundiert ausgebildeten, also von der Medizin
her kommenden Analytikern warfen sie Standesdünkel und Kastenpolitik
vor, zeichneten sich aber ihrerseits durch verbalen Terrorismus aus. Hatten
sie einen Therapienehmer mal in den Fängen, ließen sie ihn nicht mehr frei,
bevor sie ihm mindestens zwanzigtausend Franken abgeknöpft hatten für die
Einsicht, dass man über vieles, eigentlich über alles reden könne.»

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1.1 Problematik der Abgrenzungskriterien 31

krebs geschützt zu sein, sollen sie sich gegen Papillomviren (HPV) impfen lassen.
Die Ständige Impfkommission am Robert-Koch-Institut empfiehlt die Impfung
seit 2007. Im Jahr zuvor waren zwei Impfstoffe zugelassen worden, obwohl noch
keine einzige Studie zum klinischen Nutzen abgeschlossen war. Inzwischen liegt
ein Bericht vor, dessen Autoren als belegt ansehen, dass die HPV-Impfung vor
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Krebsvorstufen des Gebärmutterhalses schützt (DIMDI 2009). Wie sehr die


Impfung jedoch vor dem Ausbruch des Krebses schützt, wie lange der Wirkstoff
anhält und welche langfristigen Nebenwirkungen auftreten können, ist unbe-
kannt. Der Nutzen der breit angelegten Kampagne ist zudem deshalb fraglich,
weil der Gebärmutterhalskrebs in Europa zu den seltenen Krebserkrankungen
gehört; in der Häufigkeit der Krebsarten steht er bei Frauen in Deutschland an
vierzehnter Stelle (Hirte 2011). Die Grundimmunisierung kostet in Deutschland
derzeit € 465,00 – ein gutes Geschäft für die Pharmaindustrie. Die beiden die
Impfstoffe produzierenden Pharmafirmen haben sich gegenseitig Kreuzlizenzen
erteilt, so dass beiden die Nutzung der Patentrechte zur Verfügung steht. Das
Deutsche Krebsforschungszentrum ist Co-Patentinhaber und hat damit teil an
den Gewinnen aus dem Impfstoffverkauf.
Aufgrund des hohen Stellenwerts, den die Gesundheit in unseren Gesellschaf-
ten hat, und der daraus folgenden Angst der Menschen, krank zu werden (vgl. Kap.
2.3), haben es diejenigen leicht, die mit Werbeaufwand und Lobbyisten Krank-
heitsbilder ausweiten und neue Krankheiten erfinden. Dass hoher Blutdruck die
Auftretenswahrscheinlichkeit von Herz-Kreislauferkrankungen, Schlaganfall
und Nierenversagen erhöht, ist unbestritten – doch welches sind die riskanten
Grenzwerte? Bis Anfang der 1990er-Jahre galten Werte ab 160/100 mmHg als
behandlungsbedürftig. Als dann die «Deutsche Liga zur Bekämpfung des hohen
Blutdrucks» den neuen Grenzwert mit 140/90 mmHg bezifferte, erhöhte sich die
Zahl der Hypertoniker in Deutschland um etwa das Dreifache (Blech 2003).
Im Mai 2009 schwächte die Weltgesundheitsorganisation WHO die Kriterien
zur Definition einer Pandemie ab. Die neue Definition reichte aus, die im Sommer
2009 auftretende «Schweine-Grippe» zur Pandemie zu erklären, woraufhin die
deutsche Bundesregierung 34 Millionen Impfdosen «Pandemrix» kaufte. Trotz
intensiver Werbung für die Impfung wurden jedoch nur 5,3 Millionen Impfdo-
sen verbraucht und die übrig gebliebenen 28,7 Millionen im Wert von 239 Milli-
onen Euro nach Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums in Müllheizkraftwerken
vernichtet. Die Verbrennung kostete weitere 10 000 Euro aus Steuergeldern.
Entgegen des immer wieder gehörten «Hauptsache Gesundheit» ist das
Geschäft mit der Krankheit und der Angst vor ihr ungeheuer lukrativ. Von der
Krankheitsangst profitieren nicht nur Apotheken, Drogerien, Reformhäuser,
Esoterikshops und Nahrungsergänzungsmittelhersteller und -vertreiber, son-
dern auch Rückenschulen, Buchläden, Volkshochschulen, Fitnessstudios und

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32 1. Schwierigkeit der Abgrenzung

viele andere mehr. Die neue Gesundheitsbewegung, die sich an Wellness, Life-
style und Ästhetik orientiert, ergreift alle Bereiche des menschlichen Lebens, und
letztlich gibt es nichts, was sich nicht unter dem Dach eines so weit gefassten
Verständnisses von Gesundheit verkaufen lässt.
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Bitte überlegen Sie, welche der obigen sieben Aspekte bei den eingangs dar-
gestellten Fallbeispielen eine Rolle spielen.

1.2
Die Unterscheidung als Irrtum
Vielleicht beruht die Schwierigkeit der Unterscheidungsmöglichkeit aber auch
darauf, dass es de facto gar nicht möglich ist, eindeutig zwischen zwei Zuständen
«gesund» und «krank» zu unterscheiden? Die Ärzte des Altertums, insbesondere
die Alexandriner Herophilos und Erasistratos (um 300 v. Chr.) und der aus Per-
gamon stammende, aber in Rom arbeitende große Arzt Galen (129 – 199 n. Chr.),
kannten neben Gesundheit und Krankheit den neutralen Zustand dazwischen.
Galen nannte ihn «ne-utrum». Gelegentliche Kopfschmerzen oder Schlaflosig-
keit, Durchfall oder leichtes Fieber gehörten in die Kategorie des ne-utrum: nicht
ganz gesund, nicht wirklich krank, sondern Phänomene, die zum Auf und Ab des
menschlichen Lebens gehören.
Bis ins 19. Jahrhundert hinein wurden Abweichungen leichteren Ausmaßes
durchaus als Variante von Gesundheit akzeptiert. So unterscheidet etwa Hufe-
land (1795) die «absolute» und «relative» Gesundheit: Erstere «[…] heisst ein
durchaus vollkommener regelmässiger und harmonischer Zustand der Organe,
Kräfte und Functionen des menschlichen Wesens, – gleichsam das Ideal der
Gesundheit.» Diesen hält er jedoch für so selten, dass an ihm gemessen «[…] jetzt
der allergrösste Theil der civilisirten Menschen» als krank bezeichnet werden
müsse. Als das, «[…] was wir gewöhnlich Gesundheit nennen […]» bezeichnet er
die relative Gesundheit, in der der Zustand der Organe, Kräfte oder Funktionen
«[…] zwar etwas vom naturgemässen abweichen […]» könne, aber nicht so, dass
wirkliche Störungen zu bemerken seien (Hufeland 1795; alle Zitate in Rothschuh
1975, S. 19).
Medizinhistorisch wurde die strikte Trennung zwischen krank und gesund
erst durch die Sozialgesetzgebung westlicher Staaten notwendig – gerade die
Bismarckschen Sozialgesetze leisteten ihr entscheidenden Vorschub (Bergdolt
1999). Denn mit der Einführung der Krankenversicherung wurde es notwendig,
Kriterien zu erstellen, die festlegten, für welche Krankheitszustände Versiche-
rungsleistungen in Anspruch zu nehmen waren. Berufsständische Interessen

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1.2 Die Unterscheidung als Irrtum 33

unterstützten diese Entwicklung massiv. Die Ärzteschaft war immer eine der am
besten organisierten Berufsgruppen, der es gelang, ihre Interessen durchzusetzen.
Mit dem Anspruch, die alleinige Zuständigkeit für Krankheit zu haben, erhielt
der ärztliche Stand erhebliche Definitionsmacht und weitete seinen Zuständig-
keitsbereich in dem Maße aus, in dem Abweichungszustände als Krankheiten
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deklariert wurden.
Heute wird die strikte Trennung von Gesundheit und Krankheit zunehmend
in Frage gestellt: In die in neuerer Zeit entwickelten Gesundheits- und Krank-
heitstheorien gehen «gesund» und «krank» nicht mehr als dichotome Kategorien
ein, sondern als Pole eines Kontinuums, auf dem es unterschiedliche Ausmaße
von Gesundheit und Krankheit gibt (vgl. Kap. 6).

Anstelle weiterführender Literatur:


Besorgen Sie sich einen Stapel Zeitschriften aus Apotheken, Drogerien,
Reformhäusern, legen Sie auch noch einige Exemplare aus Frauen- und
Männerzeitschriften dazu, besorgen Sie zwei große Kartons (die Rückseiten
von Plakaten tun’s auch), Schere und Klebstoff und fertigen Sie zwei Kollagen
an zu den Themen:
• Wir schaffen Gesundheit!
• Wir besiegen die Krankheit!
Welche Unterschiede stellen Sie fest?

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35

2
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Was ist Gesundheit?

Gesundheit ist einerseits ein theoretisches Konstrukt von Normen und Abwei-
chungen. Zum anderen ist sie ein praktisches, am eigenen Leibe erlebtes Phänomen.
(Milz 2004, S. 88)

Wäre Gesundheit nur «ein praktisches, am eigenen Leibe erlebtes Phänomen», so


brauchten wir uns mit ihr definitorisch nicht sehr intensiv auseinanderzusetzen.
Aber da sie auch ein gesellschaftliches Phänomen ist, entstehen zahlreiche Unklar-
heiten, Fragen und Widersprüche – und die Notwendigkeit der permanenten
Diskussion um das Phänomen, das nur in der fortlaufenden Auseinandersetzung
mit den sich verändernden gesellschaftlichen Gegebenheiten jeweils aktuell
bestimmt werden kann. Es gibt keine a-historische Definition von Gesundheit.

Bevor Sie sich in diesem Kapitel theoretisch mit der Gesundheit befassen,
nehmen Sie ein großes Blatt und zeichnen Ihre Gesundheitslinie: Stellen Sie
in einer Linie bzw. Kurve dar, wie sich Ihre Gesundheit im Verlauf Ihres
Lebens verändert hat.

2.1
Definitionen von Gesundheit
«Hauptsache gesund» sagen schwangere Frauen, wenn sie gefragt werden, ob ihr
Kind ein Mädchen oder ein Junge würde. «Hauptsache gesund» sagen Rentner,
die sich auf der Parkbank nach einem längeren Gespräch verabschieden. Dass
etwas «für die Gesundheit» ist, reicht häufig als letztes Argument aus: Im Namen
der Gesundheit essen Kinder Spinat, joggen Manager vor Bürobeginn durch den
Park, vergrößern Pharmakonzerne ihren Umsatz und verübten Angehörige von
«Gesundheitsberufen» im Unrechtsstaat des Dritten Reichs die größten Verbrechen.

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36 2. Was ist Gesundheit?

Die Frage nach Wesen und Bedeutung der Gesundheit beschäftigt die Men-
schen seit Jahrtausenden, und alle «klassischen» wissenschaftlichen Disziplinen
wie Philosophie, Medizin, Jura, Theologie, Geschichtswissenschaft, Psychologie
und Soziologie haben sich mit ihr auseinandergesetzt. Auch Schriftsteller und
Dichter haben sich zu dem Thema geäußert. Und last but not least haben auch die
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Politik, das Versicherungswesen und Verwaltungen das Spektrum der Gesund-


heitsdefinitionen erweitert.
Angesichts dieser Heterogenität kann es nicht verwundern, dass es bis heute
nicht gelungen ist, eine Gesundheitsdefinition zu finden, die als allgemein gültig
anerkannt wird. Im Folgenden ist eine Reihe von Definitionen aufgeführt.

Die Definitionen sind hier nach ihrem Erscheinungsdatum geordnet. Ver-


suchen Sie, eine andere, inhaltliche Ordnung, zu finden:
• Welche Aspekte tauchen in mehreren Definitionen auf?
• Welche Dimensionen werden in den einzelnen Definitionen besonders
betont?
Besser arm und mit gesunden Gliedern als reich und mit Krankheit geschlagen.
Ein Leben in Gesundheit ist mir lieber als Gold, ein frohes Herz lieber als Perlen.
Kein Reichtum geht über den Reichtum gesunder Glieder, kein Gut über die
Freude des Herzens [...] Herzensfreude ist Leben für den Menschen, Frohsinn
verlängert ihm die Tage. (Altes Testament, Buch Jesus Sirach 200 v. Chr.)
[...] Zustand, in dem wir weder Schmerzen leiden noch im Gebrauch der
Lebenskräfte behindert sind. (Galen 129–199)
Gesundheit […] wird in gedoppeltem Verstande genommen. Einmahl ist es
ein solcher Zustand des menschlichen Leibes, in welchem derselbe an allen
seinen Theilen unverletzt seine natürlichen Verrichtungen ungehindert aus-
üben kann. Nächst diesen schreibt man auch dem menschlichen Verstande
eine Gesundheit zu, wenn nemlich sich selbiger in dem Stande befindet, dass
er das wahre und falsche recht erkennen kann, und nach der wahren Erkennt-
niß den Willen bewegt, sein Thun darnach einzurichten. Es bestehet aber die
natürliche Gesundheit in einer geziemenden Gleichheit derer unter einander
würckenden Kräffte der Seelen und des Leibes, wie auch in einer richtigen
Beschaffenheit des Leibes und der daher kommenden angenehmen Würckung
und Widerwürckung derer ganz und flüssenden Theile. (Zedler 1735)
Gesundheit ist nicht alles, ohne Gesundheit ist alles nichts. (Arthur Schopen-
hauer 1851)

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2.1 Definition von Gesundheit 37

Denn Krankheit und Gesundheit sind nicht Gegensätze, die sich bekämpfen, sie
sind gleichberechtigte und notwendige Lebensäußerungen, etwa so wie Schlafen
und Wachen, Nacht und Tag, Ruhe und Arbeit… Wer ist gesund, wer ist krank?
Die Narren nur vermögen es zu unterscheiden. (Georg Groddeck 1910)
Health is a state of complete physical, mental, and social well-being and not
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merely the absence of disease or infirmity. (Gesundheit ist ein Zustand des
vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht
nur das Freisein von Krankheit und Gebrechen.) (Weltgesundheitsorganisa-
tion WHO 1946)
Bei guter Gesundheit sein heißt: Krankwerden können und noch davon gene-
sen; es ist ein biologischer Luxus. (Georges Canguilhem 1950)
Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewänne und säße in
deren Besitz mit einem Magenkrebs, Sodbrennen und Prostataschwellung!
(John Steinbeck 1953)
Gesundheit ist überhaupt nicht nur ein medizinischer, sondern überwiegend
ein gesellschaftlicher Begriff, Gesundheit wiederherstellen heißt in Wahrheit:
Den Kranken zu jener Art von Gesundheit bringen, die in der jeweiligen
Gesellschaft die jeweils anerkannte ist, ja in der Gesellschaft selbst erst gebil-
det wurde. (Ernst Bloch 1955)
Gesundheit im positiven Sinn besteht in der Fähigkeit des Organismus, ein
Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, das ihm erlaubt, mehr oder weniger frei
von starkem Schmerz, Unbehagen, Handlungsunfähigkeit oder -einschrän-
kung oder sozialer Leistungsunfähigkeit zu leben. (George Engel 1960)
Gesundheit kann definiert werden als der Zustand optimaler Leistungsfähig-
keit eines Individuums für die wirksame Erfüllung der Rollen und Aufgaben,
für die es sozialisiert worden ist. (Talcott Parsons 1967)
Gesundheit, latein. sanitas, der Zustand, in dem sich Lebewesen befinden,
wenn all ihre Organe ungestört tätig sind und harmonisch zur Erhaltung ihres
ganzen Wesens zusammenwirken sowie ihre Fortpflanzung gewährleisten (im
Gegensatz zu Krankheit). (Brockhaus 1969)
Gesundheit ist die Möglichkeit, die physischen und psychischen Anlagen voll
auszuschöpfen, d. h. die Fähigkeit, den eigenen Körper optimal zu gebrauchen.
(Giovanni Jervis 1978)
Sie (die Gesundheit) ist die Rhythmik des Lebens, ein ständiger Vorgang, in dem
sich immer wieder Gleichgewicht stabilisiert. (Hans-Georg Gadamer 1993)
Gesundheit ist das Stadium des Gleichgewichts von Risikofaktoren und
Schutzfaktoren, das eintritt, wenn einem Menschen eine Bewältigung sowohl

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38 2. Was ist Gesundheit?

der inneren (körperlichen und psychischen) als auch äußeren (sozialen und
materiellen) Anforderungen gelingt. Gesundheit ist ein Stadium, das einem
Menschen Wohlbefinden und Lebensfreude vermittelt. (Klaus Hurrelmann
2006)
Das «normale» (bzw. nicht «krankhafte») subjektive Befinden, Aussehen und
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Verhalten sowie das Fehlen von der Norm abweichender ärztlicher Befunde.
(Brockhaus 2006)

2.2
Dimensionen der Gesundheit
Es geht im Folgenden nicht darum, wie falsch oder richtig eine der hier zitierten
oder sonst irgendeine Definition von Gesundheit ist, sondern um das Spektrum
der Dimensionen, die mit dem Begriff Gesundheit verbunden sind. Ich orientiere
mich dabei vor allem an einem eigenen Einteilungsversuch (Franke 1990, 1993).
Naturgemäß sind die beschriebenen Dimensionen nicht unabhängig voneinan-
der, was zu einigen Überpointierungen und Verzerrungen führt. Ich halte dies
jedoch für gerechtfertigt, da anders eine Annäherung an das komplexe Phäno-
men, das wir «Gesundheit» nennen, nicht möglich ist.

2.2.1
Gesundheit als Störungsfreiheit
Gesundheit als Störungsfreiheit bedeutet, dass gesund ist, wer nicht krank ist. In
den vorangegangenen Definitionen etwa in dem von Johann Heinrich Zedler in
den Jahren 1732 bis 1754 herausgegebenen Universallexikon:
[…] Zustand des menschlichen Leibes, in welchem derselbe an allen seinen Theilen
unverletzt seine natürlichen Verrichtungen ungehindert ausüben kann.

Oder im Brockhaus von 1969:


[…] Zustand, in dem sich Lebewesen befinden, wenn all ihre Organe ungestört tätig
sind […].

Anschauliche Beispiele für das Verständnis von Gesundheit als Störungsfreiheit


sind bereits aus der alten Hochkultur Ägyptens überliefert:
Gegeben werden dir deine Augen um zu sehen, deine beiden Ohren, um Gespro-
chenes zu hören. Dein Mund redet, deine Beine laufen, es drehen sich nach deinem
Belieben deine Arme und Schultern. Fett ist dein Fleisch, geschmeidig sind deine
Muskeln. Du erfreust dich all deiner Körperteile. Du findest deinen Körper vollzählig,
indem er ganz und wohlbehalten ist. (zit. n. Bergdolt 1999, S.17/18)

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2.2 Dimensionen der Gesundheit 39

Gesundheit als Freisein von Störungen gehört nicht nur zu den ältesten Vorstel-
lungen, sondern kennzeichnet das Verständnis des westlich-industriellen Medi-
zinsystems und der westlichen Medizinwissenschaft. Im allgemeinen Sprachge-
brauch wird diese Definition als Negativdefinition bezeichnet, weil sie Gesundheit
über die Abwesenheit von Krankheit definiert.
Fachhochschule Ostschweiz FHS St. Gallen, Hochschule für Angewandte Wissenschaften / 152.96.188.38 (2023-09-25 11:27)

Gesundheit als Störungsfreiheit ist an statistischen Normen und an Krite-


rien orientiert, die in Expertengremien festgelegt werden. Solange sich Werte
innerhalb der definierten Grenzwerte befinden, gilt man als gesund, werden ein
oder mehrere bestimmte kritische Werte über- oder unterschritten, so liegt eine
Erkrankung vor. Die Entscheidung, ob sich ein Wert innerhalb oder außerhalb
der als unbedenklich geltenden Spannweite befindet, liegt bei den Professionellen.
In den Gesundheits- und Sozialwissenschaften wird die Negativdefinition
der Gesundheit als zu eng kritisiert. Bemängelt wird, dass das Kriterium der
Störungsfreiheit einseitig expertenorientiert ist, dass das subjektive Befinden
der Betroffenen nicht angemessen berücksichtigt werde. Darüber hinaus setzt
die Annahme der Gesundheit als Störungsfreiheit voraus, dass es klare Ent-
scheidungen über einen Zustand als «störungsfrei» gibt. Aber hat jemand, der
Kopfschmerzen hat, weil er am Tag zuvor zu viel geraucht und getrunken hat,
eine körperliche Störung? Und wenn es eine körperliche Störung ist – ist er dann
krank? Oder sind die Kopfschmerzen eine gesunde Reaktion?
Doch auch unter denen, die dem herrschenden Medizinsystem kritisch gegen-
überstehen, findet die negative Gesundheitsdefinition Anhänger. Sie befürchten,
dass eine positive Gesundheitsdefinition Maßstäbe setzt, an denen gemessen die
meisten Menschen als krank bezeichnet werden müssen, und dass sich bei der
Orientierung des Versorgungssystems an einem positiven Gesundheitsbegriff
die Tendenz verstärkt, dass im Namen der Gesundheit immer mehr Krankheiten
erfunden und immer mehr Menschen zu Kranken gemacht werden. So schreibt
Klaus Dörner, langjähriger ärztlicher Leiter eines großen psychiatrischen Kran-
kenhauses und profilierter Kritiker des Medizinsystems:
Alle Welt verkauft Gesundheit als höchstes Gut, um unter dieser Tarnung umso
erfolgreicher alles Gesunde in unseren Lebenswelten in Krankes und damit Behand-
lungsbedürftiges zu verwandeln. Dadurch kann das Medizinsystem am besten
weiter wachsen und stärker als alle anderen Wirtschaftsbranchen werden. (Dörner
2003, S. 7)

Ich teile die Ängste und den Ärger dieser Autoren hinsichtlich der Geschäfte-
macherei mit der Gesundheit. Aber ich bezweifle, dass eine negative Definition
von Gesundheit das Heilmittel gegen die «Gesundheitsfalle» (Dörner 2003) und
«Krankheitserfinder» (Blech 2003) ist. Denn auch eine Gesundheitsdefinition,
die Gesundheit als Abwesenheit von Krankheit definiert, steht vor dem Problem
der Abgrenzung von Gesundheit und Krankheit (vgl. Kap. 1). Die Diskrepanz

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40 2. Was ist Gesundheit?

zwischen Befund und Befinden, die Abhängigkeit der Diagnose von technischen
Möglichkeiten und medizinischer Sorgfalt bleiben auch bei einer negativen
Definition von Gesundheit bestehen. Unter wissenschaftstheoretischen Gesichts-
punkten bedeutet die Annahme, gesund sei, wer keine Störung habe, dass
Gesundheit und Krankheit zwei klar unterscheidbare, sich ausschließende Kate-
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gorien sind, dass jemand also eindeutig entweder gesund oder krank ist. Dies
ist jedoch keinesfalls entschieden – und wird angesichts der Entwicklungen der
Genforschung immer unklarer. Ab wann ist jemand, bei dem die genetische Prä-
disposition für das Auftreten einer Altersdemenz diagnostiziert wurde, krank?
Ist er noch gesund? Und wenn ja: Wie lange noch? Meines Erachtens bedeutet die
Negativdefinition eher eine Engführung, die zahlreiche Probleme mit sich bringt
und nur scheinbar Sicherheit vermittelt.

2.2.2
Gesundheit als Wohlbefinden
Während sich die «Gesundheit als Störungsfreiheit» weitgehend über von außen
gesetzte Normen definiert und sich bei der Bewertung entscheidend auf Exper-
tenbeurteilung stützt, hebt «Gesundheit als Wohlbefinden» auf die subjektive
Ebene der Gesundheit, das Sich-Befinden des einzelnen Menschen ab.
Kein zweiter Terminus hat in der fachlichen Diskussion so viel Emotionali-
tät und Polemik ausgelöst wie derjenige des Wohlbefindens. Offiziell wurde er
erstmalig 1946 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in die Debatte ein-
gebracht. In ihrer Gründungserklärung formulierte sie die berühmt gewordene
Definition:
Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen
Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit und Gebrechen.

Die Definition der WHO ist seither immer wieder heftig angegriffen worden –
nichtsdestotrotz kann sie für sich in Anspruch nehmen, diejenige zu sein, auf
die sich weltweit die größte Expertengruppe hat jemals verständigen und einigen
können.
Gesundheit geht im Verständnis dieser Definition über das Freisein von kör-
perlichen und psychischen Erkrankungen und Beeinträchtigungen hinaus. Sie
ist mehr als das Schweigen der Organe, sie ist Wohlbefinden. Was dieses Wohl-
befinden ausmacht, wird nicht weiter ausgeführt – vielleicht ein wichtiger Grund
für die heftige Ablehnung, die diese Definition in weiten Kreisen der Medizin
erfuhr. Wohlbefinden als Kriterium von Gesundheit weckt offensichtlich Ängste,
dass diejenigen, denen es wohl geht, das Leben als bloßes Belustigungsunterneh-
men verstehen, nichts mehr leisten und sich ausschließlich darauf konzentrieren,

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2.2 Dimensionen der Gesundheit 41

ihren persönlichen Spaß zu haben. Hans Schaefer, Physiologe und Pionier der
Sozialmedizin in Deutschland, einer der bekanntesten Medizinautoren mit einer
ungebrochenen Karriere von 1931 bis zu und nach seiner Emeritierung, drückt
diese Befürchtungen folgendermaßen aus:
Wir wollen uns zum Begriff des «vollkommenen Wohlbefindens» zurückwenden. Er
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ist als Forderung nicht nur utopisch. Es ist kennzeichnend für unsere Generation,
dass seine faktische Unhaltbarkeit in der Politik niemals betont worden ist.
Jedes Lebewesen muss seine Existenz in einer Welt sichern, die zahllose Gefahren für
diese Existenz birgt. Die Beschaffung von Nahrung und die Sicherung einer Umwelt,
welche vor den Wechselfällen der Natur schützt, sind an Leistungen geknüpft, die
nur unter Aufwendung von Mühe erbracht werden können. […] In der Tatenlosigkeit
degenerieren Leib und Geist. Wer sich also Anstrengungen zu entziehen sucht, der
entzieht sich selbst damit die Garantie, der Mechanismen habhaft zu sein, mit denen
Existenz zu sichern ist. [...]
Wohlbefinden entartet dann in einer zweiten Entwicklungsphase zur Hemmungslo-
sigkeit des Genießens, d. h. zu Überernährung, Konsum von Genussgiften, insbeson-
dere von Zigaretten und Alkohol, und damit zu einer direkten Gesundheitsgefahr. Die
Adaptation an solches Wohlbefinden lässt also das, was uns krank macht, als eine
die Gesundheit im Sinne der WHO garantierende Forderung erscheinen. (Schaefer
1980, S. 86)

Und einige Seiten weiter:


Gesundheit ist in jedem Fall das Resultat von persönlicher Askese. […] Wohlergehen ist
für die meisten Menschen aber Befriedigung ihrer Genusssucht. (Schaefer 1980, S. 89)
Die Definition der Gesundheit als Wohlbefinden schürt nicht nur Ängste vor Ver-
weichlichung, sondern sie trifft all diejenigen im Zentrum ihres Selbstverständ-
nisses, die sich selbst für die Experten für Gesundheit halten. Denn ein Experte
oder eine Expertin, die für sich in Anspruch nehmen, dass ihr Befund das allei-
nige Kriterium für den Entscheid über einen Zustand als gesund oder krank ist,
müssen ein Gesundheitsverständnis, das die subjektive Sichtweise der Betroffenen
berücksichtigt, fürchten wie der Teufel das Weihwasser. Es schmälert ihre Macht,
degradiert die Alleinherrscher zu solchen, die nur mehr Mitspracherecht haben.
Aus gesundheitspolitischer Sicht wird dem Wohlbefinden als Bestandteil der
Gesundheitsdefinition von all denjenigen besondere Bedeutung zugesprochen,
die eine stärkere Demokratisierung des Gesundheitswesens fordern. Unter Beru-
fung auf die Ottawa-Charta der WHO von 1986 (vgl. Kap. 9) fordern sie mehr
Selbstbestimmung der Menschen, mehr Verantwortung und mehr Zuständigkeit
für ihre Gesundheit – und das kann nur auf der Basis eines Gesundheitsbegriffs
geschehen, der das subjektive Befinden und damit auch das Sich-Wohlfühlen
impliziert. In diesem Sinne können dann sogar objektive Risikofaktoren wie
Rauchen und Trinken als Verhaltensweisen interpretiert werden, die im Sinne der
kleinen Fluchten zu Entlastung, Genuss und Freude führen und damit zu einem
größeren Grad an Wohlbefinden – sprich Gesundheit (Göpel 2004, Reye 1993).

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42 2. Was ist Gesundheit?

Was aber ist Wohlbefinden? Suchen Sie Beispiele für körperliches, geistiges
und soziales Wohlbefinden.
Welches sind Ihre eigenen Kriterien für Wohlbefinden?
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Eine besonders schöne Definition des Wohlbefindens als Kriterium für Gesund-
heit stammt von Hans-Georg Gadamer in seinen Betrachtungen «Über die Ver-
borgenheit der Gesundheit»:
Es liegt ganz unzweifelhaft in der Lebendigkeit unserer Natur, dass die Bewusstheit
sich von sich selbst zurückhält, so dass Gesundheit sich verbirgt. Trotz aller Verbor-
genheit kommt sie aber in einer Art Wohlgefühl zutage, und mehr noch darin, dass wir
vor lauter Wohlgefühl unternehmungsfreudig, erkenntnisoffen und selbstvergessen
sind und selbst Strapazen und Anstrengungen kaum spüren – das ist Gesundheit. [...]
Sie besteht nicht darin, dass man sich in den eigenen schwankenden Befindlichkeiten
immer mehr um sich sorgt oder gar Unlustpillen schluckt. (1993, S. 143/144)

Als Gadamer dies schrieb, war er 91 Jahre alt.

2.2.3
Gesundheit als Leistungsfähigkeit und Rollenerfüllung
Während sich Störungsfreiheit und Wohlbefinden auf Zustände, Prozesse und
das Erleben von Körper und Psyche beziehen, kennzeichnen die Dimensionen
der Leistungsfähigkeit und Rollenerfüllung eher funktionale Aspekte. Lei-
stungsfähigkeit und Rollenerfüllung bemessen sich an funktionalen Normen,
d.h. daran, inwieweit jemand in der Lage ist, von ihm erwartete und geforderte
Leistungen zu bringen und seinen sozialen Rollen gerecht zu werden. Gesund-
sein in diesem Sinne bedeutet, eigenen und fremden Anforderungen genügen zu
können, stark und kräftig genug zu sein für die anliegenden Aufgaben und seine
beruflichen und familiären Angelegenheiten erledigen zu können. Diese Sicht-
weise entspricht auch den sprachlichen Wurzeln: der Wortstamm: «gesund» hat
im Mittelhochdeutschen mit «geschwind» zu tun, was auch im Sinne von kräftig,
schnell, stark zu verstehen ist.
Die Kategorie der Leistungsfähigkeit weist eindeutig über medizinisches Den-
ken hinaus. Definitionen, die diesen Aspekt betonen, stammen daher nicht aus
der Schulmedizin, sondern aus der Psychologie und Soziologie; auch Politik und
Rechtsprechung haben sich mit der Leistungsfähigkeit auseinandergesetzt.
In psychologischen Gesundheitskonzeptionen ist die Leistungsfähigkeit in der
Regel ein wichtiger Faktor neben anderen – wobei er uns hier meistens im Begriff
der «Kompetenz» begegnet. Diese Kompetenz umfasst aus psychologischer Sicht
nicht nur den Bereich von Arbeits- und Erwerbstätigkeit, sondern nahezu alle

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2.2 Dimensionen der Gesundheit 43

Fähigkeiten, die für das Alltagsleben wichtig sind: Anpassungsfähigkeit, Kom-


munikationsfähigkeit, Kompetenz zur Befriedigung der eigenen Bedürfnisse,
Kompetenz in sozialen Beziehungen, Durchsetzungsfähigkeit, Liebes- und
Arbeitsfähigkeit. Kompetenz kann somit alles bedeuten, was zur gesunden Aus-
einandersetzung mit den kleinen und großen Problemen des Alltags und des
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Lebens insgesamt beiträgt.

Sigmund Freud soll in einem Brief an einen Freund Gesundheit als die
Fähigkeit definiert haben, lieben und arbeiten zu können.
Wie stehen Sie zu dieser Fähigkeitsdefinition?

Der zentrale Prüfstein für die Leistungsfähigkeit in unserer Gesellschaft ist


jedoch nach wie vor die Arbeitsfähigkeit. Gesundheit wurde ein Thema der
Sozialpolitik, als im Zuge der Industrialisierung Menschen benötigt wurden, die
einen 14-stündigen Arbeitstag unter katastrophalen Bedingungen auszuhalten in
der Lage waren – also ziemlich gesunde Menschen (Läpple 1975, Deppe & Regus
1975, Rosenbrock 1993). Insbesondere ansteckende Krankheiten mussten verhin-
dert werden, weil sonst zu viele Arbeiterinnen und Arbeiter gleichzeitig ausfielen
und das der Produktion geschadet hätte. Es galt, sie gerade so gesund zu halten,
dass sie die erforderlichen Leistungen erbringen konnten und Menschen, die
krankheitsbedingt ihre Leistung vorübergehend nicht mehr erfüllten, möglichst
kostengünstig wieder in den Produktionsprozess einzugliedern.
Bis heute ist unser System der Kranken- und Rentenversicherung vom Lei-
stungsgedanken durchdrungen – was sich zum Beispiel daran zeigt, dass nur die-
jenigen der Versicherungspflicht unterliegen, die erwerbstätig sind oder daran,
dass diejenigen, bei denen eine Wiederherstellung der Arbeitskraft nicht in Aus-
sicht steht, aus der Krankenversicherung ausgesteuert und der Rentenversiche-
rung überantwortet werden. Steht bei einer sozialmedizinischen Begutachtung
in Frage, ob eine Person berentet werden soll oder ob sie weiterhin dem Arbeits-
markt zur Verfügung steht, so orientiert sich diese Beurteilung gemeinhin an der
ursprünglichen Leistungsfähigkeit der klagenden oder beklagten Person.
Am unverblümtesten wurde die Gesundheit als Leistung im Nationalsozi-
alismus propagiert. Gesundheit wurde zur Pflicht an der Volksgemeinschaft,
Krankheit galt als Verweigerung – und derjenige, dessen Arbeitskraft sich nicht
(wieder) herstellen ließ, wurde als unwert ausgegliedert. In einem von der Reichs­
ärztekammer herausgegebenen Buch mit dem Titel «Gesund sein – gesund blei-
ben» kann man lesen:

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44 2. Was ist Gesundheit?

Der nicht kranke Mensch ist in unserem Sinne noch nicht gesund. Gesund ist der
Mensch, der, soweit erb- und rassebiologisch überhaupt möglich, im Vollbesitz sei-
ner Gesundheit und Leistungsfähigkeit ist, und sich dieses Besitzes bis ins hohe Alter
erfreuen kann. Ein solcher Mensch, ein solch gesundes Volk, wird nicht Almosen-
empfänger sein wollen und können, er wird aus einer Stärke heraus geben anstatt zu
nehmen, sich sein Recht auf Arbeit, Leben und Lebensfreude von keiner Macht dieser
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Erde nehmen lassen, und sein Recht sich und seinen Kindern wahren. (Haubold &
Heller, o. J., S. 424/425)

Ein Teilaspekt der Leistungsfähigkeit ist die Fähigkeit zur Erfüllung der Aufga-
ben und Verpflichtungen, die an soziale Rollen gebunden sind. Dieser Aspekt
wird vor allem in der Soziologie fokussiert, am prägnantesten formuliert vom
Soziologen Talcott Parsons. Seine Definition von 1967 gilt bis heute als der Proto-
typ für das soziologische Verständnis von Gesundheit als Rollenerfüllung:
Gesundheit kann definiert werden als der Zustand optimaler Leistungsfähigkeit
eines Individuums für die wirksame Erfüllung der Rollen und Aufgaben, für die es
sozialisiert worden ist. (Parsons 1967, S. 60)

Gesund ist demnach eine Person, die in der Lage ist, die Aufgaben zu erfüllen, für
die sie erzogen wurde und für die sie in der Gesellschaft gebraucht wird. Gesund-
heit wird somit auf dem Hintergrund der demographischen Charakteristika
einer Person definiert und auf dem Hintergrund der Aufgaben, die ihr aus den
von ihr eingenommenen sozialen Rollen erwachsen. Es gibt nicht «die» Gesund-
heit, sondern eine Person ist in dem Maße gesund, in dem sie ihre Aufgaben als
Hausfrau, Verkäuferin, Bergarbeiter, Fahrstuhlführerin, Vater erfüllt.
Bewertungsgrundlage für die Gesundheit einer Person ist deren Fähigkeit,
ihren Anteil am Gesamt der gesellschaftlichen Aufgaben zu leisten. Im Sinne
einer funktionalen Norm ist Gesundheit die Übereinstimmung mit dem Lei-
stungsstandard der Bezugsgruppe, und Krankheit definiert sich entsprechend
über die Unfähigkeit, den Normwert zu erfüllen.
Der soziologische Aspekt der Rollenerfüllung hat entscheidenden Nieder-
schlag in der Rechtsprechung und im Versicherungswesen gefunden. Rollener-
füllung bzw. das Nichterfüllen der sozialen Rolle als Gabelstaplerfahrer, Lehre-
rin, Betriebsschlosser ist das entscheidende Kriterium zur Leistungsbemessung:
Kann die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten voraussichtlich erhalten, wesent-
lich verbessert oder wiederhergestellt werden, dann hat der-/diejenige Anspruch
auf Leistungen aus der Krankenkasse bzw. auf rehabilitative Leistungen; andern-
falls erhält er/sie Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (SGB V).
Die Ideologie der Rollenerfüllungsgesundheit wurde besonders kritisch von
der Frauengesundheitsforschung untersucht. Gesundheit als optimale Leistungs-
fähigkeit für die Rollen und Aufgaben, für die Frauen sozialisiert werden, bindet
Frauen an überkommene Muster von Weiblichkeit und Mütterlichkeit. Diese

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2.2 Dimensionen der Gesundheit 45

jedoch, das konnte in zahlreichen Studien überzeugend belegt werden, machen


gesundes Verhalten von Frauen unmöglich. Frauen, die sich nach herrschender
sozialer Meinung weiblich verhalten, realisieren Verhaltens- und Erlebensweisen,
die nach eben derselben herrschenden sozialen Meinung von psychischer Krank-
heit zeugen: Die größere Emotionalität von Frauen wird dann zu Ängstlichkeit
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und hysterischer Übersteigerung, Anlehnungsbereitschaft zu Depressivität und


geringe weibliche Aggressivität zu mangelndem Durchsetzungsvermögen (aus-
führlich hierzu Kap.  10).

Welche Konsequenzen hat die Sichtweise der Gesundheit als Leistungsfä-


higkeit und Rollenerfüllung für alte Menschen?

2.2.4
Gesundheit als Gleichgewichtszustand (Homöostase)
Gesundheit als einen Zustand von Ausgeglichenheit, Gleichgewicht, Ausgewo-
genheit zu betrachten, gehört zu den ältesten und dauerhaftesten Sichtweisen und
wohl auch zu denen, die weltweit am meisten vertreten werden. In der westlichen
Welt wurde sie bereits um 500 v. Chr. im antiken Griechenland formuliert. Alk-
maion, ein philosophisch geschulter Arzt, behauptete, die Gesundheit sei die Aus-
gewogenheit elementarer Qualitäten des Körpers: des Feuchten und Trockenen,
Kalten und Warmen, Bitteren und Süßen. Den griechischen Gesundheitsbegriff
prägt die Vorstellung einer leiblich-seelischen Harmonie, wobei körperliche Har-
monie, Gesundheit und Schönheit als Spiegelbild der Vollendung und Ordnung
des Kosmos betrachtet werden. Jeder einzelne Mensch stellt einen Mikrokosmos
dar, der sich im Zentrum eines umfassenden Systems von Beziehungen zum
Makrokosmos, der die Welt darstellt, befindet. Makrokosmos und Mikrokos-
mos werden von ähnlichen Gesetzen der Harmonie und Ordnung beherrscht
– Gesundheit ist Ausdruck dafür, dass sich das Individuum sowohl im Zustand
des inneren Gleichgewichts und der Harmonie als auch im Gleichgewicht mit der
äußeren Welt befindet.
Weiter ausgebaut und auch auf die Binnenstruktur des Mikrokosmos über-
tragen wurde diese allgemeine Idee von Hippokrates (etwa 460 – 377 v. Chr.) in
seiner Theorie der vier Körpersäfte Blut, schwarze Galle, gelbe Galle und Schleim.
Sind diese in einem Menschen angemessen verteilt und in richtiger Portion und
Proportion vorhanden, so ist der Mensch gesund. Fehlerhafte Mischungen dage-
gen bedingen je nach Überwiegen der einzelnen Säfte spezifische körperliche und
psychische Erkrankungen. In Rom wurde die Humoraltheorie des Hippokrates
von Galen (129 – 199 n. Chr.) übernommen und erweitert. Er propagierte ein aus-

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46 2. Was ist Gesundheit?

geglichenes Sozialleben sowie die Harmonie zwischen den rationalen und den
irrationalen Anteilen der Seele als wesentliche Bedingungen für Gesundheit.
Je nach Zeitalter und Erkenntnisstand waren es unterschiedliche Systeme,
deren Homöostase als Basis der Gesundheit propagiert wurde. Moderne homöo-
statische Modelle betonen vor allem die Ausgeglichenheit zwischen somatischen
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und psychischen Faktoren sowie die zwischen Individuum und Gesellschaft. Ein
sehr bekannt gewordenes Homöostasemodell ist das psychoanalytische Modell
Freuds. Freud verwandte den Begriff des «inneren Gleichgewichts» und sah
dieses als Kennzeichen der seelisch gesunden Persönlichkeit an. Das von ihm
als wichtig erachtete Gleichgewicht bezog sich vor allem auf das spannungsfreie
Zusammenspiel der drei von ihm postulierten Instanzen des psychischen Appa-
rates, nämlich Ich, Es und Über-Ich.
Seit einiger Zeit finden in der westlichen Welt vor allem östliche Gleichgewichts-
theorien wie die des Yin-Yang und Ayurveda viel Zuspruch. Auch aus Südamerika
und Afrika sind Gleichgewichtstheorien bekannt. So beruht zum Beispiel die
Gesundheit eines Menschen für die Akan in Ghana auf dem Prinzip der Harmonie
nach innen und nach außen: Der Mensch besteht für sie aus der dreigeteilten Ein-
heit von sichtbar sterblichem Körper (onipadoa) und der unsichtbar unsterblichen
Dualität von Geist (sunsum) und Seele (okra). Die harmonische Ausgewogenheit
dieser drei gewährt Gesundheit. Die Harmonie nach außen wird anhand der drei
maßgeblichen Beziehungen des Menschen zu der ihn umgebenden Natur, zu sei-
nen Mitmenschen und zu der spirituellen Welt bestimmt.
Gemeinsam ist allen Gleichgewichtstheorien, dass sie eine Person als gesund
betrachten, die sich in einem ausgewogenen Zustand befindet, und die sich nach
jedem Angriff auf das Gleichgewicht wieder in kürzest möglicher Zeit auf dieses
einpendelt. Gesundheit steht somit in einem Begriffsfeld mit Harmonie, Stabili-
tät, Ordnung, Ausgeglichenheit, Ruhe, wohingegen Veränderungen sowohl der
Person als auch der Umwelt als Gefahren für die Gesundheit, als Risikofaktoren
erscheinen. Für die Akan in Ghana bedeutet dies, dass onipadoa zur Erhaltung
von Gesundheit stetig von äußeren und inneren Verunreinigungen gereinigt und
sunsum gestärkt werden muss. Da es in ständigem Kontakt mit anderen mensch-
lichen und übermenschlichen sunsum steht, muss es genug Kraft für die Ausei-
nandersetzung mit stärkeren oder feindseligen sunsum haben. Der Einzelne ist
darauf bedacht, onipadoa und sunsum als Indikatoren für Gesundheit nicht zu
gefährden, da besonders Letzteres dem schädigenden Einfluss von Hexerei und
Magie und der unsichtbaren Macht der Götter und Ahnen ausgesetzt ist.

In welchen Definitionen am Beginn dieses Kapitels wird Gesundheit als


Gleichgewicht verstanden, und was soll sich der Definition zufolge im
Gleichgewicht befinden, damit Gesundheit herrscht?

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2.2 Dimensionen der Gesundheit 47

2.2.5
Gesundheit als Flexibilität (Heterostase)
Eng verwandt mit der Homöostase-Idee und doch ihr genaues Gegenteil ist die
Vorstellung vom gesunden Menschen als demjenigen, der in der Lage ist, den Stö-
rungen, mit denen er konfrontiert ist, aktiv zu begegnen und sie zu überwinden.
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Ähnlichkeit zu den Homöostasemodellen besteht insofern, als flexible Anpas-


sung an sich verändernde Begebenheiten und flexible Veränderungen innerhalb
des Fließgleichgewichts ja auch wesentliches Element jeder Homöostase sind.
Doch während in den Homöostasemodellen die Fähigkeit betont wird, sich wie-
der auf einen Ruhezustand einzupendeln, betonen Heterostasemodelle eher den
Aspekt des dynamischen Sich-weiter-Veränderns. Gesund sein ist damit nicht ein
Zustand der Abwesenheit von Krankheit, sondern einer, in dem Krankheitsrisiken
und Krankheitszustände als integraler Bestandteil Berücksichtigung finden. Mehr
noch: sie erscheinen notwendig, da andernfalls Stagnation und Erstarrung eintre-
ten – Zustände eben, die als nicht gesund gelten. Der Arzt Canguilhem definiert
Gesundheit als «Sicherheitsreserve an Reaktionsmöglichkeiten» und führt aus:
Der gesunde Organismus strebt weniger danach, sich in seinem aktuellen Zustand
und seiner gegebenen Umwelt zu erhalten; er strebt nach Verwirklichung seines
Wesens. Zu diesem Zweck jedoch muss der Organismus Risiken eingehen und dabei
eventuelle Katastrophenreaktionen in Kauf nehmen. Der gesunde Mensch stellt sich
den Problemen, welche aus den oftmals erprobten Veränderungen seiner Gewohn-
heiten – selbst der bloß physiologischen – entstehen; er misst seine Gesundheit an
der Fähigkeit, die Krisen seines Organismus zu überstehen und eine neue Ordnung
zu etablieren. (1950/1975, S. 173)

Das aktuell populärste Hetereostasemodell ist das Modell der Salutogenese des
israelischen Medizinsoziologen Aaron Antonovsky (vgl. Kap. 9). Nach Anto-
novsky liegt ein entscheidender Fehler der Homöostasemodelle darin, dass
sie die Gesundheit als den Normal- und Regelfall ansehen und Krankheiten
dementsprechend als Abweichungen vom Regelfall. Antonovsky zufolge sind
jedoch Krankheiten, Leiden und Schmerzen integrale Bestandteile menschlicher
Existenz. Der menschliche Organismus ist einem Dauerbombardement von
Stressoren ausgesetzt, denen gegenüber er sich ständig verteidigen muss. Nicht
die Ausgeglichenheit ist der Regelfall, sondern das ständige Bemühen, sich der
Angreifer zu erwehren, um gesund zu bleiben.
In der Medizin haben Flexibilitätsmodelle immer nur eine untergeordnete
Rolle gespielt. In der Psychologie allerdings sind sie sehr bedeutsam. Becker (1982)
nennt sie «Selbstaktualisierungsmodelle», und er betont damit den dynamischen
Aspekt, der ihnen zu Eigen ist. Offenheit, Spontaneität, Entwicklung und vor
allem Unabhängigkeit sind die Eigenschaften, die der seelisch gesunden Person
im Rahmen dieser Modelle zugeschrieben werden. Für gesunde Menschen ist

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48 2. Was ist Gesundheit?

[…] vor allem kennzeichnend, dass sie sich frei entwickeln, ihre eigenen Anlagen
und Potentiale auf schöpferischem Weg zur Entfaltung bringen und einen gewissen
Widerstand gegen Entkulturation leisten. Sie orientieren ihr Verhalten nicht an von
außen aufgezwungenen oder kritiklos übernommenen Normen oder Wertvorstel-
lungen, sondern erreichen die Stufe der autonomen Moral und Selbstverantwort-
lichkeit für sich und andere. (Becker 1982, S. 147)
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Es ist sicher kein Zufall, dass auch Philosophen und Künstler, die sich mit der
Frage der Gesundheit auseinandergesetzt haben, den Aspekt der Dynamik, der
Beweglichkeit besonders betonen. Nietzsche erklärte es gar als «Maßstab der
großen Gesundheit» eines Menschen, «wie viel von Krankheiten er auf sich
nehmen und überwinden kann – wie viel er gesund machen kann» (erstmals
1901; 1966, S. 754). Echte Gesundheit ist nach Nietzsche nur möglich, wenn man
Krankheiten geistig überwunden hat:
Das, woran die zarteren Menschen untergehen würden, gehört zu den Stimulans-
Mitteln der großen Gesundheit. (ebd.)

2.2.6
Gesundheit als Anpassung
Anpassen müssen Menschen sich sowohl an ihre äußere, physikalische Umge-
bung als auch an die soziale und gesellschaftliche. Beide Aspekte spielen im Hin-
blick auf die Gesundheit eine Rolle.
Die Fähigkeit der Anpassung an die physikalischen Bedingungen der Umge-
bung wurde am explizitesten vom Mikrobiologen René Dubos (1959, 1965) for-
muliert. Nach Dubos beruht Gesundheit auf der Fähigkeit, sich mit den Bedin-
gungen der Umgebung angemessen auseinanderzusetzen. Der Mensch wird als
Organismus definiert, der die von Außen auf ihn eintreffenden Reize in einer
für ihn spezifischen Weise aufnimmt und verarbeitet. Gesundheit hat damit
eine sehr aktive Komponente, sie wird vom Menschen erarbeitet. Der Mensch
ist keine Körpermaschine, die funktioniert, solange kein Sand ins Getriebe
geworfen wird oder Verschleißerscheinungen auftreten. Es reicht nicht aus, dass
sich der Organismus lediglich den physikalisch-chemischen Bedingungen seiner
Umwelt mit Hilfe passiver Mechanismen anpasst, sondern Gesundheit verlangt
nach der Möglichkeit, den eigenen Bedürfnissen gerecht werden zu können.
Nicht möglichst reibungslose Anpassung an von äußeren Bedingungen diktierte
Notwendigkeiten ist Gesundheit, sondern die Fähigkeit, autonom zu adaptieren,
das heißt sich in seiner Umgebung so einzurichten, dass man eigene Ziele, Wün-
sche und Wertvorstellungen verwirklichen kann. Nach Dubos’ Theorie ist ein
solcher Mensch auch relativ geschützt vor dem Ausbruch von Krankheiten, und
dies selbst dann, wenn er von Krankheitserregern infiziert ist. Gesundheit und

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2.2 Dimensionen der Gesundheit 49

Krankheit sind das Ergebnis einer Wechselwirkung zwischen dem Erreger und
der Reaktion auf ihn – wer infiziert ist, braucht noch lange nicht krank zu wer-
den. Vielmehr ist Infektion ohne Krankheit Dubos zufolge überall in der Natur
eher die Regel als die Ausnahme. Dem Menschen ist es gegeben, sich an nahezu
alle Lebensbedingungen anzupassen – an Wüsten und Hitze ebenso wie an ein
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Leben in der Arktis, an wochenlange Dunkelheit in Norwegen ebenso wie an das


Leben in klimatisierten Hochhaussilos. Gesundheit resultiert nach Dubos nicht
daraus, dass man sich vor allen Erregern schützt, sondern dann, wenn man sich
mit ihnen auseinandersetzt und die Resistenzkräfte gegen sie erhält.
Als Argument für die Richtigkeit seiner Thesen führt Dubos an, dass gesund-
heitliche Verbesserungen sich historisch niemals aufgrund von medizinischem
Fortschritt ergeben haben, sondern immer durch die Einführung von Maß-
nahmen, die die Lebensqualität verbessert haben – sei es durch eine allgemein
bessere Ernährung, bessere Hygienebedingungen, bessere Arbeitsbedingungen
oder durch sonstige soziale Maßnahmen.
Dubos’ Thesen formulierten auch bei ihrer Veröffentlichung keine gänzlich
neuen Gedanken. Aber sie sind und bleiben bis heute umstritten. Aus schulme-
dizinischer Sicht stellen sie eine arge Herausforderung und Gefahr dar, da diese
immer noch an der Vorstellung festhält, dass man nur die entscheidenden Para-
meter finden müsse, um Krankheiten effektiv zu behandeln und letztlich sogar zu
besiegen. Der heutige Hoffnungsträger dieses Denkens heißt «Gen». In früheren
Zeiten waren es Bazillen, Viren – die Ideologie ist die gleiche. So stehen sich zum
Beispiel auch beim Krebs seit Jahrzehnten diejenigen unerbittlich gegenüber, die
ihn mit Stahl, Strahl und Chemie lokal vernichten wollen und die anderen, die ihn
als körperlichen Ausdruck eines Krankheitsgeschehens begreifen, das den ganzen
Menschen umfasst und daher auch nur im Rahmen einer umfassenden Therapie,
die die Immunabwehr des Körpers wieder stärkt, behandelt werden kann.
Die Verbissenheit des Streits lässt sich gut mit der alten Geschichte der beiden
Ärzte Robert Koch (1843 – 1910) und Max Pettenkofer (1818 – 1901) verdeutli-
chen, die sich beide der Bekämpfung von Seuchen und Epidemien verschrieben
hatten: Koch hatte 1876 bei Versuchen zur Entstehungsgeschichte der gefürch-
teten Tierseuche Milzbrand erstmals spezifische Krankheitserreger als Ursache
nachgewiesen – bis dahin hatte man diese Erkrankung auf Miasmen, d.h. die Luft
verunreinigende Gifte, zurückgeführt. Später dann gelang ihm der Nachweis des
Tuberkulose- und Cholerabakteriums. Koch ging davon aus, dass eine Infizierung
mit dem jeweiligen Bazillus unweigerlich zu Krankheiten führe. Pettenkofer lei-
tete das Institut für Medizinische Chemie an der Universität München und hatte
zusätzlich den ersten Lehrstuhl für Hygiene inne. Auch er beschäftigte sich mit der
Erforschung von Seuchen, insbesondere der Cholera. Er bezweifelte nicht grund-
sätzlich die Auslösung der Erkrankung durch einen Bazillus, war anders als Koch

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50 2. Was ist Gesundheit?

jedoch davon überzeugt, dass nicht die Infizierung mit dem Bazillus an sich der
entscheidende Faktor für den Ausbruch der Erkrankung war, sondern dass dieser
nur auf dem Hintergrund ungünstiger hygienischer Verhältnisse wirksam werden
könnte. Während Kochs Interesse der Identifizierung weiterer Erreger galt, führte
Pettenkofer experimentelle Untersuchungen von Kanalisation, Wasser, häuslicher
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Hygiene, Abfall usw. durch. Er war überzeugt, dass mangelnde Hygiene, schlechte
Wohnverhältnisse und insbesondere verunreinigtes Trinkwasser die entschei-
denden Verursacher von Seuchen waren, und er entwickelte sich mit dieser Mei-
nung zum Gegenspieler von Koch. Zum Nachweis der Richtigkeit seiner Annah-
men trank er 1892 auf dem Höhepunkt von Choleraepidemien in Hamburg und
Paris eine ganze Kultur von Cholerabazillen – und blieb gesund. Die Themen sind
heute ausgetauscht, die Diskussionen aber sind die gleichen geblieben.
Ein zweiter Aspekt, der unter der Überschrift «Gesundheit als Anpassung»
diskutiert wird, betrifft die Frage der sozialen Anpassung, die Frage, inwieweit
jemand sich dem, was gesellschaftlich als gesund definiert wird, anzupassen
bereit ist. Naturgemäß spielt dieser Aspekt der sozialen Anpassung vor allem
in Diskussionen um die psychische Gesundheit eine Rolle, wobei die seelisch
gesunde Person nach Ansicht mancher Experten diejenige sein soll, die sich
optimal an die gesellschaftlichen Bedingungen und ihre eigenen Möglichkeiten
anpassen kann. Es ist sicher eine Frage des Wertsystems, inwieweit man gewillt
ist, dieser Gleichung zuzustimmen. Wenn Gesundheit sich allein durch die Über-
einstimmung mit sozialen Standards bestimmt und derjenige gesund ist, der sich
so verhält, wie es dem gesellschaftlichem Konsens entspricht, wie «man» sich
verhält, dann bleibt wenig Raum für Einzelgänger, Käuze, Rebellen und Genies.

Bitte schauen Sie sich jetzt noch einmal Ihre Gesundheitslinie an:
An welchen Dimensionen von Gesundheit haben Sie sich orientiert?
Möchten Sie jetzt Veränderungen an Ihrer Gesundheitslinie vornehmen?

2.3
Vom Wert der Gesundheit
Die Auseinandersetzung mit dem Phänomen, das wir «Gesundheit» nennen,
kann sich nicht darauf beschränken zu definieren, was unter Gesundheit verstan-
den wird. Denn in dem Moment, in dem man sich die Frage stellt, was Gesund-
heit ist, ist man notwendigerweise auch mit ethischen Problemen konfrontiert,
und hier vor allem mit der Frage, welchen Wert Gesundheit hat. Im Folgenden
finden Sie drei Äußerungen zum Stellenwert von Gesundheit:

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2.3 Vom Wert der Gesundheit 51

Welcher Position stimmen Sie am ehesten zu?


Hat es Situationen gegeben, in denen Sie Ihre Gesundheit über alles gestellt
haben?
Gibt es Verhaltensweisen, mit denen Sie Ihre Gesundheit bewusst gefährden?
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Die größte aller Torheiten ist es, seine Gesundheit aufzuopfern, für was es auch
sei, für Erwerb, für Beförderung, für Gelehrsamkeit, für Ruhm, geschweige
für Wollust und flüchtige Genüsse. Vielmehr sollte man ihr alles nachsetzen.
(Arthur Schopenhauer: Aphorismen zur Lebensweisheit)
Wer sagt, dass Gesundheit der einzige Wert im menschlichen Leben ist oder
auch nur der wichtigste? (Aaron Antonovsky 1993, S. 13)
Das Leben ist nicht zimperlich, und man mag wohl sagen, dass schöpferische,
Genie sprudelnde Krankheit, Krankheit, die hoch zu Roß die Hindernisse
nimmt, in kühnem Rausch von Fels zu Felsen springt, ihm tausendmal lieber
ist als die zu Fuß latschende Gesundheit. (Thomas Mann: Dostojewski – mit
Maßen)

Das Spektrum der Einstellungen zum Wert von Gesundheit reicht somit von
derjenigen, dass Gesundheit das höchste Gut ist bis zu der, dass Gesundheit eine
relativ langweilige Angelegenheit darstellt. Im Folgenden sollen diese Einstel-
lungen und ihre Hintergründe reflektiert werden.

2.3.1
Gesundheit als höchstes Gut
Dass Gesundheit das höchste Gut ist, sagt der Volksmund, und vom Altertum
bis heute gibt es sehr viel Literatur, in der diese Position vertreten wird. In den
Gesundheitsdefinitionen zu Beginn dieses Kapitels finden Sie vom Alten Testa-
ment bis heute Beispiele für diese Position, wobei auffällt, dass der Gesundheit
in diesen Äußerungen häufig materielle Werte gegenübergestellt werden oder
aber Lust, Begierde, Bedürfnisbefriedigung – also die nicht durch den Verstand
kontrollierten «Triebe».
Damit deutet sich ein bekanntes Dilemma an: Zwar nimmt Gesundheit im
Wertesystem vieler Menschen einen hohen Stellenwert ein, ihr konkretes Verhal-
ten entspricht dieser Bedeutung jedoch keineswegs. Im realen Verhalten werden
Gesundheitsrisiken billigend in Kauf genommen – aus materiellen Gründen oder
aber, weil die Befriedigung kurzfristiger Bedürfnisse wichtiger und lohnender
erscheint als die Askese im Hinblick auf eine später eventuell zu erreichende oder

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Aus: Franke, Modelle von Gesundheit und Krankheit, 3. Auflage.
52 2. Was ist Gesundheit?

zu erhaltende Gesundheit: Eine Frau, die mit einem reichen aber lieblosen Mann
verheiratet ist, weiß, dass ihre Depressionen und psychovegetativen Beschwerden
in der Unzufriedenheit mit ihrer Lebenssituation begründet sind, doch trotzdem
entscheidet sie sich für die materielle Sicherheit und den gesellschaftlichen Status.
Ein Fußballtrainer der ersten Bundesliga kennt die gesundheitlichen Gefahren
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seines Jobs und weiß, dass sein Bluthochdruck, die Herzrhythmusstörungen


und Schlafstörungen mit dem beruflichen Stress zusammenhängen – dennoch
entscheidet er sich für Betablocker statt für einen ruhigeren Job in der zweiten
Bundesliga, mit dem er finanziell durchaus über die Runden kommen könnte.
Und wie viele Menschen mit Diabetes haben Stapel von Büchern über gesunde
Ernährung gelesen, wissen alles über die für sie richtige Ernährung, wiegen sich
täglich – und können trotzdem einer Fürst-Pückler-Torte oder dem Geruch eines
frischen Pflaumenkuchens nicht widerstehen!
Die Tatsache, dass Menschen sich trotz besseren Wissens ungesund verhalten,
weil dieses Verhalten mehr Spaß macht, mehr Genuss bringt oder auch Ansehen
oder Geld, ist das grundlegende Dilemma all derer, die sich der Gesundheitser-
ziehung und Gesundheitsförderung verpflichtet haben: Wäre es nicht so, wären
sie überflüssig und arbeitslos – andererseits jedoch beruht ihre relative Erfolglo-
sigkeit gerade auf diesem «in dubio pro libido».
Darüber hinaus muss auch bedacht werden, dass viele Menschen ihrer
Gesundheit gar nicht den «höchsten» Wert beimessen können. Viele zum Beispiel
sind gezwungen, gesundheitsschädigende Arbeits- und Lebensbedingungen zu
tolerieren, weil sie nur so die existenzielle Basis für sich und ihre Familie sichern
können. Solange in den industrialisierten Staaten der Gesundheitsstatus eines
Menschen weitaus mehr durch seinen sozioökonomischen Status als durch sein
Gesundheitsverhalten beeinflusst ist, können es sich die meisten schlicht nicht
leisten, ihre Gesundheit sehr hoch zu gewichten (vgl. Kap. 11). Dies gilt zum Bei-
spiel auch für die vielen «mittelalten» und alten Frauen, die ihre Ehemänner und
alten Verwandten pflegen, und dabei erwiesenermaßen ihre eigene Gesundheit
gefährden und ruinieren (Landtag NRW 2004, Robert Koch Institut 2006).
Unter gesellschaftlichen Gesichtspunkten kann die Position, dass Gesund-
heit das höchste Gut ist, äußerst problematisch werden, und zwar dann, wenn
Menschen auf dieses Gut verpflichtet werden, wenn die Einzelnen im Namen der
Gesellschaft gesund sein müssen. Die Medizin in Nazideutschland zeigte, wie
skrupellos eine solche Gesundheitsideologie die Individualität von Menschen
und die Rechte auf ihre körperliche Unversehrtheit zu ignorieren bereit ist: Um
das Ziel eines erbgesunden Volkes zu erreichen, wurden etwa 400 000 Frauen
und Männer zwangssterilisiert, die als erbkrank deklariert wurden und denen
daher das Recht zur Fortpflanzung verweigert wurde (Bund der «Euthanasie»-
Geschädigten und Zwangssterilisierten 1989). Die Deklaration der Gesundheit

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2.3 Vom Wert der Gesundheit 53

als höchstes Gut war Ausgangspunkt der irrwitzigen Utopie einer gesunden
Gesellschaft, in der Schwäche und Krankheit überwunden waren.
Alle Versuche, Gesundheit zu definieren, bergen unweigerlich die Gefahr,
eigene Werte bzw. die Werte derer, die die Definitionsmacht innehaben, als
gesund auszugeben. Im Namen der Gesundheit sind Menschen nicht nur in
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Nazideutschland unsägliche Qualen zugefügt worden. Immer dann, wenn


Gesundheit zum obersten Maßstab dessen gemacht wird, was gesellschaftlich
akzeptiert und erwünscht ist, ist höchste Vorsicht geboten. Gerade weil es sich
bei der Gesundheit letztlich um die Existenz handelt, eignet sie sich hervorragend
als Vehikel zur Durchsetzung politischer Ideen.

2.3.2
Gesundheit als relativer Wert
Doch die Gesundheit hat beileibe nicht für alle Menschen eine große Bedeutung.
In empirischen Erhebungen zum Wert der Gesundheit zeigt sich, dass zwischen
20 und 40 % der Befragten die Gesundheit nicht zu ihren fünf wichtigsten Werten
zählen. Dies gilt vor allem für jüngere Menschen und für Männer (Renner &
Weber 2003). Es lassen sich leicht viele Beispiele dafür finden, dass Menschen
gesundheitliche Überlegungen nicht in den Vordergrund ihrer Entscheidung
stellen. Menschen, die als Entwicklungshelfer in tropischen Ländern arbeiten,
akzeptieren, dass sie sich mit dieser Tätigkeit nahezu zwangsläufig bestimmte
Krankheiten – Malaria z. B. – einhandeln. Oder Leistungssportler: Sie wissen,
dass die permanenten Höchstleistungen, die sie ihrem Körper abverlangen, die-
sen überfordern und dass sie in späteren Jahren mit ernsthaften gesundheitlichen
Einschränkungen zu rechnen haben – dennoch sind ihnen der aktuelle Spaß an
ihrer Leistungsfähigkeit, die Herausforderung, der Ruhm, vielleicht auch der
materielle Erfolg wichtiger als die gesundheitlichen Schäden.
Nicht wenige Menschen vertreten somit die Position, dass Gesundheit nur
ein Wert neben anderen ist. Dies bedeutet auch anzuerkennen, dass Menschen
gesund sein können, die andere Werte vertreten als man selber – Frieden, Frei-
heit, Unabhängigkeit, Religion. Wir erleben täglich, dass Menschen andere Werte
höher gewichten als ihre Gesundheit – die nahezu allabendlichen Berichte von
Selbstmordattentaten sind nur ein Beispiel. Gesundheit ist nicht mit dem mora-
lisch Richtigen gleichzusetzen.
Auf die Argumentation, die Gesundheit als etwas Langweiliges darstellt, das
die Assoziation an Blümchenkaffee, handgestrickte Strümpfe, Kernseife und
ähnliche lustlose und erotikfeindliche Dinge weckt, möchte ich hier nicht näher
eingehen. Es gibt Menschen, die sich aus Überzeugung einem solchen Lebensstil
verschrieben haben und sich dabei körperlich, geistig und sozial wohl fühlen.

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54 2. Was ist Gesundheit?

Ich jedenfalls sehe keinen Grund, warum man nicht auch gesund durchs Leben
«latschen» sollte.

2.3.3
Gesundheit als Geschenk, Leistung oder Pflicht
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Eine weitere für die Auseinandersetzung mit dem Stellenwert der Gesundheit
wichtige Unterteilung ist die nach den Entstehungsbedingungen von Gesund-
heit. Anders formuliert: Ist Gesundheit Geschenk, Leistung oder Pflicht?
Die Vorstellung, dass Gesundheit ein Geschenk ist, in die Wiege gelegt und
eine Startrampe für ein Leben, in dem der Gesunde mehr vermag als der Kranke,
zieht sich durch alle Kulturen und Zeitläufe. Vor allem den Göttern bzw. Gott
wird dieses Geschenk verdankt – auch dies ist in allen Religionen gleich. Christi
Popularität basierte zu seinen Lebzeiten sicher nicht allein auf seiner theolo-
gischen Lehre, sondern gründete sich auch in seiner Fähigkeit, Kranke zu hei-
len: «Alle wollten ihn hören und von den Krankheiten geheilt werden» (Lukas
6,18). Dass auch wir heute ein gesundes Kind oder ein hohes Alter als Geschenk
betrachten, das man dankbar annehmen kann und für das man Sorge tragen
sollte, ist sicherlich eine weit verbreitete Haltung.
In einer modernen säkularisierten Variante dieser Auffassung bezeichnet
der britische Philosoph David Seedhouse (1986) die geschenkte Gesundheit als
«commodity», als kommerzielles Objekt. Gesundheit werde wie ein kommerzi-
elles Objekt als ein Ding gesehen, das man haben könne oder das verloren gehen
könne. Die Grundlage für diese Sichtweise sieht Seedhouse im biomedizinischen
Modell (vgl. Kap. 8), demzufolge Gesundheit etwas ist, das Menschen natürli-
cherweise haben, und das ihnen auch erhalten bleibt, wenn nicht irgendwelche
äußeren widrigen Einflüsse ein körperliches Problem verursachen. Unter nor-
malen Umständen und bei normalem Glück bleiben die Menschen weitgehend
gesund. Aber so wie eine Person auch ihr Portemonnaie verlieren kann, so kann
sie dieser Sichtweise zufolge bei ungünstigen Umständen auch ihre Gesundheit
verlieren.
Dass Gesundheit nicht etwas ist, das man hat und unter ungünstigen Umstän-
den auch verlieren kann, sondern etwas, zu dem man selbst beitragen kann, ist
die Leitidee der Gesundheitsförderung und Gesundheitserziehung. Gesundheit
stellt demnach eine Leistung dar. Sie ist das Ergebnis der gelungenen Auseinan-
dersetzung mit den sie bedrohenden Risiken oder, wenn das Geschenk etwas
klein ausgefallen war, ihren natürlichen Einschränkungen (Wulfhorst & Hurrel-
mann 2009). Gesundheit wird damit als Folge eigenen Verhaltens verstanden, als
eine gelungene Bewältigung von inneren und äußeren Anforderungen. Es gibt
diverse Modelle, diese Anforderungen systematisch zu erfassen und darzustellen.

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2.3 Wert der Gesundheit 47
2.3 Vom Wert der Gesundheit 55

Dass Gesundheit nicht etwas ist, das man hat und unter ungünstigen Umständen
Als
auch einverlieren
besonders anschauliches
kann, sondern etwas, Modell
zu ist
demin man
Abbildung 1 das
selbst «Mandala-Modell»
beitragen kann, ist die
des Kanadiers Hancock dargestellt.
Leitidee der Gesundheitsförderung und Gesundheitserziehung. Gesundheit stellt
Zu deneine
demnach inneren Anforderungen
Leistung werden der
dar. Sie ist das Ergebnis imgelungenen
Allgemeinen die genetische
Auseinandersetzung
Veranlagung, die körperliche
mit den sie bedrohenden Risikenund psychische
oder, wenn dasKonstitution
Geschenk etwas sowie dasausgefallen
klein Immun-,
Nerven- und Hormonsystem gezählt, als äußere Anforderungen gelten
war, ihren natürlichen Einschränkungen. Gesundheit wird damit als Folge eigenen die sozio-
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ökonomische Lage, die hygienischen Verhältnisse, Bildungsangebote,


Verhaltens verstanden, als eine gelungene Bewältigung von inneren und äußeren Arbeitsbe-
dingungen, die private Lebensform und die soziale Einbindung (vgl. Hurrelmann
Anforderungen. Es gibt diverse Modelle, diese Anforderungen systematisch zu er-
& Franzkowiak 2011).
fassen und darzustellen. Als ein besonders anschauliches Modell ist in Abbildung 1
Von der Annahme, dass Gesundheit das Ergebnis einer Leistung ist, Folge
das «Mandala-Modell» des Kanadiers Hancock dargestellt.
eigenen gesunden Verhaltens, ist es nicht weit zu der Auffassung, dass Gesundheit
Zu den inneren Anforderungen werden im Allgemeinen die genetische Veranla-
eine Pflicht darstellt. In frühen Gesellschaften oder auch im frühen Christentum
gung, die körperliche und psychische Konstitution sowie das Immun-, Nerven- und
war sie eine Pflicht gegenüber Gott – da er das gesunde Leben gab, wurde es als
Hormonsystem gezählt, als äußere Anforderungen gelten die sozioökonomische
Pflicht der Menschen angesehen, diese Gabe Gottes zu bewahren. Gesundheit
Lage, die hygienischen Verhältnisse, Bildungsangebote, Arbeitsbedingungen, die
erhielt damit einen religiösen und, in der späteren Entwicklung, vor allem einen
private Lebensform und die soziale Einbindung (vgl. Hurrelmann & Franzkowiak
moralischen Stellenwert. In der Aufklärung wird es zur Pflicht des Menschen, mit
2003).
seiner Vernunft die Triebe zu beherrschen. Als vernünftig gilt, was im Sinne der

Kultur

Lebensweise
Gemeinde
Psycho-
Persönliches Familie Sozio-
Verhalten Ökonom.
Umwelt
Körper

Kranken-
Versorgungs- Arbeit
system

Geist Seele

Human- Physikalische
biologie Umwelt

vom Menschen
gemachte Umwelt

Biosphäre

Abbildung Mandala-Modell
Abbildung1:1: Mandala-Modellder
derGesundheit
Gesundheitnach
nachHancock.
Hancock.

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56 2. Was ist Gesundheit?

Gesunderhaltung richtig ist, und Krankheit wird zum Zeichen des unvernünf-
tigen Lebens, Ausdruck persönlichen Versagens, von Schuld. Die Philosophie
der Aufklärung passte hervorragend in die sich entwickelnden industrialisierten
Gesellschaften, denn die Prinzipien der Industriearbeit ließen sich nur mit Men-
schen realisieren, die sich rational verhalten konnten. Auch Militär und Büro-
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kratie erforderten, die Gesundheit nicht weiter als individuelle Angelegenheit


zu betrachten, die der Einzelne allenfalls mit seinem Gott auszuhandeln hatte,
sondern Gesunderhaltung wurde zur Pflicht gegenüber der Gesellschaft. So heißt
es in einer ökonomischen Enzyklopädie aus dem Jahre 1788:
Wer das edle Kleinod der Gesundheit vernachlässigt, beleidigt die ganze Gesell-
schaft, von der er ein Mitglied ausmacht. Mit Recht fordert sie von ihm, dass er einen
Teil seiner Kräfte und Zeit zu ihren (der Gesundheit) Bedürfnissen und Vorteilen
aufopferte […]. (zitiert nach Kühn 1999, S. 212/213)

Diese Entwicklung wurde durch Gesundheitsreformer und Gesundheitsverwal-


tungen vorangetrieben: Im Bestreben, die gesundheitlichen Verhältnisse ins-
besondere der armen Bevölkerungskreise zu verbessern, entwarfen sie Systeme
staatlicher Kontrolle, die das Verhalten der Bürgerinnen und Bürgern regulierten
(vgl. Kap. 11).
Im Nationalsozialismus wurde die individuelle Sorge für die Gesundheit
schließlich endgültig als patriotische Aufgabe deklariert, die Idee der Volksge-
sundheit feierte Triumphe: Gesundheit wurde dem Einzelnen nahezu enteignet,
für seine Gesundheit zu sorgen war Pflicht am deutschen Volke. Gesundheitspo-
litisches Ziel war ein «erbgesunder» und «rassereiner» Volkskörper. Hitler sah
sein «[…] Menschenideal […] in der trotzigen Verkörperung männlicher Kraft
und in Weibern, die wieder Männer zur Welt zu bringen vermögen» (zitiert nach
Zühlke 1934, S. 56). Der «Reichsärzteführer» Wagner forderte die Anerkennung
von Rassenhygiene und Erbbiologie als «Grundlage der Staatsraison» und brand-
markte die «marxistische Irrlehre vom ‹Recht auf den eigenen Körper›.» (zitiert
nach Bruns & Frewer 2008, S. 57)
Angesichts der Kostensituation im Sozial- und Gesundheitswesen wird die
Frage, ob der Staat das Recht hat, gesundheitliches Verhalten von seinen Bür-
gerinnen und Bürgern einzufordern, heute wieder heftig diskutiert. Unmissver-
ständlich ist, dass der Staat uns für die Gesundheit in die Pflicht nimmt. So heißt
es in § 1 des SGB V:
Die Versicherten sind für ihre Gesundheit mitverantwortlich; sie sollen durch eine
gesundheitsbewusste Lebensführung, durch frühzeitige Beteiligung an gesundheit-
lichen Vorsorgemaßnahmen sowie durch aktive Mitwirkung an Krankenbehandlung
und Rehabilitation dazu beitragen, den Eintritt von Krankheit und Behinderung zu
vermeiden und ihre Folgen zu überwinden.

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2.3 Vom Wert der Gesundheit 57

Über das Ausmaß der Mitverantwortung bestehen jedoch je nach politischer


Ausrichtung sehr unterschiedliche Vorstellungen. Konservative und neo-liberale
politische Kräfte betonen die Selbstverantwortung und fördern Konzepte und
Maßnahmen, die die gesundheitliche Kompetenz der Menschen steigern sollen
(s. Kap. 13). Auf der linken Seite des politischen Spektrums wird dagegen stärker
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die gesellschaftliche Verantwortung betont: Die Gesellschaft und ihre Instituti-


onen müssen dieser Ansicht zufolge die Bedingungen optimieren, unter denen
alle Bürgerinnen und Bürger ein Maximum an Gesundheit erreichen können.
Diese Position hat eine große Nähe zu den Prinzipien der Weltgesundheitsor-
ganisation WHO, die das Recht auf Gesundheit proklamiert. Unbeschadet
von Rasse, Religion, politischen Ansichten sowie ökonomischen oder sozia-
len Lebensbedingungen ist – so die WHO – die beste individuell erreichbare
Gesundheit ein fundamentales persönliches Recht. Die Gründungserklärung der
WHO von 1946 formuliert das Recht jedes Menschen, den Zustand des vollstän-
digen Wohlbefindens anzustreben und sieht die staatliche Politik in der Pflicht,
hierfür die Voraussetzungen zu schaffen. Damit übernimmt auch die WHO die
Position, dass Gesundheit nicht ein einmal gegebenes Geschenk ist, sondern dass
sie immer neu erarbeitet und hergestellt werden muss. Während jedoch liberal-
konservative Politik und viele gesundheitserzieherische Ansätze auf die individu-
elle Leistung abzielen, betont die WHO die staatliche Aufgabe, dafür zu sorgen,
dass Menschen sich gesund verhalten können. «Make the healthier choice the
easier choice» ist der Slogan, mit dem die WHO ihre diesbezügliche Forderung
pointiert zusammenfasst.

Führen Sie in Ihrem Bekanntenkreis oder in Ihrem Wohnumfeld eine kleine


empirische Untersuchung durch zum Thema: Der Wert der Gesundheit.
Mögliche Fragestellungen sind:
• Messen Frauen der Gesundheit mehr Bedeutung bei als Männer?
• Messen ältere Menschen ihr mehr oder weniger Bedeutung bei als jüngere?
• Unterscheiden sich gesunde und kranke Menschen in ihrer Einschätzung
des Werts der Gesundheit?

Weiterführende Literatur
Bergdolt, K. (1999). Leib und Seele – Eine Kulturgeschichte des gesunden Lebens. München:
C.H. Beck.
Schäfer, D., Frewer, A., Schockenhoff, E. & Wetzstein, V. (2008) (Hrsg). Gesundheitskonzepte
im Wandel. Geschichte, Ethik und Gesellschaft. Stuttgart: Franz Steiner.

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59

3
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Was ist Krankheit?

Kranksein bezeichnet genau genommen den gesundheitlichen Ausschluss von einer


gewünschten und für integritätsstiftend angesehenen Teilhabe am alltäglichen sozi-
alen Leben. (Behrens 2006, S. 58)

Ebenso wie der Gesundheitsbegriff unterliegt auch der Begriff der Krankheit
historischen Veränderungen, beeinflusst nicht nur von den Entwicklungen in
der Medizin, sondern auch von den dominierenden philosophischen, gesell-
schaftlichen, politischen Denkrichtungen und von juristischen Anforderungen.
Historisch ging der Konzentration auf Krankheiten und ihre Behandlung die
Konzentration auf die Gesundheit und Gesunderhaltung voraus. Die klassischen
Heilkulturen beruhten auf Gesundheitslehren, die vor allem darauf ausgerichtet
waren, Krankheit zu verhindern. Für den großen, ursprünglich aus Pergamon
stammenden römischen Arzt Galen (129 – 199 n. Chr.) zum Beispiel war die
Medizin die Lehre von der Gesundheit. Entsprechend dem von ihm vertretenen
Modell der Homöostase zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos verstand er
Krankheiten als Zustände, in denen der menschliche Mikrokosmos in seinen
kosmologischen Verstrebungen aus dem Gleichgewicht geraten ist. Krankheiten
wurden als Störungen in bestimmten Vorgängen interpretiert und waren nicht auf
einzelne Körperorgane beschränkt. Gesundheit und Krankheit waren in ein Sys-
tem diverser Kräfte des inneren und weltlichen Lebensumfelds und der Lebens-
führung eingebettet. Dementsprechend galten sie auch nicht als Gegensätze,
sondern lagen auf einem Kontinuum und ließen sich nur individuell bestimmen.
Gesundheit galt als Resultat der rechten Lebensführung und die Entstehung von
Krankheiten entsprechend als Ergebnis von Fehlern in der Lebensführung. Hie-
raus ergab sich für jeden einzelnen Menschen die Aufgabe, sich im Sinne einer
konstruktiven Teilhabe an der kosmischen Ordnung um Gesundheit zu bemühen.
Diese systemische Sichtweise blieb bis ins Mittelalter bestehen. Zu einer ersten
durchgreifenden Änderung kam es in der Aufklärung, die das Entstehen von

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60 3. Was ist Krankheit?

Krankheiten nicht mehr ausschließlich der individuellen Lebensführung anlastete,


sondern auch sozialen Faktoren Bedeutung im Erkrankungsgeschehen beimaß.
Krankheit wurde nicht mehr primär der persönlichen Verantwortung zugeschrie-
ben, sondern im Zusammenhang mit den sozialen und hygienischen Verhältnissen
betrachtet, unter denen Menschen sich mehr oder minder gesund halten konnten.
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Die uns heute so vertraute biologisch-somatische Sichtweise in der Medizin ist


ein Kind der Neuzeit. Vor allem die bahnbrechenden Erkenntnisse der Bakterio-
logie, die zu bedeutenden Erfolgen in der Bekämpfung von Infektionskrankheiten
führten, prägten ein Verständnis von Krankheiten, das sich an eben diesen Infek-
tionskrankheiten orientiert: Krankheit erwächst aus einer spezifischen Ursache,
und ihr Verlauf kann beeinflusst werden, indem man entweder auf die Krank-
heitserreger selbst oder auf deren Überträger einwirkt. Zunehmend entwickelte
sich ein dichotomes Denken, das Menschen entweder der Klasse «gesund» oder
«krank» zuwies – auch wenn sich zeigte, dass weder diese Zweiteilung noch das
auf dem Infektionsmodell basierende Verständnis von Krankheit der Heterogeni-
tät des Krankheitsspektrums gerecht werden.
Angesichts der Bedeutung, die der Krankheit in unserer Gesellschaft, insbeson-
dere in der Arbeitswelt, zukommt und den enormen finanziellen Belastungen, die
den Einzelnen und der Gesellschaft durch Krankheit entstehen, mag es verwundern,
dass es heute keine eindeutige, allgemein anerkannte Definition von Krankheit gibt.
Doch wird die Unmöglichkeit einer verbindlichen Definition klar, wenn man sich
verdeutlicht, dass die Diskussion um den Begriff und die Definition der Krank-
heit auf mindestens vier Ebenen geführt werden muss: auf der medizinischen, der
psychologischen, der soziologischen und der juristischen. Der Krankheitsbegriff
ist ein (medizin-)historisches Phänomen, das durch seine jeweiligen Anpassungs-
leistungen an die gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen gekennzeichnet
ist und sich schon deshalb einer endgültigen Definition entzieht. Zudem steht einer
allgemein verbindlichen Definition im Wege, dass Krankheit sich den jeweils Defi-
nierenden sehr unterschiedlich darstellt: der Medizin anders als den Patientinnen
und Patienten, der Krankenversicherung anders als der Unfallversicherung, dem
Arbeitgeber anders als der erkrankten Arbeitnehmerin.
Etymologisch geht der Wortstamm auf das mittelhochdeutsche «kranc» zurück,
was so viel wie schwach, schmal, schlank, schlecht, leidend bedeutet. Im Laufe der
Sprachgeschichte ersetzte «krank» das ältere Wort «siech», das Kranksein und Ver-
fall bedeutete: Siechtum und dahinsiechen sind in der Literatur des 19. Jahrhunderts
durchaus noch geläufige Begriffe, die heute wohl als «langes Leiden» beschrieben
werden. Heute ist «siech» noch im Begriff «Sucht» enthalten – und führt hier zu
zahlreichen Missverständnissen. Seine eigentliche Bedeutung ist noch erkennbar
in der Gelbsucht, Wassersucht, Fettsucht oder Schwindsucht. Alle diese Begriffe
und die entsprechenden Erkrankungen haben jedoch nichts mit den Suchterkran-

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3. Was ist Krankheit? 61

kungen im heutigen Sinne zu tun. Auch die Anorexia nervosa, die «Magersucht»,
gehört hierzu; es handelt sich bei ihr nicht um eine Abhängigkeitserkrankung,
sondern sie trägt im gängigen Sprachgebrauch einen veralteten deutschen Namen,
dessen Herkunft im Wort «siech» liegt (Franke 2003).
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Die folgenden Auszüge aus aktuellen Lexika geben einen Überblick über
das heutige definitorische Verständnis von Krankheit:
Krankheit (Morbus): Störung des körperlichen, seelischen und sozialen Wohl-
befindens. Bei der Abgrenzung der K. von Gesundheit ist eine bestimmte, aus
einer Vielzahl von Beobachtungen mit Hilfe statistischer Methoden gewon-
nene Schwankungsbreite zu berücksichtigen, innerhalb derer der Betroffene
noch als gesund angesehen wird. Bei der Beschreibung einer K. muss zwi-
schen ihren Ursachen (Krankheitsursache) und ihren sichtbaren Anzeichen
(Symptomen) unterschieden werden. Außerdem können sich unterschiedliche
Verläufe zeigen. Eine akute K. setzt plötzlich und heftig ein. Eine chronische
K. (Malum) beginnt langsam und verläuft schleichend. Manche K. verlaufen
in Schüben, d. h., es wechseln sich Phasen der Verschlechterung (Exazerbati-
onen) ab, oder sie treten nach scheinbarer Ausheilung erneut auf (Rezidiv).
Die Feststellung einer K. beruht auf der Erhebung der Krankheitsgeschichte
(Anamnese) sowie der Untersuchung des Betroffenen mit Auswertung der
geschilderten und festgestellten Symptome. Die erhobene Diagnose dient der
Festlegung einer evtl. notwendigen Behandlung, der Voraussage über den
Verlauf der K. (Prognose) und Maßnahmen der Krankheitsverhütung (Prä-
vention). (Der Brockhaus Gesundheit 2004)
Krankheit, Störung der Lebensvorgänge in einzelnen Organen oder dem
gesamten Organismus, die sich durch meist objektiv feststellbare körperliche,
seelische oder geistige Veränderungen ausdrückt. Eine Krankheit kann plötz-
lich und heftig, vorübergehend (akut) oder dauerhaft (chronisch) sein, sie kann
schubweise verlaufen oder nach vermeintlichem Abheilen wieder aufbrechen
(Rezidiv) und im schwersten Fall zum Tod führen. Man unterscheidet zwi-
schen der Krankheit eines Organs (funktionelle Krankheit) und der Krankheit
des Gesamtorganismus (Allgemeinerkrankung oder system. Krankheit) und
zwischen organischer, psychischer und psychosomatischer Krankheit. Die
Feststellung einer Krankheit (Diagnose) erfolgt durch Erfassen der Kranken-
geschichte (Anamnese) und der Krankheitszeichen (Symptome) sowie einer
Untersuchung des Kranken und ist die Voraussetzung für eine erfolgreiche
Behandlung (Therapie) und die Vorhersage des Krankheitsverlaufs (Prognose).
(Bertelsmann – das neue Lexikon 2007)

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62 3. Was ist Krankheit?

Krankheit: (engl.) disease, illness; Erkrankung, Nosos, Pathos, Morbus; 1.


Störung der Lebensvorgänge in Organen od. im gesamten Organismus mit
der Folge von subjektiv empfundenen bzw. objektiv feststellbaren körperl.,
geistigen bzw. seelischen Veränderungen; 2. i. S. der sozialversicherungs- u.
arbeitsrechtl. Gesetze der regelwidrige Körper- od. Geisteszustand, der in der
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Notwendigkeit einer Heilbehandlung (wobei bereits die Erforderlichkeit einer


Diagnosestellung genügt) od. der Arbeitsunfähigkeit wahrnehmbar zutage
tritt; 3. Bezeichnung für eine definierbare Einheit typischer ätiologisch, mor-
phologisch, symptomatisch, nosologisch beschreibbarer Erscheinungen, die
als eine best. Erkrankung verstanden wird. (Pschyrembel: Klinisches Wörter-
buch, 262. Aufl., 2010)

Für die Kennzeichnung von Krankheit spielen somit heute folgende Kriterien
eine Rolle:
• das Vorhandensein von objektiv feststellbaren körperlichen, geistigen und/
oder seelischen Störungen bzw. Veränderungen, also das Vorliegen eines
Befunds
• die Störung des körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens
• eine Einschränkung von Leistungsfähigkeit und Rollenerfüllung
• die Notwendigkeit professioneller (medizinischer) und sozialer, d. h. mit-
menschlicher und gesellschaftlicher Betreuung.

Für die verschiedenen Ebenen, auf denen das Phänomen «Krankheit» betrach-
tet werden muss, verfügt die englische Sprache über die Begriffstrias «disease»,
«illness» und «sickness». «Disease» bedeutet die Krankheit als objektivierbare
Abweichung von einem als normal definierten Zustand oder einer Funktions-
weise, die Krankheit als Befund. «Illness» kennzeichnet die subjektive Ebene, das
Sich-krank-Fühlen. «Sickness» beschreibt die soziale Ebene; es geht darum, wel-
che sozialen Veränderungen sich für eine Person aus ihrem Kranksein ergeben
und welche gesellschaftlichen Ressourcen ihr in dieser Situation zur Verfügung
gestellt werden.
Eine sowohl für die Betroffenen als auch für die Therapie und Rehabilitation
wichtige Frage ist, ob es sich um eine akute oder chronische Krankheit handelt:
Akute Krankheiten beginnen plötzlich, verschlimmern sich und heilen
danach – mit oder ohne Behandlung – wieder ab. Chronische Krankheiten dagegen
entwickeln sich meist langsam oder schubweise und dauern über einen längeren
Zeitraum oder das gesamte weitere Leben an. Manche dieser Erkrankungen kön-

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3. Was ist Krankheit? 63

nen medikamentös, durch Veränderungen in der Lebensführung, Diäten oder


Psychotherapie gelindert bzw. in ihrer Symptomatik oder ihren körperlichen,
psychischen und sozialen Folgen abgemildert werden, eine vollständige Heilung
ist jedoch häufig nicht möglich. Manche chronische Krankheiten verlaufen in
Schüben, d. h., sie zeigen wiederholte Verbesserungen und Verschlimmerungen,
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Exazerbationen genannt. Treten Krankheiten nach scheinbarem Abklingen wie-


der auf, so nennt man dies ein Rezidiv.
Neben diesen am heilkundlichen Verständnis orientierten Kriterien sind bei
der Definition von Krankheit auch juristische Aspekte relevant. Juristischer und
medizinischer Krankheitsbegriff dürfen nicht gleichgesetzt werden; im juristi-
schen Sinne ist Krankheit vor allem abhängig vom Überschreiten einer bestimm-
ten, ggf. sogar normativ gesetzten Schwelle.
Je nach Rechtsgebiet ist Krankheit unterschiedlich charakterisiert und führt zu
unterschiedlichen Folgen. Strafrechtlich ist Krankheit ein Tatbestandsmerkmal,
das zu Schuldunfähigkeit oder zu verminderter Schuldfähigkeit führen kann. Im
Zivilrecht hingegen ist sie die Voraussetzung zur Formulierung eines Anspruchs,
etwa auf Schmerzensgeld oder Schadensersatz. Sozialrechtlich ist die Krankheit die
Voraussetzung für eine Leistung, z. B. für Gehaltsfortzahlung oder Krankengeld.
Im Sozialversicherungsrecht wird unter Krankheit das Vorhandensein eines regel-
widrigen körperlichen oder geistigen Zustands verstanden, der eine Behandlung
im Sinne von medizinischer Therapie einschließlich Psychotherapie und Kranken-
pflege erfordert und der Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat. Nach einem Urteil des
Bundesgerichtshofs ist Krankheit «[…] jede Störung der normalen Beschaffenheit
und der normalen Tätigkeit des Körpers, die geheilt oder gelindert werden kann».
Angesichts der wachsenden Zahl von Menschen mit chronischen Erkran-
kungen greift diese Definition des Bundesgerichtshofs zu kurz. Der Gemeinsame
Bundesausschuss G-BA, das oberste Beschlussgremium der Selbstverwaltung in
der gesetzlichen Krankenversicherung, sah sich daher im Sinne der Versorgung
dieser Kranken veranlasst, Kriterien zu definieren. Als «schwerwiegend chro-
nisch krank» gilt demnach, wer sich wegen der gleichen Krankheit in ärztlicher
Dauerbehandlung befindet und dies auch kontinuierlich bleiben muss, um eine
lebensbedrohliche Verschlimmerung oder dauernde erhebliche Beeinträchtigung
der Lebensqualität zu verhindern. Des Weiteren spielen Pflegebedürftigkeit und
Minderung der Erwerbsfähigkeit eine Rolle.
Sowohl für den Bereich der Gesundheitsversorgung als auch im rechtlichen
Bereich ist es nicht nur wichtig, Krankheit zu definieren, sondern auch, die ver-
schiedenen Krankheitsbilder zu Gruppen zusammen zu fassen. Dies geschieht in
Klassifikationssystemen. Das weltweit bekannteste und am meisten anerkannte
ist das Klassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation WHO, die Inter-
national Classification of Diseases (ICD). Die Entwicklung der ICD geht zurück

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64 3. Was ist Krankheit?

auf die 1850er-Jahre, in denen die erste Internationale Liste von Todesursachen
erstellt wurde. Seit 1948 obliegt die permanente Aktualisierung der ICD der
WHO; aktuell gültig ist die zehnte Revision, die ICD-10. In dieser Fassung wird
sie in Deutschland seit 1994 verwendet.
Die ICD unterscheidet 21 Gruppen von Krankheiten und gesundheitsbezo-
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genen Problemen und beansprucht, deskriptive sowie weitgehend ätiologie- und


kulturunabhängige Diagnosen zu stellen (Tab. 1; vgl. www.who.int/classifications/
icd/en/).
Die ICD beansprucht somit, ein weltweit gültiges Diagnosesystem zu sein.
Kritiker halten dem entgegen, dass dieser Anspruch vielleicht für Blinddarm-
entzündungen, Schussverletzungen und Beinbrüche gelten könne, dass aber mit
der ICD die kulturelle und gesellschaftliche Dimension von Krankheit völlig
ausgeblendet werde. Insofern sei die weltweite Übereinstimmung der Diagnosen
nur eine Fiktion. (Die Kap. 4 und 8 werden sich intensiv mit diesen Fragen aus-
einandersetzen.)
Dieses Kapitel zur Definition von Krankheit ist im Verhältnis zu dem vorher-
gehenden zur Definition von Gesundheit sehr kurz. Dies liegt an einer merk-
würdigen Diskrepanz: Während es in der Literatur sehr viele Überlegungen zu
Wesen und Wert von Gesundheit gibt, aber kaum wissenschaftliche Gesund-
heitstheorien, ist es bei der Krankheit genau entgegengesetzt: Hier gibt es wenig
Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Erkrankung, aber sehr viele Theo-
rien über deren Entstehung und Aufrechterhaltung. Aspekte der verschiedenen
Sichtweisen von Krankheit werden daher in Kapitel 8 dargestellt.

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3. Was ist Krankheit? 65

Tabelle 1: Krankheitsgruppen der ICD-10.

Klasse Bezeichnung
1 Ausgewählte infektiöse und parasitäre Krankheiten
2 Neubildungen
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3 Krankheiten des Blutes und der blutbildenden Organe sowie bestimmte


Störungen der Immunreaktion
4 Endokrine, Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten
5 Psychische Krankheiten sowie Verhaltens- und Entwicklungsstörungen
6 Krankheiten des Nervensystems
7 Krankheiten des Auges und der Augenanhangsgebilde
8 Krankheiten des Ohres und des Warzenfortsatzes
9 Krankheiten des Kreislaufsystems
10 Krankheiten des Atmungssystems
11 Krankheiten des Verdauungssystems
12 Krankheiten der Haut und des Unterhautgewebes
13 Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes
14 Krankheiten des Urogenitalsystems
15 Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett
16 Bestimmte in der Perinatalperiode entstandene Zustände
17 Angeborene Missbildungen, Deformitäten und Chromosomenanomalie
18 Symptome, Zeichen und abnorme klinische und Laborbefunde, nicht
anderenorts klassifizierbar
19 Verletzungen, Vergiftungen und bestimmte andere Folgen äußerer Ursache
20 Äußere Ursachen der Morbidität und Mortalität
21 Faktoren, die den Gesundheitszustand beeinflussen und zur
Inanspruchnahme des Gesundheitswesens führen

Weiterführende Literatur
Rothschuh, K.E. (Hrsg.) (1975). Was ist Krankheit? Erscheinung, Erklärung, Sinngebung.
Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

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66 Ergebnisse
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4
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Was sind psychische Störungen?

Ist schon der Begriff der Krankheit unklar, soweit es vor allem um somatische
Erkrankungen geht, so wird die Angelegenheit noch weitaus komplizierter, wenn
man den Bereich der psychischen Erkrankungen betrachtet. Worum handelt
es sich bei psychischen Erkrankungen? Was kennzeichnet Menschen mit einer
solchen Erkrankung?
Wenn wir die Alltagssprache betrachten, so hat diese viele Ausdrücke, um Men-
schen mit einer psychischen Störung zu kennzeichnen: Sie haben einen Sprung
in der Schüssel, nicht alle Tassen im Schrank oder eine Meise, sind balla-balla,
plemmplemm oder haben den Schuss nicht gehört. Kurz: Die Beschreibungen
sind abwertend, machen psychisch Kranke lächerlich und diskriminieren sie
als Personen, bei denen etwas defekt ist. Diese bereits im alltäglichen Sprach-
gebrauch sich findende negative Einstellung gegenüber psychischer Krankheit
zeigt sich auch in der Versorgungssituation für diese Personengruppe, und sie
lässt sich historisch weit zurück verfolgen. Im Folgenden wird daher – bevor die
aktuelle Verwendung der Begriffe psychischer Gesundheit und Störung behandelt
wird – ausführlich auf die Entwicklung des Konzepts der psychischen Krankheit
eingegangen.

4.1
Historische Entwicklung
Nähern wir uns dem Konzept der psychischen Störung historisch, so sind zwei
Aspekte zu berücksichtigen: Zum einen muss analysiert werden, inwieweit sich
psychische Störungen selbst verändert haben, zum zweiten müssen die Verän-
derungen der Erklärungen, Interpretationen und Bewertungen der Phänomene,
die in den verschiedenen Epochen als psychische Krankheit betrachtet wurden,
untersucht werden. Auf den ersten Aspekt kann ich hier nicht intensiv eingehen,

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68 4. Was sind psychische Störungen?

da es dazu der konkreten Auseinandersetzung mit einzelnen Krankheitsbildern


bedürfte. Ich konzentriere mich stattdessen auf den zweiten Punkt und versuche,
in einem großen Bogen – und damit notwendig verkürzt – die Geschichte des
Konzepts der psychischen Störung in der westlichen Welt darzustellen.
In den vor- und frühindustriellen Gesellschaften wurden Geisteskrank-
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heiten magisch-religiös interpretiert; psychisch Kranke galten als Besessene


oder als Personen, die den Zorn der Götter auf sich gezogen hatten. Auch hier
war es der griechische Arzt Hippokrates (um 460 – 377 v. Chr.), der den ersten
entscheidenden Säkularisierungsschritt machte, indem er den vermeintlichen
Gottesstrafen den Status von Krankheiten zuerkannte. Er unterschied die drei
Krankheitskategorien Manie, Melancholie und Phrenitis (Gehirnfieber), eine
bis heute nachvollziehbare Einteilung. Die Entstehung psychischer Krankheiten
führte er wie die der körperlichen auf ein Ungleichgewicht der vier Körperflüssi-
gkeiten Blut, schwarze Galle, gelbe Galle und Schleim zurück. Damit formulierte
er eine bis heute aufrechterhaltene Grundannahme, dass psychische Störungen
auf somatischen Ursachen beruhen. Diese Annahme festigte später in Rom Galen
(129–199 n. Chr.). Er vertrat eine modifizierte Viersäftelehre und brachte gleich-
zeitig als Erster die psychischen Störungen mit Funktionen des Nervensystems
und des Gehirns in Verbindung. Da das Sezieren von Menschen verboten war,
gewann er seine Erkenntnisse durch anatomische Untersuchungen an Affen
und Schweinen. Außerdem nutzte er seine Stellung als Militärarzt, um seine
Forschungen unerkannt an tödlich verletzten Gladiatoren und Soldaten durch-
zuführen.
Mit dem Niedergang des griechisch-römischen Reiches und dem Erstarken
des Papsttums ging der Einfluss der medizinischen Wissenschaft zurück, und
Kranke wurden zunehmend der Pflege von Mönchen anvertraut. Psychisch
Kranke gerieten dabei ins Aus, immer weniger wurden sie als Kranke denn als
vom Teufel Besessene betrachtet. Dieser Rückfall in die Dämonologie führte
seit etwa der Mitte des 12. Jahrhunderts zu einer Renaissance der dualistischen
Lehre von Gott auf der einen und dem Teufel als seinem Gegenspieler auf der
anderen Seite und kulminierte in der Inquisition und Hexenjagd. Gestützt auf die
Schriften von Augustinus und Thomas von Aquin und auf eine Bulle des Papstes
Innozenz VIII. aus dem Jahre 1484 («Summis desiderantes affectibus»), in der
dieser dazu aufforderte, bei der Hexenverfolgung keine Gnade walten zu lassen,
veröffentlichten die beiden Dominikanermönche Jakob Sprenger und Henricus
Institoris 1487 den «Hexenhammer» (Malleus Malificarum). Damit schufen sie
das Standardwerk zur Hexenverfolgung, das bis zum Jahr 1669 30 Neuauflagen
erlebte und auf dessen Grundlage ungefähr 100 000 Menschen getötet wurden
(Blauert 1990, Zinn 1989). Die dualistische Theorie war geeignet, alle von der
gesellschaftlich propagierten Ideallinie Abweichenden als vom Teufel besessen

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4.1 Historische Entwicklung 69

zu deklarieren und sie zu eliminieren. Psychisch Kranke boten sich mit ihren
manchmal absonderlichen oder bizarren Verhaltensweisen als Opfer der Hexen-
jagd geradezu an. Besonders gefährdet waren neben den psychisch Kranken vor
allem die Frauen: 90 % aller nach Hexenprozessen Hingerichteten waren Frauen.
Ihnen wurden vor allem Sexualverbrechen, insbesondere sexuelle Kontakte mit
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dem Teufel, Versammlungen («Hexensabbat») und ihre heilkundlichen, insbe-


sondere gynäkologischen, Fähigkeiten vorgeworfen (Ehrenreich & English 1977).
Doch nicht alle psychisch Erkrankten endeten als Hexen. Mit wachsender
Macht gegenüber dem Klerus übernahmen die Städte und ihre Administrationen
im Mittelalter auch zunehmend gesundheitliche Aufgaben. Hierzu gehörte auch
die Aussonderung und Verwahrung von Irren – zu deren eigenem Schutz, vor
allem aber zum Schutz der Gemeinschaft.

Maßnahmen, die wir heute als Unterbringung bzw. Betreuung kennen und
die die psychisch Kranken schützen sollten, sind bereits aus sehr früher Zeit
bekannt. Nach römischem Recht hatte der Geisteskranke oder Wahnsinnige
Anspruch auf einen Kurator, dem die Personen- und Vermögensfürsorge
übertragen wurde. Psychisch Kranke galten als willensunfähig und daher
auch rechtlich als willenlos. Das germanische Recht teilte diese römische
Rechtsauffassung, leitete daraus jedoch nicht das grundsätzliche Recht der
Kranken auf Betreuung ab. Erst wenn die Familie oder ein öffentliches Ver-
fahren die Handlungsunfähigkeit der Kranken festgestellt hatten und diese
offiziell für geisteskrank erklärt waren, erhielten sie einen Betreuer, in der
Regel einen aus der nächsten Verwandtschaft. Hauptaufgabe der Betreuer
war die Vermögensverwaltung.
Die früheste Operationalisierung der Diagnose «geisteskrank» findet sich
vermutlich im isländischen Rechtsbuch, der Gragas – deutsch: Graugans –
aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts: Überprüft wurde der Grad von
Erkenntnisvermögen, «vermöge dessen man nicht unterscheiden kann, ob
der Sattel richtig oder verkehrt auf dem Pferde liege, oder ob man selbst auf
demselben sitzend mit dem Gesicht nach dem Kopfe oder dem Schwanze
des Thieres gerichtet sei» (Rive 1862, S. 158). War jemand nicht in der Lage,
Pferd, Sattel und Reiter in die richtige Position zu bringen, so wurde ihm
der nächste Blutsfreund als Vormund zur Seite gestellt. Hinsichtlich der
Vermögensangelegenheiten war der Geisteskranke einem Minderjährigen
gleichgestellt.

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70 4. Was sind psychische Störungen?

Zudem profitierten psychisch Kranke im 15./16. Jahrhundert von Veränderungen


in der somatischen Medizin: Vor allem da nach Beendigung der Kreuzzüge weni-
ger Infektionen eingeschleppt wurden, verschwand nach und nach die Lepra,
was – in heutiger Terminologie – dazu führte, dass «Betten frei» wurden. Diese
schienen hervorragend geeignet, alle die aufzunehmen, die in der Zeit der auf-
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blühenden Städte und des Bürgertums das öffentliche Gesamtbild trübten. Durch
die Aufklärung und das Erstarken der wissenschaftlichen Medizin wurde diese
Entwicklung zusätzlich verstärkt. Psychische Störungen wurden in immer grö-
ßerem Umfang in den Zuständigkeitsbereich der Medizin verlagert, sie wurden
als Krankheiten betrachtet, deren Verursachung vor allem in hirnpathologischen
Veränderungen gesehen wurde. Die Vernunft wurde zum Maß aller Dinge, und
das erwachende industrielle System ging mit der philosophischen Grundströ-
mung Hand in Hand. Die Frage der Eignung für das neue System führte zu neuen
Kriterien der Vernunft: Als vernünftig galt, wer sich möglichst reibungslos den
monotonen Arbeitsabläufen anpasste und frei von unkalkulierbaren Eigenarten
funktionierte. Wer als unvernünftig galt, wurde ausgeschieden. In ganz Europa
entstanden große Verwahrungsinstitutionen, in denen die Unvernünftigen von
der Öffentlichkeit ferngehalten wurden – Bettler und Stadtstreicher, Unmora-
lische und Straffällige, Dirnen, politische Aufrührer, Trinker, Idioten, Narren
und Verrückte (Dörner 1969, 2001).
Parallel regte sich im Bildungsbürgertum starkes Interesse am Phänomen der
psychischen Störung. Die Romantik erzeugte eine große Faszination für das Irre-
sein, für die dunklen Gefühle, das Irrationale und Geheimnisvolle im Menschen,
und psychische Störungen wurden als eine rätselhafte Verwirrung der Vernunft,
des Willens und der Moral interpretiert. Damit gewann eine pädagogische
Sichtweise zugunsten der medizinischen die Oberhand: Als geistig-moralische
Verwirrung schienen psychische Störungen geeignet für Beeinflussungen durch
Erziehung. Dies führte für einige Begünstigte zu einer humaneren und libe-
raleren Hilfe, änderte jedoch nichts am Grundsätzlichen, dass psychisch Kranke
als «Andere» aus der Gesellschaft abgesondert wurden, zum Beispiel in Narren-
türme oder in Hospitäler in ruhiger Umgebung abseits der Stadt.
Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die psychischen Störungen dann
zunehmend aus Sicht der Medizin interpretiert. Den Anfang dieser Entwicklung
markierte der Berliner Internist und Psychiater Wilhelm Griesinger, der als Vater
der naturwissenschaftlichen Psychiatrie gilt. Er definierte Geisteskrankheiten
als Gehirnkrankheiten und betrachtete sie als Ergebnis des Zusammenwirkens
von organischen, psychischen und sozialen Faktoren. Eine materialistische
Sichtweise von psychischen Störungen, die das menschliche Bewusstsein außer
Acht lässt, lehnte er ab. Mit seinem Ausspruch, Geisteskrankheiten seien Gehirn-
krankheiten, wollte er vor allem zur Anerkennung der psychischen Störungen

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4.1 Historische Entwicklung 71

als «echte» Krankheiten und zur Gleichstellung von psychisch Kranken mit
körperlich Kranken beitragen. Er trug entscheidend dazu bei, dass sich die thera-
peutische Versorgung psychisch Kranker verbesserte.

Wilhelm Griesinger wurde 1817 in Stuttgart geboren und begann mit


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17 Jahren sein Medizinstudium in Tübingen, wurde aber bereits nach


einigen Semestern von der Universität verwiesen, da er die dort gelehrte
romantische Medizin öffentlich als unwissenschaftlich kritisierte und sich
zudem auch noch für ein freies, einiges und republikanisches Deutschland
einsetzte. Dieser Verweis war der Beginn einer Biographie mit zahlreichen
beruflichen und räumlichen Veränderungen: Nach Studien in Zürich und
Paris arbeitete er als praktischer Arzt, danach in der Irrenheilanstalt Win-
nental in Württemberg. Nach einer weiteren Phase als niedergelassener Arzt
in Stuttgart und Assistenzarzt in Tübingen wurde er Rektor der Universi-
tätsklinik Kiel. 1850 verließ er aus politischen Gründen Deutschland und
wurde Leibarzt des ägyptischen Vize-Königs und Präsident des gesamten
Medizinalwesens Ägyptens. Vier Jahre danach wurde er Ordinarius für kli-
nische Medizin an der Universität Tübingen, einige Jahre darauf übernahm
er die Leitung einer der ersten Einrichtungen für Kinder und Jugendliche
mit einer geistigen Behinderung in Deutschland. 1860 wurde er Leiter der
Klinik für innere Medizin in Zürich und hatte als Mitglied der Medizinal-
kommission entscheidenden Anteil sowohl an der baulichen als auch an der
organisatorischen Planung der psychiatrischen Klinik Burghölzli in Zürich.
Ihm kommt das Verdienst zu, die erste moderne stationäre Therapieeinrich-
tung für psychisch Kranke gegründet zu haben. Doch bereits ein Jahr bevor
Burghölzli eröffnet wurde, nahm Griesinger den Ruf auf eine Professur an
der Charité in Berlin an und wurde Direktor der psychiatrischen Klinik.
Auch hier machte er zahlreiche Reformvorschläge und gliederte der Irren-
anstalt der Charité eine neurologische Station an.
Griesinger verstarb 1868 an den Folgen von Diphtherie, mit der er sich nach
der Operation des Blinddarms infizierte. Neben zahlreichen Publikationen
aus dem Bereich der inneren Medizin und von Infektionskrankheiten ist
Griesingers psychiatrisches Hauptwerk «Die Pathologie und Therapie der
psychischen Krankheiten».

Den eigentlichen Durchbruch biologischen Denkens in der Psychiatrie vollzog


wenig später Emil Kraepelin (vgl. Kap. 8.1.1). Er vertrat die Ansicht, dass jede
psychische Krankheit von allen anderen verschieden sei, ihre spezifische Genese

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72 4. Was sind psychische Störungen?

habe und ebenso ihre spezifischen Symptome, ihren Verlauf und ihre Prognose.
Die meisten psychischen Krankheiten seien genetisch bedingt und daher nicht the-
rapierbar. Die Gesellschaft müsse sich gegen psychisch Kranke schützen wie «gegen
Verbrecher, oder, wenn man lieber will, wie gegen ansteckende Kranke» (1900, S. 1).
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Emil Kraepelin wurde 1856 in Neustrelitz geboren. Nach dem Studium der
Medizin in Leipzig und Würzburg bekam er Kontakt zu Wilhelm Wundt,
der in Leipzig das erste Psychologische Institut gegründet hatte. Durch
diesen Kontakt beeinflußt promovierte er zum Thema «Über den Einfluss
acuter Krankheiten auf die Entstehung von Geisteskrankheiten». Nach einer
Zeit als Assistenzarzt an verschiedenen Irrenkliniken und Irrenanstalten
wurde er ab 1886 Ordentlicher Professor für Psychiatrie an den Univer-
sitäten Dorpat, Heidelberg und München. 1917 gründete er die Deutsche
Forschungsanstalt für Psychiatrie in München. Er starb 1926.

1883 veröffentlichte Kraepelin sein «Compendium der Psychiatrie», in dem er das


erste umfassende Klassifikationssystem psychischer Krankheiten vorlegte. Dieses
Klassifikationssystem wurde die Grundlage psychiatrischen Denkens. Kraepelins
biomedizinisches Verständnis psychischer Störungen beeinflusste die Psychiat-
rie nachhaltig, und es ist bis heute das dominierende psychiatrische Paradigma.
Einer der Nachfolger Kraepelins in Deutschland, Kurt Schneider (1887 – 1967),
über Jahrzehnte einer der einflussreichsten Psychiater – sein Lehrbuch «Klinische
Psychopathologie» erschien 1992 unverändert in der 14. Auflage –, definierte psy-
chische Störungen ganz im Kraepelin’schen Sinne:
Der Krankheitsbegriff ist für uns gerade in der Psychiatrie ein streng medizinischer.
Krankheit selbst gibt es nur im Leiblichen, und «krankhaft» heißen wir seelisch
Abnormes dann, wenn es auf krankhafte Organprozesse zurückzuführen ist.
(Schneider 1931, S. 7)

Das nationalsozialistische Deutschland brachte für die psychisch Kranken Ver-


folgung und Tod. Menschen mit psychischen Störungen galten als Gefahr für
die «Volksgesundheit» und als auszurottendes Übel. Das organmedizinische Ver-
ständnis lieferte mit seiner Annahme der vorwiegend genetisch bedingten Ver-
ursachung psychischer Erkrankungen das wissenschaftliche Instrumentarium
zur Beseitigung dieser Schädlinge der Volksgesundheit und zur Begründung der
faschistischen Idee eines erbgesunden Volkes. Paradoxerweise beschleunigten
auch die Entwicklungen der wissenschaftlichen Psychiatrie die Gedanken der
Euthanasie: Diejenigen, bei denen keine Verbesserungen durch die Behand-
lung erreicht werden konnten, galten als unheilbar und wurden ausgesondert.

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4.1 Historische Entwicklung 73

Als erster Schritt zur Eliminierung psychisch Kranker wurde im Juli 1933 das
«Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses» verabschiedet, auf dessen
Basis bis 1945 etwa 400 000 Menschen zwangsweise sterilisiert wurden (Bund der
«Euthanasie»-Geschädigten und Zwangssterilisierten 1989, Westermann 2010).
Erbkrank im Sinne des Gesetzes waren Menschen mit angeborener Blindheit,
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Taubheit oder schwerer körperlicher Missbildung, außerdem wer an Schizophre-


nie, Epilepsie, angeborenem Schwachsinn, manisch-depressiver Erkrankung,
Chorea Huntington oder schwerem Alkoholismus litt. Im Oktober 1939 unter-
schrieb Hitler den geheimen Erlass, demzufolge «[…] nach menschlichem Ermes-
sen unheilbar Kranken bei kritischer Beurteilung ihres Krankheitszustandes der
Gnadentod gewährt werden kann» (zitiert nach Seidel 1983, S. 32). Zwischen 1939
und 1941 wurden 70 000 psychisch Kranke als «lebensunwert» in den sechs eigens
eingerichteten Tötungsanstalten der «Stiftung Anstaltspflege» Bernburg, Bran-
denburg, Grafeneck, Hadamar, Hartheim und Sonnenheim getötet. Patientinnen
und Patienten mit folgenden Diagnosen mussten für die «Euthanasie-Aktion»
gemeldet werden: Schizophrenie, Epilepsie, Schwachsinn, Senile Erkrankungen,
Therapiefraktäre Paralyse und andere Lues-Erkrankungen, Enzephalitis, Chorea
Huntington (Dörner 1988, Finzen 1996, Platen-Hallermund 1948/1993, Rotzoll
et al. 2010, Siemen 2011, US Holocaust Memorial Museum 2004).
Nach dem Sitz der für die Durchführung der Euthanasie gegründeten «Reichs-
arbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten» in einer Villa in der Tiergarten-
straße 4 in Berlin firmierte die Tötung der psychisch und geistig Kranken unter
dem verschleiernden Namen «Aktion T4». Im Jahre 1941 wurde die Aktion T4
offiziell beendet, doch die neuere Forschung zeigt, dass das Morden anschließend
keineswegs beendet war. Die Kranken wurden nach 1941 nicht mehr in zentralen
Einrichtungen zusammengefasst, sondern die Euthanasie wurde von Landes-
und Provinzialverwaltungen gesteuert in den Heil- und Pflegeanstalten vor Ort
fortgeführt. Es kam insbesondere zu Tötungen durch Versuche mit Medikamen-
ten und Fleckfieber-Impfstoffen, durch Unterdruck- und Unterkühlungsversuche
und durch experimentelles Verhungern, mit dem untersucht werden sollte, wie
lange Menschen ohne Nahrung überleben können (Donhauser 2007). Medizin-
historiker gehen inzwischen davon aus, dass die Zahl der Euthanasie-Opfer weit
über 200 000 Menschen liegt, und sogar bei fast 300 000, wenn die etwa 80 000
in polnischen, sowjetischen und französischen Anstalten und die etwa 20 000
in den Euthanasieanstalten ermordeten KZ-Häftlinge hinzugerechnet werden
(Faulstich 2000, Schmuhl 2008).
In den USA und in England interessierte man sich in dieser Zeit vorwiegend
für die diagnostische Frage, wie Männer mit psychischen Störungen sicher
erkannt und vom Militärdienst ferngehalten werden konnten. «Kriegszitterer»
hatten sich im Ersten Weltkrieg als absolut untauglich erwiesen und zudem als

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74 4. Was sind psychische Störungen?

gefährlich für die Kampfes- und Tötungsbereitschaft der gesamten Truppe, weil
sie mit ihrem Zittern die anderen ansteckten. Zudem suchte man nach Störungs-
begriffen und Diagnosen für die aus dem Krieg heimkehrenden Soldaten, deren
Ängste, Depressionen und psychosomatische Auffälligkeiten wie Schlafstö-
rungen, chronische Schmerzen und Phantomschmerzen sich mit den bekannten
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psychiatrischen Diagnosen nicht fassen ließen.


An der grundsätzlichen Vormachtstellung der biomedizinischen Interpreta-
tion psychischer Störungen wurde mehr als ein halbes Jahrhundert lang nicht
gerüttelt. Gegen 1960 jedoch formierte sich Kritik an der individualisierenden
medizinischen Sichtweise, die genetische Bedingtheit wurde in Frage gestellt,
und als zentrales Moment für die Entwicklung von psychischen Störungen
wurde die gesellschaftliche Situation analysiert. Sullivan, Szasz, Scheff in den
USA, Laing und Cooper in Großbritannien und Basaglia und Pirella in Italien
waren Protagonisten einer Psychiatrie, die psychische Krankheit als Produkt der
Auseinandersetzung eines Menschen mit krankmachenden gesellschaftlichen
Bedingungen und Kommunikationsstrukturen interpretierte (vgl. Kap. 8.2.3
und 8.3.3).
Neue Begriffe wurden geprägt: Sozialpsychiatrie und Anti-Psychiatrie. Die
Sozialpsychiatrie forderte vor allem einen humanen, gewaltfreien Umgang mit
psychisch kranken Menschen und eine gemeindenahe Versorgung, d. h. die
Aufhebung psychiatrischer Großinstitutionen und die Integration der psychisch
Kranken in die Gemeinde und in die alltäglichen sozialen Strukturen. Die – ins-
besondere amerikanischen – Vertreter der Anti-Psychiatrie gingen noch einen
Schritt weiter, indem sie die Existenz psychischer Krankheit überhaupt in Abrede
stellten: Psychische Krankheit sei ein Mythos, der Begriff sei lediglich als Meta-
pher zu verstehen. Er werde so verwendet, als ob er einen Zustand bezeichnen
würde, tatsächlich kennzeichne er jedoch nur eine soziale Rolle; es handle sich
nicht um einen deskriptiven Begriff, sondern um eine Zuschreibung, in die Nor-
men eingingen für das, was von der Gesellschaft akzeptiert bzw. nicht toleriert
werde. Eine für diese Position typische Definition ist die folgende:
Der Begriff der seelischen Krankheit dient also hauptsächlich dazu, die alltägliche
Tatsache zu verschleiern, dass das Leben für die meisten Menschen ein andau-
ernder Kampf ist, und zwar nicht um das biologische Überleben, sondern um einen
«Platz an der Sonne», um den «Seelenfrieden» oder um einen anderen mensch-
lichen Wert [...]. Der Mythos der psychischen Krankheit ermuntert uns auch dazu,
an seinen logischen Folgesatz zu glauben, dass nämlich die sozialen Beziehungen
harmonisch, befriedigend und die sichere Basis für ein «gutes Leben» wären, gäbe
es nicht die störenden Einflüsse der seelischen Krankheit oder «Psychopathologie».
(Szasz 1972, S. 55)

Die gesellschaftskritische Position erhielt in der von antikapitalistischem Denken


bestimmten Diskussion nach 1968 eine radikale politische Dimension, indem

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4.1 Historische Entwicklung 75

sozioökonomische Bedingungen direkt für das Entstehen psychischer Störungen


verantwortlich gemacht wurden. Vor allem in Italien wurde diese Position ver-
treten und in gesundheitspolitische Arbeit umgesetzt (Basaglia 1971, 2002, Jervis
1978). Per Gesetz – die sog. legge Basaglia – wurden die großen psychiatrischen
Anstalten aufgelöst, die Errichtung psychiatrischer Kliniken untersagt und Son-
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derschulen geschlossen.
Angesichts der herrschenden kapitalistischen Verhältnisse geriet manchen Kri-
tikern des psychiatrischen Systems das Verrücktsein gar zur gesunden Reaktion
angesichts verrückter gesellschaftlicher Bedingungen und zu einem Zeichen von
Kreativität und Spontaneität in einer durch obrigkeitsstaatliche Verordnungen
regulierten Welt. Auch hier ein Zitat, das diese radikale Position kennzeichnet:
Verrücktheit ist ein gemeinsamer sozialer Besitz, der uns gestohlen wurde, genau
wie die Realität unserer Träume und auch unseres Todes; wir müssen uns diese
Dinge politisch wiederaneignen, damit sie in einer verwandelten Gesellschaft wieder
zu Kräften der Kreativität und Spontaneität werden. (Cooper 1978, S. 9)

Die deutsche Psychiatrie stand am Ende des zweiten Weltkriegs vor einem Trüm-
merhaufen. Schuld, Scham, die aktive Beteiligung an unsäglichen Verbrechen an
den ihr anvertrauten Menschen – dies war der eine Teil des Problems. Der andere
bestand darin, dass das rassistische Krankheitsmodell, das die Hauptursachen
für psychische Erkrankungen in den genetischen Faktoren geortet hatte, nicht
mehr aufrechterhalten werden konnte. In dieser Situation ergriff die Mehrzahl der
Psychiater den Rettungsanker des medizinisch-naturwissenschaftlichen Modells
und verschanzte sich hinter den Mauern der psychiatrischen Kliniken – und dies
gleichermaßen in West- wie in Ostdeutschland. Überwiegend in Großinstituti-
onen mit bis zu 3 000 «Insassen» wurden die Patientinnen und Patienten gemäß
Kraepelin’scher Nosologie diagnostiziert und vorwiegend pharmakologisch
behandelt.
Die wenigen Ausnahmen, die nicht schweigen wollten, wurden mundtot
gemacht: Die Psychiaterin Alice Ricciardi-Platen-Hallermund, der junge und
damals noch unbekannte Arzt Alexander Mitscherlich und der Student Fred
Mielke hatten sich – anders als zuvor angefragte prominente Kollegen – bereit
erklärt, als Beobachter des Ersten Amerikanischen Gerichtshofs in Nürnberg
die dortigen Ärzteprozesse (Dezember 1946 bis August 1947) und die in ihnen
zu Tage gekommenen Verbrechen zu protokollieren und darüber zu berichten.
Obwohl offiziell von der Westdeutschen Ärztekammer beauftragt, wurde der von
Mitscherlich und Mielke 1947 noch während des Prozesses verfasste Bericht vom
Deutschen Ärztetag im Oktober 1948 als Nestbeschmutzung heftig angegriffen.
Unter dem Titel «Wissenschaft ohne Menschlichkeit» erschien er im Januar
1949 in einer für die Ärztekammer bestimmten Auflage von 10 000 Exemplaren.
Diese gelangten niemals an die Öffentlichkeit – sie verschwanden. Erst im Jahre

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76 4. Was sind psychische Störungen?

1960 erfolgte unter dem Titel «Medizin ohne Menschlichkeit» eine Neuauflage
(Mitscherlich & Mielke 1960). Ähnlich erging es der Publikation «Die Tötung
Geisteskranker in Deutschland» von Alice Ricciardi-Platen-Hallermund, die im
Juli 1948 in einer Auflage von 3 000 Stück erschien. Die Auflage wurde nicht voll-
ständig verbreitet und war auch in deutschen Bibliotheken kaum zu bekommen.
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Erst durch den Reprint im Jahre 1993 wurde sie wieder erhältlich; inzwischen
liegt sie in der siebten Auflage vor.
Bis in die 1960er Jahre entwickelte sich die Psychiatrie in den beiden Teilen
Deutschlands sehr ähnlich. Dies lag zum einen an der personellen Kontinuität,
zum anderen daran, dass mit den vor dem Krieg errichteten großen psychiat-
rischen Kliniken ein vergleichbares System der psychiatrischen Versorgung
etabliert war.
Kritik an der herrschenden Anstaltspsychiatrie wurde dann zuerst in der
DDR geübt: Bei einem 1963 stattfindenden internationalen Symposium verab-
schiedeten die 120 Teilnehmer Empfehlungen zur psychiatrischen Versorgung,
die «Rodewischer Thesen». In diesen wurden die wesentlichen Forderungen und
Ziele der Sozialpsychiatrie formuliert: Nicht Verwahrung der psychisch Kranken
sei Aufgabe der Psychiatrie, sondern deren Wiedereingliederung «… ins tätige,
freie und verantwortliche Leben». Gefordert werden eine Intensivierung der
therapeutischen Bemühungen, eine Reorganisation der Kliniken, der Aufbau
ambulanter und teilstationärer Dienste und die Reduzierung von Zwangsmaß-
nahmen auf «… das nur unbedingt erforderliche Minimum» sowie die Aufhe-
bung der gegenüber den Allgemeinkrankenhäusern bestehenden Unterschiede in
den Haushalts- und Stellenplänen (www.dgsp-brandenburg.de/sites/default/files/
Rodewischer_Thesen.pdf [Zugriff: 12.3.2012]). Festgefahrene Strukturen jedoch,
schlechte materielle Bedingungen und noch bestehende Vorurteile gegenüber
psychisch Kranken verhinderten eine flächendeckende Umsetzung der Rodewi-
scher Thesen (Müller & Mitzscherlich 2011).
Im Westen Deutschlands dauerte es gute zehn Jahre länger, bis vergleichbare
Kritik laut wurde. Um die Lage zu erkunden, setzte der Bundestag eine Enquete-
Kommission ein. Deren 1975 vorgelegter Abschlussbericht legte erhebliche
Mängel in der psychiatrischen Versorgung offen und führte zu einer intensiven
Diskussion der Situation psychisch Kranker und zu Anstrengungen, die ekla-
tanten Missstände zu verbessern. Unter Federführung des Bundesministeriums
für Gesundheit wurde von 1980 bis 1985 in sechs Bundesländern das Modell-
programm Psychiatrie durchgeführt, für das die damals erhebliche Summe von
186,5 Mio. DM zur Verfügung gestellt wurde. Die Auflösung der großen psychi-
atrischen Institutionen mit teilweise mehr als 2 000 Patientinnen und Patienten
zugunsten von Abteilungen in regionalen Krankenhäusern, die Einrichtung
von Tageskliniken, Wohngemeinschaften und Firmen für psychisch Kranke,

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4.1 Historische Entwicklung 77

Änderungen im Betreuungsgesetz und auch die Angleichung des Pflegesatzes


für psychisch Kranke an denjenigen für körperlich Kranke waren und sind
Ausdruck dieser sozialpsychiatrischen Interpretation psychischer Störungen
(zur Geschichte der Psychiatrie: Becker et al. 2008, Brückner 2010; speziell zur
Sozialpsychiatrie: Basaglia 2002, Bock, Dörner & Naber 2004, Krisor 2005).
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Die aktuelle Situation ist dadurch gekennzeichnet, dass biomedizinischer und


sozialpsychiatrischer Ansatz nebeneinander existieren – dies schlägt sich zum
Beispiel in den aktuellen Klassifikationssystemen nieder (vgl. Kap. 4.2). Das
Gewicht dieser beiden Ansätze ist jedoch nicht ausgeglichen. Der sozialpsychi-
atrische Ansatz kann sich vor allem noch da behaupten, wo seine Forderungen
direkt in juristische und institutionelle Maßnahmen umgesetzt wurden – also
zum Beispiel in der Art und Finanzierung von Einrichtungen wie Tageskliniken,
dem betreuten Wohnen, dem persönlichen Budget (Neukirch 2008, Wienberg
2008). Insgesamt jedoch hat der biomedizinische Ansatz erheblich größeren
Einfluss. Und er vergrößert seinen Vorsprung in atemberaubendem Tempo. Die
neuen Hoffnungsträger für den endgültigen Durchbruch eines biomedizinischen
Verständnisses von psychischen Störungen heißen Gentechnologie und Neuro-
psychologie.
Die Gentechnologie liefert die Techniken zur Realisierung des alten (Alp-)
Traums von der Verhinderung psychischer Krankheit. Abgesehen von den ethi-
schen Bedenken, die gegenüber diesem Vorhaben bestehen (Emmrich 2001, Geis-
ler 2008, Kolb et al. 2002, Reich 1999), bezweifeln Skeptiker auch die technische
Machbarkeit dieses Unterfangens. Zwar erreichte das 1990 gestartete Human-
Genom-Projekt sein ehrgeiziges Ziel, das menschliche Genom zu entschlüsseln,
bereits im Jahre 2004. Jetzt werden im Rahmen der Proteomforschung die Bedeu-
tung einzelner Gene und ihre Interaktionen untersucht, um ihre Beteiligung am
Krankheitsgeschehen zu klären. Da die meisten chronischen und insbesondere
auch psychischen Erkrankungen nicht durch ein einzelnes Gen bedingt sind,
ergibt sich hier eine enorme Zahl möglicher Variationen. Doch selbst wenn es
gelingen sollte, auch diese zu erklären, sind viele Forscher davon überzeugt,
dass psychische Erkrankung nicht zu verhindern ist. Physikalische und soziale
Umwelt, soziale Lage und Lebensstil beeinflussen das Auftreten von Krankheiten
entscheidender als die genetische Grundausstattung. Bereits im embryonalen
Stadium werden durch Umwelteinflüsse manche Erbanlagen aktiviert, andere
gehemmt, und selbst eineiige Zwillinge kommen bereits mit unterschiedlichem
Verhaltensrepertoire auf die Welt. Menschen, so die Überzeugung der Gen-Skep-
tiker, sind dynamische Systeme, die nicht linearen, genetisch-determinierten
Wirkungsprinzipien unterliegen (Birbaumer & Schmidt 2006, Holtzman &
Marteau 2000, Geisler 2008). Doch ungeachtet dieser Bedenken, in denen sich
der immer aktuelle Gegensatz von medizinischem und sozialwissenschaftlichem

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78 4. Was sind psychische Störungen?

Krankheitsverständnis äußert (ausführlich hierzu Kap. 8), befindet sich die Gen-
forschung auf Erfolgskurs – gesponsert von finanzkräftigen Industrien.
Für das Verständnis und die Versorgung von Menschen mit psychischen Stö-
rungen ist vielleicht der zweite Hoffnungsträger des biomedizinischen Ansatzes
in der Psychiatrie, die Neuropsychologie, noch entscheidender. Neuropsycholo-
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gische Forschung begann bereits im 19. Jahrhundert mit der Untersuchung der
Zusammenhänge zwischen der Aktivität von Nerven und Muskeln. Späterer
Forschung gelang unter Einbeziehung des Zentralnervensytems der Nachweis,
dass durch elektrische Stimulation bestimmter Hirnareale bestimmte Muskelak-
tivitäten ausgelöst werden können – dies eröffnete den Weg zur Kartierung von
Funktionsarealen im Gehirn.
Medizinisch konnten diese Erkenntnisse dann vor allem in und nach dem
Ersten Weltkrieg genutzt werden, in dem viele Soldaten durch Schussverlet-
zungen Hirnläsionen erlitten. Der aktuelle Aufschwung der Neuropsychologie
wurde entscheidend durch die bildgebenden Verfahren ermöglicht, die nicht nur
Läsionen und strukturelle Veränderungen zeigen können, sondern auch Funkti-
onsstörungen.
Die Klinische Neuropsychologie definiert psychische Störungen als Funk-
tions- oder Strukturstörungen des Gehirns. Man geht davon aus, dass das
Gehirn in seinen Netzwerkeigenschaften gestört ist, und dass dies zu einer Stö-
rung der entsprechenden kognitiven, emotionalen und motivationalen Prozesse
führt. Ausgehend davon, dass allen psychischen Prozessen neuronale Prozesse
zu Grunde liegen, dass all unser Verhalten, Empfinden und Erleben eine Her-
vorbringung neuronaler Schaltkreise ist, werden psychische Störungen als ver-
änderte psychische Prozesse definiert, denen veränderte neuronale Vorgänge
zu Grunde liegen, und neurotische Störungen als Abweichungen von normaler
neuronaler Struktur und Funktion (Lautenbacher & Gauggel 2010, Lehrner et
al. 2010). Manche Autoren empfinden diese Sichtweise als eine revolutionäre
Wende, die geeignet ist, die Sichtweise vom Menschen als eines aus physischen
und psychischen Anteilen bestehenden Wesens zu überwinden (vgl. Kap. 8.1.1).

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4.2 Definition und Klassifikation psychischer Störungen 79

4.2
Definition und Klassifikation psychischer Störungen
Zur Einstimmung in das Thema lesen Sie bitte die folgenden drei Fallbeschrei-
bungen und beantworten Sie dann die Fragen:
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Ist etwas nicht normal am Erleben und Verhalten der Person?


Und wenn ja: Was ist abweichend?
Annika Peters ist 23 Jahre alt und studiert Informatik. Sie wohnt in einer
großen Altbauwohnung zusammen mit drei anderen Studentinnen. Das Stu-
dium finanzieren ihre Eltern, sie selbst hat aber noch einen Vertrag als studen-
tische Hilfskraft mit sieben Stunden in der Woche – finanziell kommt sie ganz
gut über die Runden. Ihr Freund wird sein BWL-Studium im nächsten Jahr
abgeschlossen haben – wo er dann hingehen wird und wie sich die Beziehung
weiter entwickelt, ist derzeit offen.
Frau Peters war in ihrer Kindheit und Jugend – abgesehen von den üblichen
Kinderkrankheiten – gesund, sie galt immer als fröhliches, unbeschwertes
Mädchen, das viele Interessen hatte. Zwei Dinge machten ihr besonders viel
Freude: die Teilnahme an einer Theatergruppe an ihrer Schule im Heimatort
und das Reiten. Bis zu ihrem 18. Lebensjahr war sie beinahe täglich auf einem
Reiterhof, sie hatte auch ein Pferd zur Pflege. Dies veränderte sich jedoch,
nachdem sie auf dem Reiterhof einen Unfall miterlebte: Ein Pferdepfleger blieb
bei dem Versuch, über einen Zaun zu springen, mit seinem Ehering in dem
Zaun hängen und dieser durchtrennte den Finger, als der Mann nach unten
fiel. Die Wunde blutete fürchterlich, Frau Peters wurde schlecht, und sie fiel in
Ohnmacht. Noch heute kann sie sich genau an den Anblick erinnern und an
die Schreie des Mannes.
Seit diesem Unfall hat Frau Peters Angst vor Blut. Nach dem Unfall
räumte sie alle spitzen Gegenstände aus der Wohnung. Ein Messer benutzt
sie seither nur, wenn es sich überhaupt nicht vermeiden lässt; wenn sie nicht
umhin kommt, etwas zu schneiden, bekommt sie heftige Angst, sie zittert
und schwitzt stark. Sie kann auch nicht zusehen, wenn andere Menschen mit
Messern oder sonstigen spitzen Gegenständen hantieren; ihre Kolleginnen in
der Wohngemeinschaft haben sehr viel Verständnis und achten darauf, dass
nirgendwo ein Messer, eine Schere, eine Nagelfeile oder sonst ein spitzes oder
scharfes Gerät herumliegt.
Körperlich äußert sich die Angst in starken Schweißausbrüchen, Zittern,
dem Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen und ohnmächtig zu werden. Frau
Peters sagt, die Angst schnüre ihr den gesamten Oberkörper und die Kehle

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80 4. Was sind psychische Störungen?

zu, gefühlsmäßig habe sie einfach nur «Angst, Angst, Angst». Nach einem
Angstanfall sei sie völlig erschöpft, müsse weinen; beruhigen könne sie sich
dann am besten, wenn ihr Freund da sei, sie in den Arm nehme und tröstend
auf sie einrede.
Frau Peters Leben wird durch die Angst zunehmend eingeschränkt: Wäh-
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rend die Angstanfälle kurz nach dem Unfall nur auftraten, wenn sie Blut sah
oder Buntaufnahmen von Unfällen, Operationen und Ähnlichem, wurde
das Spektrum der Angst auslösenden Situation mit der Zeit immer größer.
Aktuell lebt sie wegen der Angst vor Blut sehr zurückgezogen: Sie geht nicht
mehr in ein Restaurant, weil sie befürchtet, am Nebentisch könne jemand ein
nicht durchgebratenes Steak essen. Natürlich geht sie auch nicht ins Kino oder
Theater, weil dort immer die Gefahr blutiger Szenen besteht; das Wissen, dass
im Theater kein echtes Blut fließt, reduziert die Angst nicht. Frau Peters geht
auch nur noch zu Partys, bei denen sie ganz sicher sein kann, dass dort keine
Mediziner bzw. Medizinstudenten sind: Die könnten sich ja über Operationen
unterhalten, und bereits das Anhören solcher Gespräche löst die Angst aus.
Seit mehr als drei Jahren hat sie auch jeden Arztbesuch vermieden. Eigentlich
hat sie vor und in allen Situationen Angst, in denen sie Blut sieht oder sehen
könnte, in denen Blut auf Abbildungen erscheint oder beim Anblick oder
Kontakt mit Geräten, deren Benutzung mit Blut und Bluten im Zusammen-
hang steht. Einzige Ausnahme ist das Menstruationsblut – die Menstruation
ist regelmäßig, in Verlauf und Dauer unauffällig und der Kontakt mit dem
Menstruationsblut macht ihr keine Angst.
Noch ist Frau Peters in der Lage, ihrem Studium nachzukommen und ihren
Alltag einigermaßen zu regeln. Dabei helfen ihr auch die Kolleginnen der WG
und ihr Freund. Frau Peters sieht jedoch klar, dass deren Geduld eines Tages
erschöpft sein könnte. Ihr Freund hat zum Beispiel vor kurzem angedeutet,
dass er früher gerne in den Zoo gegangen sei – ein Ort, dem zu nähern sich
Frau Peters beim allerbesten Willen nicht vorstellen kann.

Horst Schuhmann ist 50 Jahre alt, Diplomingenieur, seit 21 Jahren verheiratet.


Er hat zwei Töchter, 18 und 16 Jahre alt, die beide das Gymnasium besuchen.
Herr Schuhmann erlebt sich zu allem als unfähig. Wirklich alles, was ihm
früher leicht von der Hand gegangen ist, erfordert heute riesige Anstrengungen
oder ist ihm von vornherein unmöglich. Er verspürt einen ständigen Druck
im Kopf, ein dumpfes Gefühl, das es ihm unmöglich macht, irgendetwas zu
tun. Er sagt, er könne nicht mehr denken, sich nicht mehr konzentrieren,
seinen Töchtern nicht mehr bei den Hausaufgaben helfen, er könne leichteste
technische Probleme wie z. B. das Reparieren eines Fahrrads nicht mehr lösen,

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4.2 Definition und Klassifikation psychischer Störungen 81

könne sich nicht mehr an Gesprächen mit mehreren Personen beteiligen, seine
sozialen Aufgaben nicht mehr erfüllen, seine Frau sexuell nicht mehr befriedi-
gen und er sei unfähig, irgendetwas zu entscheiden. Er arbeitet seit 15 Jahren
als Betriebsingenieur in einem Großunternehmen für Maschinenbau – seine
Arbeit schaffe er nur noch auf Grund der großen Routine. In den letzten vier
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Jahren sei er zweimal krankheitsbedingt vom Arbeitsplatz abwesend gewesen;


beide Male sei er wegen seiner Depressionen im Krankenhaus gewesen.
Weitere Symptome, die Herr Schuhmann schildert sind: ständige Müdig-
keit, Antriebsarmut und Schlaflosigkeit. Den ganzen Tag über sei er hunde-
müde und wolle sich hinlegen, wenn aber dann seine Frau und seine Töch-
ter gegen 22:30 Uhr schlafen gingen, gehe er ebenfalls ins Bett, könne aber
schlecht einschlafen. Nachts wache er dann mehrmals auf, häufig schweißge-
badet. Schrecklich sei ein dauerndes Druckgefühl hinter dem rechten Ohr, das
ihn daran hindere, irgendeinen klaren Gedanken zu fassen. Er schlafe nahezu
überhaupt nicht und denke ständig darüber nach, was aus seiner Frau und
seinen Kindern werden solle. Er sei auch sehr vergesslich geworden.
Herr Schuhmann leidet sehr unter sich und seinem Leben. Er versteht auch
nicht, warum seine Frau immer noch nett zu ihm ist – er könne ihr doch seit
Jahren nichts bieten, weder sexuell noch in anderen Bereichen. Den letzten
Urlaub mit seiner Frau habe er vor drei Jahren gemacht; es sei für ihn einfach
nur anstrengend, irgendwo hinzufahren, sich etwas anzuschauen – und ruhig
am Strand zu liegen sei schon gedanklich der reine Horror. Auch als Vater
versage er – seine Töchter könnten niemals wie andere Mädchen mit ihrem
Vater unbeschwert mit ihm herumtoben oder etwas Schönes unternehmen,
und er sei ihnen auch im Bezug auf die Schule keine Hilfe.

Heike Schmidt ist 32 Jahre alt, hat eine Lehre als Bankkauffrau abgeschlossen
und bis vor vier Jahren in diesem Beruf gearbeitet. Ihr Mann ist Installateur,
er hat sich vor sechs Jahren mit einer eigenen Firma niedergelassen. Frau
­Schmidt hat einen Zwang ausgebildet, der sich vor allem äußert, wenn sie sich
anzieht. Es gibt ein festgelegtes Ritual dafür, wie und in welcher Reihenfolge
die Kleidungsstücke angezogen werden dürfen. Kleinste Abweichungen von
diesem Ritual führen dazu, dass Frau Schmidt mit der gesamten Prozedur
wieder von vorne anfangen muss. Der BH zum Beispiel darf nur geschlossen
werden, wenn er sich genau in der Mitte des Brustbeins befindet; hat der BH
mehrere Haken, muss der oberste zuerst geschlossen werden. Der Schlüpfer
muss vor dem BH angezogen werden, wobei erst das rechte, dann das linke
Bein in den Schlüpfer gesteckt werden darf und dieser dann ganz gerade hoch
gezogen werden muss; gerät er in eine «Schieflage», muss sie den Schlüpfer

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82 4. Was sind psychische Störungen?

wieder ausziehen und von vorne beginnen. Die Rituale haben sich inzwischen
so ausgeweitet, dass Frau Schmidt morgens zwischen drei und vier Stunden
braucht, bevor sie angezogen ist. Anschließend ist sie völlig erschöpft, häufig in
Schweiß gebadet – und eigentlich reif dafür, wieder unter die Dusche zu gehen.
Bereits am Abend zuvor müssen die Kleidungsstücke in einer bestimmten Rei-
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henfolge auf eine Kommode im Schlafzimmer gelegt werden, und Frau Schmidt
leidet regelmäßig große Angst, ihr Mann könne aus Versehen die Anordnung
durcheinander bringen oder etwas auf ihren Kleiderstapel legen.
Herr Schmidt bemüht sich sehr, seine Frau von den Zwängen abzulenken –
bisher ohne jeden Erfolg. Ihre Berufstätigkeit in der Bank musste Frau Schmidt
aufgeben, da sie es einfach nicht schaffte, pünktlich zu Dienstbeginn an ihrem
Arbeitsplatz zu sein. Sie hilft seither ihrem Mann bei der Buchführung. Bei
der Arbeit ist bisher noch kein Zwangsverhalten aufgetreten, es kann jedoch
sein, dass Frau Schmidt während des Tages einen Teil ihres Rituals wiederho-
len muss, wenn sie zur Toilette geht.
Frau Schmidt leidet sehr unter ihrem Verhalten, das sie als «absolut blöd-
sinnig» bezeichnet. Gleichwohl ist es ihr unmöglich, die Rituale aufzugeben.
Sie habe es sich schon so oft vorgenommen, leide aber Höllenqualen, wenn
sie einmal versuche, ein «nicht richtig» angezogenes Kleidungsstück anzu-
behalten; spätestens nach einer halben Stunde müsse sie sich dann komplett
ausziehen und mit dem Ritual von vorne beginnen.

Während früher von «psychischer Krankheit» gesprochen wurde, hat sich in den
aktuellen Klassifikationssystemen der Begriff der psychischen Störung durchge-
setzt. Begründet wird dieser Namenswechsel damit, dass «Störung» deskriptiver
sei als «Krankheit» und damit weniger wertend.
Das Bemühen um eine rein beschreibende, nicht wertende Terminologie
kennzeichnet alle Definitionen psychischer Störungen. Hier zwei Beispiele:

Psychische Störungen sind Beeinträchtigungen der normalen Funktionsfä-


higkeit des menschlichen Erlebens und Verhaltens, die sich in emotionalen,
kognitiven, behavioralen, interpersonalen und/oder körperlichen Beein-
trächtigungen äußern und die von der jeweiligen Person nicht oder nur
begrenzt beeinflussbar sind. (Bastine 1998, S. 19)

[…] Ein klinisch bedeutsames Verhaltens- oder psychisches Syndrom oder


Muster […], das bei einer Person auftritt und das mit momentanem Leiden
[…] oder einer Beeinträchtigung […] oder mit einem stark erhöhten Risiko

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4.2 Definition und Klassifikation psychischer Störungen 83

einhergeht, zu sterben, Schmerz, Beeinträchtigung oder einen tiefgreifenden


Verlust an Freiheit zu erleiden. (Saß et al. 1996, S. 944)

Für die Diagnose einer psychischen Störung ist zudem maßgebend, dass das
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abweichende Verhalten nicht nur kurzfristig ist und eine verständliche Reaktion
auf ein bestimmtes Ereignis, zum Beispiel eine tiefe Trauer nach dem Tod eines
geliebten Menschen oder grenzenlose Erschöpfung nach einer anstrengenden
Examensphase oder Polarexpedition.
Wie bei den organischen Erkrankungen auch erfolgt die Gruppierung und
Beschreibung von psychischen Störungen in Klassifikationssystemen. Die am
häufigsten verwendeten sind die ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation und
das «Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen» (DSM),
das von der amerikanischen Berufsorganisation der Psychiater herausgegeben
und ständig weiter entwickelt wird. Aktuell liegt es in der Version DSM-IV vor
(deutsche Bearbeitung durch Saß et al. 1996, Textrevision DSM-IV-R 2003). In
Deutschland werden beide Systeme verwendet, sie sind in den aktuellen Versi-
onen auch sehr einander angenähert. Wegen der angestrebten Einheitlichkeit
mit somatischen Diagnosen wird im klinischen Bereich mehrheitlich die ICD
verwendet, während in der psychologischen und psychiatrischen Forschung das
DSM vorherrscht (Wittchen 2011).
Im Folgenden wird das DSM-IV näher vorgestellt: Seinem Anspruch gemäß, eine
möglichst beschreibende, wertneutrale Diagnostik zu ermöglichen, werden Störungen
im DSM-IV auf fünf Dimensionen, den so genannten Achsen (siehe Tab. 2), check-
listenmäßig nach Vorkommen und Frequenz diagnostiziert.
Auf Achse I werden 16 Hauptgruppen von psychischen Störungen aufgelistet,
darunter affektive Störungen, Angststörungen, Schizophrenie und andere psycho-
tische Störungen, sexuelle und Geschlechtsidentitätsstörungen, Ess- und Schlafstö-
rungen. Die fünf Achsen sind Ausdruck der Diskussion um das Krankheitsmodell:

Tabelle 2: Achsen des DSM-IV (APA 1994, dt.: Saß et al. 1996).

Klasse Bezeichnung
Achse I Klinische Störungen und andere klinisch relevante Probleme
Achse II Persönlichkeitsstörungen, Geistige Behinderung
Achse III Medizinische Krankheitsfaktoren
Achse IV Psychosoziale oder umgebungsbedingte Probleme
Achse V Psychosoziale oder umgebungsbedingte Probleme
Achse V Globale Beurteilung des Funktionsniveaus

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84 4. Was sind psychische Störungen?

Die verschiedenen Achsen erlauben nicht nur die Erfassung der körperlichen
und psychischen Auffälligkeiten, sondern auf Achse IV auch die Berücksichtigung
von schweren psychosozialen Belastungsfaktoren. Damit wurden in das DSM Teile
der gesellschaftskritischen Diskussion der 1970er und 1980er-Jahre aufgenommen.
Insgesamt jedoch fußt das DSM fest auf den Rahmenannahmen des medizinischen
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Modells (vgl. Kap. 8): Psychische Störungen werden als klar definierbare Abwei-
chungen verstanden, als Entitäten mit einer spezifischen Charakteristik, die gegen-
über anderen als Entitäten definierten Abweichungen eindeutig abgrenzbar sind.
Seit 1999 arbeiten mehr als 500 Expertinnen und Experten in diversen Arbeits-
gruppen an einer fünften Revision des DSM. 2011 wurde der Öffentlichkeit eine
erste Version im Internet vorgestellt mit der Aufforderung, diese zu kommentie-
ren. Das Erscheinen von DSM-V ist für 2013 geplant.
Einige jetzt zu diagnostizierende Störungen werden wegfallen, andere hinzu-
kommen. Eine entscheidende Neuerung wird sein, dass die Diagnostik nach Vor-
handensein oder Nichtvorhandensein zugunsten eines dimensionalen Ansatzes
aufgegeben wird, bei dem der Ausprägungsgrad einer Störung und neben der
Hauptsymptomatik auch die Begleitsymptome erfasst werden. Dies, so befürchten
Kritiker, birgt die Gefahr, dass die Grenzen zwischen psychischer Gesundheit und
Krankheit verschwimmen. Die schärfste Kritik entfacht sich im Vorfeld daran,
dass durch die Hereinnahme neuer Diagnosen wie «hypersexual disorder» für
Menschen, die seit mindestens sechs Monaten übermäßig viel Zeit mit sexuellen
Phantasien und Handlungen verbringen, oder «temper dysregulation disorder»
für Kinder, die zu unkontrollierten emotionalen Ausbrüchen tendieren, der
Bereich des psychisch Normalen immer weiter eingeengt wird. So soll es auch
möglich werden, ein Psychose-Risiko-Syndrom bei Personen zu diagnostizieren,
die Symptome einzeln oder in abgeschwächter Form zeigen, die für eine Psychose
typisch sind. Begründet wird dies mit der Möglichkeit einer möglichst frühen the-
rapeutischen Intervention. Doch die Kritiker warnen: Es gebe ausreichend empi-
rische Evidenz, dass nur sehr wenige Menschen, die einmal ein psychosetypisches
Symptom gezeigt haben, auch später manifest erkranken. Es bestehe somit die
Gefahr, Menschen zu pathologisieren und geradezu in die Krankheit hineinzutrei-
ben. Angesichts der Versorgungsrealität in der Psychiatrie fürchten diese Kritiker
auch eine weitere Flut von unnötigen medikamentösen Behandlungen.
In einem äußerst lesenswerten Buch zeigt der britische Psychologe Richard
Bentall (2003), inwiefern der Kampf um das «richtige» Verständnis psychischer
Krankheiten und die daraus folgende Art der Klassifizierung immer auch ein
berufspolitischer Kampf war. Während zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch ver-
schiedene Klassifikationssysteme nebeneinander existierten, die zum Teil stärker
psychologisch und verhaltenstheoretisch orientiert waren, markierte das 1980
veröffentlichte DSM III (APA 1980) den Sieg der amerikanischen psychiatrischen

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Aus: Franke, Modelle von Gesundheit und Krankheit, 3. Auflage.
4.3 Implikationen und Konsequenzen der aktuellen Klassifikation 85

Berufsvereinigung. Die damalige Hoffnung seiner Autoren, dass mit der Ein-
führung des neuen Klassifikationssystems die Interessen der psychiatrischen
Berufsgruppe als medizinische Profession gestützt werden konnten (Spitzer &
Endicott 1978), hat sich seither eindrücklich bestätigt.
Fachhochschule Ostschweiz FHS St. Gallen, Hochschule für Angewandte Wissenschaften / 152.96.188.38 (2023-09-25 11:27)

Und «ganz nebenbei» verdient sich die APA an den Revisionen des DSM
die berühmte goldene Nase: Während DSM-I noch ein kleines graues Heft-
chen war, das 1952 den Mitgliedern der APA kostenlos zugesandt wurde,
erschien DSM-II bereits auf 150 Seiten in Spiralbindung für 3,50 US-Dollar.
An DSM-III, das 500 Seiten umfasste, verdiente die APA geschätzte 9,8 Mil-
lionen US-Dollar. DSM-IV war bereits Ende des Jahres 2000 annähernd eine
Million Mal verkauft; die deutsche Version von DSM-IV-R kostet zurzeit
129 Euro. Für DSM-V wird ein Erlös von 80 Millionen US-Dollar kalkuliert
(Dollar-Werte aus Bentall 2003, S. 46/47, 62, 63).

4.3
Implikationen und Konsequenzen der aktuellen Klassifikation
Wie bereits gesagt, verzichtet das DSM auf den Begriff der Krankheit und
verwendet stattdessen den Begriff «Störung», weil er deskriptiver und weniger
wertend sei. Dieser Diktion hat sich auch die WHO in der ICD angeschlossen.
Mich überzeugt jedoch weder der Störungsbegriff noch teile ich die Ansicht, er
sei deskriptiver als der Begriff der Krankheit. Ich halte den Austausch der Worte
für eine Verschleierungstaktik, mit der psychische Auffälligkeit sozial weniger
diskriminierend bezeichnet werden kann, mit der aber das Stigma, das diesen
Erkrankungen immer noch anhaftet, nur scheinbar gemildert wird. Sowohl
Krankheit als auch Störung bezeichnen einen Zustand diagnostizierter Abwei-
chung – das ist das Entscheidende, weniger die damit verbundene Namensge-
bung. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um die gesellschaftlichen
Normen – und darum, wie eine Gesellschaft mit denjenigen umgeht, die diese
Normen nicht einhalten können.
So verdienstvoll der Ansatz auch sein mag, psychische Störungen deskriptiv
beschreiben zu wollen – letztlich handelt es sich bei diesen Störungen um Kon-
strukte, die weit mehr noch als körperliche Krankheiten von sozialen, politischen
und religiösen Normen und Bedingungen beeinflusst sind. Es gibt keine natur-
gegebenen Grenzen zwischen psychischer Normalität und Abweichung, und es
bleibt ein Ergebnis gesellschaftlichen Aushandelns, wie sehr wir gewillt und in
der Lage sind, Verrücktes und Verrückte als Teil des Lebens und unserer Gesell-
schaft zu akzeptieren.

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86 4. Was sind psychische Störungen?

Bemerkenswert finde ich an der Diskussion um den Begriff der psychischen


Störung, dass sie weitgehend geführt wird, ohne dass der Begriff der psychischen
Gesundheit Erwähnung findet! Es geht um Normen, Auffälligkeiten und Abwei-
chungen – aber wie denn nun die Person aussieht, die nicht psychisch gestört
ist, darüber schweigen sich sowohl die Diagnostikmanuale als auch die meisten
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psychologischen, psychiatrischen und psychotherapeutischen Theorien aus (zu


den Theorien im einzelnen siehe Franke 2001a). Eher stillschweigend wird die
psychisch gesunde Person als diejenige beschrieben, die die Persönlichkeitsideale
der jeweiligen Theorie perfekt erfüllt. Die psychisch gesunde Person stellt damit
einen Idealtypus dar, ideal im Sinne der jeweils zu Grunde liegenden Vorstel-
lungen der vollkommenen Person. Geht man davon aus, dass die Zahl der ernst
zu nehmenden Persönlichkeitstheorien in der Psychologie mit 50 sicher nicht
zu hoch gegriffen ist, so entspricht dies etwa 50 verschiedenen Beschreibungen
der psychisch gesunden Person. Für Patientinnen und Patienten kann sich diese
Heterogenität fatal auswirken, denn wenn unklar ist, auf welches Menschenbild
hin sie therapiert werden, sind sie ziemlich hilflose Opfer.
In der Bundesrepublik Deutschland hat man sich in einem breiten Konsens
darauf geeinigt, psychisch abweichende oder leidende Menschen dem medizi-
nischen System zu überantworten. Dies brachte für viele psychisch Erkrankte
Vorteile, da sie all den Schutz und die Versorgung erfahren, die körperlich
Erkrankten in unserem Sozialsystem zustehen. Den psychologischen Psychothe-
rapeutinnen und Psychotherapeuten ermöglichte die Akzeptanz dieser medizi-
nischen Sichtweise den so lange ersehnten Einzug in die Gilde der Heilkundigen:
Das 1999 verabschiedete Psychotherapeutengesetz bindet die psychotherapeu-
tische Versorgung in das bestehende System medizinisch-heilkundlicher Institu-
tionen und Finanzierungsmöglichkeiten ein. Den tragischen Preis zahlen jedoch
die psychisch belasteten Menschen, die medizinische Krankheitsdiagnosen
benötigen, um in den Genuss bezahlter psychotherapeutischer Hilfe zu kommen:
Erdrückende familiäre Belastungen, Hilflosigkeit gegenüber einem unverschämt
eine Notlage ausbeutenden Chef oder nicht enden wollender Kummer um ein
totgeborenes Kind reichen, da nicht-medizinisch, nicht aus.
Die eine Folge dieser Entwicklung ist, dass diese Menschen im System der
medizinischen und psychosozialen Versorgung keine Ansprechpartner mehr
finden – und die andere, dass mehr Krankheitsdiagnosen erfunden und zugeteilt
werden. Diese Entwicklung spiegelt auch das geplante DSM-V – und es wird sie
verstärken, wenn, wie geplant, weitere Störungen aufgenommen werden: «binge-
eating» etwa, also das Essen und Herunterschlingen großer Essensmengen ohne
anschließendes Erbrechen. Oder anhaltende Trauerreaktionen: Sollen wirklich
Fachleute darüber entscheiden können, ob jemand nach einem schwerwiegenden
Verlust zu lange trauert? Ist der Rentner krank, der noch drei Jahre nach dem

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4.3 Implikationen und Konsequenzen der aktuellen Klassifikation 87

Tod seiner Frau täglich zum Friedhof geht? Soll jemand, der den Verlust seines
Hundes auch nach einem Jahr noch nicht überwunden hat, eine Psychotherapie
als Kassenleistung erhalten?
Die Kreation von Krankheitsdiagnosen entfaltet sich besonders üppig, wenn
die neue Krankheit einen hohen Vermarktungsprofit erwarten lässt. Wer kannte
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vor zwanzig Jahren das Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom ADS, das als ADHS


zusätzlich mit Hyperaktivität gepaart ist? Natürlich gab es Zappelphilippe und
Zappelliesen – sie tauchten in Kinderbüchern auf und waren eine Herausforde-
rung für Eltern und Lehrer. Medizinisch interessant wurden sie, nachdem in Ver-
suchen mit amerikanischen Unterschichtkindern herausgefunden wurde, dass
diese sich nach der Gabe von Methylphenidat angepasster und ruhiger verhielten.
Methylphenidat war seit den 1940er-Jahren Erwachsenen als Stimulanzmittel bei
schneller Ermüdbarkeit und depressiver Verstimmtheit gegeben worden; nach
den Befunden aus den Schulen der schwarzen Ghettos jedoch tat sich ein großer
Markt auf, für den die Diagnose schnell gefunden war: das Aufmerksamkeits-
Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom. In Deutschland stiegen die Verordnungs-
zahlen von Methylphenidat (Produktnamen: Ritalin, Medikinet, Concerta,
Equasym) von 1998 bis 2003 von fünf auf über 20 Millionen Tagesdosen und
schnellten auf 53 Millionen in 2008 (Schwabe & Paffrath 2009). In den letzten
Jahren kam es zu einem weniger steilen, aber immer noch kontinuierlichen
Anstieg auf 56 Millionen Tagesdosen in 2010 (Lohse & Müller-Oerlinghausen
2011). Jetzt wurde eine neue Klientel entdeckt: Etwa ein Viertel der kindlichen
ADHS-Patienten soll die Symptome im Erwachsenenalter beibehalten, wes-
halb Methylphenidat 2011 vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medi-
zinprodukte in Deutschland auch für Erwachsene zugelassen wurde. Das
lässt weiterhin gute Profite für die Pharmabranche erwarten.
Momentan macht das «Burn-out» eine steile Karriere – und parallel schnel-
len die Verschreibungszahlen für Antidepressiva in die Höhe. Der jährliche
Zuwachs beläuft sich auf 15 %; in den letzten zehn Jahren hat sich die Zahl der
Verordnungen verdoppelt, in den letzten 15 Jahren mehr als verdreifacht (Lohse
& Müller-Oerlinghausen 2011).
Nachtrag: Inzwischen stellte sich heraus, dass mehr als die Hälfte der Autoren
des DSM, die an ADHS-relevanten Kapiteln gearbeitet hatten, Einkünfte der
Pharmaindustrie erhielten. Die Autorinnen und Autoren des DSM-V mussten
sich daher verpflichten, ihre Einkünfte offenzulegen.

Weiterführende Literatur
Dörner, K., Plog, U., Teller, C. & Wendt, F (2009). Irren ist menschlich. Bonn: Psychiatrieverlag.
Finzen, A. (1996). Massenmord ohne Schuldgefühl. Die Tötung psychisch Kranker und geis-
tig Behinderter auf dem Dienstweg. Basel: Edition Das Narrenschiff.

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88 Ergebnisse
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5
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Was ist Behinderung?

«Behinderung» ist ein weiterer Begriff, der im Themenfeld von Gesundheit und
Krankheit zu definieren ist. Wann dieser Begriff zur Kennzeichnung von Pro-
blemen, die Menschen in ihrer körperlichen und geistigen Funktionsfähigkeit
einschränken, eingeführt wurde, ist unklar; sicher ist, dass er in Deutschland in
der Kombination «geistig und körperlich behindert» im Reichsschulpflichtgesetz
von 1938 auftauchte. Rechtlich wurde er in der Bundesrepublik Deutschland
später durch das 1961 verabschiedete Bundessozialhilfegesetz (BSHG) verankert,
und durch das sich ab Mitte der 1960er-Jahre entwickelnde Sonderschulwesen
erfuhr er weitere Verbreitung.

5.1
Historische Entwicklung
Historisch gesehen lassen sich viele Parallelen zwischen dem Umgang mit Behin-
derung und dem Umgang mit psychischen Störungen ziehen, zum Teil kommt es
zu beträchtlichen Überschneidungen. In der Antike wurden vor allem jene Men-
schen als abweichend im Sinne des heutigen Behinderungsbegriffs charakterisiert,
die durch körperliche Funktionseinschränkungen oder Anomalien auffielen:
kleinwüchsige, hinkende und verkrüppelte Menschen, solche die nicht sehen, nicht
hören oder nicht sprechen konnten. In mehreren Gesellschaften – so im antiken
Sparta, in Athen und auch in Rom – wurden Kinder mit diesen Makeln häufig
ausgesetzt oder früh getötet. Sie galten als von den Göttern gesandtes Unglück
und als gesellschaftliche Belastung. Sogar Hippokrates sprach sich dagegen aus,
Behinderte und nicht mehr heilbare Menschen medizinisch zu betreuen, da eine
Behandlung wenig Erfolg versprechend sei.
Im Mittelalter wurden behinderte Menschen wie die psychisch Kranken als
vom Teufel Besessene betrachtet. Sie entsprachen nicht der Vorstellung vom

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90 5. Was ist Behinderung?

Menschen als dem Ebenbild Gottes. Sehr viel eher konnten sie mit dem hinken-
den Satan in Verbindung gebracht werden. In großer Zahl fielen sie daher auch
der Inquisition zum Opfer. Behinderte Kinder galten einem weit verbreiteten
Glauben entsprechend als Wesen, deren sich Teufel und Hexen bemächtigt hat-
ten. Wechselbalg wurden sie genannt, und selbst Luther empfahl, man solle sie
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ersäufen, da sie lediglich ein vom Satan in die Wiege gelegtes Stück seelenloses
Fleisch darstellten.
Wie bereits in Kapitel 4 beschrieben, waren die sich im 15./16. Jahrhundert ent-
wickelnden bürgerlichen Städte sehr darum bemüht, ein prunkvolles Gesamtbild
zu entfalten. Darin störten alle, die sich nicht an die neue Ordentlichkeit halten
konnten, und man ersann neue Mittel und Wege, wie man sich dieser Personen
entledigen konnte. Neben der Verbrennung auf dem Scheiterhaufen bestand eine
Methode darin, sie Händlern und Binnenschiffern auszuliefern; diese «Narren-
schiffe» setzten ihre Fracht dann einfach an einem entfernten Ort aus. Vermutlich
aber landeten die meisten dieser Menschen in den in ganz Europa entstehenden
Verwahrungsinstitutionen, den Narrentürmen, Tollhäusern und Irrenanstalten.
In ihnen fanden sich alle ein, die das Gesamtbild trübten – und dazu gehörten
auch Hinkende, Lahme, Blinde und Blöde.
Ab dem 19. Jahrhundert kam es dann zunehmend zu einer Ausdifferenzierung
der verschiedenen Gruppen von Abweichenden und parallel zu einer Ausdiffe-
renzierung der Verwahrsysteme in karitative, pädagogische und medizinisch-
psychiatrische Institutionen. Vorwiegend in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
gründeten sich private karitative, religiöse und humanitäre Hilfsorganisationen,
die Menschen mit unterschiedlichsten Beeinträchtigungen in ihre Fürsorgeein-
richtungen aufnahmen. Im Vordergrund stand die Betreuung und Pflege der
Unselbständigen und Hilfebedürftigen. Da diese Fürsorgevereine sich privat
finanzierten, wurden in ihren Einrichtungen vor allem Menschen aus begüterten
Familien untergebracht. Parallel entwickelte sich der pädagogische Bereich, der
es nicht allein bei der Pflege der behinderten Menschen belassen wollte, sondern
sich für die Bildungsfähigkeit beeinträchtigter Kinder einsetzte und dafür, dass
sie möglichst so weit geschult werden konnten, dass sie für ihren Lebensunterhalt
selbstständig sorgen konnten. (Auf diesen pädagogischen Aspekt, die Entwick-
lung der Heil- und Sonderpädagogik, kann ich an dieser Stelle nicht eingehen.)
Durch die Einführung von Kraepelins Klassifikationssystem erhielt in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der medizinische Bereich starken Auftrieb.
Zunehmend wurden Abweichungen als medizinisch-psychiatrische Krankheits-
bilder definiert und fielen damit dem medizinischen System einschließlich seiner
Modellvorstellungen von Krankheit und Störung anheim.
Das 19. Jahrhundert war nicht nur die Zeit der Ausdifferenzierung der Ver-
wahrsysteme, sondern vor allem auch der Differenzierung der Mitglieder einer

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5.1 Historische Entwicklung 91

Gesellschaft in solche, die den Anforderungen der Industrialisierung genügten,


und jene, denen dies nicht gelang. Diese gesellschaftliche Zweiteilung bildete
einen hervorragenden Nährboden für die sozialdarwinistische Ideologie, die
Darwins Evolutionstheorie verfälschte und verengt auf menschliche Gesellschaf-
ten übertrug (Dörner 2001).
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Gesellschaftliche Hierarchien und soziale Ungleichheiten wurden als naturge-


geben interpretiert, Schwache galten als sozial unbrauchbar und minderwertig.
In dieser Logik waren medizinische, pflegerische und pädagogische Hilfen ein
Vergehen an den natürlich ablaufenden evolutionären Prozessen und damit eine
Gefahr für die Allgemeinheit. Da die Schwachen aufgrund der Betreuung nicht
der natürlichen Selektion zum Opfer fielen, konnten sie ihr krankes Erbgut wei-
tergeben und damit die Gesellschaft insgesamt schwächen.
Diese kruden Gedankengänge führten direkt zu eugenischen Auswüchsen
und zu Forderungen nach der Tötung «unwerten» Lebens (Binding & Hoche
1920), die in den «rassehygienischen» Maßnahmen des Nationalsozialismus kon-
sequent umgesetzt wurden. Neben den psychisch Kranken galten auch Menschen
mit angeborener Blindheit, Taubheit oder schwerer körperlicher Missbildung
und angeborenem Schwachsinn als erbkrank im Sinne des 1933 verabschiedeten
Gesetzes zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses und wurden zwangssteri-
lisiert. Menschen mit geistiger Behinderung und senilen Erkrankungen wurden
im Rahmen der «Euthanasie-Aktion» in den Tötungsanstalten der «Stiftung
Anstaltspflege» umgebracht.
Nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Herrschaft wurde
weitergemacht, wie wenn nichts gewesen wäre. Zwar fanden ab 1946 vor einem
amerikanischen Militärgericht in Nürnberg die Ärzteprozesse statt, in denen
sich NS-Ärzte und Gesundheitsfunktionäre zu verantworten hatten, doch hat-
ten diese und ihre Enthüllungen keine weit reichende Resonanz in die deutsche
Ärzteschaft hinein. Von den zwanzig Hauptangeklagten wurden 1947 sieben
zum Tode verurteilt, die übrigen erhielten Haftstrafen zwischen zehn Jahren und
lebenslänglich, kamen jedoch in den 1950er-Jahren wieder auf freien Fuß (Kolb,
Seithe & IPPNW 1998). Die Sterilisations- und Euthanasieaktivisten wendeten
sich zu Demokraten um, wurden Professoren für Psychiatrie oder Kinderheil-
kunde und bauten das Sonderschulwesen und Vereine wie die Lebenshilfe und
die Bundesvereinigung für Gesundheit auf (Harms 2010).
In den 1960er-Jahren ergriff die Medizinkritik auch die Versorgungssituation
behinderter Menschen, wobei ein besonderer Fokus zunächst auf der Gruppe der
Menschen mit geistigen Behinderungen lag. Insbesondere ihre Unterbringungs-
situation in geschlossenen, häufig abseits gelegenen Institutionen stand in der
Kritik. Gefordert wurden die Aufhebung der großen Institutionen und die soziale
Integration aller «Anderen». In Italien wurden im Zuge der Entpsychiatrisierung

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92 5. Was ist Behinderung?

auch die Sonderschulen aufgelöst. Ein weiterer Impuls zur Integration behin-
derter Menschen kam aus den skandinavischen Ländern mit dem so genannten
Normalisierungsprinzip. Es besagt, dass behinderte Menschen so normal wie
möglich leben können sollen, mit normalem Tages- und Jahresrhythmus, einem
angemessenen wirtschaftlichen Standard und der Respektierung von individu-
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ellen Bedürfnissen und Willensäußerungen, einschließlich dem Bedürfnis nach


sexuellen Kontakten. In den USA wurden vergleichbare Forderungen von der
Selbstbestimmt-Leben-Bewegung formuliert.

5.2
Der Begriff der Behinderung
Stärker als der Krankheitsbegriff ist der Begriff der Behinderung der Gefahr aus-
gesetzt, auf Diskriminierung und Stigma zu verweisen. Der Ausspruch, jemand
sei ja behindert, bedeutet im Alltag häufig eine Abwertung, und umgangssprach-
lich werden bestimmte Behinderungsformen benutzt, um auf Schwächen und
Defizite von Menschen zu verweisen: «Blind» steht dann für uneinsichtig oder
ignorant, «schwerhörig» ist jemand, der sich nicht an Regeln und Vereinbarungen
hält, und «Spasti» ist ein Schimpfwort, mit dem man eine andere Person wirklich
verletzen will. In der ICF, der «Internationalen Klassifikation der Funktionsfä-
higkeit, Behinderung und Gesundheit» der WHO (siehe Kap. 5.3) heißt es zur
Anwendung des Behinderungsbegriffs:
Es bleibt eine schwierige Frage, wie man Menschen am besten bezeichnen kann,
welche ein gewisses Maß an funktionalen Einschränkungen oder Begrenzungen
erfahren. Die ICF verwendet den Begriff «Behinderung», um das mehrdimensionale
Phänomen zu bezeichnen, das aus der Interaktion zwischen Menschen und ihrer
materiellen und sozialen Umwelt resultiert. Aus vielen verschiedenen Gründen
bevorzugen einige, den Begriff «Menschen mit Behinderung», andere «behinderte
Menschen» zu verwenden. Unter Berücksichtigung dieser verschiedenen Meinungen
steht es der WHO nicht zu, hier die eine oder andere Sprachform zu wählen. Statt-
dessen bestärkt die WHO den wichtigen Grundsatz, dass Menschen ein Recht darauf
haben, so genannt zu werden, wie sie es wünschen. […] Wie immer auch «Behinde-
rung» genannt wird, sie existiert unabhängig von dieser Bezeichnung. Es handelt
sich hier nicht ausschließlich um ein sprachliches Problem, sondern vielmehr um
ein Problem der Einstellung von Einzelnen und der Gesellschaft gegenüber Behinde-
rungen. (DIMDI 2004, Seite 170)

Bitte überlegen Sie, welche Implikationen die Begriffe «Menschen mit Behin-
derung» und «behinderte Menschen» haben. Drücken sie Ihrer Meinung
nach ein unterschiedliches Verständnis aus oder sind sie austauschbar?

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5.2 Der Begriff der Behinderung 93

Aus den verschiedenen fachlichen Perspektiven stellt sich Behinderung unter-


schiedlich dar:

In der Medizin wird Behinderung als Problem einer Person verstanden, das
unmittelbar aus einer Krankheit, einem Trauma oder einem anderen Gesund-
heitsproblem entsteht und der medizinischen Versorgung bedarf. Behinderung
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ist ein Defekt, der Menschen in ihrer Funktionsfähigkeit einschränkt und häufig
zu verringerter Leistungsfähigkeit führt. Voraussichtlich ist der Defekt nicht heil-
bar, auf jeden Fall wird ein langwieriger Verlauf angenommen. Auch aus chro-
nischen psychischen Erkrankungen kann Behinderung resultieren. Die WHO
klassifiziert Behinderung erst seit 1980 als eigenständiges Konstrukt. Davor gab
es nur die Möglichkeit, Behinderung im Rahmen der ICD als Krankheit oder
Verletzung einzuordnen. Erst in den 1970er-Jahren setzte sich international
durch, dass Behinderung nicht mit Krankheit gleichzusetzen ist.
Die Abgrenzung von Behinderung gegenüber chronischer Erkrankung ist aus
medizinischer Sicht nicht eindeutig. Im medizinisch-rehabilitativen System wird
der Behinderungsbegriff vorwiegend aus sozialrechtlichen Gründen verwendet.
Im medizinischen und auch psychologischen Vokabular spielt er keine wichtige
Rolle. In diesen Disziplinen bevorzugt man den Terminus des chronischen Ver-
laufs einer Störung oder Krankheit, wenn eine Verbesserung oder Heilung des
gesundheitlichen Problems nicht zu erwarten ist.
Aus soziologischer Sicht ist Behinderung vorwiegend ein gesellschaftlich verur-
sachtes Problem, hervorgerufen dadurch, dass die Gesellschaft die volle Integration
von Menschen mit einer Beeinträchtigung und ihre Teilhabe an allen gesell-
schaftlichen Belangen nicht ermöglicht und ihnen in wesentlichen persönlichen
Bereichen Selbstbestimmung verwehrt.
Diese Sichtweise hat auch in der Pädagogik breiten Anklang gefunden. Neuere
pädagogische Definitionen betonen den interaktiven Aspekt von Behinderung
und sehen Behinderung als Konstrukt, das sich in der Auseinandersetzung eines
Menschen mit seiner Umgebung, seiner alltäglichen Realität ausbildet. Behinde-
rung entsteht in diesem Verständnis dann, wenn nicht angemessen auf Verschie-
denheit reagiert wird (Walthes 2003).
Wegen der starken Bedeutung der Schulpädagogik innerhalb der Erzie-
hungswissenschaften konzentrieren sich viele pädagogische Definitionen von
Behinderung vorwiegend auf Kinder. So formuliert beispielsweise der Deutsche
Bildungsrat:
Als behindert im erziehungswissenschaftlichen Sinne gelten alle Kinder, Jugend-
lichen und Erwachsene, die in der sprachlichen Kommunikation oder in psychomo-
torischen Fähigkeiten so weit beeinträchtigt sind, dass ihre Teilhabe am Leben der
Gesellschaft wesentlich erschwert ist. (Deutscher Bildungsrat 1973, S. 13)

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94 5. Was ist Behinderung?

In der deutschen Sonderpädagogik wird seit Jahren erbittert um die richtigen


schulpolitischen Konsequenzen aus dem interaktiven Verständnis von Behinde-
rung gestritten (Ahrbeck 2011). Soll der Behinderungsbegriff ganz aufgegeben
werden? Oder sollen unter Beibehaltung des Begriffs alle Kinder gemeinsam
beschult werden? Oder gibt es Gründe dafür, Kinder mit besonderen Bedürfnissen
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gesondert zu beschulen? Diese Auseinandersetzung wird weitgehend ideologisch


geführt. Es ist zu wünschen, dass sie in Zukunft mehr mit Daten unterfüttert wird.
Sozialrechtlich ist Behinderung im Sozialgesetzbuch geregelt. Im SGB IX, das
die Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen regelt, heißt es in § 2:
(1) Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder
seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate von dem für
das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben
in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die
Beeinträchtigung zu erwarten ist.

Im juristischen Sinne ist somit neben der Einschränkung der Partizipation am


gesellschaftlichen Leben die Zeitdauer ein wesentliches Kriterium zur Bestim-
mung von Behinderung. Zudem spielt das Ausmaß der Behinderung eine Rolle,
und zwar insofern, als sich die Sozialleistungen auch am Ausmaß der Behinde-
rung orientieren.

5.3
Klassifikation von Behinderung
Um sowohl dem medizinischen als auch dem sozialen Verständnis von Behinde-
rung gerecht zu werden, führte die Weltgesundheitsorganisation WHO 1980 ein
Klassifikationssystem ein, in dem drei Dimensionen von Behinderung unterschie-
den wurden: Impairment, Disability und Handicap (International Classification of
Impairments, Disabilities and Handicaps, ICIDH). Im Deutschen haben sich die
Bezeichnungen Schädigung, Einschränkung und Benachteiligung durchgesetzt.
Mit Impairment wurde eine Schädigung von biologischen und/oder psy-
chischen Strukturen und Funktionen des menschlichen Organismus benannt.
Impairments, also Schädigungen, können angeboren oder erworben sein. Ange-
borene Schädigungen können genetisch bedingt sein wie überzählige Chromo-
somen oder Gendefekte, oder sie entstehen vor oder während der Geburt. Zu
den häufigsten vorgeburtlichen Schädigungen zählen Alkohol- oder Rötelnem-
bryopathien, während der Geburt ist vor allem die Unterbrechung der Sauerstoff-
zufuhr zum Gehirn des Säuglings ein wichtiger Risikofaktor. Erworbene Schä-
digungen beruhen auf Unfällen oder den Folgen und Begleiterscheinungen von
chronischen Erkrankungen, z. B. von rheumatischen Erkrankungen, Tumoren
oder neuronalen Erkrankungen wie Morbus Parkinson oder Multipler Sklerose.

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5.3 Klassifikation von Behinderung 95

Mit Disability wurden die durch die Schädigung bedingten funktionellen


Einschränkungen und Fähigkeitsstörungen beschrieben, wohingegen Handicap
die sozialen Beeinträchtigungen und Benachteiligungen bezeichnen sollte, die
sich im privaten, beruflichen und gesellschaftlichen Leben aufgrund einer Schä-
digung ergeben können.
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Die drei Ebenen der Behinderung am Beispiel einer Sehschädigung


• Impairment: Schädigung der Netzhaut
• Disability: Gesichtsfeldausfall
• Handicap: Probleme in der Orientierung, im Straßenverkehr, beim Ein-
kaufen

Nach mehrjähriger Revisionsarbeit veröffentlichte die WHO 2001 ein neues


Klassifikationssystem, die «International Classification of Functioning, Disability
and Health» (ICF). Wie bereits der Name zeigt, orientiert sich die ICF nicht mehr
wie ihre Vorgängerin ICIDH an einem Defizitmodell. Die ICF ist als Teil der von
der WHO entwickelten «Familie» von Klassifikationssystemen für ver-schiedene
Aspekte der Gesundheit konzipiert. Sie baut den bio-psycho-sozialen Ansatz
ihrer Vorgängerin konsequent aus und beansprucht ein Klassifikationssystem zu
sein, das Behinderung bzw. Menschen mit Behinderung nicht diskriminiert und
das die beiden dominierenden Modelle von Behinderungen, das medizinische
Modell auf der einen und das soziale Modell auf der anderen Seite, integriert.
Eine deutsche, vom Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation autori-
sierte Übersetzung, die «Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit,
Behinderung und Gesundheit», liegt seit Oktober 2004 vor (DIMDI 2004).
Die Struktur der ICF wird in Abbildung 2 (S. 96) verdeutlicht. Wie die Abbil-
dung zeigt, besteht die ICF aus zwei Teilen mit jeweils zwei Komponenten: Teil 1
umfasst «Funktionsfähigkeit und Behinderung», Teil 2 «Kontextfaktoren». Jede
Komponente kann sowohl in positiven als auch in negativen Begriffen ausge-
drückt werden. Hierin spiegelt sich der Versuch wider, mit der ICF eine internati-
onale Klassifikation nicht nur für Behinderung zu erstellen, sondern für «Funkti-
onsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit». (Wobei mir die Reihenfolge dieser
Begriffe merkwürdig vorkommt und schleierhaft bleibt. Warum nicht Gesund-
heit, Funktionsfähigkeit und Behinderung? Eine Begründung dafür, den negativ
besetzten Begriff in der Mitte zwischen zwei positiv besetzten zu positionieren,
habe ich bisher nirgendwo finden können.)
Teil 1, «Funktionsfähigkeit und Behinderung», ist unterteilt in (a) Körperfunkti-
onen und Körperstrukturen und (b) Aktivitäten und Partizipation/Teilhabe. In

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96 5. Was ist Behinderung? 5.3 Klassifikation von Behinderung 83

Klassifikation

ICF
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Teile

Teil 1: Teil 2:
Funktionsfähigkeit und Behinderung Kontextfaktoren
Komponenten

Körperfunktionen Aktivitäten und Parti- Personbezogene


Umweltfaktoren
und -strukturen zipation (Teilhabe) Faktoren
Beurteilungs-
Konstrukte/

merkmale

Änderungen der Änderung der Förderfaktoren


Leistungsfähigkeit Leistung
Körperfunktionen Körperstrukturen Barrieren

Internationale
Abbildung2:2:
Abbildung InternationaleKlassifikation
Klassifikationder
derFunktionsfähigkeit, Behinderung und
Funktionsfähigkeit, Behinderung und
Gesundheit
Gesundheit (ICF).
(ICF).

Teil 2, «Kontextfaktoren», werden (a) Umweltfaktoren und (b) personenbezogene


Erstaunlich ist, dass in der ICF der Zeitfaktor keine Rolle spielt. Ansonsten näm-
Faktoren unterschieden.
lich gibt es in der Literatur so wie in der Rechtsprechung einen breiten Konsens
Die Klassifikation
darüber, dass neben von
derFunktionsfähigkeit
geringen Aussicht auf undeine
Behinderung ergibt
vollständige sich dadurch,
Heilung die Lang-
dass die vier Komponenten (Körperfunktionen und Körperstrukturen,
fristigkeit der Beeinträchtigung ein wesentlicher Bestandteil von Behinderung Aktivi-
ist.
täten und Partizipation/Teilhabe, Umweltfaktoren, personenbezogene Faktoren)
wie folgt beurteilt werden:
Physiologische Körperfunktionen
Weiterführende Literatur einschließlich der psychischen sowie ana-
tomischen Körperstrukturen werden auf Veränderungen bzw. Schädigungen hin
Mattner, D. (2000). Behinderte Menschen in der Gesellschaft. Zwischen Ausgrenzung und Inte-
überprüft, wobei vier Kategorien von Schädigung unterschieden werden: Verlust
gration. Stuttgart: Kohlhammer.
oder Fehlen, Minderung, zusätzlich oder im Übermaß vorhanden und Abwei-
Meiser, U. & Albrecht, F. (Hrsg.) (1997). Krankheit, Behinderung und Kultur. Frankfurt: Verlag
chung.
für Interkulturelle Kommunikation (IKO).
Aktivitäten und Partizipation werden hinsichtlich der Kriterien «Leistungs-
fähigkeit» und «Leistung» bewertet: Unter Beeinträchtigungen der Aktivität
werden alle Schwierigkeiten verstanden, «[…] die ein Mensch bei der Durch-
führung einer Aktivität haben kann», entsprechend sind Beeinträchtigungen
der Partizipation «[…] Probleme, die ein Mensch beim Einbezogensein in eine
Lebenssituation erlebt» (DIMDI 2004, S. 16).

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5.3 Klassifikation von Behinderung 97

Die Kontextfaktoren stellen laut ICF «den gesamten Lebenshintergrund eines


Menschen dar» (DIMDI 2004, S. 22) und sie umfassen die Komponenten der
Umweltfaktoren und der personenbezogenen Faktoren:
Der Begriff der Umweltfaktoren ist extrem weit gefasst. Er bezeichnet die
materielle und soziale Umwelt, in der Menschen leben und ihr Leben gestalten,
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sowie die Einstellungen, die sie dazu haben. Eingeteilt werden Umweltfaktoren
auf Ebene des Individuums und solche auf Ebene der Gesellschaft. Zu den
Umweltfaktoren seitens des Individuums gehören alle Faktoren der unmittel-
baren, persönlichen Umwelt wie der häusliche Bereich, der Arbeitsplatz und die
Schule, aber auch die physikalischen und materiellen Gegebenheiten der Umwelt,
persönliche Kontakte, die Familie, Freunde, Peers und Fremde. Der Ebene der
Gesellschaft werden die formellen und informellen sozialen Strukturen zuge-
rechnet, alle Organisationen und Dienste der Arbeitswelt, der Kommune, der
Behörden, des Kommunikations- und Verkehrswesens sowie informelle soziale
Netzwerke, außerdem Gesetze, Vorschriften, formelle und informelle Regeln,
Einstellungen und Weltanschauungen.
Die personenbezogenen Faktoren aufzuzählen sah sich die Kommission auf-
grund der Heterogenität der Menschen nicht in der Lage. Als zu ihnen gehörend
werden beispielhaft aufgezählt: «[…] Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Alter,
andere Gesundheitsprobleme, Fitness, Lebensstil, Gewohnheiten, Erziehung,
Bewältigungsstile, sozialer Hintergrund, Bildung und Ausbildung, Beruf sowie
vergangene oder gegenwärtige Erfahrungen, (vergangene oder gegenwärtige
Ereignisse), allgemeine Verhaltensmuster und Charakter, individuelles psychisches
Leistungsvermögen […]» (DIMDI 2004, S. 22). Sie alle können eine Rolle spielen,
wenn es darum geht, Behinderung bei einem Menschen festzustellen, denn:
Behinderung ist gekennzeichnet als das Ergebnis oder die Folge einer komplexen
Beziehung zwischen dem Gesundheitsproblem eines Menschen und seinen perso-
nenbezogenen Faktoren einerseits und der externen Faktoren, welche die Umstände
repräsentieren, unter denen Individuen leben, andererseits. (DIMDI 2004, S. 22)

Erstaunlich ist, dass in der ICF der Zeitfaktor keine Rolle spielt. In der Literatur so
wie in der Rechtsprechung gibt es ansonsten einen breiten Konsens darüber, dass
neben der geringen Aussicht auf eine vollständige Heilung die Langfristigkeit der
Beeinträchtigung ein wesentlicher Bestandteil von Behinderung ist. Doch die
ICF macht hierzu keine Aussage. Dabei liegt es doch gerade, wenn Behinderung
als das Ergebnis einer Interaktion verstanden wird, nahe anzunehmen, dass die
Dauer dieser Interaktion bedeutsam ist und somit Einfluss auf das Ausmaß der
Funktionsfähigkeit hat.
Die Zukunft wird zeigen, inwieweit sich diese Klassifikation, die von dem
Bemühen getragen ist, Behinderung als interaktives Geschehen zwischen einer
Schädigung, den gesellschaftlichen Möglichkeiten zur Teilhabe und dem indi-

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98 5. Was ist Behinderung?

viduellen Umgang mit der Schädigung zu berücksichtigen, durchsetzen kann.


Behinderung, das verdeutlicht die ICF, ist nicht Krankheit; sie kann sich aber aus
einer Erkrankung ergeben, wenn diese zu Einschränkungen der Leistungsfähig-
keit oder der Partizipation führt.
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Weiterführende Literatur
Grüber, K. & Graumann, S. (2003). Medizin, Ethik und Behinderung. Frankfurt: Mabuse-
Verlag.
Moser, V. & Sasse, A. (2008). Theorien der Behindertenpädagogik. München: Reinhardt.

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99

6
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Das Verhältnis von Gesundheit


und Krankheit zueinander

Jeder, der geboren wird, besitzt zwei Staatsbürgerschaften, eine im Reich der
Gesunden und eine im Reich der Kranken. (Susan Sontag 1978, S. 5)

Gesundheit ist ohne Krankheit nicht denkbar – und umgekehrt. Jede Definition
von Gesundheit und Krankheit schließt somit notwendig auch eine Annahme
dar­über ein, wie sich Gesundheit und Krankheit zueinander verhalten. Dabei
sind drei Relationen möglich, die im Folgenden als dichotomes Konzept, bipo-
lares Konzept und orthogonales Konzept beschrieben werden. In den folgenden
Kapiteln zu Krankheits- und Gesundheitsmodellen wird deutlicher werden, dass
die Annahmen über das Verhältnis von Gesundheit und Krankheit zueinander
nicht lediglich akademisch sind, sondern dass sie sehr konkrete Auswirkungen
auf unseren Um­gang mit Krankheit und auf das Versorgungssystem haben.

6.1
Dichotomes Konzept
Das dichotome Konzept (siehe Abb. 3) definiert Gesundheit und Krankheit als zwei
voneinander unabhängige Zustände, die sich gegenseitig ausschließen und nicht
gleichzeitig vorhanden sein können. Es liegt dem bio-medizinischen Krankheits­
modell (vgl. Kap. 8.1.1) zu Grunde und hat entscheidende Auswirkungen auf die
Art der medizinischen Versorgung. Von weit reichender Bedeutung sind auch
seine sozial- und arbeitsrechtlichen Konsequenzen. Auf dem dichotomen Kon-
zept von Gesundheit und Krankheit basiert zum Beispiel der Akt der Krank-
schreibung: Wird ärztlicherseits eine Krankheit festgestellt, so gilt die betroffene
Person so lange als arbeitsunfähig, bis die Krankschreibung abgelaufen ist und
nicht verlängert wird. Eine explizite Gesundschreibung ist in unserem Versiche-
rungssystem nicht vorge­sehen.

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86 6. Verhältnis von Gesundheit und Krankheit
100 6. Verhältnis von Gesundheit und Krankheit

Person

Objektive Befunde
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Eindeutige
Symptome nein
vorhanden, Normwerte gesund
überschritten?

ja

krank

Abbildung 3: Dichotomes Konzept von Gesundheit und Krankheit.


Abbildung 3: Dichotomes Konzept von Gesundheit und Krankheit

Dichotome Konzepte eignen sich hervorragend für umschriebene Krankheitsbilder


Dichotome Konzepte eignen sich hervorragend für umschriebene Krankheits-
wie Infektionskrankheiten – eine solche Krankheit ist klar definierbar, sie hat
bilder wie Infektionskrankheiten – eine solche Krankheit ist klar definierbar, sie
eindeutige
hat eindeutigeSymptome,
Symptome, und es es
und gibtgibt
Normwerte,
Normwerte, an an
denen sichsich
denen dasdas
aktuelle Vor-
aktuelle
handensein bestätigen oder verneinen lässt. Wenig tauglich sind
Vor­handensein bestätigen oder verneinen lässt. Wenig tauglich sind sie hingegen sie hingegen für
psychische Störungen. Dies vor allem wegen der impliziten Grundannahme
für psychische Störungen. Dies vor allem wegen der impliziten Grundannahme dicho-
tomer
dicho­ Konzepte,
tomer Konzepte,dassdass
ein kranker
ein krankerMensch automatisch
Mensch zu einem
automatisch gesunden
zu einem wird,
gesunden
wenn die Krankheit verschwindet. Diese Annahme widerspricht
wird, wenn die Krankheit verschwindet. Diese Annahme widerspricht jedoch jedoch jeder
psychotherapeutischen
jeder psychotherapeutischen Erfahrung: Wenn psychische
Erfahrung: StörungStörung
Wenn psychische «wegtherapiert» wird,
«wegthera-
entsteht nicht automatisch psychische Gesundheit, unter Umständen
piert» wird, entsteht nicht automatisch psychische Gesundheit, unter Umständen entsteht
lediglich
entsteht ein Loch.
lediglich ein Loch.
DiesesLoch
Dieses Lochistist umso
umso eklatanter,
eklatanter,jejestärker
stärkerdiedie
psychische oder
psychische psychosomatische
oder psychosoma-
tische Störung eine Funktion hatte, die der betroffenen Person half, mitbestimmten
Störung eine Funktion hatte, die der betroffenen Person half, mit bestimm-
schwierigen
ten schwierigenSituationen ihres ihres
Situationen LebensLebens
umzugehen. Psychische
umzugehen. StörungenStörungen
Psychische entwickeln
sich häufigsich
entwickeln als Lösungsversuch für und in Situationen,
häufig als Lösungsversuch denen sich jemand
für und in Situationen, nicht
denen sich
jemand nicht gewachsen fühlt, für die er oder sie kein Verhaltensrepertoire zurJe
gewachsen fühlt, für die er oder sie kein Verhaltensrepertoire zur Verfügung hat.
Verfügung
stärker undhat. Je stärker
je länger z. B.und
einejeAngststörung
länger z. B. eine
einerAngststörung einer ängstlichen
ängstlichen Person geholfen hat,
Person
sozialegeholfen
Situationenhat, zu
soziale Situationen
vermeiden, umso zu vermeiden,
weniger umso
wird eine nurweniger wird eine
auf die Beseitigung
der Angst abzielende Therapie sie dazu befähigen, nach der Behandlung öffentliche
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6.2 Bipolares Konzept 87

6.2 Bipolares Konzept 101


Vorträge zu halten, sich bei einer Bürgerversammlung zu Wort zu melden oder
nur auf
ihren diemitten
Platz Beseitigung der Angst
im Theater abzielende
einzunehmen, Therapie
wenn sie dazu
alle anderen in befähigen, nach
der Reihe schon
der Behandlung
sitzen. öffentliche
Diese Person Vorträge
muss erst gesundes zuVerhalten
halten, sich bei einer
lernen, damitBürgerversammlung
sie dauerhaft ohne
zu Wort
Angst zu melden
leben kann: Sieoder
mussihren
z. B.Platz mitten
lernen, im Theater
wie man einzunehmen,
einen Vortrag hält, wiewenn
man alle
die
anderenArgumente
eigenen in der Reihe schon sitzen. Diese
publikumswirksam Person
vertritt undmuss erst Menschen
wie man gesundes Verhalten
im Thea-
lernen,
ter damit sie
freundlich dauerhaft
bittet, ohne Angst
aufzustehen lebenDankeschön
und ihnen kann: Sie muss z. B. lernen, wie man
zu sagen.
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einen Vortrag hält, wie man die eigenen Argumente publikumswirksam vertritt
und wie man Menschen im Thea­ter freundlich bittet, aufzustehen und ihnen Dan-
Bitte überlegen
keschön zu sagen.Sie, welche Konsequenzen das dichotome Konzept für Personen
mit chronischer Erkrankung hat.

Bitte überlegen Sie, welche Konsequenzen das dichotome Konzept für Per-
sonen mit chronischer Erkrankung hat.
6.2
Bipolares Konzept
6.2
Im Konzept (siehe Abb. 4) werden Gesundheit und Krankheit als Pole
bipolarenKonzept
Bipolares
eines Kontinuums gesehen, auf dem man sich mehr in die eine oder die andere
Im bipolaren
Richtung Konzept
bewegen kann.(siehe Abb. 4) werden Gesundheit
Kontinuumsmodellen undMenschen
zufolge sind Krankheit als Pole
nicht ent-
eines Kontinuums gesehen, auf dem man sich mehr in die eine oder die
weder gesund oder krank, sondern immer mehr oder weniger beides. Gesundheit andere
Richtung
und bewegen
Krankheit kann.
werden Sie werden
somit deshalb
als abhängige auch Kontinuumsmodelle
Faktoren konzipiert. genannt.
Diesen Modellen zufolge sind Menschen nicht ent­weder gesund oder krank, son-

Person

Objektive Befunde Subjektives Befinden

krank
gesund

Abbildung
Abbildung 4:4:Bipolares
BipolaresKonzept von Gesundheit
Konzept von Gesundheitund
undKrankheit.
Krankheit.

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102 6. Verhältnis von Gesundheit und Krankheit

dern immer mehr oder weniger beides. Gesundheit und Krankheit werden somit
als abhängige Faktoren konzipiert.
Bipolare Modelle betrachten Gesundheit und Krankheit zumeist mehr­
dimensional. Das bedeutet, dass die Position einer Person auf dem Kontinuum
nicht durch ein einzelnes Merkmal definiert wird, sondern durch Merkmale auf
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verschiedenen Dimensionen: etwa der Dimension des medizinischen Befunds,


der Prognose und Therapiemöglichkeit, der Funktionseinschränkung, des
empfunde­nen Schmerzes oder des Ausmaßes der subjektiv erlebten Beeinträch-
tigung. Kontinuumsmodelle ermöglichen damit im stärkeren Maße die Berück-
sichtigung auch des subjektiven Befindens der Betroffenen. Je mehr Dimensionen
in das Modell aufgenommen werden, umso differenziertere Aussagen können
über den gesund­heitlichen Zustand einer Person getroffen werden.

6.3
Orthogonale Konzepte
Ein Nachteil bipolarer Konzepte kann darin gesehen werden, dass sie Gesundheit
und Krankheit gleichsam als eine gemeinsame Menge auffassen, so dass ein Mehr
an dem einen automatisch ein Weniger am anderen bedeutet. Diesen Nachteil
wol­len orthogonale Konzepte dadurch ausschließen, dass sie Gesundheit und
Krankheit als unabhängige Faktoren darstellen, wodurch gekennzeichnet wird,
dass Menschen sowohl gesunde als auch kranke Anteile haben, die gleichzeitig
vorhanden sein können.
Im «Unabhängigkeitsmodell» nach Lutz & Mark (1995) (siehe Abb. 5) werden
gesunderhaltende und krankmachende Faktoren einander gegenübergestellt.
Zu den gesunderhaltenden Faktoren zählen individuelle und gesellschaftliche
Ressour­ cen, entlastende Lebensbedingungen, Widerstandsquellen, positive
Lebensereignis­se, individuelle Eigenschaften und Verhaltensweisen. Krankma-
chende Faktoren sind Noxen, Belastungen, schlechte Lebensbedingungen, kör-
perliche Einschrän­kungen usw. Der durch diese beiden Parameter aufgespannte
Quadrant wird durch die Diagonale in ein Feld für Gesundheit und eins für
Krankheit aufgeteilt. Je nach­dem, wie viel Raum eine Person in dem einen oder
anderen Feld einnimmt, umso größer ist ihr Gesamtzustand durch Gesundheit
oder Krankheit bestimmt.
Orthogonale Modelle eignen sich auch gut, um das Ausmaß der Übereinstim­
mung von objektiven und subjektiven Parametern von Gesundheit und Krank-
heit, also dem Befund und dem Befinden, zu verdeutlichen. Diese können
natürlich übereinstimmen: Jemand, der sich gesund fühlt, ist auch objektiv ohne
Befund. Bei einem sich krank fühlenden Menschen ist eine Krankheit nachweis-
bar. Diese Personen befinden sich in Abbildung 6 auf der Diagonalen.

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6.3 Orthogonale Konzepte 89

6.3 Orthogonale Konzepte 103

Klassifikation
viele
gesund

Faktoren
Faktoren
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Gesunderhaltende
Gesunderhaltende

gesunder
Anteil
kranker Anteil krank
wenige

wenige viele
Krankmachende Faktoren

Abbildung 5: Unabhängigkeitsmodell von Gesundheit undFaktoren


Krankmachende Krankheit.

Abbildung 5: Unabhängigkeitsmodell von Gesundheit und Krankheit.


Klassifikation
sich krank fühlen

somatoforme Störungen krank


Befinden

scheingesund/
funktionell gesund
wohlbefinden

gesund

ohne eindeutig/krank
Befund

Abbildung 6: Zweidimensionales Modell von Befund und Befinden.


Abbildung 6: Zweidimensionales Modell von Befund und Befinden.

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104 6. Verhältnis von Gesundheit und Krankheit

Manche Menschen jedoch fühlen sich sehr krank, obwohl objektiv kein
Befund zu erheben ist. Dies kann an mangelnden diagnostischen Mitteln liegen.
Angesichts der heutigen diagnostischen Möglichkeiten handelt es sich jedoch
häufiger um Menschen mit einer somatoformen Störung. In Abbildung 6 befinden
sich diese Personen im oberen linken Quadranten.
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Somatoforme Störungen sind durch körperliche Beschwerden gekennzeich-


net, die nicht durch einen medizinischen Krankheitsfaktor, durch die Wir-
kung einer Substanz oder durch eine andere psychische Störung vollständig
erklärt werden können. Der Körper wird als krank erlebt und die Betroffenen
fühlen sich außer Stande, ihren Zustand positiv zu beeinflussen. Die Stim-
mungslage ist nieder­geschlagen, ängstlich, mutlos, verbunden mit starkem
Leidensdruck. Das Ge­fühl der Unkontrollierbarkeit des Körpers in Zusam-
menhang mit Ängstlichkeit und Hilflosigkeit führt zu ausgeprägtem kör-
perlichem Schonverhalten. Dieses kann zwar punktuell Entlastung bringen,
führt aber langfristig zu einer weite­ren Konzentration auf die Beschwerden,
zu einer Einschränkung des Aktions­radius und damit zu einer Verstärkung
der Symptomatik.

Und auch das Gegenteil kommt vor, dass eine Person sich subjektiv wohl fühlt,
aber nach medizinischen Kriterien eine Erkrankung hat. Dies kann bei sehr erns­
ten Erkrankungen der Fall sein, die allerdings für die Betroffenen nicht spürbar
sind und die sie (noch) nicht in ihrem Leben einschränken – wie etwa Krebser-
krankungen in einem frühen Stadium, Bluthochdruck oder ein Aneurysma. Diese
Menschen sind nur scheinbar gesund; in Abbildung 6 werden sie «scheingesund»
genannt.
Es gibt jedoch eine große Gruppe von Menschen, bei denen abweichende
Be­funde erhoben werden können, die sich aber dennoch als gesund erleben und
die in keiner Weise in ihrem Leben durch die Abweichungen funktionell einge-
schränkt sind. Deren Befund ergibt sich daraus, dass sich Expertengremien auf
Normen verständigt haben, deren Über- oder Unterschreiten als Krankheit gilt.
Je größer die Möglichkeiten werden, Abweichung zu diagnostizieren, desto mehr
schwinden die Möglichkeiten der Menschen, gesund zu sein. Im obigen Modell
werden diese Menschen als «funktionell gesund» bezeichnet – eine unzureichende
Bezeichnung, aber ich kenne keine bessere. Für diejenigen, die Normwerte nicht
zum letzten Maßstab für ihren Gesundheitszustand machen, sondern Mitsprache
fordern, gibt es in unseren Theorien, Kategoriensystemen und dem Gesund-
heitssystem keinen Begriff. Im Modell befinden sie sich in einer Gruppe mit den
scheinbar Gesun­den – das ist sachlich richtig, inhaltlich und von ihrem inneren
Erleben her aber sind sie dort fehlplatziert.

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105

7
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Stress

Bäder, Wein und Liebe zehren an unseren Kräften; doch wie belebend wirken Bäder,
Wein und die Liebe […]. (aus dem Regimen Salernitanum, vermutlich gegen Ende des
13. Jh.; zitiert nach Bergdolt 1999, S. 145)

Stress ist ein Begriff, der in den unterschiedlichsten Krankheits- und Gesund-
heitsmodellen eine Rolle spielt, dessen Verwendung aber keineswegs eindeutig
ist. Vor der Auseinandersetzung mit Gesundheits- und Krankheitsmodellen ist
es daher wichtig zu wissen, was der Begriff bedeutet und wie er in den diversen
Theorien verstanden wird. Deshalb ist dem Stresskonzept hier ein eigenes Kapitel
gewidmet.
Das Wort «Stress» geht auf das lateinische «stringere» zurück, was eng ziehen,
zusammenziehen bedeutet. Die Herkunft des Wortes und seine vorwissenschaft-
liche Verwendung sind nicht eindeutig: Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts wurde
es vor allem in den Ingenieurwissenschaften benutzt, um Beanspruchungen von
Maschinen zu beschreiben. Es gibt jedoch auch Hinweise, dass der Begriff bereits
im 17. und 18. Jahrhundert verwendet wurde, um die Hungersnöte und die soziale
Not zu kennzeichnen, die damals in England und den skandinavischen Ländern
herrschten.

Wann haben Sie in den letzten drei Tagen das Wort Stress benutzt?
Was hat Ihnen Stress gemacht?

So unterschiedlich die beiden historischen Wurzeln des Wortes Stress auch sein
mögen, sie haben doch etwas Gemeinsames: Beide verweisen auf Druck und
Anforderungen, und beiden liegt die Idee zu Grunde, dass Stress zu einer Schwä-
chung des Systems führen kann; sei das System nun – im Falle der Ingenieurwis-
senschaften – eine Maschine oder – im sozioökonomischen Sinne – ein Mensch.

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106 7. Stress

Im Diskurs über Stress spielten damit immer zwei Aspekte eine Rolle: Zum einen,
dass die Lebensanforderungen Abnutzung und Verschleiß bedingen, zum anderen,
dass Maschine und Körper Energie brauchen, um funktionieren zu können.

Nehmen Sie einen kleinen Block, ihr Notebook oder sonst etwas zum
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Schreiben und notieren Sie in den nächsten drei Tagen, wann Sie das Wort
Stress selbst verwenden oder hören.

Heute ist kaum mehr vorstellbar, dass das Wort «Stress» erst vor weniger als 70 Jah-
ren in dem Sinne verwendet wurde, in dem es heute umgangssprachlich geläufig
ist: Stress als Anforderung im weitesten Sinne, als etwas, das unser Reagieren pro-
voziert, uns unter Druck setzt, hetzt, nervt. Im wissenschaftlichen Bereich wurde es
erstmalig in den Psychological Abstracts des Jahres 1944 verwendet. Seither hat es
sowohl im allgemeinen Sprachgebrauch als auch in der Forschung eine steile Kar-
riere gemacht: Stress ist zum Schlüsselkonzept in den Gesundheitswissenschaften
avanciert. Aber leider existiert auch nach mehr als 60 Jahren Forschung kein Kon-
sens über die Definition von Stress und die weitere Terminologie in diesem Feld.
Versucht man, die ausschweifende Diskussion über den Stressbegriff auf das
Wesentliche zu konzentrieren, so können drei große Gruppen von Definitionen
bzw. Verwendungen des Begriffs unterschieden werden:
• Stress als Reaktion auf eine Situation, ein Ereignis. In diesem Sinne wurde der
Begriff von dem Begründer der Stressforschung, Hans Selye, benutzt. (Witzig
ist, dass der in Österreich geborene Selye 1976 eingestand, er habe den Begriff
benutzt, weil er die englische Sprache nicht ausreichend gut beherrscht habe,
um zwischen «stress» und «strain» zu unterscheiden.)
• Stress als auslösende Situation für emotionale Reaktionen – etwa ein Examen,
eine schwer wiegende Diagnose, ein der gegnerischen Mannschaft zu Unrecht
gewährter Elfmeter. In diesem Sinne wird Stress vor allem in der Life-Event-
Forschung und im Rahmen persönlichkeitstheoretischer Ansätze verstanden.
• Stress im Sinne eines Prozesses, der immer dann einsetzt, wenn eine Person
mit Anforderungen konfrontiert ist, auf die der Organismus nicht spontan
reagieren kann, die seine unmittelbar verfügbaren Ressourcen übersteigen.
Dieser interaktive Stressbegriff wurde vor allem von Richard S. Lazarus und
seiner Forschungsgruppe vertreten.

Sowohl der Elastizität des Stressbegriffs als auch der Komplexität des Konzepts
ist es zuzuschreiben, dass sich unter dem Dach der Stressforschung sehr unter-

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7.1 Stress als Reaktion 107

schiedliche Forschungsansätze entwickeln konnten und das Konzept Eingang


in die unterschiedlichsten Disziplinen fand. Der zunächst vorwiegend in der
Physiologie geprägte Begriff wurden später in anderen Wissenschaften, insbe-
sondere in der Psychologie, übernommen – es wurde aber etwas anderes unter
dem Terminus verstanden. Hinter dem Wort «Stress» können sich somit recht
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unterschiedliche Bedeutungen verbergen. Für das Verständnis des gesamten


Gebiets kommt erschwerend hinzu, dass einige prominente Stressforscher wie
Selye und Lazarus selbst mehr als 50 Jahre an ihren eigenen Konzepten feilten,
was zu zahlreichen Veränderungen innerhalb der Konzepte führte (Cooper &
Dewe 2004).
Ich stelle im Folgenden die Modelle und Ergebnisse der Stressforschung vor,
die sich für das Verständnis von Krankheit und Gesundheit als besonders rele-
vant herausgestellt haben. Die Gliederung orientiert sich an der obigen Eintei-
lung des Verständnisses von Stress als Reaktion, Auslöser und Prozess. Soweit
es möglich ist, folge ich hierbei der historischen Entwicklung und stelle damit
auch einen Teil der Geschichte der Stressforschung dar. Über die Problematik der
unterschiedlichen Begriffsverwendung gehe ich glättend hinweg; die uneindeu-
tige Verwendung der Begriffe muss beim gegenwärtigen Stand wohl als gegeben
hingenommen werden.

7.1
Stress als Reaktion
Stress als Antwort des Organismus auf alles, was ihn aktiviert und eine emotio-
nale Reaktion hervorruft, wurde vor allem von Hans Selye erforscht, der als Vater
der modernen Stressforschung gilt.

Hans Selye wurde 1907 in Wien als Sohn eines wohlhabenden Chirurgen
geboren. Nach seinem Medizinstudium in Prag, Rom und Paris erhielt er ein
Rockefeller-Forschungsstipendium und ging an die Johns-Hopkins-Univer-
sität in Baltimore. 1932 übernahm er eine Assistenzprofessur für Histologie
an der McGill-Universität in Montreal, 1945 wurde er Direktor des Instituts
für experimentelle Medizin und Chirurgie an der Universität Montreal, wo
er in dieser Position bis zu seiner Emeritierung 1976 blieb. Er schrieb über 30
Bücher und mehr als 1500 Artikel. Er starb 1982 in Montreal.

Ausgangspunkt von Selyes Forschungen waren Beobachtungen, die er bereits als


junger Medizinstudent machte. Ihm fiel auf, dass Menschen völlig unabhängig von
den spezifischen Erkrankungen, die bei ihnen diagnostiziert werden, eine große

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108 7. Stress

Gruppe von Symptomen gemeinsam haben. Warum, so fragte sich Selye, haben all
diese Personen, die an so unterschiedlichen Erkrankungen leiden, so viele gemein-
same Symptome? Ist nicht die wichtigste Gemeinsamkeit, dass sie sich einfach
krank fühlen? Und ist dieses Allgemeine, Gemeinsame, nicht vielleicht wichtiger
als das Spezifische der jeweiligen Krankheit? Diese Beobachtung des unspezifischen
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Krankheitssymptoms brachte ihn auf die Idee der nicht-spezifischen Stressreak-


tion, d. h. auf die Annahme, dass es ein unspezifisches Reaktionsmuster gibt, mit
dem Menschen auf die unterschiedlichsten Anforderungen reagieren.
1936 entwarf er eine erste Version des allgemeinen Adaptationssyndroms
(AAS) (General-Adaptation-Syndrome, GAS), die er in späteren Jahren wei-
ter ausbaute. Beim AAS handelt es sich um ein koordiniertes physiologisches
Antwortmuster auf Stressoren, das aus drei typischen Phasen – Alarmreaktion,
Widerstandsphase und Erschöpfung – besteht:

Der Stressor löst zunächst eine Alarmreaktion aus, die aus einem Initialschock mit
verringerter Widerstandskraft besteht. Auf der Verhaltensebene besteht erhöhte
Aufmerksamkeit gegenüber Veränderungen in der Umgebung. In Extremfällen,
wenn der Stressor zu starke Reaktionen auslöst, kann es in dieser ersten Phase
zum Tod kommen.
Normalerweise jedoch versucht sich der Körper durch Veränderung wichtiger –
insbesondere endokrinologischer – Körperfunktionen an anhaltende Stressbedin-
gungen anzupassen, wodurch sich die Widerstandskraft gegenüber dem Stressor
wieder erhöht. Diese Phase wird demnach als Widerstands- bzw. Resistenzphase
bezeichnet.
Aber der Körper ist nicht unbegrenzt belastbar bzw. anpassungsfähig. Lässt
der Stress nicht nach einer gewissen Zeit nach, so kommt es zu Erschöpfung und
damit zu einem Zusammenbruch von Widerstand und Anpassung. In dieser
Phase treten wieder die Symptome der anfänglichen Alarmreaktion auf – jedoch
mit dem Unterschied, dass der Körper nicht mehr reagieren kann und Ausfalls-
erscheinungen zeigt (Selye 1956/1976).

Der physiologische Ablauf des allgemeinen Adaptationssydroms ist folgender-


maßen:

Alarmreaktion
• Vergrößerung des adrenalen Kortex
• Aktivierung des lymphatischen Systems
• Intensivierung der Hormonausschüttung, insbesondere von Adrenalin

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7.1 Stress als Reaktion 109

Widerstand/Resistenz
• Schrumpfen des adrenalen Kortex
• Rückkehr der Lymphknoten zu ihrer ursprünglichen Größe
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• Stabilität des erhöhten Hormonspiegels


• verstärkte Aktivität des parasympathischen Systems, um der hohen Akti-
vierung zu begegnen

Erschöpfung
• Vergrößerung oder Dysfunktionalität der lymphatischen Strukturen
• Weitere Intensivierung von Hormonausschüttung oder Aufrechterhalten
der erhöhten Hormonspiegel
• Erschöpfung der adaptiven Hormone

Selyes Forschung basiert auf zwei grundlegenden Ideen – dem Modell der
Körpermaschine und der Annahme der Homöostase. Das AAS beschreibt eine
Anpassungsleistung des Menschen, die ihm seit archaischen Zeiten das Überle-
ben gesichert hat: In Bedrohungssituationen aktiviert der Körper alle Energien,
die ihm ermöglichen, Gefahren zu begegnen – sei es durch Angriff oder durch
Flucht. Doch die adaptive Energie des Körpers ist endlich. Wenn die Anforde-
rungen an den Körper dessen Adaptationsfähigkeit überfordern, kann er letzt-
lich nicht mehr in der Lage sein, die Homöostase wiederherzustellen, er wird
krank. Gesundheit liegt vor, wenn der Körper die Homöostase durch permanente
Anpassungsleistungen aufrechterhalten kann, Krankheit tritt ein, wenn ein
Erreger oder eine sonstige Bedingung den dynamischen Status der Homöostase,
von dem die Integrität des Organismus abhängt, zu zerstören beginnt. In diesem
Sinne können alle Krankheiten als Störungen der Adaptation verstanden werden.

In der Literatur werden manchmal die Begriffe Eu-Stress und Dis-Stress


verwendet, um «positiven» Stress von «negativem» zu unterscheiden:
Eu-Stress wird als Herausforderung verstanden, motiviert, regt an, führt zu
Handlung.

Dis-Stress ruft Angst, Verunsicherung hervor, führt zu Ausweichen, Flucht,


Blockierung.

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110 7. Stress

Nach heutigem Kenntnisstand handelt es sich bei der Stressreaktion um eine


komplexe Reaktion, an der alle körperlichen Funktionen und Systeme – Atmung,
Herz-Kreislauf, Stoffwechsel, Muskulatur – beteiligt sind. Physiologisch verläuft
sie auf zwei Achsen: dem Katecholamin-System via Sympathikus und Neben-
nierenmark und dem Cortisolsystem via Hypothalamus-Hypophyse-Nebennie-
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renrinden (siehe Abb. 7). Innerhalb kürzester Zeit wird der Organismus darauf
vorbereitet, eine mögliche Gefahr zu bekämpfen oder sich ihr durch Flucht
zu entziehen, indem all die Funktionen angeregt werden, die für Kampf oder
schnelles Entweichen notwendig sind. All die Körperfunktionen hingegen, die
eher der Regeneration oder Reproduktion dienen – also Verdauung, Sexualität,
Wachstum –, werden gehemmt.
Selyes biologisch-physiologische Stressforschung wurde von stärker psycho-
logisch orientierten Forscherinnen und Forschern weitergeführt. Sie ergänzten
die Stressforschung um die Analyse der Beziehung zwischen dem Nervensystem
und dem Immunsystem und entwickelten so das Feld der Psychoneuroimmu-
nologie. Die zentrale Frage psychoneuroimmunologischer Forschung ist, ob die
Vulnerabilität für Erkrankungen erhöht ist, wenn das Immunsystem geschwächt
ist, und ob und inwiefern Stress das Immunsystem schwächen kann. Die bisher
gefundenen Antworten sind keineswegs eindeutig, wenngleich man vorsichtig
eine positive Beziehung zwischen geschwächtem Immunsystem und erhöhtem
Krankheitsrisiko bejahen kann. Das Risiko ist insbesondere erhöht, wenn der
Stress lang andauernd ist. Während phasische Aktivierung durchaus leistungs-
steigernd wirken kann und als lustvoll und motivierend erlebt wird, führt lang
andauernde physische und psychosoziale Belastung zu einem Nachlassen der
Anpassungsfähigkeit des Körpers und zu einer immunologischen Schwächung.
In Metaanalysen konnte ein solcher Zusammenhang vor allem bei Anwendung
objektiver Stressmaße – zum Beispiel von relevanten Lebensereignissen wie
Umzug, Kündigung oder Tod der Partnerin – festgestellt werden, weniger dann,
wenn die Befragten ihr Stressniveau subjektiv bewerteten (Segerstrom & Miller
2004).
Die rasche Popularität, die die Psychoneuroimmunologie erreichen konnte,
ist vermutlich der Tatsache geschuldet, dass diese neue Disziplin den objektiven
Beweis anzutreten verspricht, dass unsere Persönlichkeit und unsere Emotionen
Einfluss auf die Gesundheit haben – eine Überzeugung, die Psychologinnen,
Soziologen und alle nicht dem biomedizinischen Krankheitsmodell verhafteten
Medizinerinnen und Mediziner schon immer hatten. Psychoneuroimmunologie
erweist sich somit als Hoffnungsträger, die naturwissenschaftlich orientierte
Medizin gleichsam mit den eigenen Mitteln zu schlagen.

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7.2 Stress
7.2 Stress als Auslöser 111
als Auslöser 99

Stressor

Limbisches System

Hypothalamus
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CRH/ADH
Sympathisches
Nervensystem
Hypophyse

ACTH

Nebennierenrinde

Nebennierenmark

Cortisol Adrenalin Noradrenalin

CRH – Corticotropin-Releasinghormone
ADH – Antidiuretisches Hormon
ACTH – Adrenocorticotropes Hormon

Abbildung
Abbildung 7: Die
7: Die zweizwei Achsen
Achsen derder körperlichenStressreaktion.
körperlichen Stressreaktion.

Es gibt diverse Versuche, Stressoren zu kategorisieren. In Hinblick auf gesundheit-


7.2
liche Auswirkungen ist vermutlich die Einteilung in akute und chronische Stresso-
Stress
ren amals Auslöserda diese unterschiedliche Adaptationsleitungen des Körpers
wichtigsten,
erfordern.
Ein weiterer Andere Einteilungen
Zweig der ordnenbeschäftigt
Stressforschung Stressorensich
nachweniger
relevanten
mit Lebensberei-
der Stress-
reaktion als mit der die Reaktion auslösenden Situation. Als Begriff fürStress
chen, also familiären Stress, beruflichen Stress, gesundheitlich bedingten den usw.
so
Und schließlich gehören auch noch all die Ansätze in die
verstandenen Stress hat sich der Terminus «Stressor» eingebürgert. Kategorie «Stress als
Auslöser», die die
Es gibt diverse relevanten
Versuche, Stressoren
Stressoren zu in der Persönlichkeit
kategorisieren. von Menschen
In Hinblick auf gesund- oder
heitliche Auswirkungen ist vermutlich die Einteilung in akute und chronische
in ihren (gelernten) Verhaltensweisen sehen.
Stressoren am wichtigsten,
Im Folgenden werdenda diese
zwei unterschiedliche
Ansätze Adaptationsleitungen
der Stressforschung dessich
vorgestellt, die Kör-
vor
pers erfordern.
allem auf die Andere Einteilungen
auslösende Situationordnen Stressoren
konzentrieren: nach
Die relevanten Lebensbe-
Life-event-Forschung und
reichen, also familiären
als Beispiel Stress, beruflichen Stress, gesundheitlich
für einen persönlichkeitstheoretischen bedingten Stress
Zugang das Typ-A-Verhaltens-
muster.
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112 7. Stress

usw. Und schließlich gehören auch noch all die Ansätze in die Kategorie «Stress als
Auslöser», die die relevanten Stressoren in der Persönlichkeit von Menschen oder
in ihren (gelernten) Verhaltensweisen sehen.
Im Folgenden werden zwei Ansätze der Stressforschung vorgestellt, die sich
vor allem auf die auslösende Situation konzentrieren: Die Life-event-Forschung
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und als Beispiel für einen persönlichkeitstheoretischen Zugang das Typ-A-Ver-


haltensmuster.

7.2.1
Life-event-Forschung
Lebensereignisse sind im Rahmen der Stressforschung unter der Fragestellung
interessant, ob – und wenn ja, wie – sie gesundheitliche Veränderungen bedingen.
Der im Deutschen gebräuchliche Begriff «kritische Lebensereignisse» zeigt, dass es
sich dabei vor allem um größere Lebensveränderungen wie Umzug, Geburt eines
Kindes, Kündigung oder neuer Job, Heirat, Scheidung, Konkurs oder Lottogewinn
handelt. Es sollte sich um ein auch von außen erkennbares Ereignis handeln, nicht
um etwas primär subjektiv Erlebtes. Angenommen wird, dass Ereignisse, wie die
oben beschriebenen, Adaptation erfordern, und dass alle Ereignisse im Leben eines
Menschen, die eine solche Anpassung erfordern, die Gesundheit beeinflussen und
Krankheit auslösen können. Da die Ereignisse nicht automatisch bzw. reflexhaft
«abgehakt» werden, lösen sie eine emotionale Erregung aus, die Veränderungen in
physiologischen Prozessen bedingt und schließlich zu Erkrankungen führen kann.
Protagonisten der Life-event-Forschung waren Holmes und Rahe, die 1967
ein Messinstrument zur Erfassung von Lebensereignissen (Social Readjustment
Rating Scale) entwickelten, dessen Summenwert sie in direkte Verbindung mit
dem Risiko für bestimmte Erkrankungen brachten. Unter der Annahme, dass
das Wesentliche an einem Lebensereignis ist, dass es etwas im Leben verändert
und Anpassung erfordert, und nicht, ob es als positiv oder negativ bewertet
wird, ließen sie zur Entwicklung der Skala ausgehend von dem Referenzereignis
«Heirat» mehr als 5000 Personen unterschiedliche Lebensereignisse daraufhin
beurteilen, ob sie ein Ereignis darstellten, das Anpassung erforderte. Insgesamt
43 Lebensereignisse wurden von den befragten Personen daraufhin bewertet, wie
viel Anpassung sie erforderten. Aus den Antworten wurde dann für jede Person
ein Lebensveränderungsindex (Life Change Unit - LCU) berechnet; der höchst-
mögliche Summenwert ist 300. Tabelle 3 zeigt einige Items aus der Skala.
Holmes und Rahe zufolge sind Personen, deren Lebensveränderungs-Score im
Laufe eines Jahres 150 Scorepunkte oder mehr umfasst, in einer Lebenskrise
und gefährdet zu erkranken. In verschiedenen empirischen Studien konnten sie
Zusammenhänge zwischen dem Ausmaß der Lebenskrise und dem Risiko für
plötzlichen Herztod nachweisen.

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7.2 Stress als Auslöser 113

Tabelle 3: Auszug aus der Social Readjustment Scale (Holmes & Rahe 1967).

Rang Lebensereignis LCU-Wert


1 Tod des Ehepartners/der Ehepartnerin 100
2 Scheidung 73
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4 Gefängnisstrafe 63
6 Krankheit oder Verletzung 53
7 Heirat 50
8 Kündigung der Arbeitsstelle 47
12 Schwangerschaft 40
13 Sexuelle Schwierigkeiten 39
26 Ehefrau beginnt einen Job oder hört auf 26
35 Veränderung in kirchlichen Gemeindeaktivitäten 19
40 Veränderung der Essgewohnheiten 15
42 Weihnachten 12
43 Kleine Gesetzesübertretungen 11

Holmes’ und Rahes Forschung wurde sowohl wegen methodischer Mängel als
auch wegen der ungeklärten theoretischen Basis angegriffen. Auch konnten spä-
tere – vor allem prospektive – Studien die prognostizierten Zusammenhänge
zwischen lebensveränderndem Ereignis und verschiedenen Erkrankungen nicht
eindeutig bestätigen.
Die Methodenkritik machte sich vor allem am Messinstrument fest. Einige
Items zum Beispiel lassen sehr viel Raum für Interpretation: Was sind kleine Geset-
zesübertretungen? Falschparken etwa, Schwarzfahren oder Falschangaben bei
der Einkommenssteuererklärung? Andere Items sind untauglich zur Erfassung
von Auslösern für gesundheitliche Beeinträchtigungen, weil sie die Folge einer
gesundheitlichen Beeinträchtigung sein können; dies gilt etwa für das Item der
veränderten Essgewohnheiten. Und auch, dass die Ereignisse je nach Geschlecht
unterschiedliche Anpassungsleistungen erfordern, berücksichtigen die Items
nicht – am Beispiel der Schwangerschaft müsste dies auch denen einleuchten, die
bar jeder Sensibilität für die Unterschiedlichkeit von Frau und Mann sind.
In der Folgezeit wurden diverse andere Ereignislisten konstruiert, die jedoch die
grundsätzlichen methodischen Probleme dieses Instruments nicht lösen konnten.
Die Prämisse, dass Lebensereignisse für alle Menschen die gleiche Relevanz
haben, bedeutet eine vollständige Ignoranz gegenüber den unterschiedlichen

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114 7. Stress

Lebenslagen. Denn völlig unabhängig von dem emotionalen Leid, das der Tod
des Ehemanns bedeutet, macht es einen Unterschied, ob die Witwe anschließend
mit einer guten Pension und auf der Basis von zwei hohen Lebensversicherungen
lebt oder ob sie und ihre drei Kinder den Alleinverdiener der Familie verloren
haben. Beide Ereignisse mit einem Score von 100 zu belegen, ist Zynismus, nicht
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wissenschaftliche Objektivität.
Da Ereignislisten sich auf einen recht langen zurückliegenden Zeitraum
beziehen – in der Regel auf ein Jahr – unterliegen sie in Abhängigkeit von der
Person und ihren Bewältigungsmöglichkeiten, ihren Lebensumständen und den
Konsequenzen des Ereignisses zahlreichen Erinnerungsfehlern. Als alternatives
Verfahren wurden vor allem Interviews angewandt; diese sind jedoch in Durch-
führung und Auswertung sehr zeitintensiv und als retrospektive Methode eben-
falls ungeeignet, Stressbelastungen zu erfassen.
Die Annahme, es sei weniger ausschlaggebend, ob das Ereignis als positiv
oder negativ bewertet wird, sondern es komme darauf an, ob das Ereignis etwas
im Leben verändert und Anpassung erfordert, wurde seit Beginn der Life-event-
Forschung angezweifelt. In der Tat konnten die von Holmes & Rahe gezeigten
Zusammenhänge zwischen dem Ausmaß der Lebensveränderung und dem
Eintreten von Krankheiten nicht bestätigt werden. Es scheint sogar eher so zu
sein, dass positive Ereignisse die Funktion eines Stresspuffers angesichts nega-
tiver Ereignisse übernehmen können, dass also zum Beispiel die Freude an einer
neuen Wohnung den Schmerz über die Trennung vom Partner, die Anlass für
den Umzug war, schneller bewältigen lässt.
Und last but not least erweist es sich als weiteres entscheidendes metho-
disches Problem der Ereignislisten, dass sie die wichtigen «Nicht-Ereignisse» im
Leben von Menschen nicht berücksichtigen: Die ersehnte, aber nicht eingetre-
tene Schwangerschaft; die erhoffte, aber ausgebliebene Beförderung; die nicht
fertiggebrachte Promotion; Ereignisse, deren Nichteintreten für die Betrof-
fenen einen erheblichen – oft chronischen – Stress bedeuten.
Besonders heftig wurde der Life-event-Ansatz von der Gruppe um Richard S.
Lazarus (vgl. Kap. 7.3) angegriffen. Diese Forscherinnen und Forscher stellten
die Grundannahme in Frage, dass es personenunabhängige, objektivierbare
Lebensereignisse gibt, die für alle Menschen gleichermaßen Stress auslösen. Ein
Lebensereignis könne, so ihre Kritik, immer nur in dem Maße als Stress wirken,
in dem es subjektiv von der Person als stressreich erlebt werde. Je nach Person
und ihren persönlichen Bewältigungsfähigkeiten könne ein Lebensereignis somit
für unterschiedliche Personen völlig Unterschiedliches bedeuten.
Aus diesem Grunde sei auch die Annahme unsinnig, nur die «großen» Lebens-
ereignisse hätten Relevanz für Gesundheit und Krankheit. Es seien vielmehr die
kleinen täglichen Widrigkeiten, die «daily hassles», die Menschen belasteten,

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7.2 Stress als Auslöser 115

ständige Neuadaptation erforderten und zu Überbelastung führen könnten – der


nicht zu findende Schlüssel, wenn man es gerade eilig hat, die durchgeknallte
elektrische Birne, die vergessene Überweisung, die Mahngebühren nach sich
zieht, die auf dem Klavier umgekippte Blumenvase; all die ärgerlichen, lästigen
und frustrierenden Angelegenheiten des Alltags somit, die das Wohlbefinden
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stören und emotionale Erregung auslösen.


Trotz der zahlreichen Kritikpunkte und obwohl die empirischen Daten die
von Holmes und Rahe formulierten Zusammenhänge zwischen Lebensereig-
nissen und nachfolgenden Erkrankungen nicht überzeugend bestätigten, wurde
der Life-event-Ansatz weiter verfolgt. Methodische Verbesserungen bestanden
darin, die relevanten Lebensereignisse individueller zu erheben und prospektive
Studiendesigns zu entwickeln, vor allem aber in der Anwendung psychoneuroim-
munologischer Verfahren. Untersucht werden die komplexen Vorgänge zwischen
Nervensystem, endokrinem System, Immunsystem und Verhalten – und die
Veränderungen dieser Vorgänge im Kontext der Lebensereignisse. Dabei haben
sich durchaus Zusammenhänge zwischen Intensität und Häufigkeit von Lebens-
ereignissen und dem Auftreten und Verlauf bestimmter Krankheiten erkennen
lassen. So scheint es inzwischen ziemlich gesichert zu sein, dass chronischer
Stress in seinen gesundheitlichen Auswirkungen schädlicher ist als einmalige oder
kurzfristige Belastungen. Menschen, die über längere Zeiträume Stress ausgesetzt
sind wie etwa pflegende Angehörige oder Arbeitslose, weisen in Untersuchungen
regelmäßig schlechtere gesundheitliche Werte auf als vergleichbare Personen ohne
diese Stressoren. Insgesamt jedoch blieben die Ergebnisse der psychoneuroimmu-
nologischen Forschung bisher widersprüchlich, und auch Metaanalysen konnten
den Beleg, dass direkte Zusammenhänge zwischen Life-events und Erkrankungen
bestehen, nicht erbringen (Jones & Bright 2001, Filipp & Aymanns 2010).
Ungeachtet der bisher eher mageren Bilanz wird somit am Life-event-Ansatz
nicht nur festgehalten, sondern kommt er im Gewand der Psychoneuroimmuno-
logie als neuer Hoffnungsträger daher. Warum?
Meines Erachtens aus zwei Gründen: Erstens nährt er die Hoffnung, er könne
unabhängige Maße für Stress liefern, die nicht durch die subjektive psycholo-
gische Interpretation beeinflusst sind. Subjektivität verunsichert und ärgert
nicht wenige sich als objektive Wissenschaftler verstehende Forscher so wie der
schief wachsende Grashalm den zwanghaften Gärtner. Subjektivität ist unkon-
trollierbar, spontan und schlecht zu zähmen und daher der natürliche Feind der
vermeintlichen wissenschaftlichen Objektivität. Darüber hinaus – und vielleicht
ist dies sogar der wichtigere Grund – bildet der Life-event-Ansatz offensichtlich
die Plausibilitätsstrukturen vieler Menschen ab. Der Zusammenhang zwischen
etwas Wichtigem, das einem im Leben zugestoßen ist und einer nachfolgenden
Erkrankung entspricht den subjektiven Krankheitstheorien vieler Menschen

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116 7. Stress

(vgl. Kap. 12): Wir bringen den Brustkrebs einer Frau damit in Verbindung, dass
ihr Mann sie ein halbes Jahr vor der Diagnosestellung verlassen hat, erklären
das schnelle Grauwerden der Haare einer jungen Mutter mit dem schweren Ver-
kehrsunfall ihres Kindes, das seither gelähmt ist, und führen den Schlaganfall
eines Rentners darauf zurück, dass seine Frau vor vier Monaten verstorben ist.
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In entsprechenden Befragungen zeigte sich, dass etwa die Hälfte der Befragten
bestimmte Erkrankungen mit dem Auftreten von Life-events in Zusammenhang
bringen – Professionelle im Gesundheitssystem und Laien unterscheiden sich
diesbezüglich nicht.

7.2.2
Persönlichkeits- und verhaltenstheoretische Ansätze
Den persönlichkeits- und verhaltenstheoretisch orientierten Ansätzen der Stress-
forschung liegt die Annahme zu Grunde, dass es überdauernde Persönlichkeits-
züge oder Verhaltensweisen gibt, die den Umgang mit Stress beeinflussen und auf
diesem Wege Einfluss auf die Krankheitsentstehung haben.
Das bekannteste Konzept dieser Richtung ist das «Typ-A-Verhaltensmuster»,
das aus klinischen Beobachtungen an Patienten mit Herzerkrankungen resultiert.
Diesen Beobachtungen zufolge zeichnen sich Personen mit Herzerkrankungen,
insbesondere Herzinfarkt, häufig durch überhöhten Ehrgeiz, verbissenes Arbeits-
verhalten, permanenten Zeitdruck und Ungeduld aus, sie sind ständig in Kampf-
bereitschaft und auf der Überholspur. Diesem charakteristischen Muster von
Verhalten und emotionalen Reaktionen gaben Friedman und Rosenman (1959)
den Namen «Typ-A-Verhalten», und sie lösten eine rege Forschungstätigkeit aus,
die Zusammenhänge zwischen diesem Persönlichkeits- und Reaktionsmuster
und Herzerkrankungen untersuchte. Wenn sich auch die Zusammenhänge im
Großen und Ganzen in den meisten Studien bestätigen ließen, so zeigte sich doch,
dass das Ausmaß der gefundenen Abhängigkeit erheblich davon abhing, wie
Typ-A-Verhalten konkret definiert und mit welchen Methoden es erfasst wurde.
Nach heutigem Wissensstand steht vor allem das Vorhandensein von negativen,
feindlichen Emotionen mit dem Auftreten von Herzerkrankungen in Verbindung.
Unbefriedigend ist sicherlich, dass – selbst wenn sich ein Zusammenhang mit Cha-
rakteristika der Typ-A-Persönlichkeit noch deutlicher nachweisen ließe – immer
noch nicht klar ist, in welcher Weise gerade dieses Verhaltensmuster die riskanten
körperlichen Reaktionen auslöst und noch weniger, unter welchen Bedingungen
eine Person gerade dieses Verhalten erlernt und aufrechterhält, obwohl es ihrer
Gesundheit schadet.
Doch es wurde in der Stressforschung nicht nur nach Persönlichkeits- und
Verhaltensvariablen gesucht, die mit dem Auftreten von Krankheiten in Ver-

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7.3 Stress als Interaktion 117

bindung stehen, sondern auch nach solchen, die Menschen besonders stressre-
sistent machen und die die Gesundheit fördern. Auf eines dieser Konzepte, das
Konstrukt des Kohärenzgefühls nach Antonovsky, wird in Kapitel 9.1.2 näher
eingegangen. Als weitere wichtige Variablen werden Persönlichkeitsvariablen
wie Optimismus, Widerstandsfähigkeit, Selbstwertgefühl und internale Kon-
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trollüberzeugung, also die Überzeugung, Kontrolle über sein Leben und seine
Handlungen zu haben, diskutiert und untersucht (Rice 1999).

7.3
Stress als Interaktion
Die entscheidenden Impulse, Stress als interaktiven Prozess zu untersuchen,
gingen von Richard S. Lazarus und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in
Berkeley aus. In Lazarus’ Verständnis ist Stress «[…] not just an environmental
stimulus or a response, but a troubled relationship between a person and the envi-
ronment» (1998, S. 168).

Richard S. Lazarus wurde 1922 in New York geboren. Sein Elternhaus


beschreibt er sowohl im ökonomischen als auch im emotionalen Sinne als
kärglich. Schule und Studium finanzierte er durch diverse Jobs. Nach seiner
Graduierung am City College in New York begann er 1942 ein Abendstudium
in Psychologie, wurde jedoch bereits im darauf folgenden Jahr ins Militär ein-
gezogen, wo er bald – ohne adäquate Ausbildung – zum Militärpsychologen
avancierte. Nach Abschluss des Zweiten Weltkriegs und seiner Entlassung aus
dem Militär setzte er 1946 das Psychologiestudium fort. 1948 wurde er Assi-
stenzprofessor an der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore, 1953 wech-
selte er als Leiter des Ausbildungsprogramms in klinischer Psychologie an die
Clark-Universität in Worcester, Massachusetts. 1957 wurde er als Professor
nach Berkeley berufen, wo er bis zu seiner Emeritierung 1991 blieb. Er starb
2002 in Kalifornien. Er veröffentlichte 20 Bücher und mehr als 200 Artikel.

Lazarus begann seine Forschungen zu einem Zeitpunkt, als die Stressforschung


sensu Selye Stress im Sinne einer allgemeinen Reaktion definierte und das
Gemeinsame an dieser Reaktion untersuchte. Lazarus’ eigene Beobachtungen
als Militärpsychologe hatten ihn dagegen davon überzeugt, dass Menschen nicht
uniform auf einen Stressor reagieren, sondern dass der gleiche Stressor in der
gleichen Situation von verschiedenen Menschen sehr unterschiedlich verarbeitet
werden kann. Entgegen dem herrschenden Paradigma der 1950er/1960er-Jahre,
nach dem in der Psychologie wie in der Stressforschung vor allem Gemeinsam-

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118 7. Stress

keiten und Regelhaftigkeiten menschlichen Verhaltens gesucht wurden, ging er


davon aus, dass individuelle kognitive und emotionale Variablen den Umgang
mit Stressoren beeinflussen und auf diese Weise wesentlichen Anteil daran
haben, ob ein Stressor das Risiko für eine Krankheit erhöht bzw. diese gar auslöst.
Bekannt wurde Lazarus’ Ansatz unter dem Begriff der Coping-Theorie. So wie
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man sich schwer vorstellen kann, wie die Menschen vor 1950 ohne den Begriff
Stress ausgekommen sind, ist heute auch kaum mehr vorstellbar, dass der Begriff
«Coping» erst 1967 zum ersten Mal offiziell als Fachterminus auftauchte, und zwar
in den Psychological Abstracts (Snyder & Dinoff 1999). In seiner Autobiographie
(1998) beansprucht Lazarus die Begriffsprägung für sich – wobei er allerdings
mit feiner Ironie darauf verweist, dass sich die hinter diesem Konzept stehende
moderne Idee bis etwa 1400 vor Christus zurückverfolgen lasse. Offensichtlich
machte es Lazarus Spaß, sich über psychologische Richtungen zu mokieren, die
sich aus einem der «Objektivität» verpflichteten Wissenschaftsverständnis einem
nomothetischen und behavioralen Ansatz verschrieben haben. In seiner Autobi-
ographie wird deutlich, dass er sich hiermit Genugtuung gegenüber berühmten
Kollegen in Berkeley verschafft, denen als naturwissenschaftlichen Psychologen
leichter die wissenschaftliche Anerkennung zufiel, die ihm als klinisch orien-
tiertem Psychologen im akademischen Kontext nur schwer zugebilligt wurde.
Lazarus’ Arbeit und die seiner Kolleginnen und Kollegen konzentrierte sich
auf drei Phänomene: Stress, Appraisal und Coping. Diese Begriffe haben sich
auch im Deutschen weitgehend eingebürgert; die deutsche Übersetzung für App-
raisal ist «kognitive Bewertung», für Coping «Bewältigung». Appraisal, Stress
und Coping sind untrennbar miteinander verwobenen, Stress existiert nicht per
se. Stress ist nur das, was von einer Person als solcher bewertet wird, und auch
nur dann kommt es zur Notwendigkeit des Coping. Stress ist relational: Er ist
durch die Beziehung zwischen Mensch und Umwelt gekennzeichnet und nicht
durch ein typisches Reaktionsmuster oder durch bestimmte Situationsbedin-
gungen. Um die gegenseitigen Beeinflussungen von Stressoren und Reaktionen
zu kennzeichnen, wird das Modell der Stressverarbeitung transaktional genannt.
Wie er Stress versteht, definierte Lazarus mit seiner Mitarbeiterin Susan Folk-
man in einer geradezu berühmt gewordenen Definition:
Psychologischer Stress bezieht sich auf eine Beziehung mit der Umwelt, die vom
Individuum im Hinblick auf sein Wohlergehen als bedeutsam bewertet wird, aber
zugleich Anforderungen an das Individuum stellt, die dessen Bewältigungsmöglich-
keiten beanspruchen oder überfordern. (Lazarus & Folkman 1984, S. 63; Überset-
zung A.F.)

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7.3 Stress als Interaktion 119

Nach dieser Definition kann somit jede Situation einen Stressor darstellen, wenn
die mit der Situation konfrontierte Person die Situation in irgendeiner Weise als
herausfordernd erlebt und nicht unmittelbar weiß, wie sie mit ihr umgehen soll.
Die Unsicherheit über die möglichen Bewältigungsmöglichkeiten ist somit ein
entscheidendes Kriterium dafür, ob ein Reiz oder eine Situation als Stressor erlebt
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werden oder nicht.


Der Prozess, in dem die Person überprüft, welche Bedeutung der Reiz für sie
hat, wird Appraisal genannt und in zwei Phasen unterteilt. Der Ablauf des App-
raisal ist wie folgt:

In der ersten Phase der Auseinandersetzung mit einem Stressor, der Phase des
primary Appraisal, überprüft die Person den Reiz, mit dem sie konfrontiert
wird, im Hinblick auf ihr Wohlergehen. Hierbei sind drei Bewertungen möglich.
Der Reiz kann (1) irrelevant für die Person sein, er kann (2) als positiv bewertet
werden oder aber (3) als einer, der die unmittelbaren Bewältigungsmöglichkeiten
überfordert, das heißt als stresshaft. Relevant für den weiteren Coping-Prozess ist
nur eine Bewertung des Reizes als stresshaft – irrelevante Reize werden ignoriert,
als positiv bewertete spielen in Lazarus’ Modell keine weitere Rolle. In seinen
jüngsten Publikationen (Lazarus 2001) fügt er noch als vierte mögliche Bewer-
tungskategorie «benefit» hinzu, also die Bewertung des Reizes als möglicherweise
etwas Gutes verheißend. Diese Kategorie spielt aber hinsichtlich des weiteren
Coping-Prozesses ebenfalls keine Rolle.
Wird der Reiz als stresshaft eingeschätzt, so wird – ebenfalls noch im primary
Appraisal – des Weiteren eingeschätzt, ob (1) bereits ein Schaden oder Verlust
eingetreten ist, ob (2) eine Beeinträchtigung droht oder ob es sich (3) um eine
positive Herausforderung handelt, das heißt um eine Auseinandersetzung oder
Anstrengung, die zwar stresshaft ist, aber für die Person interessant oder mög-
licherweise lohnend. Im Englischen wird diese Art der attraktiven Herausforde-
rung als «challenge» bezeichnet – ein Begriff, für den eine adäquate Entsprechung
im Deutschen leider fehlt.
Hat die Person nun im Rahmen des primary Appraisal festgestellt, welche
Relevanz und welche Konsequenzen der Reiz für sie haben könnte, so kommt
es in der Phase des secondary Appraisal zu einer Abschätzung der Ressourcen,
die ihr zur Bewältigung zur Verfügung stehen. In der zweiten Bewertungsphase
überprüft die Person somit, inwieweit sie Möglichkeiten und Fähigkeiten hat,
sich dem von ihr als Stressor definierten Reiz zu stellen.
Diese beiden Prozesse folgen nicht strikt zeitlich aufeinander, sondern sie beein-
flussen sich gegenseitig und können sich auch zeitlich überlappen. Und natürlich
kann es im Verlauf dieses Prozesses auch zu Neubewertungen kommen: So kann
sich bei Überprüfung der Ressourcen in der zweiten Bewertungsstufe durchaus

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120 7. Stress

herausstellen, dass ein Stressor, der zunächst auf drohenden Verlust hinwies,
angesichts der als positiv eingeschätzten Möglichkeiten, mit ihm umzugehen,
als Herausforderung, als Challenge, definiert werden kann. Andererseits kann
sich eine zunächst als Herausforderung bewertete Situation bei Überprüfung der
Bewältigungsmöglichkeiten durchaus als größeres Hindernis erweisen und eine
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mögliche Beeinträchtigung androhen. Der Prozess der sekundären Bewertung


kann somit als einer verstanden werden, in dem eine objektive Situation in eine
subjektive Realität umgewandelt wird und in der überprüft wird, welche persön-
liche Bedeutung eine Situation für eine Person hat.

Hat die Person die Bedeutung des Reizes und ihre Bewältigungsmöglichkeiten
abgeklärt, kommt es zur eigentlichen Bewältigungsphase, dem Coping. In der
Literatur, insbesondere der deutschen Literatur, hat sich eingebürgert, vom
Coping-Prozess zu sprechen, wenn eigentlich der zweiphasige Gesamtprozess
von Appraisal und Coping gemeint ist. Lazarus und Folkman jedoch unterschei-
den sehr deutlich zwischen diesen beiden Prozessen und definieren Coping als
[…] die sich dauernd verändernden kognitiven und verhaltensmäßigen Anstren-
gungen, spezifische externale und/oder internale Anforderungen zu bewältigen
(manage), die von der Person so eingeschätzt werden, dass sie ihre Ressourcen
beanspruchen oder übersteigen. (Lazarus & Folkman 1984, S. 141; Übersetzung A.F.)

Dieser Prozess des Coping, also die kognitiven und verhaltensmäßigen Anstren-
gungen, mit dem Stressor umzugehen – anders formuliert: Der Prozess des
Managements mit den Anforderungen, die als die eigenen Ressourcen beanspru-
chend oder übersteigend bewertet wurden –, folgt somit als Phase zwei den zwei
Phasen des Appraisal. Und wiederum wird zwischen zwei Arten unterschieden:
Dem problembezogenen, instrumentellen Coping und dem emotionsbezogenen
Coping. Emotionsbezogenes Coping ist primär darauf ausgerichtet, mit den eige-
nen Gefühlen in der Situation klar zu kommen. Dem instrumentellen Coping
werden all die Anstrengungen zugeordnet, die auf eine Veränderung der Situa-
tion abzielen.

Typische Strategien instrumentellen Copings:


• Einholen von Informationen (alle möglichen Informationsquellen anzap-
fen: telefonieren; Internet; Beratungsstellen; Selbsthilfegruppen; Suchan-
zeige aufgeben)
• Einholen sozialer Unterstützung (in Verwandtschaft und Freundeskreis
um Hilfe bitten; Haushaltshilfe organisieren; Nachbarin bitten, auf die
Wohnung aufzupassen; Freundin bitten, zum Arzt mitzugehen)

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7.3 Stress als Interaktion 121

• Problemorientiertes Handeln (Problem eingehend analysieren; Situation


verändern; Umzug, Stellenwechsel; sich an Professionellen wenden; Aus-
hang machen)

Typische Strategien emotionsbezogenen Copings:


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• Kognitives Umstrukturieren (sich sagen, dass es anderen noch schlechter


geht; die humorvolle Seite der Angelegenheit sehen; sich sagen, dass alles
noch schlimmer hätte kommen können; «wer weiß, wofür es gut war.»)
• Sich innerlich distanzieren (nicht daran denken; sich ablenken; weiter-
machen, als ob nichts sei; «Indianer kennen keinen Schmerz»)
• Gefühle ausdrücken (sich aussprechen; weinen; Gefühle durch Mimik
und Gesten ausdrücken; rumbrüllen; Teller an die Wand schmeißen)

Der gesamte Ablauf des Coping-Prozesses ist in Abbildung 8 dargestellt.

Abschließend noch einige Bemerkungen zu den Forschungsaktivitäten und eini-


gen Ergebnissen zum transaktionalen Modell:
Die Stress- und Coping-Forschung beschäftigte sich intensiv mit der Frage,
welche Reize und Ereignisse am ehesten geeignet sind, als stresshaft bewertet zu
werden. Ein Versuch war die Erfassung von bedeutsamen lebensverändernden
Ereignissen. Wie bereits erwähnt, lehnten Lazarus und seine Gruppe, das so
genannte Berkeley-Stress-and-Coping-Project, die Annahme von Life-events
als personunabhängige Stressoren ebenso ab wie diejenige, dass nur die großen
Ereignisse im Leben Auswirkungen auf Gesundheit und Krankheit haben
sollten. Sie maßen den kleinen Alltäglichkeiten, die das Wohlbefinden stören und
physiologische Erregung produzieren, den daily hassles, größere Bedeutung bei
und sahen sich durch ihre Forschungen empirisch bestätigt. Auch nachfolgende
Forschung bestätigt eher die Bedeutung der täglichen Ärgernisse als die der
großen Ereignisse für die Gesundheit – doch lässt sich ein wirklicher Vergleich
methodisch nur schwer realisieren. Gesundheitliche Folgen lebensverändernder
Ereignisse treten in der Regel nicht unmittelbar auf, sondern mit einem Schläfer-
effekt von mehreren Monaten, in denen dann bereits wieder viele kleine Widrig-
keiten aufgetreten sind – eine Isolierung der relevanten Variablen ist also kaum
möglich.
Von beiden Fraktionen blieb in der Diskussion unbeachtet, dass life-events
und daily hassles in der Regel nicht unabhängig voneinander sind. Häufig geht
einem großen Lebensereignis eine Reihe kleiner Widrigkeiten voraus: Erst tropft
der Wasserhahn und die Duschwanne ist undicht, dann klemmt die Balkontür,

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122 7. Stress
7.3 Stress als Interaktion 109

Situation/Reiz
Dimensionen: Intensität, Dauer, Ambiguität
Vorhersagbarkeit, Kontrollbarkeit
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Kognitive Bewertung

Primäre Bewertung
positiv irrelevant
Reiz ist:
Appraisal

Stresshaft

Konzepte über die eigene Person, Ziele, Werte,


Schaden/ Bedrohung Challenge
Verlust

Copingprozes

Überzeugungen
Person
Sekundäre Bewertung
nein nein

Sind Ressourcen vorhanden?

ja

Bewältigung
Coping

Instrumentelles Emotionales
Coping Coping

Abbildung8:8:Transaktionales
Abbildung TransaktionalesStressmodell
Stressmodellnach
nach R.
R.S.S.Lazarus.
Lazarus.

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7.3 Stress als Interaktion 123

dann wird die Miete erhöht – und wenn dann auch noch im Winter die Heizung
ausfällt, kommt es zu Wohnungskündigung und Umzug. Und ebenso ziehen
große Veränderungen kleine Widrigkeiten nach sich: Die Witwe muss nicht nur
den Tod ihres Mannes verarbeiten, sondern auch, dass sie als Alleinstehende
nicht mehr zum Sommerfest des Ruderclubs eingeladen wird, dass sie im Restau-
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rant an einem kleinen Ecktisch platziert wird und dass sie sich jetzt allein um
Bankangelegenheiten und Steuern kümmern muss.
Andere Versuche, Stressoren zu kategorisieren, unterscheiden nach der Dauer
der Stressoren – akut oder chronisch – oder nach den Lebensbereichen, in denen
sie primär auftreten wie Familie, Arbeitsplatz, Wohnumfeld. Auch Stressoren,
die im Umgang mit Krankheiten, der Krankenversorgung und medizinischen
Maßnahmen eine Rolle spielen, haben gesonderte Aufmerksamkeit erfahren.
Dimensionen wie die Intensität des Reizes, die Eindeutigkeit einer Situation und
ihre Kontrollierbarkeit, ob sie bekannt ist oder eine Person vor eine gänzlich
neue, unvorhergesehene Situation stellt, dies alles sind Variablen, die überprüft
wurden und die den Forschungsergebnissen entsprechend mit darüber entschei-
den können, ob ein Reiz oder eine Situation einen Stressor darstellen oder nicht.
Letztlich kann man als Ergebnis festhalten, dass jedes Ereignis und jeder Reiz
Stressor sein kann – oder eben auch nicht, je nachdem, ob er von einer Person als
solcher bewertet wird – oder eben nicht.
Viel forscherische Energie ist auch darein geflossen, Coping-Strategien und
ihre Angemessenheit im Hinblick auf die Problemlösung zu untersuchen. Dem
instrumentellen, problembezogenen Coping werden u. a. problemorientiertes
Handeln, konfrontative Auseinandersetzung und das Einholen von Informatio-
nen und von sozialer Unterstützung zugeordnet, während das emotionsbezogene
Coping häufig als defensive Strategie bewertet und daher auch als palliatives
Coping bezeichnet wird – es lindert den Schmerz, hilft aber nicht, das Problem zu
lösen. Insgesamt suggeriert die Einteilung, es könne zwei unterscheidbare Strate-
gien geben: Eine, die geeignet ist, das Problem zu lösen, die andere, die allenfalls
dazu taugt, die eigenen negativen Gefühle zu verändern.
Doch die Trennung zwischen emotionalem und instrumentellem Coping,
die Lazarus und Folkman im Zuge der Entwicklung eines Fragebogens (Ways-
of-Coping-Checklist, WOCCL) auf Basis einer Faktorenanalyse vornahmen,
ließ sich in Nachfolgestudien nicht so eindeutig replizieren. Und auch in der
Praxis ist sie keineswegs so klar, wie es auf den ersten Blick scheinen mag: Der
Wutausbruch einer überforderten Mutter von drei Teenagern mag dem emoti-
onalen Dampfablassen dienen, er kann aber auch der Auslöser dafür sein, dass
der Ehemann endlich die Garage aufräumt und der Sohn sein Zimmer, dass
eine Tochter die Blumen gießt und die andere ihre Haare aus dem Waschbecken
wischt.

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124 7. Stress

Das emotionale Coping kann somit sehr wohl problemlösend sein. Auch wenn
eine Person in einer für sie schwierigen Situation weint, so ist das zunächst ein-
mal die Äußerung von Unwohlsein. Man kann es als hilflos-emotionale Reaktion
auffassen und könnte dann untersuchen, welches Coping-Verhalten geeignet sein
kann, Weinen zu verhindern. Man kann Weinen aber auch selbst als Coping auf-
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fassen. Weinen bringt Erleichterung und reduziert Anspannung und kann in die-
sem Sinne als emotionsgerichtete Coping-Strategie verstanden werden, weil sie das
Unwohlsein auflöst. Und es gibt auch ausreichend Hinweise darauf, dass Weinen
erhebliche Auswirkungen auf das Verhalten anderer Menschen hat: Es löst Hilfe
aus und stoppt gegen die Person gerichtetes aggressives Verhalten. So betrachtet
kann Weinen durchaus auch als problemorientierte, instrumentelle Coping-
Strategie betrachtet werden. Und bei anhaltendem Streit mit dem Partner einfach
alleine in Urlaub zu fahren, sich abzulenken und neue Leute kennen zu lernen,
kann – obwohl der Coping-Kategorie «Fluchtverhalten» zuzuordnen – durchaus
erfolgreicher sein als ein erneutes zermürbendes Beziehungsgespräch zu führen.
Die Zuordnung von Coping-Strategien zu Funktionen mag somit forschungsme-
thodisch wünschenswert sein, sie lässt sich jedoch in der Praxis nicht aufrecht-
erhalten. Bei näherer Betrachtung zeigt sich vielmehr, dass nahezu alle Verhal-
tensweisen beiden Funktionen dienen und allenfalls eine Gewichtung (häufig in
zeitlicher Variation) zwischen Emotions- und Situationsregulation möglich ist.
Der Versuch, Coping-Strategien zu finden, die besonders geeignet sind, war
letztlich erfolglos. Wichtiger, als die eine gute Coping-Strategie zu suchen, ist es
offenbar, viele verschiedene Bewältigungsfertigkeiten zu haben, die je nach Situ-
ation flexibel einsetzbar sind – manchmal empfiehlt sich Schweigen, manchmal
Reden, mancher Stress erledigt sich mit Humor, anderer durch konzentriertes
Arbeiten und wieder anderer durch Ausschlafen.
In seinen letzten Publikationen fasst Lazarus (1999, 2001) die wesentlichsten
Ergebnisse seiner Forschung wie folgt zusammen:

Coping ist ein Prozess, der drei Prinzipien unterliegt:


• Coping verändert sich permanent.
• Coping muss unabhängig von seinem Ergebnis bewertet werden.
• Coping besteht aus dem, was ein Individuum denkt und tut, um mit den
Anforderungen umzugehen.

Angesichts der immensen Zahl von Forschungsarbeiten, die über Stress und
seine Bewältigung geschrieben worden sind, wirkt die Drei-Punkte-Zusammen-
fassung etwas mager. Aber ohne Frage ist sie die Essenz des Wissens über Stress
und Coping.

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7.4 Stress und Gesundheit und Krankheit 125

7.4
Stress und Gesundheit und Krankheit
Daran, dass Stress mit Gesundheit und Krankheit in Verbindung steht, gibt es
wohl kaum Zweifel. Aber auf welchen Wegen beeinflusst Stress die Gesundheit?
Schaut man sich die Forschungsliteratur an, die sich mit diesem Thema
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beschäftigt, so fällt als Erstes auf, dass die negativen Auswirkungen von Stress
ungleich intensiver untersucht worden sind als die potentiell gesundheitsförder-
lichen. Die Frage, ob und wenn ja, inwieweit positiver, als attraktive, lohnende
Herausforderung erlebter Stress gesundheitsförderlich ist, und auf welchem Wege
diese Effekte entstehen, hat die Forschung bisher wenig umgetrieben. Deutlich
mehr Aktivität wurde investiert, um die negativen gesundheitlichen Auswir-
kungen von Stress zu untersuchen. Diese werden im Wesentlichen in direkte und
indirekte Einflüsse unterteilt und unter folgenden Aspekten diskutiert:
Ausgehend von der These, dass der Stress direkten Einfluss auf den Organis-
mus hat, wird als ein Haupteffekt die nicht abgebaute Erregung angenommen.
Die wenigsten Menschen sind heute in der Lage, aufgebaute Erregung motorisch
abzuführen. Eine meiner Freundinnen pflegt zu sagen, dass der Mensch schließ-
lich für die Steinzeit erschaffen worden sei, nicht für ein zivilisiertes Leben in
überfüllten U- und S-Bahnen, in Büros und 60-Quadratmeter-Wohnungen, in
denen er Kleiderordnungen, Höflichkeitsregeln und andere Einschränkungen
seiner archaischen Reaktionen beherrschen muss. Nicht abgebaute Erregung
jedoch führt zu einer Dauererregung, Entspannung wird unmöglich, und die
durch das hohe Erregungsniveau ausgelösten physiologischen Reaktionen führen
letztendlich zu körperlichen Schädigungen.
Werden Belastungsphasen nicht von Phasen der Entspannung und der Erho-
lung unterbrochen, in denen der Körper sich wieder regenerieren kann, so passt
er sich an ein Leben mit der chronischen Belastung an. Die Ausdehnung des
Widerstandsstadiums ist jedoch nicht unbegrenzt möglich, und bei nicht mehr
möglicher Anpassung bricht der Organismus schließlich erschöpft zusammen.
In diesem Erschöpfungsstadium kann es zu ernsthaften Organerkrankungen
kommen. Hinzu kommt, dass der Organismus bei einem über lange Zeit auf-
rechterhaltenen erhöhten Widerstandsniveau seine natürliche Fähigkeit zur
Selbstregulation verliert und auch in Phasen minderer Belastung nicht mehr auf
ein normales Ruheniveau zurückkehren kann.
Ein weiterer wichtiger Faktor ist die durch andauernden Stress geschwächte
Immunkompetenz. Während kurzfristige, akute Belastungen das Immunsystem
durchaus positiv stimulieren können, scheinen chronische Belastungen zu einer
Abschwächung immunologischer Parameter zu führen. Psychoneuroimmu-
nologische Forschung zeigt, dass es Verbindungen zwischen dem vegetativen
Nervensystem und den Zellen des Immunsystems gibt, was auf die Möglichkeit

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126 7. Stress

einer direkten Kommunikation zwischen dem Nerven- und dem Immunsystem


hinweist.
Eine zweite Forschungsrichtung schreibt dem Stress eine eher indirekte Beein-
flussung zu, mediiert u. a. durch genetische Prädispositionen, Persönlichkeitsva-
riablen, frühere Erfahrungen, kognitive Variablen, den individuellen Lebensstil
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oder die sozioökonomische Situation. Diese Variablen beeinflussen sowohl Art


und Häufigkeit des Auftretens von Stressoren als auch deren subjektive Bewer-
tung und dementsprechend auch die gesundheitlichen Effekte.
Zu den indirekten Einflussvariablen zählt auch die Rolle des gesundheitsrele-
vanten Verhaltens: In Belastungssituationen tendieren Menschen dazu, gesund-
heitsschädliche Verhaltensweisen wie Rauchen, Alkoholkonsum, ungesunde
Ernährung zu realisieren, wodurch das Erkrankungsrisiko direkt erhöht werden
kann. Längerfristig vermindern diese so genannten Risikoverhaltensweisen (vgl.
Kap. 8.1.2) die allgemeine Belastbarkeit und tragen zu einer rascheren Erschöp-
fung der Widerstandskräfte bei.
Gleichzeitig haben diese Risikoverhaltenweisen jedoch unbestritten auch posi-
tive Effekte. Rauchen etwa ist fraglos ein gesundheitsschädigendes Verhalten,
kann jedoch in angespannten Situationen durchaus auch zu einem Spannungs-
abbau führen und damit Stress reduzieren. Und gar nicht so wenige Menschen
halten beruflichen Stress und Leere am Wochenende nur aus und bringen sich
nicht um, wenn sie ihre Angst und Depressionen im Alkohol ertränken können.
In Abbildung 9 werden noch einmal die wesentlichen Variablen zusammenge-
fasst, die den Zusammenhang von Stress und Gesundheit beeinflussen können.

Weiterführende Literatur
Rensing, L., Koch, M., Rippe, B. & Rippe, V. (2005). Mensch im Stress: Psyche, Körper, Mole-
küle. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag.
Vingerhoets, A. (2004). Stress. In A. Kaptein & J. Weinman (eds.), Health Psychology (pp.
113–140). Malden/Oxford/Carlton: Blackwell Publishing.

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7.4Stress
7.4 Stressund
undGesundheit
Gesundheitund
undKrankheit
Krankheit 127115

Situation/Reiz
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Kognitive Bewertung

Subjektiver Stressor
Moderierende Variablen:
– Alter – Coping
– Geschlecht – soziale Unterstützung
– Persönlichkeitsvariablen
– Konstitution
– erworbene Schädigungen
– Lebensstil
– soziale Schicht

Erregung/AAS

Gesundheitsstatus

Gesundheitsverhalten,
Risikoverhalten

– Rauchen
– Bewegungsmangel
– Ernährung

Abbildung 9: Auswirkungen von Stress auf den Gesundheitsstatus


Abbildung 9: Auswirkungen von Stress auf den Gesundheitsstatus.

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129

8
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Krankheitsmodelle

Krankheit, Siechtum und Tod gehören mit Dürre, Hagelschlag, Überschwemmung


und anderen schreckensvollen Ereignissen zu den großen Plagen der Menschheit
seit Anbeginn. Kein Wunder, dass Krankheit seit jeher Gegenstand des Handelns und
Nachdenkens gewesen ist. (Karl E. Rothschuh 1975, S. 1)

Ebenso, wie sich die Krankheiten selbst und ihre sozialen Auswirkungen ver-
ändert haben, haben sich auch die Erklärungen des Phänomens verändert. Die
Bemühung, Krankheiten nicht als göttliche Botschaft – zumeist im Sinne einer
Strafe oder Prüfung – zu verstehen, sondern als Phänomen, für das natürliche
Ursachen gefunden werden können, geht auf Hippokrates zurück. Nach der von
ihm begründeten Humoralpathologie entstand Krankheit durch den Einfluss
von Nahrung und Umwelt und hatte ihren Ort in den vier Körpersäften. Diese
Ideologie prägte das medizinische Denken in unserer westlichen Welt bis in das
18. Jahrhundert hinein, wenngleich sich parallel eine Sichtweise ausbildete, die
Krankheiten in Veränderungen der Organe, Gewebe und kleinsten Elemente
begründet sah. In der Romantik – also um 1800 – wurde Krankheit vor allem
auf dem Hintergrund einer Polarität von Natur und Geist betrachtet, wobei dem
Geist großer Einfluss auf den Körper zugeschrieben wurde.
Die Wende zur heute vorherrschenden naturwissenschaftlichen Betrachtungs-
weise der Krankheit geschah in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der
endgültige Durchbruch zu dieser Interpretation erfolgte durch die von Rudolf
Virchow 1858 begründete Zellularpathologie, nach der Krankheit durch Verände-
rungen der Organe, der Gewebe und ihrer kleinsten Elemente bedingt ist. Krankheit
wird damit Folge pathologischer Organveränderungen, sie hat einen körperlichen
Sitz, vor allem in der Zelle, und sie entsteht durch pathophysiologische Prozesse
und Reaktionen. Dieses neue Verständnis von Krankheit wird – insbesondere
nachdem Robert Koch in den 1880er-Jahren den Tuberkel- und Choleraerreger
identifiziert hatte – entscheidend durch das Modell der Infektionskrankheiten

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130 8. Krankheitsmodelle

geprägt: Krankheit erwächst aus einer spezifischen biologischen Ursache, und ihr
Verlauf kann beeinflusst werden, indem man auf die Krankheitserreger oder auf
die Überträger der Krankheit einwirkt. Zunehmend griff ein dichotomes Den-
ken um sich, in dem Menschen entweder als krank oder als gesund klassifiziert
wurden. Diese Zweiteilung entsprach den Bedürfnissen der sich entwickelnden
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Industriegesellschaft mit neuen Arbeitsformen und neuen Anforderungen an


zeitliche Verfügbarkeit und Kontrollierbarkeit der Arbeiter. Zudem hatte das
Modell den Vorteil, dass es einfach war, rational und eine kausale Erklärung
anbot.

Mit der Zeit jedoch offenbarte sich seine begrenzte Reichweite: Sozialepidemi-
ologische Erhebungen zeigten, dass neben den Keimen auch Umweltfaktoren
eine Rolle im Krankheitsgeschehen spielen, die Psychoanalyse demonstrierte
den Einfluss psychischer Variablen, und für die im Krankheitsspektrum immer
wichtiger werdenden chronischen und degenerativen Erkrankungen reichte die
Dichotomie von «gesund» und «krank» nicht aus. Die Diskussion um die Erklä-
rung des Phänomens «Krankheit» geht somit weiter.
Neben der Medizin beschäftigten und beschäftigen sich viele andere Wissen-
schaftsdisziplinen mit den Phänomenen von Gesundheit und Krankheit, und so
verwundert es nicht, dass sehr unterschiedliche Modelle entwickelt wurden, um
diese Phänomene zu erfassen und zu systematisieren.

Wissenschaftliche Modelle beschreiben Gegenstände oder Funktionen. In


ein Modell geht die Gesamtheit der theoretischen Überlegungen und gege-
benenfalls empirischen Ergebnisse über den jeweiligen Gegenstandsbereich
ein. Modelle sind Hilfsmittel zur theoretischen Rekonstruktion von Realität,
die stets vorläufigen Charakter haben und sehr starken wissenschaftlichen
und gesellschaftlichen Veränderungen unterworfen sind.

Eine plausible Systematik der Krankheitsmodelle stammt von Rothschuh (1975),


der die folgenden vier Gruppen unterscheidet:
• Metaphysische Modelle. In metaphysischen Modellen werden Krankheiten
auf übernatürliche Kräfte zurückgeführt, sie sind Folge von Sünde, der Über-
tretung eines Tabus oder Gesetzes, oder sie werden als besondere Mitteilung
der übernatürlichen Kraft definiert: als Prüfung, als Auszeichnung oder auch
als Folge einer Verhexung oder Verwünschung. Krankheiten können in diesen
Modellen somit sowohl einen positiven als auch einen negativen Wert bzw. Sinn
haben. Man findet metaphysische Krankheitsmodelle in allen primitiven und

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8. Krankheitsmodelle 131

animistischen Kulturen, aber auch in allen Religionen. Wissenschaftlich sind


metaphysische Konzepte überholt. Im Alltagsverständnis vieler Menschen, in
der Populärliteratur und in den subjektiven Konzepten von Krankheit (vgl.
Kap. 12) haben sie jedoch noch lange nicht ausgedient: Der frühe Herzinfarkt
als «gerechte» Strafe für einen rücksichtslosen Manager, der stets nur die eige-
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nen Belange im Auge hatte, die Krebserkrankung als Zeichen dafür, dass man
etwas im Leben verändern muss, oder das behinderte Kind als besondere Prü-
fung für die Frau, die das Leben bisher auf die leichte Schulter genommen hat,
sind typische Beispiele für die in der modernen Welt schlummernden Reste
animistischen Denkens.
• Philosophisch-spekulative Modelle. Philosophische Modelle haben das
Denken über Krankheiten so lange entscheidend beeinflusst, wie empirische
Erkenntnisse noch nicht zur Verfügung standen. Das seit Hippokrates vor-
herrschende Modell der Humoralpathologie basierte auf einem philosophi-
schen Krankheitskonzept, das erst im 17. Jahrhundert durch erfahrungswis-
senschaftliche Erkenntnisse nach und nach seinen Einfluss einbüßte.
• Naturalistische Modelle. Mit dem Erstarken der Naturwissenschaften gewan-
nen naturalistische Modelle an Bedeutung. Diese betrachten Krankheit als
Naturerscheinung und als beobachtbares und zu erforschendes Phänomen.
Naturalistische Krankheitsmodelle bilden zweifelsohne die Hauptgruppe der
modernen Vorstellungen über Krankheit. Auch sie kommen in unterschied-
licher Form daher: Ontologische Krankheitsmodelle sprechen der Krankheit
ein hohes Maß an selbstständiger Existenz zu, andere betrachten Krankheit
mehr als Folge einer gestörten Ordnung im Zusammenhang bzw. der Funk-
tionsweise des Organismus. Das heute in der Medizin vorherrschende biolo-
gische Modell ist eindeutig der Gruppe der naturalistischen Krankheitsmo-
delle zuzuordnen.
• Psychosomatische, anthropologische und soziokulturelle Modelle. Die Dis-
kussion um den Krankheitsbegriff konzentrierte sich bis in das 20. Jahrhun-
dert hinein vorwiegend auf das körperliche Geschehen. Mit der Psychoanalyse
einerseits und den Erkenntnissen der Sozialepidemiologie andererseits aber
zeigte sich, dass die Definitionen der somatischen Pathologie nicht mehr ausrei-
chten. Gesundheit und Krankheit wurden zunehmend nicht als ausschließlich
somatisches, sondern als ein somato-psycho-soziales Geschehen begriffen, was
zur Folge hatte, dass diese drei Ebenen – Körper, Psyche und Soziales – in ein
Modell von Krankheit integriert werden mussten. Seither wurden zahlreiche
somatopsychische oder auch biopsychosoziale Krankheitsmodelle entwickelt,
die häufig mit dem Anspruch der «Ganzheitlichkeit» auftreten.

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132 8. Krankheitsmodelle

Suchen Sie den Begriff «Ganzheitlichkeit» in verschiedenen Lehrbüchern


und analysieren Sie, wie er dort jeweils verwendet wird. Beziehen Sie auch
Literatur aus angrenzenden Bereichen wie den Pflegewissenschaften, der
Geburtshilfe, der Naturheilkunde ein.
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Ich habe gegen das Wort Ganzheitlichkeit wegen seiner mangelnden Prä-
zision einen heftigen Widerwillen: Wann und durch wen der Begriff in die
Gesundheitsdiskussion eingegangen ist, ist nicht eindeutig nachzuvollziehen.
In der psychosomatischen Diskussion wird vor allem auf G.L. Engel verwie-
sen, der 1977 ein neues medizinisches Modell forderte, das er biopsychoso-
ziales Modell nannte. In den Gesundheitswissenschaften bezieht man sich
häufig auf die WHO-Definition der Gesundheit, die auf das körperliche, psy-
chische und soziale Wohlbefinden von Menschen in allen Lebensbereichen
abhebt. Insgesamt lässt sich jedoch eine Tendenz feststellen, jeweils das als
«ganzheitlich» zu bezeichnen, was der eigenen Sichtweise zufolge dringend
berücksichtigt werden muss – und was von anderen nicht angemessen
berücksichtigt wird. Exemplarisch habe ich in einem Buch zur Gesundheits-
förderung (Amann & Wipplinger 1998) alle Stellen herausgesucht, in denen
der Begriff laut Stichwortverzeichnis erscheint. Bei den insgesamt zehn
Nennungen wurde er zweimal nicht näher definiert, dreimal bezeichnete
er Körper + Psyche + Gesellschaft, einmal individuelle + organisatorische
Faktoren, einmal Ernährung + Bewegung + Wohlbefinden + psychosoziale
Aspekte, einmal wurde er als Synonym für «systemisch» verwendet – alles in
allem ein Ergebnis, das nahe legt, den Begriff nicht zu verwenden, sondern
klar auszudrücken, welche Variablen man selbst bei der Beschreibung eines
Gegenstandes, Prozesses oder Verhaltens für relevant hält.

Rothschuhs Systematik zu Grunde legend spielt heute aus der Gruppe der natu-
ralistischen Modelle vor allem das biomedizinische Modell eine Rolle. Außerdem
sind psychosomatische und soziokulturelle Modelle sowohl in der Theoriebildung
als auch in der gesundheitlichen Versorgung von Bedeutung. Ich stelle daher im
Folgenden eine Auswahl von Modellen aus diesen beiden Gruppen vor. Dabei
betone ich ausdrücklich, dass hier wie schon in früheren Kapiteln gilt, dass die
von mir gewählte Einteilung nicht sakrosankt ist! Angesichts der Komplexität
des Gegenstandsbereichs einerseits und der theoriebildenden Disziplinen und
Schulen andererseits ist eine Überschneidung zwischen verschiedenen Modellen
unumgänglich. Nicht alle Modelle haben die gleiche Reichweite, einige haben
einen höheren Erklärungswert für eher somatische, andere einen höheren für

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8.1 Naturalistische Modelle 133

eher psychische Störungen. Und häufig liegt der wesentliche Unterschied mehr
in der Betonung und besonderen Berücksichtigung einzelner Variablen oder
Prozesse als darin, dass gänzlich andere Variablen Eingang in das Modell finden.

8.1
Fachhochschule Ostschweiz FHS St. Gallen, Hochschule für Angewandte Wissenschaften / 152.96.188.38 (2023-09-25 11:27)

Naturalistische Modelle
8.1.1
Biomedizinisches Krankheitsbild
Ohne Frage ist das biomedizinische Krankheitsmodell – auch medizinisches
Modell oder biologisches Modell genannt – nicht nur in der Medizin, sondern
auch in allen anderen Bereichen der gesundheitlichen Versorgung das heute
vorherrschende Modell. Es basiert auf den Annahmen und Erkenntnissen der
Bakteriologie aus der letzten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dem Krankheitsver-
ständnis der «Zellularpathologie» jener Epoche zufolge entstehen Krankheiten
dann, wenn ein Krankheitserreger (Agens) einen Überträger (Vektor) findet, der
auf einen Menschen mit einer gegenüber dem Erreger geschwächten Immunität
trifft. Unter Umweltbedingungen, die eine Ansteckung fördern, erkrankt der
betroffene Mensch, der in der Terminologie des Modells «Wirt» genannt wird.
Das biomedizinische Modell bietet damit eine einfache Kausalität: Wo ein
Keim ist, da entsteht eine Krankheit – und im Umkehrschluss muss da, wo eine
Krankheit auftritt, ein Keim sein. Dass sich dieser eindeutige Zusammenhang
von Ursache und Wirkung für die Infektionskrankheiten, die zum damaligen
Zeitpunkt die Haupttodesursachen bildeten, so überzeugend nachweisen ließ,
trug maßgeblich dazu bei, dass sich das biomedizinische Modell erfolgreich
gegenüber seinen Konkurrenzmodellen durchsetzte. Auf diesen Punkt der Über-
zeugungskraft des Modells wird weiter unten näher eingegangen. Im Folgenden
werden zunächst das Modell und seine Grundannahmen beschrieben.

Annahmen des Modells

Das biomedizinische Modell ist in doppeltem Sinne auf Krankheit konzentriert:


Es beschränkt sich (1.) auf die Betrachtung der Krankheit, ohne Aspekte der
Gesundheit mit einzubeziehen, und konzentriert sich (2.) auf die Krankheit
als solche, nicht auf den von ihr betroffenen Menschen. Der bzw. die Kranke
erscheint im biomedizinischen Modell als Träger bzw. Trägerin der Krankheit,
als «Wirt».
Krankheit wird als Abweichung vom natürlichen Zustand des Organismus
gesehen. Ohne dass sich das biomedizinische Modell mit diesem als natürlich
angenommenen Zustand näher auseinandersetzt, wird davon ausgegangen,

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134 8. Krankheitsmodelle

dass ein solcher existiert und dass Krankheit eine Abweichung von eben diesem
angenommenen Zustand der Natürlichkeit, der Normalität ist. Krankheit ist
damit gleichsam ein Herausfallen aus einer als normal angesehenen Situation.
Krankheit steht nicht in Kontinuität mit Gesundheit, sondern Krankheit und
Gesundheit verhalten sich dichotom zueinander.
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Jede Krankheit zeichnet sich durch eine bestimmte Schädigung aus – diese
kann sowohl biochemischer als auch mechanischer oder genetischer Art sein.
Aufgrund ihrer Ursachen und ihres Verlaufs lassen sich Krankheiten klassifi-
zieren, wobei das biomedizinische Modell davon ausgeht, dass jede Krankheit
eine spezifische Ätiologie hat und einen vorbestimmten Verlauf nimmt, wenn
sie nicht angemessen behandelt wird. Die Klassifizierung der Erkrankungen ist
möglich aufgrund der Symptome, ihrer Ätiologie und ihres Verlaufs und ohne
dass der soziale Kontext des «Wirts» einbezogen werden muss. Das Erkennen
der typischen Merkmale einer Erkrankung, das heißt die Diagnose und die The-
rapie sind eine fachwissenschaftliche, in der Regel medizinische Aufgabe. Die
beobachtbaren Verhaltensweisen und Symptome von Patientinnen und Patienten
sind Zeichen für zu Grunde liegende Prozesse, deren Diagnostik und Behandlung
ebenfalls Aufgabe der fachlich geschulten Professionellen ist. Eine Beseitigung
der Symptome ohne eine Heilung der zu Grunde liegenden Ursachen führt zu
einer Verschlimmerung der Erkrankung oder zu einer anderen Neuerkrankung.
Am Beispiel des Fiebers ist die Plausibilität dieses Modells unmittelbar einsichtig:
Alleinige Fiebersenkung kann den Tod eines Menschen bedeuten, wenn nicht
geklärt ist, ob das Fieber durch einen grippalen Infekt, einen Malariaschub oder
einen entzündeten Blinddarm verursacht ist.
Hinsichtlich der von der Krankheit betroffenen «Wirte» ergibt sich, dass diese
für ihre Krankheit weitgehend nicht verantwortlich sind; sie befinden sich in der
sozialen Rolle von Patientinnen und Patienten und haben als solche eine Entla-
stung von ihren alltäglichen Aufgaben, sind andererseits aber auch verpflichtet,
alles zu tun, was nach Ansicht der medizinischen Fachleute für ihre Heilung
erforderlich ist.
Wegen der Bedeutung des biomedizinischen Modells sollen seine wesentlichen
Inhalte hier noch einmal zusammengefasst werden:
• Krankheit ist Abweichung vom natürlichen Zustand des Organismus.
• Krankheit steht nicht in Kontinuität mit Gesundheit.
• Jede Krankheit hat eine spezifische Ätiologie und nimmt einen bestimmten
Verlauf.
• Klassifizierung von Krankheiten erfolgt ohne Einbeziehung des sozialen Kon-
texts.

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8.1 Naturalistische Modelle 135

• Krankheitsbehandlung ist eine medizinische Aufgabe.


• Die beobachtbaren Verhaltensweisen sind Symptome für ihnen zu Grunde
liegende Prozesse.
• Heilung ist nur bei kausaler Behandlung, d. h. bei Behandlung der zu Grunde
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liegenden Ursachen möglich.


• Bei symptomatischer Behandlung erscheint die ursächliche Krankheit später
in anderen Symptomen (Symptomverschiebung).
• Normales, gesundes Verhalten unterliegt anderen Gesetzen als abnormes,
krankes Verhalten.
• Kranke sind für ihre Krankheit nicht verantwortlich.
• Kranke befinden sich in der sozialen Rolle von Patientinnen und Patienten.

Zur Einordnung und Bedeutung des biomedizinischen Modells

Dafür, dass das biomedizinische Modell einen so großen Erfolg hatte und hat,
sind sicherlich viele Gründe entscheidend. Der wichtigste liegt unbezweifelbar
darin, dass es ein plausibles Rahmenmodell für die erfolgreiche Behandlung der
Infektionserkrankungen bildete. Das in der medizinischen Literatur hier immer
wieder auftauchende Zauberwort heißt «kausal»: Es war ein Sieg der naturwis-
senschaftlichen Medizin, dass sie den Grund für eine Erkrankung eindeutig
benennen und durch Behandlung dieses ursächlichen Grundes, der Causa, zu
einer Heilung führen konnte. Kausalitäten zu erkennen, war schon immer etwas,
was Menschen fasziniert hat – Menschen wollen wissen, warum etwas eintrifft,
was die Ursache ist, und die Kenntnis der Ursachen eröffnet Handlungsmöglich-
keiten und vermittelt Einfluss und Macht. Dabei profitierte das Modell davon,
dass Infektionskrankheiten in der Regel monokausal, also durch einen bestimm-
ten Erreger verursacht werden; diese Tatsache vergrößerte die Erfolgsbilanz und
damit die Faszination des biomedizinischen Modells.
Doch darüber hinaus ließ sich das biomedizinische Modell auch auf Erkran-
kungen anwenden, die auf den ersten Blick nichts mit einer Infektionskrankheit
zu tun hatten – die psychischen Erkrankungen.
Nach den körperlichen Ursachen psychischer Störungen hatten Psychia-
ter gesucht, seit diese Wissenschaft sich zu etablieren begonnen hatte. Johann
Christian Reil prägte den Begriff Psychiatrie: eine Zusammensetzung aus dem
griechischen «psyche», Seele, und «iatros», Arzt. 1811 startete die neue Disziplin
an einer medizinischen Fakultät offiziell an der Universität Leipzig und breitete
sich bald in ganz Deutschland aus. Die Ursachen für die psychischen Störungen

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136 8. Krankheitsmodelle

wurden in Gehirnveränderungen vermutet, weshalb Psychiater einen großen Teil


ihrer Tätigkeit damit verbrachten, Gehirne von Verstorbenen auf pathologische
Abweichungen hin zu untersuchen. Die endgültige Einführung des medizinischen
Modells in die Psychiatrie gelang dann Kraepelin (vgl. Kap. 4.1), der proklamierte,
dass sich psychische Krankheiten in unterscheidbare Klassen einteilen lassen, die
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aufgrund ihrer Ätiologie, den zu Grunde liegenden körperlichen Anomalien –


insbesondere des Gehirns – und der Symptome zu identifizieren und voneinander
eindeutig abzugrenzen sind. Bestimmten Symptomen, so die modellkonforme
Annahme, liegen bestimmte pathologische Abweichungen und Ätiologien zu
Grunde. Obwohl Kraepelin erkannte, dass einige Symptome in mehreren Stö-
rungen auftraten, argumentierte er, dass jede Störung ein typisches Symptombild
habe. Er ging davon aus, dass die verschiedenen Störungen mit unterschiedlichen
Pathologien des Gehirns und unterschiedlichen Ätiologien verbunden waren.
Der Psychiater Julius Wagner-Jauregg bestätigte dann die Grundannahmen
des biomedizinischen Modells in Aufsehen erregender Weise, als er nachwies,
dass es sich bei der progressiven Paralyse um eine Folge einer syphilitischen
Ansteckung handelt, die durch Impfung mit Malariaerregern heilbar ist. Wag-
ner-Jauregg erhielt für diese Erkenntnis 1927 den Nobelpreis für Medizin.

Die progressive Paralyse war eine um 1900 herum bei Männern verbreitete
Erkrankung des schizophrenen Formenkreises. Friedrich Nietzsche war ihr
wohl prominentestes Opfer. Die progressive Paralyse tritt etwa im Alter von
30 bis 50 Jahren auf, erste Erscheinungsformen sind in der Regel Gedächt-
nisstörungen, Nachlässigkeit in der äußeren Erscheinung und auffälliges,
die sozialen Regeln missachtendes Verhalten. Einige Patienten sind deutlich
antriebsvermindert, wohingegen andere zu Größenfantasien neigen. Nach
und nach kommt es zu einem zunehmenden intellektuellen Abbau, ohne
Behandlung tritt nach wenigen Jahren zunehmend geistige Absenz und
schließlich der Tod ein.

Aktuell erfährt das medizinische Modell in allen Gesundheitswissenschaften


und in der gesundheitlichen Versorgung eine erhebliche Verstärkung, und zwar
sowohl von wissenschaftlicher als auch von politischer Seite. Biologie, Gentech-
nologie, Neurowissenschaften, Psychoimmunologie, Psychopharmakologie und
andere biomedizinische Wissenschaften suchen und finden ständig neue in der
Person liegende Pathologien und Funktionsveränderungen, die sie ursächlich
mit dem Auftreten von Krankheiten in Verbindung bringen. Die Logik dieses
Denkens ist schlicht: Bei dem, der krank wird, läuft irgendetwas im Organis-
mus nicht normgerecht, und es ist nur eine Frage der Zeit, des Geldes und der

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8.1 Naturalistische Modelle 137

wissenschaftlichen Kreativität, bis alles bekannt ist, was schief laufen kann.
Anhänger des Modells bezeichnen dieses Verständnis als rational und natur-
wissenschaftlich und sehen sich in diesem rationalen Umgang mit Krankheiten
dadurch bestätigt, dass das Modell die allgemeine Lebenserwartung erhöht hat.
Lebensverlängerung ist im Rahmen des biomedizinischen Modells gleichsam das
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ultimative Kriterium für therapeutischen Erfolg und damit für die Richtigkeit
der dem Modell zu Grunde liegenden Prämissen. Das folgende Zitat fasst diese
Sichtweise noch einmal prägnant zusammen:
Die wissenschaftliche Medizin geht davon aus, dass Krankheiten natürliche, mit
wissenschaftlichen (und das heißt rationalen) Methoden erforschbare Ursachen
haben – äußere, innere, genetische, psychische. Diese Ursachen setzen pathogene-
tische Kausalketten in Gang, welche die klinischen Manifestationen und den Verlauf
der Krankheit bestimmen. Alle bekannten Krankheiten sind in einem nosologischen
System geordnet. Jede der mehreren tausend Krankheiten trägt einen Namen, er
entspricht einer Diagnose, die der Arzt erstellt. Damit verbindet sich eine Theorie der
jeweiligen Krankheit, die überindividuell gültige Aussagen über Ätiologie und Pathoge-
nese, Phänomenologie, Verlauf (Prognose) und Therapie enthält.
[…] Dieses Konzept einer Krankheitslehre wurde erst in den letzten 200 Jahren ent-
wickelt. Mit ihm unterscheidet sich die wissenschaftliche Medizin von allen anderen
früheren oder heutigen Medizinen. Es ist die Grundlage unseres theoriegeleiteten
Handelns, unserer Therapie und unserer Prävention. Überall dort, wo es angewendet
worden ist (und die für seine Anwendung erforderlichen Ressourcen verfügbar sind),
ist die Lebenserwartung von früher 30 bis 35 Jahren auf 74 bis 80 Jahre angestiegen.
Beurteilt nach diesem härtesten Kriterium für den Erfolg einer Medizin ist es, verg-
lichen mit allen anderen Medizinen, das erfolgreichste, ja das einzig erfolgreiche in der
ganzen Geschichte der Medizin. (Bock 1999, S. 37)

Die starke Unterstützung, die das biomedizinische Modell politisch erfährt – und
dies sowohl in der gesundheitlichen Versorgung als auch in der Forschung – ist
jedoch nicht nur in seiner Naturwissenschaftlichkeit begründet, sondern vor
allem auch darin, dass die in ihm verankerte Individualisierung hervorragend in
die konservativ-liberale Gesundheitspolitik passt, die Gesundheit und Krankheit
zur Sache der Einzelnen macht und die Verantwortlichkeit sozialer und gesell-
schaftlicher Faktoren für Gesundheit und Krankheit ausblendet.

8.1.2
Risikofaktorenmodelle
Als Risikofaktoren werden im Bereich von Gesundheit und Krankheit alle die
Variablen bezeichnet, die das Risiko für das Auftreten bestimmter Krankheiten
erhöhen. Die Risikofaktorenmodelle wurden im Rahmen epidemiologischer
Untersuchungen entwickelt, also im Rahmen von Untersuchungen, die sich mit
der Verteilung von Morbidität und Mortalität in der Bevölkerung befassen.

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138 8. Krankheitsmodelle

Die Erforschung von Risikofaktoren und ihrer Bedeutung für das Krankheits-
geschehen setzte etwa in den 1960er-Jahren ein. Es war notwendig geworden,
das biomedizinische Modell zu erweitern, da sich immer deutlicher zeigte, dass
dieses sich an den Infektionskrankheiten orientierende Modell der immer größer
werdenden Gruppe von chronischen und degenerativen Erkrankungen sowie
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den so genannten Zivilisationskrankheiten nicht gerecht wurde. Die Hoffnung


war, dass durch die Identifikation von Risikofaktoren eine gezieltere Prävention
möglich würde. Angesichts der Auftretenshäufigkeit und Gefährlichkeit der
Krankheiten konzentrierte man sich vor allem auf Herz-Kreislauf-Krankheiten,
Krebserkrankungen, Diabetes und Rheuma.
Hinsichtlich der zu Grunde liegenden Annahmen unterscheidet sich das Risi-
kofaktorenmodell nicht wesentlich vom biomedizinischen Modell. Gemeinsam
ist beiden die Annahme einer Krankheit als Entität, und gemeinsam ist ihnen
auch die Eindimensionalität, also die Annahme, dass ein oder mehrere Faktoren
zu einer bestimmten Erkrankung führen. Unterschiede bestehen allerdings darin,
dass das biomedizinische Modell vor allem von vorübergehenden Krankheits-
zuständen ausgeht, wohingegen Risikofaktorenmodelle bevorzugt in der Erfor-
schung chronischer Erkrankungen zur Anwendung kommen. Und während das
biomedizinische Modell eine kausale Verbindung zwischen einem Erreger und
einer spezifischen Erkrankung annimmt, gehen Risikofaktorenmodelle lediglich
von einer Erhöhung der Wahrscheinlichkeit für eine bestimmte Erkrankung und
von einem multifaktoriellen Krankheitsgeschehen aus. Der Risikofaktor wird
nicht als kausaler, ursächlicher Faktor für das Krankheitsgeschehen betrachtet,
sondern als einer, bei dessen Vorhandensein die Wahrscheinlichkeit für das
Auftreten einer bestimmten Erkrankung merklich erhöht ist. Ein weiterer Unter-
schied besteht darin, dass der auslösende Erreger im biomedizinischen Modell
als die alleinige Ursache der Erkrankung betrachtet wird, wohingegen für den
Risikofaktor lediglich angenommen wird, dass er in Interaktion mit anderen
Variablen entscheidend zu dem Krankheitsgeschehen beiträgt.

Ein typisches Ergebnis der Risikofaktorenforschung


Frauen, die pro Tag ein bis zwei Zigaretten rauchen, weisen gegenüber
Nichtraucherinnen ein zweifach erhöhtes kardiovaskuläres Mortalitätsri-
siko auf. Bei Männern erhöht ein gleich niedriger Zigarettenkonsum das
kardiovaskuläre Mortalitätsrisiko nicht signifikant. Das Risiko für einen
Herzinfarkt bei Frauen wird zudem noch erheblich gesteigert, wenn die
Frau die Pille nimmt: «Während jeder der Einzelfaktoren das Risiko für
das Auftreten eines Herzinfarkts um das Zwei- bis Vierfache steigert, führt

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8.1 Naturalistische Modelle 139

die Kombination beider Faktoren zu einem vierzigfach erhöhten Risiko.»


(Landtag NRW 2004, S. 187/188)

Bei der Entwicklung der Risikofaktorenmodelle können zwei Phasen identifiziert


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werden:

Zunächst ging es vornehmlich darum, Risiken «an sich» zu identifizieren.


Hierzu gehören für bestimmte Erkrankungen und auch für einen früheren Tod
so unabänderliche Faktoren wie Geschlecht, genetische Dispositionen, konstitu-
tionelle Veranlagungen und – für viele degenerative Erkrankungen – das Alter.
Daneben wurden in entsprechenden epidemiologischen Studien enge Zusam-
menhänge zwischen Faktoren wie Bluthochdruck, Übergewicht, Rauchen sowie
Bewegungsarmut und bestimmten Erkrankungen festgestellt, die fortan als
Risikofaktoren galten. Für das Auftreten von Herz-Kreislauf-Erkrankungen
zum Beispiel erwiesen sich insbesondere chronische Arbeitsbelastung, Ziga-
rettenrauchen, Übergewicht, Bluthochdruck, erhöhter Blutfettspiegel, Bewe-
gungsarmut und bei Frauen die Einnahme von Antikonzeptiva als relevante
Risikofaktoren.
Beim Versuch, die Ergebnisse der Risikofaktorenforschung für die gesund-
heitliche Versorgung nutzbar zu machen, zeigte sich, dass die alleinige Kenntnis
der Risikofaktoren wenig nützte, wenn nicht das Verhalten erforscht würde, das
zu eben diesen Risikofaktoren führt bzw. sie beeinflusst. Diese Erkenntnis leitete
die zweite Phase der Risikofaktorenforschung ein, in der man sich seither darauf
konzentriert herauszufinden, unter welchen Bedingungen Menschen Verhaltens-
weisen realisieren, die zu den bekannten Risikofaktoren führen, wer somit unter
welchen Bedingungen zu viel isst, zu viel Alkohol trinkt, zu wenig Sport treibt,
raucht und so weiter.
Doch auch in dieser zweiten Phase bleiben die meisten Risikofaktorenmodelle
in der Tradition des biomedizinischen Modells verankert. Sie konzentrieren
sich auf das individuelle Verhalten und betrachten einzelne Verhaltensweisen
als isolierte Variablen, die die Gesundheit angreifen und die verändert werden
müssen. Das Modell des monokausalen Erregers wird hier im Grunde nur durch
die Annahme mehrerer Erreger, die zudem in der Person selbst angesiedelt sind,
erweitert; die Eindimensionalität bleibt.

In Fragestellungen und Methoden lehnt sich die Risikofaktorenforschung eng


an die Stressforschung an: Gesucht wird nach Situationen, die die «gesunden»
Reaktionsmöglichkeiten von Menschen überfordern, und nach typischen Reak-
tionsmustern, mit denen Menschen versuchen, diese schwierigen Situationen zu

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140 8. Krankheitsmodelle

lösen. Folgerichtig werden «Risikopersönlichkeiten» identifiziert, also Personen,


bei denen aufgrund von Verhaltensmustern oder Persönlichkeitsmerkmalen ein
besonders hohes Risiko für das Auftreten bestimmter Erkrankungen besteht.
Das Typ-A-Verhaltensmuster (vgl. Kap. 7.2.2) ist eins der bekanntesten Beispiele
für eine solche Typisierung (Franzkowiak 2011).
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Zur Einordnung und Bedeutung der Risikofaktorenmodelle

Anwendung fanden und finden die Risikofaktorenmodelle vor allem in der


Gesundheitsförderung – mit begrenztem Erfolg. Denn es erweist sich immer
wieder, dass noch so überzeugende statistische Zusammenhänge wenig geeignet
sind, das Verhalten einzelner Menschen (vgl. Kap. 13) zu ändern. Zwischen der
Einsicht, dass es besser wäre, weniger Salz oder Süßes zu essen, ein Kondom zu
benutzen oder mit dem Rauchen aufzuhören, und der tatsächlichen Verhaltensän-
derung liegen Welten, und dass noch so ernsthaft gefasste Vorsätze schnell gebro-
chen werden, ist auch nicht neu. Erschwerend kommt hinzu, dass Menschen sich
meistens für die Ausnahme halten, wenn es um Statistik geht – dass das allgemeine
Risiko für eine bestimmte Krankheit bei einem bestimmten Verhalten erhöht ist,
hat für sie selbst keinen prognostischen Wert. Und in der Annahme, dass die
Statistik wenig über den Einzelfall aussagt, fühlen sie sich zudem dadurch bestä-
tigt, dass sie mindestens einen alten Mann kennen, der seit seiner Jugend raucht
und keinerlei Atembeschwerden hat, und einen anderen, jüngeren, der immer in
Reformhäusern eingekauft und keinen Alkohol getrunken hat, zu allen Vorsor-
geuntersuchungen gegangen und beim Joggen tot umgefallen ist.

8.2
Psycho-somatische Krankheitsmodelle
Etwa seit Mitte des 19. Jahrhunderts war in der Medizin der Einfluss des Nerven-
systems auf die Krankheitsentstehung betont worden. Neurasthenie und nervöse
Erschöpfung galten als Diagnosen, die Menschen daran hinderten, ihre Aufgaben
und Rollen zu erfüllen. Diese frühen Ideen wurden durch die psychosomatische
Medizin, die Krankheit nicht nur als Resultat einer Schädigung oder Infektion
ansah, sondern auch als Ergebnis der Auseinandersetzung des «Wirts» mit dem
pathogenen Agens, weiterentwickelt und formalisiert. Die psychosomatische
Medizin blieb in ihren Anfängen streng dem biomedizinischen Krankheitsmo-
dell verhaftet, auch sie nahm als Grundlage für das Entstehen einer Krankheit
eine Schädigung oder Infektion an. Der Unterschied bestand darin, dass dem
biomedizinischen Modell zufolge diese Infektion automatisch zur Krankheit
führt, wohingegen im psychosomatischen Modell postuliert wurde, dass der

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8.2 Psycho-somatische Krankheitsmodelle 141

Krankheitsverlauf wesentlich durch den Umgang der infizierten Person mit dem
schädigenden Agens beeinflusst wird.
Unter dem Dach der psychosomatischen Medizin fanden sich nach und nach
sehr heterogene Disziplinen ein. Während die psychosomatische Medizin in
Europa vor allem durch die Psychoanalyse beeinflusst war, basierte die US-ame-
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rikanische Psychosomatik stärker auf Ergebnissen der Physiologie, Emotions-


psychologie und Lernpsychologie. Im Laufe der Jahrzehnte tradierten sich diese
regionalen Präferenzen nicht, doch konnte bis heute kein einheitliches Verständ-
nis des Begriffs «psychosomatisch» erarbeitet werden. Was psychosomatische
Störungen sind und welche Erkrankungen dazu gehören, die Bedeutung des
Begriffs und die Aufgabenbereiche einer Wissenschaft, die sich Psychosomatik
nennt – über all dies gehen die Meinungen weit auseinander. Während einzelne
Schulen den Begriff der psychosomatischen Störung auf einzelne Erkrankungen
begrenzt wissen wollen – hierzu gehören dann vor allem Bluthochdruck und
Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Magengeschwüre, entzündliche Darmerkran-
kungen, Asthma und Ekzeme – gehen andere davon aus, dass man nicht nicht-
psychosomatisch reagieren kann und dass somit jede Erkrankung eine psycho-
somatische Störung darstellt. Dieser letzteren Position hat sich auch die WHO
angeschlossen: In der ICD-10 kommt der Begriff «psychosomatisch» nicht mehr
vor, weil er die Interpretation nahe legen könne, es gebe Erkrankungen, in deren
Verlauf psychische Faktoren grundsätzlich keine Rolle spielen könnten. Die in
früheren Versionen der ICD unter «psychosomatisch» aufgeführten Störungen
werden in der ICD-10 neu klassifiziert.
So unterschiedlich die psycho-somatischen Ansätze auch sein mögen, eins
ist ihnen gemeinsam: Sie alle versuchen, die uns seit Descartes beschäftigende
Zweiteilung der Welt in eine körperliche und eine geistige zu überbrücken bzw.
zu integrieren.

René Descartes wurde 1596 in La Haye als Spross eines vornehmen Adels-
geschlechts geboren. Nach seiner Ausbildung in einer Jesuitenschule, dem
Militärdienst und ausgedehnten Reisen durch Europa widmete er sich der
Philosophie, die seiner Überzeugung zufolge nicht auf der Empirie, sondern
ausschließlich auf dem Denken beruhen sollte. Die Welt teilte er auf in die
zwei Bereiche der körperlichen Welt, der res extensae, und der Welt des Geisti-
gen, der res cogitans. Den Menschen und sein Verhalten betrachtete Descartes
als eine Art Automat, der die Bewegungen ausführt, die der immaterielle
Geist ihm eingibt, wobei die Verbindungsstelle zwischen dem Körperlichen
und dem Geistigen in der Zirbeldrüse des Menschen angesiedelt sei. Descartes
lebte viele Jahre in den Niederlanden und starb 1650 in Stockholm.

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142 8. Krankheitsmodelle

Modernere Vertreter dieser Wechselwirkungstheorie waren der Philosoph


Karl Popper (1902 – 1994) und der Physiologe John C. Eccles (1903 – 1997).
Sie nahmen bestimmte Zellen der Großhirnrinde an, die dank ihrer spe-
ziellen neuronalen Struktur psychische Erfahrungen aufnehmen und eine
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Vermittlerrolle zwischen Physischem und Psychischem spielen können.

Durch die Entwicklungen der Neurowissenschaften und die Verfeinerung


ihrer Methoden, mit denen es zunehmend gelingt, Prozesse des Gehirns
sichtbar und messbar zu machen, ist die Diskussion um das Verhältnis von
Physischem und Psychischem in eine neue Phase eingetreten. Manche halten die
Aufrechterhaltung dieser beiden Bereiche für überflüssig: psychische Phänomene
seien ausschließlich Eigenschaften des Gehirns und bei allen Vorgängen im
Gehirn – von den Kommandos für Bewegungen bis zu den intimsten Gedan-
kengängen – handele es sich um biologische Prozesse. Geist und Gehirn sind
demnach nicht voneinander zu trennen, und jede Krankheit erweist sich als
eine körperliche – auch wenn sie sich ausschließlich im Erleben manifestiert.
Welche Konsequenzen sich aus diesem Denken für die Psychosomatik erge-
ben, bleibt abzuwarten. In dem hier als «psycho-somatische Krankheitsmodelle»
überschriebenen Kapitel stelle ich Theorien vor, die die Bedeutung psycholo-
gischer Variablen und Prozesse für das Gesundheits- und Krankheitsgeschehen
betonen – in Abgrenzung zu den biologisch orientierten Modellen, die in Kapitel
8.1 und den soziologisch orientierten Modellen, die in Kapitel 8.3 vorgestellt werden.
Der Begriff psycho-somatisch wird somit in einem sehr breiten Sinne verwendet.

8.2.1
Psychoanalytische Modelle
Die von Sigmund Freud begründete Psychoanalyse hat im Verlauf ihrer etwa
hundertjährigen Geschichte zahlreiche Veränderungen erfahren. Ursprünglich
zur Erklärung und Therapie der Hysterie entwickelt, weitete sich das psychoa-
nalytische Modell später vor allem zu einer Ätiologietheorie neurotischer und
somatoformer Erkrankungen aus. Im Verlauf der Jahrzehnte entstanden zahl-
reiche Abspaltungen und neue Gruppierungen, was dazu geführt hat, dass die
Zahl der sich als psychoanalytisch verstehenden Schulen heute kaum mehr über-
schaubar ist.

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8.2 Psycho-somatische Krankheitsmodelle 143

Sigmund Freud wurde 1856 als Sohn einer Kaufmannsfamilie in Freiberg im


heutigen Tschechien geboren. Nach seinem Studium der Medizin in Wien
nahm er zunächst eine Forschungstätigkeit am Physiologischen Institut der
Universität Wien auf, anschließend arbeitete er als Arzt am Allgemeinen Kran-
kenhaus in Wien, wo er auch Forschungen zum Schmerz und zur Schmerzlin-
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derung durchführte. Nach seiner Habilitation beschäftigte er sich als Dozent


für Neuropathologie mit hirnanatomischen Forschungen und kam in deren
Verlauf mit Jean-Martin Charcot an der Pariser Nervenklinik Salpêtrière in
Verbindung. Charcot war damals in Europa führend in der Behandlung von
Frauen mit Hysterie. Er definierte die Hysterie als ein körperliches Leiden,
das durch Erbschäden oder eine traumatische Verletzung im zentralen Ner-
vensystem verursacht wird und zu Anfällen führt, die epileptischen Anfällen
gleichen. Seine Methode, diese Patientinnen mittels Hypnose und Suggestion
zu behandeln, beeindruckte Freud tief. Gemeinsam mit seinem Freund Joseph
Breuer begann er ebenfalls Patientinnen mit Hysterie zu behandeln und
entwickelte dabei die Methode der freien Assoziation: Unter Ausschaltung
gelernter kognitiver Kontrollinstanzen sollten die Patientinnen alles erzählen,
was ihnen einfiel, wobei Freud davon ausging, dass auf diese Weise verdrängte
traumatische Erfahrungen ans Licht kämen, die als pathogenes Agens die
Hysterie ausgelöst hätten. Nach ihrer Offenlegung könnten sie dann vom Arzt
gedeutet und dadurch gleichsam unschädlich gemacht werden.
1886 eröffnete Freud eine neurologische Praxis in Wien, in der er seine
neue Methode der freien Assoziation anwandte. In den folgenden Jahren ent-
wickelte er eine rastlose Forschungstätigkeit; 1897 formulierte er das Konzept
des Ödipus-Komplexes, und in dem 1900 erschienenen Werk «Die Traumdeu-
tung» führte er die grundlegenden Begriffe der frühen Psychoanalyse ein. Der
Hauptantrieb menschlichen Verhaltens entspringe unbewussten kindlichen
Sexualfantasien, die sich mit den gesellschaftlichen Normierungen nicht
in Einklang bringen lassen und daher nicht ausgelebt werden können. 1902
erhielt Freud die Professur für Neuropathologie an der Universität Wien.
Die Psychoanalyse trat einen beispiellosen Sieges- und Vermarktungszug
an: Erster Internationaler Psychoanalytischer Kongress 1908 in Salzburg,
unmittelbar anschließend Gründung des Zentralblatts für Psychoanalyse,
der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung und des Internationa-
len Psychoanalytischen Verlags. Auch in den USA wurden Freud und seine
neue Methode begeistert aufgenommen.
Bei der Bücherverbrennung der Nationalsozialisten im Mai 1933 wurden
auch Werke Freuds Opfer der Flammen. 1938 ging Freud ins Exil nach
Großbritannien, wo er bis zu seinem Tode 1939 in London praktizierte.

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144 8. Krankheitsmodelle

Zwei Annahmen aber sind allen psychoanalytischen Schulen gemeinsam:


Erstens die Annahme eines im Kern triebhaften und affektiven Menschen, des-
sen Leben durch Konflikte gekennzeichnet ist. Auch wenn der Mensch sich um
Rationalität und Einsicht bemüht, sind für sein Verhalten letztlich Prozesse des
Unbewussten entscheidend.
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Und zweitens die Annahme, dass Störungen und Krankheiten nicht durch aktu-
elle Lebensumstände verursacht werden, sondern in der Kindheit begründet
sind. Traumatisierende Kindheitserfahrungen bilden die Grundlage, auf der die
aktuellen Konflikte mehr oder weniger gut gelöst werden und sich bei unzurei-
chender Lösung zu Störungen entwickeln.
Die traumatisierenden Kindheitserfahrungen werden je nach psychoanaly-
tischer Schulrichtung als unbewusste Konflikte, unbewusste Fantasien, patho-
gene Überzeugungen, Traumatisierungen, Entwicklungsdefizite, Hemmungen
und Einschränkungen wichtiger Kompetenzen oder Störungen des Selbstwerter-
lebens beschrieben. Gemeinsam ist ihnen, dass sie den Menschen in seinem aktu-
ellen Denken, Fühlen und Handeln bestimmen, solange er sie nicht psychisch
verarbeitet hat.

Die psychoanalytischen Schulrichtungen lassen sich einer Einteilung von Mer-


tens (2005) folgend in drei große Gruppen unterteilen:

Dem Trieb-Konfliktmodell zufolge suchen libidinöse und aggressive Trieb­


impulse ständig nach Befriedigung, wobei es aufgrund von unvermeidbaren
Frustrationen (z. B. Brustentwöhnung), Traumatisierungen (z. B. Geburt eines
Geschwisters) und sozialen Normen (Sauberkeitserziehung) zu Unterdrückung
und Verdrängung von Triebimpulsen kommt. Der Prototyp des Konflikts ist
derjenige zwischen Es und Über-Ich, zwischen der Triebnatur und den Anfor-
derungen der Gesellschaft. Die Sozialisation eines Menschen ist die Geschichte
eines primär nicht-sozialen Wesens, das sich mit den Forderungen und Ein-
schränkungen seiner Umwelt auseinandersetzen muss. Da die verdrängten
infantilen Triebimpulse aber weiterhin nach Befriedigung streben, finden sie im
neurotischen Symptom eine kompromisshafte Dennoch-Befriedigung.

Im Entwicklungsdefizit-Modell ergibt sich die Störung, weil die Eltern oder


andere wichtige Bezugspersonen aufgrund eigener Defizite nicht in der Lage
waren, ihren Kindern in ausreichendem Maße innere Sicherheit zu vermitteln.
Der in seiner Selbststruktur geschädigte Mensch sucht im späteren Leben nach
übermäßiger Anerkennung und nach Personen, die er idealisieren kann. Bleiben
die Bedürfnisse nach Selbstrealisierung unbeantwortet, so reagiert die Person

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8.2 Psycho-somatische Krankheitsmodelle 145

mit der Entwicklung eines falschen Selbst, dies vor allem durch vermeintlich
erlebnis-aktivierende Substanzen und Tätigkeiten wie Drogen, Alkohol, exzes-
siven Sport oder übermäßiges Arbeiten.

Das Beziehungskonflikt-Modell fokussiert die Erfahrungen, die Menschen im


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Verlauf ihrer Entwicklung mit zwischenmenschlichen Beziehungen machen.


Diese Beziehungserfahrungen determinieren das Verständnis, das eine Person
von sich selbst erwirbt, ihre Fähigkeit und Bereitschaft, Bindungen mit anderen
Menschen einzugehen, und die Art und Weise ihrer sozialen Interaktionen. Men-
schen organisieren aktiv ihre Entwicklung und stellen immer wieder bestimmte
Beziehungsformen her. Dabei bevorzugen sie unbewusst die Beziehungsmuster,
die ihnen aus ihrer Lebensgeschichte vertraut sind, und bringen mit Hilfe ent-
sprechender kommunikativer Signale ihr Gegenüber dazu, sich entsprechend
der alten Beziehungserfahrung zu verhalten. Je einförmiger und geschlossener
die Beziehungserfahrungen von Personen sind, umso größer ist die Wahrschein-
lichkeit von Konflikten, da alle Beziehungen gemäß der vertrauten Konstellation
gestaltet werden müssen. Und umso größer ist auch die Wahrscheinlichkeit,
immer wieder in alte Beziehungsfallen zu tappen – was erklärt, warum auch die
dritte Ehefrau eines Mannes alkoholabhängig ist oder sich eine junge Frau trotz
intensiven Wunsches nach Familiengründung immer wieder in einen verheira-
teten Mann verliebt.

Allen psychoanalytischen Modellen ist gemeinsam, dass sie sehr differenzierte


Störungsmodelle entwickelt haben, ihre Vorstellungen über gesunde Personen
aber weit weniger ausgearbeitet sind. Da der gestörte, konflikthafte Mensch als
normal gilt, scheint das Nachdenken über gesunde Personen weniger relevant zu
sein. Werden Gesundheitsvorstellungen überhaupt entwickelt, so geschieht dies
im Rahmen der Idealnorm der genitalen Persönlichkeit, das heißt einer Person,
die den ständigen Kampf zwischen Es, Ich und Über-Ich nicht nur aushält und
ihm nicht ausweicht, sondern die diesen auch noch im Sinne einer allseitigen
Zufriedenheit dieser drei widerstrebenden Instanzen konstruktiv zu lösen ver-
steht.

Zur Einordnung und Bedeutung der psychoanalytischen Modelle

Wenn das psychoanalytische Modell hier den psycho-somatischen Modellen


zugeordnet wurde, so geschieht dies wegen der besonderen Berücksichtigung
der psychischen Anteile bei der Entstehung von Erkrankungen einerseits und
andererseits, weil es natürlich eher zur Erklärung psychischer und somatoformer
Störungen als zu der von Infektionskrankheiten geeignet ist. Dennoch wäre es

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146 8. Krankheitsmodelle

nicht unplausibel gewesen, das psychoanalytische Modell dem biomedizinischen


Modell zuzuordnen, denn hinsichtlich des Wesens und der Entstehung von
Krankheiten teilt die Psychoanalyse die wesentlichsten Paradigmen des medizi-
nischen Modells, nämlich die Annahmen:
• dass zwischen gesund und krank ein qualitativer Unterschied besteht
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• dass nicht das äußerlich Beobachtbare die eigentliche Krankheit ist, sondern
dass diese sich im Inneren vollzieht und sich nur in äußeren Zeichen, Sym-
ptomen äußert
• dass Krankheit Veränderung in einer Person und damit individuelles Gesche-
hen ist, rückführbar auf innere Prozesse.

Natürlich richten sich die Annahmen über die Ursachen einer Erkrankung
nicht auf physiologische, anatomische, bakterielle oder sonstige nachweisbare,
messbare Faktoren, sondern auf das Unbewusste. Dies ändert jedoch nichts am
grundsätzlichen Rahmenmodell, also nichts an der Annahme, dass «das Eigent-
liche» der Erkrankung sich im Inneren vollzieht, ein individueller Prozess ist,
der einer eigenen Dynamik unterliegt, und dass es sich um eine Abweichung von
einem als normal definierten Zustand handelt. Letztlich führte gerade die Psy-
choanalyse dazu, dass das medizinische Modell auch zur Erklärung psychischer
Störungen herangezogen wurde und sich in der Psychiatrie und später auch in
der klinischen Psychologie fest verankern konnte.
Mit der Annahme, dass traumatisierende Kindheitserfahrungen Schädigungen
darstellen, die in erheblichem Maße mitbestimmen, wie aktuelle Konflikte verar-
beitet werden, kann das psychoanalytische Modell zudem durchaus auch den in
Kapitel 8.2.4 dargestellten Diathese-Stress-Modellen zugerechnet werden.
Dank der besonderen Berücksichtigung der Triebstruktur des Menschen hat
das psychoanalytische Modell einen hohen Erklärungswert für die Entstehung
sexueller Störungen. Angesichts seiner besonderen Beschäftigung mit den nicht-
kognitiven Anteilen des Erlebens ist es häufig auch anderen Theorieansätzen über-
legen, wenn es darum geht, Erklärungen für rational schwer verständliches oder
für Außenstehende schwer nachvollziehbares Erleben und Verhalten zu finden, wie
es etwa bei autoaggressivem oder suizidalem Verhalten der Fall sein kann.

8.2.2
Verhaltenstheoretische Modelle
Verhaltenstheoretische Modelle entstanden etwa zeitgleich um 1960 in England,
Südafrika und den USA. Die Ursprünge lagen in dem Versuch, Kenntnisse der all-
gemeinen Psychologie für die Anwendung im Gesundheitsbereich umzusetzen.

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8.2 Psycho-somatische Krankheitsmodelle 147

Dabei konzentrierte man sich vor allem auf die Kenntnisse über menschliches
Lernen, die man für die Behandlung von erkrankten Personen nutzen wollte. Der
für die neue Methode gewählte Begriff «Behaviour Theory» (Verhaltenstheorie)
sollte kennzeichnen, worauf man fokussierte: auf das Verhalten von Menschen.
Für die Anwendung im therapeutischen Bereich setzte sich der Terminus «Behavi-
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our Therapy» (Verhaltenstherapie) durch. Mit diesem Terminus wollte man auch
eine klare Trennungslinie zu der ein halbes Jahrhundert früher entstandenen
Psychoanalyse ziehen: Während die Psychoanalyse das offenbare Verhalten eines
Menschen nur als Ausdruck eines eigentlich zu Grunde liegenden psychischen
Prozesses ansieht und es als Symptom bezeichnet, sieht die Verhaltenstherapie in
dem, wie eine Person sich verhält und was sie tut, «das Eigentliche».
Heute ist die Verhaltenstherapie eine heterogene Schule mit diversen Grup-
pierungen, die jedoch grundlegende Annahmen über die Verursachung von
Erkrankungen teilen. Wegen ihrer Herkunft aus der klinischen Psychologie rich-
tete sie ihr Augenmerk zunächst vorwiegend auf psychische und somatoforme
Störungen. Inzwischen findet sie jedoch – unter dem Namen «Verhaltensmedi-
zin» – auch bei anderen Erkrankungen, insbesondere im Bereich der Orthopädie
und der Schmerztherapie, Anwendung sowie bei Menschen mit chronischen
Erkrankungen, die Strategien erlernen, mit den bestehenden Einschränkungen
so gesund wie möglich zu leben und Verschlechterungen aufzuhalten (Margraf
& Schneider 2008).

Die Verhaltenstherapie geht nicht auf einen Gründer zurück und entstand
nicht primär im klinischen Bereich, sondern sie entwickelte sich an ver-
schiedenen Orten und aus verschiedenen Disziplinen. Wichtige Gründer-
väter waren die folgenden:

Iwan Petrowitsch Pawlow wurde 1849 in der Nähe von Moskau in der
Familie eines orthodoxen Geistlichen geboren. Nach ersten Studien in The-
ologie, Jura, Tierphysiologie und Chemie schloss er ein Medizinstudium an
der militärärztlichen Akademie in St. Petersburg ab. Sein Schwerpunkt lag
in der Physiologie. Er wurde Professor für Pharmakologie und später für
Physiologie in St. Petersburg.
Pawlow ist der Entdecker des bedingten Reflexes: Bei Untersuchungen zum
Verdauungsverhalten von Hunden hatte er beobachtet, dass nach mehr-
maligem Glockenläuten, das die Fütterung begleitete, bereits die Glocke
ausreichte, um bei einem Hund Speichelfluss auszulösen. Der von Pawlow
beobachtete Lernvorgang wurde später unter dem Begriff der klassischen
Konditionierung weiter untersucht und auf menschliches Lernen übertragen.

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148 8. Krankheitsmodelle

Pawlow erhielt 1904 den Nobelpreis für Medizin, und er arbeitete bis kurz
vor seinem Tode 1936 bei seinen Hunden im Labor.

Burrhus Frederic Skinner wurde 1904 in einer Kleinstadt in Pennsylva-


nia in einer Rechtsanwaltsfamilie geboren. Er wollte Schriftsteller werden
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und lebte eine Zeit lang als Bohemien, beschloss dann aber, Psychologie zu
studieren. Nach Tätigkeiten an verschiedenen Universitäten wurde er 1948
Professor in Harvard und blieb dort bis zu seinem Tod 1990.
Skinner war einer der einflussreichsten Psychologen. Er erforschte insbe-
sondere das instrumentelle Konditionieren, das er vor allem an Ratten und
Tauben erprobte. Von Anfang an war er jedoch an der Übertragung seiner
Ergebnisse auf pädagogisches und therapeutisches Lernen des Menschen
interessiert und schrieb neben psychologischer Fachliteratur auch Bücher, in
denen er die Utopie einer Gesellschaft entwickelte, die nach den Prinzipien
der experimentellen Verhaltensforschung organisiert ist. Das berühmteste
dieser Bücher ist «Walden Two» (1948; deutsche Fassung 2002).

Hans Eysenck wurde 1916 in Berlin geboren, 1934 ging er nach Großbri-
tannien ins Exil. Nach seinem Psychologiestudium arbeitete er zunächst in
der Psychiatrie, wurde später Direktor der psychologischen Abteilung der
Maudsley-Klinik und Professor für Psychologie an der Universität London.
Er starb 1997 in London.
Eysencks Werk ist ungeheuer vielfältig: Er befasste sich intensiv mit der
Intelligenz- und Persönlichkeitsforschung, entwickelte zahlreiche Verfah-
ren zur Persönlichkeitsdiagnostik und versuchte, Persönlichkeitstypologien
mit bestimmten physiologischen Prozessen in Verbindung zu bringen. Als
entschiedener Anhänger empirischer und statistischer Methoden führte er
empirische Methodik auch in die Psychotherapieforschung ein und erteilte
der Psychoanalyse ein ausgesprochen mangelhaftes Zeugnis. Er gehörte zu
den Ersten, die die Ergebnisse der empirisch fundierten Lerntheorie für die
Psychotherapie nutzten und ist damit einer der Gründer der praktischen
Anwendung der Lerntheorien in der Therapie, somit der Verhaltenstherapie.

Joseph Wolpe wurde 1915 in Johannesburg geboren und war Professor


für Psychiatrie an der Temple-Universität in Philadelphia. Er gilt als der
Erste, der weltweit Skinners Erkenntnisse in die Therapie übertrug. Für
die Behandlung von Patientinnen und Patienten mit Angststörungen ent-
wickelte er die Methode der systematischen Desensibilisierung, die auf der
Idee basiert, dass Angst und Entspannung inkompatibel sind. Wolpe lehrte

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8.2 Psycho-somatische Krankheitsmodelle 149

seine Patientinnen und Patienten, sich nach der Jacobson-Methode tief zu


entspannen und konfrontierte sie dann schrittweise – erst in der Vorstel-
lung, dann in der Realität – mit angstauslösenden Reizen. Die systematische
Desensibilisierung war die erste Methode, in der die lerntheoretischen
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Erkenntnisse direkt therapeutisch umgesetzt wurden. Wolpe starb 1997.

Der Begriff des Verhaltens hat im verhaltenstheoretischen Modell im Laufe der


Jahre eine Erweiterung erfahren: Begrenzten die Gründerväter den Verhaltensbe-
griff vor allem auf das äußerlich beobachtbare Verhalten, so erfolgte schon wenig
später eine Ausweitung auch auf die kognitiven und emotionalen Anteile des
menschlichen Verhaltens. Heute meint Verhalten im Bereich des verhaltensthe-
oretischen Paradigmas eine komplexe Reaktion, die sich auf drei Ebenen äußert:
der physiologischen, der kognitiv-emotionalen und der motorischen. Die physi-
ologische Ebene ist die Ebene der Körperreaktionen, die kognitiv-emotionale die
der Gedanken und Gefühle, die motorische die Ebene des äußerlich beobacht-
baren Verhaltens. Diese drei Ebenen interagieren miteinander und bedingen sich
gegenseitig.
Das in Abbildung 10 dargestellte Strukturmodell (Franke & Möller 1993) zeigt
diese Annahmen. Des Weiteren geht das verhaltenstheoretische Modell von fol-
genden Grundannahmen aus:

Äquivalenzannahme: Störungen werden im verhaltenstheoretischen Modell als


gelerntes Verhalten verstanden, das entweder von der betroffenen Person selbst
oder aber von ihrer Umwelt als abweichend, störend oder belastend erlebt und
bewertet wird. Das Erlernen und die Aufrechterhaltung normalen und abwei-
chenden Verhaltens folgen dem verhaltenstheoretischen Paradigma gemäß den
gleichen Lerngesetzen. Abweichendes, krankes Verhalten ist nicht auf prinzipiell
anderes Lernen zurückzuführen, sondern lediglich auf andere Lernbedingungen.
Mit dieser Annahme unterscheidet sich das verhaltenstheoretische Paradigma
grundsätzlich vom biomedizinischen Paradigma, das spezifische ätiologische
Verlaufsprozesse für krankes Verhalten annimmt und von einer grundsätzlichen
Trennung zwischen gesund und krank ausgeht.

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138 8. Krankheitsmodelle
150 8. Krankheitsmodelle

Situation
• Was passiert?
• – Jemand macht mir ein nettes Kompliment
• – Ich habe eine anstrengende Arbeit vor mir
• – Das Wetter schlägt um
• – Ich bekomme Besuch
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• – Ich habe eine Absage erhalten usw.

Körperreaktion

PHYSIOLOGISCH
• Wie reagiert mein Organismus?
• – Ich kriege rote Ohren
• – Mein Herz klopft
• – Meine Knie zittern
• – Meine Hände werden feucht
• – Mein Kopf dröhnt usw.

Gedanken
• Was denke ich dann?
• – Was will der wohl von mir
• – Ich kann nicht mehr
• – Toll – der mag mich
• – Es wird schon klappen
• – Abwarten und Tee trinken usw.
KOGNITIV

Gefühle
• Wie fühle ich mich dann?
• – Ich fühle mich gelöst
• – Ich fühle mich unsicher
• – Ich koche vor Wut
• – Ich freue mich
• – Ich bin gespannt usw.

Verhalten
• Was tue ich (was nicht)?
MOTORISCH

• – Ich schweige
• – Ich mache einen Spaziergang
• – Ich rauche
• – Ich gehe zum Friseur
• – Ich schimpfe

Abbildung 10: Strukturmodell: Interaktion der Verhaltensebenen.


Abbildung 10: Strukturmodell: Interaktion der Verhaltensebenen.

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8.2 Psycho-somatische Krankheitsmodelle 151

Im verhaltenstheoretischen Modell werden vier große Gruppen von Lern-


prinzipien unterschieden:
• Klassisches Konditionieren: Lernen via auslösendem Reiz
• Instrumentelles Konditionieren: Lernen anhand der Folgen des Verhal-
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tens
• Modelllernen: Lernen via Beobachtung
• Sozial-kognitives Lernen: Lernen über kognitive und soziale Faktoren
wie Erwartungen, Einstellungen, Bewertungen, Symbolbildung, Regelbil-
dung usw.

Ein adipöser und ein normalgewichtiger Mann zum Beispiel haben diesem
Modell zufolge nach den gleichen Prinzipien essen gelernt: Durch Prozesse des
klassischen Konditionierens haben sie gelernt, auf bestimmte Signale hin zu
essen, zum Beispiel auf den Geruch von frischem Brot, den Anblick einer Wurst-
oder Salatplatte oder auf 12.30 Uhr als Zeit für das Mittagessen. Sie haben auch
gelernt, dass Essen eine wirksame positive Verstärkung sein kann: Der Lieblings-
pudding als Belohnung für das Bravsein bei Mutters Einkaufbummel, das Eis,
das darüber hinwegtröstet, dass das Knie nach der Rutschpartie am Kiesstrand
erheblich blutet, oder das große Abendessen als Lohn für einen gelungenen
Geschäftsabschluss. Modelllernen hat dazu beigetragen, dass Esspräferenzen
entstanden sind: Der normalgewichtige und der dicke Mann haben in ihrer Fami-
lie gelernt, bestimmte Speisen zu bevorzugen und andere abzulehnen – auf diese
Weise mögen bei dem Einen die Präferenzen für Currywurst und Pommes Frites
entstanden sein, beim Anderen für Obst und Salat. Schließlich und endlich haben
sie noch viel soziales Wissen über Essen und seine Bedeutung gelernt – und auch
diese Lernerfahrungen können unterschiedlich gewesen sein: Während dem
Einen beigebracht wurde, dass die Nerven in Fett schwimmen müssen und Essen
Leib und Seele zusammenhält, hat der andere gelernt, dass nur Dank schlank
macht.

Kontinuitätsannahme: Da normales Verhalten und abweichendes Verhalten


prinzipiell gleichen Lerngesetzen unterliegen, ist folgerichtig, dass das verhal-
tenstheoretische Modell auch in Bezug auf das Verhalten selbst nur von einem
graduellen Unterschied zwischen angemessenem und unangemessenem Verhal-
ten ausgeht. Auch hinsichtlich dieser Annahme unterscheidet sich das verhal-
tenstheoretische Modell somit grundsätzlich vom biomedizinischen Modell, das
von einer Dichotomie zwischen gesund und krank ausgeht.

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152 8. Krankheitsmodelle

Kontextbedingtheit: Einer weiteren Grundposition des verhaltenstheoretischen


Modells zufolge sind Normalität und Störungen nur im sozialen Rahmen, in
Abhängigkeit von sozialen und individuellen Normen zu definieren. Ob ein
Verhalten als gestört oder krank definiert wird, ergibt sich nicht aus der Art des
Verhaltens an sich, sondern daraus, dass es zu häufig, zu selten, am falschen Ort
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oder zur falschen Zeit erfolgt und dadurch, dass die betroffene Person selbst
darunter leidet, dass sie sich so verhält und nicht anders. Grüßt ein Wanderer
eine ihm auf einem Tiroler Höhenweg entgegenkommende Wanderin, ist dieses
Verhalten normal – jemand, der das gleiche Verhalten «Begrüßen jeder entge-
genkommenden unbekannten Person» in der Fußgängerzone einer Großstadt
praktizieren würde, würde in dieser Umgebung ziemlich merkwürdig wirken.
Gleiches gilt für Lachen auf dem Friedhof, Singen im Kino, Sich-Umziehen auf
dem Balkon …

Machen Sie einen Test:


Fahren Sie Auto, das heißt führen Sie alle Autofahrbewegungen durch – Kup-
peln, Schalten, Gasgeben, Bremsen, in den Rückspiegel schauen … – aber tun
Sie dies in der U-Bahn oder im Zug.
Wie reagieren die Mitfahrerinnen und Mitfahrer?

Vertreterinnen und Vertreter der verhaltenstheoretischen Modelle sehen in


dieser Annahme der Kontextbedingtheit einen besonders positiven Aspekt ihrer
Methode, da der Abweichungsbegriff flexibel ist, nicht primär an den Charak-
teristika einer Person festgemacht wird und er darüber hinaus die konkreten
gesellschaftlichen Rahmenbedingungen berücksichtigt. Von außen her wird der
Verhaltenstheorie jedoch der Vorwurf gemacht, sie entziehe sich mit diesem rela-
tiven Störungsbegriff einer anthropologischen Grundaussage und reduziere den
Menschen auf einen komplexen Reagierer in einer sozialen Welt.

Äquifinalität: Aus den vorhergegangenen Annahmen ergibt sich folgerichtig,


dass das verhaltenstheoretische Modell von einer multikausalen Bedingtheit
von Störungen ausgeht. Es wird nicht ein linearer kausaler Zusammenhang
angenommen, sondern Grundlage ist ein funktionales Modell, in dem Wenn-
Dann-Aussagen überprüft werden. Das funktionale verhaltenstheoretische
Modell untersucht, in welchen wechselseitigen Bedingungsgefügen das fragliche
Verhalten auftritt, und auch, welches die Bedingungen sind, unter denen es nicht
auftritt. Das zu Tage tretende Symptom wird als Phänomen verstanden, an des-
sen Entstehung und Aufrechterhaltung unterschiedlichste Faktoren beteiligt sein
können. Symptome haben somit keine spezifische Ätiologie, sondern sehr unter-

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8.2 Psycho-somatische Krankheitsmodelle 153

schiedliche Ausgangsbedingungen können bei verschiedenen Menschen zu sehr


ähnlichen Symptomen führen. Diese Annahme wird Äquifinalitätsannahme
genannt.

Auch die verhaltenstheoretischen Modelle haben sich wenig damit auseinander-


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gesetzt, was als normal, gesund angesehen wird. Zwar gibt es in der verhaltens-
therapeutischen Literatur eine breite Diskussion über die Definition und Erarbei-
tung von Therapiezielen, doch werden die Ziele in der Regel als Soll-Zustand auf
dem Hintergrund eines von der Klientin oder dem Klienten und ihrer sozialen
Umgebung nicht tolerierten oder tolerierbaren Ist-Zustands diskutiert, nicht auf
der Folie einer allgemeinen Vorstellung vom gesunden Menschen.

Zur Einordnung und Bedeutung des verhaltenstheoretischen Modells

In allen relevanten Punkten unterscheidet sich das verhaltenstheoretische


Modell vom biomedizinischen Modell: Gesundheit und Krankheit werden im
Sinne eines Kontinuums- oder orthogonalen Modells (vgl. Kap. 6) verstanden,
und das subjektive Befinden der Person spielt in der Diagnostik und Behandlung
eine erhebliche Rolle. Zur Erklärung der Entstehung und Aufrechterhaltung
von Störungen werden nicht kausale, sondern funktionale Zusammenhänge
angenommen. Störungen entstehen nicht in der Person, sondern als gelernte
Reaktion in der Auseinandersetzung mit den äußeren Bedingungen. Die realen
sozio-ökonomischen Bedingungen des Menschen spielen somit bei der Störungs-
entwicklung eine erhebliche Rolle. Und last but not least sind Erleben und das
äußere Verhalten nicht Zeichen eines «eigentlichen» Prozesses, sondern sie sind
das eigentliche Krankheitsgeschehen.
Das verhaltentheoretische Modell konnte sich nicht nur in der Psychotherapie
und Verhaltensmedizin durchsetzen, sondern auch in den Gesundheitswissen-
schaften, wo die Erkenntnisse der Lern- und Verhaltenstheorien für Gesund-
heitsförderung und Prävention aufgegriffen und nutzbar gemacht wurden.

8.2.3
Kommunikationstheorie
Fernab von den Hauptströmungen der Psychoanalyse und der Verhaltenstheorie
entwickelte eine Gruppe von Forschern, die sich mit menschlicher Kommuni-
kation, ihren Regeln und ihren Störungen beschäftigte, ein Modell zur Entste-
hung und Aufrechterhaltung von psychischen Störungen. Dieses Modell ist als
kommunikationstheoretisches Modell der Palo-Alto-Gruppe bekannt geworden,
benannt nach einer produktiven Denkfabrik in Palo Alto, Kalifornien (Watzla-

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154 8. Krankheitsmodelle

wick, Beavin & Jackson 1969; Watzlawick, Weakland & Fisch 1974). In den letzten
Jahren ist das kommunikationstheoretische Modell etwas in Vergessenheit gera-
ten, zum Teil wurde es im Rahmen von systemischen Modellen weiterentwickelt.
Meines Erachtens ist es dieses Modell wert, wieder stärker beachtet zu werden, da
es eine neue Perspektive auf Krankheiten ermöglicht. Das kommunikationsthe-
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oretische Modell basiert auf zwei Grundannahmen: Derjenigen, dass psychische


Störungen gescheiterte Lösungsversuche sind, und derjenigen, dass sie sich aus
Störungen in der zwischenmenschlichen Kommunikation ergeben.

Störungen als gescheiterte Lösungsversuche

Menschen, die sich in einer schwierigen Situation befinden, tun häufig nicht das,
was zu einer konstruktiven Änderung dieser Situation führen würde; vielleicht
wollen sie das Problem nicht wahrhaben, oder sie wissen zwar, dass etwas anders
werden muss und soll, haben aber keine Idee, wie dieses «anders» aussehen soll,
vielleicht fehlen ihnen aber auch die Mittel zu einer effektiven Veränderung. In
solchen Situationen tun Menschen häufig etwas, das den Anschein von Aktivität
gibt, letztlich aber nicht zur Lösung des Problems beiträgt, sondern im Gegenteil
eine noch unübersichtlichere, kompliziertere Lage schafft. Eine junge Frau zum
Beispiel, die mit ihrer Beziehung unzufrieden ist, die sich von ihrem Freund oft
allein gelassen fühlt und spürt, dass er ihr recht ambivalent gegenübersteht, traut
sich nicht, sich und ihren Freund mit ihrer Unzufriedenheit zu konfrontieren.
Stattdessen überlegt sie, dass er sie zu dick findet, und beginnt, eine Diät zu
machen, sehr viel Sport zu treiben und sich zu sagen, dass erst das Schlankwer-
den wichtig ist. Die erste Fehllösung zieht andere Fehllösungen nach sich, und
nach einiger Zeit entsteht eine komplexe, unübersichtliche Gemengelage, in der
das eigentliche, ursprüngliche Problem nach und nach aus dem Blickfeld ver-
schwindet – die junge Frau macht sich Sorgen, dass die Menstruation ausbleibt,
der Freund ärgert sich, dass sie zu viel Zeit im Fitnessstudio verbringt, die Mutter
bemängelt, dass sie sonntags nicht mehr zum Kaffeetrinken kommt …
Es entstehen eine Reihe konkreter neuer Probleme, und das ursprüngliche
Problem kann sich in Ruhe zurücklehnen, es ist vor Enttarnung sicher. Denn je
mehr Lösungen zur Aufhebung der neu entstandenen Probleme gesucht und aus-
probiert werden, desto weniger wird das eigentliche Problem tangiert. Es ist gut
an einer ganz anderen Stelle als der aktiven Lösungsfront versteckt. Und je tätiger
man dort ist, desto sicherer kann sich das Problem sein, dass es nicht entdeckt
und beseitigt wird, kann gleichsam zusehen, wie die Energie an der falschen
Stelle vergeudet wird und wie sich mit wachsender Frustration der Beteiligten
eine unlösbare Aufgabe entwickelt. Diese ist es dann, die nach gewisser Zeit als
psychisches Symptom erscheint. Je mehr Lösungen des Typs «Mehr vom Glei-
chen» versucht werden, umso mehr stabilisiert sich das Problem.

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8.2 Psycho-somatische Krankheitsmodelle 155

Nach den Axiomen der Kommunikationstheorie sind folgende Formen von


Fehllösungen menschlicher Probleme besonders geeignet, zu psychischen Stö-
rungen zu führen:
• Das Leugnen von Schwierigkeiten: Wenn ein Problem geleugnet wird, kann
es nicht angegangen und selbstverständlich auch nicht gelöst werden. Pro-
Fachhochschule Ostschweiz FHS St. Gallen, Hochschule für Angewandte Wissenschaften / 152.96.188.38 (2023-09-25 11:27)

bleme können in solchen Fällen eine ungeheure Dynamik entwickeln, die zu


großer Verwirrung führt und häufig mit absurden Scheinlösungen zu einer
Verschärfung der Situation beiträgt.
• Das Lösenwollen unlösbarer bzw. nicht vorhandener Probleme: Der
Versuch, unlösbare oder nicht lösbare Probleme lösen zu wollen, lässt den
Lösungsversuch zur Utopie werden. Wird die Unmöglichkeit der Lösung nicht
erkannt, sondern weiter versucht, ein nicht vorhandenes oder nicht lösbares
Problem zu lösen, so entstehen Schwierigkeiten, die von manchen Menschen
mit psychischen Störungen «gelöst» werden.
• Lösungen auf der falschen Abstraktionsebene: Lösungsversuche auf der fal-
schen Abstraktionsebene führen zu Paradoxien, zu Spielen ohne Ende. Para-
doxien ergeben sich oft durch Störungen in der Kommunikation, wenn zum
Beispiel der Inhalts- und der Beziehungsaspekt einer Kommunikation nicht
zusammenpassen und wenn eine Person gezwungen wird, Wahrnehmungen
auf der Inhaltsebene zu bezweifeln, um eine für sie wichtige Beziehung nicht
zu gefährden.

Leugnung: Leugnet die oben erwähnte junge Frau, dass in ihrer Beziehung
etwas nicht stimmt, und versucht stattdessen, den dicken Po zu verschmä-
lern, kommt sie der Klärung ihrer Beziehung nicht näher.
Utopie: Wenn die junge Frau versucht, ihren anlagebedingt dicken Po
zu verkleinern, wird sie zwar insgesamt abnehmen, ein schmales Gesicht
bekommen, dünne Arme und eine noch schlankere Taille – der Po wird pro-
portional zum übrigen Körper dicker bleiben und eventuell am sehr schlank
gewordenen Körper noch deutlicher hervortreten.
Paradoxie: Tätschelt der Freund der oben erwähnten jungen Frau ihren
etwas zu dicken Po, grinst dabei und sagt, er liebe schlanke Frauen, so schafft
er eine paradoxe Situation, die geeignet ist, die Unsicherheit der jungen Frau
zu intensivieren. Vermutlich wird sie mit dem utopischen Lösungsversuch
«… wenn ich erst einen dünnen Po habe …» weitermachen und das Problem
stabilisieren.

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156 8. Krankheitsmodelle

Der Kommunikation kommt bei der Entstehung psychischer Störungen eine zen-
trale Rolle zu, da in jedem zwischenmenschlichen Kontakt Kommunikation statt-
findet. Ausgehend davon, dass psychische Störungen sich im zwischenmenschlichen
Bereich entwickeln, ergibt sich folgerichtig, dass sie sich in der Kommunikation
entwickeln. Watzlawick und Mitarbeiter postulieren, dass menschlicher Kommu-
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nikation Axiome zu Grunde liegen, die in erfolgreicher Kommunikation berück-


sichtigt, in pathologischer Kommunikation aber gebrochen werden. Natürlich
führt nicht ein ein- oder zweimaliger Regelverstoß zu einer psychischen Störung,
aber wenn wesentliche Kommunikationsmuster über längere Zeit gestört sind,
kann das darin resultieren, dass jemandem schließlich nur noch die Sprache der
psychischen Störung zur Verfügung steht, um sich auszudrücken.

Die wichtigsten Axiome der Kommunikation lauten:

Man kann nicht nicht kommunizieren. Handeln oder Nichtstun, Worte,


Hüsteln, Augenbrauen hochziehen und Schweigen haben alle Mitteilungscharak-
ter: Sie beeinflussen andere und diese wiederum können ihrerseits nicht nicht auf
diese Kommunikation reagieren und kommunizieren damit selbst. Eine Störung
tritt auf, wenn jemand die jeder Kommunikation innewohnende Stellungnahme
vermeiden will und versucht, nicht zu kommunizieren.

Jede Kommunikation hat einen Inhalts- und einen Beziehungsaspekt. Der


Inhaltsaspekt transportiert das «Was» der Kommunikation, der Beziehungsa-
spekt das «Wie». Der Beziehungsaspekt wird durch Mimik, Gestik, Stimmlage
ausgedrückt und gibt Hinweise darüber, wie der Inhalt, also die Information, ver-
standen werden soll. Störungen treten auf, wenn Inhalts- und Beziehungsaspekt
diskrepant sind. Sagt eine Mutter zu ihrem Sohn, natürlich könne er machen, was
er wolle, er sei ja schließlich erwachsen, drückt aber in Gestik, Mimik und Ton
aus, dass sie sehr genaue Vorstellungen davon hat, was der Sohn bitteschön zu tun
und zu lassen habe, so schafft sie hiermit eine paradoxe Situation.
Eine besondere Form der Paradoxie ist das Double-Bind, das heißt das Schaf-
fen einer Situation, die den Kommunikationspartner in eine Zwickmühle bringt,
in der er es nicht richtig machen kann, wie immer er sich verhält.

Eine Frau schenkt ihrem Mann zum Geburtstag zwei Krawatten, eine
gestreifte und eine gepunktete. Um seiner Frau zu zeigen, dass er sich über das
Geschenk gefreut hat, bindet der Mann am nächsten Morgen die gepunktete
Krawatte um. Als er damit zum Frühstückstisch kommt, sagt seine Frau: «Ich
hab gestern gleich gemerkt, dass Dir die Gestreifte nicht gefällt.»

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8.2 Psycho-somatische Krankheitsmodelle 157

Es gibt Kommunikationen, die in sich ein Double-bind darstellen, wie zum Bei-
spiel der Satz: «Sei spontan». Auch der Satz «… nun setz dich doch endlich mal
gegen mich durch …» versetzt das Gegenüber in eine Situation, in der das Ein-
gehen auf die Inhaltsebene der Botschaft das Beachten der Beziehungsbotschaft
unmöglich macht.
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Die Natur einer Beziehung ist durch die Interpunktion der Kommunikati-
onsabläufe bedingt: Jeder Kommunikationsteilnehmer strukturiert die Inter-
aktionen, die objektiv einen ununterbrochenen Austausch von Mitteilungen
darstellen, für sich. Beziehungskonflikte beruhen oft auf unterschiedlichen Inter-
punktionen von Kommunikationsabläufen – was dann in nicht enden wollenden
Auseinandersetzungen nach dem Motto: «Aber du hast doch gesagt …» – «Ja,
aber du hattest gesagt …» – mündet.

Menschliche Kommunikation hat analoge und digitale Anteile. Analoge


Kommunikation basiert auf Bildern und archaischen, präverbalen Kommuni-
kationsformen, und sie bezieht sich auf Beziehungen zwischen Menschen oder
Dingen. Digitale Kommunikation ist abstrakt, logisch und bezieht sich auf Worte
und Sätze, die bestimmten Objekten zugeordnet sind. Analoge Kommunikation
ist älter und damit allgemeingültiger als die neuere digitale Kommunikation,
gleichzeitig aber auch mehrdeutig, und ihr fehlen wichtige Elemente der digitalen
Kommunikation. Teilnehmer und Empfänger von Kommunikation müssen stän-
dig zwischen den beiden Sprachebenen hin und her übersetzen. Wenn es zu fal-
schen Übersetzungen zwischen analoger und digitaler Kommunikation kommt,
entstehen Störungen. Die wichtigsten Fehlerquellen liegen in der Mehrdeutigkeit
der analogen Kommunikation, in der Empfindungen ausgedrückt werden, die in
der logischen digitalen Kommunikation nicht dargestellt werden können. Wenn
bestimmte Inhalte nicht wirkungsvoll digital mitgeteilt werden können, kann die
analoge Kommunikation gewählt werden, zum Beispiel durch körperliche Sym-
ptome: Kopfschmerzen können dann mitteilen, dass eine Frau umsorgt werden
oder in Ruhe gelassen werden möchte und Herzrhythmusstörungen, dass sie das
von ihr geforderte Tempo nicht mehr lange wird durchhalten können.

Menschliche Kommunikation ist entweder symmetrisch oder komplementär.


Je nachdem, ob die Beziehung zwischen den Partnern auf Gleichheit oder Unter-
schiedlichkeit beruht, ergeben sich Störungen, wenn die Beziehungsstrukturen
nicht klar sind, von den Partnern unterschiedlich wahrgenommen werden, sich
nicht angemessen in der Interaktion entwickeln oder erstarren. Psychische Stö-
rungen können sich zum Beispiel ergeben, wenn Kinder Kinder bleiben sollen
oder müssen, obwohl sie bereits dreißig Jahre alt sind. Das durch die elterliche
Botschaft: «Bitte bleibe unser liebes Kind» entstandene Problem wird dann mit

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158 8. Krankheitsmodelle

der Scheinlösung Anorexie, Drogenabhängigkeit oder dauerhafter finanzieller


Unselbstständigkeit beantwortet.

Zur Einordnung und Bedeutung des kommunikationstheoretischen Modells


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Meine persönliche Wertschätzung des kommunikationstheoretischen Modells


beruht vor allem darauf, dass ich die Grundannahme des Modells, dass Stö-
rungen gescheiterte Lösungsversuche darstellen, für einen äußerst fruchtbaren
Zugang zum Verständnis von Erkrankungen halte. Angesichts ihrer persön-
lichen Umwelt, der gesellschaftlichen Strukturen, ihrer eigenen Ängste, man-
gelnden Ressourcen und emotionalen sowie ökonomischen Abhängigkeiten sind
viele Menschen von den Aufgaben, die das Leben ihnen stellt, überfordert. Sie
mühen sich sehr – aber so wie jemand, der ins Moor gefallen ist, buddeln sie sich
durch ihre Anstrengungen immer weiter ein. Diese Anstrengungen werden im
kommunikationstheoretischen Modell nicht pathologisiert, sondern als Teil des
Problems untersucht und ernst genommen. Mit dieser Haltung gewinnt nicht
nur die Symptomatik einen anderen Stellenwert, sondern auch der Kranke wird
in seinen bisherigen Lösungsversuchen gewürdigt und akzeptiert – eine Haltung,
die ich eher teile als das biomedizinische Verständnis vom Menschen als Wirt der
Krankheit.
Das kommunikationstheoretische Modell bietet zudem die Möglichkeit, den
kommunikativen Charakter von Krankheiten, das, was durch die Erkrankung
ausgedrückt wird und für dessen Kommunikation die verbalen Mittel versagen,
zu berücksichtigen und zur Sprache zu bringen. Dies kann den Betroffenen, die
sich, ihren Gefühlen und ihrem Verhalten oft hilflos gegenüberstehen und nicht
verstehen, wie «so etwas» passieren konnte oder warum sie «so etwas» tun, große
Erleichterung bringen.

8.2.4
Diathese-Stress-Modelle
Diathese-Stress-Modelle, auch Vulnerabilitäts-Stress-Modelle genannt, betrachten
Krankheit als das Ergebnis einer Wechselwirkung zwischen einer Person und
äußeren Belastungsfaktoren. Unter der Diathese versteht man all die Faktoren der
Person, die sie für eine bestimmte Krankheit besonders anfällig machen – anla-
gebedingt oder erworben. Diese Faktoren lösen jedoch nicht per se Krankheit
aus, sondern erst wenn sie durch äußere Belastungsfaktoren aktiviert werden: Ein
Mensch mit der Diathese für eine bestimmte Erkrankung wird nur dann erkran-
ken, wenn er mit Stressoren konfrontiert wird, die seine Konstitution in einer Form
reizen, auf die er keine gesunden Abwehrreaktionen zur Verfügung hat.

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8.2 Psycho-somatische Krankheitsmodelle 159

Frühe Diathese-Stress-Modelle verstanden unter der Diathese ausschließlich


genetische Faktoren. Heute wird der Begriff jedoch sehr viel weiter gefasst. Neben
den erblich bedingten Anlagefaktoren und pränatalen Schädigungen (z. B. durch
Röteln oder starken Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft)
werden auch erworbene Vulnerabilitäten durch perinatale Schädigungen (z. B.
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durch Unterbrechung der Sauerstoffzufuhr zum Gehirn während der Geburt)


und frühe Erkrankungen dazu gezählt, außerdem Traumatisierungen oder früh-
kindliche psychosoziale Schädigungen.
Diathese-Stress-Modelle spielen z. B. in der Allergologie eine wichtige Rolle:
Allergien sind überschießende Reaktionen des Immunsystems auf bestimmte
Stoffe. Normalerweise schützt das Immunsystem den Organismus vor Krank-
heitserregern wie Bakterien, Viren oder Parasiten. Bei einer Person mit einer
bestimmten Prädisposition jedoch schießt die Abwehrreaktion bei bestimmten
Stoffen über das Ziel hinaus, und es kommt zum Ausbruch einer Allergie, z. B. von
Heuschnupfen. Verlebt der Gräserallergiker den Sommer nicht im heimischen
Allgäu sondern in der Sahara, so bleibt der Heuschnupfen aus. Aber auch für das
Magengeschwür einer Studentin, das «ausgerechnet» mitten im Staatsexamen
ausbricht, kann das Diathese-Stress-Modell einen hohen Erklärungswert haben:
Haben Schwester, Mutter und Großmutter ebenfalls schon Magengeschwüre
gehabt, so liegt familiär eine gewisse Veranlagung vor, die jedoch ruhig schlum-
mert, solange die junge Frau keine besonderen Belastungen erlebt. Durch die
Aufregung des Prüfungsstresses jedoch kann es zu einer Aktivierung der patho-
genen Prozesse und zum Ausbruch des Magengeschwürs kommen. Vielleicht
hat die junge Frau aber auch während der Prüfungsvorbereitungen weniger auf
ihre Ernährung geachtet, hastiger gegessen, mehr geraucht – sich also auch nicht
freundlich gegenüber ihrem sensiblen Magen verhalten. Als die das Magenge-
schwür auslösenden Bedingungen kommen somit sowohl somatische als auch
psychische und verhaltensmäßige Faktoren ins Spiel.
Auch zur Erklärung psychischer Erkrankungen können Diathese-Stress-
Modelle angewendet werden. Psychische Störungen manifestieren sich diesen
Ansätzen zufolge dann, wenn belastende Ereignisse die Bewältigungsressourcen
einer Person mit einer gewissen Vulnerabilität überfordern – wie im folgenden
Beispiel einer depressiven Reaktion.

Herr Vogel ist ein 55-jähriger Spätaussiedler aus Russland, der in ärm-
lichsten Verhältnissen in der Nähe von Odessa geboren wurde und während
seiner Jugend über verschiedenste Aufenthaltsorte schließlich nach Sibirien
kam. Schon als Kind musste er hart körperlich arbeiten. Aus Gründen,
über die er nicht berichten kann, wurde er zu zehn Jahren Zwangsarbeit

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160 8. Krankheitsmodelle

verurteilt, danach arbeitete er als Holzfäller und später als Verlader bei der
Eisenbahn und im Straßenbau. Vor zehn Jahren erhielt er zusammen mit
seiner Familie – seine Frau und er haben neun Kinder – die Erlaubnis, nach
Deutschland auszureisen. Hier arbeitete er im Straßenbau.
Fachhochschule Ostschweiz FHS St. Gallen, Hochschule für Angewandte Wissenschaften / 152.96.188.38 (2023-09-25 11:27)

Seit Herr Vogel einen im Prinzip leichten Autounfall auf der Heimfahrt von
der Arbeitsstelle hatte, hat sich sein Leben völlig verändert. Er habe seit dem
Unfall vor zwei Jahren ständig Kopfschmerzen, alle Wirbel täten im weh,
er könne den Hals nicht mehr bewegen, auch den Oberkörper nicht. Der
Schmerz ziehe durch den ganzen Körper, ständig seien die Hände und Füße
kalt, außerdem habe er ein ständiges Ohrgeräusch. Er schlafe schlecht, fühle
sich schwindelig, sei unsicher beim Gehen und selbst kleinste Anstrengungen
erschöpften ihn völlig. Er könne nur noch kurze Strecken gehen und habe
keinerlei Kraft mehr in den Armen. Er fühle sich völlig überflüssig, er tauge
für gar nichts mehr. Außerdem sei er schrecklich nervös, das ganze Leben
mache ihm keinen Spaß mehr. Früher habe er viel gesungen und gepfiffen,
jetzt störe ihn Musik nur noch. Der Unfall habe ihm das Genick gebrochen.

Herr Vogel hat mehrere stationäre Aufenthalte in verschiedenen orthopä-


dischen Kliniken und einer Schmerzklinik hinter sich, die Symptomatik
blieb unverändert.

Breite Anwendung hat das Diathese-Stress-Modell in der Schizophreniefor-


schung gefunden; hier zumeist unter dem Namen «Vulnerabilitätstheorie»
(Zubin 1990). Ausgangspunkt für die Entwicklung der Vulnerabilitätstheorie der
Schizophrenie war die empirisch belegte Tatsache, dass die Erkrankungskonkor-
danz bei monozygoten Zwillingen bei weitem nicht 100 % erreicht, dass also auch
bei zwei Personen mit gleicher genetischer Ausstattung eine an Schizophrenie
erkranken kann, die andere jedoch zeitlebens keine entsprechenden Symptome
zeigt. Es muss somit Faktoren geben, die das Ausbrechen einer Erkrankung bei
vorhandener Disposition begünstigen – und andererseits auch solche, die eine
Person trotz vorhandener Vulnerabilität vor ihrem Ausbruch schützen. Inzwi-
schen wurden genetische, neuronale und endokrine Faktoren gefunden, die
als Diathese-Faktoren das Auftreten einer Schizophrenie begünstigen können,
außerdem frühkindliche Traumen. Wohlgemerkt: begünstigen. Man nimmt an,
dass die Vulnerabilität zeitlebens erhalten bleibt, dass sich jedoch die auslösenden
oder begünstigenden Faktoren verändern können – ebenso wie die schützenden
Faktoren. Keiner dieser Faktoren ist nach jetzigem Kenntnisstand ursächlich für
das Auftreten der Störung verantwortlich. Als auslösende Faktoren kommen alle

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8.2 Psycho-somatische Krankheitsmodelle 161

Faktoren in Betracht, die für die betreffende Person einen Stressor darstellen.
Dies können einzelne äußere Ereignisse sein, aber auch eine nicht zu bewältigende
psychische Anspannung oder eine langfristig schwierige Lebenssituation – letztlich
alles, was als akuter oder chronischer Stressor die Bewältigungskräfte der Person
überfordert.
Fachhochschule Ostschweiz FHS St. Gallen, Hochschule für Angewandte Wissenschaften / 152.96.188.38 (2023-09-25 11:27)

Zur Einordnung und Bedeutung der Diathese-Stress-Modelle

Im Rahmen der Stressforschung (vgl. Kap. 7) haben Diathese-Stress-Modelle


entscheidende Impulse für die Untersuchung der Frage gegeben, wie Menschen
mit Stress umgehen, und insbesondere, wie sie ihn ohne gesundheitlich negative
Auswirkungen verarbeiten. Am bekanntesten wurde das transaktionale Konzept
der Arbeitsgruppe von R.S. Lazarus, nach dem die gesundheitlichen Auswir-
kungen von Stress durch die Interaktion zwischen Charakteristika der Person, der
sozialen und kulturellen Umgebung und der Stresssituation beeinflusst werden.
Diathese-Stress-Modelle haben daher auch Resonanz in der Verhaltensmedizin
und Psychosomatik gefunden, da sie es ermöglichen, die besondere Bedeutung
krankheitsauslösender Ereignisse angemessen zu berücksichtigen. Damit sind sie
auch direkt für die Therapie zu nutzen und bieten ein konkretes Handlungsmodell
an: Sie vermitteln, dass die Person gesund leben kann, solange sie lernt, die krank-
heitsauslösenden Stressoren zu meiden oder angemessener mit ihnen umzugehen.
So wie Gräserpollenallergiker gesund bleiben, solange sie Blumenwiesen meiden,
können Personen, die an Migräne leiden, lernen, die Situationen, Menschen oder
Speisen zu meiden, die geeignet sind, Migräneanfälle auszulösen, und sie kön-
nen ebenfalls Methoden erlernen, wie sie besser mit unvermeidbaren Stressoren
umgehen können. Joseph Zubin, der Nestor des Vulnerabilitätskonzepts in der
Schizophrenieforschung, benennt diesen Vorzug des Konzepts folgendermaßen:
Einer der potentiellen Vorzüge der Vulnerabilitätshypothese ist darin zu sehen,
dass sie die Interaktion zwischen biologischen und umweltorientierten Ätiologie-
modellen berücksichtigt. Sie ermöglicht in der Tendenz eine optimistischere Sicht-
weise der Schizophrenie als medizinische oder biologische Modelle. Man könnte
sich fragen, worin sich das Vulnerabilitätsmodell vom herrschenden medizinischen
Modell unterscheidet. Der wesentliche Unterschied zwischen beiden Modellen ist
folgender: Dem medizinischen Modell zufolge ist eine an Schizophrenie leidende
Person eine essentiell kranke Person, der es über längere oder kürzere Phasen
hinweg gut gehen kann (nämlich in Phasen der Remission). Nach den Annahmen des
Vulnerabilitätsmodells ist die Person essentiell gesund und bliebe dies auch, gäbe
es nicht die Stress induzierenden Anforderungen des Lebens, die in Verbindung mit
einer entsprechenden Vulnerabilität länger oder kürzer andauernde Krankheitse-
pisoden auslösen können. Diese Episoden sind keine permanent bestehenden, irre-
versiblen Zustände, sondern verschwinden schließlich, wenn vielleicht auch nicht
gänzlich ohne Spuren zu hinterlassen. (Zubin 1990, S. 51)

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162 8. Krankheitsmodelle

8.3
Soziokulturelle Krankheitsmodelle
Ausgangspunkt aller soziokulturellen Modelle ist die Grundüberzeugung, dass
Krankheit kein kulturfreier Sachverhalt ist. Das biomedizinische Verständnis,
demzufolge eine Leberzirrhose in Mailand das Gleiche ist wie auf Java und eine
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bipolare Depression in Sibirien das Gleiche wie in Havanna, greift aus soziokul-
tureller Sicht zu kurz. Das biologische Modell der Medizin berücksichtigt im
Bemühen, die Krankheit naturwissenschaftlich zu fassen, aus soziologischer Sicht
allenfalls das medizinische Substrat der Krankheit, nicht aber die mit Krankheit
immer einhergehende soziale Abweichung.
Im Mittelpunkt des soziologischen Interesses steht eher das Phänomen der
Krankheit in einer Gesellschaft als der Erklärungsversuch, wie sich bei einzelnen
Menschen Erkrankung entwickelt. Krankheit wird als soziale Devianz interpre-
tiert, als Abweichung von gesellschaftlichen Normen, zu deren Verhinderung
und Behandlung Prozesse der sozialen Kontrolle wirksam werden.
In Anlehnung an Gerhardt (1999) lassen sich die soziologischen Theorien in
drei großen Gruppen zusammenfassen:

8.3.1
Konflikttheorien
Konflikttheorien machen einen strukturellen Grundkonflikt zwischen Per-
son und Gesellschaft sowie zwischen Körper und Kultur zum Ausgangspunkt
ihrer Überlegungen. Menschen brauchen diesen Theorien zufolge Regeln und
Normen, um gesund leben zu können, und auf Brüche und Unsicherheiten
reagieren sie mit Verwirrung und Störungen. Je weniger die gesellschaftlichen
Bedingungen den Bedürfnissen der Menschen Rechnung tragen, je unsicherer
die individuelle Existenz in der Gesellschaft ist, je weniger die Menschen sich auf
bestimmte Strukturen und Werte verlassen können und je weniger Kontrolle sie
über ihr eigenes Leben ausüben können, umso mehr bleiben ihnen als Reaktion
allein Verzweiflung, Entfremdung, Selbstschädigung und Krankheit. Krankheit
wird damit als Leiden in der Gesellschaft interpretiert, das sich insbesondere in
psychischen und psychosomatischen Störungen äußert.
Besonders bekannt wurde aus der Gruppe der Konflikttheorien die Suizidtheo-
rie des Franzosen Emile Durkheim. Seine 1897 erstmalig veröffentlichte Anomiet-
heorie besagt, dass der Grad der Integration eines Individuums in die Gesellschaft
und seine Akzeptanz ihrer Normen und Regeln als ein Maß für das Suizidrisiko
anzusehen sind. Wenn die Stützen der Gesellschaft wie Familien, Kirchen, staat-
liche Organe und Verwaltungen nicht mehr den Einfluss auf das Individuum aus-

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8.3 Soziokulturelle Krankheitsmodelle 163

üben, der nötig wäre, damit Menschen sich zugehörig und eingebunden fühlen,
besteht Desintegration. Je nach Art und Ausmaß der sozialen Integration und der
sozialen Regulation kommt es zu typischen Arten des Suizids:
Der «egoistische Suizid» gilt als Ausdruck einer zu starken Individuation, eines
mangelnden Gemeinschaftsbewusstseins und einer ungenügenden Verbunden-
Fachhochschule Ostschweiz FHS St. Gallen, Hochschule für Angewandte Wissenschaften / 152.96.188.38 (2023-09-25 11:27)

heit mit der Gemeinschaft. Die Folgen sind Entfremdung, Vereinsamung und
Isolierung des Einzelnen. Der «altruistische Suizid» ist Ausdruck einer zu starken
Abhängigkeit von der Gesellschaft und einer zu gering ausgeprägten Individua-
lität. Und die dritte Form, der «anomische Suizid», tritt auf, wenn Regelsysteme
fehlen, die Orientierung ermöglichen, und wenn der Einzelne mit der Regel- und
Schrankenlosigkeit seines eigenen Handelns nicht mehr klarkommt.
Obwohl sich Durkheims Annahmen über die verschiedenen Suizidformen
nicht haben empirisch erhärten lassen, zeigt die Tatsache, dass sein Buch in den
letzten hundert Jahren immer wieder aufgelegt wurde, dass seine Grundgedanken
nicht überholt sind. Eher das Gegenteil ist der Fall: In der Soziologie werden Fra-
gen der Art und Bedeutung sozialer Beziehungen und Kommunikation seit den
1990er-Jahren intensiv unter dem Oberbegriff des sozialen Kapitals diskutiert.
Eine einheitliche Definition dieses Begriffs existiert nicht. In den verschiedenen
Konzepten spielen mit unterschiedlicher Gewichtung zwei Faktoren eine Rolle:
Zum einen die individuellen Ressourcen, die Menschen aus ihrer Zugehörigkeit
zu einer oder mehreren Gruppen gewinnen, zum zweiten der Grad des gesell-
schaftlichen Zusammenhalts, der sich aus der Zugehörigkeit zu einer Gemein-
schaft ergibt (für einen Überblick: Braun 2002). Die Diskussion bezieht sich vor
allem auf die allgemeinen gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen der
Beziehungen und Netze in den verschiedenen sozialen Gruppen. Doch wird die
Relevanz sozialen Kapitals zunehmend auch im Gesundheitsbereich thematisiert.
Ziemlich übereinstimmend zeigen die bisherigen Studien, dass Menschen, die
über ein geringeres Maß an sozialem Kapital verfügen, einen objektiv schlech-
teren Gesundheitszustand haben und sich auch subjektiv als kränker erleben
(Kroll & Lampert 2007, von dem Knesebeck 2011). Faktoren wie soziale Inte-
gration und Desintegration, das Fehlen allgemein gültiger sozialer Normen und
Verhaltensregeln sowie Vereinzelung haben sich als wichtige Einflussfaktoren für
das Auftreten von Erkrankungen in Gesellschaften erwiesen (vgl. Kap. 11).

Zur Einordnung und Bedeutung der Konflikttheorien

Angesichts von Massenarbeitslosigkeit, Globalisierung und Neo-Liberalismus


gewinnen die Konflikttheorien wieder sehr an Aktualität. Das, was die weni-
gen Gewinner dieser Entwicklung als Freiheiten anpreisen, die Menschen bei
einer immer größer werdenden Individualisierung der Lebensgestaltung und

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164 8. Krankheitsmodelle

der Lebensverläufe erreichen, stellt sich für die meisten mehr als Risiko denn
als Chance dar. Die Schere zwischen Arm und Reich wird weiter, und wer seine
Arbeit aufgrund von Insolvenzen, Sanierungen oder Firmen-Hochzeiten verloren
hat, wird dies nicht als neue Freiheit begrüßen, sondern fühlt sich zu Recht im
Stich gelassen, hat Angst vor der Zukunft und befindet sich mit höherer Wahr-
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scheinlichkeit auf einer sozialen Rutsche als im Fahrstuhl zur Führungsetage der
Gesellschaft.

8.3.2
Strukturfunktionalistisches Modell
In den 1950er-Jahren entwickelte der amerikanische Soziologe Talcott Parsons
eine Theorie, in der er die Beziehungen zwischen Persönlichkeits- und Gesell-
schaftsstrukturen beschrieb. Der Gesellschaft wird in diesem Modell eine über-
aus mächtige Bedeutung für das Leben des einzelnen Menschen zugeschrieben,
und sie hat erheblichen Einfluss darauf, ob ein Mensch gesund oder krank ist.
Die Persönlichkeit eines Menschen wird nach Parsons durch drei Systeme orga-
nisiert: Das biologisch-organische System versorgt den Menschen mit Energie
für physiologische und psychische Grundfunktionen, das psychische System
kontrolliert diese Antriebsenergien und lenkt es in gesellschaftlich erlaubte und
vorgeschriebene Bahnen. Das soziale System Gesellschaft definiert, wie sich die
Einzelnen zu verhalten haben.
Die gesunde Persönlichkeit bildet sich nach Parsons dadurch aus, dass sie ihre
inneren Bedürfnisse mit den gesellschaftlichen Normen und Kontrollsystemen
in Übereinstimmung bringt. Im Idealfall hat sie diese so verinnerlicht, dass die
Befolgung der gesellschaftlichen Regeln das persönliche Bedürfnissystem befrie-
digt. Körperlich und psychisch gesund kann nach Parsons nur der Mensch sein,
der seine Bedürfnisse so an die Anforderungen der Gesellschaft angeglichen
hat, dass er selbst aus seinem tiefen Inneren möchte, was die gesellschaftlichen
Normen und Regeln von ihm erwarten. Gesundheit ist nach Parsons damit ein
Gleichgewichtszustand zwischen den biologisch-organischen und psychischen
Grundstrukturen der Persönlichkeit auf der einen, und dem sozialen System
Gesellschaft auf der anderen Seite.
Krankheit definiert Parsons dementsprechend als eine Störung der Fähigkeit,
die Anforderungen der sozialen Rolle zu erfüllen (vgl. Kap. 2). Wer krank ist, kann
den ihm zugeschriebenen und von ihm übernommenen Aufgaben nicht mehr
gerecht werden. Die Legitimierung für diese Nichteinhaltung der normalen Rol-
lenverpflichtungen vollbringt das medizinische System in Gestalt von Ärztinnen
und Ärzten. Sie sind die von der Gesellschaft legitimierte Instanz, Menschen von
ihren Rollenverpflichtungen zu entbinden und ihnen die neue Rolle des Kranken

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8.3 Soziokulturelle Krankheitsmodelle 165

zuzuschreiben. Die Krankenrolle entbindet den Kranken von seinen üblichen


Verpflichtungen und verschafft ihm einen gewissen legalen Schutzraum. Auch
moralisch erhalten Kranke Rückendeckung, denn für ihre Krankheit werden
sie nicht verantwortlich gemacht. Doch diesen Schonraum gibt die Gesellschaft
nicht ohne Gegenleistung. Der kranke Mensch bekommt umgehend eine neue
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Aufgabe: Er muss alles tun, um wieder gesund zu werden.

Zur Einordnung und Bedeutung des strukturfunktionalistischen Modells

Kritisch kann gegen das strukturfunktionalistische Modell sicher eingewendet


werden, dass es mit der starken Fokussierung auf die Rollenfunktion nur auf einen
Teil der Menschen in der Gesellschaft anwendbar ist: Kinder und alte Menschen
entziehen sich dem Modell. Und auf Menschen mit chronischen Erkrankungen ist
es ebenfalls nicht anwendbar, denn viele von ihnen werden trotz ihrer Krankheit
ihrer sozialen Rolle gerecht. Einen positiven Aspekt des Modells sehe ich jedoch
darin, dass es ein so grelles Licht auf die Rolle der Medizin im Prozess des Krank-
werdens und Krankseins wirft. Es verdeutlicht, dass es im herrschenden System
allein um das Expertenwissen geht und dass die subjektive Befindlichkeit keine
Berücksichtigung findet. Schlimmer noch: Wenn es jemandem schlecht geht, so
ist dies eben ein Zeichen dafür, dass er mit den Anforderungen der Gesellschaft
nicht reibungslos zurechtkommt, und dass er bereits deshalb nicht als gesund
gelten kann. Vermutlich lag Parsons nichts ferner als eine kritische Haltung zum
Medizinsystem; aber gerade dadurch, dass er diesem System als gesellschaftlicher
Kontrollinstanz so große Bedeutung zuerkannte, betonte er dessen Funktion als
Machtsystem und blendete die helfende Funktion, um dessen Darstellung sich
das System selbst so intensiv bemüht, aus.

Juli Zeh malt in ihrem Roman «Corpus delicti – ein Prozess» das Bild einer
Gesellschaft aus, in der Gesundheit zur allgemeinen Pflicht geworden ist.
Nichteinhalten der gesundheitlichen Regeln gilt als krimineller Akt, und
die gesellschaftliche Ordnung erfährt durch eine terroristische Vereinigung
namens R.A.K. (Recht Auf Krankheit) ihre größte Bedrohung. Eine düstere
Vision einer Gesundheitsdiktatur des 21. Jahrhunderts, geschrieben 2009.

8.3.3
Interaktionstheorien
Interaktionstheorien wurden in der Medizinsoziologie als Gegenmodell zum
strukturfunktionalistischen Modell von Parsons entwickelt. Insbesondere hin-

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166 8. Krankheitsmodelle

sichtlich psychiatrischer Patienten war offensichtlich, dass das Modell der Nicht-
erfüllung von Rollen zu kurz griff.
Als aus der Soziologie entwickelter Ansatz betonen auch die Interaktionsthe-
orien den Einfluss, den die Gesellschaft auf den Erkrankungsprozess nimmt.
Ihnen zufolge entspringt Krankheit jedoch nicht unbewussten Motivationen und
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Bedürfnisstrukturen in der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Normen,


sondern sie entwickelt sich im Verlaufe eines sozialen Zuschreibungsprozesses.
Krankheit, insbesondere psychische Erkrankung, ist das Produkt der sozialen
Konstruktion von Wirklichkeit: Auffälligkeiten entwickeln sich zur Störung, weil
sie auf dem Hintergrund des sozialen Normensystems nicht neutral als Abwei-
chung zur Kenntnis genommen, sondern als Krankheit etikettiert werden. Auch
wird Krankheit nicht als Rolle definiert, die mit Eigen- und Fremdanstrengung
relativ schnell überwindbar ist, sondern als eine dem Menschen häufig lebenslang
zugeschriebene Rolle. Wenn – wie im Bereich von psychisch kranken und behin-
derten Menschen häufig – mit der Krankheit die Einweisung in eine Institution
einhergeht, beschreibt Krankheit in der interaktionstheoretischen Terminologie
eine Karriere, deren Dynamik entscheidend durch die soziale Umwelt beeinflusst
ist.
Aus der Gruppe der interaktionstheoretischen Modelle erlangte vor allem das
Labeling-Modell Popularität. Es verdeutlicht den Prozess, in dessen Folge einige
Menschen in einer Gesellschaft den Status des Normalbürgers verlassen und zum
Behinderten oder zum psychisch Kranken werden; den Prozess somit, durch den
psychisches Leid oder körperliche Schädigung zum sozialen Tatbestand, zum
«Krankheitsfall» werden. Das Labeling-Modell postuliert, dass die Abweichung
eine gesellschaftliche Konstruktion der beteiligten sozialen Akteure ist. Aus
dieser zentralen Prämisse ergeben sich Fragen, die Keupp folgendermaßen for-
muliert:
Was sehen verschiedene Gesellschaftsmitglieder für richtig oder falsch, gut oder
böse, legal oder illegal, normal oder abweichend an?
Wann kommen ihre Definitionen zur Anwendung – immer oder nur in einigen
bestimmten Situationen?
Auf wen werden diese Definitionen angewendet – auf jeden, unabhängig von Alter,
Geschlecht und sozialem Status?
Was geschieht konkret, wenn solche Definitionen auf einzelne Gesellschaftsmit-
glieder angewendet werden? (Keupp 1988, S. 80)

Der Kerngedanke des Labeling-Modells ist somit die Frage danach, was aus einer
Handlung gesellschaftlich gemacht wird. Für jede Handlung kann man sich
einen Kontext denken, innerhalb dessen sie als regelverletzend wahrgenommen

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8.3 Soziokulturelle Krankheitsmodelle 167

und entsprechend beantwortet wird: Telefonieren in der Oper, Zeitunglesen beim


festlichen Diner, Pediküre im Büro. In der Sprache des Labeling-Modells wird
eine regelverletzende Handlung als primäre Abweichung bezeichnet. Je nach-
dem, ob diese als Problem wahrgenommen wird und welche Reaktionen darauf
erfolgen, wird das Verhalten entweder als tolerierbar und damit als «im Prinzip
Fachhochschule Ostschweiz FHS St. Gallen, Hochschule für Angewandte Wissenschaften / 152.96.188.38 (2023-09-25 11:27)

normal» bewertet, oder aber als sanktionswürdig. Lautet das Urteil «sanktions-
würdig», so kommt es zur sekundären Abweichung, das heißt dazu, dass sich die
Identität einer Person um das Merkmal ihrer so fixierten Abweichung herum
zu stabilisieren beginnt. Ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass das Merkmal sich
nicht wesentlich in eine gewünschte bzw. gesellschaftlich akzeptierte Richtung
verändern wird, so wird versucht, die potentiellen negativen Konsequenzen
einzudämmen oder zu verhindern – zum Beispiel durch die Einweisung in eine
psychiatrische Klinik.
Tabelle 4 (S. 168) veranschaulicht diesen sozialen Definitionsprozess am Beispiel
psychischer Störungen (nach Bastine 1998, S. 160).

Zur Einordnung und Bedeutung der Interaktionstheorien

Das Labeling-Modell hat vor allem im Bereich der psychischen Störungen und
der Behinderungen positive Resonanz erfahren. Behinderung ist wie psychische
Krankheit ein in hohem Maße durch soziale Wertungen und Normvorstellungen
beeinflusstes Phänomen, weshalb Etikettierungsprozesse entscheidenden Anteil
daran haben können, dass jemand zum Behinderten erklärt wird (vgl. Kap. 5).
Zudem verdeutlicht das Modell, wie wenige Schritte notwendig sind, damit
aus einem irgendwie abweichenden Verhalten eine institutionelle Angelegenheit
wird. Labels sind nicht wie die Etiketten auf Marmeladengläsern abwaschbar,
sondern sie haften einer Person meistens dauerhaft an. Dies umso mehr, je stär-
ker angenommen wird, dass es sich um ein stabiles Merkmal handelt, bei dem
Besserung nicht zu erwarten ist. Dies betrifft vor allem Menschen mit Behinde-
rung. Aber auch psychisch Kranke haben unter der Langlebigkeit von Labels sehr
zu leiden. Obwohl neuere Forschungen gezeigt haben, dass psychische Störungen
keineswegs im überwiegenden Maße chronisch verlaufen (Bentall 2003), hält sich
die allgemeine Auffassung vom psychisch Kranken als chronisch Kranken zäh.

Weiterführende Literatur
Gerhardt, M.; Kolb, S. u. a. (Hrsg.) (2008). Medizin und Gewissen. Im Streit zwischen Markt
und Solidarität. Frankfurt/M.; Mabuse.
Overbeck, G. (1984). Krankheit als Anpassung. Frankfurt: Suhrkamp.

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168 8. Krankheitsmodelle

Tabelle 4: Sozialer Definitionsprozess am Beispiel psychischer Störungen (Bastine 1998, S.


160).

Das Verhalten selbst • jemand tut irgendwas Ø z. B. jemanden schlagen,


Rollen von Toiletten-
papier sammlen, nicht
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essen, stottern, in die


Gegend starren

Der soziale Kontext • unter bestimmten Ø z. B. beim Unterricht,


Bedingungen … an seinem Schreibtisch,
während des Gottes-
dienstes

Der Beobachter in • das jemanden so sehr Ø z. B. Arbeitgeber,


einer Machtposition erregt, ärgert, wütend Lehrer, Eltern
macht oder stört …

• dass bestimmte Ø z. B. ein Polizist wird


Handlungen ausgelöst gerufen, ein Besuch beim
werden … Psychiater
empfohlen

Die «Etikettierer» • durch die die Ø z. B. Ärzte, Psychiater,


«Etikettierer» der Richter, Psychologen,
Gesellschaft in Kontakt Sozialarbeiter
mit dem Individuum
kommen und …

Die Bezeichnung • … bestimmen, welches Ø z. B. schizophrene


der Störung derzeit übliche Etikett am Reaktion, psychopa-
besten passt. thische Persönlichkeit

Die Veränderung • Schließlich folgen Ø z. B. durch Psychothera-


der Störung Versuche, das Entstehen pie, Medikation, Instituti-
weiteren störenden Ver- onalisierung
haltens zu verhindern.

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169

9
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Gesundheitsmodelle

I don’t need no doctor [...] (Ray Charles)

Das Wort «Gesundheit» präsentiert sich uns in vielen Büchern zu Gesundheitsför­


derung, Gesundheitspsychologie, Gesundheitstrainings und Gesundheitswissen­
schaften – doch in den meisten Büchern sucht man vergebens nach dem Begriff
«Gesundheitstheorie». Zwar gibt es, wie Kapitel 2 gezeigt hat, eine lange Tradition
der philosophischen Auseinandersetzung mit Gesundheit und viele Versuche,
Ge­sundheit zu definieren, aber wenn es um die Theoriebildung geht, herrscht
Leere. Diesbezüglich hat man sich eindeutig mehr mit Modellen von Krank-
heiten be­schäftigt. Erst seit den 1970er-Jahren gibt es endlich Forscherinnen
und Forscher verschiedener Disziplinen, die an der Entwicklung von Gesund-
heitsmodellen ar­beiten. Diese Modelle werden heute zumeist zusammenfassend
als salutogenetische Modelle bezeichnet. Das Wort «Salutogenese» wurde von
Aaron Antonovsky, einem amerikanisch-israelischen Medizinsoziologen, als
Gegenbegriff zu «Pathogenese» eingeführt. Beide Begriffe gehen auf griechische
und lateinische Wurzeln zurück: Genese bedeutet Entwicklung und Entstehung,
Pathos bedeutet Krankheit, Salus Gesundheit. Pathogenese bezeichnet also die
Entstehung von Erkrankungen, Salutogenese die Entstehung von Gesundheit.
Dementsprechend wenden sich salutogenetische Modelle der Erforschung der
Faktoren und Prozesse zu, die Gesund­heit erhalten und fördern – im Gegensatz
zu den pathogenetischen Modellen, die sich um das Verständnis der Faktoren
und Prozesse bemühen, die zu Krankheit führen.
Im Folgenden werden drei Konzepte vorgestellt, die Gesundheit und nicht
Krankheit in den Mittelpunkt stellen: zunächst das von Antonovsky entwickelte
Modell der Salutogenese, das am ehesten den Anspruch einer Theorie erfüllt und
auch unter empirischen Gesichtspunkten das am weitesten entwickelte Modell
ist (Bengel et al. 2001, Franke 1997). Dann das Konzept der Resilienz, das in den

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170 9. Gesundheitsmodelle

letz­ten Jahren große Popularität erlangte. Es verspricht wegen seiner Konzentra-


tion auf Kinder ein besonderes Potential für die Identifikation von Variablen, die
auf das gesunde Aufwachsen eines Menschen Einfluss nehmen. Den Abschluss
bildet das Konzept der Weltgesundheitsorganisation WHO. Dieses stellt
naturgemäß kein Modell im wissenschaftlichen Sinne dar. Aber das im WHO-
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Programm «Gesund­heit für alle» formulierte Verständnis von Gesundheit stellt


eine Rahmenkonzep­tion dar, an der sich auch die Gesundheitswissenschaften
orientieren können.

9.1
Das Modell der Salutogenese
Antonovskys salutogenetisches Modell beruht auf zwei Grundannahmen: der
An­nahme, dass Krankheiten eine normale Erscheinung im menschlichen Leben
sind und nicht Abweichungen von der Normalität, und derjenigen, dass Gesund-
heit und Krankheit Pole eines gemeinsamen Kontinuums sind.

Aaron Antonovsky wurde 1923 als Sohn jüdischer Eltern in Brooklyn gebo-
ren, studierte Soziologie und kam eher zufällig mit der Medizinsoziologie in
Be­rührung. 1960 emigrierte er gemeinsam mit seiner Frau Helen nach Israel,
wo er zunächst diverse Projekte im Bereich der Stressforschung durchführte.
Eines dieser Projekte hatte ethnische Unterschiede in der Verarbeitung der
Meno­pause bei in Israel lebenden, aber in anderen Ländern geborenen und
aufge­wachsenen Frauen zum Thema. Unter den untersuchten Frauen befan-
den sich auch Frauen, die in nationalsozialistischen Konzentrationslagern
überlebt hat­ten, und die nach allen Kriterien psychischer und physischer
Gesundheit recht gesund waren. Dass sie es geschafft hatten, ihr Leben neu
aufzubauen, empfand Antonovsky als Wunder – und der Erforschung dieses
Wunders des Gesund­bleibens widmete er von da an sein Engagement. Er
arbeitete später als Profes­sor an der Negev-Universität in Beer-Sheva, wo
er eine an den Bedürfnissen von Patientinnen und Patienten orientierte
Medizin-Ausbildung einführte.
Antonovsky war aktiv in der israelischen Friedensbewegung «Peace
Now». Er starb 1994 in Beer-Sheva.

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9.1 Das Modell der Salutogenese 171

9.1.1
Heterostase, HEDE-Kontinuum und Widerstandsressourcen
Die Idee, dass Krankheiten zur Normalität des Lebens gehören, kennzeichnet
An­tonovsky mit dem Begriff der Heterostase (vgl. Kap. 2), und er sieht in der
Annah­me der Heterostase den radikalen Unterschied zwischen salutogenetischem
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und pathogenetischem Paradigma. Den Unterschied beschreibt er in der Meta-


pher eines Flusses: Dieser fließt nicht stetig und gerade, er hat Biegungen und
unterschiedliche Fließgeschwindigkeiten, Stromschnellen und Strudel. Flussab-
wärts weist er Turbulenzen auf, und von den im Fluss schwimmenden Menschen
kämpfen einige ver­zweifelt darum, den Kopf über Wasser zu halten. Manche
schaffen es, aus eigener Kraft wieder ans Ufer zu kommen, andere aber müssen von
Lebensrettungs­spezialisten herausgezogen und vor dem Ertrinken gerettet werden.
Pathogenese-Konzepte beruhen – so Antonovsky – auf der Idee, es könne Men­
schen geben, die in der überwiegenden Zeit ihres Lebens trockenen Fußes den
Verlauf des Flusses abschreiten und sich nur in Ausnahmefällen die Füße nass
ma­chen. Dem pathogenetischen Modell zufolge befinden sich Menschen in der
Regel im Gleichgewicht, und nur bei einer Kombination ungünstiger Zustände
oder Er­eignisse kommt es zu Beeinträchtigungen dieses Zustandes, zu Krank-
heiten. Im salutogenetischen Modell hingegen sind Heterostase, Krankheiten, Lei-
den und Tod inhärente Bestandteile menschlicher Existenz. Um in der Metapher
zu bleiben: Wir alle sind vom Moment der Empfängnis bis zu dem Zeitpunkt, an
dem wir die Kante des Wasserfalls passieren und sterben, in dem Fluss.
Der menschliche Organismus wird als System definiert, das wie alle Systeme
der Entropie, der Tendenz zu Auflösung und Zerfall ausgeliefert ist. Um Chaos
zu ver­meiden, muss der Entropie ständig durch die Zufuhr von Energie entge-
gengearbeitet werden: Menschen bleiben nicht von selbst in einem Gleichgewicht,
das nur von gelegentlichen Störungen unterbrochen wird, sondern sie sind einer
Flut von Stimuli ausgesetzt, die fortdauernd Anpassungsleistungen und aktive
Bewältigung erfordern.

Entropie ist ein Begriff aus der Thermodynamik. Entropie ist ein Maß für
die Unordnung in einem System. Ungeordnete, entropiereiche Zustände
sind wahr­scheinlicher als geordnete, entropiearme Zustände: Wenn ein
Laster eine Ladung Briketts auskippt, entsteht eher ein ungeordneter Hau-
fen als ein ge­ordneter Stapel.
Geordnete Zustände gehen leicht in ungeordnete über, wie jeder Mensch
vom eigenen Schreibtisch weiß. Der umgekehrte Weg von der Unordnung
zur Ord­nung erfordert Energie.

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172 9. Gesundheitsmodelle

Natürlich befinden wir uns nicht alle im gleichen Fluss. Das Wesen der Flüsse,
in denen sich Menschen unterschiedlicher Kulturen und Sozialschichten, Män-
ner oder Frauen befinden, ist unterschiedlich. Die Gefahrenquellen variieren,
aber niemand wird ohne jede Störung durch den Fluss getragen – und erst
recht befindet sich niemand jemals am sicheren Ufer. Wie kommt es aber, dass
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einige ohne größere Anstrengungen und Blessuren durch den Fluss kommen,
andere hingegen immer wieder um ihr Überleben kämpfen? Während sich die
Stress- und Risikofaktoren­forschung zur Beantwortung dieser Frage vor allem
mit denen befasst, die zu ertrinken drohen, konzentriert sich die salutogene-
tische Forschung auf diejenigen, die es schaffen, sich auf dem Kontinuum von
Gesundheit und Krankheit (vgl. Kap. 6.2) möglichst nah zum gesunden Pol zu
bewegen. Antonovsky bezeichnet die Endpunkte des Kontinuums als «health-
ease» und «dis-ease», weshalb er das Kon­tinuum HEDE-Kontinuum nennt.
Dieses Wortspiel lässt sich im Deutschen am ehesten mit «Gesundheit» und
«Ent-Gesundung» übersetzen.
Die Kriterien zur Bestimmung der Lokalisation einer Person auf dem HEDE­
Kontinuum können sich je nach Fragestellung und Problematik unterscheiden;
in jedem Fall umfassen sie aber sowohl objektive als auch subjektive Faktoren.
Zu den objektiven gehören vor allem Parameter des professionellen – z. B. des
medizini­schen, psychologischen, logopädischen – Befunds und der professio-
nellen Progno­se. Wichtige subjektive Kriterien sind das Befinden, das Schmerzer-
leben und die subjektiv erlebte Funktionsfähigkeit. Hinsichtlich jeder Dimension
kann sich je­mand auf einem anderen Punkt des Kontinuums befinden.
Krankheit ist im salutogenetischen Verständnis weder der Ausfall eines Sys-
tems noch ein abgrenzbares, isoliertes Ereignis, sondern sie wird im Sinne einer
Ent­Gesundung (dis-ease) als Prozess verstanden, der in die Geschichte eines
Menschen eingebettet ist. Wie in Kapitel 8 beschrieben, stellen pathogenetische
Modelle – allen voran das biomedizinische Modell – die Erkrankung selbst in das
Zentrum der Aufmerksamkeit; die betroffene Person ist der Krankheitsträger oder
«Wirt». Aus salutogenetischer Sicht hingegen gelingt das Verständnis des Prozesses
des Krankwerdens nur durch ein möglichst breites Wissen über einen Menschen,
über seine gesamte innere und äußere Situation, und damit selbstverständlich auch
über sei­ne Stärken und Möglichkeiten, also seine gesunden Anteile.
Das Modell des mehrdimensionalen Kontinuums impliziert auch, dass ein
Mensch in einem gewissen Ausmaß gesund ist, solange er lebt. Selbst wenn er sich
auf einer Dimension nahe dem Krankheitspol befindet, kann er auf einer anderen
Dimension durchaus gesund sein – und dies bis zum Tod. Der Tod ist in diesem
Modell nicht letztes Versagen der Medizin, sondern Bestandteil des Lebens.
Für die Bewegung auf dem Kontinuum sind Stressoren bzw. der Umgang mit
ihnen von zentraler Bedeutung. Ganz in der Tradition der interaktiven Coping­

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9.1 Das Modell der Salutogenese 173

Ansätze (vgl. Kap. 7) definiert Antonovsky Stressoren als Anforderungen, auf


die der Organismus keine direkt verfügbaren oder automatischen adaptiven
Reaktionen hat, und diese sind angesichts der permanenten Konfrontation des
Menschen mit Ungleichgewicht und Chaos allgegenwärtig. Aber Stressoren sind
aus salutogeneti­scher Sicht nicht per se schädlich. Der erfolgreiche Umgang mit
Fachhochschule Ostschweiz FHS St. Gallen, Hochschule für Angewandte Wissenschaften / 152.96.188.38 (2023-09-25 11:27)

ihnen kann sogar gesundheitsfördernde Konsequenzen haben. Ob Stress zu


positiven oder negativen gesundheitlichen Konsequenzen führt, hängt u. a. vom
Charakter des Stressors und der Art der Bewältigung ab. Erfolgreiche Stressbe-
wältigung kann dazu führen, dass sich eine Person in Richtung auf den positiven
Pol des HEDE-Kontinuums bewegt.
Die Faktoren, die entscheiden, ob diese Bewegung hin zum positiven Pol des
Kontinuums gelingt, nennt Antonovsky «generalisierte Widerstandsressourcen»
(Generalized Resistence Resources, GRRs), und er zählt dazu alle Faktoren,
die den konstruktiven Umgang mit Stressoren ermöglichen. Tabelle 5 gibt einen
Überblick über die wesentlichen Widerstandsressourcen. Generalisierte Wider-
standsressourcen sind sowohl im Individuum als auch in dessen Umfeld und
in der Ge­sellschaft zu finden: Sowohl die Bedingungen des Flusses als auch die
individuellen Schwimmfertigkeiten entscheiden darüber, wie unversehrt jemand
die Schwimm­strecke bewältigt.

Tabelle 5: Generalisierte Widerstandsressourcen.

Widerstandsressourcen … zum Beispiel

Gesellschaftliche Widerstandsressourcen politische und ökonomische Stabilität,


Frieden, intakte Sozialstrukturen, funk-
tionierende gesellschaftliche Netze

Individuelle Widerstandsressourcen

• Kognitive Ressourcen Wissen, Intelligenz und Problemlöse-


fähigkeit

• Psychische Ressourcen Selbstvertrauen, Ich-Identität, Selbstsi-


cherheit, Optimismus

• Physiologische Ressourcen Konstitution, anlagebedingte oder


erworbene körperliche Stärken und
Fähigkeiten

• Ökonomische und materielle Geld, finanzielle Unabhängigkeit und


Ressourcen Sicherheit, Zugang zu Dienstleistungen,
sicherer Arbeitsplatz

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174 9. Gesundheitsmodelle

Generalisierte Widerstandsressourcen bedingen, inwieweit Menschen der


Dauer­konfrontation mit Stressoren gewachsen sind – entweder dadurch, dass sie
kon­struktiv mit ihnen umgehen oder dadurch, dass sie sie vermeiden können. Ist
eine Sekretärin zum Beispiel in der Lage, ihrem Chef, der sie ständig zu unbe-
zahlten Überstunden verpflichten möchte, freundlich, aber bestimmt mitzuteilen,
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dass sie in Notzeiten gerne einmal länger bleibt, ansonsten aber auf Einhaltung
der Arbeits­zeit besteht, so schützt sie sich durch diese psychische Ressource vor
Überarbeitung und Ausbeutung. Und einer allein erziehenden Mutter, die über
ausreichend Geld für einen Babysitter verfügt, ermöglicht diese ökonomische
Ressource, sich vielen potentiell gesundheitsgefährdenden Stressoren erst gar
nicht stellen zu müssen. Stehen einer Person ausreichend internale und externale
Widerstandsressourcen zur Verfügung, so können die Stressoren ihr gesundheits-
schädigendes Potential nicht entfalten, da die Person immer wieder die Erfahrung
macht, dass sie sie meis­tern kann und ihnen nicht hilflos ausgeliefert ist.

Finden Sie für jede Widerstandsressource aus Tabelle 5 ein Beispiel.


Welche Widerstandsfaktoren sind in Ihrem Leben aktuell wichtig?

9.1.2
Das Kohärenzgefühl
Je häufiger eine Person die Erfahrung macht, dass sie Stress nicht wehrlos aus-
gesetzt ist – und dies wird umso wahrscheinlicher sein, je mehr generalisierte
Widerstandsressourcen ihr zur Verfügung stehen –, desto mehr wird sie davon
überzeugt sein, dass sie versteht, was um sie herum passiert und was von ihr ver-
langt wird, dass sie das Leben meistern wird und dass nichts sie wirklich aus den
Schuhen kippt. Das Ausmaß dieser Überzeugung, der er den Namen «Kohärenz-
gefühl» (Sense of Coherence, SOC) gab, ist nach Antonovsky der entscheidende
Parameter für die Platzierung auf dem Gesundheits-Krankheits-Kontinuum,
also für ein Mehr oder Weniger an Gesundheit.

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9.1 Das Modell der Salutogenese 175

Das Kohärenzgefühl ist folgendermaßen definiert:

Das SOC (Kohärenzgefühl) ist eine globale Orientierung, die ausdrückt, in


welchem Ausmaß man ein durchdringendes, andauerndes und dennoch
dynamisches Gefühl des Vertrauens hat, dass
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1. die Stimuli, die sich im Verlauf des Lebens aus der inneren und äußeren
Umgebung ergeben, strukturiert, vorhersehbar und erklärbar sind
2. einem die Ressourcen zur Verfügung stehen, um den Anforderungen,
die diese Stimuli stellen, zu begegnen
3. die Anforderungen Herausforderungen sind, die Anstrengung und
Enga­gement lohnen. (Antonovsky 1997, S. 36)

Die drei Teilkomponenten werden als Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeut­


samkeit bezeichnet:

Verstehbarkeit ist das Ausmaß, in dem eine Person interne und externe Stimuli als
kognitiv sinnhaft wahrnimmt, als geordnete, konsistente, strukturierte und
klare Information, und nicht als Rauschen – chaotisch, ungeordnet, willkürlich,
zufällig und unerklärlich. Personen mit einem hohen Ausmaß an Verstehbarkeit
gehen davon aus, dass Stimuli, denen sie in Zukunft begegnen, in gewisser Weise
vorher­sehbar sein werden oder dass sie zumindest, sollten sie völlig überraschend
auftre­ten, eingeordnet und erklärt werden können.

Handhabbarkeit bezeichnet Antonovsky als den pragmatischen Teil des Kohären­


zgefühls. Handhabbarkeit kennzeichnet, inwieweit jemand geeignete Ressourcen
zur Verfügung hat, um den Anforderungen der Stressoren zu begegnen. Ein hohes
Maß an Handhabbarkeit bewirkt, dass Menschen sich durch Ereignisse nicht
in die Opferrolle gedrängt oder vom Leben ungerecht behandelt fühlen. Wenn
unange­nehme Dinge passieren, können sie mit ihnen umgehen und sich neu ori-
entieren, statt endlos zu trauern, mit dem Schicksal zu hadern oder sich dauernd
benachtei­ligt zu fühlen.
Menschen mit einem hohen Ausmaß an Handhabbarkeit vertrauen dabei kei­
neswegs nur auf das, was sie selbst können, sondern sie sind in der Lage, auch
die Ressourcen ihnen nahestehender Menschen zu nutzen. Antonovsky führt für
diese Vertrauenspersonen den Begriff der «legitimierten anderen» ein: Personen,
denen man vertraut, auf die man zählen kann – und denen man das Recht zuer-
kennt, im eigenen Namen zu handeln.

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176 9. Gesundheitsmodelle

Bedeutsamkeit repräsentiert das Ausmaß, in dem eine Person das Leben als sinn-
voll empfindet und in welchem sie erlebt, dass wenigstens einige der ihr gestellten
Pro­bleme und Anforderungen es wert sind, dass sie sich für sie einsetzt und sich
ihnen verpflichtet. Ein hohes Ausmaß an Bedeutsamkeit lässt einen – wie es
Antoine de Saint-Exupéry in «Wind, Sand und Sterne» ausdrückt, «[...] fühlen,
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dass man mit seinem eigenen Stein mitwirkt am Bau der Welt». Menschen mit
einem hohen Ausmaß an Bedeutsamkeit erleben Aufgaben und Anforderungen
mehr als Her­ausforderung denn als Last und Bürde.
Bedeutsamkeit kennzeichnet den motivationalen Aspekt des Kohärenzge-
fühls, und sie macht nach Antonovsky den wichtigsten Teilaspekt aus: Gibt es
nicht we­nigstens einige Bereiche, in denen man sich für wichtig hält und in denen
man davon ausgehen kann, dass es einen Unterschied macht, ob man da ist oder
nicht, ob man selbst etwas tut oder irgendeine andere Person, so macht es wenig
Sinn, sich für irgendetwas einzusetzen. Wenn es keine Lebensbereiche gibt, die
einer Person wichtig sind und in denen sie wichtig ist, ist die Wahrscheinlichkeit
für ein hohes Kohärenzgefühl gering.
Damit sich ein starkes Kohärenzgefühl ausbilden kann, müssen Menschen im
Verlauf ihres Lebens immer wieder erfahren können, dass ihnen ausreichend
Widerstandsressourcen zur Verfügung stehen, dass ihr Leben nicht chaotisch,
zufällig, willkürlich ist, sondern dass sie Einfluss nehmen können, und dass das,
was sie tun, Sinn hat, dass sie den Anforderungen gewachsen sind. Hierbei sind
vor allem drei Erfahrungen wichtig:
Die Erfahrung der Konsistenz, d. h. die Erfahrung, dass Dinge sich wiederho-
len, dass Abläufe unter vergleichbaren Bedingungen ähnlich sind, dass Dinge,
Abläufe, Beziehungen überdauern. Konsistente Lebenserfahrungen tragen vor
allem zur Ausbildung der Verstehbarkeitskomponente des Kohärenzgefühls bei.
Zweitens die Erfahrung der Belastungsbalance: Menschen dürfen weder chro-
nisch überlastet und überfordert sein, noch dürfen die Belastungen so gering
sein, dass sie sich dauernd unterfordert fühlen. Das Erleben einer Ausgeglichen-
heit zwischen Überlastung und Unterforderung ist notwendig zur Ausbildung
eines starken Gefühls der Handhabbarkeit.
Und drittens die Erfahrung der Partizipation, d. h. die Erfahrung, dass man Ein-
fluss auf die Welt um sich herum nehmen und an der Gestaltung von Ergebnissen
mitwirken kann. Diese Erfahrung dient vor allem der Ausbildung der Bedeut-
samkeitskomponente.
Als grundlegend für die Möglichkeit, solche das Kohärenzgefühl steigernde
Lebens­erfahrungen machen zu können, betrachtet Antonovsky kulturelle Fak-
toren, Sta­bilität und Frieden in der politischen und sozialen Situation. Sie bieten

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9.1 Das Modell der Salutogenese 177

die Basis für eine Lebenssituation, in der Menschen sich darauf verlassen können,
dass sie nicht täglich aufs Neue oder von jetzt auf gleich mit bedrohlichen Situ-
ationen und unlösbaren Aufgaben konfrontiert werden. Darüber hinaus spielen
die individuel­len Möglichkeiten, Konsistenz in der engeren sozialen Umgebung
zu erfahren, langfristig weder über- noch unterfordert zu sein und an der Gestal-
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tung des Familienlebens und Arbeitsplatzes teilhaben zu können, eine Rolle.

Versetzen Sie sich in die Rolle einer leitenden Krankenschwester, des Lei-
ters einer Behindertenwerkstatt oder einer Erziehungsberatungsstelle, der
Verwal­tungschefin einer Klinik oder irgendeiner anderen einflussreichen
Person in einer Einrichtung des Gesundheitswesens und überlegen Sie,
welche Maßnah­men Sie im Sinne des salutogenetischen Konzepts einführen
könnten, um die Gesundheit der Klientel und der Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter zu fördern. Vergessen Sie auch nicht Ihre eigene Gesundheit!

Die Wahrscheinlichkeit für ein starkes Kohärenzgefühl ist gering, wenn Personen
keine Lebensbereiche haben, die ihnen wichtig sind. Ebenso klar ist jedoch, dass
jeder Mensch Grenzen ziehen muss, da das Gefühl, mit dem Leben und seinen
Anforderungen schon fertig zu werden, sich nur entwickeln kann, wenn Men-
schen einige Bereiche als für sie irrelevant ausklammern – egal, ob dies die Politik
ist, die Kunst oder der Fußball, das Engagement in Bürgerinitiativen, für Alten-
heime, Asyl­bewerber oder die bedrohte Tierwelt. Entscheidend ist vielmehr, dass
es überhaupt Lebensbereiche gibt, die von subjektiver Bedeutung für die Person
sind, und dass die Grenzen nicht so eng gezogen sind, dass die folgenden vier
Bereiche ausgeschlos­sen sind: die eigenen Gefühle, die unmittelbaren interperso-
nellen Beziehungen, die wichtigste eigene Tätigkeit und existentielle Fragen wie
Tod, Schuld, Isolation oder Scheitern.

9.1.3
Kohärenzgefühl und Stressbewältigung
Die dem salutogenetischen Konzept zu Grunde liegende Annahme der Heterosta­se
impliziert, dass uns das Leben permanent mit Reizen bombardiert, die Spannung
erzeugen und auf die wir reagieren müssen. Nach Antonovsky ist es entscheidend,
diese Annahme auf alle Reize zu beziehen, die unsere Ressourcen herausfordern,
unabhängig davon, ob sie als erfreulich begrüßt oder als potentiell gefährdend
bewertet werden. Wie im transaktionalen Coping-Modell nach Lazarus (vgl. Kap.
7.3) ist nicht der Reiz als solcher entscheidend, sondern seine Bewertung, und diese
wird in allen Phasen des Bewältigungsprozesses – Antonovsky unterscheidet fünf
Bewertungsphasen – entscheidend durch das Kohärenzgefühl beeinflusst:

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178 9. Gesundheitsmodelle

Personen mit einem starken Kohärenzgefühl definieren Reize eher als Nicht­
Stressoren, bewerten als Stressoren definierte Reize eher als positive Herausforde­
rung oder als irrelevant denn als bedrohlich, nehmen stresshafte Situationen
eher geordnet und differenziert wahr und gehen davon aus, dass ihre Ressourcen
aus­reichen, mit der Anforderung fertig zu werden. Sie können in Ruhe aus dem
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großen Repertoire von verfügbaren Strategien die geeigneten auswählen und fle-
xibel die­jenigen einsetzen, die die Spannung reduzieren. Ihre größere Sicherheit
im Umgang mit Stressoren und ihr Vertrauen darauf, dass sie die Situation schon
bewältigen werden, ermöglichen ihnen auch, die eingesetzten Strategien konti-
nuierlich auf ihre Effektivität hin zu überprüfen.
Für Personen mit einem niedrigen Kohärenzgefühl hingegen stellen wahrschein­
lich mehr Reize viel eher einen Stressor dar, den sie dann auch mit höherer Wahr­
scheinlichkeit häufiger als bedrohlich und seltener als interessante Herausforderung
erleben. Die durch den Stressor verursachte Situation können sie weniger differen­
ziert einschätzen, und sie geraten leichter in emotionale Verwirrung. Angesichts
weniger Ressourcen stehen ihnen nur wenige spannungsreduzierende Strategien
zur Verfügung, und sie tendieren (notgedrungen) dazu, diese wenigen Strategien
rigide einzusetzen und starr an dem einmal eingeschlagenen Lösungsversuch fest­
halten. Abbildung 11 verdeutlicht diesen unterschiedlichen Umgang von Personen mit
hohem und niedrigem Kohärenzgefühl in den von Antonovsky postulierten fünf
Phasen des Bewältigungsprozesses:

Das Kohärenzgefühl selbst ist weder ein Coping-Mechanismus noch prägt es


be­stimmte Bewältigungsstile. Es schafft vielmehr die Voraussetzung, dass Men-
schen mit den verschiedensten Anforderungen flexibel umgehen können und
über viele potentielle Coping-Fertigkeiten verfügen. In diesem Sinne kann das
Kohärenzgefühl als globale Stressbewältigungsressource betrachtet werden. Es
führt sowohl zu güns­tigen Bewertungen von Situationen, die besondere Adap-
tationsleistungen erfor­dern, als auch zu zielgerichteten Emotionen, die eine
motivationale Handlungsbasis für gelungene Bewältigung schaffen. Ein starkes
Kohärenzgefühl schafft eine kognitiv-emotional günstige Ausgangslage, die es
den betreffenden Personen ermöglicht, flexibel die Widerstandsressourcen zu
aktivieren, die am angemessens­ten sind.
Mit der unterschiedlichen Beanspruchung, die Stressoren für eine Person je
nach Ausprägung ihres Kohärenzgefühls darstellen, begründet Antonovsky auch
seine Annahme, dass sich das Kohärenzgefühl nach dem jungen Erwachsenenalter
nicht mehr entscheidend positiv verändert. Menschen, die bis zu diesem Alter ein
hohes Kohärenzgefühl entwickeln konnten, sind in der Lage, der Entropie, den
kontinu­ierlichen Angriffen der Stressoren durch die Aktivierung ihres Reper-
toires an Wi­derstandsressourcen standzuhalten, und können damit ein hohes

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9.1 Salutogenese
9.1 Das Modell der Salutogenese 167
179

Situation / Reiz

Person mit starkem Person mit schwachem


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Kohärenzgefühl Kohärenzgefühl

Psychophysiologischer
Kein Spannungsgefühl Primäre Spannungszustand
Nicht-Stessor Bewertung 1 Stressor

Irrelevant oder günstig Primäre Bedrohlich


für das Wohlbefinden Bewertung 2

Zielgerichtete Diffuse Emotionen,


Emotionen, Primäre undifferenzierte
differenzierte Ein- Bewertung 3 Einschätzung
schätzung der Situation

Eine Vielzahl von Wenige oder


Ressourcen
Sekundäre keine Ressourcen
ist verfügbar Bewertung vorhanden

Flexibler Einsatz
Auswahl
und Einsatz Wenig spannungs-
effektiver, reduzierende Strategien,
spannungsreduzierender geeigneter rigider Einsatz
Strategien Strategien

Kontinuierliche Starres Festhalten


Überprüfung Tertiäre an einmal gewählten
der eingesetzten Bewertung Strategien
Strategien

krank
gesund

Abbildung Zusammenhang
Abbildung11:11: Zusammenhangvon
vonKohärenzgefühl und Stressverarbeitung
Kohärenzgefühl und Stressverarbeitungnach
nachAntonovsky.
Antonovsky.

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180 9. Gesundheitsmodelle

Kohärenzgefühl und ihre Gesundheit aufrechterhalten. Personen mit niedrigem


Kohärenzgefühl laufen dagegen Gefahr, zunehmend schwächer zu werden. Sie sind
mehr und mehr mit Situationen konfrontiert, die sie nicht bewältigen. Aufgrund
fehlender genera­lisierter Widerstandsressourcen sind sie weder in der Lage, Stres-
soren auszuweichen, noch können sie Erfolge im Umgang mit Stressoren erleben.
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Anforderungen, die für eine Person mit hohem Kohärenzgefühl einen «Klacks»
darstellen oder die von ihr geradezu als positive Herausforderung erlebt werden, an
der sie ihre Kräfte messen kann, stellen für eine Person mit schwachem Kohärenz-
gefühl einen Stressor dar, der ihre Ressourcen überfordert – vielleicht versteht sie
schon gar nicht, was von ihr verlangt wird, noch weiß sie, was zu tun ist und schon
gar nicht, wozu das alles gut sein soll und welche Konsequenzen es haben kann.

9.1.4
Ressourcenorientierte Erweiterung des Salutogenese-Modells
Mit der Fokussierung auf die Bewältigung von stresshaften Anforderungen
vernach­lässigt Antonovsky die Faktoren, die als positive Ressourcen direkt,
gleichsam per se, Gesundheit fördern. Zwar erwähnt er in der Diskussion um
gelungene Adapta­tion an die Umwelt auch Fantasie, Liebe und Spiel als för-
derliche Faktoren, doch werden deren Bedeutung und ihr Zusammenhang mit
Gesundheit nicht weiter expliziert. Sie fließen auch nicht in die Konzeption des
Kohärenzgefühls ein. Die drei Komponenten des Kohärenzgefühls sind aus-
schließlich reaktiv formuliert, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht die
individuelle Reaktion auf einen Stressor.
Die Reaktivität des Konstrukts ergibt sich nicht nur aus den Grundannah-
men der Stressforschung, sondern folgt zum Teil auch aus der Annahme der
Heterosta­se: Wenn soziale und menschliche Systeme ständig dem Druck der
Entropie und damit der Tendenz zu Unordnung, Auflösung und Zerfall ausgesetzt
sind, müssen sie dieser Tendenz ständig negative Entropie entgegensetzen, um
das Chaos zu ordnen. Anders ausgedrückt: Menschen müssen dem beständigen
Bombardement von Stimuli mit Coping-Strategien begegnen, um handlungsfähig
zu bleiben und sich weiterzuentwickeln. Ressourcen, bei Antonovsky nicht ohne
Grund als «Widerstandsressourcen» bezeichnet, dienen dazu, die Bewältigung
zu optimieren. Persönliche und soziale Ressourcen, die nicht im Zusammen-
hang mit aktiver Bewältigung stehen, sondern eher im Sinne positiver Gefühle,
Motivationen und Bedürfnisbefriedigungen Entwicklungen ermöglichen – wie
etwa die Fähigkeit, ein positives Lebensgefühl und Wohlbefinden herzustellen,
Zielgerichtetheit, Selbstaktualisierungstendenz, Motivation zum Lernen und zur
Weiterentwicklung –, finden keinen Eingang in das Modell.
Damit ist Antonovskys Konzept zwar salutogenetisch, bleibt aber stress- und
anforderungsorientiert. Personen bewegen sich durch optimales Bewältigen von

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9.1 Das Modell der Salutogenese 181

Anforderungen auf den positiven Pol des Gesundheits-Krankheits-Kontinuums


zu. Faktoren, die ohne den «Umweg» über gelungene Bewältigung unmittelbar
Gesundheit fördern, werden zwar postuliert, spielen aber in der Konzeptentwick­
lung keine Rolle.
Nimmt man jedoch den salutogenetischen Gedanken ernst, dass ein Weniger
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an Stress oder an Risikofaktoren nicht gleichzeitig eine Bewegung zum gesunden


Pol bedeutet – weil der geringere Stress zum Beispiel zu dauernder Unterforde-
rung führt und damit zu einer Schieflage in der Belastungsbalance – und dass
es ver­schiedene Faktoren sein können, die «weniger Krankheit» oder «mehr
Gesundheit» bedeuten, erscheint es nur konsequent, sich gezielt mit Faktoren
auseinander zu setzen, die direkt zu mehr Gesundheit führen können. In einer in
meiner Arbeits­gruppe entwickelten Weiterentwicklung des Konzepts (Welbrink
& Franke 2000) gehen wir daher davon aus, dass Stressbewältigung nur ein Teil
von gelungener aktiver Adaptation ist. Der andere Teil sind gesundheits- und
adaptationsfördernde Kognitionen, Emotionen und Verhaltensweisen. Diese
Faktoren wirken nicht nur als Puffer gegen Stress und Belastung, sondern sie
tragen aktiv zu Gesundheit und Anpassung bei.
Wir haben in unserer Arbeitsgruppe euthymes Erleben und Verhalten, also
die Fähigkeit zu genießen und sich etwas Gutes zu tun, als gesundheitsfördernde
Ressource untersucht. Humor, Optimismus und die Fähigkeit zu verzeihen sind
weitere Variablen, für die als belegt gelten kann, dass sie nicht nur die Adaptation
an Stress erleichtern, sondern aktiv zu einem größeren Ausmaß an Gesundheit
beitragen (Koppenhöfer 2004, Worthington & Scherer 2004).
Abbildung 12 (S. 182) verdeutlicht diese Erweiterung des salutogenetischen
Modells. Der linke Strang zeigt die Annahmen Antonovskys, der rechte Strang
verdeutlicht die ressourcenorientierte Erweiterung.

Wir haben dieses Modell in zwei Forschungsprojekten zum Konsum von


Alkohol und psychotropen Medikamenten bei Frauen überprüft und konn-
ten zahlreiche empirische Belege für seine Richtigkeit finden. So unterschie-
den sich etwa Frauen mit unauffälligem Alkoholkonsum und alkoholabhän-
gige Frauen deutlich in der Art ihrer Konsummotivationen voneinander:
Während Erstere Alkohol vor allem konsumieren, um eine angenehme
Situation noch angeneh­mer zu machen, trinken Frauen mit riskantem und
abhängigem Konsum vor­wiegend zur Reduktion negativer Gefühle und zur
Bewältigung von als belas­tend erlebten Situationen. Ressourcen, so konnten
wir zeigen, sind umfassender zu konzipieren, als es in Antonovskys Ansatz
der Widerstandsressourcen bisher realisiert ist (vgl. Franke, Elsesser, Sitzler,
Algermissen & Kötter 1998; Franke, Mohn, Sitzler, Welbrink & Witte 2001).

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170
182 9.9.Gesundheitsmodelle
Gesundheitsmodelle

HEDE – Kontinuum
krank
gesund
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Welche Faktoren sind daran beteiligt, dass Menschen ihre Position auf dem
Kontinuum beibehalten oder sich zum gesunden Pol hin bewegen können?

Welche Faktoren fördern die aktive Welche Faktoren fördern direkt


Adaptation an eine mit Stressoren Wohlbefinden, positive
gefüllte Umgebung? Befindlichkeit, Zufriedenheit?

Kohärenzgefühl als globale


Orientierung, inwieweit Kohärenzgefühl als
Menschen davon ausgehen, motivationale Basis für
dass die Anforderungen des Lebens gesundheitsfördernde
verstehbar und handhabbar Kognitionen, Emotionen und
sind und die Mühe lohnen, Verhaltensweisen
bewältigt zu werden

Flexible und situationsadäquate Nutzung, Erweiterung und


Auswahl angemessener Aufbau
Copingstrategien von Ressourcen

Optimales Ressourcenförderndes
Bewältigungsverhalten + Erleben und Verhalten =

Förderliche Faktoren für Gesundheit

Abbildung 12: Ressourcenorientierte Erweiterung des Salutogenese-Modells.


Abbildung 12: Ressourcenorientierte Erweiterung des Salutogenese-Modells.

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9.1 Das Modell der Salutogenese 183

Die Erweiterung des Modells möchte ich noch einmal in der Flussmetapher ver­
deutlichen:
Wir alle sind von unserer Geburt bis zum Tod im Fluss des Lebens. Dieser Fluss
zeichnet sich durch schwer zu bewältigende Abschnitte wie Wasserfälle und
Strom­schnellen aus, und es gibt sogar Gebiete, in denen gefährliche Wasserlebe-
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wesen lauern. Dort kommt es darauf an, wachsam zu sein und alle verfügbaren
Bewälti­gungsressourcen zu aktivieren, um den schwierigen Situationen gewach-
sen zu sein. Es gibt aber auch Abschnitte, in denen der Fluss kaum Strömung hat,
sondern ge­mächlich an Wiesen und unter Bäumen entlang plätschert. Hier gibt
es keine Not­wendigkeit, um das eigene Überleben zu kämpfen. Man kann sich auf
dem Rücken treiben lassen, die Blumen am Ufer bewundern, einen Baumstamm
als Floss benut­zen oder sich mit anderen Schwimmern und Schwimmerinnen
bei Wasserspielen vergnügen. Dies alles dient der Entspannung und Erholung,
reaktiviert also Bewäl­tigungsressourcen und erhöht das Gefühl der Belastungs-
balance und damit der Handhabbarkeit, macht aber auch einfach Spaß, steigert
Lebensfreude und Lebens­qualität und fördert damit die Gesundheit. Von der
Quelle bis zur Mündung hat der Fluss einen wechselvollen Verlauf, und es ist
wichtig zu erkennen, wann es zu kämpfen gilt und wann Erholen und Genießen
im Vordergrund stehen, da für die unterschied­lichen Phasen unterschiedliche
Fähigkeiten notwendig sind. Für die gelungene Adaptation an die Umwelt scheint
in jedem Fall beides ausschlaggebend zu sein.

Zur Einordnung und Bedeutung des salutogenetischen Modells

Obgleich das salutogenetische Modell seine Herkunft aus der Stressforschung


nicht verleugnen kann, hat es sich doch erheblich von ihr weg entwickelt. Dies
nicht nur dadurch, dass es sich auf die gesund erhaltenden Faktoren konzentriert
und nicht auf die krank machenden wie die Stressforschung. Für relevanter halte
ich folgende Aspekte:
Während die Stressforschung sich vor allem auf die individuelle Verarbeitung
von Reizen konzentriert, betont das salutogenetische Modell die sozialen, poli-
tischen und ökonomischen Grundvoraussetzungen für Gesundheit. Zwar ist das
Kohärenzgefühl, also die nach Antonovsky entscheidende Variable für die Bewe-
gung auf dem Gesundheits-Krankheits-Kontinuum, als Persönlichkeitsvariable
konzipiert, doch Entwicklung und Aufrechterhaltung des Kohärenzgefühls sind
nicht nur durch in­dividuelle, sondern auch durch gesellschaftliche Widerstands-
faktoren beeinflusst.
Die in der Literatur gerne diskutierte Frage, ob das salutogenetische Modell zu
einem Paradigmenwechsel in der Medizin oder den Gesundheitswissenschaften
führt, halte ich für wenig produktiv. Entscheidender ist meines Erachtens, dass

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184 9. Gesundheitsmodelle

das Salutogenese-Konzept wesentliche Beschränkungen des biomedizinischen


Modells überwindet. Dass es sich bei Gesundheit und Krankheit nicht um dicho-
tome Ge­gensätze handelt, sondern um Pole eines Kontinuums, hat vor Antonovsky
niemand so deutlich gesagt und so konsequent zu Ende gedacht. Die konsequente
Anwen­dung eines Kontinuums-Modells von Gesundheit und Krankheit würde
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alle Dia­gnose- und Klassifikationsschemata ins Wanken bringen, da für sie die
eindeutige Diagnostizierbarkeit von Krankheiten eine unabdingbare Voraus-
setzung ist (und als solche beibehalten wird, obwohl sie weder vom gesunden
Menschenverstand noch durch Empirie gestützt wird). Im Grunde hatten auch
die verhaltenstheore­tischen Ansätze immer ein Störungsmodell, das von einem
graduellen Übergang von Gesundheit zu Krankheit ausging (vgl. Kap. 8.2.2). Die
Etablierung des verhaltenstheoretischen Modells als Verhaltenstherapie in der
medizinischen Versorgung hat jedoch dazu geführt, dass diese Modell­annahmen in
der Praxis dem dichotomen Denken des medizinischen Modells geopfert wurden.
Wirklich neue Perspektiven eröffnet das salutogenetische Modell für die
Gesundheitsförderung. Der dem Risikofaktoren-Modell verpflichteten Präventi-
onsforschung liegt die Annahme zu Grunde, dass die Kenntnis krankheitsverur-
sachender Bedingungen ermöglicht, dass diese eliminiert oder modifiziert werden
können und daraus Ge­sundheit resultiert. Diese Annahme halte ich für falsch. Eine
Wegnahme negativer Faktoren muss nicht automatisch in Positivem resultieren.
Prävention, die Krankheitsverhinderung bedeutet, kann immer nur einseitig
auf einzelne Risiken und einzelne Erkrankungen konzentriert sein, sie bleibt dem
pathogenetischen Modell verhaftet. Nach Antonovsky bedeutet sie lediglich, dass
die am Ufer stehenden Expertinnen und Experten den Blick stromaufwärts rich-
ten und fragen, wer oder was die Leute in den Fluss schmeißt – verändert wird
allenfalls der Zeitpunkt der Intervention. Die relative Erfolglosigkeit präventiven
Tuns in der Vergangenheit bestätigt ausreichend, dass krankheitsorientierte Prä-
vention an der falschen Stelle ansetzt. Das Salutogenese-Konzept schafft dage-
gen die theoretische Basis für eine Gesundheitsförderung, die die Stärkung der
individuellen und der gesellschaftlichen Ressourcen beinhaltet (Franke & Witte
2009). Die individuellen Erlebnisse sind von der makro-sozialen Umwelt geformt,
und die eigentlichen Quellen des Kohärenzgefühls und damit der Gesundheit lie-
gen in der Natur der Gesellschaft und der sozialen Situation, in die der Einzelne
eingebunden ist.

Abschließend möchte ich noch zwei Details erwähnen, die ich persönlich am
salutogenetischen Modell besonders schätze:
Das Konzept der «legitimierten anderen» empfinde ich als wohltuend in
unserer «Gesellschaft der Ichlinge» (Keupp 2001), in der so einseitig Werte wie
Autonomie, Selbstwirksamkeit, Selbststeuerung, Kompetenz, Selbstbestimmung
und Autarkie hoch gehalten werden. Sich auf andere Menschen wirklich verlas-

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9.2 Das Resilienz-Modell 185

sen zu können, zu wissen, dass man auf jemand anderen wirklich zählen kann,
ist nicht nur ein sozialer Wert, sondern eine Stress reduzierende Variable. Und
vielleicht lohnt es ja sogar einmal, darüber nachzudenken, ob nicht die Fähigkeit,
sich verlassen zu können, auch ein Zeichen von Gesundheit ist.
Und last but not least betrachte ich es als eine Stärke des salutogenetischen
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Modells, dass es den Tod nicht ausschließt. Sterben ist Bestandteil des Lebens,
und bis zum Tod ist irgendetwas in uns noch gesund. Dies ist nicht nur eine
philosophische Aussage, sondern auch eine Haltung mit erheblicher praktischer
Relevanz für den Umgang mit Menschen mit chronischen, letalen Erkrankungen
und in der Sterbe­begleitung.

9.2
Das Resilienz-Modell
Der Begriff Resilienz kommt aus den Materialwissenschaften, wo er die Fähig-
keit eines Materials bezeichnet, seine ursprüngliche Form wieder einzunehmen,
nach­dem es gequetscht, zusammengedrückt, gedehnt oder gezerrt wurde. Über-
tragen auf den Gesundheitsbereich geht es bei der Resilienz darum, wie gut Men-
schen in der Lage sind, sich von Krisen und Katastrophen nicht «aus der Form»
bringen zu lassen.
Eine allgemein gültige Definition von Resilienz gibt es (noch) nicht, doch ist
allen veröffentlichten Definitionen gemeinsam, dass sie auf diesen Prozess des
Reagierens auf schwere Lebensereignisse fokussieren. Hier einige Beispiele:

Resilienz ist der Prozess, sich angesichts von Not, Trauma, Tragödie, Bedro-
hungen oder auch signifikanten Ursachen von Stress – so wie Problemen
in Familie und Partnerschaft, ernsthaften gesundheitlichen Problemen oder
Stressoren am Arbeitsplatz oder in finanzieller Hinsicht – gut anzupassen.
Es bedeutet, sich von schwierigen Erfahrungen nicht unterkriegen zu lassen.
(American Psychological Association APA, www.apahelpcenter.org; Übers.
A.F.)
Resilienz, die: die psychische Widerstandsfähigkeit von Menschen, die es
ermöglicht, selbst widrigste Lebenssituationen und hohe Belastungen ohne
nachhaltige psychische Schäden zu bewältigen. (Meyers Universallexikon
2007).
Resilienz bedeutet «seelische Widerstandsfähigkeit» – und Resilienzförde-
rung zielt darauf ab, die «Widerstandsfähigkeit» von Kindern (und Erwachse-
nen) in belasteten und risikobehafteten Lebenssituationen durch schützende
Faktoren zu entwickeln, zu ermutigen und zu stärken. (Zander 2008)

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186 9. Gesundheitsmodelle

Im Bereich der Gesundheitsforschung stellt die Resilienzforschung ein Gegen-


stück zur Risikofaktorenforschung dar: Während Risikofaktorenmodelle die
Faktoren untersuchen, die das Risiko für bestimmte Erkrankungen erhöhen,
untersucht die Resilienzforschung, welche Faktoren geeignet sind, angesichts
zahl­reicher real existierender Risikofaktoren keine Störung zu entwickeln.
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Ein fünfjähriger Junge beobachtete hilflos, wie sein Bruder ertrank. Im selben Jahr
begann ein Glaukom seine Welt zu verdunkeln. Seine Familie war zu arm, medizi-
nische Hilfe zu zahlen, die sein Augenlicht hätte retten können. Als er Teen­ager war,
starben seine Eltern, und er musste in eine staatliche Blindenanstalt. Als schwarzer
Afrikaner durfte er an vielen Akti­vitäten der Institution, einschließlich der Musik,
nicht teilnehmen. [...] Der Name dieses Mannes war Ray Charles. (Goldstein & Brooks
2005, S. xiii; Übersetzung A.F.)

Der überwiegende Teil der Resilienzforschung konzentriert sich auf Kinder und
Jugendliche, die unter widrigen Bedingungen aufwachsen oder schwere Traumen
erleben mussten: Kinder, die geschlagen und missbraucht werden, Kinder aus
so­zial dysfunktionalen Milieus, arme Kinder. Resilienz wird in diesem Kontext
als die Fähigkeit eines Kindes definiert, sich trotz schlechter Bedingungen positiv
zu ent­wickeln. Kennzeichnend für die Resilienzforschung ist, dass sie sich auf
Kinder konzentriert, die hohen Risiken ausgesetzt sind oder waren. Die Frage,
was gesun­den Kindern hilft, gesund zu bleiben, ist – zumindest bisher – kein
Thema dieser Forschungsrichtung.

Die klassische Studie der Resilienzforschung, eine Längsschnitt-Untersu-


chung derselben Population über die Zeitspanne von 40 Jahren, stammt von
der ame­rikanischen Entwicklungspsychologin Emmy Werner. Sie unter-
suchte 698 im Jahre 1955 auf der Insel Kauai im Pazifischen Ozean geborene
Kinder im Alter von 1, 2, 10, 18, 32 und 40 Jahren. Etwa 30 % der Kinder
galten als so genann­te Risikokinder: Sie wurden in sehr armen Familien
geboren, hatten geburtsbedingte Komplikationen oder wuchsen in Familien
auf, die durch massive Konflikte, Alkohol oder psychische Störungen der
Eltern belastet waren. Zwei Drittel der Kinder entwickelten Verhaltensauf-
fälligkeiten, hatten Lernprobleme oder wurden straffällig. Das restliche
Drittel entwickelte sich «[...] zu leistungsfähigen, zuversichtlichen und für-
sorglichen Erwachsenen» (Werner 1999, S. 26). Als weitere Kriterien für die
Resilienz dieser Gruppen nennt Werner eine niedrigere Rate an Todesfällen,
keine chronischen Alkohol- und Drogenprob­leme, keine Konflikte mit dem
Gesetz, stabile Ehen, eine Arbeitsstelle und kei­ne Abhängigkeit von staatli-
chen Zuwendungen.

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9.2 Das Resilienz-Modell 187

Wie die Risikofaktorenmodelle beruht auch das Resilienz-Modell auf korre-


lativen Zusammenhängen. Es macht Aussagen darüber, unter welchen Bedin-
gungen Resilienz erhöht oder erniedrigt ist, aber keine Aussagen über die ver-
muteten Wirkzusammenhänge und deren Bedingungen. Bei der Auswahl der
untersuchten Zusammenhänge wird dabei vor allem auf Klassifikationen und
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Kriterien der Ent­wicklungspsychopathologie rekurriert, also dem Zweig der


Entwicklungspsycho­logie, der sich mit Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern
beschäftigt. Resiliente Kinder werden in diesem Gedankengebäude vor allem
als solche definiert, die kei­ne so genannten «internalisierenden Verhaltensstö-
rungen» aufweisen, worunter Ängste und Depressionen verstanden werden und
keine «externalisierenden Ver­haltensweisen», als die aggressives, dissoziales und
delinquentes Verhalten zusam­mengefasst werden. Resilienz ist im Rahmen dieser
Forschung somit dadurch de­finiert, dass Kinder trotz schlechter Bedingungen
weder ängstlich oder depressiv noch aggressiv, dissozial oder delinquent werden.
Wenn Resilienz positiv bestimmt wird, so geschieht dies über die Definition von
Entwicklungsaufgaben, die Kinder in bestimmten Lebensaltern erfüllt haben
sollten. Außerdem werden Kriterien wie soziale Kompetenz, die Fähigkeit zur
Selbststeuerung, Stressbewältigung und Problemlösen oder gute Schulleistung
herangezogen (Bengel et al. 2009, Fröhlich-Gildhoff 2011). Erstaunlicherweise
spielen Kriterien der körperlichen Gesundheit und Leistungs­fähigkeit oder des
Wohlbefindens der Kinder bisher in der Resilienzforschung keine Rolle – obwohl
doch ausreichend bekannt ist, dass Kinder auf Belastungen und Traumen häufig
mit Hauterkrankungen, Asthma, Kopfschmerzen, Essstörungen, Müdigkeit,
Schlafstörungen und anderen Erkrankungen reagieren.
Als zentrale Faktoren, die die Resilienz erhöhen, haben sich vor allem Persön­
lichkeitsfaktoren wie ein ruhiges, ausgeglichenes Temperament und ein offenes
Kontaktverhalten herausgestellt. Außerdem ist die Wahrscheinlichkeit für Resili-
enz erhöht, wenn belastete Kinder eine oder mehrere erwachsene Bezugspersonen
ha­ben, die ihnen Halt bieten, positive Bestätigung geben und ihnen vermitteln,
dass sie sie mögen und wertschätzen. Förderlich soll auch sein, wenn an das
Kind früh Leistungsanforderungen gestellt werden, mit denen es Verantwortung
übernehmen und sich beweisen kann, zum Beispiel dadurch, dass es auf ein klei-
neres Geschwisterkind aufpassen muss (Fröhlich-Gildhoff & Rönnau-Böse 2009,
Werner & Smith 1992, 2001, Zander 2008).
Im letzten Jahrzehnt – in den USA insbesondere nach der terroristischen Atta-
cke auf das World Trade Center am 11. September 2001 – wuchs das Interesse,
auch bei Erwachsenen zu untersuchen, was Resilienz ausmacht und vor allem,
wie sie gesteigert werden kann. Resiliente Personen haben demzufolge niedrige
Neurotizismuswerte, starke interne Kontrollüberzeugungen und eine realistische
Einschätzung der eigenen Fähigkeiten, sie können Krisen und Schicksalsschläge

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188 9. Gesundheitsmodelle

schnell verarbeiten und können dabei häufig auf ein gutes soziales Netz zurück-
greifen. Der Verband amerikanischer Psychologen entwickelte unter dem Titel
«Die Straße zur Resilienz» zehn Punkte, wie Resilienz aufgebaut werden kann.
Online vermitteln amerikanische Gesundheitspsychologen, wie sie sich die Stei-
gerung von Resilienz vorstellen:
Fachhochschule Ostschweiz FHS St. Gallen, Hochschule für Angewandte Wissenschaften / 152.96.188.38 (2023-09-25 11:27)

1. Baue soziale Kontakte auf.


2. Betrachte Krisen nicht als unüberwindbare Probleme.
3. Akzeptiere Veränderungen als einen Teil des Lebens.
4. Bewege dich auf deine Ziele zu.
5. Gehe schwierige Situationen an, vermeide sie nicht und warte nicht, bis
sie von alleine vorbeigehen.
6. Achte auf Gelegenheiten, um dich selbst besser kennenzulernen. Gerade
Krisen und Tragödien sind oft geeignet, etwas über sich selbst zu erfah-
ren und das Leben mehr zu schätzen.
7. Pflege ein positives Selbstbild.
8. Betrachte die Dinge in einer länger fristigen Perspektive.
9. Bleibe optimistisch.
10. Pass gut auf dich auf.
(www.apahelpcenter.org; Übers. A.F.)

In Deutschland wurde Resilienz von Erwachsenen vor allem im Rahmen von


Studien zum gesunden Altern untersucht. Resilienz wird dabei als eine psy-
chische Widerstandsfähigkeit verstanden und als ein Bewältigungsstil, mit den
altersbedingten Veränderungen «gesund» umzugehen (Schneider et al. 2007).

Zur Einordnung und Bedeutung des Resilienz-Modells

Seit der Begriff der Resilienz in den 1990er-Jahren aus den Materialwissenschaften
in die Gesundheitswissenschaften übernommen wurde, hat er eine erstaunliche
Karriere gemacht. Im ursprünglichen Ansatz fokussierte Resilienz nicht die Pro-
bleme und Situationen, die den meisten Menschen im Laufe ihres Lebens auferlegt
sind, sondern den Umgang mit großen Traumen und Katastrophen: Kriegser-
lebnissen, Entführung einer Tochter, Tod von Familienmitgliedern durch einen
Amokläufer, Zerstörung des Hauses durch Waldbrand … Inzwischen begegnet er
einem überall da, wo es um die Bewältigung von schwierigen Lebenssituationen

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9.2 Das Resilienz-Modell 189

oder Ereignissen geht und kennzeichnet die Menschen, die mit diesen Ereignissen
umgehen, ohne daran krank zu werden. Eine Operationalisierung des Konstrukts
«Resilienz» steht jedoch aus. Der überwiegende Teil der Forschung beschäftigt
sich weniger damit, herauszufinden, was Resilienz ist und welche Dynamiken ihr
zugrunde liegen, als damit, wie man Resilienz fördern kann. Es ist fraglich, ob die-
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ser pragmatische Ansatz dazu führen kann, Bewältigungspotentiale zu verbessern.


Das 10-Punkte-Programm der APA jedenfalls scheint mir eher ein aus dem großen
Repertoire der Ratgeber zum guten Leben zusammen gewürfelter Kessel Buntes
zu sein. Ich bezweifle, dass solche Ratschläge nach dem Motto: «Steck den Kopf
nicht in den Sand, nutze die Krise, sie wird dir helfen, dich besser zu verstehen»
verzweifelten Menschen helfen. Ich erlebe sie als eher zynisch.
Das größte Problem des Resilienz-Ansatzes sehe ich jedoch nicht in seiner
inflationären Verwendung und den mangelnden theoretischen Überlegungen,
sondern in seiner ausschließlich auf das Individuum orientierten Sichtweise. Der
gesellschaftliche Hintergrund der traumatischen Ereignisse wird in der Resili-
enzforschung ausgeblendet.
Diese gesellschaftspolitische Blindheit gekoppelt mit einer Orientierung an
einer amerikanisch-europäischen Mittelschichtsnorm fällt insbesondere in der
Resilienzforschung und -literatur auf, die sich auf Kinder bezieht. Letztlich geht
es darum herauszufinden, welche Kinder in einer ihre Bedürfnisse missachtenden
Welt dennoch bereit oder in der Lage sind, sich den Normen dieser Welt anzupas­
sen. So begründen zum Beispiel Goldstein & Brooks (2005), die Herausgeber
eines Handbuchs der kindlichen Resilienz, die Notwendigkeit, Resilienzfaktoren
heraus­zuarbeiten mit aktuellen Daten über kindliche Störungen: Drei Millionen
ameri­kanischer Teenager leiden an Depressionen. Zweithäufigste Todesursache
derer, die zwischen dem 15. und 24. Lebensjahr sterben, ist Mord, bei den schwar-
zen Jugend­lichen ist Mord sogar die häufigste Todesursache. Die dritthäufigste
Todesursache in dieser Altersgruppe ist Suizid. 37 % aller amerikanischen Kinder
leben in Armut, davon 6 % – immerhin 5 Millionen Kinder – in extremer Armut.
Alle 11 Sekunden wird ein amerikanisches Kind missbraucht, jede Minute wird
ein Kind ohne Ge­sundheitsversicherung geboren.
Kann aggressives Verhalten von Kindern angesichts dieser gesellschaftlichen
Re­alität als Zeichen für Abweichung definiert und mit dem Label einer externalisie­
renden Verhaltensstörung diagnostiziert werden? Individuelle Gesundheit braucht
gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die Gesundheit ermöglichen. Da, wo Men-
schen das Recht auf Gesundheit verwehrt wird, halte ich einen Forschungsansatz,
der sich ausschließlich auf das individuelle Verhalten konzentriert, für reduktionis-
tisch und ethisch fragwürdig. Ray Charles war ein wunderbarer Sänger, aber er ist
keine Entschuldigung für Kinderarmut, Gewalt gegen Kinder und Theorieblind-
heit gegenüber diesen gesellschaftlichen Fehlentwicklungen.

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190 9. Gesundheitsmodelle

9.3
Gesundheit im Sinne der WHO
Die Weltgesundheitsorganisation WHO (World Health Organization) ist eine
von 14 Sonderorganisationen der Vereinten Nationen, mit Sitz in Genf. Oberstes
Ent­scheidungsgremium der WHO ist die Weltgesundheitsversammlung, deren
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Dele­gierte aus 194 Mitgliedsstaaten einmal jährlich in Genf zusammentreffen.


Die Weltgesundheitsversammlung bestimmt die Politik der WHO, beaufsichtigt
deren Finanzpolitik, kontrolliert ihren Haushalt und bestimmt jeweils für fünf
Jahre den Generaldirektor bzw. die Generaldirektorin des Sekretariats. Es gibt
sechs Regionalbüros der WHO: für Afrika, für Nord- und Südamerika, für Südo-
stasien, für den östlichen Mittelmeer­raum, für den West-Pazifik und Europa. Das
regionale Büro für Europa hat seinen Sitz in Kopenhagen.

Seit die WHO im Jahre 1946 ihre berühmte Definition


Gesundheit ist der Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen
Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit und Gebrechen

verabschiedete (vgl. Kap. 2), ist viel Wasser die Flüsse der Welt hinab geflossen.
Als Welt-Organisation muss die WHO Konzepte entwickeln, die gleichermaßen
für die industrialisierten Länder wie für die weniger entwickelten Länder Gültig-
keit besitzen, und so hat sie durch ihre Politik im Laufe der Jahre neue Akzente
gesetzt. Doch die WHO hat sich niemals offiziell von ihrer Definition losgesagt.
Trotz erheblicher Kritik am Begriff des Wohlbefindens ist die WHO nicht von
der Utopie des umfas­senden körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens
abgerückt. Sie hat aber im Laufe der Jahre den Fokus verändert. Während die
1946er Definition nichts über die Rah­menbedingungen von Gesundheit aussagt
und Gesundheit eher auf der individu­ellen Ebene lokalisiert, betonen spätere
Verlautbarungen der WHO den gesellschaftli­chen Charakter von Gesundheit
und verstehen sie als einen wesentlichen Bestandteil des alltäglichen Lebens. Die
WHO betont, dass so verstandene Gesundheit nur zu erreichen ist, wenn die
gesellschaftlichen Bedingungen Gesundheit ermöglichen:
Grundlegende Bedingungen und konstituierende Momente von Gesundheit sind Frie-
den, angemessene Wohnbedingungen, Bildung, Ernährung, Einkommen, ein stabiles
Öko-System, eine sorgfältige Verwendung vorhandener Naturressourcen, soziale
Gerechtigkeit und Chan­cengleichheit. (WHO 1986)

Die Erkenntnis, dass Gesundheit nicht dadurch weltweit hergestellt werden kann,
dass das medizinische Wissen westlich-naturwissenschaftlicher Prägung in die
üb­rige Welt exportiert wird, fand 1978 auf einer internationalen Konferenz der
WHO in Alma-Ata (damals UdSSR) ihren Niederschlag. Die Deklaration von
Alma-Ata führte eine neue Utopie ein: Die Gesundheit für alle. Bis zum Jahr

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9.3 Gesundheit im Sinne der WHO 191

2000 sollten alle Menschen auf dieser Welt einen Gesundheitsstatus erreichen
können, der es ihnen ermöglichte, ein sozial und ökonomisch produktives Leben
zu führen. Die Dekla­ration von Alma-Ata setzte sich für eine weltweit gleichmä-
ßige Verteilung der Gesundheitsressourcen ein, und sie formulierte Strategien,
mit der das hoch ge­steckte Ziel erreicht werden sollte. Hierbei stand vor allem die
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Forderung nach Zugänglichkeit und Finanzierbarkeit der Gesundheitsversor-


gung für alle Menschen im Vordergrund. Gleichzeitig wurden erstmalig Strate-
gien der primären Gesundheitsversorgung formuliert, der Primary Health Care,
bei der die Gemeinde als zentraler Ort der Gesundheitssicherung eine dominante
Bedeutung erhält. Die 1979 auf die Konferenz von Alma-Ata folgende Weltge-
sundheitsversammlung bestätig­te die Deklaration und führte die Globalstrategie
«Gesundheit für alle bis zum Jahr 2000» ein. 1986 wurde dann in Ottawa das
Aktionsprogramm zur Umsetzung die­ser Globalstrategie verabschiedet. Diese
seither als «Ottawa-Charta zur Gesund­ heitsförderung» bekannt gewordene
Deklaration hat eine Bedeutung erlangt, die weit über das Jahr 2000 hinausgeht:
Die Ottawa-Charta ist die Basis für alle Maß­nahmen zur Gesundheitsförderung
geworden, sie formuliert die Grundsätze und Strategien, an denen sich Gesund-
heitspolitik zu orientieren hat. Laut Ottawa-Charta ist ein guter Gesundheits-
zustand eine wesentliche Bedingung für soziale, ökonomische und persönliche
Entwicklung und entscheidender Bestandteil der Lebensqualität.
Gesundheit wird von Menschen in ihrer alltäglichen Umwelt geschaffen und gelebt:
Dort, wo sie spielen, lernen, arbeiten und leben. Gesundheit entsteht dadurch, dass
man sich um sich selbst und für andere sorgt, dass man in die Lage versetzt wird,
selber Entscheidungen zu fällen und eine Kontrolle über die eigenen Lebensumstände
auszuüben sowie dadurch, dass die Gesellschaft, in der man lebt, Bedingungen her-
stellt, die all ihren Bürgern Gesundheit ermöglichen. (WHO 1986)

Als Basis für aktives, gesundheitsförderndes Handeln erarbeitete die Ottawa-


Char­ta fünf Strategien, die auf jeweils fünf Handlungsebenen ansetzen. Da die
Beschrei­bungen der fünf Strategien im Originaltext so prägnant sind, dass eine
Umformu­lierung wenig Verbesserungen ermöglicht, sei hier die von der WHO
autorisierte Übersetzung von Hildebrandt und Kickbusch vollständig zitiert:

Eine gesundheitsfördernde Gesamtpolitik entwickeln

Gesundheitsförderung beinhaltet weit mehr als medizinische und soziale


Ver­sorgung. Gesundheit muss auf allen Ebenen und in allen Politiksek-
toren auf die politische Tagesordnung gesetzt werden. Politikern müssen
dabei die ge­sundheitlichen Konsequenzen ihrer Entscheidungen und ihre
Verantwortung für Gesundheitsförderung verdeutlicht werden. Dazu wen-

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192 9. Gesundheitsmodelle

det eine Politik der Gesundheitsförderung verschiedene, sich gegenseitig


ergänzende Ansätze an, u. a. Gesetzesinitiativen, steuerliche Maßnahmen
und organisatorisch struk­turelle Veränderungen. Nur koordiniertes, ver-
bündetes Handeln kann zu einer größeren Chancengleichheit im Bereich
Fachhochschule Ostschweiz FHS St. Gallen, Hochschule für Angewandte Wissenschaften / 152.96.188.38 (2023-09-25 11:27)

der Gesundheits-, Einkommens- und Sozialpolitik führen. Ein solches


gemeinsames Handeln führt dazu, ungefähr­lichere Produkte, gesündere
Konsumgüter und gesundheitsförderlichere soziale Dienste zu entwickeln
sowie sauberere und erholsamere Umgebungen zu schaffen.
Eine Politik der Gesundheitsförderung muss Hindernisse identifizieren, die
einer gesundheitsgerechteren Gestaltung politischer Entscheidungen und
Pro­gramme entgegenstehen. Sie muss Möglichkeiten einer Überwindung
dieser Hemmnisse und Interessensgegensätze bereitstellen. Ziel muss es
sein, auch politischen Entscheidungsträgern die gesundheitsgerechtere Ent-
scheidung zur leichteren Entscheidung zu machen.

Gesundheitsförderliche Lebenswelten schaffen

Unsere Gesellschaften sind durch Komplexität und enge Verknüpfung


geprägt; Gesundheit kann nicht von anderen Zielen getrennt werden. Die
enge Bindung zwischen Mensch und Umwelt bildet die Grundlage für einen
sozial-ökologi­schen Weg zur Gesundheit. Oberstes Leitprinzip für die Welt,
die Länder, Re­gionen und Gemeinschaften ist das Bedürfnis, die gegensei-
tige Unterstützung zu fördern – sich um den anderen, um unsere Gemein-
schaften und unsere natürliche Umwelt zu sorgen. Besondere Aufmerksam-
keit verdient die Erhal­tung der natürlichen Ressourcen als globale Aufgabe.
Die sich verändernden Lebens-, Arbeits- und Freizeitbedingungen haben
ent­scheidenden Einfluss auf die Gesundheit. Die Art und Weise, wie eine
Gesell­schaft die Arbeit, die Arbeitsbedingungen und die Freizeit organi-
siert, sollte eine Quelle der Gesundheit und nicht der Krankheit sein.
Gesundheitsförde­rung schafft sichere, anregende, befriedigende und ange-
nehme Arbeits- und Lebensbedingungen. Eine systematische Erfassung der
gesundheitlichen Folgen unserer sich rasch wandelnden Umwelt – insbe-
sondere in den Bereichen Tech­nologie, Arbeitswelt, Energieproduktion und
Stadtentwicklung – ist von essen­tieller Bedeutung und erfordert aktives
Handeln zugunsten der Sicherstellung eines positiven Einflusses auf die
Gesundheit der Öffentlichkeit. Jede Strategie zur Gesundheitsförderung
muss den Schutz der natürlichen und der sozialen Umwelt sowie die Erhal-
tung der vorhandenen natürlichen Ressourcen mit zu ihrem Thema machen.

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9.3 Gesundheit im Sinne der WHO 193

Gesundheitsbezogene Gemeinschaftsaktionen unterstützen

Gesundheitsförderung wird realisiert im Rahmen konkreter und wirksamer


Aktivitäten von Bürgern in ihrer Gemeinde: in der Erarbeitung von Priori-
täten, der Herbeiführung von Entscheidungen sowie bei der Planung und
Fachhochschule Ostschweiz FHS St. Gallen, Hochschule für Angewandte Wissenschaften / 152.96.188.38 (2023-09-25 11:27)

Umsetzung von Strategien. Die Unterstützung von Nachbarschaften und


Gemeinden im Sinne einer vermehrten Selbstbestimmung ist ein zentraler
Angelpunkt der Gesundheitsförderung; ihre Autonomie und Kontrolle über
die eigenen Ge­sundheitsbelange ist zu stärken.
Die Stärkung von Nachbarschaften und Gemeinden baut auf den vorhandenen
menschlichen und materiellen Möglichkeiten der größeren öffentlichen Teil­
nahme und Mitbestimmung auf. Selbsthilfe und soziale Unterstützung sowie
flexible Möglichkeiten der größeren öffentlichen Teilnahme und Mitbestim-
mung für Gesundheitsbelange sind dabei zu unterstützen bzw. neu zu ent­
wickeln. Kontinuierlicher Zugang zu allen Informationen, die Schaffung von
gesundheitsorientierten Lernmöglichkeiten sowie angemessene finanzielle
Unterstützung gemeinschaftlicher Initiativen sind dazu notwendige Voraus­
setzungen.

Persönliche Kompetenzen entwickeln

Gesundheitsförderung unterstützt die Entwicklung von Persönlichkeit und


sozialen Fähigkeiten durch Information, gesundheitsbezogene Bildung
sowie die Verbesserung sozialer Kompetenzen und lebenspraktischer Fer-
tigkeiten. Sie will dadurch den Menschen helfen, mehr Einfluss auf ihre
eigene Gesund­heit und ihre Lebenswelt auszuüben, und will ihnen zugleich
ermöglichen, Veränderungen in ihrem Lebensalltag zu treffen, die ihrer
Gesundheit zu gute kommen. Es gilt dabei, Menschen zu lebenslangem Ler-
nen zu befähigen, und ihnen zu helfen, mit den verschiedenen Phasen ihres
Lebens sowie eventuellen chronischen Erkrankungen und Behinderungen
umgehen zu können. Dieser Lernprozess muss sowohl in Schulen wie auch
zu Hause, am Arbeitsplatz und innerhalb der Gemeinde erleichtert werden.
Erziehungsverbände, die öffent­lichen Körperschaften, Wirtschaftsgremien
und gemeinnützige Organisationen sind hier ebenso zum Handeln aufgeru-
fen wie die Bildungs- und Gesundheits­institutionen selbst.

Die Gesundheitsdienste neu orientieren

Die Verantwortung für die Gesundheitsförderung wird in den Gesundheits­


diensten von Einzelpersonen, Gruppen, den Ärzten und anderen Mitarbei-
tern des Gesundheitswesens, den Gesundheitseinrichtungen und dem Staat

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194 9. Gesundheitsmodelle

geteilt. Sie müssen gemeinsam darauf hinarbeiten, ein Versorgungssystem


zu ent­wickeln, das auf die stärkere Förderung von Gesundheit ausgerichtet
ist und weit über die medizinisch-kurativen Betreuungsleistungen hinaus-
geht.
Die Gesundheitsdienste müssen dabei eine Haltung einnehmen, die feinfüh-
Fachhochschule Ostschweiz FHS St. Gallen, Hochschule für Angewandte Wissenschaften / 152.96.188.38 (2023-09-25 11:27)

lig und respektvoll die unterschiedlichen kulturellen Bedürfnisse anerkennt.


Sie sollten dabei die Wünsche von Individuen und sozialen Gruppen nach
einem gesünderen Leben aufgreifen und unterstützen sowie Möglichkeiten
der bes­seren Koordination zwischen dem Gesundheitssektor und anderen
sozialen, politischen, ökonomischen Kräften eröffnen.
Eine solche Neuorientierung von Gesundheitsdiensten erfordert zugleich
eine stärkere Aufmerksamkeit für gesundheitsbezogene Forschung wie
auch für die notwendigen Veränderungen in der beruflichen Aus- und Wei-
terbildung. Ziel dieser Bemühungen soll ein Wandel der Einstellungen und
der Organisations­formen sein, die eine Orientierung auf die Bedürfnisse des
Menschen als ganz­heitliche Persönlichkeit ermöglichen. (www.who.org)

Die gesundheitlichen Unterschiede innerhalb der Gesellschaften und zwischen


ihnen abzubauen, die Menschen selber als Träger ihrer Gesundheit anzuerken-
nen und sie zu unterstützen, die Menschen zu bewegen, sich selbst, ihre Familien
und Freunde gesund zu halten und allen Bestrebungen entgegenzuwirken, die
auf die Herstellung gesundheitsgefährdender Produkte, auf die Erschöpfung
von Ressour­cen, auf ungesunde Umwelt- und Lebensbedingungen oder eine
ungesunde Ernäh­rung gerichtet sind – dies sind weitere Forderungen der Ottawa
Charta zur Ge­sundheitsförderung, der sich auch die deutsche Regierung ver-
pflichtet hat. Auf der internationalen Konferenz für Gesundheitsförderung in
Mexiko im Jahre 2000 ver­pflichteten sich erstmalig nicht nur die Delegierten
der WHO, sondern auch die Gesundheitsministerinnen und -minister aus 87
Ländern, landesweite Aktionspläne zur Gesundheitsförderung im Sinne der in
Ottawa formulierten Ziele und Strate­gien umzusetzen.
Inzwischen existiert ein Rahmenprogramm Gesundheit 21, in dem die
be­stehende Strategie auch für das 21. Jahrhundert bestätigt wird. Das seit Alma-
Ata oberste Ziel, für alle Menschen gesundheitliche Chancengleichheit zu errei-
chen, wird noch einmal in zwei Hauptzielen festgehalten: Die Förderung und der
Schutz der Gesundheit der Bevölkerung während des gesamten Lebens und die
Verringerung der Inzidenz der wichtigsten Krankheiten und Verletzungen und
der damit ver­bundenen Leiden.
In ihren Möglichkeiten allerdings, auf eine gesundheitsförderliche Gesamt-
politik hinzuwirken, ist die WHO in vielen Bereichen eingeschränkt oder hat

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9.3 Gesundheit im Sinne der WHO 195

sich gar selbst beschränken lassen. Ein Beispiel hierfür ist ein aus dem Jahre
1959 stammendes Abkommen zwischen der WHO und der Internationalen
Atomenergieorganisation IAEO, in dem der IAEO die Hauptverantwortung für
atomare Forschungsprojekte zugestanden wird. Kritiker dieses Abkommens wie
die Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs, Ärzte in sozialer
Fachhochschule Ostschweiz FHS St. Gallen, Hochschule für Angewandte Wissenschaften / 152.96.188.38 (2023-09-25 11:27)

Verantwortung IPPNW betrachten es als ein Instrument, mit dem die WHO sich
den Interessen der Atomlobby untergeordnet hat und legen zahlreiches Daten-
material vor mit dem sie belegen, dass die WHO an Forschung zu ionisierender
Strahlung und der Veröffentlichung von Forschungsergebnissen gehindert wird
(Wilmen 2009, www.independentwho.info). Zudem werden der WHO eine
zu enge Verbindung mit der Pharmaindustrie und Abhängigkeit von privaten
Geldgebern vorgeworfen. Letztere finanzieren inzwischen mehr als ein Viertel
des Budgets der WHO, was die Gefahr beinhaltet, dass gesundheitspolitische
Entscheidungen zunehmend von wirtschafts- und finanzpolitischen Akteuren
beeinflusst werden (Gebauer 2011).

Weiterführende Literatur
Bengel, J., Strittmatter, R. & Willmann, H. (2001). Was erhält Menschen gesund? Antonovskys
Modell der Salutogenese – Diskussionsstand und Stellenwert. Köln: Bundeszentrale für
gesundheitliche Aufklärung.
Kaba-Schönstein, L. (2011). Gesundheitsförderung I bis VI. In Bundeszentrale für gesund-
heitliche Aufklärung (Hrsg.), Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention.
Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden (S. 137–218). Gamburg: Verlag für
Gesundheitsförderung.

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10
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Geschlechtsspezifische
Modelle von Gesundheit und Krankheit

Welche der folgenden Schilderungen stammt wahrscheinlich von einem


Mann, welche von einer Frau?
Wie begründen Sie Ihre Einschätzung? An welchen Kriterien haben Sie
sich orientiert?

«In der Regel deutet überhaupt nichts darauf hin, dass ich wieder diese totale
Panik kriege. Ich tue gerade irgendetwas, ganz oft ist es sogar was ganz
Ruhiges, zum Beispiel beim Fernsehen, oder letztes Mal, da hab ich gerade
telefoniert. Ganz plötzlich kommt dann dieses merkwürdige Gefühl, und
dann werde ich sofort fürchterlich nervös. Und dann fängt mein Herz an wie
irre zu schlagen, ich atme dann auch ganz schnell, krieg wackelige Knie und
schweißnasse Hände. Ich krieg dann einfach total die Panik, das ist, als ob
ich überhaupt keine Kontrolle mehr hätte, ich denke dann, dass ich sterben
muss oder aber, dass ich verrückt werde. Die Angst, verrückt zu werden ist
eigentlich am schlimmsten. Ich weiß dann nicht mehr ein noch aus.»

«Meine Eltern nerven mich so, mit ihrem ewigen: Du musst essen. Ich weiß
schon ganz genau, wann ich essen muss – und ich esse ja auch. Aber eben
nicht so viel, wie sie wollen und vor allen Dingen: Wenn ich schon sehe, wie
meine Mutter immer zu meinem Teller schielt, ob ich jetzt das Kartöffelchen
auch noch esse – dann geht einfach nichts mehr. Es stimmt ja vielleicht, dass
meine Eltern und vor allen Dingen auch die Oma es gut mit mir meinen,
aber die wissen eben nicht, was für mich wichtig ist. Ich will eben schlank
werden, das find ich total schön und auch wichtig für meinen Sport. Meine

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198 10. Geschlechtsspezifische Modelle

Eltern sagen ja, ich hab eine Anorexie, aber die sollten lieber mal sehen, dass
sie ihr Übergewicht loswerden.»

«Acht Jahre hab ich das jetzt schon, immer wieder diese Herzbeschwerden.
Das fängt so im linken Thoraxbereich an, meistens mit Stichen, dann hab
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ich so Herzklopfen, ich werde zunehmend unruhig und bekomme irgend-


wie nicht mehr genug Luft. Früher trat das nur selten auf, in der letzten Zeit
sind die Abstände zwischen diesen Anfällen aber immer kürzer geworden.
Ich habe schon sehr viele Ärzte konsultiert, aber die finden nichts. Dass ich
den Stress reduzieren soll ist ja schön und gut – machen Sie das mal bei dem
Beruf! Ich trinke jetzt schon kaum noch Kaffee, habe angefangen zweimal
die Woche zu joggen und am Wochenende arbeite ich jetzt nur noch vormit-
tags. Ich versuche wirklich, es etwas langsamer gehen zu lassen – aber der
Effekt ist bisher eher gegenteilig.»

«Jetzt bin ich 31 Jahre alt, und seit meinem 18. Lebensjahr spiele ich an Geld-
automaten. In der letzten Zeit ist das wirklich sehr intensiv geworden, ich hab
jetzt so etwa 32 000 Euro Schulden. Wie das weitergehen soll, weiß ich nicht.
Das ist ja bei allen so, die spielen – erst geht das eigene Geld hops, dann fängt
man an, Leute anzupumpen und kann die Schulden nicht zurückzahlen, das
gibt dann eben auch Ärger und am Ende ist man ganz alleine. Ich bin total in
einer Sackgasse, ich kann auch nicht mehr schlafen und ich hab Angst, dass
ich bald auch meinen Beruf gefährde. Ich komm morgens immer schlecht
aus dem Bett und dann den ganzen Tag am Bankschalter stehen, nett zu
den Leuten sein, ordentlich und adrett und wissen, dass das alles nur eine
Fassade ist – manchmal kotze ich mich selber an. Vorige Woche habe ich
gedacht, ich versuche es jetzt noch mal – aber das hat natürlich wieder nicht
geklappt, meine Verluste sind jetzt nur noch größer geworden.»

Im Jahre 1746 erstellte Antoine Deparcieux die erste nach dem Geschlecht
trennende Sterbetafel, und er kam zu einem Ergebnis, das seither immer wieder
repliziert wurde: Frauen leben länger als Männer. Dies gilt – allerdings mit teil-
weise erheblichen Unterschieden in den absoluten Werten – weltweit. Ein heute
in Deutschland geborenes Mädchen wird fünf bis sechs Jahre länger leben als ein
am gleichen Tag geborener Junge (siehe Abb. 13). In den osteuropäischen Ländern
liegt diese Differenz mit etwa 10 Jahren deutlich höher. Nach Angaben der Deut-
schen Stiftung Weltbevölkerung (2011) haben die Männer nur in drei Ländern des
südlichen Afrika, in Simbabwe, Lesotho und Swasiland, eine um ein Jahr höhere
Lebenserwartung als die Frauen. Doch ist hier die wichtigste Information nicht

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10. Geschlechtsspezifische Modelle 199

90 Jahre 82,6
81,6 82,1
81,3
79,0
76,9
73,8
72,4
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68,5 76,0 76,6 77,4


72,5 75,6
62,8 70,2
66,9 67,4
58,8
64,6
Lebensalter

59,9
48,3 56,0

Frauen
44.8 40 Jahre Männer

1901 – 1924 – 1932 – 1949 – 1960 – 1970 – 1980 – 1991 – 2001 – 2002 – 2004 – 2006 –
1910 1926 1934 1951 1962 1972 1982 1993 2003 2004 2006 2008

bis 1945 Deutsches Reich; ab 1945 Westdeutschland; ab 1989 Deutschland

Quelle: Statistisches Bundesamt, 2011

Abbildung 13: Lebenserwartung in Deutschland bei der Geburt in Jahren.

der Geschlechterunterschied, sondern das Sterbealter überhaupt, das zwischen


45 und 49 Jahren liegt. Dies gilt auch für ein weiteres Land, Afghanistan, wo
Männer und Frauen derzeit die gleiche Lebenserwartung von 44 Jahren haben.
Mortalitätsraten gelten als hartes Kriterium zur Beurteilung des Gesundheits-
status einer Bevölkerung. Doch nicht nur in diesem Kriterium sind deutliche
Unterschiede zwischen den Geschlechtern auszumachen, sondern nahezu in
allen anderen Variablen, die jemals unter die geschlechtsspezifische Lupe genom-
men wurden.

Frauen und Männer unterscheiden sich


• in der Art der Erkrankungen
• in der Häufigkeit von Erkrankungen
• im subjektiven Erleben von Gesundheit und Krankheit
• in der Art ihres Krankheitsverhaltens
• im Umgang mit ihrem Körper und ihren Emotionen
• im Medikamentenkonsum

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200 10. Geschlechtsspezifische Modelle

• in den Inanspruchnahmequoten aller medizinischen und psychosozialen Ein-


richtungen
• in Art und Häufigkeit gesundheitsriskanten Verhaltens
• im Umgang mit gesundheitsrelevanten Stressoren und Ressourcen
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• im Schmerzerleben und -ausdruck.

Auch die an Frauen und Männer gestellten Erwartungen im Krankheitsfall, das


heißt die Art, wie sie sich als Kranke «richtig» verhalten, sind durch geschlechtsspe-
zifische Rollenvorstellungen geprägt: Männer dürfen weniger jammern, sind aber
in der Regel als Kranke von allen Aufgaben freigestellt. Frauen hingegen dürfen
ihr Leiden etwas deutlicher äußern, was aber keineswegs damit einhergeht, dass
sie nicht auch als Kranke noch die Hausarbeit und wesentliche Aufgaben als Mut-
ter erledigen. Auch die Normvorstellungen über Abweichung sind verschieden:
Verhält sich eine alkoholabhängige Frau so, wie es dem alkoholabhängigen Mann
typischerweise zugestanden wird – grölt, randaliert, lallt, macht blöde Witze – ist
die gesellschaftliche Diskriminierung ungleich heftiger (Franke & Winkler 2001).
Frauen und Männern kommt zudem eine andere Rolle in der gesundheitlichen
Versorgung anderer Menschen zu: Frauen tragen die wesentliche Verantwortung
für die Gesundheit ihrer Familie, sie sind diejenigen, die für die Sauberkeit, das
regelmäßige Lüften der Betten und die gesunde Ernährung der Familie zuständig
sind, dafür, dass das Kind im Winter eine Mütze aufsetzt, der Mann seine Beta-
Blocker regelmäßig nimmt und alle Familienmitglieder die ärztlichen Vorsorge-
termine einhalten. «Milupa – Für Mütter, die das Beste geben» oder «Die Familie
hat Schnupfen, Mutti hat Nasivin» sind die Botschaften, mit denen die Werbung
diese Rollenverpflichtung von Frauen aufgreift. Und letztlich sind es auch vor
allem die Frauen, die die Pflege kranker und alter Familienmitglieder überneh-
men. Etwa 75 % aller Hauptpflegepersonen in häuslicher Pflege sind Frauen,
meistens aus dem familiären Umfeld: Ehe- und Lebenspartnerinnen, Töchter,
Schwiegertöchter, Enkelinnen; Söhne machen je nach Studie einen Anteil von 3
bis 5 % der Hauptpflegepersonen aus (Landtag Nordrhein-Westfalen 2004).

Ein reizendes Beispiel für die Zuständigkeit von Frauen für die partner-
schaftlichen und familiären gesundheitlichen Belange von www.mann-
intakt.de (zitiert nach Altgeld 2004, S. 207):
«Ihr Partner leidet an Erektionsstörungen. Darunter wiederum leiden
auch Sie. Weil Sie auf ein beglückendes Sexualleben verzichten müssen. Weil
Sie sehen, wie Ihr Partner verunsichert ist und seine Probleme zu verbergen

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10. Geschlechtsspezifische Modelle 201

sucht. Und weil Sie möglicherweise spüren, wie Ihre ganze Beziehung in
einen Strudel aus Zurückweisung und Misstrauen gezogen wird. Ihr Part-
ner braucht Unterstützung. Es ist bekannt, dass Männer und Frauen dieses
Problem ganz unterschiedlich wahrnehmen. Und deshalb finden Sie das
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Thema Erektionsstörungen auf den folgenden Seiten einmal anders aufbe-


reitet – nämlich ganz speziell aus weiblicher Sicht, mit dem Fokus auf Ihre
Bedürfnisse. Eines ist sicher: Auch Sie können helfen.»

Die Tatsache, dass das Geschlecht im Morbiditäts- und Mortalitätsgeschehen


eine so entscheidende Rolle spielt, wurde in der Wissenschaft erstaunlich lange
und erstaunlich konsequent nicht beachtet. Auf die Gründe dafür kann und
soll hier nicht im Einzelnen eingegangen werden, denn das hieße, die gesamte
Androzentrismus-Debatte zu führen, das heißt die Debatte darum, dass und
warum der weiße Mann gemeint ist, wenn in Human- und Biowissenschaften von
«der Person», «dem Patienten», «der Versuchsperson», «dem Probanden», «dem
Menschen» gesprochen wird. Es ist vor allem der Frauengesundheitsbewegung zu
verdanken, dass sie hartnäckig bis penetrant immer wieder darauf hingewiesen
hat, dass Gesundheit und Krankheit für Männer und Frauen Unterschiedliches
bedeuten, dass Männer und Frauen in unterschiedlicher Weise von Gesundheit
und Krankheit betroffen sind, dass bei Gesundheit und Krankheit unterschied-
lich mit ihnen umgegangen wird, dass Gesundheit und Krankheit die Leben von
Männern und Frauen unterschiedlich beeinflussen und dass es notwendig und
gerecht ist, diese Unterschiedlichkeit zu erforschen und sie in der gesundheit-
lichen Versorgung zu berücksichtigen (Franke & Jost 1985, Stiehler & Klotz 2007;
zur Geschichte der geschlechtersensiblen Gesundheitsforschung – insbesondere
in Deutschland – siehe Hollstein 2002, Kolip & Hurrelmann 2002, Schmerl 2002).
Obwohl inzwischen die Tatsache der unterschiedlichen Mortalität und Mor-
bidität von Männern und Frauen, ihr unterschiedlicher Umgang mit Gesund-
heit und Krankheit und die Geschlechtsspezifität ihrer jeweiligen subjektiven
Gesundheitstheorien nicht mehr in Frage gestellt werden, ist verwunderlich, dass
die Forschung in den meisten gesundheits- und krankheitsrelevanten Bereichen
das Geschlecht keineswegs als wesentliche Variable berücksichtigt. Und noch
kärglicher stellt sich die Situation dar, wenn es um Theorien und Erklärungsmo-
delle geht, die die gefundenen Unterschiede in den empirischen Daten interpre-
tieren bzw. erklären helfen. Dadurch, dass sich so unterschiedliche Disziplinen
wie Anthropologie, Biologie, Humangenetik, Psychologie, Soziologie u. a. an
der Formulierung von Erklärungsmodellen beteiligen, wird die Situation nicht
übersichtlicher. Versuche einer Integration sind bisher weitgehend gescheitert
(Degenhardt & Thiele 2002).

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202 10. Geschlechtsspezifische Modelle

Und schließlich gilt für die geschlechtersensible Literatur zu Gesundheit und


Krankheit natürlich wie für die gesamte Literatur zu diesen Themen, dass sie sich
eindeutig stärker mit Krankheiten, Abweichungen und Defiziten als mit Gesund-
heit beschäftigt. Gesundheitsforschung, die sich auch mit der Herausarbeitung
von geschlechtsspezifischen Ressourcen befasst, ist absolut unterrepräsentiert.
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Nach all diesen Einschränkungen gibt es ein Dennoch: Es gibt Forschung zu


Gesundheit und Krankheit, die das Geschlecht als wesentliche Einflussgröße
berücksichtigt. Um sie verstehen und ihre Ergebnisse interpretieren zu können,
ist es wichtig, die wissenschaftlichen Grundpositionen zu kennen, die im Dis-
kurs über den Einfluss des Geschlechts vertreten werden. Es handelt sich um
zwei unterschiedliche Positionen, eine biologische und eine sozialkonstrukti-
vistische:
Die biologische Position basiert darauf, dass es zwei biologische Geschlechter
gibt, im Englischen: «Sexes». Im Rahmen biomedizinischer Modelle begrün-
den chromosomale, hormonale und morphologische Unterschiede das pri-
märe Geschlecht, das als Basis für alle weiteren Unterschiede verstanden wird,
selbstverständlich gerade auch für Unterschiede in Gesundheit und Krankheit.
Umwelteinflüssen und sozialen Variablen wird eine Bedeutung auf die Gesund-
heit und Krankheit nicht gänzlich abgesprochen, doch kann diese allenfalls
mediierender oder moderierender Art sein.
Die sozialkonstruktivistische Position führt die Unterschiede zwischen Män-
nern und Frauen auf soziale Rollen, Prägungen und die geschlechtsspezifische
Aneignung von Erlebens- und Verhaltensweisen zurück. Nicht «Sex» im Sinne
der biologischen und demographischen Zweiteilung bestimmt diesen Ansätzen
zufolge das Gesundheits- und Krankheitsgeschehen, sondern «Gender» im Sinne
des sozialen und kulturellen Geschlechts. Einer radikalen konstruktivistischen
Theorie zufolge gibt es keine eindeutigen biologischen Unterschiede zwischen
den Geschlechtern, sondern die Unterschiede sind Ergebnisse von sozialen
Konstruktionen, die die gesellschaftliche Bedeutung dieser Trennung in zwei
Geschlechter zementieren. Nicht die biologischen Merkmale sind es somit, die
bestimmte soziale und psychische Merkmale bahnen, sondern sozial konstruierte
Verhaltensweisen werden zu Wesensmerkmalen eines Geschlechts erklärt, zur
biologischen Grundausstattung. Dieser Prozess wird in der Literatur als «Doing
Gender» beschrieben (Butler 1991; West & Zimmermann 1987).
So unterschiedlich diese beiden Positionen sind – für die aktuelle Diskussion
und Literatur gilt, dass die Verwendung des Begriffs «Geschlecht» keineswegs
immer eindeutig erkennen lässt, ob es sich nun um Geschlecht im Sinne des «Sex»
als dem biologischen Geschlecht handelt oder aber im sozialkonstruktivistischen
Sinne um «Gender». Im aktuellen deutschen Sprachgebrauch scheint sich die
Verwendung von «Gender» einzubürgern, ohne dass dies notwendigerweise oder

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10.1 Biomedizinisches Modell 203

konsequent auf ein dahinter liegendes sozialkonstruktivistisches Verständnis


verweist. Ganz deutlich wird dies beim politischen Konzept des Gender-Main-
streaming (siehe unten): Ein Konzept, das zwar die sozialen und gesellschaft-
lichen Einflüsse auf Erleben und Verhalten von Männern und Frauen betont, das
aber sicherlich keiner sozialkonstruktivistischen Denkweise entsprungen ist.
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Lesehilfen für den Begriffsdschungel

• Sex: biologisches Geschlecht


• Gender: kulturell und sozial erworbenes Geschlecht
• geschlechtersensibel: bezieht das Geschlecht in Überlegungen ein,
beachtet das Geschlecht
• geschlechterbezogen: bezieht das Geschlecht als wesentliche Kategorie
ein
• geschlechtsspezifisch: ausschließlich bei einem Geschlecht vorkommend
• geschlechtstypisch: mit höherer Wahrscheinlichkeit bei einem
Geschlecht vorkommend

Abgesehen von dem grundsätzlichen Dissenz darüber, ob das Geschlecht pri-


mär durch die Biologie oder die Kultur entsteht, stimmen alle Gesundheits- und
Krankheitstheorien, die den Faktor Geschlecht überhaupt berücksichtigen, in
dem einen Punkt überein, dass das Geschlecht eine entscheidende Variable für
die Unterschiede im Geschehen und Erleben von Krankheit und Gesundheit dar-
stellt. Ausgehend von dieser Überzeugung, die auch ich uneingeschränkt teile,
stelle ich nun die wichtigsten theoretischen Ansätze vor:

10.1
Biomedizinisches Modell
Wie bereits mehrmals erwähnt, ist aus biomedizinischer Sicht der genetische
Ausgangsstatus eines Organismus der entscheidende Faktor für Gesundheit,
Krankheit und Lebensdauer. Alle Informationen zur Entwicklung des Menschen
und seines Verhaltens und Erlebens sind biomedizinischen Modellen zufolge
biologisch determiniert und im Genom angelegt. Die weitere Entwicklung wird
durch das chromosomale, hormonale (gonadale) und morphologische (soma-
tische) Geschlecht determiniert. Das chromosomale Geschlecht ergibt sich
aus der Kombination des Geschlechtschromosoms der Eizelle (X) mit dem der

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204 10. Geschlechtsspezifische Modelle

Samenzelle (X oder Y). Das chromosomale Geschlecht entwickelt sich durch die
Differenzierung in Ovarien oder Hoden zum gonadalen Geschlecht. Die weitere
Steuerung der somatischen Geschlechtsdifferenzierung erfolgt durch die von den
Gonaden produzierten Hormone, wobei vor allem der Einfluss der Androgene
eine wichtige Rolle spielt. Nachdem sich etwa in der siebten Schwangerschafts-
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woche die internen Reproduktionsorgane, Hoden und Ovarien, gebildet haben,


beginnt die Eigenproduktion der Sexualhormone, die wiederum die weitere
Entwicklung der sexuellen Differenzierung beeinflusst. Unter Einfluss des Testo-
sterons erfolgt im zweiten und dritten Schwangerschaftsmonat eine Differenzie-
rung in der Hirnregion des Hypothalamus; der Hypothalamus nimmt über die
Hypophyse Einfluss auf die endokrinen hormonellen Vorgänge. Bereits in der
Schwangerschaft wird durch Testosteron die Produktion von Androgenen und
Spermien in der Pubertät angelegt, wohingegen bei sich entwickelnden Mädchen
die Abwesenheit von Testosteron die spätere Fähigkeit zum hormonellen Zyklus
und zur Ovulation und Menstruation vorbereitet. Die vollständige Ausgestaltung
des körperlichen Geschlechts entwickelt sich durch die Sexualhormone in der
Pubertät, wobei das Verhältnis der Sexualhormone zueinander und die Menge
der produzierten Sexualhormone die Ausbildung der primären und sekundären
Geschlechtsmerkmale bestimmen.
Als Hinweis für die biologische Determiniertheit des Geschlechts werden in
biomedizinischen Modellen auch die geschlechtstypischen Reifungsprozesse
betrachtet. Während Jungen bei Geburt im Allgemeinen etwas schwerer sind als
Mädchen, haben weibliche Neugeborene im Schnitt einen Reifevorsprung von
etwa vier Wochen. Dieser bleibt während der gesamten Kindheit vorhanden;
sämtliche Reifungsschritte – Krabbeln, Laufen, Sauberkeit, Sprechen – werden
von Mädchen schneller und früher durchlaufen als von Jungen. Auch die Puber-
tät tritt bei Mädchen im Durchschnitt etwa zwei Jahre früher als bei Jungen ein.

10.2
Psychosoziale Modelle
Wie die Benennung dieser Modelle bereits zeigt, erklären diese die Unterschiede
zwischen den Geschlechtern in Gesundheit und Krankheit vor allem durch
psychische, verhaltensbezogene und soziale Variablen. Sie tun dies auf dem Hin-
tergrund einer unhinterfragten Akzeptanz der Kategorie «Geschlecht», gehen
somit wie die biomedizinischen Modelle von der Zweigeschlechtlichkeit der
Menschen aus. Anders als diese messen sie jedoch dem Faktor Geschlecht nicht
eine biologisch-kausale Bedeutung bei, sondern die einer Moderator- oder Medi-
atorvariablen. Sie nehmen folglich an, dass zwischen psychosozialen Merkmalen
und Gesundheit bzw. Krankheit je nach Geschlecht andere Zusammenhänge

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10.2 Psychosoziale Modelle 205

bestehen, dass die gesundheitlichen Auswirkungen der psychosozialen Faktoren


bei Männern und Frauen unterschiedlich sind.
In den verschiedenen Wissenschaften, die sich mit Gesundheit und Krankheit
befassen, gibt es inzwischen eine große Anzahl von Untersuchungen zum Ein-
fluss geschlechtsspezifischer Variablen. Allerdings befindet sich diese Forschung
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fast ausschließlich auf einem Niveau, auf dem zwar Zusammenhänge zwischen
bestimmten Variablen des Geschlechts und dem untersuchten Gesundheits- bzw.
Krankheitskriterium aufgezeigt werden können, auf dem aber noch nahezu gänz-
lich unklar ist, auf welchem Wege diese Zusammenhänge zustande kommen. Da
Männer und Frauen sich in unserer Gesellschaft in ihrem Erleben, ihrem Verhal-
ten und dem von ihnen erwarteten Verhalten unterscheiden, außerdem in ihren
wichtigen Lebens- und Arbeitsräumen, ist die Zahl der Variablen, die prinzipiell
Einfluss nehmen können, sehr groß und die Auswahl in den Forschungsprojekten
dementsprechend willkürlich.

Als relevante Variablen haben sich unter anderen herausgestellt:


• wichtigster Lebens-/Arbeitsbereich
• berufliche Situation/Position/Arbeitsbedingungen/Status
• subjektive Gesundheitstheorien
• Umgang mit dem Körper
• Umgang mit Erkrankung, Krankheitsverhalten
• Schmerzempfinden
• gesundheitsrelevantes Verhalten
• Umgang mit Emotionen/Coping
• Medikamentenkonsum
• geschlechtsspezifische Aspekte im Verhalten mit Professionellen des Gesund-
heitssystems
• geschlechtsspezifische Erwartungen im Gesundheitssystem
• Risikoverhaltensweisen
• Ressourcen und Ressourcenmanagement.

In der Regel gehen psychosoziale Modelle nicht davon aus, dass organische
geschlechtsspezifische bzw. geschlechtstypische Faktoren keine Rolle spielen. Sie
werden lediglich in der Modellbildung und der empirischen Forschung wenig

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206 10. Geschlechtsspezifische Modelle

berücksichtigt. Dies hängt auch mit der Schwierigkeit zusammen, biologische


Faktoren auf der einen und psychosoziale Faktoren auf der anderen Seite for-
schungsmäßig fein säuberlich voneinander zu trennen. Anders ausgedrückt:
Männer und Frauen leben in den meisten Gesellschaften in unterschiedlichen
Welten, ihnen werden von Kindheit an andere Rollen zugewiesen, und es wird
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unterschiedliches Verhalten von ihnen erwartet. Biologische und psychosoziale


Faktoren interagieren somit ständig, und eine Trennung ist forschungsmetho-
disch kaum möglich.

Ein interessanter methodischer Ansatz herauszufinden, inwieweit biolo-


gische und Verhaltens- bzw. Umweltfaktoren für geschlechtsspezifische
Unterschiede verantwortlich sind, ist die Untersuchung von Männern und
Frauen, die in Klostern leben. Diese Forschung geht davon aus, dass sich das
Leben von Nonnen und Mönchen – zumindest seit Eintritt in das Kloster –
deutlich weniger voneinander unterscheidet als das Leben von Männern und
Frauen in der allgemeinen Bevölkerung: Nonnen und Mönche pflegen den
gleichen Lebensstil, der Tagesablauf ist ähnlich, es gibt keine Aufteilung in
Erwerbs- und Familienarbeit. Luy (2002) untersuchte mittels einer Mortali-
tätsanalyse bei 11 624 bayrischen Ordensmitgliedern – 6 154 Nonnen, 5 470
Mönche, – inwieweit die längere Lebensdauer von Frauen sich auch bei einer
Klosterbevölkerung finden lässt. Nach der deutschen Sterbetafel entwickelte
sich von 1871 bis heute die Differenz in der Lebenserwartung bei Geburt
zugunsten der Frauen von 2,9 auf 6 Jahre. Im Vergleich mit den Sterbere-
gistern der bayerischen Nonnen und Mönche konnte er zeigen, dass sich
dieser Vorteil für die Nonnen nicht ergab: Ihre Lebensdauer lag während des
von ihm überprüften Untersuchungszeitraums von 1910 bis 1985 konstant
zwischen 0 und 2 Jahren höher als die der Mönche. Luy schließt: «Man kann
zusammenfassend also feststellen, dass sich die Lebenserwartung von Frauen
und Männern mit gleichen Verhaltensweisen und Lebensbedingungen im
Verlauf des 20. Jahrhunderts vollkommen identisch entwickelt hat. Damit
können sämtliche in der Literatur diskutierten möglichen Ursachen für die
Entwicklung der geschlechtsspezifischen Mortalitätsunterschiede, die nicht
vom Menschen selbst beeinflussbar sind – wie biologische Faktoren oder
die Theorie der ungleichen Selektion der beiden Weltkriege – unmöglich
die alleinigen Auslöser für dieses Phänomen sein. Die vorliegende Arbeit
zeigt also, dass für die Auseinanderentwicklung der Lebenserwartung von
Frauen und Männern der Allgemeinbevölkerung wohl ausschließlich Ver-
änderungen in den Lebensverhältnissen der westlichen Bevölkerung verant-
wortlich sind. Beispiele hierfür wären die immer größer werdende Stressbe-

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10.3 Gender-Theorien 207

lastung für die berufstätige Bevölkerung oder unterschiedliche gesundheits-


beeinflussende Verhaltensweisen und Lebensstile von Männern und Frauen,
wie z. B. der erhöhte Zigaretten- und Alkoholkonsum der Männer.» (Luy
2002, Seite 122)
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10.3
Gender-Theorien
Gender-Theorien leugnen nicht die empirisch gefundenen Geschlechtsunter-
schiede im Geschehen um Gesundheit und Krankheit, sie bestreiten jedoch, dass
diese Unterschiede biologischen Ursprungs sind oder überhaupt mit biologischen
Variablen in Beziehung stehen. Sie gehen davon aus, dass die Unterschiede zwi-
schen den Geschlechtern durch kulturelle und soziale Variablen bedingt und
somit sozial konstruiert sind.
Folgenden Variablen wird in diesen Konstruktionsprozessen besondere Bedeu-
tung zugesprochen:

10.3.1
Geschlechtsstereotype
Darüber, wie Mann und Frau sich jeweils zu verhalten haben, gibt es in einer
Gesellschaft recht eindeutige Vorstellungen, die als Stereotype das Verhalten und
Erleben jeder einzelnen Person beeinflussen. Geschlechtsstereotype sind auch ein
wichtiger Maßstab, an dem sich die gegenseitige Beurteilung orientiert. Sich nicht
geschlechtsstereotyp zu verhalten, kann einen erheblichen Stressfaktor darstel-
len – ein junger Mann zum Beispiel, der die von ihm erwarteten «männlichen»
Verhaltensweisen in seiner Bundeswehrzeit ablehnt, wird wahrscheinlich Kritik,
Häme und Aggression als Weichei und «Mädchen» erleiden müssen.
Der Einfluss von Geschlechtsstereotypen auf die Beurteilung von Men-
schen als gesund oder krank zeigt sich am deutlichsten im Bereich der psychi-
schen Störungen. Die Vorstellung von psychisch gesunden Menschen ist nicht
geschlechtsneutral, sondern erheblich durch Geschlechtsstereotype beeinflusst.
Dies haben zahlreiche Untersuchungen immer wieder belegt. Broverman und
ihre Arbeitsgruppe zeigten bereits 1970 den Doppelstandard auf, der für Männer
und Frauen bezüglich der psychischen Gesundheit gilt – ihre Ergebnisse sind mit
unterschiedlicher Methodik in unterschiedlichen Ländern mit unterschiedlichen
Gruppen von Personen immer wieder eindrücklich bestätigt worden.

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208 10. Geschlechtsspezifische Modelle

Broverman et al. (1970) teilten 79 Psychotherapeutinnen und Psychothe-


rapeuten in drei Gruppen auf und gaben allen den gleichen Fragebogen.
Anhand dieses Fragebogens hatte eine Gruppe einen psychisch gesunden
Menschen zu beschreiben, eine andere einen psychisch gesunden Mann und
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die dritte eine psychisch gesunde Frau. Es zeigte sich, dass


• das Bild des gesunden Menschen mit dem Bild des gesunden Mannes
übereinstimmte
• das Bild der gesunden Frau dem eines psychisch gestörten Mannes ent-
sprach
• Frauen gegenüber dem gesunden Menschen als weniger gesund erschie-
nen. Verglichen mit ihm und damit verglichen mit dem Mann waren
sie submissiver, weniger unabhängig, weniger abenteuerlustig, weniger
objektiv, gefühlvoller, kindlicher, emotionaler und scheuer.

Diese Forschungsergebnisse wurden in der Literatur mehrfach durch das Argu-


ment abzuschwächen versucht, das Forschungsdesign überprüfe nicht männliche
und weibliche Stereotype, sondern die soziale Erwünschtheit der Eigenschaften.
Ich sehe hier keinen grundsätzlichen Einwand: Denn wenn sozial erwünschte
Eigenschaften als psychisch gesund gelten und als männlich, es aber keine sozial
erwünschten Eigenschaften gibt, die gleichzeitig als weiblich gelten, dann bleibt
die Diskriminierung für die Frauen die gleiche.
Geschlechtsstereotype sind im Gesundheits- und Krankheitsgeschehen auch
noch auf folgendem Wege wirksam: Übereinstimmung mit dem Geschlechtsste-
reotyp wird von vielen Menschen als entlastend erlebt und kann damit gesund-
heitsförderlich sein, wohingegen Abweichung vom Geschlechtsstereotyp als
Stress und damit als potentiell gesundheitsschädigend erlebt werden kann. Für
Letzteres kann die Entwicklung der Bulimia nervosa als Beispiel angeführt wer-
den. Frauen mit Bulimia nervosa fühlen sich häufig zwischen den verschiedenen
Rollenanforderungen, mit denen sie in der modernen Gesellschaft konfrontiert
sind, zerrissen: Einerseits sollen und wollen sie liebevolle Partnerin sein, Geliebte,
emotional unterstützend und für ein gutes Familienklima sorgend – andererseits
versuchen sie, die Rolle der selbstbewussten, unabhängigen, «emanzipierten»
Frau zu erfüllen. Dieser Versuch, zwei miteinander inkompatible Rollen in einer
Person zu realisieren, muss scheitern – und findet seinen Niederschlag in einer
Erkrankung, die von ständigem Hin und Her, sprich: Rein und Raus, gekenn-
zeichnet ist (Franke 2001b).

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10.3 Gender-Theorien 209

10.3.2
Ungleiche Macht- und Statusverteilung
Einen weiteren wichtigen Faktor im Gesundheits- und Krankheitsgeschehen
erkennen die Gender-Theorien in den ungleichen Verteilungen von Macht und
Status in der Gesellschaft. Die Literatur zu diesem Punkt ist jedoch von einem
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Problem gekennzeichnet, das die gesamte Gender-Forschung durchzieht: Dem


Problem nämlich, ob es sich jeweils um eine Forschung aus Männer- oder
Frauenperspektive handelt. De facto erfolgt der weitaus überwiegende Teil der
als Gender-Forschung firmierenden Forschung aus Frauenperspektive, die von
der Prämisse ausgeht, dass Frauen in den bisherigen Theoriebildungen zu wenig
beachtet worden sind und sich die aktuelle Theoriebildung vor allem am Mann
orientiert. Diesem so genannten Androzentrismus setzt die sich als Gender-
Forschung verstehende Frauenforschung eine Frauenperspektive entgegen. Die
in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen geringere Machtposition von Frauen
wird in dieser Literatur im Allgemeinen als Gesundheitsrisiko betrachtet.
Liest man dagegen Gender-Theoretiker, die den Blick auf das männliche
Geschlecht werfen, so stellt sich gerade die dominante Männerrolle als beson-
derer Risikofaktor dar. Männer stehen dieser Männerforschung zufolge unter
dauerndem Stress: Diejenigen, die tatsächlich den von Männern erwarteten
beruflichen und gesellschaftlichen Erfolg erreichen, müssen ein atemloses Leben
auf der Überholspur führen. Das Typ-A-Verhalten gestaltet sich somit aus dieser
sozialkonstruktivistischen Perspektive als aus der sozialen Rolle entstehende
Notwendigkeit, nicht als Persönlichkeitsspezifikum. Da aber nur relativ wenige
Männer die Erfolgsleiter tatsächlich in dem Maße erklimmen, wie es vom «Mann
an sich» erwartet wird, ergibt sich für die große Gruppe der Männer der perma-
nente Stress, den gesellschaftlichen Vorstellungen von Karriere und Erfolg nicht
gerecht werden zu können. Diesem Dauerstress, der noch dadurch verstärkt wird,
dass Männer ihre Gefühle nicht zeigen dürfen und nicht gelernt haben, von sich
selbst und ihrem eigenen Erleben zu sprechen, und außerdem dadurch, dass sie
nicht ausreichend auf ihre Gesundheit achten und ihren Körper wenig pflegen,
werden von männerorientierten Gesundheitsforschern als wesentliches Krite-
rium dafür angesehen, dass Männer eine so deutlich geringere Lebenserwartung
haben als Frauen (Altgeld 2004, Sticher 2010).
Insgesamt muss festgestellt werden, dass es noch kaum Forschung gibt, die
Gesundheit und Krankheit unter gleichzeitiger Berücksichtigung von Geschlecht
und sozialer Lage untersucht. Das liegt neben den Schwierigkeiten, eine objektive
Perspektive einnehmen zu können, auch an dem methodischen Problem, dass
sich die soziale Stellung von Männern und Frauen nicht mit den gleichen Krite-
rien erfassen lässt. Bei Männern liefern der berufliche Status und das Einkom-

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210 10. Geschlechtsspezifische Modelle

men die validesten Daten, bei Frauen sind dagegen der Bildungsstand und das
Familien­einkommen relevantere Indikatoren (Babitsch 2005, vgl. Kap. 11).

10.3.3
Ungleiche gesellschaftliche Wertung
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Beeinflussen die Geschlechtsstereotypen bereits an sich Gesundheit und Krank-


heit, so erhöht sich deren Relevanz noch dadurch, dass die von den beiden
Geschlechtern typischerweise erwarteten Verhaltens- und Erlebensweisen gesell-
schaftlich unterschiedlich gewichtet sind.
Die gleichzeitige Betrachtung von Geschlechtsstereotypen und deren sozialer
Wertung zeigt, dass Frauen deutlich gefährdeter sind, Erkrankungen zu erleiden,
die mit Ängstlichkeit, depressivem Rückzug und mangelnder Durchsetzungs-
fähigkeit in Verbindung stehen, wohingegen Männer ein höheres Risiko für
Erkrankungen und Todesursachen tragen, die mit Aggressivität, Ausagieren und
Ignoranz gegenüber den eigenen Bedürfnissen zu tun haben – Unfälle, Suizid
und Lungenkrebs sind eindrückliche Beispiele.
Die unterschiedliche Bewertung geschlechtstypischer Verhaltensweisen hat
auch erhebliche Auswirkungen im medizinischen Versorgungssystem: Für
Frauen birgt die negative Bewertung ihrer eher introvertierten Verhaltensweisen
zum Beispiel die Gefahr eines übermäßigen Medikamentenkonsums und einer
Medikamentenabhängigkeit. Beschwerdeäußerungen von Frauen werden als
psychovegetative Störungen diagnostiziert und mit der Verschreibung von psy-
chotropen Medikamenten «therapiert». Frauen lernen in der Behandlung keine
alternativen Strategien für das ihnen oft so schadende typisch weibliche Herun-
terschlucken von Ärger, Wut und Enttäuschung, sondern ihnen wird eben dieses
Schlucken vom medizinischen System im Gegenteil noch zusätzlich verordnet.
Die Wahrscheinlichkeit, ein psychotropes Medikament verschrieben zu
bekommen, und auch das Risiko der Medikamentenabhängigkeit sind dabei
zusätzlich in hohem Maße von der sozioökonomischen Situation beeinflusst.
Wir konnten zum Beispiel in einer eigenen Untersuchung einer repräsentativen
Stichprobe von 850 Frauen zwischen 30 und 65 Jahren im Ruhrgebiet zeigen, dass
das Risiko riskanten und/oder abhängigen Medikamentenkonsums umso höher
war, je niedriger der Ausbildungsstand, der Beschäftigungsgrad und -status einer
Frau und je geringer das Familieneinkommen waren (Franke, Mohn, Sitzler,
Welbrink & Witte 2001).

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10.3 Gender-Theorien 211

Einige Daten zu Geschlechtsunterschieden bei der Medikamentenverordnung

• Männern werden im Alter zwischen 60 und 75 Jahren mehr Medikamente


verschrieben als Frauen; in allen anderen Altersklassen erhalten Frauen
ab dem 15. Lebensjahr mehr Medikamentenverordnungen.
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• Über alle Personen- und Präparategruppen hinweg erhalten Frauen 20 %


mehr Medikamente verschrieben als Männer.
• Migränepräparate werden Frauen dreimal häufiger verordnet als Män-
nern.
• Frauen erhalten ca. 60% mehr Psychopharmakaverordnungen als Män-
ner.
• Frauen werden 54 % mehr Schmerzmittel verschrieben als Männern.
• Abhängigkeitserzeugende Medikamente werden bei unklaren Beschwer-
den wie Schlafstörungen, Erregung, Spannungszuständen, Nervosität,
Depressionen zu 86% an Frauen verschrieben.
• Personen unterer Schichten werden deutlich mehr psychotrope Arznei-
mittel verschrieben.
• 5% der Frauen zwischen 50 und 80 Jahren erhalten kontinuierlich Ben-
zodiazepine.
• Schätzungen zufolge sind aktuell 1,2 Millionen Frauen – vorwiegend
Frauen über 60 – aufgrund zu langer Verschreibungszeiten von Benzodi-
azepinen abhängig.
• Die Aufwendungen der gesetzlichen Krankenversicherungen für
Medikamente sind für Männer höher als für Frauen (Coca & Nink 2011,
Landtag Nordrhein-Westfalen 2004).

10.3.4
Ungleiche Anpassungsleistungen an die «geschlechtsfremde» Rolle
In der Soziologie gilt als nahezu unbestritten, dass sich die Geschlechtsrollen in
der heutigen Gesellschaft mehr und mehr aneinander angleichen. Ohne diese
Erkenntnis grundsätzlich in Frage stellen zu wollen, scheint es mir jedoch so zu
sein, dass diese Angleichung weitgehend darauf beruht, dass Frauen in immer
mehr männliche Räume einbrechen dürfen – dies gilt insbesondere für den beruf-

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212 10. Geschlechtsspezifische Modelle

lichen Bereich – , wohingegen Männer weiterhin enorm vorsichtig sind, sich auf
weibliches Terrain – wie z. B. Hausarbeit und soziale Kontaktpflege – einzulas-
sen. Auch die gesundheitlichen Konsequenzen, die sich aus dieser «Angleichung»
ergeben, scheinen unterschiedlich zu sein: Während die größere Integration von
Frauen in den Arbeitsmarkt und auch das Eindringen von Frauen in höhere
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Positionen aus einer feministischen Perspektive absolut zu begrüßen sind, zeigt


sich auf der gesundheitlichen Seite, dass den Frauen hieraus unter Umständen
Nachteile erwachsen: So ist z. B. die Zahl der Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die
früher als typische Männererkrankungen galten, in den letzten Jahren bei den
Frauen angestiegen, insbesondere bei jüngeren Frauen. Dies hängt auch damit
zusammen, dass mehr Frauen gesundheitsschädigende Verhaltensweisen rea-
lisieren, die früher für Männer typisch waren: So nähert sich zum Beispiel die
Quote der Raucherinnen immer mehr der männlichen Raucherquote an, bei den
Jugendlichen ist bereits ein Gleichstand erreicht (BZgA 2012).

10.4
Gender-Mainstreaming
Das Konzept des Gender-Mainstreaming stellt im wissenschaftlichen Sinn keine
Theorie dar, sondern ist eine politische Strategie. Da diese Strategie aber erheb-
lichen Einfluss auch auf den Bereich der Gesundheit und Krankheit von Frauen
und Männern hat, stelle ich sie hier vor.
Der Begriff des Gender-Mainstreaming wurde bei der Welt-Frauenkonferenz
in Beijing 1995 geprägt. Im Jahre 1998 legte der Europarat den konzeptuellen
Rahmen für das Programm des Gender-Mainstreaming fest und definierte
Gender-Mainstreaming wie folgt:

Gender-Mainstreaming ist die (Re)Organisation, Verbesserung, Entwick-


lung und Evaluierung grundsatzpolitischer Prozesse mit dem Ziel, eine
geschlechterbezogene Sichtweise in alle politischen Konzepte auf allen Ebe-
nen und in allen Phasen durch alle normalerweise an politischen Entschei-
dungen beteiligten Akteure einzubringen. (Council of Europe 1998, S. 14)

1999 wurde Gender-Mainstreaming von der deutschen Bundesregierung als


durchgängiges Leitprinzip und Querschnittsaufgabe für die Gleichstellungspo-
litik festgelegt.
Im gesundheitspolitischen Kontext wurde dem Konzept im September 2001
eine Konferenz der WHO in Madrid gewidmet, deren Ergebnisse 2002 im so
genannten Madrid Statement veröffentlicht wurden. Ausgehend davon, dass alle

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10.4 Gender-Mainstreaming 213

Frauen und Männer in allen Lebensbereichen das Recht haben, ohne Diskrimi-
nierung zu leben und Zugang zu Gesundheitsversorgung, Erziehung und glei-
cher Bezahlung für gleiche Arbeit zu haben, formuliert das Madrid Statement,
dass alle Frauen und Männer das Recht auf den höchsten erreichbaren Gesund-
heitsstandard haben. Das Erreichen des höchstmöglichen Gesundheitsstandards
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wird als ein fundamentales Recht jedes Menschen verstanden, unabhängig von
Rasse, Religion, politischer Anschauung und Überzeugung sowie ökonomischen
und sozialen Bedingungen. Als Voraussetzung zur Erreichung dieses höchsten
Standards an Gesundheit muss die Gesundheitspolitik der WHO zufolge berück-
sichtigen, dass Frauen und Männer aufgrund der zwischen ihnen bestehenden
biologischen Differenzen und aufgrund der unterschiedlichen Geschlechtsrollen
unterschiedliche gesundheitliche Bedürfnisse haben, und dass auch ihre Chancen
auf Gesundheit und die Hindernisse, die einer guten Gesundheit im Wege stehen,
unterschiedlich sind. Gender wird im Konzept des Gender-Mainstreaming somit
nicht in einem sozialkonstruktivistischen Sinne verstanden, sondern sowohl als
biologische wie auch als psychosoziale Kategorie:

To achieve the highest standard of health, health policies have to recognize that
women and men, owing to their biological differences and their gender roles, have
different needs, obstacles and opportunities. (WHO 2002)

Gender-Mainstreaming im Gesundheitswesen wird gleichermaßen als politischer


und als technischer Prozess verstanden, der Veränderungen in der Gesetzgebung,
den Organisationsstrukturen und den ihnen zu Grunde liegenden Denk- und
Wertsystemen verlangt, und entsprechend auch Veränderungen in der Formulie-
rung gesundheitlicher Ziele und der Verteilung von finanziellen und personellen
Ressourcen.
Alle Mitgliedstaaten der WHO werden aufgefordert, Gender-Mainstreaming
als Strategie zum Erlangen von Geschlechtergerechtigkeit im Gesundheitswesen
einzusetzen. Die Regierungen sollen ihren politischen Willen ausdrücken, Gender-
Mainstreaming auf allen gesellschaftlichen Ebenen in der Gesundheitspolitik
durchzusetzen. Sie sollen finanzielle und personelle Mittel zur Verfügung stellen,
um gendersensible Maßnahmen zu implementieren und strukturelle Kapazitäten
zur Koordinierung und zur Verankerung des Konzepts in allen beteiligten Sektoren.

Zur Bedeutung des Gender-Mainstreaming-Konzepts

Dadurch, dass die zwischen den Geschlechtern bestehenden Unterschiede wert-


frei berücksichtigt und anerkannt werden, macht das Gender-Mainstreaming-
Konzept einen enormen Schritt nach vorne. Es geht nicht mehr – wie leider häufig
in der Frauen- und Männer-Gesundheitsforschung – um ein Mehr oder Weniger

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214 10. Geschlechtsspezifische Modelle

an Vorteilen, ein Mehr oder Weniger an Diskriminierungen, sondern um eine


Sensibilisierung für das Geschlechtliche und seinen Einfluss auf objektivierbare
Parameter von Gesundheit und Krankheit sowie auf Gesundheitserleben und
Gesundheitsverhalten. Es geht um die Berücksichtigung des Geschlechts in der
pharmakologischen und medizinischen Forschung, in allen Aspekten der Aus-
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bildung und Professionalisierung im Gesundheitswesen und in der Interaktion


zwischen Klientinnen und Klienten und den Professionellen.
Wenn mit diesem Punkt der Erklärung von Madrid weltweit ernst gemacht
würde, dann kämen wir heraus aus der Falle der Quantifizierung und hätten die
Chance, dass alle die für sie beste gesundheitliche Versorgung erhielten: Jede nach
ihren, jeder nach seinen Bedürfnissen, Erfordernissen und Möglichkeiten. Jede und
jeder muss eine gleich gute Chance auf ein Maximum an Gesundheit haben – und
das kann für Männer und Frauen durchaus etwas Unterschiedliches sein. Gleiches
muss gleich behandelt und Unterschiedliches in seiner Andersartigkeit respektiert
werden. Gesundheitspolitik, gesundheitliche Versorgung, Gesundheitsforschung
und Gesundheitsförderung, die sich am Gender-Mainstreaming-Konzept ori-
entieren, müssen Bedürfnisse und Interessen beider Geschlechter gleich wichtig
nehmen.

Damit dies geschehen kann, müssen folgende Forderungen erfüllt und in die Tat
umgesetzt werden:

Alle Daten im Gesundheitswesen müssen geschlechterdifferenzierend erhoben


und ausgewertet werden. Für die meisten Einrichtungen der Gesundheitsver-
sorgung bedeutet dies, dass die Kategorie «Geschlecht» verbindlich in die Stati-
stiken eingeführt wird, und die Forschung hat die Aufgabe, geschlechtergerechte
Erfassungskriterien zu entwickeln. Dies hört sich leichter an als es ist: Bereits die
Erfassung soziodemographischer Merkmale zeigt, dass es wesentlich einfacher
ist, Kriterien für die männliche als für die weibliche Biographie und Lebenssi-
tuation zu entwickeln. Wie erfasst man die sozioökonomische Situation einer
verheirateten Frau mit einer Teilzeitbeschäftigung? Über das Haushaltseinkom-
men? Über ihr eigenes Einkommen? Über ihr persönliches Taschengeld? Ebenso
müssen natürlich Kriterien entwickelt werden, in denen männliche und weibliche
Symptomschilderungen erfasst werden, Unterschiede in der Art der Symptome
von Männern und Frauen bei gleichen Erkrankungen usw. Und natürlich muss
das Geschlecht auch bei der Erfassung von Verlauf und Ergebnissen der Behand-
lungen Berücksichtigung finden.
Eine weitere sich aus dem Gender-Mainstreaming-Konzept ergebende Forde-
rung ist die nach einer geschlechtergerechten Pharmaforschung und -erprobung.
Frauen dürfen nur Arzneimittel verschrieben werden, die auch ausreichend bei

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10.4 Gender-Mainstreaming 215

Frauen geprüft wurden. Voraussetzung hierfür ist, dass endlich das Geschlecht
in der Pharmaforschung berücksichtigt wird. Erst seit der Änderung des Arznei-
mittelgesetzes im Juli 2004 fordert der deutsche Gesetzgeber, dass Frauen an kli-
nischen Studien im Zulassungsverfahren beteiligt werden. Bis zu diesem Datum
war es Usus, dass Medikamente nahezu ausschließlich an Männern erprobt wur-
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den, bevor sie für den Handel freigegeben wurden. Da Medikamente jedoch von
Frauen anders verstoffwechselt werden als von Männern, wurden Frauen bisher
weitgehend Medikamente verschrieben, deren Wirkungsweise im weiblichen
Organismus nicht bekannt war – von Wechselwirkungen mit anderen Medika-
menten ganz zu schweigen. Dies hat sich zum Glück seit Juli 2004 in Deutschland
verändert: Im Juni 2011 informierte die Bundesregierung, dass in 83 % der nach
2004 zugelassenen klinischen Prüfungen neuer Medikamente Männer und Frauen
beteiligt waren; die verbleibenden Medikamente waren indikationsbedingt nur für
jeweils ein Geschlecht (Bundestagsdrucksache 17/6634). Natürlich werden die vor
2004 zugelassenen Medikamente weiterhin an Frauen verschrieben, obwohl ihre
spezifische Wirksamkeit nicht überprüft wurde.
Ein großer weißer Fleck auf der Karte der pharmazeutischen Forschung ist
noch die Entwicklung von Medikamenten für schwangere Frauen. Dass es sich
bei ihnen um eine aus Sicht der Pharmaindustrie besonders heikle Gruppe han-
delt, ist klar. Unter Berücksichtigung des Gender-Mainstreaming jedoch kann es
geradezu als Gebot angesehen werden, dieser Gruppe besondere Aufmerksam-
keit zukommen zu lassen.
Eine weitere Forderung ist die nach einer stärkeren Berücksichtigung der spe-
zifischen Lebenslagen von Frauen und Männern – dies sowohl in der Forschung
als auch vor allen Dingen in der Gesundheitsversorgung. Es fehlen in unserem
Versorgungssystem ausreichende Angebote in der stationären Versorgung und
in der Rehabilitation für Mütter, für allein erziehende Väter und für alte Män-
ner und Frauen. Das dichotome Denken des medizinischen Modells ist für die
Gruppe der Älteren und Alten, die gesundheitliche Beeinträchtigungen haben,
in anderen Funktionen und Bereichen aber noch sehr gesund sind, ein Fallbeil.
Ohne dass ihre Ressourcen ausreichend berücksichtigt werden können, fallen sie
unter die Kategorie «krank» und werden in Pflege-Einrichtungen abgeschoben.
Dass Männer und Frauen jedoch gerade im Alter über unterschiedliche, durch
geschlechtsspezifische Sozialisation erworbene Repertoires von Ressourcen ver-
fügen, die ihnen viele gesunde Optionen eröffnen können, ist in unserem Versor-
gungssystem nicht vorgesehen.
Gender-Mainstreaming im Gesundheitswesen zu realisieren würde auch
bedeuten, dass die Störungen und Risiken, die jeweils bei Frauen bzw. bei Män-
nern häufiger auftreten, stärker unter Berücksichtigung der Geschlechterperspek-
tive erforscht würden: Was hat das Frausein mit der Depression zu tun? Stehen

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216 10. Geschlechtsspezifische Modelle

die Herzbeschwerden eines Mannes in Zusammenhang mit seinem Verständnis


davon, wie ein Mann sein muss?
Ebenso wichtig wie eine stärkere Berücksichtigung der Geschlechtsspezifität
und geschlechtsspezifischen Lebenslagen in der Ätiologie der Störungen sind vor
allem aber auch der Ausbau von stationären und ambulanten Angeboten, die diese
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Aspekte mit berücksichtigen. Die bisherigen Ansätze sind zu einem großen Teil
absolut ungenügend oder sogar kontraproduktiv – wie zum Beispiel das Angebot
einer einmal wöchentlich stattfindenden Frauengruppe für alkoholabhängige
Frauen in einer Klinik, in der der überwiegende Teil der Patienten männliche
Alkoholabhängige sind. Solche Gruppen bedeuten eher eine Stigmatisierung der
Frauen und haben nichts mit einer frauengerechten Therapie zu tun.
Ein weiterer Aspekt ist die bessere Aufklärung und Information über die weib-
liche Ausgestaltung früher typischer Männerkrankheiten und die männliche
Ausgestaltung typischer Frauenkrankheiten. Herzinfarkt und Angina pectoris
etwa äußern sich bei Frauen anders als bei Männern, was ein Grund dafür ist,
dass die Überlebensrate nach Herzinfarkt bei Frauen niedriger ist als bei Män-
nern. Anorexia nervosa und Bulimia nervosa hingegen werden bei jungen Män-
nern häufig diagnostisch übersehen oder fehldiagnostiziert, wodurch sich die
Krankheits- und Leidensgeschichte der Betroffenen erheblich verlängern kann.
Zur besseren Einbeziehung der unterschiedlichen Lebenslagen von Frauen
und Männern gehört auch, dass die Forschung über familiäre Stressoren und
Ressourcen bei Männern intensiviert werden muss. Obwohl z. B. der Zusammen-
hang von Scheidung und Alkoholabhängigkeit bei Männern epidemiologisch
offensichtlich ist, ist er wissenschaftlich unerforscht und wird in den gängigen
Behandlungskonzepten nicht berücksichtigt. Gleiches gilt für Frauen und die
berufliche Situation: Die frauenspezifische Gesundheitsforschung hat sich inten-
siv mit der so genannten Doppelbelastung von Frauen durch Familie und Beruf
befasst, aber bisher kaum mit dem Zusammenhang zwischen den beruflichen
Stressoren von Frauen und ihrem Gesundheitsverhalten oder zwischen Arbeits-
losigkeit und weiblicher Depression (Franke 2011).
Konsequenzen des Gender-Mainstreaming-Konzepts ergeben sich natürlich
auch für die Professionellen im Gesundheitswesen. So müssen genderspezifische
Aspekte in der Ausbildung zu allen Gesundheitsberufen implementiert werden,
und die Forderung nach einer gleichen beruflichen Partizipation von Männern
und Frauen in allen Berufen und auf allen Hierarchiestufen des Gesundheits-
wesens stellt eine Selbstverständlichkeit dar. Dass Forderung und Realität hier
gerade für Deutschland noch weit auseinander klaffen, ist jedem klar, der einmal
ein deutsches Krankenhaus betreten hat.
Eine Utopie ist leider auch noch die Forderung nach der Wahlmöglichkeit
des Geschlechts der Behandler und Pflegenden und die Forderung, dass die

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10.4 Gender-Mainstreaming 217

Geschlechterquoten des Personals sich an der Geschlechterverteilung der Klientel


orientieren müssen. Bitter nötig ist ein diesbezüglich sensibler Umgang mit alten
Frauen in Krankenversorgung und Pflege. Insbesondere in der jetzigen Gene-
ration alter Frauen sind viele durch sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen
während des Krieges und nach Kriegsende traumatisiert, und Berührungen
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können Erinnerungen wecken und zu schweren Re-Traumatisierungen führen.


Hier ist eine schnelle Veränderung in Art und Organisation der gesundheitlichen
Versorgung dringend nötig.
In Tabelle 6 sind diese Forderungen noch einmal zusammengefasst.

Tabelle 6: Konsequenzen des Gender-Mainstreaming-Konzeptes im Gesundheitswesen.

Forderung Gesundheitsversorgung Forschung

Geschlechterdifferenzie- Kategorie «Geschlecht» in Entwicklung geschlechter-


rende Erhebung/Samm- allen Datenerhebungen gerechter Erfassungskri-
lung und Auswertung aller terien; Berücksichtigung
Daten im Gesundheitswe- des Geschlechts in
sen Therapie-Outcome- und
Verlaufsforschung

Geschlechtergerechte Arzneimittelverschreibung Angemessene Berück-


Pharmaforschung/ für Frauen nur von an sichtigung von Frauen
-erprobung Frauen geprüften Phar- in klinischer Erprobung;
mazeutika Entwicklung von Phar-
maka für schwangere
Frauen

Stärkere Berücksichtigung Mehr die Lebenslagen Geschlechtsspezifische


der spezifischen Lebens- berücksichtigende Ange- Untersuchung von
lagen von Frauen und bote in der stationären Lebenslagen, stärkere
Männern Versorgung und in der Berücksichtigung sozialer
Rehabilitation Variablen in medizinischer
und psychologischer
Forschung

Stärkere Berücksich- Ausbau der stationären Berücksichtigung/


tigung von Störungen und ambulanten Angebote Untersuchung der
und Risiken, die häufiger Geschlechtsspezifität und
bei einem Geschlecht geschlechtsspezifischen
auftreten Lebenslagen in der
Ätiologie; Entwicklung
geschlechtsspezifischer
Therapiekonzepte

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218 10. Geschlechtsspezifische Modelle

Forderung Gesundheitsversorgung Forschung

Bessere Aufklärung und Erfassung/Kontrolle des Wissenschaftliche Erfor-


Information über weibliche Geschlechts in allen Doku- schung dieser (früheren)
Ausgestaltung typischer mentationssystemen/ Minderheiten
Männerkrankheiten und Krankenstatistiken
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männliche Ausgestaltung
typischer Frauenkrank-
heiten

Intensivierung der z. B. der Zusammenhang


Forschung über familiäre von Scheidung und Alko-
Stressoren und Ressour- holabhängigkeit
cen bei Männern

Intensivierung der For- z. B. der Zusammenhang


schung über berufliche von Arbeitslosigkeit und
Stressoren und Ressour- Depression
cen bei Frauen

Wahlmöglichkeit des Geschlechterquoten des Erforschung der Interak-


Geschlechts von Behand- Personals entsprechend tion zwischen Behandlern
lern und Pflegenden des Geschlechts der und Klientel unter
Klientel Berücksichtigung des
Geschlechts

Implementierung gender-
spezifischer Aspekte in
der Ausbildung zu allen
Gesundheitsberufen

Gleiche berufliche Partizi-


pation in allen Berufen des
Gesundheitswesens unab-
hängig vom Geschlecht

Weiterführende Literatur
Franke, A. & Kämmerer, A. (Hrsg.) (2001). Klinische Psychologie der Frau. Ein Lehrbuch.
Göttingen: Hogrefe.
Hurrelmann, K. & Kolip, P. (Hrsg.) (2002). Geschlecht, Gesundheit und Krankheit – Männer
und Frauen im Vergleich. Bern: Huber.

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219

11
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Sozialepidemiologische
Modelle

The key message … is that the circumstances in which people are born, grow, live,
work, and age are the fundamental drivers of health, and health inequality. (Sir
Michael Marmot 2008)

Die soziale Epidemiologie beschäftigt sich mit der Auftretenshäufigkeit, der Ent­
stehung und dem Verlauf von Krankheiten sowie der Verteilung von Gesund-
heit und Krankheit in der Gesellschaft in Abhängigkeit von sozialen Variablen.
Dass zum Beispiel die Lebensdauer, einer der wichtigsten Indikatoren für den
Gesund­heitszustand einer Bevölkerung, von sozialen Faktoren beeinflusst ist,
lässt sich bereits für die Zeit um Christi Geburt belegen. Während Sklaven und
Sklavinnen in Rom durchschnittlich 17,5 Jahre lebten, wurden die Freigelassenen
durchschnitt­lich bereits 25,2 Jahre alt. Die gebildeten Männer konnten ihr Leben
40,3 Jahre lang genießen – bei den gebildeten Frauen allerdings bestand kein
Unterschied zur Lebensdauer der Frauen in den anderen sozialen Gruppen (nach
Mielck 2000, S. 126).
Diese anhand der Angaben auf 6 414 Grabsteinen innerhalb und außerhalb
Roms durchgeführte Erhebung zeigt bereits zwei wichtige soziale Variablen
auf, die in sozialepidemiologischen Untersuchungen Berücksichtigung finden:
gesellschaft­liche Stellung und Geschlecht. Erstere ist ein wichtiges Merkmal der
so genannten vertikalen, letzteres ein Merkmal der horizontalen Differenzierung,
und gemeinsam kennzeichnen sie den sozioökonomischen Status einer Person
oder einer Gruppe. Die früheren Begriffe «soziale Klasse» und «soziale Schicht»
sind, da sie als politisch gefärbt gelten, heute unüblich.
Vertikale soziale Ungleichheit bezeichnet eine ungleiche Verteilung in den
unteren und oberen Bevölkerungsschichten. Wesentliche Kriterien, mit denen
die vertikale Ungleichheit erfasst wird, sind der Bildungsstand, der meistens

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220 11. Sozialepidemiologische Modelle

über den höchsten er­reichten Ausbildungsabschluss operationalisiert wird, der


berufliche Status und das Einkommen.
Horizontale soziale Ungleichheit wird mit Merkmalen wie Alter, Geschlecht,
Nationalität, Familienstand erfasst. Je nach den zu untersuchenden Gruppen
kön­nen auch andere Merkmale gewählt werden.
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Wie das obige Beispiel zeigt, sind vertikale und horizontale Ungleichheit nicht
unabhängig voneinander: Während sich im alten Rom das vertikale Merkmal
der sozialen Stellung in der Lebenserwartung der Männer sehr deutlich nie-
derschlug, war bei den Frauen das horizontale Merkmal der Geschlechtszuge-
hörigkeit bedeut­samer: Zahlreiche Schwangerschaften und die hohe Mortalität
bei Geburten betra­fen die Frauen unabhängig von der sozialen Schicht, der sie
angehörten.
Auch heute kommt den Merkmalen der vertikalen Ungleichheit je nach hori-
zontalem Merkmal eine unterschiedliche Bedeutung zu. So steht der sog. soziale
Gradient, also die Abhängigkeit eines Erkrankungsrisikos von der Positionie-
rung innerhalb der sozialen Hierarchie, bei Männern entscheidend mit ihrem
Einkommen in Zusammenhang, bei Frauen hingegen ist der Bildungsabschluss
eine aussagekräftigere Variable. Insgesamt ist nach aktuellem Kenntnisstand
der soziale Gradient bei Männern ausgeprägter als bei Frauen, die Beziehung
zwischen gesundheitlichem Zustand und sozialem Status ist somit bei Männern
enger als bei Frauen (Babitsch 2005).
Trotz des engen Zusammenhangs beschäftigt sich dieses Kapitel vornehm-
lich mit der vertikalen sozialen Un­gleichheit. Mit dem horizontalen Ungleich-
heitskriterium «Geschlecht» hat sich das vorige Kapitel befasst, auf die anderen
wichtigen Parameter, insbesondere Alter und Nationalität, kann ich im Rahmen
dieses Buchs nicht eingehen.

Lesehilfen, um feine, aber wichtige Bedeutungsunterschiede zu erkennen

• social variations in health: soziale gesundheitliche Variationen


• social disparities in health: soziale gesundheitliche Unterschiede
• social inequalities in health: soziale gesundheitliche Ungleichheiten
• social inequities in health: soziale gesundheitliche Ungerechtigkeiten

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11.1 Entwicklung der Sozialepidemiologie in Deutschland 221

11.1
Entwicklung der Sozialepidemiologie in Deutschland
Dass Gesundheit und Krankheit nicht individuelles Schicksal sind, sondern
durch die Gesellschaft beeinflusst werden und durch staatliche Maßnahmen
gefördert werden können, formulierte erstmalig ausgangs des 17. Jahrhunderts
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der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 – 1716). Seine Ideen aufgreifend
entwarfen Ärzte und Gesundheitsverwaltungen Reformpläne, die der Medizin
wichtige öffentliche Aufgaben zuwiesen: Sie sollte Institutionen schaffen, die für
die Gesundheit för­derlich waren, daneben aber auch die Lebensführung der Men-
schen überwachen. Neben der Sorge für die Gesundheit und das Wohlergehen
der Einzelnen standen bei all diesen Überlegungen deutlich utilitarische Aspekte
im Vordergrund, denn man hatte erkannt, dass die gesellschaftlichen Aufgaben
nicht erbracht werden konnten, wenn zu viele Menschen aus der «Produktion»
ausfielen. So schrieb bereits 1764 der Stadt- und Landphysicus Thomas Rau:
Die Geschäfte des Friedens können durch kranke Menschen nicht verrichtet, noch
der Acker durch schwächliche Leute gebaut werden. Und zum Krieg führen werden
starke und dauer­hafte Leute erfordert [...] Kurz, sieche Menschen sind in keinem
Stande vermögend, zu dem Besten des Staates etwas beyzutragen. (zitiert nach
Bergdolt 2004, S. 209)

Von besonderem Einfluss war Johann Peter Frank, der umfassende Vorschläge
zur Verbesserung der Hygiene und der Arbeits- und Wohnverhältnisse machte,
die Gründung von Waisenhäusern und Krankenhäusern veranlasste und Vor-
schläge zur Schwangerenfürsorge und Betreuung von Gebärenden machte.

Johann Peter Frank wurde 1745 in Rodalben in Rheinland Pfalz als eins
von 14 Kindern eines kleinen Händlers geboren. Nach dem Medizinstudium
arbeitete er als Landarzt in Lothringen, dann in Rastatt als Hofmedicus.
Vom aufgeklärten Bischof und Grafen von Speyer wurde er nach Bruchsal
gerufen, wo er seine medizinischen Überzeugungen in die Realität umset-
zen konnte: Er hatte als Landarzt erkannt, dass die hauptsächlichen Erkran-
kungsursachen in der Armut und Leibeigenschaft von Menschen begründet
waren, und wollte eine Wissenschaft begründen, die Regeln entwickelt, nach
denen Krankheiten und Krankheitsursachen «durch die obrigkeitliche Vor-
sorge beseitigt» werden konnten. In Bruchsal gründete er eine Hebammen-
schule, zwei Krankenhäuser, eine chirurgische Schule – und er schrieb sein
Hauptwerk, das sechsbändige «System einer vollständigen medicinischen
Polizey» (1799 – 1819). Durch das Werk berühmt geworden wurde er Profes-
sor in Göttingen und folgte von dort dem Ruf des habsburgischen Kaisers

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222 11. Sozialepidemiologische Modelle

Joseph nach Pavia. Hier brachte er Unruhe in die medizinische Fakultät,


als er aus Anlass einer Promotionsfeier anstelle sich selbst feiernder akade-
mischer Rhetorik seine «Akademische Rede vom Volkselend als der Mutter
der Krankheiten» hielt (veröffentlicht 1790). In dieser Rede geißelt er die
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Lebensbedingungen der Armen und legt deren Zu­sammenhang zu Krank-


heiten und frühem Sterben äußerst anschaulich dar: «Ein Sklavenvolk ist ein
kachektisches Volk!». Auch die schlechtere gesundheit­liche Versorgung der
Armen legte er schonungslos bloß. Nach dem Tod des aufgeklärten Kaisers
Joseph ging Frank als Professor nach Wien, wo er aber an akademischer
Kleinlichkeit und Intrige scheiterte. Danach begann er in Sankt Petersburg
eine chirurgische Akademie aufzubauen, fand jedoch in einem Leib­arzt des
Zaren wiederum einen Widersacher, der ihn an der Umsetzung seiner Ideen
hinderte. Dem Wunsch Napoleons, sein Leibarzt zu werden, folgte er nicht.
Als Privatmann ging er nach Wien, wo er weiter an seinem wissenschaft­
lichen Werk arbeitete. Dort starb er 1821.

Aber Franks aufklärerische Arbeit zeigt auch bereits deutlich das Janusgesicht
sozialepidemiologisch begründeter Gesundheitsfürsorge: Zweifellos brachte
sie für Betroffene und ganze Bevölkerungsschichten gesundheitliche Verbesse-
rungen, doch damit einher gingen Reglementierungen, Normierungen und der
staatliche Anspruch, sich in die gesundheitlichen Belange der Einzelnen einmi-
schen zu dürfen. Dabei machte Frank mit der «medicinischen Polizey» auch vor
eugenischen Überlegungen nicht halt. Er zielte an, «[...] dass schöne, mit einem
starken, wohlgebauten und gesunden Körper prangende Menschen [...] mit
ihresgleichen an Gesundheit und Körpervollkommenheit und in Erziehung [...]»
die Ehe schließen. Die Ehe zwischen Menschen mit chronischen oder erblichen
Krankheiten hielt er dagegen für gesellschaftlich unverantwortlich (zitiert nach
Bergdolt 2004, S. 214).
Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg war die Sozialepi­
demiologie in Deutschland sowohl theoretisch als auch empirisch auf einem
hohen Stand. Die herausragende Persönlichkeit im 19. Jahrhundert war Rudolf
Virchow, dessen 1858 veröffentlichte Theorie der Zellularpathologie ihm Welt-
ruhm als Mediziner einbrachte. Als Vertreter einer streng naturwissenschaftlich
orientierten Medizin sah er jedoch gleichzeitig die größten Krankheitsrisiken in
den Lebens- und Arbeitsbedingungen insbesondere der unteren sozialen Schich-
ten und in der hygieni­schen Versorgung.

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11.1 Entwicklung der Sozialepidemiologie in Deutschland 223

Rudolf Virchow wurde 1821 in Schivelbein, Pommern, dem heutigen Swid-


win geboren. Die finanziellen Mittel seiner Familie, sein Vater war Fleischer-
meister, waren bescheiden. Aufgrund seiner früh erkannten Begabung erhielt
er ein Stipendium an der Berliner Militärärztlichen Akademie, an der er auch
pro­movierte und anschließend eine Stelle als Assistenzarzt erhielt. Diese
Fachhochschule Ostschweiz FHS St. Gallen, Hochschule für Angewandte Wissenschaften / 152.96.188.38 (2023-09-25 11:27)

verlor er 1848, weil er während der Märzrevolution in Berlin auf Seiten der
Demokraten kämpfte. Vor seiner Suspension hatte er im Auftrag der Regie-
rung eine Typhus­epidemie in Oberschlesien untersucht und in seinem Bericht
die «volle und unumschränkte Demokratie», ohne die Gesundheit und
Wohlstand nicht mög­lich seien, gefordert. Nachdem er schriftlich versichert
hatte, sich nicht mehr radikal-politisch engagieren zu wollen, erhielt er 1949 in
Würzburg einen Lehr­stuhl für pathologische Anatomie. Als Ergebnis einer im
Auftrag der württem­bergischen Regierung durchgeführten Untersuchung des
gesundheitlichen Zustands der Bevölkerung in Elendsquartieren im Spessart
forderte er Bildung, Wohlstand und Freiheit als Voraussetzung für einen bes-
seren Gesundheitszu­stand der Betroffenen. 1856 erhielt er einen Ruf an die
Berliner Universität, wo er mit seiner Schrift «Die Cellularpathologie in ihrer
Begründung auf physio­logische und pathologische Gewebelehre» eine neue
naturwissenschaftliche Krankheitslehre begründete, die die Jahrhunderte
alte Humoralpathologie ab­löste. 1859 wurde er Mitglied der Berliner Stadt-
verordnetenversammlung, später Mitbegründer der Liberalen Deutschen
Fortschrittspartei und Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses für
die Fortschrittspartei. Er setzte sich für die Einführung der obligatorischen
Trichinenschau in Preußen und eine zentrale Kanalisation mit Wasserversor-
gung und -entsorgung in Berlin ein. Im Abgeordnetenhaus forderte er gerin-
gere Ausgaben für das Militär und den Ausbau der öffentlichen Sozialfürsorge
und brachte den Reichskanzler Bis­marck so gegen sich auf, dass dieser ihn
zum Duell forderte. Durch Vermittlung des Kriegsministers sah Bismarck
später von seiner Forderung ab. Virchow kämpfte für die Rechte von Minder-
heiten wie die Polen in Preußen und be­kämpfte entschieden aufkommende
antisemitische Tendenzen. Neben diesen vielfältigen Tätigkeiten betätigte er
sich auch noch als Archäologe und war entscheidend an der Gründung des
ethnologischen Museums und des Völker­kundemuseums in Berlin beteiligt.
Rudolf Virchow starb 1902 in Berlin.
Sein wohl bekanntester Ausspruch ist: «Wer kann sich darüber wundern,
dass die Demokratie und der Socialismus nirgend mehr Anhänger fand als
unter den Ärzten? Dass überall auf der äußersten Linken, zum Theil an der
Spitze der Bewegung, Ärzte stehen? Die Medicin ist eine sociale Wissen-
schaft, und die Politik ist weiter nichts als Medicin im Großen.»

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224 11. Sozialepidemiologische Modelle

Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs erschienen in Deutschland weitere


wich­tige Forschungen und Publikationen zum Zusammenhang von Krank-
heit und sozialer Lage (Grothjahn 1912, Mosse & Tugendreich 1913), doch in
der Folge konnte sich allen sozialepidemiologischen Zusammenhängen zum
Trotz in Medi­zin und Gesundheitspolitik eine individualisierende Sichtweise
Fachhochschule Ostschweiz FHS St. Gallen, Hochschule für Angewandte Wissenschaften / 152.96.188.38 (2023-09-25 11:27)

durchsetzen. Nach dem Ersten Weltkrieg verlor die Sozialepidemiologie in


Deutschland den Anschluss an die internationale Diskussion. Die in Deutsch-
land erhobenen Gesundheitsstatistiken bieten keine ausreichende Basis für sozi-
alepidemiologische Untersuchungen. Medizinerinnen und Mediziner arbeiten
als vereinzelte Kleinunternehmer auf der Basis eines Krankheitsmodells, das
die soziale Bedingtheit von Erkrankungen leugnet; Diagnose- und Vergütungs­
system entsprechen diesem Krankheitsmodell. Diese Entwicklung wurde und
wird von der ärztlichen Standespolitik sehr einseitig forciert (Reiners 2011). Dass
es soziale Ungleichheit in der gesundheitlichen Versorgung gibt, wird in der
gesundheitspolitischen Dis­kussion möglichst ausgespart, gerne sogar geleugnet.
Die konservativ-liberale Argumentation lastet Unterschiede in Mortalität und
Morbidität primär den Unterschieden im individuellen Gesundheits- und Inan-
spruchnahmeverhalten der Menschen an und hält Aufklärungskampagnen bei-
spielsweise zum Gebrauch von Kondomen oder gegen Drogen und Warnungen
vor den Gefahren gesundheitsschädigenden Verhaltens wie abschreckende Fotos
zerfressener Lungenflügel auf Zigarettenpackungen für ausreichende gesund-
heitspolitische Maßnahmen.
Sieht man es jedoch optimistisch, so zeigen sich erste Ansätze zu einer mög-
lichen Veränderung:
• Seit 1994 findet in Berlin jährlich der Kongress «Armut und Gesundheit»
statt. Er ist ein Forum für wissenschaftlich und praktisch Tätige im Gesund-
heitsbereich sowie für alle Betroffenen, die der sozialen Dimension Gewicht
verschaffen wollen. Die stetig wachsenden Teilnehmerzahlen sind ein Signal
und ein Beleg dafür, dass die Brisanz des Themas zunehmend erkannt wird.
• Seit 2000 sind in Deutschland mehrere Fachbücher zur Gesundheit und sozialen
Ungleichheit verlegt worden – auch dies ein Novum, zumindest in der Dichte
(siehe z. B. Babitsch 2005, Bauer, Bittlingmayer & Richter 2008, Mielck 2000,
2005, Razum, Zeeb & Laaser 2006, Richter & Hurrelmann 2009, Siegrist & Mar-
mot 2008, Wilkinson 2001, Wilkinson & Pickett 2010).
• Ein erster politischer Schritt, das Faktum des sozialen Gradienten in der gesund-
heitlichen Situation anzuerkennen, kann im Paragraphen 20 des SGB V gesehen
werden, in dem es heißt , dass die Leistungen der Krankenkasse zur Primär-
prävention «[…] den allgemeinen Gesundheitszustand verbessern und insbe-
sondere einen Beitrag zur Verminderung sozial bedingter Ungleichheit von

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11.2 Erklärungsmodelle 225

Gesundheitschancen erbringen» sollen. Damit wurde im Jahr 2000 indirekt


das Faktum der gesundheitlichen Ungleichheit im Gesetz bestätigt.
• Auch das Bundesgesundheitsministerium unternimmt Anstrengungen,
Deutschland auf der internationalen Bühne wieder Geltung zu verschaffen:
Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), eine Fachbehörde
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des Bundesgesundheitsministeriums, war maßgeblich an dem 2008 abge-


schlossenen Projekt «Closing the Gap: Strategies for Action to tackle Health
Inequalities in Europe» beteiligt und betreut die gleichnamige Online-Daten-
bank, die über Projekte und Strategien zum Abbau der sozialen Ungleichheit
in 22 europäischen Ländern informiert (http://www.health-inequalities.org).
Dem 2003 von der BZgA und den Landesvereinigungen für Gesundheit ins
Leben gerufenen Kooperationsverbund «Gesundheitsförderung bei Sozial
Benachteiligten» haben sich inzwischen 54 an der gesundheitlichen Versor-
gung beteiligte Gruppierungen – u. a. Krankenkassen, Wohlfahrtsverbände,
Ärzteorganisationen, kommunale Spitzenverbände – angeschlossen. Gemein-
sam verfolgen sie das Ziel des Abbaus von sozial bedingter gesundheitlicher
Ungleichheit, wobei der Schwerpunkt bei der Förderung von Kindern liegt.

11.2
Erklärungsmodelle
11.2.1
Empirische Ausgangslage
1977 beauftragte die britische Regierung eine Arbeitsgruppe unter Vorsitz von Sir
Douglas Black, empirische Daten zu sozialen Unterschieden in der Mortalität und
Morbidität zu sammeln, zu erklären und Maßnahmen zu ihrer Reduzierung vor-
zuschlagen. Der Bericht dieser Arbeitsgruppe offenbarte als wichtigstes Ergebnis,
dass Gesundheit, Krankheit und soziale Ungleichheit in einem engen Zusammen-
hang stehen. Es folgten mehrere groß angelegte Studien, zunächst in Großbritan-
nien, den skandinavischen Ländern und den USA, später auch im internationalen
Vergleich. Alle Studien bestätigten die zentrale Aussage des sog. Black-Reports.
Unterschiede zwischen den Menschen am oberen und unteren Ende der sozi-
alen Hierarchie offenbaren sich in den unterschiedlichsten Variablen – auch in
solchen, bei denen man es kaum vermuten würde. So ist der Befund, dass mehr
Menschen der unteren sozialen Schicht schlechtere Zähne haben als solche der
oberen Schicht, wenig überraschend; dass sie aber auch signifikant kleiner sind,
ist ein eher unvermutetes Ergebnis. Einige weitere Daten zur sozialen vertikalen
Ungleichheit seien hier exemplarisch aufgeführt – die Liste ließe sich erheblich
verlängern. Menschen am unteren Ende der sozialen Hierarchie:

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226 11. Sozialepidemiologische Modelle

• sterben früher
• haben sechsmal häufiger Übergewicht und Adipositas
• haben mehr sexuell übertragbare Krankheiten
• leider häufiger an Angina pectoris, chronischer Bronchitis und Lungenkrebs
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• haben mehr chronisch-degenerative Erkrankungen


• haben mehr psychische Störungen
• leiden erheblich früher an Funktionseinschränkungen
• leben nach einer Krebsdiagnose weniger lang
• schätzen ihren eigenen Gesundheitszustand schlechter ein.

Dabei handelt es sich keineswegs um Unterschiede, die nur durch statistische


Künste signifikant werden, sondern es zeigt sich immer wieder, dass die Diffe-
renzen zwischen oberen und unteren sozialen Gruppen in Mortalität und Mor-
bidität erheblich sind. Auch hier einige Beispiele (s. Dahlgren & Whitehead 2006,
Rosenbrock & Gerlinger 2004, Weyers & Richter 2010, Wilkinson & Pickett 2009,
www.forum-gesundheitspolitik.de):
• Die mittlere Lebenserwartung von Männern in Glasgow beträgt heute in
einem armen Stadtteil 54 Jahre, in einem der gut Verdienenden 82 Jahre.
• Der errechnete Unterschied in der Lebenserwartung betrug für eine unter-
suchte Gruppe 16-jähriger Jugendlicher in den USA 28 Jahre – je nachdem,
ob sie weiß waren und der Oberschicht entstammten oder schwarz und vom
unteren Ende der sozialen Hierarchie kamen.
• Männer, die weniger als 60 % des mittleren Einkommens verdienen, leben in
Deutschland elf Jahre weniger als diejenigen mit mehr als 150 % des mittleren
Einkommens; bei den Frauen beträgt der Unterschied acht Lebensjahre.
• In den USA haben Angehörige der Unterschicht bereits mit 45 Jahren so viele
gesundheitliche Beeinträchtigungen wie die Angehörigen der Oberschicht erst
mit 75.
• In einer niederländischen Untersuchung traten bei Menschen der unteren
sozialen Gruppen 17 Jahre früher erhebliche Funktionseinschränkungen ein
als bei den besser Gestellten.

Doch die Ergebnisse der sozialepidemiologischen Forschung erbrachten nicht


nur erhebliche Unterschiede zwischen den sozialen Gruppen, sondern es zeigte

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11.2 Erklärungsmodelle 227

sich zudem weitgehend unabhängig vom gewählten Kriterium zur Erfassung der
vertikalen Ungleichheit ein sozialer Gradient. Das Ausmaß sozialer Ungleich-
heit von gesundheitlichen Risiken ist nicht einfach eine Folge von ungleichem
Einkommen, ungleicher Ausbildung und unterschiedlicher beruflicher Situation,
sondern es folgt einer gesellschaftlichen Hierarchie. Von Stufe zu Stufe verbessert
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bzw. verschlechtert sich die Situation, und denen, die privilegiert sind, geht es
noch etwas schlechter als denen, die sozial noch über ihnen stehen. Der alte Satz:
«Weil Du arm bist, musst Du früher sterben», muss nach aktuellem Erkenntnis-
stand abgewandelt werden in: «Weil Du ärmer bist, musst Du früher sterben»
(Geene & Rosenbrock 2004, Vonneilich & Trojan 2009).
Doch wie lassen sich die Zusammenhänge erklären? Die Datenlage ist erschla-
gend eindeutig, doch die Theoriebildung zum Zusammenhang zwischen sozialer
Ungleichheit, Gesundheit und Krankheit hinkt hinterher. Die Literatur vermittelt
ein sehr heterogenes Bild, viele Variablen wurden überprüft und erwiesen sich als
relevant, aber die Auswahl der untersuchten Variablen orientiert sich häufiger an
pragmatischen als an theoretisch abgeleiteten Kriterien: Es wurden und werden
solche Variablen gewählt, die sich leicht erheben lassen, die leicht operationali-
sierbar und messbar sind – und letztlich auch solche, für deren Untersuchung am
ehesten Forschungsgelder zu erwarten sind und die in die politische Landschaft
passen. Zudem schlagen sich da, wo es um sozialpolitische Aspekte geht, natür-
lich auch die persönlichen Plausibilitäten und politischen Überzeugungen der
Forschenden in den untersuchten Hypothesen nieder.
Das Spektrum der Variablen, die in einer sozioökonomischen Theorie von
Gesundheit und Krankheit berücksichtigt werden müssen, illustrieren Dahlgren
und Whitehead (2006) (siehe Abb. 14), und es verwundert nicht, dass es angesichts
dieser Fülle möglicher Einflussfaktoren auch eine Fülle von Erklärungsansätzen
über die möglichen Zusammenhänge zwischen diesen Variablen gibt.
Als Ausgangspunkt für die eigene Modellbildung dient den meisten Forscher-
gruppen der Black-Report, in dem vier Erklärungsansätze als möglich formuliert
worden waren. Diese erwiesen sich durch die empirische Forschung als unter-
schiedlich tragfähig. Ich fasse den aktuellen Stand der Diskussion ebenfalls unter
vier Oberpunkten zusammen, die ich «Perspektiven» nenne, um auszudrücken,
dass eine gute Theorie des Zusammenhangs zwischen den sozioökonomischen
Variablen und der gesundheitlichen Lage noch in der Zukunft liegt.

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228 11. Sozialepidemiologische Modelle

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id ueller Lebensstil
In d iv

Alter, Geschlecht,
Veranlagungen

Abbildung 14: Determinanten der Gesundheit und gesundheitlichen Ungleichheiten

11.2.2
Lebenslaufperspektive
Eine der im Black-Report vertretenen Erklärungen für den sozialen Gradienten
war, dass sich in den unteren sozialen Gruppen deshalb mehr kranke Personen
befinden, weil Krankheit zu sozialem Abstieg führt, dass Krankheit somit arm
macht. Andererseits hatten dieser Annahme zufolge Gesunde eher die Mög-
lichkeit des sozialen Aufstiegs. Diese sog. Drift-Hypothese bzw. These der sozial
bedingten Mobilität wurde häufig herangezogen, um den statistisch unstrittigen
schlechteren Gesundheitszustand von Arbeitslosen zu erklären.
Längsschnittuntersuchungen haben zu einer deutlichen Relativierung dieses
Ansatzes geführt. Zu den in dieser Beziehung wichtigsten Untersuchungen zählen
die Whitehall-Studien I und II, in denen eine Arbeitsgruppe um Sir Michael Mar-
mot über zehn Jahre knapp 10 000 britische Angestellte im öffentlichen Dienst
beobachtete und zeigen konnte, dass nicht der Gesundheitsstatus die berufliche
Situation beeinflusst, sondern dass umgekehrt die berufliche Position Einfluss
auf die gesundheitlichen Beschwerden hat. Marmot und Mitarbeiter wiesen
nach, dass junge Männer aus der niedrigsten Berufsgruppe im Vergleich zu ihren
Alterskollegen in den höchsten beruflichen Gruppierungen ein vierfach erhöhtes
Sterberisiko hatten (Marmot 2004; Marmot & Wilkinson 2006): Der soziale
Gradient zeigte sich nicht nur für die allgemeine Sterblichkeit, sondern auch für
die Haupttodesursachen wie Herzinfarkt und Schlaganfall sowie für chronisch
degenerative Krankheiten und für gesundheitsriskante Verhaltensweisen.

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11.2 Erklärungsmodelle 229

Die neuesten Längsschnittstudien beziehen den gesamten Lebenslauf ein. Den


Anfang dieser Forschungen machte eingangs der 1990er-Jahre der britische Epi-
demiologe Barker, der zeigte, dass Kinder, die bei ihrer Geburt untergewichtig
waren, als Erwachsene ein erhöhtes Risiko kardiologischer Erkrankungen haben
(Barker 1991, 1998). Inzwischen liegen zahlreiche Ergebnisse vor, die zeigen, dass
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der Zusammenhang zwischen sozialem und gesundheitlichem Status bereits im


Mutterleib besteht. Belastungen, die zu Beginn des Lebens auftreten, schlagen sich
noch Jahrzehnte später in Erkrankungen oder einem früheren Sterbealter nieder,
und bereits diese Belastungen sind sozial ungleich verteilt und betreffen Kinder
aus sozial benachteiligten Herkunftsfamilien häufiger. Soziale und biologische
Faktoren bedingen sich gegenseitig und sind zum Teil sogar über Generationen
hinweg wirksam.
Wenn man somit nach heutigem Erkenntnisstand davon ausgehen kann,
dass die Position auf der sozialen Leiter über den gesamten Lebenslauf hinweg
Gesundheit und Krankheit beeinflusst, so gilt es, dieses Faktum zu interpretie-
ren. Bisher gibt es zwei Erklärungsmodelle, die sich keineswegs ausschließen:
Das Modell kritischer Perioden – auch Modell sensitiver Perioden genannt –
geht davon aus, dass es im Verlauf der menschlichen Entwicklung Zeitfenster gibt,
in denen bestimmte Entwicklungsschritte durchlaufen werden müssen. Entwick-
lung bzw. Lernen außerhalb dieser Zeitfenster ist nicht möglich. Werden nun – z. B.
durch Unterernährung während der Schwangerschaft oder starken Alkoholkon-
sum der Mutter – Zeitfenster für die Ausbildung von Organen oder Strukturen ver-
passt, so ist eine biologische Programmierung vollzogen, die im gesamten späteren
Lebenslauf zu Problemen führen kann und unter Umständen nicht reversibel ist.
Das Kumulations-Modell basiert darauf, dass sich über die gesamte Lebens-
spanne hinweg Belastungen summieren und in dieser Summe gemeinsam den
gesundheitlichen Status bestimmen. Chronische Erkrankungen entwickeln sich
danach an Hand von Risikoketten, in denen Variablen aus allen Gesundheitsde-
terminanten – von den sozioökonomischen Bedingungen über die Wohn- und
Arbeitsbedingungen und die sozialen Einflüsse bis zu den Variablen des indivi-
duellen Lebensstils – (vgl. Abb. 14) ihren Beitrag leisten (Dragano & Siegrist 2009,
Power & Kuh 2008).

11.2.3
Verhaltensperspektive
Dieser Erklärungsansatz macht die Unterschiede im gesundheitlichen Status der
verschiedenen Bevölkerungsgruppen vor allem an Unterschieden in ihrem Ver-
halten fest. Man konzentrierte sich dabei zunächst auf zwei Verhaltensbereiche:
das direkte Gesundheitsverhalten und das Inanspruchnahmeverhalten.

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230 11. Sozialepidemiologische Modelle

Als Gesundheitsverhalten gelten all die Verhaltensweisen, die direkten Ein-


fluss auf die Gesundheit haben. Als «klassische Vier» haben sich hier Essen, Rau-
chen, Bewegung und Alkoholkonsum herausgestellt. In der Sozialepidemiologie
geht man davon aus, dass in den verschiedenen sozialen Schichten bestimmte
Verhaltensweisen besonders ausgeprägt sind und versucht, diese mit bestimmten
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Erkrankungen in Verbindung zu bringen und dadurch individuelle Risiken zu


identifizieren. Der Erklärungsansatz «Gesundheitsverhalten» ist somit dem Risi-
kofaktorenmodell verhaftet, das heißt der Annahme, dass es bestimmte Faktoren
gibt, die das Risiko für bestimmte Störungen erhöhen (vgl. Kap. 8.1.2). Über-
gewicht in der sozialen Unterschicht zum Beispiel wird aus dieser Perspektive
vorwiegend damit erklärt, dass sich Menschen unterer sozialer Schichten mehr
als andere von Fast Food ernähren, dass sie Informationsdefizite über Ernährung
und deren Auswirkung haben, dass sie traditioneller und noch zu sehr an den
Erfordernissen körperlicher Arbeit orientiert essen. Außerdem sei in der Unter-
schicht der Bewegungsmangel stärker ausgeprägt.
Inanspruchnahmeverhalten bezieht sich darauf, in welchem Ausmaß Men-
schen medizinische und andere gesundheitsbezogene Angebote in Anspruch
nehmen. Erklärungen für den schlechteren Gesundheitsstatus der Menschen am
unteren Ende der sozialen Leiter werden dann darin gesehen, dass sie weniger
häufig Vorsorgeuntersuchungen wahrnehmen, seltener zum Zahnarzt gehen,
ihre Kinder weniger impfen lassen usw. Dieser Erklärungsansatz spielt vor allem
in den Ländern eine Rolle, in denen das System der Krankenversorgung den
Menschen keinen gleichen Zugang ermöglicht.
Der Blickwinkel auf das Verhalten wird heute durch psychologische Kon-
zepte wie Kontrollüberzeugungen, Selbstkonzepte und das Bewältigungsver-
halten von Stress erweitert. Es liegen zahlreiche Untersuchungen vor, in denen
die Ausgangshypothese, dass Menschen unterer Schichten unfähiger sind, mit
diversen Belastungen umzugehen, dass sie sich wenig zutrauen und sich häufig
Situationen hilflos ausgeliefert fühlen, bestätigt wurde und in denen ein Zusam-
menhang zwischen diesen psychischen Merkmalen und einem höheren Ausmaß
von Morbidität und früher Sterblichkeit gefunden wurde (Kristenson 2008). Es
konnte darüber hinaus gezeigt werden, dass diese Benachteiligungen sich bereits
in früher Jugend ausbilden und dass die sozioökonomischen Bedingungen der
Kindheit sich auf die späteren Kontrollüberzeugungen und die Bereitschaft und
Fähigkeit, sich Herausforderungen zu stellen und Belastungen zu bewältigen,
auswirken (Bosma 2008).
Erklärt werden diese Befunde zum einen über das Konstrukt der Selbstwirk-
samkeit: Da bei Menschen aus unteren sozialen Schichten die Überzeugung,
Kontrolle über ihre Lebensbedingungen ausüben zu können, geringer ist, haben
sie dementsprechend auch weniger den Glauben an sich, dass sie mit dem Rau-

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11.2 Erklärungsmodelle 231

chen aufhören, ihr Engagement im Freizeitsport steigern oder den Alkohol-


konsum einschränken können. Außerdem ist fraglich, ob sie überhaupt an den
Zusammenhang zwischen diesen Verhaltensweisen und der Gesundheit glauben.
Es wird davon ausgegangen, dass Kontrollüberzeugungen sozioökonomische
Wurzeln haben, dass Kinder, die in sozial niedrigen Niveaus aufwachsen, von
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früh auf eine fatalistische Wahrnehmung von Ursache-Wirkungs-Beziehungen


haben und nicht lernen, sich selbst Ziele zu stecken. Dieses sozial gelernte Gefühl
der Machtlosigkeit wird dann noch verstärkt, wenn sie sich an ihren Arbeitsplät-
zen wiederum in Positionen befinden, die selbstentfremdet sind und in denen sie
nur geringe Kontrollmöglichkeiten haben.
Der zweite Verbindungsweg wird darin gesehen, dass Angehörige unterer
sozialer Schichten verstärkt Stress auslösenden Situationen ausgesetzt sind, dass
somit ihr neuroendrokrines und immunologisches System über die Maßen bean-
sprucht wird. Die unmittelbaren pathophysiologischen Effekte machen diese
Menschen dann empfänglich für Infektionen, Immunabwehrstörungen und
Stoffwechselstörungen.
Im Folgenden werden noch zwei Modelle vorgestellt, die besonders die Bedin-
gungen der Arbeitswelt berücksichtigen. Aufgrund dieser Fokussierung treffen
sie vermutlich eher auf Männer zu. Sie könnten damit auch einen Beitrag zur
Klärung der Frage leisten, warum der soziale Gradient bei Männern stärker
ausgeprägt ist und warum bei Männern ein engerer Zusammenhang zwischen
gesundheitlichem und beruflichem Status besteht; entsprechende Überlegungen
sind mir aus der Literatur aber nicht bekannt.
Das Modell der beruflichen Gratifikationskrisen (Siegrist & Theorell 2008)
basiert auf der Annahme einer Norm sozialer Reziprozität. Diese Norm des «Gibst
du mir, geb ich dir» halten die Autoren für ein grundlegendes, evolutionär stabiles
Prinzip des zwischenmenschlichen Austauschs und damit auch für eine grund-
legende Bedingung in der Arbeitswelt. Menschen arbeiten unter der Annahme,
dass die Leistung, die sie erbringen, vom Arbeitgeber angemessen honoriert wird.
Die als fairer Ausgleich für die geleistete Arbeit erwartete Gegenleistung betrifft
primär den Lohn, schließt aber auch Anerkennung und Wertschätzung sowie vor
allem Arbeitsplatzsicherheit ein. Gesundheitliche Schäden treten diesem Modell
zufolge ein, wenn die Reziprozität nicht gegeben ist. Dieses Ungleichgewicht
provoziert starke negative Emotionen und damit fortgesetzte Stressreaktionen
mit Aktivierungen des autonomen Nervensystems. Folgende drei Bedingungen
werden diesbezüglich für besonders gefährlich gehalten:
• Arbeitnehmer geraten aufgrund fehlender Arbeitsplatzalternativen in eine
zu große Abhängigkeit vom Arbeitgeber. Dies ist insbesondere bei älteren
Menschen der Fall, außerdem bei Un- und Angelernten und Menschen mit
Zeitverträgen.

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232 11. Sozialepidemiologische Modelle

• Menschen akzeptieren schlechte Arbeitsbedingungen in der Erwartung, dafür


später umso höher belohnt zu werden. Bleibt diese Belohnung aus, so kann es
zu einem späteren Zeitpunkt, an dem die Enttäuschung nicht mehr geleugnet
werden kann, zu schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen kommen.
• Aus innerem Antrieb heraus oder weil sie ein starkes Bedürfnis nach Anerken-
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nung und Wertschätzung haben, engagieren sich Arbeitnehmer viel stärker


als es notwendig wäre. Sie sind sich dessen nicht bewusst, dass sie selbst dazu
beitragen, ein nicht-reziprokes Tauschverhältnis zu begünstigen und fördern
somit selbst langfristig das Risiko, sich zu verausgaben und einen Zusammen-
bruch zu erleben.

Das Anforderungs-Kontroll-Modell (Karasek & Theorell 1990) postuliert, dass


Stress entsteht, wenn zwischen den an eine Person gestellten Anforderungen einer-
seits und dem Ausmaß, in dem sie Kontrolle über ihre Tätigkeit hat, keine Balance
besteht. Kann eine Person nur wenig oder gar nicht über die Gestaltung ihrer
Arbeit entscheiden und ihre Fertigkeiten selbstbestimmt einsetzen – sind somit
ihre Kontrollmöglichkeiten gering – so entsteht Stress. Dieser ist umso stärker,
je höher die Anforderungen sind. Als weniger gesundheitsschädlich werden die
Situationen angesehen, in denen geringe Anforderungen bei gleichzeitig geringen
Gestaltungsmöglichkeiten bestehen oder aber diejenigen, in denen jemand mit
hohen Anforderungen konfrontiert ist, gleichzeitig aber viele Kontrollchancen hat
und dadurch die Möglichkeit, sich als kompetent und selbstwirksam zu erfahren.
Als weitere wichtige Variable betrachtet das Anforderungs-Kontroll-Modell den
sozialen Rückhalt, den Menschen an ihrem Arbeitsplatz erfahren. Der berufs-
bedingte Stress ist am höchsten unter den Bedingungen hoher Anforderungen,
geringer Kontrollchancen und geringen sozialen Rückhalts.

11.2.4
Perspektive materielle Lebensbedingungen
Der Erklärungsansatz «materielle Lebensbedingungen» sieht die Ursache gesund-
heitlicher Ungleichheit direkt in den sozioökonomischen Lebensbedingungen der
Menschen. Feuchte Wohnung, schlechte Ernährung, ungünstiges Wohnumfeld,
Staub und Lärm bei der Arbeit – diese und andere Faktoren tragen ebenso fraglos
zu einem schlechteren Gesundheitsstatus bei, wie es gute materielle Lebensbe-
dingungen erleichtern, gesund zu bleiben. Bereits die Autoren des Black Reports
(Townsend & Davidson 1982, Townsend, Davidson & Whitehead 1990) attes-
tierten dem Erklärungsansatz der materiellen Lebensbedingungen die größte
Überzeugungskraft und hielten ihn dem des Gesundheitsverhaltens und dem des
gesundheitsbedingten sozialen Abstiegs für überlegen. Nachfolgestudien konnten

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11.2 Erklärungsmodelle 233

dies bestätigen: In Untersuchungen, in denen verhaltensmäßige – also individuelle –


und verhältnismäßige – also gesellschaftlich bedingte und strukturelle – Risikofak-
toren gleichzeitig kontrolliert wurden, zeigte sich, dass gesundheitsgefährdende
Lebensbedingungen wie nasse, laute Wohnung, schwere körperliche Arbeit oder
Exposition gegenüber Giften und Staub einen größeren Anteil der gesundheit-
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lichen Ungleichheit erklären als die verhaltensbedingten Risikofaktoren. In einer


neueren deutschen Studie wurde errechnet, dass der Anteil der strukturellen Fak-
toren für beide Geschlechter bei etwa zwei Drittel liegt (Giesecke & Müters 2009).
Auch für psychische Störungen konnte gezeigt werden, dass ein direkter
Einfluss des Lebensumfelds besteht. So zeigen Untersuchungen aus Schweden
und Holland, dass die jährliche Neuerkrankungsrate von Schizophrenie in städ-
tischen Umgebungen erheblich erhöht ist. Gleiches deutet sich für Depressionen
an (Sundquist, Frank & Sundquist 2004; Van Os 2004). Die Erklärungen für diese
epidemiologischen Zusammenhänge sind noch unklar, aber an der Tatsache,
dass ökologische und materielle Bedingungen der Lebensumwelt Einfluss auf die
Auftretenshäufigkeit psychischer Störungen haben, scheint kein Zweifel möglich.
Eine interessante Variante des Erklärungsansatzes der materiellen und struktu­
rellen Lebensbedingungen ist die Broken-Windows-Theorie. Diese Theorie geht
davon aus, dass Charakteristika der äußeren Wohnumgebung in engem Zusam­
menhang mit der gesundheitlichen Situation von Bewohnern stehen. Ursprünglich
entwickelt wurde sie zur Erklärung kriminellen Verhaltens: Zerbrochene Fenster­
scheiben, Müll auf der Straße und andere äußere Zeichen von Verwahrlosung zei­
gen, dass sich in diesem Wohnumfeld niemand kümmert, dass Abweichung nicht
geahndet wird, dass der soziale Zusammenhalt gering ist.

Cohen et al. (2000) untersuchten auf der Grundlage der Broken-Windows­


Theorie den Zusammenhang von sozialer Situation und dem Auftreten von
Gonorrhö. In 546 Wohnblocks in New Orleans mit insgesamt etwa 26 600
Ein­wohnerinnen und Einwohnern erstellten sie für jeden Wohnblock einen
Bro­ken-Windows-Index sowie einen Armutsindex: In den Broken-Windows-
Index gingen zerbrochene Fensterscheiben, Müll auf der Straße, Graffiti und
Schrott­autos ein, in den auf Daten des US-Zensus basierten Armutsindex
Einkommen, Arbeitslosigkeit und Ausbildungsstand. Abhängige Variable war
die Summe der jährlich gemeldeten Fälle von Gonorrhö pro 1 000 Personen
für jeden Wohn­block zwischen 1994 und 1996 (Gonorrhö ist in den USA mel-
depflichtig). Die Ergebnisse ergaben, dass der Broken-Windows-Index einen
größeren Teil der Varianz an Gonorrhöraten aufklärte als der Armutsindex.
Am höchsten war die Quote der Gonorrhöfälle da, wo sowohl Broken-Win-
dows-Index als auch Armutsindex hoch waren. Die Autoren interpretieren

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234 11. Sozialepidemiologische Modelle

ihre Ergebnisse so, dass die Variablen der Lebensumgebung eindeutig mehr
Einfluss auf die Verbreitung der Gonorrhö haben als individuelle Variablen der
Personen wie ethnische Zugehörigkeit, Armut und Arbeitslosigkeit.
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Zweifelsohne stellt auch die Organisation des staatlichen Wohlfahrtssystems


eine wichtige Variable der materiellen Lebensbedingungen von Menschen dar.
Nach Esping-Andersen 1990 werden drei Idealtypen von Wohlfahrtsstaatssyste-
men unterschieden: Das konservativ-korporatistische ist gekennzeichnet durch
eine starke Betonung der Rolle der Sozialpartner, des Subsidiaritätsprinzips und
folglich durch einen unterentwickelten öffentlichen Dienstleistungssektor. Zwi-
schen denen, die am Arbeitsmarkt beschäftigt sind und denen, die außerhalb des
Arbeitsmarkts stehen, existiert eine klare Trennung. Typisch für dieses Modell
sind Frankreich und Deutschland. Das zweite System ist gekennzeichnet durch
geringfügige öffentliche Hilfsmaßnahmen, durch einen sehr starken Druck zur
Aufnahme einer Beschäftigung und durch die Förderung privatwirtschaftlicher
Einrichtungen und Wohlfahrt. Dieses System stellen idealtypisch Großbritan-
nien und die USA dar. Der dritte Idealtypus, das sozial-demokratische System,
wird durch die skandinavischen Länder charakterisiert, es zeichnet sich aus durch
institutionalisierte Umverteilung und großzügig gewährte Unterstützungslei-
stungen in Situationen, in denen Teilhabe am Arbeitsmarkt nicht möglich ist.
Leider gibt es noch wenige Untersuchungen, die die Auswirkungen der wohl-
fahrtsstaatlichen Organisation auf Morbidität und Mortalität untersuchen. Ein
von der EU gefördertes Projekt verglich elf europäische Länder miteinander
(Mackenbach et al. 1997) und kam zu dem erstaunlichen Ergebnis, dass die
Ungleichheiten in den Erkrankungsraten nicht systematisch zwischen den Wohl-
fahrtsstaatssystemen variieren. Dies interpretieren die Autoren so, dass entweder
die Systeme in ihren Auswirkungen nicht so unterschiedlich sind, wie sie sich
im Modell darstellen oder aber alternativ, dass grundverschiedene Wohlfahrtssy-
steme nicht in entscheidendem Maße die gesundheitliche Situation beeinflussen,
sondern dass andere Faktoren wichtiger sind.

11.2.5
Perspektive Einkommensungleichheit
Während bei den bisher vorgestellten Perspektiven das Individuum im Zentrum
steht, zielt die Perspektive Einkommensungleichheit auf die gesamte Gesellschaft
ab. Besonders bekannt wurde hier der Ansatz des britischen Epidemiologen
Richard Wilkinson, der Einkommensungleichheit innerhalb einer Gesellschaft
als das wesentliche Kriterium zur Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit in

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11.2 Erklärungsmodelle 235

den entwickelten Ländern betrachtet. Wilkinsons Ansatz zeichnet sich dadurch


aus, dass er nicht primär die Unterschiede entlang der gesellschaftlichen Hierar-
chie ins Auge fasst. Ihm geht es um das gesamte Spektrum der gesellschaftlichen
Schichtung und er geht davon aus, dass der Gesundheitszustand und die durch-
schnittliche Mortalität in den modernen Industriegesellschaften entscheidend
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durch das Auseinanderklaffen zwischen den oberen und unteren Einkommens-


schichten geprägt werden: Je größer die Diskrepanz zwischen reichster und
ärmster Schicht, umso schlechter sei es um den allgemeinen Gesundheitsstatus in
der Gesellschaft bestellt. Nicht die reichsten Länder wiesen die höchste Lebenser-
wartung und die besten Daten für den Gesundheitszustand der Bevölkerung auf,
sondern diejenigen, in denen die Schere zwischen den oberen und den unteren
Einkommensklassen am engsten sei. Je größer hingegen die soziale Ungleichheit,
desto schlechter sei der Gesundheitszustand nicht nur der unteren Schichten,
sondern aller Personen.
In other words, at almost any level of income, it’s better to live in a more equal place.
(Wilkinson & Pickett 2009 S. 84)

Seine These belegt Wilkinson mit umfangreichem Datenmaterial aus der ganzen
Welt und einem Vergleich von 50 amerikanischen Bundesstaaten (Wilkinson
2001, Wilkinson & Pickett 2009). Er basiert seine Berechnungen auf Daten der
Weltbank aus den fünfzig reichsten Ländern der Erde. Arme Länder schließt
er aus, weil er in diesen die materiellen Lebensbedingungen für entscheidend
ansieht: sauberes Wasser, ausreichende Nahrung, menschenwürdige Wohnver-
hältnisse, Zugang zu primärer Gesundheitsversorgung, Schutz vor Seuchen usw.
Wilkinson misst das Ausmaß sozialer Ungleichheit über das Ausmaß der Ein-
kommensunterschiede und setzt dieses mit so unterschiedlichen Gesundheitma-
ßen wie Lebenserwartung, Kindersterblichkeit, Adipositas, psychischen Störungen
oder Teenagerschwangerschaften in Beziehung. Und er findet stets die gleiche
Relation: Die gesundheitlichen Werte sind umso besser, je geringer die Einkom-
mensunterschiede in dem betreffenden Land sind (Abb. 15 bis 17).
Eindrücklich zeigt er auch, dass die Unterschiede nicht davon abhängen, wie
viel in einem Land für die gesundheitliche Versorgung ausgegeben wird: Die
durchschnittliche Lebenserwartung steigt keineswegs linear mit den Ausgaben
für den Gesundheitssektor an. Sie ist umso höher, je mehr Einkommensgleich-
heit herrscht, nicht wie viel Geld für das Gesundheitswesen ausgegeben wird.
Nach Wilkinson beleuchten die anderen Erklärungsmodelle zum Teil, warum
es den Menschen der unteren Schichten gesundheitlich schlechter geht als denen
der oberen Gruppen, nicht aber, warum es allen Menschen in Gesellschaften mit
großen Einkommensunterschieden schlechter geht. Er interpretiert seine Daten
damit, dass egalitäre Gesellschaften über einen größeren sozialen Zusammenhalt

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236 11. Sozialepidemiologische Modelle

82
Japan
Lebenserwartung in Jahren
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Schweden
80

Spanien Kanada Israel


Schweiz Australien
Norwegen Frankreich
Belgien Italien
Österreich Neuseeland
Deutschland Niederlande Großbritannien
Griechenland Singapur
78 Finnland

USA
Irland
Dänemark
Portugal
76
niedrig Einkommensungleichheit hoch

Abbildung 15: Lebenserwartung und Einkommensungleichheit (nach Wilkinson & Pickett


2009, S. 82)

7 USA
Kindersterblichkeit auf 1 000 Lebendgeburten

6 Neuseeland Portugal
Irland

Großbritannien
Israel
Dänemark Kanada
Griechenland
5 Belgien
Schweiz Australien
Österreich
Italien
Niederlande
Deutschland Frankreich

4 Spanien
Norwegen
Finnland

Japan Schweden
3 Singapur

niedrig Einkommensungleichheit hoch

Abbildung 16: Kindersterblichkeit und Einkommensungleichheit (nach Wilkinson & Pickett


2009, S. 82)

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11.2 Erklärungsmodelle 237

USA
30
Griechenland

Großbritannien
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Prozentanteil Adipöse

20 Finnland
Deutschland
Irland Australien
Portugal
Neuseeland
Dänemark Österreich
Frankreich
Belgien
Kanada
Spanien
Norwegen Niederlande
10 Schweden Italien

Schweiz

Japan

0
niedrig Einkommensungleichheit hoch

Abbildung 17: Adipositas und Einkommensungleichheit (nach Wilkinson & Pickett 2009, S. 92)

verfügen, dass mehr soziale Netzwerke bestehen, weniger Neid und Abgrenzung.
Dieses positive soziale Klima vermittelt ein Gefühl von Sicherheit, schafft Ver-
trauen in die staatlichen Institutionen und lässt die Menschen mit Zuversicht in
die Zukunft blicken. Die Gründe für den besseren Gesundheitsstatus sind also
nicht vorwiegend ökonomischer, sondern sozialpsychologischer Natur. Ungleich-
heit löse Angst aus und führe zu subjektiv erlebtem sozialen Druck, der sich in
fortwährenden Stressreaktionen und damit biochemischen und immunologischen
Beeinträchtigungen niederschlage. Dies betreffe nicht nur die unteren Schichten,
sondern alle Mitglieder der Gesellschaft:
Ungleichheit bedeutet eine psychologische Last, die das Wohlbefinden der gesamten
Gesellschaft beeinträchtigt. (Wilkinson 2001, XXI)

Die Annahme, dass Ungleichheit Stress für alle Bevölkerungsschichten bedeutet,


unterscheidet die Wilkinson-Hypothese von anderen Ansätzen zur Erklärung
der vertikalen Ungleichheit und gibt seinem Ansatz eine politische Perspektive,
die geeignet ist, auch «die da oben» zu veranlassen, sich um bessere gesundheit-
liche Bedingungen für gesellschaftlich Benachteiligte zu bemühen, da ja auch sie
selbst von der dadurch enger werdenden Schere profitieren.
Andere Autoren leugnen den Zusammenhang zwischen Einkommensun-
gleichheit und gesundheitlichen Differenzen nicht, deuten ihn aber im Sinne der

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11.3 Soziale und gesundheitliche Ungleichheit 213

238 11. Sozialepidemiologische Modelle


Bedingungen für gesellschaftlich Benachteiligte zu bemühen, da ja auch sie selbst
von der dadurch
materiellen enger werdenden
Lebensbedingungen Schereetprofitieren.
(Lynch al. 2000). Ihrer Interpretation zu Folge
kommt es bei einem Auseinanderdriften von Arm und Reich auch dazu, dass
die
11.3Qualität der öffentlichen Infrastruktur – Schulen, Verkehr, Erholungsmög-
lichkeiten
Ein Modell – nachlässt und dass sich dadurch
des Zusammenhangs die Bedingungen
von sozialer und für die Armen
verschlechtern.
gesundheitlicher Ungleichheit
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Wie deutlich wurde, gibt es bisher keine plausible Theorie zur Erklärung der sozi-
11.3
alepidemiologisch
Ein festgestellten Zusammenhänge.
Modell des Zusammenhangs von sozialerDochund stehen die einzelnen Fak-
gesundheitlicher
toren auch
Ungleichheitnicht gänzlich zusammenhangslos nebeneinander. Das von Mielck (2000)
entworfene Erklärungsmodell (siehe Abb. 14) ist ein meines Erachtens gelungener
Wie deutlich
Versuch wurde, gibt
die Faktoren es bisher die
darzustellen, keine plausible
daran Theorie
teilhaben, dasszur Erklärung
soziale der sozi­
Ungleichheit zu
alepidemiologisch festgestellten Zusammenhänge. Doch stehen die einzelnen
gesundheitlicher Ungleichheit führt. Es ist kein Erklärungsmodell in dem Sinne, dass
Fak­toren auchdarüber
es Aufschluss nicht gänzlich zusammenhangslos
geben könnte, nebeneinander.
«wie» die einzelnen Faktoren derEssozialen
gibt diverse
Un-
Modelle, die die Zusammenhänge aufzeigen – in Deutschland wurde
gleichheit zu gesundheitlicher Ungleichheit führen. Aber es zeigt, dass die verhal-vor allem
das von Mielck
tensmäßigen (2000) entworfene
Risikofaktoren Erklärungsmodell
keineswegs unabhängig sind (siehe
vonAbb. ) bekannt.
den18Risiken und Res-
Doch gelingt es seinem Modell so wenig wie den anderen, Aufschluss
sourcen der Umgebung, der gesundheitlichen Versorgung, der Arbeitsbedingungen darüber
zu
– kurz: derwie
geben, die einzelnen
Verhältnisse. Und Faktoren der dass
es zeigt auch, sozialen Ungleichheit
gesundheitliche zu gesundheit-
Ungleichheit wie-
licher Ungleichheit führen. Was deutlich wird ist, dass die verhaltensmäßigen
derum auf soziale Ungleichheit zurückwirkt, dass Kranke somit in unserer Gesell-
Risikofaktoren keineswegs unabhängig sind von den Risiken und Ressourcen der
schaft geringere soziale Chancen, geringere Möglichkeiten zur Teilhabe haben.
Umgebung, der gesundheitlichen Versorgung, der Arbeitsbedingungen – kurz:

Soziale Ungleichheit
(Unterschiede in Wissen, Macht, Geld und Prestige)

Unterschiede in der Unterschiede in den Unterschiede in der


gesundheitlichen Belastung Bewältigungsressourcen, gesundheitlichen Versorgung
(z. B. physische und psychische Erholungsmöglichkeiten (z. B. Zahnersatz,
Belastung am Arbeitsplatz) (z. B. soziale Unterstützung, Arzt-Patient-Kommunikation)
Grünflächen in der
Wohnumgebung)

Unterschiede im Gesundheitsverhalten
(z.B. Ernährung, Rauchen, Gesundheits-/Krankheitsverhalten)

Gesundheitliche Ungleichheit
(Unterschiede in der Morbidität und Mortalität)
(modifiziert nach Mielck 2000, S. 173)
Abbildung 14: Gesundheitliche Ungleichheit.
Abbildung 18: Gesundheitliche Ungleichheit.

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11.3 Ein Modell des Zusammenhangs von sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit 239

der Verhältnisse. Und deutlich wird auch, dass gesundheitliche Ungleichheit wie-
derum auf soziale Ungleichheit zurückwirkt, dass Kranke somit in unserer Gesell-
schaft geringere soziale Chancen, geringere Möglichkeiten zur Teilhabe haben.
Diese Feedbackschleife von der gesundheitlichen auf die soziale Ungleichheit
wird in den meisten heutigen Erklärungsmodellen ausgeklammert. Dies geschieht
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vermutlich als Folge der Forschungsergebnisse, die der Drift-Hypothese nur


einen geringen Erklärungswert zuerkannten: Da sich der Einfluss der sozialen
Situation auf die gesundheitliche Situation als entscheidender herausstellte, geriet
der Einfluss der gesundheitlichen Situation auf die soziale aus dem Blickfeld der
Forschung. Doch wurde hier vermutlich voreilig gehandelt. Mit hoher Wahr-
scheinlichkeit treffen Krisen in der Wirtschaft und am Arbeitsmarkt diejenigen,
die gesundheitlich angeschlagen sind, härter als die Gesunden. Längsschnittstu-
dien könnten hier in einigen Jahren wieder zu anderen Ergebnissen und Inter-
pretationen führen.

Zur Einordnung und Bedeutung der sozialepidemiologischen Modelle

In einer neueren Publikation schlägt Mielck (2005) vor, sich weniger um die
Erklärung der status-spezifischen Unterschiede in Morbidität und Mortalität
zu bemühen und statt dessen pragmatisch danach zu fragen, ob und wie die
gesundheitliche Ungleichheit verringert werden soll. Mit dieser Argumentation
entspricht er dem aktuellen Trend im Bereich der Gesundheitsförderung. Sowohl
in der Wissenschaft als auch in der Politik besteht ein gewisser Konsens, dass
die gesundheitliche Ungleichheit verringert werden muss, und es werden Pro-
gramme und Maßnahmen entwickelt, mit denen eine Verbesserung der gesund-
heitlichen Situation der sozial Schwächeren erreicht werden soll. Zielgruppen
sind die Benachteiligten und es wird nach Modellen guter Praxis gesucht, mit
denen Übergewicht und Teenageschwangerschaften reduziert, Zahngesundheit
und Kondomgebrauch hingegen gefördert werden.
Obwohl ich wie Mielck bezweifle, dass (in absehbarer Zeit) ein Modell gefun-
den wird, das alle sozialepidemiologisch relevanten Faktoren berücksichtigt,
halte ich es für nicht richtig, die Theoriebildung aufzugeben. Im Gegenteil: Wir
brauchen nicht noch mehr Daten, die das immer gleiche Ergebnis bestätigen,
sondern wir müssen Theorien entwickeln, die diese Daten auf dem Hintergrund
der gesellschaftlichen Situation analysieren. Wie die Zahlen der Organisation für
wirtschaftliche Zusammenarbeit OECD zeigen, nimmt die soziale Ungleichheit
in fast allen Ländern zu, wobei das Tempo des Auseinanderdriftens zwischen
den sozial unteren und oberen Schichten in Deutschland besonders rasant ist
(www.oecd.org). Es ist somit zu erwarten, dass sich auch die gesundheitliche
Schere noch weiter verbreitern wird.

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240 11. Sozialepidemiologische Modelle

In dieser Situation sind Maßnahmen, die sich speziell an die unteren Schichten
richten, allenfalls ein Trostpflaster, das die Auswirkungen der ungleichen Res-
sourcenverteilung überdeckt. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass diese Maßnah-
men die Situation noch verschärfen, da sie diejenigen, die angesprochen werden
sollen, nicht erreichen. Vorsichtig formulieren Weyers und Richter:
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(Es) werden Maßnahmen konzipiert, die auf vulnerablen Gruppen fokussieren wie
z.  B. Arbeitslose, Migranten, Hauptschüler. Während der Wirksamkeitsnachweis die-
ser Maßnahmen oft ausbleibt, wurde in keinem uns bisher bekannten Fall geprüft, ob
sich nach einer Intervention der gesundheitliche Abstand zwischen der vulnerablen
Gruppe und einer besser gestellten Gruppe verkleinert hat. (2010, S. 386)

Deutlicher wird der finnische Gesundheitspolitiker Kari Välimäki:


Durch das Gesundheitswesen scheinen die Gesundheitsunterschiede zwischen den
Bevölkerungsgruppen eher größer als kleiner zu werden. Eine Reihe von Gesund-
heitsförderungsinitiativen funktionieren gut – außer dass sie sozial schwache Bevöl-
kerungsgruppen nicht erreicht haben. (2009)

Es gibt deutliche Hinweise, dass Projekte zur Gesundheitsförderung und die


öffentliche Propagierung des Themas eher diejenigen erreichen, die sensibel für
die Thematik sind. Auf diese Weise können dann gerade die Gruppen profitieren,
die sowieso schon begünstigt sind. Ein Mehr vom Gleichen, d. h. ein Mehr an
Gesundheitsförderungsprojekten, die sich an die unteren Bevölkerungsschichten
wenden, aber von den höheren in Anspruch genommen werden, produziert kon-
traproduktive Ergebnisse .
Notwendig sind Theorien, die die Lebenswelten der verschiedenen sozialen
Gruppen besser erfassen als es bisher der Fall ist. Auch wenn das große Ziel der
alles erklärenden Theorie nicht erreicht werden kann, gibt es doch einige Aspekte,
die in den bisherigen Erklärungsmodellen fehlen und deren Berücksichtigung
neue Erkenntnisse bringen könnte. Hier einige Anregungen:
Geprüft wurden bisher insbesondere die Auswirkungen der materiellen Situ-
ation, der Berufsarbeit, von belastenden Lebensereignissen, Arbeitslosigkeit, von
sozialer Unterstützung, von Kommunikationsfähigkeit und Coping-Möglich-
keiten – immer ausgehend von der Grundannahme, dass die Angehörigen der
unteren sozialen Schichten eine schlechtere materielle Situation haben, in ihrer
Berufsarbeit belasteter sind, eher arbeitslos werden, sich stärker als die Ange-
hörigen der Oberschicht mit belastenden Lebensereignissen auseinandersetzen
müssen, dass sie weniger soziale Unterstützung erhalten, ihre Kommunikations-
fähigkeit geringer ist und ihnen weniger Bewältigungsmöglichkeiten zur Verfü-
gung stehen.
Aber stimmt das so? Das Konzept des sozialen Kapitals, das sich bei fehlendem
ökonomischem Kapital nicht ausreichend bilden kann, wirkt überzeugend und

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11.3 Ein Modell des Zusammenhangs von sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit 241

wird durch empirisches Material gestützt. Und dennoch: Ist nicht vorstellbar,
dass sich der arbeitslos werdende Mechaniker mehr auf sein soziales Netz verlas-
sen kann als der geschasste junge Banker? Ist er nicht vielleicht genauso gut oder
sogar eher in der Lage, seine materielle Situation an die neue Lebenssituation
anzupassen? Laufen viele der gutgemeinten Gesundheitsförderungsprogramme
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ins Leere, weil die, die sie planen und durchführen, blind sind für die Ressourcen
derer, die sie fördern sollen? Welche Ressourcen bieten die sozialen Netzwerke
der unteren gesellschaftlichen Gruppen? Welche Dienstleistungen werden in
diesen Netzen im reziproken Austausch erbracht? Welche kommunikativen
Kompetenzen helfen im Umgang mit Behörden? Vielleicht käme man zu ande-
ren Lösungen, wenn man sich weniger auf die Defizite konzentrieren und den
vorhandenen Ressourcen mehr Beachtung schenken würde.
Meines Erachtens wird auch der Wert, den Gesundheit für die Menschen in
den unteren sozialen Gruppen hat und haben kann, zu wenig berücksichtigt.
Fünfzehn Kilo Übergewicht sind für die Vorstandssekretärin einer Großbank
ein schweres Problem; die in gleichem Ausmaß übergewichtige alleinerziehende
Frau, die mit ihren Kindern von Hartz IV lebt, hat andere Sorgen als ihr Gewicht.
Gesundheit, Schlanksein, Sportlichsein – das sind Werte, die für andere gelten
mögen – sie selbst ist froh, wenn sie ihren Alltag möglichst ohne Schmerzen und
gravierende Funktionseinschränkungen bewältigt.
Lohnend wäre auch, manche der Kriterien in Frage zu stellen, die in der
Forschung verwendet werden. So wird der Bewegungsmangel in der Regel über
sportliche Aktivitäten erfasst – läuft der golfende Manager wirklich mehr als
der Postbote? Und würden sich die Ergebnisse verändern, wenn statt nach den
Stunden, die man beim Joggen oder im Fitnessstudio verbringt, danach gefragt
würde, wie viel Zeit man im Schrebergarten arbeitet, ob man mit dem Fahrrad
zum Einkaufen fährt und wie viele Stufen zwischen Keller und Wohnung liegen?
Manche der Theorien scheinen mir sogar explizit nicht geeignet zu sein, die
Unterschiede zwischen den oberen und unteren Klassen zu erklären. Als Beispiel
das Modell beruflicher Gratifikationskrisen: Sind nicht gerade in der aktuellen
Situation am Arbeitsmarkt besonders Menschen der oberen Gruppen betroffen,
die sich verausgaben in der Annahme, sie könnten hierdurch einen beruflichen
Aufstieg schaffen? Also zum Beispiel Assistenzärztinnen und Juniorprofessoren,
Berufseinsteiger in Wirtschaftsprüfungsunternehmen und Werbeagenturen?
Der Kardinalfehler aller Programme jedoch, die sich anschicken, gesundheit-
liche Chancengleichheit dadurch herstellen zu wollen, dass sie sich an benachtei-
ligte Gruppen richten, besteht darin, dass sie zwar die soziale Hierarchie berück-
sichtigen, nicht aber die soziale Schere.
Nach meiner persönlichen Überzeugung erklärt das Modell von Wilkinson
die gesundheitlichen Unterschiede am besten. Denn es fokussiert nicht nur auf

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242 11. Sozialepidemiologische Modelle

die unteren sozialen Gruppen sondern auf die gesamte Gesellschaft, und diesbe-
züglich zeigt Wilkinson, dass wir alle im gleichen Boot sitzen. Wenn gesundheit-
liche Ungleichheit da am größten ist, wo die sozialen Unterschiede am größten
sind, hat dies auch entscheidende Auswirkungen auf die Planung gesundheits-
förderlicher Maßnahmen. Maßnahmen, die nur für «die da unten» sind, laufen
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Gefahr, den allgemeinen Gesundheitszustand zu verschlechtern. Sie folgen dem


zynischen Muster: Wir tun was für Eure Gesundheit, aber bitte rüttelt nicht an
der sozialen Leiter! Wenn alle Mitglieder der Gesellschaft profitieren wollen und
sollen, dann hingegen müssen Maßnahmen ergriffen werden, die alle sozialen
Gruppen betreffen und die soziale Schere verringern! Maßnahmen zur Reduzie-
rung gesundheitlicher Unterschiede bei Beibehaltung der sozialen Unterschiede
werden nicht zu einer relevanten gesundheitlichen Verbesserung der gesamten
Gesellschaft beitragen.

Weiterführende Literatur
Deppe, H.-U. & Regus, M. (Hrsg.) (1975). Seminar: Medizin, Gesellschaft, Geschichte. Beiträ-
ge zur Entwicklungsgeschichte der Medizinsoziologie. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
McKeown, T. (1979). Die Bedeutung der Medizin. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

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12
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Subjektive Theorien
von Gesundheit und Krankheit

Die übliche Tranquilizerparole lautete: Glauben Sie ja nicht, der Erste und Einzige
auf der Welt zu sein, der eine Krankheit hat; Millionen sind vor Ihnen gestorben und
werden nach Ihnen sterben. Das interessiert aber den Moribunden zuallerletzt, er
fühlt, dass das Leben immer in der Ichform gelingt oder scheitert. (Hermann Burger:
Die künstliche Mutter)

Theorienbildung stellt eine der Hauptaufgaben von Wissenschaft dar, aber die
Formulierung und Überprüfung von Theorien ist keineswegs eine exklusive
Aufgabe oder Beschäftigung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern.
Vielmehr bilden sich alle Menschen im Laufe ihres Lebens Theorien über sich
und die Welt – jeder Mensch ist in diesem Sinne wissenschaftlich tätig: Er
oder sie reflektiert über sich selbst und die Umwelt und bildet Annahmen und
Argumentationsstrukturen über Vorgänge, Zusammenhänge und eigenes und
fremdes Handeln und Erleben. Diese Theorien werden als «subjektive Theorien»,
«Alltagstheorien» oder «Laientheorien» bezeichnet.
Alltagstheorien wurden in der Wissenschaft lange sträflich behandelt, und
auch heute werden sie durchaus nicht überall ernst genommen. Dass dies auch –
oder vielleicht sogar besonders – für den Bereich von Gesundheit und Krankheit
gilt, wurde in den vorausgegangenen Kapiteln deutlich. Das biomedizinische
Krankheitsmodell basiert darauf, dass Experten und Expertinnen den aktuellen
Wissensstand kennen und damit wissen, was richtig ist. Auch Risikofaktoren-
und Diathese-Stress-Modelle so wie die wichtigsten psychosomatischen und
soziokulturellen Modelle betrachten Krankheit aus fachlicher Perspektive von
außen. Die eigentlich Betroffenen werden als Nicht-Fachleute, als Laien, igno-
riert. Das, was sie – «die Menschen da draußen» – über Gesundheit, Krankheit
und Behinderung denken, spielt in der Theoriebildung zumeist keine Rolle.

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244 12. Subjektive Theorien

12.1
Subjektive Theorien als Thema der Gesundheitswissenschaften
Etwa seit den 1970er-Jahren jedoch wurden subjektive Theorien auch als Thema für
die Gesundheitswissenschaften entdeckt. Dies nicht nur aus der grundsätzlichen
wissenschaftlichen Neugier heraus, der zufolge alles zu erforschen ist, was existiert,
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sondern auch, weil damit ein breites Spektrum von Zielen verfolgt werden kann:
Die Untersuchung subjektiver Theorien verspricht Einblick in das Gesund-
heitsund Krankheitsverhalten von Menschen. Geht man davon aus, dass
Menschen nicht «einfach drauf los» agieren, sondern dass sie aktiv handeln,
Absichten verfolgen und begründete Annahmen darüber haben, was zu tun sinn-
voll, zweckmäßig und zielführend ist, ist die Kenntnis dieser Annahmen, sprich:
dieser Theorien, notwendig, um die Motive und Handlungen von Personen zu
verstehen. Von der Untersuchung subjektiver Theorien von Gesundheit und
Krankheit ist somit zu erwarten, dass mehr Aufschluss darüber gewonnen wird,
warum Menschen sich richtig oder zu fett ernähren, unter welchen Bedingungen
sie sich mehr oder weniger bewegen, warum sie rauchen, obwohl sie Lungenkrebs
haben, oder auch nach dem zweiten Herzinfarkt nicht aufhören, pausenlos zu
arbeiten und sich für jeden Kleinkram verantwortlich zu fühlen. Dieses Wissen
befriedigt nicht nur wissenschaftlichen Forscherdrang, sondern ist direkt nutz-
bar für Gesundheitsförderung, Therapie und Rehabilitation.
Wenn auch das biomedizinische Modell auf dem Monopol des Experten-
wissens basiert, so existieren in der Realität der gesundheitlichen Versorgung
wissenschaftliche Theorien und Laientheorien nebeneinander. Klientinnen und
Klienten, Patientinnen und Patienten verhalten sich nicht unbedingt so, wie es
wissenschaftlich richtig ist. Die meisten akzeptieren die fachlichen Regeln und
Theorien nur insoweit, wie sie sie überzeugend finden – und das heißt meistens:
wie sie mit ihren eigenen Vorstellungen übereinstimmen. Die Kenntnis von Lai-
enkonzepten ermöglicht daher auch den Behandelnden, sich besser in die Vor-
stellungswelt der Patientinnen und Patienten einzufühlen und die subjektiven
Konzepte in der Planung von Maßnahmen berücksichtigen zu können.
Forscherinnen und Forscher erwarten darüber hinaus von der Kenntnis
subjektiver Theorien Impulse für ihre eigene wissenschaftliche Theoriebildung
(Heckhausen 1975; Groeben, Wahl, Schlee & Scheele 1988). Betrachtet man Laien
als die wahren Expertinnen und Experten ihres Lebens, so ist es nicht nur hoch-
mütig, sondern ignorant und dumm, gerade auf dieses Wissen bei der eigenen
wissenschaftlichen Theoriebildung zu verzichten.
Die am häufigsten verwendete Methode zur Erforschung der subjektiven
Theorien sind Interviewstudien, wobei verschiedene Formen des Interviews und
entsprechend verschiedene Auswertungsmethoden zur Anwendung kommen.
Im Gesundheitsbereich wurden auch Fragebogen zur Erfassung subjektiver

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12.2 Subjektive Theorien von Gesundheit 245

Theorien entwickelt. Diese haben in der Forschung den Vorteil, dass sie hypo-
thesengeleitet eingesetzt und ausgewertet werden können. Der Nachteil besteht
allerdings darin, dass nur solche Inhalte erfasst werden können, die von den
Forschern vorgegeben wurden. Damit sind Fragebogen gerade nicht in der Lage,
das hervorzulocken, was sie eigentlich zu erfassen beanspruchen: die dem Exper-
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tenwissen bisher verborgenen Inhalte des Laienwissens.


Neben Interview und Fragebogen gibt es auch stärker strukturierte Erhe-
bungsmethoden; hier ist vor allem die Struktur-Lege-Technik von Groeben &
Scheele (1977) zu erwähnen, die jedoch aufgrund ihrer sehr aufwändigen Metho-
dik, die hohe Anforderungen an Intellekt und Zeit der Befragten stellt, nur wenig
angewendet wird.

12.2
Subjektive Theorien von Gesundheit
Ein interessantes Ergebnis der bisherigen Forschung zu subjektiven Gesundheits-
theorien ist, dass in allen Untersuchungen eindeutig die Nennung von positiven
Gesundheitsdefinitionen überwiegt. Die meisten «Laien» definieren Gesundheit
somit nicht primär als Abwesenheit von Krankheit, sondern sie verbinden mit
dem Begriff eigene positive Inhalte und Vorstellungen. Das der medizinischen
Versorgung zu Grunde liegende dichotome Modell von Gesundheit oder Krank-
heit ist nicht das Modell, das die Mehrzahl der Menschen teilt und das ihrem
Erleben entspricht. In einer Untersuchung einer repräsentativen Stichprobe von
über 7 000 Personen in Großbritannien beispielsweise (Blaxter 1990) definierten
nur 13 % der Befragten die Gesundheit als Abwesenheit von Krankheit – die
anderen nannten positive Inhalte, die sie mit Gesundheit verbinden. Die Kate-
gorien, die als häufigste als Indikator und Bestandteil von Gesundheit genannt
werden, sind
• (psychisches) Wohlbefinden
• Leistungsfähigkeit
• körperliche Fitness.

In Bezug auf die relative Gewichtung dieser Variablen unterscheiden sich die
Menschen je nach Geschlecht, sozialer Schicht, Berufszugehörigkeit und Alter
deutlich: Frauen betonen vor allem die Bedeutung des Wohlbefindens, Männer
assoziieren Gesundheit vor allem mit Leistungsfähigkeit und damit, dass sie
ihren Körper nicht irgendwie negativ spüren. Menschen unterer Sozialschichten
sind Variablen des Funktionierens, der Leistungsfähigkeit besonders wichtig, alte
Menschen beurteilen ihren Gesundheitszustand vor allem daran, dass sie wenige

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246 12. Subjektive Theorien

Funktionseinschränkungen haben. Nicht geklärt ist bisher, inwieweit die eigenen


Vorstellungen von Gesundheit durch Erfahrungen mit Erkrankungen geprägt
sind; hier fehlen vor allem Studien, die sich mit dem persönlichen Stellenwert
von Gesundheit (vgl. Kap. 2) auseinandersetzen.
Ein Schwerpunkt bei der Erforschung subjektiver Gesundheitstheorien liegt
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darauf, mögliche Gruppen mit gemeinsamen Merkmalen herauszuarbeiten. Vor-


wiegend auf der Basis von Interviews entstanden diverse Typisierungen. Einige der
häufig wiederkehrenden subjektiven Gesundheitskonzepte sind in der folgenden
Tabelle 7 dargestellt.

Tabelle 7: Gesundheitskonzepte von Laien.

Gesundheit als Abwesenheit von «Wenn mir nichts weh tut»,


Krankheit: Man spürt den Körper nicht «Wenn ich alles essen kann»
und ist nicht eingeschränkt
oder behindert.
Gesundheit als funktionale Fitness: «Wenn ich meinen Haushalt tiptop halten
Man kann seine Aufgaben erfüllen, kann, Zeit und Spaß hab, mit den Kindern
den Alltag ohne Mühe bewältigen. zu spielen und auch noch mal mit
meinem Mann auszugehen.»
Gesundheit als Reservoir: Der «Wenn ich im Stress tausend Sachen
Körper wird als stark erlebt, man gleichzeitig tun muss und trotzdem
fühlt sich gewappnet gegenüber fit bleibe und auch noch ein bisschen
Krankheitserregern und schädlichen Sport machen kann.»
äußeren Einflüssen.
Gesundheit als Ergebnis von «Wenn ich ausreichend schlafe, wenig
Disziplin und Kontrolle: Man schreibt Alkohol trinke und aufpasse, dass ich
sich selbst ein hohes Maß an Einfluss mich mit netten Menschen umgebe.»
und Verantwortung zu.
Gesundheit als Gleichgewicht: Man «Wenn alles harmonisch läuft – in meiner
erlebt sich als mit sich und der Beziehung und überhaupt mit allem um
Umgebung in Übereinstimmung mich herum, wenn ich mich irgendwie so
und ausgewogen. richtig ausgeglichen fühle.»
Gesundheit als «Loslassen» und «Wenn ich’s mir gut gehen lasse – nicht
Entspannung: Man gönnt sich etwas, so streng mit mir bin, sondern genieße,
tut sich Gutes. auch mal ’n Gläschen trinke; immer
locker!»
Gesundheit als angeborene Konstante. «Bei uns sind alle alt geworden –
Gesundheit liegt bei uns einfach in der
Familie.»
Gesundheit als Schicksal: Eigene «Ob ich mir nun die Zähne putze oder
Einflussmöglichkeiten auf die nicht – ich hatte schon immer schlechte
Gesundheit werden gering geschätzt. Zähne, schon als Kind.»

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12.3 Subjektive Krankheitstheorien 247

Der Verdienst solcher Einteilungen liegt darin, dass sie das Spektrum aufzeigen,
das Menschen mit dem Begriff «Gesundheit» verbinden. Sie können damit ein
wichtiger Schritt auf dem Weg sein, Gesundheitstheorien in ihrer Abhängigkeit
von Personengruppen, Lebenssituationen und Lebensphasen zu erforschen. Eine
bessere Kenntnis der subjektiven Gesundheitstheorien kann nicht nur zu einer
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Weiterentwicklung auch der wissenschaftlichen Theorienbildung beitragen,


sondern vor allem dazu, die Kommunikation zwischen den Professionellen im
Gesundheitssystem und denen, die als Kunden, Klientinnen oder Patienten die-
ses System nutzen, zu erleichtern und zu verbessern (Faltermaier 2011).

Welches in der Tabelle vorgestellte Konzept entspricht Ihrer eigenen subjek-


tiven Theorie von Gesundheit am meisten?
Können Sie Ihre eigenen Vorstellungen in mehreren Konzepten wiederfin-
den?

12.3
Subjektive Krankheitstheorien
Die Untersuchung subjektiver Krankheitstheorien konzentriert sich auf zwei
Schwerpunkte: Zum einen auf die Erforschung der Konzepte, die Menschen
generell von Krankheit haben, und zweitens auf die Erforschung der Konzepte
von Patientinnen und Patienten einer bestimmten Erkrankungsgruppe über
diese Krankheit.
Bisher hat sich die Forschung sehr viel mehr mit der zweiten Thematik beschäf-
tigt, wobei insbesondere Menschen mit Krebserkrankungen, Herz-Kreislauf-
Erkrankungen, Aids und psychischen Erkrankungen im Zentrum des Interesses
stehen. Im Bezug auf die subjektiven Theorien werden dabei vor allem die fol-
genden Aspekte untersucht:
• Wie wird die Krankheit erkannt? Wie wird sie wahrgenommen?
• Welche Annahmen bestehen über die Ursachen der Erkrankung?
• Welche Erwartungen bestehen über den zeitlichen Verlauf und die Dauer der
Erkrankung?
• Welche Erwartungen bestehen über die unmittelbaren und langfristigen Fol-
gen der Erkrankung?
• Welche Annahmen bestehen über Möglichkeiten von Krankheitsüberwin-
dung und Heilung?

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248 12. Subjektive Theorien

Bei der Wahrnehmung von Erkrankungen scheint es einige Symptome zu geben,


die eindeutig als Krankheitszeichen interpretiert werden: Fieber zum Beispiel,
starke anhaltende Schmerzen oder extreme Müdigkeit, für die es keine vernünf-
tige Erklärung gibt. Treten diese auf, so bezeichnen Menschen sich als krank.
Bei weniger eindeutigen Symptomen besteht eine doppelte Unsicherheit: Ist das,
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was ich wahrnehme, tatsächlich eine Abweichung vom gesunden Zustand? Und
wenn ja, wofür steht dann das Symptom? Hängen die ständigen Kopfschmerzen
damit zusammen, dass ich zu viele Stunden vor dem Computer verbracht habe
oder sind sie Symptome eines Hirntumors? Ist meine Vergesslichkeit normal für
mein Alter oder Zeichen einer beginnenden Alzheimererkrankung? Zumeist wer-
den zunächst Personen der näheren Umgebung um eine Bestätigung der eigenen
Wahrnehmung gefragt – «Meinst Du, das könnte etwas Krankes sein?» – und bei
weiter bestehender Unsicherheit wird dann die ärztliche, «fachliche» Diagnose
eingeholt. Die Zeitspanne, in der sich dieser Vorgang abspielt, ist sehr unterschied-
lich: Während die einen aus Angst vor Bestätigung ihrer düstersten Prognosen
eine Abklärung möglichst lange hinaus zögern, halten andere die Unsicherheit
nicht aus und wollen schnell die fachliche Diagnose. In jedem Fall aber scheinen
Menschen sich den bisherigen Untersuchungen zufolge hinsichtlich ihrer Eigen-
Definition als «krank» weniger auf sich selbst verlassen, als wenn es darum geht,
ob sie gesund sind.
Die bisher wichtigste Erkenntnis aus der Erforschung subjektiver Krankheits-
theorien ist aus meiner Sicht, dass Laien den psychosozialen Bedingungen und
Umweltfaktoren eine größere Bedeutung im Krankheitsgeschehen beimessen,
als dies in den meisten wissenschaftlichen Theorien der Fall ist. Besonders
Frauen betrachten psychische und soziale Faktoren als wesentlich sowohl bei
der Annahme über die Verursachung von Krankheit als auch hinsichtlich der
Chancen für ihre Überwindung (Faltermeier & Brütt 2009, Franke 1984, 1987).
Das weitere Forschungsergebnis, dass die subjektiven Theorien über Krank-
heit sehr heterogen sind und deutlich durch das Alter, das Geschlecht, die soziale
Schicht der Betroffenen und ihr Bildungsniveau determiniert sind, finde ich
wenig überraschend.
Erstaunlicherweise gibt es bisher nur wenige Erkenntnisse darüber, wie
Krankheit subjektiv definiert wird. Auf der körperlichen Ebene wird Krank-
heit vor allem als Störung der normalen Körperfunktionen begriffen und mit
Schmerzen assoziiert. Auf der sozialen Ebene sind mit Krankheit – vor allem
bei Frauen – Befürchtungen verbunden, in soziale Abhängigkeit zu geraten oder
– vor allem bei Männern – durch Krankheit einen sozialen Abstieg und soziale
Ausgrenzung zu erleiden. Auf der psychischen Ebene sind mit Krankheit vor
allem die Wahrnehmung eigener Schwäche und Einschränkungen der eigenen
Handlungsmöglichkeiten verbunden. Aber auch positive Aspekte von Krankheit

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12.3 Subjektive Krankheitstheorien 249

werden geäußert: So ist Krankheit ein deutliches Warnsignal, kann auf Überfor-
derung des Organismus hinweisen und ein Denkanstoß zu Veränderungen im
Leben sein.
Ein vermutlich wichtiger – aber ebenfalls noch kaum untersuchter – Aspekt
der subjektiven Theorien von Krankheit sind auch religiöse, spirituelle oder
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transzendente Deutungen. Klassische abendländische Deutungen sind hier die


von Krankheit als Strafe für eigenes Vergehen oder das einer Gruppe, der ich
angehöre – der Familie, der Nation, der Glaubensgemeinschaft. Aber religiöse
Bedeutung von Krankheit kennt auch die Krankheit als göttliche Erziehungsme-
thode, als Bewährungsprobe für die Kranken selbst oder für ihre Mitmenschen.
Diese christlich-abendländischen Deutungsmuster finden heute in einer säku-
larisierten Form auch im Rahmen der Esoterik ihren Niederschlag. Menschen
versuchen, ihrer Krankheit einen Sinn zu geben: «Warum gerade ich?»
Bei Menschen, die von einer chronischen Krankheit betroffen sind, kann die
Suche nach einem Grund auch ein Mittel der Krankheitsbewältigung sein. Es gibt
zahlreiche Untersuchungen die zeigen, dass insbesondere an Krebs Erkrankte
nach einer Phase der Adaptation an die neue Situation ihre Krankheit als einen
Wendepunkt in ihrem Leben begreifen, der sie zu einer intensiven Reflektion
ihrer persönlichen Werte und Ziele herausforderte und ihnen die Kraft gab, sich
auf das wirklich Wichtige zu konzentrieren. Die stärkere Orientierung an den
persönlichen Werten führt zu besserem Wohlbefinden, mehr Lebenszufrieden-
heit und größerem Selbstbewusstsein (Chen, Kasen & Cohen 2009).

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12. Subjektive Theorien


251

13
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Modelle des Gesundheits-


und Krankheitsverhaltens

Bitte überlegen Sie Antworten auf die folgenden Fragen:


• Welche homosexuellen Männer praktizieren risikoreiche sexuelle Aktivi-
täten trotz der Gefahren einer AIDS-Erkrankung?
• Warum führt bei vielen Frauen die Brigitte-Diät zu größeren Erfolgen
bei der Gewichtsreduktion als die Ratschläge und die Diät-Empfehlungen
des Hausarztes?
• Wie lassen sich angesichts der hohen Preise für Zigaretten die hohen Rau-
cherquoten gerade in den unteren sozialen Gruppen erklären?
• Warum verhalten sich Unfallopfer häufig aggressiv?
• Wie ist zu erklären, dass manche Menschen sehr viel Zeit bei Ärzten ver-
bringen und sich dann doch nicht an das halten, was ihnen als Therapie
aufgetragen wird?

Zur Klärung von Fragen wie den oben stehenden wurden zahlreiche Modelle ent-
wickelt, wobei der Schwerpunkt der Theoriebildung eindeutig bei den Modellen
des Gesundheitsverhaltens liegt. Übergeordnetes Ziel der Forschung ist, Zusam-
menhänge zwischen gesundheitsförderlichem Verhalten und seinen Determi-
nanten zu beschreiben – oder besser noch: zu erklären, um dieses Wissen für die
Gesundheitsförderung zu nutzen. Das Verhalten von kranken Menschen wurde
demgegenüber erstaunlicherweise nur wenig untersucht – obwohl Einigkeit
darüber besteht, dass die Kenntnis der Reaktionen kranker Menschen notwen-
dige Faktoren für Therapie und Rehabilitation sind.

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252 13. Modelle des Gesundheits- und Krankheitsverhaltens

13.1
Modelle des Gesundheitsverhaltens
Im Folgenden werden zunächst zwei Modelle vorgestellt, die der Gruppe der
kognitiven Modelle zugerechnet werden – das Modell gesundheitlicher Über-
zeugungen und die Theorie des geplanten Verhaltens. Diese in der Psychologie
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entwickelten Modelle basieren auf der Annahme, dass Verhalten erheblich


durch Gedanken und rationale Überlegungen gesteuert wird und haben den
Anspruch, die Bedingungen erklären und prognostizieren zu können, unter
denen bestimmte Verhaltensweisen mehr oder weniger wahrscheinlich auftreten.
Das anschließend vorgestellte Stadienmodell erhebt nicht den Anspruch, die
Bedingungen zu erklären, unter denen das Verhalten auftritt, sondern will den
Verlauf der Veränderung von einem eher gesundheitsschädlichen hin zu einem
gesundheitsförderlichen Verhalten beschreiben.

13.1.1
Kognitive Modelle
Das Modell gesundheitlicher Überzeugungen (Health Belief Model, Abb. 19)
wurde von Rosenstock (1966) entworfen und später von Becker weiterentwickelt
(Becker 1974, Janz & Becker 1984). Das ursprüngliche Ziel war herauszufinden,
wie Menschen bewegt werden können, an Vorsorgeuntersuchungen teilzuneh-
men und ärztliche Maßnahmen zu befolgen. Dabei gingen die Autoren von der
Überzeugung aus, dass Menschen rational denken und handeln und dass sie den
Wunsch haben, Krankheiten zu vermeiden bzw. wieder gesund zu werden. Zeige
man ihnen auf, inwieweit ihr aktuelles Verhalten negative Konsequenzen habe
und ein alternatives Verhalten positive, so könne dies zu einer Verhaltensände-
rung führen.
Den Kern des Modells bilden Kosten-Nutzen-Überlegungen: Eine Verhaltens-
änderung wird demnach nur stattfinden, wenn der zu erwartende gesundheit-
liche Nutzen die Anstrengungen und Unannehmlichkeiten, die die Veränderung
mit sich bringt, übersteigt. Als entscheidende Kosten-Nutzen-Faktoren betrach-
tet das Modell dabei auf der einen Seite die wahrgenommene Gesundheitsbe-
drohung, auf der anderen Seite die erwartete gesundheitliche Verbesserung. Je
höher der Grad der wahrgenommenen Gesundheitsbedrohung auf der einen und
das Maß des erwarteten Nutzens der Verhaltensänderung auf der anderen Seite
erscheinen, umso wahrscheinlicher ist, dass eine Person sich künftig gesund-
heitsförderlicher verhalten wird.
Die wahrgenommene Gesundheitsbedrohung wird dem Modell zufolge durch
zwei Aspekte bestimmt: Dadurch, wie anfällig sich jemand für eine bestimmte
Erkrankung fühlt und dadurch, für wie ernsthaft die Person diese Erkrankung

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13.1 Modelle des Gesundheitsverhaltens 253

Demografische Variablen
(Alter, Geschlecht, etc.)

Sozio-psychologische Variablen
(Persönlichkeitsmerkmale, soz. Schicht etc.
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Wahrgenommene Wahrgenommener
Anfälligkeit für eine Nutzen einer
Erkrankung Handlung
Wahrgenommene Wahrgenommene
Ernsthaftigkeit der Barrieren
Erkrankung

Wahrgenommene Erwarteter
Gesundheitsbedrohung Nutzen

Handlungsanstöße
(extern oder intern)

Gesundheitsverhalten

Abbildung 19: Modell gesundheitlicher Überzeugungen.

ansieht: Eine Frau, deren Großmutter, Mutter und ältere Schwester an Brustkrebs
erkrankt sind, wird ihre eigene Anfälligkeit für eine Brustkrebserkrankung aufgrund
der genetischen Belastung als sehr hoch einschätzen. Gleichzeitig hat sie durch den
Verlauf der Erkrankung bei ihren Verwandten erlebt, wie schwer diese Erkrankung
verläuft und mit welchen Schmerzen und Komplikationen sie verbunden sein kann.
Diese Frau wird sich durch ein Mammakarzinom potenziell sehr bedroht fühlen,
wohingegen ihre Freundin, in deren Familie kein Familienmitglied diese Erkran-
kung hatte und die auch sonst keine Erfahrungen mit der Erkrankung machen
konnte, ihre eigene Gesundheitsbedrohung eher als niedrig einschätzen wird.
Der erwartete Nutzen ist davon abhängig, wie hoch der mögliche Nutzen einer
Handlung bewertet wird sowie dadurch, welche Komplikationen bzw. Barrieren
dem entgegenstehen. Hat die Frau mit dem hohen Brustkrebsrisiko wahrgenom-
men, dass ihre Mutter regelmäßig zu den Vorsorgeuntersuchungen gegangen ist,
die Knoten in der Brust aber dennoch nicht rechtzeitig entdeckt wurden, so ist

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254 13. Modelle des Gesundheits- und Krankheitsverhaltens

die Wahrscheinlichkeit, dass sie an Vorsorgeuntersuchungen teilnehmen wird,


trotz der als massiv erlebten Gesundheitsbedrohung sehr gering. Und die Wahr-
scheinlichkeit sinkt zusätzlich, wenn die entsprechende Untersuchung für sie
mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden wäre: Sie etwa in ein weit entlegenes
Brust-Zentrum fahren, hierfür von der Arbeit fern bleiben, eine Betreuung für
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die Kinder organisieren müsste usw.


Nach den Annahmen des Modells beeinflussen soziodemografische und sozial-
psychologische Variablen, wie jemand das Ausmaß der Bedrohung einerseits und
des erwarteten Nutzens andererseits bewertet: Die Bereitschaft, sich um die eigene
Gesundheit zu kümmern, ist in der sozialen Oberschicht höher als in unteren sozi-
alen Schichten, bei Frauen höher als bei Männern, bei alten Menschen ausgeprägter
als bei jungen. Außerdem räumt das Modell «Handlungsanstößen» große Bedeu-
tung bei. Hierunter werden Ereignisse verstanden, die eine Person darauf aufmerk-
sam machen, dass auch sie gesundheitlich bedroht sein könnte. Menschen neigen
im Allgemeinen dazu, die eigene gesundheitliche Bedrohung zu unterschätzen.
Liest eine Frau jedoch, die ihr Krebsrisiko bisher als sehr gering einschätzte, in der
Zeitung von einer neuen Untersuchung, der zufolge sich die Zahl der an Brustkrebs
erkrankten Frauen in ihrer Altersgruppe und hier insbesondere bei denen erhöht
hat, die wie sie regelmäßig ein bestimmtes Hormonpräparat nehmen, so kann dies
ein Handlungsanstoß für eine Reflexion der eigenen Gesundheitsbedrohung sein.
Die Theorie des geplanten Verhaltens (Theory of Planned Behaviour, Abb.
20) wurde 1991 von Ajzen auf Basis einer früheren «Theorie des rationalen Han-
delns» (Ajzen & Fishbein 1980) formuliert. Den Dreh- und Angelpunkt dieser
Theorien stellt die Verhaltensintention dar, also die Absicht, ein bestimmtes Ver-
halten auszuführen. Je stärker die Intention, für umso wahrscheinlicher gilt, dass
eine Person sich auch entsprechend verhält.
Das Ausmaß der Verhaltensintention ist durch drei Faktoren beeinflusst: die
Einstellung der Person gegenüber diesem Verhalten, die mit dem Verhalten ver-
bundene subjektive Bewertung der sozialen Norm und die wahrgenommene Ver-
haltenskontrolle.
Die Einstellung wiederum wird davon bestimmt, welche Annahmen man darü-
ber hat, was das Verhalten bewirken wird und davon, wie man diese möglichen
Ergebnisse bewertet. Je mehr somit eine Person glaubt, dass ein bestimmtes Ver-
halten zu einem günstigen Ergebnis führt und je positiver sie das Ergebnis für
sich bewertet, umso positiver wird die Einstellung gegenüber diesem Verhalten
sein. Ein sportlicher Mann somit wird umso eher mit dem Rauchen aufhören, je
mehr er überzeugt ist, dass er dadurch seine Leistungen beim nächsten Marathon
gegenüber seinen Vereinskameraden verbessern kann.
Unter der subjektiven Norm versteht Ajzen die Interpretation, die eine Person
von den Erwartungen anderer (wichtiger) Personen hat: Die subjektive Norm

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13.1 Modelle des Gesundheitsverhaltens 255

Ergebnisüberzeugung
Einstellung
gegenüber
dem
Verhalten
Ergebnisbewertung
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Normative
Überzeugungen
Subjektive Verhaltens-
intension Verhalten
Norm
Motivation den
Normativen
Erwartungen zu
entsprechen

Control beliefs

Wahrgenommene
Kontrolle
Perceived Power

Abbildung 20: Theorie des rationalen Handelns und Theorie des geplanten Verhaltens.

wird sich umso stärker auf die Verhaltensintention auswirken, je mehr die Person
denkt, dass andere ein bestimmtes Verhalten von ihr erwarten und je mehr sie
bereit ist, diesen Erwartungen zu entsprechen. Glaubt sie, dass es den anderen
egal ist, wie sie sich verhält, und/oder ist ihr egal, ob sie den vermeintlichen
Erwartungen entspricht oder nicht, so wird dies die Intention, das Verhalten zu
realisieren, nicht stärken. Unser Marathonläufer wird somit umso schneller mit
dem Rauchen aufhören, je wichtiger ihm die Beurteilung seiner Kollegen und die
der am Ziel wartenden ebenfalls sportlichen Freundin sind.
Die wahrgenommene Verhaltenskontrolle steht für die Überzeugung einer
Person, dass sie Kontrolle über das fragliche Verhalten hat. Je höher das Ausmaß
dieser Überzeugung, umso mehr wird es sich auf die Intention auswirken und
damit ein bestimmtes Verhalten begünstigen. Das Ausmaß der wahrgenom-
menen Verhaltenskontrolle hängt nach Ajzen von zwei Faktoren ab: «control
beliefs» und «perceived power». Diese beiden Begriffe sind terminologisch
unscharf und weichen von der üblichen Sprachregelung ab: Unter «control
beliefs» wird verstanden, welche Ressourcen und Barrieren eine Person für sich
sieht, um Kontrolle ausüben zu können, und «perceived power» kennzeichnet,
für wie potent sie diese Kontrollmöglichkeiten einschätzt.

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256 13. Modelle des Gesundheits- und Krankheitsverhaltens

13.1.2
Stadienmodelle
Stadienmodelle wollen den Prozess der Veränderung beschreiben. Sie haben
nicht den Anspruch zu erklären, warum und unter welchen Bedingungen Ver-
halten entsteht und sich verändert. Dabei gehen Stadienmodelle davon aus, dass
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Verhaltensänderung nicht ein Ereignis darstellt, sondern dass sie sich in einem
Prozess vollzieht – der unter Umständen lange dauern und in dem es auch zu
Stagnation und Rückfällen kommen kann. Begründer der Stadienmodelle waren
Prochaska und DiClemente (1983), deren ursprüngliches Projekt darin bestan-
den hatte, eine vergleichende Analyse der Wirkvariablen in den verschiedenen
psychotherapeutischen Konzepten durchzuführen. Dabei kamen sie zu dem
Schluss, dass die Mehrzahl der Psychotherapieschulen einen wesentlichen Faktor
des Veränderungsprozesses schlicht übersah: die Zeit. Sie entwickelten daraufhin
ihr Transtheoretisches Modell der Phasen der Verhaltensänderung (Tab. 8), in
dem fünf (später sechs) Phasen des Veränderungsprozesses unterschieden wer-
den. Jede dieser Phasen gilt als von den anderen Phasen qualitativ abgrenzbar,
was bedeutet, dass sich die Menschen in dieser Phase in Motivation, Kognitionen
und Verhalten ähnlich sind und sich diesbezüglich von den Personen in allen
anderen Stadien des Prozesses unterscheiden. Das Modell heißt transtheoretisch,
weil es Komponenten verschiedenster Modelle einbezieht. Kernstück sind jedoch
die sechs Phasen. Gemäß dem Modell muss man diese durchlaufen, um erfolg-
reich eine Änderung des Verhaltens durchzuführen.
Die Phasen laufen nicht nach einem immer gleichen Schema ab, sondern die
Autoren nennen eine Vielzahl von Variablen, die Einfluss auf den Veränderungs-
prozess haben: Hierzu gehören Selbstwirksamkeitserwartungen, Entscheidungs-
balance, Bewusstseinserweiterung, Neubewertung der eigenen Person und der
Umwelt, hilfreiche Beziehungen, aber auch die Versuchung durch das alte Ver-
halten oder durch alte Anreize wie Schokolade, Zigaretten, Drogen (Prochaska,
Redding & Evers 2002). Diese Prozessvariablen wirken sich je nach der Phase,
in der sich eine Person befindet, unterschiedlich aus. So steigt zum Beispiel die
Selbstwirksamkeitserwartung kontinuierlich an, während die Versuchung durch
Faktoren, die dem Zielverhalten konträr sind, nach und nach sinkt: Je länger
eine Person nicht mehr raucht, um so mehr ist sie davon überzeugt, dass sie für
den Rest ihres Lebens auf Tabak verzichten können wird, und in immer weniger
Situationen wird sie den Wunsch verspüren, doch eine Zigarette zu schnorren.

Zur Einordnung und Bedeutung der Modelle des Gesundheitsverhaltens

Die kognitiven Modelle haben in der Gesundheitsförderung große Popularität


erreicht, und sie wurden und werden zur Erklärung und Veränderung zahl-

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13.1 Modelle des Gesundheitsverhaltens 257

Tabelle 8: Transtheoretisches Phasenmodell nach Prochaska und DiClemente

Phase Prozess
Absichtslosigkeit Die Person hat kein Problembewusstsein, keine Absicht
(precontemplation) zur Veränderung. Für problembezogene Informationen ist
sie wenig empfänglich.
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Absichtsbildung Die Person wägt Vor- und Nachteile einer


(contemplation) Verhaltensänderung ab und hält diese innerhalb der
nächsten sechs Monate für möglich. Eine klare Absicht
liegt noch nicht vor.
Vorbereitung Die Person festigt ihre Absicht, ihr Verhalten zu
(preparation) ändern und macht Pläne, wie sie es tun will. Eventuell
unternimmt sie auch schon einige Versuche in die
Richtung.
Handlung Die Person verhält sich so, wie sie es sich vorgenommen
(action) hat.
Nach dem Modell umfasst diese Phase die ersten sechs
Monate, in denen das Zielverhalten ausgeführt wird.
Aufrechterhaltung Die Person führt das neue Verhalten länger als
(maintenance) sechs Monate regelmäßig durch, das neue Verhalten
braucht weniger Anstrengung als zu Beginn. Die
Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls ist gering.
Stabilisierung Das Zielverhalten ist stabil und zur Gewohnheit
(termination) geworden, es erfordert keine Anstrengung. Ein Rückfall in
das frühere Risikoverhalten ist unwahrscheinlich.
Diese Phase umfasst fünf Jahre mit dem «neuen»
Verhalten.

reicher Verhaltensweisen wie Essen, Bewegung, Alkohol- und Tabakkonsum,


Krebsvorsorge, HIV-Prävention, Sonnenschutzverhalten, Grippeimpfung und
viele weitere herangezogen. Der empirischen Überprüfung hält die Begeisterung
allerdings nicht Stand. Die zentrale Annahme des Modells der gesundheitlichen
Überzeugungen zum Beispiel, dass die wahrgenommene Gesundheitsbedrohung
und der durch eine Verhaltensänderung zu erwartende Nutzen reichen, um
gesundheitsförderliches Verhalten zu realisieren, konnte nicht bestätigt werden.
Und auch die Berücksichtigung der Intention reicht offenbar nicht aus: Metaana-
lysen zur Theorie des geplanten Verhaltens zeigen, dass dieses gut geeignet ist, die
Intention vorherzusagen – leider nicht das Zielverhalten. Untersuchungen, die
den Zusammenhang zwischen Intention und Verhalten prüfen, kommen immer
wieder zu dem aus Sicht der Gesundheitsförderung äußerst ärgerlichen Ergebnis,

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258 13. Modelle des Gesundheits- und Krankheitsverhaltens

dass die Intention lediglich etwa 20 bis 30 % der Varianz im Verhalten erklären
kann (Sheeran 2002, Cooke & French 2008).
Die kognitiven Modelle eignen sich somit noch nicht, zufriedenstellend das
große Problem der Gesundheitserziehung zu lösen, wie man Menschen bewegen
kann, sich auch so zu verhalten, wie es ihrer eigenen Überzeugung zufolge gut
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wäre. Ein Grund dafür liegt wohl darin, dass sie der Ratio große Bedeutung bei-
messen, die emotionale Seite jedoch vernachlässigen – also das, was Menschen
mit dem Satz: «Vom Verstand her seh ich’s ja ein, aber …» ausdrücken. Um den
Vorhersagewert zu erhöhen, müssten emotionale Komponenten in den kogni-
tiven Modellen sehr viel stärker berücksichtigt werden.
Eine weiterer Mangel der kognitiven Modelle liegt in der ungenügenden Berück-
sichtigung der Tatsache, dass die Gewichtung der unabhängigen Variablen je nach
Person sehr! variieren kann. Eine Frau, der ihre schlanke Figur wichtig ist, kann
hundert gute rationale Gründe haben, warum es gut wäre, mit dem Rauchen auf-
zuhören und zudem die Sicherheit, dass ihre gesamte soziale Umwelt es wunderbar
fände, wenn sie nicht mehr rauchen würde – wenn sie Angst hat, durch die Auf-
gabe des Rauchens fünf Kilo zuzunehmen, wird sie weiterrauchen – hundert guten
Gegenargumenten zum Trotz.
Die Theorie des geplanten Verhaltens hat zudem dadurch eine begrenzte Reich-
weite, dass sie grundsätzlich nur für Verhalten geeignet ist, bei dem die soziale
Wertung eine Rolle spielt – und dies ist keineswegs bei allen aus gesundheitlicher
Sicht gewünschten Verhaltensweisen der Fall. Für die soziale Anerkennung vie-
ler Männer etwa wird es wichtiger sein, dass sie beruflich leistungsfähig sind,
im Verein beim Biertrinken mithalten und dem Nachbarn beim Umzug helfen
können als dass sie regelmäßig ein Entspannungstraining machen, sich täglich
zweimal die Zähne putzen und fünf Portionen Obst essen. Und braungebrannt
aus dem Urlaub zurück zu kommen bringt immer noch mehr Anerkennung im
Kollegenkreis als gesund sonnengeschützt – aber weiß.
Die Stadienmodelle haben, obwohl sie nur Beschreibungsmodelle sind, in der
Praxis sehr viel Anerkennung gefunden. Sie sind z. B. in der Arbeit mit Drogen-
abhängigen sehr hilfreich, wenn es gilt, den schwierigen Prozess des Ausstiegs
zu begleiten und den Betroffenen in den verschiedenen Stadien des Prozesses ihr
eigenes Verhalten und Erleben verständlich zu machen. Kritik kommt hier mehr
von der wissenschaftlichen Seite: Zum einen gelten die definierten Zeiteinheiten
als zu statisch, außerdem ist empirisch noch unklar, ob die Stadien wirklich
qualitativ unterschiedlich sind oder ob es sich nicht um kontinuierliche Merk-
malsausprägungen handelt, die willkürlich in voneinander abgrenzbare Phasen
eingeteilt worden sind.

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13.2 Modelle des Krankheitsverhaltens 259

13.2
Modelle des Krankheitsverhaltens
Der Begriff Krankheitsverhalten wurde von dem Medizinsoziologen David
Mechanic (1962) geprägt. Er bezeichnete damit alle Reaktionen auf ein oder meh-
rere Symptome und unterteilte die Komponenten dieser komplexen Reaktion in:
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• die Wahrnehmung des Symptoms


• seine kognitive und emotionale Bewertung
• die aus diesen Prozessen abgeleitete Folgehandlung.

Parallel zu diesem das Individuum fokussierenden Konzept untersuchte Talcott


Parsons (1964, 1967), ebenfalls Medizinsoziologe, die gesellschaftlichen Determi-
nanten des Verhaltens von Kranken. Kranke sind für Parsons Akteure in einem
gesellschaftlich institutionalisierten Rollenspiel (vgl. Kap. 8.3.2), in dem sie die in
der Krankenrolle definierten Erwartungen zu erfüllen haben. Kranke sind vor­
übergehend von ihren normalen Rollenverpflichtungen befreit, aber es wird erwar-
tet, dass sie alles tun, um so schnell wie möglich wieder gesund zu werden. Reichen
ihre eigenen Möglichkeiten nicht aus, so haben sie sich an die in der jeweiligen
Gesellschaft zuständigen Experten zu wenden und deren Anweisungen zu befolgen.

Therapietreue

Das korrekte Befolgen der Anweisungen von Experten, die zuverlässige


Medikamenteneinnahme und das konsequente Einhalten von Therapieplä-
nen werden mit den Begriffen Compliance und Adhärenz beschrieben.

Das Krankheitsverhalten unterliegt somit komplexen individuellen und gesell-


schaftlichen Einflussfaktoren. Auf Seiten der Person sind dies vor allem die Art und
Schwere ihrer Erkrankung, ihre Einstellung der Krankheit gegenüber, ihre Attributi-
onen über Ursachen und therapeutische Möglichkeiten, ihre Kenntnisse im Umgang
mit dem Versorgungssystem. Zudem spielen kulturspezifische Besonderheiten eine
wichtige Rolle; wer bei Schmerzen wie laut klagen, stöhnen und weinen darf oder
muss, ist eine den jeweiligen Mitgliedern einer Gesellschaft früh vermittelte «Regie-
anweisung». Zu den gesellschaftlichen Einflussfaktoren gehören die Art und Weise
des Versorgungssystems sowie dessen Finanzierung, Möglichkeiten der sozialen
Absicherung im Krankheitsfall, die Stellung und Ausbildung der Professionellen
und kommunikative Strukturen zwischen Professionellen und Kranken.
Die Erforschung des Krankheitsverhaltens verlagerte sich seit den 1980er
Jahren vor allem auf das Bewältigungsverhalten. Die Frage, wie Menschen mit

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260 13. Modelle des Gesundheits- und Krankheitsverhaltens

Krankheit und Behinderung umgehen, wurde an das Erfolgskriterium gekoppelt,


wie sie Krankheit bewältigen. Diesbezüglich wurde die auf der Stressforschung
basierende Coping-Forschung das dominierende Modell (vgl. Kap. 7). Etwas
zynisch betrachtet wurden die Kriterien der Leistungsgesellschaft auch auf die
Kranken übertragen: Erfolgreiches und möglichst schnelles Bewältigen und das
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Einhalten von Zielvereinbarungen kennzeichnen die guten Kranken.


Ich möchte zwei Ansätze vorstellen, die diesen Bewältigungserfolg nicht ins
Zentrum stellen. Beide Modelle sind in Forschung und Literatur derzeit nicht
aktuell, haben aber meines Erachtens für den Umgang mit chronisch kranken
Menschen eine hohe praktische Relevanz.

13.2.1
Phasenmodelle
Phasenmodelle beschreiben die Reaktionen von Menschen nach einer schweren
plötzlichen Erkrankung, nach einem Unfall oder der Mitteilung der Diagnose
einer chronischen und ggf. lebensbedrohenden Krankheit. In den meisten dieser
Modelle wird der Prozess nach einem solchen Ereignis in fünf oder sechs Phasen
eingeteilt, wobei die Phasen nicht streng voneinander getrennt sind, sondern
immer wieder auch Reaktionsweisen einer früheren Phase auftreten können. Ich
beschreibe im Folgenden nicht einzelne Modelle, sondern fasse zusammen, wel-
che Phasen in den diversen Modellen (z. B. Berry & Zimmermann 1983, Horowitz
1983) ziemlich übereinstimmend genannt werden.
Nach einer ersten Schock- oder Aufschreiphase kommt es zu folgenden Reak-
tionen:
• Verleugnung: Die Person fühlt sich taub und benommen, nimmt Informationen
und Reize selektiv wahr, hat Gedächtnislücken, fantasiert positive Entwicklungen,
die den realen Informationen entgegen stehen. Menschen erinnern sich in dieser
Phase zum Beispiel nicht an für sie negative Informationen aus einem Arztge-
spräch und verhalten sich so, wie wenn es die Diagnose nicht gäbe. Manche
verfallen in hektische Aktivitäten, andere ziehen sich zurück und isolieren sich.
• Intrusion, Ärger: Die Gedanken kreisen ständig um die Erkrankung und ihre
möglichen Konsequenzen und es kommt zu emotionalen Ausbrüchen, die sich
in Wut und Ärger äußern können. Das Nicht-wahrhaben-Wollen weicht einem
Das-darf nicht-wahr-sein, einem Zorn auch auf Behandler und Pflegekräfte,
die den Kranken ja schon durch ihre bloße Existenz mit seiner Krankheit
konfrontieren. Vor diesem Zorn sind auch nahe stehende Menschen nicht
verschont, denn auch sie geraten naturgemäß in die der Krankenrolle komple-
mentäre soziale Rolle.

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13.2 Modelle des Krankheitsverhaltens 261

• Verhandeln: Mit Ärzten, Pflegern, aber auch mit Gott und dem eigenen Körper
wird versucht, zu verhandeln: «Wenn ich die Medikamente jetzt regelmäßig
nehme, wird das dann sicher helfen?» Versprechen werden gemacht: «Wenn
ich dieses Mal davonkomme, dann werde ich nie mehr rauchen», oder auch
Gelübde abgelegt.
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• Depression: Mit wachsender Erkenntnis, dass die Krankheit nicht nur ein
vorübergehendes Ereignis ist, sondern lebenslänglich oder auch zum Tode
führend, kann es zu depressiven Reaktionen kommen. Diese Phase ist von
Mut- und Hoffnungslosigkeit geprägt, Rückzug und Traurigkeit.
• Akzeptanz, Anpassung: Auch in den Phasenmodellen wird davon ausgegan-
gen, dass es den meisten Menschen gelingt, ihre Realität letztlich anzunehmen
und sich auf ein Leben mit der Krankheit oder Behinderung einzustellen. In
dieser Phase werden Pläne für das weitere Leben gemacht, notwendige Verän-
derungen in Beruf, Wohnung, Tagesablauf vorgenommen. Der Kontakt zu dem
betreuenden Personal wird besser, ärztliche Verordnungen werden akzeptiert.

13.2.2
Chronisches Krankheitsverhalten
Was aber ist mit den Menschen, die die Krankheit nicht bewältigen, die sich nicht
auf ein Leben mit der Erkrankung oder Behinderung einstellen können, die in
einer Phase der Bewältigung verharren? Gerade die sind es doch, die besonders lei-
den und alle negativen Auswirkungen der Erkrankung am meisten spüren, die den
Professionellen das Leben besonders schwer machen, weil sie sich allen gängigen
Hilfsangeboten versagen, und die zudem auch besonders hohe Kosten verursachen.
Diese Gruppe geriet bei der Suche nach Verlauf und Strategien der Bewältigung
leider ins Abseits der forscherischen Interessen. Es handelt sich um Patientinnen
und Patienten, die sich nach Expertenmeinung «zu krank» verhalten. Aber wie
kann man beurteilen, ob das Ausmaß des Krankheitsverhaltens dem Ausmaß
der Erkrankung «an sich» entspricht? Befund und Befinden können bekannter-
maßen erheblich differieren.
Einen konstruktiven Ausweg aus diesem Dilemma fanden Zielke, Sturm &
Leidig 1986, als sie die primäre Erkrankung von dem, was sich im langjährigen
Verlauf an Auffälligkeiten um sie herum bildet, entkoppelten. Das Bündel der
Verhaltensauffälligkeiten nannten sie chronisches Krankheitsverhalten. Die
Deskription chronischen Krankheitsverhaltens ist in Tabelle 9 zusammengefasst:

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262 13. Modelle des Gesundheits- und Krankheitsverhaltens

Tabelle 9: Chronisches Krankheitsverhalten

Eingeschränkte Selbsthilfe Wenig Möglichkeiten, selbst etwas zu tun, sich


Erleichterung zu verschaffen, kein Ausprobieren
von Verhaltensalternativen.
Passive Veränderungserwartung Warten, dass sich «etwas» tut – und dann
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bei unrealistischer Zielperspektive möglichst wieder alles so ist «wie früher»; keine
Zieldefinition, die die Erkrankung einbezieht.
Permanenter Wunsch nach Häufige Inanspruchnahme aller medizinischen
professioneller Intervention und psychosozialen Institutionen, häufiger
Arztwechsel, hoher Medikamentenkonsum,
Forderung von allen technischen
Untersuchungs- und Behandlungsmitteln; im
Kontakt fordernd und ungeduldig.
Verantwortungsübertragung an Die Verantwortung für den eigenen
Professionelle gesundheitlichen Zustand wird den
Professionellen und dem Gesundheitssystem
übertragen, eigene Beteiligung wird
ausgeblendet.
Vordergründige «Dankbar» wird im Behandlungszimmer
Kooperationsbereitschaft jeder neue Therapievorschlag akzeptiert, eine
entsprechende Umsetzung erfolgt jedoch nicht.
Persistieren der Krankenrolle Auch im Alltag ist die Krankenrolle die zentrale
soziale Rolle. Die Definition der eigenen Person
erfolgt über die Erkrankung: «Ich bin Diabetiker,
Epileptikerin, Depressive …»
Ausgeprägtes Eigene Möglichkeiten werden nicht mehr
Vermeidungsverhalten überprüft, wodurch der gesunde Anteil
zunehmend schrumpft.
Sozialer Rückzug Soziale Kontakte werden durch medizinische
Termine (Arztbesuche, Medikamenteneinnahme
…) und Schonverhalten eingeschränkt; auf
Seiten der Sozialpartner auch dadurch, dass
sich nicht alle in die komplementäre Zuhörer-
und Helferrolle einbinden lassen.

Außenstehenden, Verwandten und Behandlern erscheint chronisches Krank-


heitsverhalten oft unverständlich und kontraproduktiv – ganz abgesehen davon,
dass es ihnen erheblich lästig werden kann. Doch kann dieses Verhalten in der
persönlichen Kosten-Nutzen-Bilanz der Kranken sinnvoll sein: Eine langjährige,
unter Umständen lebenslange oder auch lebensbedrohende Erkrankung geht mit
zahlreichen Konsequenzen wie der Einschränkung der Arbeitsfähigkeit, der Frei-
zeitgestaltung, Veränderungen des Selbstwertgefühls und der Selbstakzeptanz,

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13.2 Modelle des Krankheitsverhaltens 263

häufig mit Schmerzen oder auch mit einer Verschlechterung der materiellen
Ressourcen einher. Eine Verringerung dieser Einschränkungen erfordert viel
Kraft und Energie bei häufig sehr vager Möglichkeit, den potentiellen Nutzen
dieser Anstrengungen kalkulieren zu können. Chronisches Krankheitsverhalten
erweist sich angesichts solch einer Situation für viele Menschen als die weniger
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belastende und kostengünstigere Lösung. Zudem kann chronisches Krankheits-


verhalten auch eine wichtige Funktion zur Reduzierung emotionaler Belastung
übernehmen: Menschen, die keine Kontrolle über das Fortschreiten ihrer Krank-
heit haben – wie es etwa bei Rheuma oder MS der Fall ist – beugen dadurch,
dass sie sich als sehr krank definieren, der Wiederholung der immer wieder
schmerzlichen Erkenntnis vor, dass sie den Krankheitsverlauf nicht beeinflussen
können. Auch dadurch, dass sie nicht immer wieder noch einmal ausprobieren,
ob sie nicht doch etwas können, kommen sie wiederholten Enttäuschungen und
Rückschlägen entgegen. Für manche Menschen scheint dies in ihrer persön-
lichen Kosten-Nutzen-Bilanz wichtiger zu sein als der hierfür bezahlte Preis an
Einschränkungen.
Es darf auch nicht übersehen werden, dass Menschen, die sich chronisch krank
verhalten, damit das Verhalten realisieren, das von Kranken in der Gesellschaft
erwartet wird. Dadurch, dass sie sich als abhängig und hilflos darstellen, sichern
sie eine Balance, die sowohl für sie selbst als auch für ihre Umwelt entlastend
ist. Wesentliche Dimensionen ihres Verhaltens entsprechen den Erwartungen
Professioneller und stehen im Einklang mit der Organisation des Versorgungs-
systems: Patienten sind dann gute Patienten, wenn sie ihre Symptome schildern,
sich Hilfe suchend an die dafür im System Zuständigen wenden und wenn sie
die Absicht bekunden, den therapeutischen Auflagen Folge zu leisten. Mit ihrer
passiven Veränderungserwartung, dem permanenten Wunsch nach professi-
oneller Hilfe und der Übertragung der Verantwortung erfahren Patientinnen
und Patien­ten Verstärkung durch die Behandler – zumindest für so lange, wie
sie ihnen nicht mit ihrer ständigen Rückkehr und dem Bericht, dass sich nichts
gebessert hat, auf die Nerven gehen. An dieser Stelle erfolgt dann in der Regel
die Überweisung an eine weitere (noch) spezialisiertere Institution – bei der der
Patient dann natürlich das chronische Krankheitsverhalten nicht aufgeben wird,
muss er doch die Konsultation der noch größeren Koriphäe eindeutig als Bestäti-
gung seiner Sichtweise sehen, sehr krank zu sein.
Je länger dieser Prozess andauert, umso geringer wird die Chance, dass Men-
schen chronisches Krankheitsverhalten aufgeben können. Dies kann so weit gehen,
dass allein chronisches Krankheitsverhalten noch hilft, sozialer Verelendung ent-
gegenzutreten. Denn nur unter Aufrechterhaltung des Zustandes als «sehr krank»
ist es dann möglich, soziale Ressourcen – und ggf. endlich die Rente – in Anspruch
zu nehmen (vgl. Franke 1991).

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264 13. Modelle des Gesundheits- und Krankheitsverhaltens

Angesichts dieser vielfältigen Funktionen verwundert es nicht, dass chronisches


Krankheitsverhalten oft trotz zahlreicher negativer Konsequenzen so hartnäckig
verteidigt wird. Angesichts des immer größer werdenden Anteils von Patien-
tinnen und Patienten mit chronischen Erkrankungen in unserem Gesundheits-
system scheint es mir dringend geraten, sich mit diesem Verhalten intensiver
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auseinanderzusetzen als es in den letzten Jahren geschehen ist und die Zusam-
menhänge zwischen personalen und institutionellen Faktoren aufzuklären, die
dieses Verhalten begünstigen.

Zur Einordnung und Bedeutung der Modelle des Krankheitsverhaltens

Wie eingangs bereits erwähnt hat sich die Erforschung des Verhaltens von Men-
schen während und mit einer Krankheit seit einiger Zeit auf diejenigen konzen-
triert, die die Krankheit gut bewältigen. Dies birgt nicht nur die Gefahr, zwei
Klassen von guten, erfolgreichen und schlechten, krank bleibenden Patientinnen
und Patienten zu schaffen, sondern verhindert auch, die vielfältigen Arten des
Umgangs mit Krankheit aus dem Auge zu verlieren. Männer und Frauen, Alte
und Junge, Menschen aus unterschiedlichen Kulturen – sie alle haben unter-
schiedliche Arten und Kommunikationsformen, um ihre Beschwerden auszudrü-
cken. Und sie treffen im Versorgungssystem auf Professionelle, die in vielfältige
strukturelle Zwänge eingebunden sind und zudem ihre eigenen Erwartungen an
den «richtigen» Umgang mit Krankheit haben. Nicht nur angesichts der immer
größeren Zahl von Menschen mit chronischen Erkrankungen sondern auch
angesichts unserer pluralistischen und multikulturellen Gesellschaft scheint es
mir dringend geboten, sich wieder stärker mit dem Krankheitsverhalten und
seinen institutionellen Bedingungen zu beschäftigen.

13.3
Gesundheitskompetenz
Gesundheitskompetenz ist ein neuer Begriff im Bereich des Gesundheits- und
Krankheitsverhaltens. Zwar ist er (noch) nicht einheitlich definiert, doch er
hat eine schnelle Karriere gemacht. Sein englisches Synonym «health literacy»
verweist besser als der deutsche Begriff auf seine Ursprünge und das zugrunde
liegende Anliegen, einen Begriff für die Fähigkeiten von Menschen zu finden,
Gesundheitsinformationen zu verstehen, sich gesundheitsgerecht zu verhalten
und sich im Gesundheitssystem zurechtzufinden. Zahlreiche Untersuchungen
bestätigen die klinischen Erfahrungen, dass viele Menschen sich deshalb nicht
gesundheitsförderlich verhalten, weil ihnen das dafür notwendige Wissen fehlt:
weder wissen sie, an wen sie sich bei bestimmten Problemen wenden können,

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13.3 Gesundheitskompetenz 265

noch verstehen sie, was der Arzt ihnen sagt und was auf dem Beipackzettel steht.
Den Arzt oder Apotheker fragen kann nur, wer bereits über Wissen verfügt, und
dass Rauchen tödlich ist, leuchtet auch nur demjenigen ein, der die Zusammen-
hänge von Rauchen und Krebsentstehung verstanden hat.
In den letzten zehn Jahren wurden diverse Modelle der Gesundheitskompe-
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tenz entwickelt. Einige konzentrieren sich auf das Verhalten kranker Menschen
im Gesundungsprozess und weisen starke Überschneidungen mit den Konzepten
der Compliance und Adhärenz auf. Andere haben ihre Herkunft in der Gesund-
heitsförderung und Prävention; hier kommt es zu gemeinsamen Schnittmengen
mit Konzepten wie Gemeinschaftsentwicklung, soziale Netzwerke und Empo-
werment (Abel, Sommerhalder & Bruhin 2011, Soellner et al. 2009). Ein Modell,
das Gesundheitskompetenz in fünf Teilkompetenzen untergliedert und relativ
gut sowohl für den therapeutischen als auch den gesundheitsfördernden Bereich
angewandt werden kann, zeigt Tabelle 10.

Tabelle 10: Bereiche der Gesundheitskompetenz nach Kickbusch (2006)

Kompetenzbereich
Persönliche Gesundheit Grundkenntnisse über Gesundheit, förderliches Verhalten
in Gesundheit und bei Krankheit, Selbstpflege, Betreuung
der Familie, erste Hilfe
Systemorientierung Sich-Zurechtfinden im Gesundheitssystem, kompetentes
Auftreten gegenüber Professionellen
Konsumverhalten Fähigkeit, Konsum- und Dienstleistungsentscheidungen
unter gesundheitlichen Gesichtspunkten zu treffen, seine
Rechte einzufordern
Gesundheitspolitik Fähigkeit, informiert gesundheitspolitisch zu handeln und
sich ggf. zu engagieren
Arbeitswelt Arbeitsunfälle vermeiden, sich für gesundheitsförderliche
Arbeitsbedingungen einsetzen, Balance zwischen Arbeits-
und Privatbereich finden.

Seinen rasanten Aufstieg verdankt der Begriff der Gesundheitskompetenz sicher


nicht seiner wissenschaftlichen Innovationskraft oder dem Faktum einer neuen
Demokratisierungswelle im Gesundheitssystem. Der entscheidende Grund ist
ökonomischer Natur, denn die Sozial- und Gesundheitssysteme werden durch
uninformierte Patientinnen und Patienten stärker belastet. Amerikanischen
Untersuchungen zufolge sind sie weniger gesund, haben mehr stationäre Aufent-
halte und sind für präventive Angebote nicht empfänglich. Auf der Website des
Bundesgesundheitsministeriums heißt es: «Ein wirkungsvoller Wettbewerb im
Gesundheitssystem braucht Patientinnen und Patienten, die Leistungen hinter-

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266 13. Modelle des Gesundheits- und Krankheitsverhaltens

fragen und gute Qualität einfordern» (www.bmg-bund.de [Zugriff: 12.02.2012]).


Mit der zunehmenden Ökonomisierung des Gesundheitssystems kann sich die-
ses uninformierte und damit teure Patientinnen und Patienten nicht leisten. Die
neuen propagierten Zauberwörter heißen «Patientenautonomie», «Konsumen-
tensouveränität» und «individualisierte Medizin»; sie sollen glauben machen,
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dass es um die Stärkung der Rechte von Patientinnen und Patienten geht und
darum, dass alle eine auf ihre Person zugeschnittene maßgerechte Versorgung
erhalten. De facto entspringen sie jedoch einem Denkmodell, das dem Einzelnen
eine immer größere Verantwortung für die eigene Gesunderhaltung aufbürdet
und ihn darüber hinaus für das Funktionieren des gesamten Gesundheitssystems
in die Pflicht nimmt. Wer Vorsorgeuntersuchungen nicht wahrnimmt, eine ver-
schriebene Diät nicht einhält, wer raucht, seine Kinder nicht impfen lässt oder
sich als Schwangere nicht der Pränataldiagnostik unterzieht, schadet in diesem
Denksystem nicht nur der eigenen Gesundheit, sondern auch der Solidargemein-
schaft.
Soweit ich es sehe, wird in der Diskussion um die Gesundheitskompetenz
bisher weitgehend ausgespart, dass Menschen, die mehr als zehn Tropfen nicht
abzählen, einen Beipackzettel nicht lesen und verstehen und Bagatellerkran-
kungen nicht mit eigenen Hausmitteln behandeln können, nicht nur Defizite
im gesundheitlichen Bereich haben, sondern dass es ihnen insgesamt an kogni-
tiven und lebenspraktischen Fähigkeiten fehlt. Es ist davon auszugehen, dass ein
geringes Ausmaß an Gesundheitskompetenz vor allem in den unteren sozialen
Schichten zu finden ist – und damit stellt sich das Problem als ein soziales dar, das
keineswegs auf den Gesundheitssektor beschränkt ist.

Weiterführende Literatur
Naidoo, J. & Wills, J. (2011). Lehrbuch der Gesundheitsförderung. Neuauflage. Herausgege-
ben von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Gamburg: Verlag für Ge-
sundheitsförderung.
Mitscherlich, A., Brocher, T., von Merin, O & Horn, K. (1984). Der Kranke in der modernen
Gesellschaft. Frankfurt/M. Syndikat.

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267

Ich möchte dieses Buch mit einem Gedicht schließen, das ich sehr liebe:

Ich glaube, dass Krankheiten Schlüssel sind,


die uns gewisse Tore öffnen können.
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Ich glaube, es gibt gewisse Tore,


die einzig die Krankheit öffnen kann.
Es gibt jedenfalls einen Gesundheitszustand,
der es uns nicht erlaubt, alles zu verstehen.
Vielleicht
Verschließt uns die Krankheit einige Wahrheiten.
Ebenso aber verschließt uns die
Gesundheit andere,
oder führt uns davon weg,
so dass wir uns nicht mehr darum kümmern.
Ich habe unter denen,
die sich einer unerschütterlichen
Gesundheit erfreuen,
noch keinen getroffen, der nicht
nach irgendeiner Seite hin
ein bisschen beschränkt gewesen wäre –
wie solche, die nie gereist sind.

André Gide

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Sach- und Personenregister

Allgemeines Adaptationssyndrom (AAS) 108 Dis-Stress 109


Alltagstheorie 243 Double-Bind 156
Anforderungs-Kontroll-Modell 232 Drift-Hypothese 228, 239
Anomietheorie 162 DSM 83ff.
Antonovsky 47, 169ff., 183f. Dubos, René 48f.
Appraisal 118ff. Durkheim, Emile 162
Armut und Gesundheit 224
Eccles, John C. 142
Befund und Befinden 103 Einkommensungleichheit 234ff.
–, Diskrepanz 25 Entropie 171, 178, 180
Behinderung 89ff., 167 Entwicklungsdefizit-Modell 144
–, Begriff der 92ff. Entwicklungspsychologie 187
Bentall, Richard 84 Entwicklungspsychopathologie 187
Berkeley-Stress-and-Coping-Project 121 Epidemiologie, soziale 219
Berufskrankheit, Definition 28 Erklärungsmodelle, sozialepidemiologische
Bewältigung 118 225ff.
Bewältigungsressourcen 183 Eu-Stress 109
Beziehungskonflikt-Modell 145 Euthanasie 72f., 91
biomedizinisches Modell 203ff. Eysenck, Hans 148
Bipolares Konzept 99f.
Black-Report 225, 228 Frank, Johann Peter 221f.
Broken-Windows-Theorie 233 Frauenforschung 209
Frauengesundheit 44, 201
Chancengleichheit, gesundheitliche 194 Frauenkrankheiten, typische 216
Coping 118ff., 177f. Freud, Sigmund 43, 142f.
–, Modell nach Lazarus 177 Funktionalität der Störungen 28
–, Strategie 123f., 192f., 212f.
Gadamer, Hans-Georg 42
Deparcieux, Antoine 198 Galen 32, 59, 68
Descartes, René 141 Geisteskrankheit 68ff.
Determinanten der Gesundheit 228 Gender 202ff.
Diagnostik, technische Möglichkeiten 25 –, Forschung 209
Diathese-Stress-Modell 146, 158ff. –, Theorien 207ff.
dichotomes Konzept 99 Gender-Mainstreaming 203, 212ff.
Disability 94f. General-Adaptation-Syndrome 108
Disease Mongering 29 Generalized Resistence Resources 173

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282 Sachregister

Genforschung 78 Griesinger, Wilhelm 70ff.


Gentechnologie 77
Geschlecht 201ff., 214ff. Handicap 94f.
–, Gesundheit und Krankheit 215 Health Belief Model 252
–, Lebenserwartung HEDE-Kontinuum 171ff.
und Lebensverhältnisse 220 Heterostase 47, 171, 177, 180
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Geschlechterrolle 199, 211 Hippokrates 45, 68, 129


Geschlechtsstereotype 208, 210 Homöostase 45ff., 109
–, psychische Gesundheit 209 Homöostasemodell nach Freud 46
Gesundheit Human-Genom-Projekt 77
–, Definitionen 35ff.
–, Dimensionen 38ff. Impairment 94f.
– als Geschenk 54ff. Infektionsmodell 60
– als Leistungsfähigkeit Interaktionstheorie 165f.
und Rollenerfüllung 43ff. International Classification
– im Nationalsozialismus 56 – of Diseases (ICD) 65f.
–, psychische 100 – of Functioning, Disabilities
–, soziologisches Verständnis 44 and Health (ICF) 94f.
–, Stellenwert 50ff. – of Impairments, Disabilities and
– als Störungsfreiheit 38 Handicaps (ICIDH) 94f.
–, subjektive Theorien 243f.
–, WHO-Definition 41, 190ff. Klassifikationen, Implikationen
– als Wohlbefinden 40ff. und Konsequenzen 85ff.
Gesundheit und Krankheit Koch, Robert 49, 129
–, Abgrenzungsschwierigkeit 21ff. Körpermaschine 109
–, Beurteilungskriterien 21ff. Kohärenzgefühl 174ff.
–, geschlechtsspezifische Modelle 197ff. – und Stressbewältigung 177ff.
–, subjektive Theorien 243f. Kommunikationstheorie 153ff.
gesundheitliche Überzeugungen 252f. kommunikationstheoretisches
Gesundheitsbewegung 32 Krankheitsmodell 153
Gesundheitsdefinition, Konflikttheorie 162f.
positive, negative 39, 245 Kontinuumsmodell 102
Gesundheitsdienst 193f. Kraepelin, Emil 71ff., 136
Gesundheitsförderung 140, 184, 191ff. Krankheit
–, kognitive Modelle 252 –, definitorisches Verständnis 61
Gesundheitsfürsorge 221ff. –, Kennzeichnung von 62
Gesundheitskompetenz 264ff. –, psychische 72
Gesundheitskonzepte von Laien 246 –, strafrechtlicher Aspekt 63
Gesundheits-Krankheits- Krankheit und Gesundheit
Kontinuum 174, 183 s. Gesundheit und Krankheit
Gesundheitsmodelle 169ff. Krankheitsbegriff, Kulturgebundenheit 27
Gesundheitstheorien, subjektive 244ff. Krankheitsbild, biomedizinisches 133ff.
Gesundheitsverhalten 52, 244, 251ff. Krankheitsgruppen der ICD-10 65
–, schichtabhängiges 229f. Krankheitsmodell 129ff.
Gesundheitsversorgung –, kommunikationstheoretisches 153
–, primäre 191 –, naturalistisches 133ff.
–, soziale Ungleichheit 224, 239 –, psychoanalytisches 142ff.
Gratifikationskrise 231, 241 –, psychosomatisches 140ff.

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Sachregister 283

–, soziokulturelles 162ff. orthogonales Konzept 102


–, strukturfunktionalistisches 164
–, verhaltenstheoretisches 146ff. Parsons, Talcott 44, 164f., 259
Krankheitstheorien, subjektive 247ff. Pathogenese 169
Krankheitsverhalten 244, 251ff. Pawlow, Iwan Petrowitsch 147f.
–, chronisches 261ff. persönlichkeits- und verhaltenstheoretische
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Krankheitswert 26 Ansätze 116


kritische Perioden 229 Pettenkofer, Max 49f.
Kumulations-Modell 229 Popper, Karl 142
Primary Health Care 191
Labeling-Modell 166f. Psychiatrie 135
Lazarus, Richard 117, 121, 161 psychische Störungen 67ff.
Lebenserwartung 198ff. Psychoanalyse 46
Lebenslaufperspektive 228 psychoanalytisches Krankheitsmodell 142ff.
Lebensveränderungsindex (LCU-Score) 112 Psychosomatik 141
Leibniz, Gottfried Wilhelm 221 psychosomatisches Krankheitsmodell 140ff.
Life-event-Ansatz 114 psychosoziales Modell 204ff.
Life-event-Forschung 114
Recht auf Gesundheit 57
Mandala-Modell nach Hancock 55 Reil, Johann Christian 135
Männerforschung 209 Resilienz
Männerkrankheiten, typische 216 –, Forschung 186ff.
materielle Lebensbedingungen 232f. –, kindliche 188
Medizin ohne Menschlichkeit 76 –, Modell 185ff.
Mielke, Fred 75f. Ressourcenorientierung 180ff.
Mitscherlich, Alexander 75f. Ricciardi-Platen-Hallermund, Alice 75f.
Modell Risikofaktorenforschung 138ff.
– beruflicher Gratifikationskrisen 231, 241 Risikofaktorenmodell 137ff., 184, 186
–, biomedizinisches 203ff.
– gesundheitlicher Überzeugungen (Health Salutogenese 47, 169ff.
Belief Model) 252f. Salutogenese-Modell, ressourcenorientierte
– der Körpermaschine 109 Erweiterung 180ff.
– kritischer Perioden 229 Schneider, Kurt 72
–, psychosoziales 204ff. Seedhouse, David 54
– der Salutogenese 170ff. Selbstaktualisierungsmodell 47
– des Zusammenhangs von sozialer und Selye, Hans 106f.
gesundheitlicher Ungleichheit 238ff. Sence of Coherence (SOC) 174
Modelle des Gesundheits- und Skinner, Burrhus Frederic 148
Krankheitsverhaltens 251ff. Social Readjustment Rating Scale 112
Modelllernen 151 soziale und gesundheitliche
Modellprogramm Psychiatrie 76 Ungleichheit 238ff.
Sozialepidemiologie 219ff.
Nationalsozialismus, –, Entwicklung in Deutschland 221ff.
Gesundheit als Leistung 43 Sozialfürsorge 221ff.
naturalistisches Krankheitsmodell 133ff. Sozialpsychiatrie 74
Neuropsychologie 77f. soziokulturelles Krankheitsmodell 162ff.
Nürnberger Ärzteprozesse 75, 91 Störungen 153
– als gescheiterte Lösungsversuche 154

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284 Sachregister

–, kindliche 189 Trieb-Konfliktmodell 144


–, psychische 67ff., 79ff., 100, 168 Unabhängigkeitsmodell 102f.
–, sexuelle 145 Ungleichheit
–, somatoforme 147 –, gesundheitliche 239
Störungsmodell 184 –, soziale 219f., 225ff., 238ff.
Stress 105ff.
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– als Auslöser 111ff. Verhaltensänderung, Phasen 256f.


–, Definition nach Lazarus & Folkman 117 Verhaltensmedizin 146
– und Gesundheit und Krankheit 125ff. Verhaltensperspektive 229
– als Interaktion 117f. Verhaltenstheorie 146
Stressbewältigung 177ff. verhaltenstheoretisches
Stressforschung 106ff., 183 Krankheitsmodell 146ff.
– nach Lazarus 117 Verhaltenstherapie 146
– nach Selye 107 Virchow, Rudolf 129, 222f.
Stressor 119ff., 123 Vulnerabilitäts-Stress-Modell 158ff.
– nach Antonovsky 172f. Vulnerabilitätstheorie 160
Stressreaktion 110f.
strukturfunktionalistisches Wagner-Jauregg, Julius 136
Krankheitsmodell 164 Weltgesundheitsorganisation (WHO) 31
Strukturmodell: Interaktion der –, Definition von Gesundheit 40, 190ff.
Verhaltensebenen 150 Werner, Emmy 186f.
Subjektive Gesundheitstheorien 244ff. Wert der Gesundheit 50ff.
Suizid 163, 189 Whitehall-Studie 228
Suizidtheorie nach Durkheim 162 Widerstandressourcen 170
– nach Antonovsky 179
Theorie des geplanten Verhaltens 254f. –, generalisierte 173
Tod 172, 185 Wilkinson, Richard 236f.
Transaktionales Stressmodell Wohlbefinden 40ff., 190, 245
nach Lazarus 119, 161 Wohlfahrtsstaatssystem 234
Transtheoretisches Modell 256 Wolpe, Josef 148f.

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Die Autorin

Alexa Franke arbeitete nach dem Psycho-


logiestudium in Münster an den Klinisch-
Psychologischen Instituten der Universitäten
Münster, Zürich, Bochum, Bielefeld und als
Leitende Psychologin in einer verhaltensme-
dizinisch orientierten Psychosomatischen
Klinik. Von 1991 bis 2011 war sie Professorin
(C4) für Rehabilitationspsychologie an der
TU Dortmund.
Nach langjähriger psychotherapeutischer
Tätigkeit verlagerte sie ihre Schwerpunkte
zunehmend in den Bereich der Prävention
und Gesundheitsförderung. Sie hat entschei-
denden Anteil an der Weiterentwicklung und
Verbreitung des Salutogenese-Konzepts sowie an seiner Umsetzung in die Praxis
der Gesundheitsförderung und Therapie. 2002 erhielt sie den Preis der Deutschen
Gesellschaft für Verhaltenstherapie (Distinguished German Visionary Trophy).
Neben ihrer wissenschaftlichen und praktischen Tätigkeit engagierte sie sich
in zahlreichen Fachgesellschaften und in gesundheitspolitischen Gremien. Sie
war Mitglied u.a. im Nationalen Drogenrat und der Drogen- und Suchtkommis-
sion der Bundesregierung und der Enquete-Kommission «Zukunft einer frau-
engerechten Gesundheitsversorgung in NRW». Den spezifischen Bedürfnissen
und Erfordernissen von Frauen in der gesundheitlichen Versorgung Geltung zu
verschaffen, war und ist ihr ein besonderes Anliegen. Sie ist Mitglied des Heraus-
gebergremiums der Zeitschrift «Prävention».

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