Sie sind auf Seite 1von 36

n

tio
ek
Einführung in die
el
systemische Beratungsarbeit
ob
Pr

1371
Trägergesellschaft des Ausbildungsinstitutes ist die

BA Bergische Akademie für Erwachsenenbildung GmbH

Lobirke 1 · D-42857 Remscheid

Amtsgericht Wuppertal, HRB 12561

© Dieser Studienbrief wurde von Fachautoren/-innen speziell für die Institute der
BA Bergische Akademie für Erwachsenenbildung GmbH geschrieben. Die BA
Bergische Akademie für Erwachsenenbildung GmbH behält sich alle Rechte da-
ran, eingeschlossen das Recht der Übersetzung in fremde Sprachen, vor.

Der Studienbrief darf ausschließlich durch die im Ausbildungsvertrag genannte


Person genutzt werden. Verleih, Verkauf sowie sonstige Übertragung auf Dritte
ist untersagt. Nachdruck, fotomechanische Wiedergabe, öffentliches Zugäng-
lichmachen in Online-Diensten und Internet sowie Vervielfältigung auf Daten-
trägern wie CD-Rom etc. darf nur nach schriftlicher Zustimmung durch die BA
Bergische Akademie für Erwachsenenbildung GmbH erfolgen.
Einführung in die systemische Beratungsarbeit 1371

Gliederung

1. Einführung in systemisches Denken im Kontext von Therapie und


Beratung ................................................................................................................. 5 
2. Historische Entwicklung der Systemischen Therapie und Beratung ........... 7 
2.1 Paul Watzlawick ............................................................................................ 8 
2.2 Helm Stierlin .................................................................................................. 9 
2.3 Weitere Entwicklungsschritte der systemischen Beratung ............................ 9 
3. Philosophische Wurzeln der systemischen Therapie und Beratung ........... 13 
3.1 Konstruktivismus ......................................................................................... 13 
3.2 Soziologische Systemtheorie ....................................................................... 15 
3.3 Biologische Systemtheorie .......................................................................... 16 
4. Systemtheorie ................................................................................................... 18 
5. Familientherapie ‒ Vorläufer der systemischen Beratung/Therapie.......... 22 
5.1 Die strukturelle Familientherapie ................................................................ 22 
5.2 Das Mehrgenerationen-Modell .................................................................... 24 
5.3 Erlebnisorientierte und wachstumsorientierte Familientherapie ................. 27 
5.4 Die strategische Familientherapie ................................................................ 29 
5.5 Systemisch-kybernetische Familientherapie................................................ 31 
5.5.1 Zirkularität ............................................................................................ 31 
5.5.2 Hypothetisieren ..................................................................................... 32 
5.5.3 Neutralität ............................................................................................. 33 
5.5.4 Paradoxie und paradoxe Interventionen ............................................... 33 
6. Entstehung der systemischen Therapie ......................................................... 36 
6.1 Das reflektierende Team ‒ „Reflecting Team“............................................ 37 
6.2 Narrative Ansätze ........................................................................................ 40 
6.3 Lösungsorientierte Kurztherapie.................................................................. 43 
7. Entwicklung der systemischen Beratung ....................................................... 48 
8. Abgrenzung zu anderen Ansätzen.................................................................. 52 
Beantwortung der Zwischenfragen .................................................................... 55 

3
Einführung in die systemische Beratungsarbeit 1371

Hinweis:

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit der Texte wird auf die gleichzeitige
Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Sämtliche
Personenbezeichnungen gelten gleichwohl für beiderlei Geschlecht. Die
inhaltliche Darstellung bleibt davon unberührt, d. h. Forschungsergebnisse,
Studien usw. werden genderdifferenziert dargestellt.

4
Einführung in die systemische Beratungsarbeit 1371

1. Einführung in systemisches Denken im Kontext


von Therapie und Beratung
Vielen therapeutischen Ansätzen und Beratungsformen ist gemeinsam, dass sie
ihren Fokus hauptsächlich isoliert auf diejenige Person richten, die ein Symptom
zeigt. Diese als problemidentifizierte Person wird dann auch behandelt bzw. bera-
ten mit dem Ziel, dass die Auffälligkeit, das „Störende“, das Symptom nicht mehr
auftritt. Sie ist also diejenige, die sich verändern soll, während der Kontext in den
sie eingebunden ist (z. B. Familie), ihr Umfeld sowie die zugehörigen Beziehun-
gen eher im Hintergrund bleiben und in Folge dessen nicht unmittelbar in die Be-
ratung oder Therapie mit einbezogen werden.
Von diesem Denken unterscheidet sich systemisches Denken grundlegend. Der
systemische Ansatz beschreibt Mensch und Kontext immer als Gesamtheit, als
zwei ebenbürtige Teile desselben Systems, deren Verhalten stets in Wechselwir-
kung zueinander steht, d. h. Menschen und Kontexte bedingen sich gegenseitig.
Für den Bereich Therapie und Beratung bedeutet der systemische Ansatz und die
systemische Vorgehensweise, dass der Mensch immer in seinem Beziehungs- und
Bedingungsgefüge, also in seinem Kontext, in den er eingebunden ist, betrachtet
wird und auch behandelt werden muss. Beispielsweise wird ein Kind im Kontext
Familie oder ein Angestellter einer Firma im Kontext Mitarbeiter oder Team be-
trachtet. Das Verhalten und das Handeln eines Menschen werden beide in ihrem
Kontext betrachtet und erklären sich aus diesem „Eingebunden-Sein“ sowie aus
der Rolle und Funktion, die ein Mensch darin einnimmt.
In gleicher Weise wird entsprechend des systemischen Denkansatzes auch auffäl-
liges Verhalten erklärt. Auch solches, welches als Erkrankung bewertet wird. Das
heißt, ein Klient, der eine Erkrankung oder Auffälligkeit aufweist, wird mit seinen
Symptomen nicht isoliert betrachtet, sondern in seinen jeweiligen Lebenszusam-
menhängen. Und innerhalb dieses Kontextes wird nach Erklärungen und Verände-
rungsansätzen gesucht.
Der Kontext lässt sich auch im Beratungssetting abbilden: D. h. ganze Familien
oder auch Gruppen (z. B. Lehrerkollegium) werden in der systemischen Beratung
behandelt. Als störend erlebtes Verhalten oder eine Erkrankung – sie werden als
Symptome bezeichnet – werden in ihrer Bedeutung für das Funktionieren im Ge-
samtzusammenhang des Kontextes betrachtet und gewürdigt.

An einem Beispiel:

Ein Kind bekommt regelmäßig Fieber, sobald die Familie in Urlaub fahren
möchte. Der systemische Blick wäre dann nicht einseitig auf das Kind und sein
Symptom gerichtet, sondern darauf, was eigentlich das Symptom für das
Funktionieren der Familie sicherstellt. Also wozu und in welcher Weise dient
die Erkrankung des Kindes dem Familiensystem, welche verhindert, dass die
Familie in Urlaub fahren kann.

5
Einführung in die systemische Beratungsarbeit 1371

Im Unterschied dazu behandeln andere Ansätze mehr oder weniger isoliert den
einzelnen Menschen und untersuchen, was allein dieser verändern kann. Der Kon-
text wird dabei nur zweitrangig berücksichtigt.
Wenn es um eine Erkrankung geht, wird der Patient medizinisch oder therapeu-
tisch behandelt und die Erkrankung wird ihm nahezu als eine Persönlichkeitsei-
genschaft zugeschrieben. Wenn es hingegen um störendes und auffälliges Verhal-
ten geht, wird der Einzelne in die Verantwortung genommen und aufgefordert,
das Verhalten einzustellen, und andernfalls in letzter Konsequenz sogar für das
Verhalten sanktioniert, also bestraft.
In der systemischen Beratungsarbeit wird, wie wir nun wissen, in der Regel eine
Gruppe von mehreren Menschen beraten, z. B. Familien, Teams, Paare, Gruppen
oder auch größere Organisationsformen. Es ist aber auch möglich, innerhalb der
systemischen Beratung von Einzelklienten dessen Lebensumfeld in das Setting
mit einzubeziehen. Hierzu gibt es Methoden, die den Kontext des Klienten im
Raum visualisieren und somit das System mit seinen Beziehungen in irgendeiner
Form sichtbar machen. Sie werden sehen, dass die Grundprinzipien systemischen
Denkens und Handelns zwar in unterschiedlichen Methoden ihre Umsetzung er-
halten, diese sich jedoch als grundlegende Sichtweisen und Haltungen in allen
Methoden widerspiegeln.
Die nachfolgende Darstellung der historischen Entwicklung der systemischen
Therapie und Beratung wird Ihnen nicht nur den Hintergrund aufzeigen, vor dem
diese Denkweise überhaupt entstehen konnte. Sie wird Ihnen auch in verständli-
cher Weise aufzeigen, worum es beim systemischen Ansatz mit Bezug zur Thera-
pie und Beratung eigentlich geht. Sie werden erfahren, wie viele verschiedene
Einflüsse in den systemischen Ansatz hineingewirkt haben und auf welche Weise
sich das breite Spektrum der Umsetzungen des systemischen Gedankens entwi-
ckelt hat. Dabei wird auch die Abgrenzung zu anderen therapeutischen Ansätzen
deutlich.

Merke:

 Bei der systemischen Vorgehensweise wird der Mensch immer in seinem


Beziehungskontext, in den er eingebunden ist, gesehen und behandelt. In-
nerhalb dieses Kontextes wird nach Erklärungen und Veränderungsansät-
zen gesucht.
 In der systemischen Beratungsarbeit wird in der Regel eine Gruppe von
mehreren Menschen beraten.

6
Einführung in die systemische Beratungsarbeit 1371

2. Historische Entwicklung der Systemischen


Therapie und Beratung
Bereits in den frühen Ansätzen von Sozialarbeit und Psychotherapie gab es Vor-
stellungen darüber, dass Erkrankungen, Symptome und Auffälligkeiten von Men-
schen auch mit den Familien, in den sie leben oder gelebt haben, oder mit anderen
sozialen Bezügen zu tun haben. So finden sich in der Literatur des späten
19. Jahrhunderts bereits durchaus kritisch formulierte Hinweise darauf, dass man
in einem größeren Kontext Symptome verstehen und behandeln müsste als ledig-
lich die von Einzelpersonen.
Es gab jedoch stets die Tendenz, trotz dieses Wissens, den Einzelnen für sein
Problem und dessen Erkrankung verantwortlich zu machen. Es war aus gesell-
schaftlichen Gründen im 18., 19. und 20. Jahrhundert so gut wie unmöglich, El-
tern eines schwierigen Kindes mit in die Verantwortung zu nehmen oder einen
Lehrer, der seine Schüler misshandelte, als ungünstige Kontextbedingungen für
die Entwicklung eines Kindes zu definieren und mit in die Behandlung einzube-
ziehen.
Hier musste gewartet werden, bis die gesellschaftlichen Bedingungen, in denen
sich auch Medizin, Psychologie und Fürsorge (Jugendhilfe) vollzogen, Offenheit
und Freiheit ermöglichten. Auf diese Weise konnte man dann von zunächst indi-
viduellen Defiziten nachfolgend zuerst auf das Familienumfeld und im Rahmen
der Kontexterweiterung auch auf erweiterte Systembedingungen wie z.B. Schule,
Kindergarten oder Arbeitswelt blicken.
Diese Ansätze mit einer erkennbaren Nähe und Vergleichbarkeit zu unseren heu-
tigen Beratungs- und Hilfesystemen entwickelten sich in den 20er-Jahren des letz-
ten Jahrhunderts weiter. Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts, also zeitlich etwas
früher und auch parallel zur Entstehung solcher Beratungs- und Hilfesysteme,
entwickelte sich die „psychologische Seite“, dies vor allem mit dem Einsetzen der
Psychoanalyse. Behandelt wurden in der Psychoanalyse immer Einzelpersonen.
Hier wurden in verschiedenen Theorieansätzen bereits Hypothesen über Wech-
selwirkungen zwischen Störungen, Position und Rolle der Patienten in Beziehung
zu anderen Familienmitgliedern formuliert. Aber der Behandlungsrahmen zur
Einbeziehung solcher beziehungsbedingten Wechselwirkungen war in dieser Zeit
noch nicht entwickelt.
Erst in den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts formten sich die ersten wissenschaft-
lich fundierten und strukturierten Formen der Behandlung von psychisch erkrank-
ten Patienten im Zusammenhang mit ihren Familien. Dabei entstanden For-
schungsgruppen, die verschiedene Wissenschaftsrichtungen zusammenbrachten
und sich interdisziplinär damit auseinandersetzten, was sie bei diesen Formen der
Behandlung beobachteten. Sie gingen – als Pioniere auf ihrem Gebiet – vielfach
auch experimentell vor. Manchmal war es die reine Ratlosigkeit in der Behand-
lung schwer gestörter Menschen, die bei den Therapeuten die Idee und den da-
mals noch erforderlichen Mut weckten, die Eltern oder Familien zu Gesprächen
einzuladen. Im Zuge der Forschung wurde allerdings durch sehr genaue wissen-
schaftliche Beobachtung und Dokumentation der Behandlungsverläufe rasch deut-
lich, dass die vorhandenen Bindungen, Beziehungen und Kommunikationsformen

7
Einführung in die systemische Beratungsarbeit 1371

innerhalb von Familien die Störungen bzw. Erkrankungen stark zu beeinflussen


scheinen. Aus diesen Erkenntnissen entwickelten sich unterschiedliche familien-
therapeutische Schulen, und schließlich wurde hiermit eine familientherapeutische
Forschung und Theoriebildung ins Leben gerufen. Damit war die Familienthera-
pie geboren.
Ganz wesentlich vollzog sich diese Entwicklung hin zur Familientherapie zu-
nächst in den USA. Im Unterschied zur Psychoanalyse gab es nicht die einzigarti-
ge Gründerpersönlichkeit (wie Freud), sondern Gruppen mit wichtigen, prägenden
Persönlichkeiten. Um Ihnen einige wichtige Namen zu nennen, sind hier zu er-
wähnen: Theodor Lidz, Nathan Ackermann, Carl Whitacker, Lymann Wynne,
Murray Bowen, Ivan Boszormenyi-Nagy, Virginia Satir, Gregory Bateson, Jay
Haley, Salvador Minuchin und Paul Watzlawick. Im deutschsprachigen Raum
hatten vor allem Paul Watzlawick und Helm Stierlin nachhaltigen Einfluss auf die
Entwicklung therapeutischer und beratender Ansätze.

2.1 Paul Watzlawick


Paul Watzlawick wurde in Österreich geboren und ist in Deutschland sehr be-
kannt. Er hat auf eine interessante Art und Weise seine Forschungen, vor allem im
Bereich des sogenannten Konstruktivismus, einer philosophischen Denkrichtung
(siehe unten), durch sein Buch „Anleitung zum Unglücklichsein“ auch breiteren
Schichten von Interessenten zugänglich gemacht. Der Konstruktivismus ist eine
wichtige Grundlage für die systemische Denkweise. Was Konstruktivismus ist,
erfahren Sie weiter unten in diesem Studienbrief. Die folgende, vergnügliche und
lehrreiche Geschichte aus Watzlawicks Buch kann Ihnen aber jetzt schon einmal
verdeutlichen, was mit Konstruktivismus gemeint ist und wie ein jeder Mensch
praktisch und alltäglich danach lebt und handelt:

„Der Mann mit dem Hammer“

Ein Mann will ein Bild aufhängen. Den Nagel hat er, nicht aber den Hammer.
Der Nachbar hat einen Hammer. Also beschließt unser Mann, zum Nachbarn zu
gehen und sich den Hammer auszuborgen. Doch da beschleicht ihn ein Zweifel:
Was, wenn der Nachbar mir den Hammer nicht leihen will? Gestern schon
grüßte er nur so flüchtig. Vielleicht war er in Eile. Aber vielleicht war die Eile
nur vorgeschützt und er hat im Grunde etwas gegen ihn. Aber was könnte der
Nachbar nur gegen ihn haben? Er hat ihm doch nichts angetan; der Nachbar
bildet sich da etwas ein. Wenn jemand von ihm ein Werkzeug borgen wollte, er
gäbe es ihm sofort. Und warum sein Nachbar nicht? Wie kann man einem
Mitmenschen einen so einfachen Gefallen ausschlagen? Leute wie dieser Kerl
vergiften einem das Leben. Und dann bildet der Nachbar sich noch ein, er sei
auf ihn angewiesen. Bloß weil er einen Hammer hat. Jetzt reicht`s ihm aber
wirklich. Und so stürmt er hinüber, läutet, der Nachbar öffnet, doch bevor er
„Guten Morgen“ sagen kann, schreit ihn unser Mann an: „Sie können Ihren
Hammer behalten, Sie Rüpel!“

Aus: Paul Watzlawick: Anleitung zum Unglücklichsein“, Piper & Co., München, 1983.

8
Einführung in die systemische Beratungsarbeit 1371

Wie Sie sehen, braucht unser Mann gar keinen „realen“ tatsächlich geschehenen
Anlass, um wütend zu werden und um sich dann so zu verhalten, wie er es tut. Es
genügt ihm eine gedankliche, eine innere Konstruktion einer „Wirklichkeit“ auf
Basis eigener Annahmen, Deutungen und Vorstellungen. Unser Mann schafft sich
sozusagen seine eigene „Welt“, innerhalb derer er sein Handeln ausrichtet.

Merke:

Dass Menschen nicht danach handeln, wie die Welt „wirklich“ ist, sondern
danach, wie sie ihre jeweilige Wirklichkeit in Kommunikation und Interaktion
mit der Umwelt (also der realen Welt) konstruieren, ist eine der wichtigsten
Grundannahmen systemischen Denkens.

2.2 Helm Stierlin


Der 1926 geborene deutsche Psychiater und Psychoanalytiker Wilhelm Paul Stier-
lin reiste in den 1950er-Jahren als Psychoanalytiker in die USA und hat dort circa
15 Jahre lang gearbeitet. Er hat in dieser Zeit diese oben beschriebene Entwick-
lung hin zur Familien- und Systemtherapie mit vollzogen und persönlich durch-
lebt.
Stierlin hat 1974 die bekannte „Heidelberger Schule“ begründet und war seitdem
Inhaber des Lehrstuhls für Psychoanalytische Grundlagenforschung und Familien-
therapie in Heidelberg sowie Direktor des entsprechenden Universitätsinstituts.
Dort hat sich in den 1980er-Jahren eine Forschergruppe gebildet, die für die Ein-
führung und Übernahme von familien- und systemtherapeutischen Erkenntnissen
in den deutschen Sprachraum verantwortlich zeichnete.
Die Heidelberger Schule war in Forschung und Theoriebildung fortan in Deutsch-
land, Europa, aber auch weltweit an wichtigen Entwicklungen der Systemtherapie
beteiligt. Im Jahre 1983 wurde die internationale „Gesellschaft für Systemische
Therapie“ in Heidelberg gegründet. Die Forscher der Heidelberger Schule schlos-
sen sich in dieser Gesellschaft zusammen, um Ausbildungscurricula für die Praxis
zu entwickeln. Dort wurden seitdem Ärzte, Psychologen, Pädagogen, Sozialpäda-
gogen und Sozialarbeiter für die Praxis der Familientherapie und später der Sys-
temtherapie ausgebildet.

2.3 Weitere Entwicklungsschritte der systemischen


Beratung
Bereits vor der Entstehung der Gesellschaft für Systemische Therapie im Jahre
1975 wurde das älteste Ausbildungsinstitut für Familientherapie Deutschlands in
Weinheim gegründet. Im Unterschied zur Heidelberger Schule war das „Wein-
heimer Modell“ weniger wissenschaftlich orientiert, sondern von Beginn an auf
die Einbindung der Familientherapie in die Praxis unterschiedlicher Hilfs- und
Beratungskontexte ausgerichtet. Das „Weinheimer Modell“ versteht sich als ein
integrativer Ansatz. Dies bedeutet, dass verschiedene Entwicklungen der systemi-
schen Arbeit vom Lehrtherapeuten-Team in die Ausbildung integriert wurden.

9
Einführung in die systemische Beratungsarbeit 1371

In der Folge haben sich in den letzten 35 Jahren in Deutschland in allen größeren
Städten und Regionen private Institute und gemeinnützige Vereine gebildet, die in
Familien- und Systemtherapie ausbilden.
Eine universitäre Ausbildung hat sich bislang in Deutschland noch nicht etabliert,
wenn auch gerade in den letzten Jahren Ansätze hierzu an verschiedenen Hoch-
schulen und Fachhochschulen unternommen wurden. Hintergrund dafür dürfte vor
allem sein, dass die systemische Therapie in Deutschland bis zum Jahre 2008 von
den entsprechenden öffentlichen Organen nicht als wissenschaftlich anerkanntes
Psychotherapieverfahren angesehen wurde, wie es in den USA und im europäi-
schen Ausland bereits lange der Fall war. In Folge dessen wird die Familien- und
Systemtherapie nicht über die Krankenkassen finanziert, sodass dieses Therapie-
angebot einem großen Teil der Bevölkerung aufgrund der hohen Therapiekosten
nicht zugänglich ist.
Es haben sich allerdings aus diesem Umstand heraus Nischen gebildet, in denen
sich Familien- und Systemtherapie und in einem weiteren Schritt auch die syste-
mische Beratung in unterschiedlichen Anwendungsfeldern gut etablieren konnte.
Das entspricht der systemischen Grundhaltung: „Handle immer so, dass sich die
Anzahl der Möglichkeiten erweitert.“ Diese Haltung, die hier die ganze Bewe-
gung und Entwicklung systemischer Arbeit in Deutschland erfasste, führte zu ei-
ner großen Vielfalt im Arbeitsfeld.
In der Jugendhilfe entwickelte sich z. B. eine solche Nische. Dort wurde die
Wirksamkeit des systemischen Ansatzes bereits früh erkannt. Und zwar deshalb,
weil gerade die Jugendhilfe nicht daran interessiert ist, Kinder und Jugendliche
bereits in jungen Jahren nach einem klassischen Krankheitsverständnis auf ein
bestimmtes Krankheitsbild festzuschreiben, zu kategorisieren und damit auch zu
chronifizieren. In Beratungsstellen und in besonderen Settings, wie beispielsweise
der aufsuchenden Familientherapie (also der Therapie am Wohn- und Lebensort
der Betroffenen), wurde systemische Therapie angeboten. Dort war sie rechtlich
abgesichert, wurde finanziert und insbesondere in der aufsuchenden Form auch
Familien zugänglich, die in sehr prekären Lebenslagen waren und sonst keinen
Zugang zu Psychotherapie gehabt hätten.
Die Tatsache, dass die klassischen Heilberufe wie Ärzte und Psychologen in den
von den Krankenkassen finanzierten Systemen mit systemischer Therapie kein
Geld verdienen konnten, führte zu einer starken Öffnung und Frequentierung des
systemischen Arbeitens innerhalb der helfenden Berufe, also der Sozialarbeit und
Sozialpädagogik. Hiermit war es möglich, die Methoden aus der systemischen
Therapie erfolgreich in die helfenden Felder zu implementieren. In diesem Sinne
entstand eine sehr kraftvolle dynamische Wechselwirkung zwischen systemischer
Forschung, systemischer Lehre und systemischer Praxis.
Daraus entwickelte sich schließlich die „Systemische Beratung“, die dem Hel-
fenden und dem Hilfesuchenden heute zahlreiche Möglichkeiten bietet, in einer
guten Beziehung zueinander die Anliegen des Hilfesuchenden zu verstehen und
zu behandeln. Die Forschung und Lehre verstärkten und unterstützten den Ansatz,
sodass in der Beratungsarbeit die Beziehung zwischen Berater und Klient das
zentrale und wichtigste Moment innerhalb der Beratungs- und Therapiearbeit ist.

10
Einführung in die systemische Beratungsarbeit 1371

Dieses Postulat der Beziehungsorientierung wird im Folgenden als eine zentrale


Aussage der systemischen Theoriebildung und Praxisarbeit weiter unten ausführ-
lich beschrieben.
Diese Beziehungsorientierung führte dazu, dass über den Anspruch von Therapie
und der darin implizierten „Heilung“ hinaus das systemische Arbeiten mit seinen
Sichtweisen, Haltungen und Methoden in den helfenden Feldern generell sehr
gute Wirkungen erzielte.
Die aus der Praxis gewonnene Erkenntnis, dass der beziehungsorientierte Bera-
tungsansatz Menschen überall dort sehr gut unterstützen kann, wo sie in enger
Beziehung zueinander stehen und Entwicklungsschritte für sich vorantreiben wol-
len, hat in Folge dessen weitere Beratungsformen hervorgebracht:
 Systemische Supervision,
 Systemisches Coaching,
 Systemische Organisationsberatung,
 Systemische Pädagogik und
 Systemische Mediation.
Grundlage hierfür ist jeweils die Qualifikation „Systemische Beratung“.

Merke:

Das zentrale Element in der systemischen Beratungsarbeit ist die Beziehungs-


orientierung, die Beziehung zwischen Berater und Klient.

Die Vielfältigkeit der Felder, in denen systemisch gearbeitet und differenziert


ausgebildet wird, hat auch damit zu tun, dass innerhalb der Organisationen der
Lehre in privaten Instituten die Kreativität durch staatliche und gesetzliche Rege-
lungen nicht unnötig eingeschränkt wurde.
Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang mit Blick auf kreative Entwick-
lung einerseits und Qualitätssicherung andererseits die beiden großen Dachver-
bände „Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familien-
therapie (DGSF)“ und „Systemische Gesellschaft (SG)“. Diese beiden Dachver-
bände sichern nicht nur die Qualität der Lehre und repräsentieren die Institute in
der Fachdiskussion. Sie führen auch Praktiker, Lehrende und Forschende im sys-
temischen Feld zusammen. Der oben beschriebene dynamische Wechselwir-
kungsprozess (zwischen Praxis, Forschung, Lehre) bekommt so durch die Dach-
verbände eine Plattform und ein Forum, in dem die Akteure aus Praxis, Lehre und
Forschung vernetzt sind, miteinander kommunizieren können, ohne durch staatli-
che Vorgaben zu stark eingeschränkt zu sein.

11
Einführung in die systemische Beratungsarbeit 1371

Fragen:

1. Wann gab es erste Überlegungen, auffällige und kranke Menschen


zusammen mit ihren Familien und ihrem Umfeld zu behandeln?

2. Welche Bedingungen mussten sich erst entwickeln, bevor eine Behandlung in


Familien möglich wurde?

3. Was beobachteten die Familientherapeuten in ihrer frühen Arbeit als starke


Einflussfaktoren auf die Krankheitsverläufe ihrer Patienten?

4. Seit wann und durch wen wurde in Deutschland die Familientherapie in


Wissenschaft und Lehre eingeführt?

5. Wie wird in Deutschland bislang die Qualität der Ausbildung zur


systemischen Beratung gesichert?

12
Einführung in die systemische Beratungsarbeit 1371

3. Philosophische Wurzeln der systemischen


Therapie und Beratung
Wenn von den philosophischen Wurzeln der systemischen Therapie und Beratung
gesprochen wird, dann müssen verschiedene Namen und philosophische Ansätze
genannt werden, denn es gibt eine Vielzahl unterschiedlicher Einflüsse, die sys-
temische Therapie und Beratung geprägt haben.
 Heinz von Foerster und Ernst von Glaserfeld sind Vertreter des Konstruk-
tivismus,
 Niklas Luhmann ist Vertreter einer soziologisch, kommunikationstheo-
retischen Soziologie,
 Humberto Maturana und Francisco Varela haben eine biologische Sys-
temtheorie begründet.
 Gregory Bateson war Anthropologe und Philosoph. Er hat unmittelbaren
Einfluss auf die System- und Familientherapie gehabt, weil er sehr di-
rekt in die Gruppe der frühen Familientherapeuten in den USA eingebun-
den war (s. o.).

3.1 Konstruktivismus
Erinnern Sie sich noch einmal an die Geschichte vom Mann mit dem Hammer,
der einzig auf Grundlage seiner Annahmen und Deutungen, nicht aber auf Grund-
lage von „objektiven“ Tatsachen handelte. Diesen Sachverhalt kann der Konstruk-
tivismus gut erklären.
Dieses philosophische Modell geht davon aus, dass jeder Mensch sich auf der
Grundlage seiner individuellen Wahrnehmungen in jedem Moment immer selbst
ein Bild von der Welt macht und sich somit ein Modell von der Welt erzeugt. Die-
ses Bild ist rein subjektiv und einzigartig. Das liegt daran, dass jeder Mensch die
Welt unterschiedlich wahrnimmt, indem er andere Wahrnehmungsfilter nutzt,
andere Vorerfahrungen einbezieht, andere Kontexte vorfindet, andere Wertungen,
Deutungen und Schlussfolgerungen vornimmt etc.
Das bedeutet, dass bei einer gleichen Reizsituation Menschen zwar ähnliche sub-
jektive Abbilder der Situation, der „tatsächlichen Welt“, konstruieren, nie aber
exakt dieselben. Somit können Menschen nicht dieselbe, sondern eine gleiche,
sich ähnelnde Wirklichkeit haben. So sind auch Weltmodelle unserer Klien-
ten/Kunden nicht die gleichen wie unsere als Therapeuten/Berater. Jeder Mensch
lebt also in seiner subjektiven Welt und handelt entsprechend (s. „Der Mann mit
dem Hammer“).
Die wesentliche Denkrichtung im Konstruktivismus ist auf den Prozess gerichtet.
Das bedeutet, dass es bei der Erklärung von Phänomenen nicht um das WAS geht
(was sehen wir?), sondern um das WIE (wie geschieht es?). Wie ist das, was wir
wahrnehmen, innerlich entstanden, welcher innere Prozess hat dazu geführt, dass
ich es so wahrnehme? Der Mann mit dem Hammer hat beispielsweise innerlich
verschiedene Erinnerungen abgerufen und sie in bestimmter Weise gedeutet und

13
Einführung in die systemische Beratungsarbeit 1371

in Zusammenhang gebracht. Bis am Ende für ihn klar war, dass der Nachbar ein
Rüpel ist, der ihm nur das Leben vergiften möchte.
Um eine Sache zu begreifen, ist es notwendig zu verstehen, wie sie entstanden ist,
wie sie funktioniert und wirkt. Es geht also um sogenannte prozessuale Fragen. Es
geht um den Weg, wie sich ein Phänomen entwickelt hat, welche Faktoren den
Weg beeinflusst haben und wie das entstandene Phänomen wiederum die Fakto-
ren und den Weg beeinflusst. Das ist es, was untersucht wird. Diese Wechselwir-
kungen sind zentraler Bestandteil der Erforschung.
Besondere Bedeutung erhält diese Denkweise dadurch, dass der Beobachter selbst
zum Gegenstand der Erforschung wird, weil er durch seine Beobachtung zum Teil
des Prozesses wird. Es gibt damit keine vom Beobachter unabhängige Realität
und damit keine objektive Erkenntnis. Dieser Gedanke wird Ihnen in den konkre-
ten systemischen Vorgehensweisen und Methoden immer wieder begegnen.

Stellen Sie sich vor:

Sie hören in der Rolle des Beraters die Schilderung eines Anliegens von Ihrem
Klienten. Dann können Sie das Geschilderte nur vor dem Hintergrund Ihrer
Vorerfahrungen verstehen, auf die Sie während des Zuhörens zurückgreifen.
Dabei handelt es sich in der Regel um eigene Erlebnisse, Informationen, die Sie
aus zweiter Hand über Medien etc. erhalten haben, Ihre Wahrnehmungsfilter,
Einstellung und all das, was zu Ihrer Weltsicht gehört.
Auf diesem Hintergrund verarbeiten Sie die Informationen Ihres Klienten. Auf
Ihre ureigene, ganz individuelle Art. Dann stellen Sie dem Klienten wiederum
Ihre Sicht in Form einer Antwort oder einer anderen Reaktion zur Verfügung.
Das hat nun wieder einen Einfluss auf Ihren Klienten, der wiederum genauso
subjektiv Ihre Antwort bzw. Reaktion wahrnimmt, „liest“ und deutet. Somit
sind Sie beide Teil eines Systems, nehmen wechselseitig aufeinander Einfluss
und sind keineswegs ein „außenstehender“ oder gar objektiver Beobach-
ter/Berater.

Der radikale Konstruktivismus begründet, dass jede Form von Wahrnehmung


rein subjektiv ist. Eine Übereinstimmung von wahrgenommenem, selbst konstru-
iertem inneren Bild und der Realität ist unmöglich (z. B. ist die Farbe Rot nicht
für alle Betrachter gleich rot). Daraus ergeben sich Phänomene, die in der prakti-
schen Beratung eine sehr wichtige Bedeutung erlangt haben, nämlich dass erlebte
Situationen in Familien oder Gruppen von den Anwesenden vollkommen unter-
schiedlich berichtet werden. Diese Unterschiedlichkeit muss als Informationsviel-
falt für den Beratungsprozess genutzt werden.
Im Unterschied zu anderen, im Alltag vielleicht gewohnteren Denkweisen, geht es
damit auch nicht mehr um polarisierende oder wertende Einordnungen wie wahr–
unwahr, vollständig–unvollständig, sinnvoll–unsinnig oder krank–gesund und
ähnliche, sondern vielmehr um Vielfalt und Multiperspektivität.

14
Einführung in die systemische Beratungsarbeit 1371

Jede Sichtweise, was auch immer sie darstellt, wird gleichermaßen als eine mögli-
che von vielen und als jeweils relevante Information für das System verstanden.
Und es geht letztlich darum, diese Vielfalt für den Beratungsprozess zu nutzen.

Merke:

Die konstruktivistische Denkweise sagt aus, dass der Mensch sich seine eigene,
subjektive Wirklichkeit, sein eigenes Modell von der Welt konstruiert und
entsprechend sein Verhalten danach ausrichtet und nicht danach, wie die Welt
„wirklich“ ist. Dies gilt auch und insbesondere für den Beratungskontext.

3.2 Soziologische Systemtheorie


Niklas Luhmann ist eine weitere, auf die Entwicklung der systemischen Therapie
und Beratung einflussnehmende Größe. Er hat eine soziologische Systemtheorie
entworfen. Diesem Modell entsprechend ist die Gesellschaft ein durch Kommuni-
kation entstandenes Gebilde, deren Teile, also einzelne Systeme, durch Kommu-
nikation miteinander verbunden werden, erhalten bleiben, vergehen und sich aus-
differenzieren.
Seine Theorie besagt, dass einzelne Systeme jeweils nur für sich und in sich han-
deln und agieren können. Ein System kann also nicht in einem anderen System
handeln. Insofern sind Systeme – in operativer Hinsicht – geschlossen. Offen sind
sie in kognitiver Hinsicht. Damit ist gemeint, dass sie durchaus miteinander in
Verbindung stehen, kommunizieren und interagieren können.
Diese Art der Verbindung zwischen Systemen nennt Luhmann „Strukturelle
Kopplung“. Das Medium dafür ist die Sprache. Systeme sind also über Sprache
und Kommunikation strukturell aneinander gekoppelt. Psychische Systeme, phy-
sische Systeme und soziale Systeme sind solche gegenseitig aneinander gekoppel-
ten „Umwelten“.
Zusammenfassend kann man sagen, dass die soziologische Systemtheorie Infor-
mationen über das Zusammenwirken von Systemen erforscht und beschrieben hat.
Diese Informationen werden in vielen Bereichen der Psychologie bei der Arbeit
mit Menschen sowie bei der Arbeit in Organisationen genutzt und fließen in sys-
temisches Denken und Handeln mit ein, auch im Kontext systemischer Beratung
und Therapie.
Eine Darstellung der soziologischen Systemtheorie kann hier nicht umfassend
erfolgen, da dies den Rahmen eines Einführungstextes sprengen würde. Der An-
satz war aber für die Weiterentwicklung systemischer Denk-, Handlungs- und
Beratungsansätze prägend.
Hier sollen zunächst einmal die zentralen Begriffe genannt werden, um Ihnen eine
Einordnung in den Verlauf der Entwicklung der systemischen Beratungsarbeit zu
ermöglichen. Als zentrale Begriffe der soziologischen Systemtheorie, die in der
Praxis der systemischen Beratung konkret Bedeutung haben, sind zu nennen:

15
Einführung in die systemische Beratungsarbeit 1371

 Beobachtung
 Kommunikation
 Resonanz
 strukturelle Kopplung
Diesen Begriffen werden Sie immer wieder begegnen.

3.3 Biologische Systemtheorie


Ein weiterer Impulsgeber war Humberto Maturana, ein chilenischer Biologe, der
einen biologischen Zugang zur Systemtheorie hatte. Gleichzeitig verstand er sich
aber auch immer als Philosoph. Er entwickelte das Konzept der sogenannten Au-
topoiese und leistete damit einen sehr wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung
der Systemtheorie.
Das Konzept der Autopoiese beschreibt nicht die Eigenschaften eines lebenden
Systems (z. B. hat einen Kopf und vier Beine …), sondern einen Prozess. Auto-
poiesis bedeutet übersetzt „selbst erschaffen, selbst erhalten“. Autopoietische Sys-
teme sind also so beschaffen, dass sie sich selbst erzeugen, sich selbst aufrecht-
erhalten und selbst entscheiden, ob und wie sie auf äußere Beeinflussungsversu-
che reagieren.
Autopoietische Systeme (dazu gehören z. B. Menschen und Säugetiere) sind re-
kursiv organisiert. Damit ist gemeint, dass im System immer wieder die gleichen
Funktionen ausgeführt werden, in immer wiederkehrenden Schleifen.
Alle Systemelemente sind ständig mit dem Erhalt des Systems befasst und alle
Fähigkeiten, die vorhanden sind, dienen einzig dem Ziel des Systemerhalts. Dabei
sind die Teile und Fähigkeiten des Systems so aufeinander bezogen, dass sich ein
Gleichgewicht im Organismus einstellt.
Dieses Gleichgewicht erhält - im positiven Falle - einen gesunden Organismus
über lange Zeit am Leben. Der Prozess des Existierens (des Lebens) besteht im
Wesentlichen darin, die zum Leben notwendigen Bestandteile herzustellen und
die Organisation der Bestandteile zueinander so sicherzustellen, dass die Existenz
des Systems und seiner einzelnen Teile ermöglicht wird. Erzeuger (des Systems)
und Erzeugnis (das System) sind dabei nicht voneinander zu trennen. Das Sein
und das Tun eines Systems sind eins. Ein Organismus funktioniert also unter gu-
ten Bedingungen über längere Zeit, indem er, wie oben beschrieben, selbst für
seine Erhaltung sorgt. Wenn ein Reiz von außen einwirkt, der diese günstigen
Bedingungen verändert, reagiert der Organismus und versucht, seinen Gleichge-
wichtszustand wiederherzustellen.
Ein einfaches Beispiel ist ein Körper, der auf eine Entzündung mit Fieber reagiert.
Bei diesem einfachen Beispiel könnte man sehr differenziert die inneren Prozesse
aufschlüsseln, die als Reaktion auf eine solche Störung erfolgen, und würde auf
sehr komplexe Abläufe stoßen, an denen viele Systemteile beteiligt sind, um das
ganze System stabil und am Leben zu erhalten.

16
Einführung in die systemische Beratungsarbeit 1371

Fragen:

6. Was sind die zentralen Strömungen der Philosophie, die zur Theoriebildung
von Familientherapie und systemischer Beratung beigetragen haben und wer
sind die wichtigsten Vertreter?

7. Was sagen konstruktivistische Denkansätze über Wahrnehmung aus und


welche Auswirkungen hat das auf die praktische Beratungsarbeit?

8. Was sind psychische Systeme, physische Systeme und soziale Systeme


füreinander und wie stehen diese Systeme im Austausch untereinander?

9. Worin besteht der Prozess des Existierens (Lebens) gemäß der Autopoiese?

17
Einführung in die systemische Beratungsarbeit 1371

4. Systemtheorie
Wie bis hierhin schon deutlich wurde, ist die Systemtheorie ein interdisziplinäres
Erkenntnismodell zur Erklärung komplexer Phänomene1, welches in vielen ver-
schiedenen Forschungs- und Wissenschaftsbereichen Anwendung findet. Dabei
erforscht die Wissenschaft der Systemtheorie nicht die Eigenschaften eines be-
stimmten Phänomens, wie gut oder böse, sondern sie hat die Prozesse und deren
Auswirkungen im Blick, die ein Phänomen mit sich bringt (z. B. die Wirkung von
Verhaltensweisen).

Die Rolle des Beraters in der Systemtheorie


Die Wahrnehmung des Beobachters ist an dieser Stelle von besonderer Bedeu-
tung: Sie ist entscheidend für das Ergebnis und die Erkenntnis, die sich aus einer
Beobachtung ergibt. Denken Sie noch einmal an das Beispiel mit dem Hammer,
bei dem deutlich wurde, dass der Mensch sich sein eigenes Bild von der Wirk-
lichkeit macht und danach sein Handeln ausrichtet. Diesen Umstand bezieht die
Systemtheorie mit in ihre Überlegungen ein und macht ihn zum zentralen Be-
standteil ihrer Betrachtung. Man spricht von der Systemtheorie 2. Ordnung und
deren Kernbegriff „Die Beobachtung des Beobachters“.
Erklärend hierzu sei ausgeführt, dass nach dieser Aussage der Systemtheorie jeder
Berater immer auch ein Beobachter ist. Er muss sich darüber bewusst sein, dass
seine Beobachtungen und die Bedeutungen, die er diesen zuweist, lediglich sein
eigenes, inneres Bild widerspiegeln und somit seine Interpretationen der Beobach-
tung darstellen. Und diese subjektive Interpretation stellt er dann seinen Klien-
ten/Kunden zur Verfügung. In diesem Zusammenhang muss er auch die Klienten,
die er berät, als Beobachter des Systems berücksichtigen, die ebenfalls ihre sub-
jektiven Interpretationen in den Beratungsprozess einbringen.
Für die Arbeit mit Einzelklienten und Gruppen (wie Familien) sowie für das Rol-
lenverständnis des Beraters hat die Beobachtungsinterpretation eine wichtige Be-
deutung: Der Beobachter des Systems, also z. B. der Berater, ist verantwortlich
für die Bedeutung, die er dem gibt, was in einem Beratungsgespräch geschieht,
und dafür, was er als Berater darüber sagt.
Im Umkehrschluss wird jedes Familienmitglied – oder jeder Einzelklient – aus
seiner Position heraus die Ergebnisse eines Beratungsgesprächs unterschiedlich
deuten. Über die Bedeutungszuweisung durch den Klienten hat der Berater keine
Kontrolle.
Es besteht hierbei lediglich die Möglichkeit, dass der Berater sich sozusagen als
„Umwelt“ (Kontext) seinem Klienten für den Beratungszeitraum zur Verfügung
stellt. Oder man könnte auch sagen, er erweitert durch seine Anwesenheit das Sys-
tem des Klienten und bildet so für die Beratungsdauer ein neues System, nämlich
ein „Hilfesystem“.

1
Als Phänomene im systemischen Sinne verstehen wir an dieser Stelle alle Interaktionen und
Wirkungsweisen zwischen Einzelpersonen und deren Systemzugehörigkeit (z. B. Familie, Schul-
klasse etc.), innerhalb vom System (unterhalb aller Systemmitglieder z. B. Vater, Mutter, Kinder,
Geschwister etc.) sowie zwischen System und deren Umwelt.

18
Einführung in die systemische Beratungsarbeit 1371

Beides dient lediglich dazu, das natürliche und auf Zeit angelegte System zu er-
halten. So ist die konkrete Erfahrung als Berater von Familien oder Gruppen da-
von gekennzeichnet, dass der Beratungsprozess vonseiten des Klienten beendet
wird, sobald die Beraterimpulse des Beraters vom Klienten als zu stark, irritierend
oder als gefährdend empfunden werden. Dies hat den Grund, dass sich das System
„zur Wehr“ setzt und somit die auf Zeit angelegte Beratungs- und Begleitungsbe-
ziehung beendet wird.
Das macht noch einmal deutlich, dass sowohl Klienten, Gruppen und Familien
gleichermaßen die Verantwortung für den Beratungsprozess haben und der Bera-
ter lediglich ein eingeladener Beobachter des Prozesses ist, den man bittet, seine
Beobachtung kundzutun.
Die Techniken des systemischen Arbeitens, die sich im Laufe der Zeit entwickelt
haben, bilden diese Theorie ab. Sie sind darauf ausgerichtet, die eigenen Leistun-
gen des Systems wertzuschätzen, zu würdigen und vielfach durch Hinterfragen
bestimmter Muster die Entwicklung neuer Handlungs- und Verhaltensmöglichkei-
ten aus dem bereits vorhandenen Material voranzubringen.
Die Systemtheorie beschreibt vor allem die Rolle des Beraters in einem System,
in dem er beraten soll:
 Wie ist der Berater im System eingebettet?
 Welche Möglichkeiten hat er, wenn er selbst als Teil des Systems verstan-
den wird?
 Wie wirken die Entwicklungen und Dynamiken eines Systems wiederum
auf den Berater zurück?
Aus dieser Perspektive heraus sind verschiedene Handlungsmöglichkeiten und
Methoden der Beratung und Therapie entstanden. Diese wurden in sogenannten
Schulen mit verschiedenen Schwerpunkten erarbeitet und weiterentwickelt. Diese
Schulen sind neben den theoretischen Grundlagen und wissenschaftlichen Ansät-
zen in der unten stehenden Grafik im Überblick dargestellt.

Merke:

 Die Systemtheorie erforscht nicht Eigenschaften eines bestimmten Phä-


nomens, sondern Prozesse und deren Auswirkungen, die ein Phänomen
mit sich bringt.
 Nach der Systemtheorie ist jeder Berater immer auch ein Beobachter.
 Klienten, Gruppen und Familien haben die Verantwortung für ihren Pro-
zess. Der Berater ist lediglich ein eingeladener Beobachter des Prozesses,
den man bittet, seine Beobachtung kundzutun.

19
Einführung in die systemische Beratungsarbeit 1371

Die nachfolgende Grafik gibt Ihnen zunächst eine Übersicht über die Wurzeln der
modernen systemischen Psychotherapie. Sie zeigt die wissenschaftlichen und phi-
losophischen Wurzeln auf, die bis hierhin bereits angesprochen wurden sowie die
verschiedenen Therapieschulen, die mit diesen Wurzeln verbunden sind und die
Sie im Folgenden noch kennenlernen werden.

Abb. 1: Die Wurzeln der systematischen Psychotherapie in Anlehnung an Klaus Mücke

20
Einführung in die systemische Beratungsarbeit 1371

Fragen:

10. Wenn die Systemtheorie nicht nach Eigenschaften fragt, wonach fragt sie
dann?

11. Benennen Sie den Kernbegriff der Systemtheorie 2. Ordnung.

12. Welche Möglichkeiten der Steuerung hat der Berater, wenn es um die
Bedeutungsgebung der Beratungsinhalte durch den Klienten/Kunden geht?

21
Einführung in die systemische Beratungsarbeit 1371

5. Familientherapie ‒ Vorläufer der systemischen


Beratung/Therapie
Die Familientherapie ist das Feld, in dem die oben beschriebenen philosophi-
schen, soziologischen und biologischen Ansätze umgesetzt wurden und die eine
für den Menschen nützliche, praktische Anwendbarkeit hervorbrachte.
Das bot sich zum einen an, weil die Familie ein System ist, in dem Menschen or-
ganisiert zusammenleben. Zum anderen auch deshalb, weil Familientherapeuten
in den frühen Anfängen zunächst experimentell vorgingen, um stagnierende The-
rapieprozesse wieder anzuregen. Infolgedessen fanden die Ansätze in der Sys-
temtheorie einen wissenschaftlichen Erklärungsansatz.
In der Familientherapie werden Störungen und Erkrankungen einzelner Famili-
enmitglieder mit Unterstützung ihrer Familie behandelt. Dabei wird davon ausge-
gangen, dass sich die Störung oder Erkrankung in irgendeiner Form im Bezie-
hungsgeflecht der Familie und den Verhaltens- und Kommunikationsmustern wi-
derspiegelt. Daher geht man davon aus, dass diese Muster sich auch über den Be-
ratungsprozess hinaus herausarbeiten und verändern lassen.
Die Familientherapie ist der Vorläufer der systemischen Therapie und damit auch
der systemischen Beratung. Vorgehensweisen und Methoden aus der Familienthe-
rapie werden bis heute gerne und erfolgreich angewandt. Sie haben sich ebenso in
der systemischen Beratung, also jenseits eines therapeutischen Settings, als an-
wendbar bewährt und können auch von nicht als Therapeuten ausgebildeten Fach-
leuten eingesetzt werden.
So können systemische Berater beispielsweise in einem Jugendamt den Hinter-
grund von auffälligem Verhalten (z. B. eines Kindes) und die Bedeutung für das
System (z. B. die Familie) erarbeiten. Sie leiten dann beispielsweise als Hilfsan-
gebot eine Behandlung in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie ein. Das Kind mit
einem solchen auffälligen Verhalten könnte dann in einer psychiatrischen Einrich-
tung mit ähnlichen, vertieften Methoden aus dem gleichen Denkansatz unter Hin-
zuziehung seiner Eltern therapiert und geheilt werden.
Es gibt verschiedene klassische Modelle der Familientherapie, die sich nach den
oben bereits beschriebenen, gemeinsamen historischen Anfängen in den 60er- bis
70er-Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelt haben.

5.1 Die strukturelle Familientherapie


Die strukturelle Familientherapie entwickelte sich in den 70er-Jahren des letzten
Jahrhunderts. Ein wichtiger Vertreter dieses Ansatzes ist Salvador Minuchin. Die
strukturelle Familientherapie legt bei ihrer Betrachtung den Blick auf Strukturen,
Grenzen und Hierarchien in Systemen. Diese Therapieform ist besonders gut ge-
eignet, um mit einfachen, bildungsfernen und mit Familien aus finanzschwachen
Verhältnissen zu arbeiten.
Minuchin arbeitete auch „aufsuchend“ (d. h. er ging zu den Familien) in den
Slums der amerikanischen Großstädte und hat es damit ermöglicht, einen Thera-
pieansatz auch in klassische Felder der Sozialarbeit einzuführen.

22
Einführung in die systemische Beratungsarbeit 1371

Die Therapie wurde somit aus dem stark reglementierten und strukturierten klini-
schen Bereich gelöst und konnte hierdurch für mehr Menschen zugänglich wer-
den. Aber nicht nur der Kreis der Klienten wurde größer, auch der Kreis der Fach-
leute und Gruppen, die mit diesem Ansatz arbeiten konnten, erweiterte sich.
Die Alltagstauglichkeit dieses Ansatzes, welcher Klienten nicht allein auf Krank-
heitsbilder festschreibt und damit „pathologisiert“, wurde schnell deutlich und
zeigte gleichzeitig auch die Anwendungsmöglichkeiten in anderen Beratungsfel-
dern auf (u. a. Wirtschaft, Verwaltung, Organisationen).
Minuchin arbeitete mit Visualisierungen. Er bot Klienten sogenannte strukturie-
rende Bilder an. Dies sind Bilder über Subsysteme2 und Generationsgrenzen von
Familien. Diese werden auch als „Landkarte“ oder Systemzeichnung bezeichnet.
Sie sollen helfen, die Komplexität des Behandlungs- und Beratungskontextes zu
reduzieren. Außerdem dienen solche Visualisierungen der Orientierung im Bera-
tungsprozess. Sie helfen, sich zu verorten, d. h. zu wissen, wo man im Prozess
gerade steht, wen (welches Systemmitglied) man im Blick hat und wen möglich-
erweise gerade nicht. Und schließlich können sie auch als Instrument zur Hypo-
thesenbildung dienen.
Die folgende Abbildung zeigt eine solche Systemzeichnung. In diesem Falle zeigt
sie eine sogenannte „Familien(land)karte“, die verdeutlicht, welche Beziehungen
innerhalb der Familie bestehen.

Abb. 2: Beispielhafte Darstellung einer Systemzeichnung

2
Subsysteme sind Untersysteme in einem Hauptsystem: z. B. Elternsystem im Familiensystem.

23
Einführung in die systemische Beratungsarbeit 1371

Die Darstellung erfolgt mithilfe festgelegter Symbole, damit nicht nur die einzel-
nen Elemente, sondern auch die Qualität der Beziehungen untereinander darge-
stellt werden kann.
 So bedeuten Rechtecke männliche und Kreise weibliche Systemmitglieder.
 Eine Zickzacklinie bedeutet, dass die Beziehung zwischen den verbunde-
nen Elementen konfliktträchtig ist.
 Eine gepunktete Linie zeigt auf, dass die Beziehung distanziert ist usw.
(Die Informationen hierzu stammen aus den Gesprächen mit Klienten.)
Diese zentralen Vorgehensweisen bei der strukturellen Familientherapie sind auch
in die systemische Beratung eingeflossen.
Natürlich gilt auch hier, dass es sich hierbei immer um Konstrukte handelt, die
nicht der „Realität3“ entsprechen, sondern eben nur der subjektiven Wirklichkeit
des Beobachters, also seiner individuellen Sicht der Dinge.
Das genau war die „Schwäche“ des Ansatzes: Er war noch nicht geprägt von den
Grundideen der Kybernetik 2. Ordnung, die die „Beobachtung des Beobachters“
einführten. Damit ist Folgendes gemeint: Die vom Therapeuten (= Beobachter)
aus seiner Wahrnehmung heraus beschriebenen Generationsgrenzen, System-
zeichnungen und Landkarten etc. sind eben die Beobachtung des Therapeuten und
stellen nur bedingt die Wirklichkeit der Klienten dar.
Trägt man dieser Tatsache Rechnung, dann kann man jedoch gut mit den Metho-
den und Vorgehensweisen Minuchins arbeiten. Dazu müssen die eigenen Be-
obachtungen auch als solche, nämlich als die subjektive Wahrnehmung des
Therapeuten, benannt und dem Klienten ergebnisoffen zur Verfügung gestellt
werden (im Sinne eines Angebotes und nicht als Aussage über Tatsachen). Der
Therapeut legt dem Klienten seine Beobachtung dar und regt diesen dazu an, dies
für sich persönlich zu prüfen und darüber zu einer eigenen Bedeutungszuschrei-
bung zu kommen (siehe hierzu auch Punkt 6.1 „Reflecting Team“). Ergebnisoffen
heißt in diesem Zusammenhang, dass die Bedeutungszuschreibungen nicht gewer-
tet werden in dem Sinne, dass der Therapeut die richtige Deutung und der Klient
die problematische bzw. falsche Deutung hat.

5.2 Das Mehrgenerationen-Modell


Die Mehrgenerationen-Perspektive ermöglichte es Therapeuten/Beratern nicht
nur, eine Kontexterweiterung mit Blick auf die Kernfamilie vorzunehmen, son-
dern auch die Einbeziehung der vorherigen Generationen mit all den Belastungen
und Schicksalen, die dort erlebt wurden. Man ging davon aus, dass die Ahnenge-
neration auch in die Folge-Generationen hineinwirken.
Hierzu wurde in Verbindung mit den Landkarten und Systemzeichnungen Minu-
chins das Genogramm eingeführt. Das ist eine standardisierte Darstellungsmög-
lichkeit von Beziehungen in einem familiären System mithilfe bestimmter Sym-
bole für Menschen und Ereignisse in diesem System.

3
Realität = Allumfassende, objektive Wirklichkeit.

24
Einführung in die systemische Beratungsarbeit 1371

Ein Genogramm ist von der Struktur her vergleichbar mit einem Familienstamm-
baum.

Abb. 3: Darstellung eines Genogramms

Das Genogramm dient auch dazu, den Überblick über die vielfältigen komplexen
Verbindungen unter den Menschen und die Ereignisse in einer Familie zu behal-
ten. Es ist in diesem Sinne auch ein diagnostisches Instrument.
An der obigen Darstellung ist z. B. sehr gut erkennbar, wie sich Berufsbilder
(hier: Pfarrer) in der Familie C. G. Jungs über Generationen hinweg wiederholen.
So kann das Genogramm unterschiedliche Hinweise über Verläufe, Beruf, Bezie-
hung etc. geben, die dann für den therapeutischen bzw. beratenden Prozess ge-
nutzt werden können.
Das Genogramm hat vielfach Einzug gehalten in die unterschiedlichen Felder der
systemischen Beratung. Ein wichtiges gedankliches Konstrukt, welches dem
Mehrgenerationen-Modell zugrunde liegt, sind die Modelle sogenannter
 Loyalitätsbindungen und
 Verdienstkonten,
die über die Generationsgrenzen hinweg wirksam sind.

25
Einführung in die systemische Beratungsarbeit 1371

Loyalitätsbindungen
Loyalitätsbindungen sind verinnerlichte Erwartungen der Gruppe (z. B. Familie)
an ihre Mitglieder. Um ein loyales Mitglied der Gruppe/Familie zu sein, muss das
Mitglied den Anspruch dieser Erwartungen erfüllen, aber auch in der Lage sein,
bestimmte und für die Gruppe wichtige Verhaltensweisen und Rituale an den Tag
zu legen.

Verdienstkonten
Bei Verdienstkonten geht es um eine Art von gruppen- oder familieninterner
„Buchführung“. Diese Buchführung sollte ausgeglichen sein, damit ein Gleichge-
wicht im Gruppen- oder Familien-System gegeben ist. Ist dieses Gleichgewicht
nicht gewährleistet, kommt es zu Störungen im System, die sich in unterschiedli-
chen Symptomen zeigen können.
„Gespeichert“ werden auf solchen Verdienstkonten Situationen und Konflikte in
der Gruppe/Familie und diejenigen Personen, die daran beteiligt sind. Die An-
nahme ist, dass jedes Systemmitglied innerlich (im Gedächtnis) und unbewusst
ein solches Konto führt. Jeder gestaltet dabei seine Vorstellung von Stabilität im
System, indem er Konflikte klärt und gegebenenfalls auch eine Sanktion entge-
gennimmt. Jeder ist selbst verantwortlich für die Klärung seines Kontos.
Eine weitere Annahme ist, dass wenn ein Systemmitglied nicht zum Ausgleich
kommt bzw. dies nicht will, das System darauf mit Sanktionen reagieren wird.
Die beschriebenen Ansätze erwiesen sich für die Praxis systemischer Beratung,
sowohl in Familien wie auch in anderen Systemen, als sehr hilfreich.
Das natürliche Gefühl in Familien, dass jemand aus der Familie verantwortlich ist
für ein belastendes Ereignis oder dass ein Familienmitglied etwas besonders
Wichtiges in der Familie bewirkt hat, wird dabei genutzt. Wichtige Ereignisse und
Leistungen bilden die sogenannten Verdienstkonten der Familien- und Sys-
temmitglieder. Die Annahme ist, wie oben bereits erwähnt, dass Verdienstkonten
ausgeglichen werden müssen. Werden diese nicht ausgeglichen, zeigt sich dies
häufig als Störung im System.

Beispiel:

Eine sich aufopfernde ältere Schwester in einer Reihe von Geschwistern ist
scheinbar immer die Gebende. Sie wird aber dafür nicht ausreichend gewürdigt,
weil so viel Engagement oft nicht ausgeglichen werden kann. Wenn dann die
Geschwister ihr etwas zurückgeben wollen, möglicherweise materiell, lehnt sie
dies ab und fühlt sich gekränkt. Ebenso fühlen sich diejenigen verletzt, die
endlich den verdienten Ausgleich schaffen wollten. So entstehen starke
Störungen in den Beziehungen unterhalb der Geschwister. Nicht selten
reagieren die, die in einem System immer in der gebenden Rolle waren, später
mit Symptomen und Erkrankungen wie Depression.

26
Einführung in die systemische Beratungsarbeit 1371

Nachfolgende Generationen beobachten im System die Schwierigkeiten der


eigenen Eltern mit ihrer älteren Schwester und fragen sich nach den Gründen
für das Zerwürfnis oder danach, was die Familiengeschichte mit der Depression
der Tante zu tun hat. Auf diese Art wirken dann die nicht ausgeglichenen
Konten in die nächste Generation hinein.

5.3 Erlebnisorientierte und wachstumsorientierte


Familientherapie
Dieser Ansatz wurde von Virginia Satir entwickelt. Er ist angelehnt an humanisti-
sche Menschenbilder, die von einem grundsätzlich vorhandenen Wachstumspo-
tential ausgehen, das jedem Menschen natürlicherweise innewohnt und welches es
im therapeutischen Rahmen zu fördern gilt. Dabei legte sie in diesem Sinne ihren
besonderen Blick auf den Selbstwert ihrer Klienten, auf deren Förderung und
Entwicklung durch wertschätzende Ansprache.
Im Allgemeinen hat Satir auf die Kommunikation in den Familien viel Wert ge-
legt und aufgrund ihrer Beobachtungen Denkansätze wie „symmetrische“ und
„komplementäre“ Kommunikations- und Interaktionsverläufe entwickelt.

Symmetrische Kommunikationsform
„Symmetrische Kommunikationsform“ meint, dass sich ähnliche Charaktertypen
in ihrer Kommunikation gegenseitig „aufschaukeln“ und es zu einer sogenannten
„symmetrischen“ Eskalation kommen kann. Ein prägnantes Beispiel hierfür ist ein
Paar, welches sich trennt, nachdem beide im Streit nicht mehr die Möglichkeit
und Fähigkeit gefunden haben, den Streit zu beenden. Beide stritten solange wei-
ter, ohne ihre eigene Kommunikation zu verändern, bis sie so weit voneinander
entfernt und entzweit waren, dass kein Kontakt mehr untereinander möglich war.
Eine solche Trennung könnte aber möglicherweise auch als eine konstruktive Lö-
sungsmöglichkeit gesehen werden, da mit dem Kontaktabbruch weitere Kränkun-
gen und Verletzungen der Einzelnen verhindern werden.

Komplementäre Kommunikationsform
Mit „komplementärer Kommunikationsform“ ist ein Kommunikationsmuster ge-
meint, bei dem ein Kommunikationspartner denkt, dass er die Eigenart des ande-
ren ausgleichen muss und so eine komplementäre, sich ergänzende Kommunika-
tion entsteht. Auch diese zweite Form ist eine Art von Eskalation, bei der eine
starre Festschreibung auf ein Verhaltensmuster (hier z. B. Ausgleich) stattfindet,
die Dynamik einer gelungenen Kommunikation und Beziehung verhindert. Bezo-
gen auf das sich trennende Paar kann dies bedeuten, dass der eine weg strebt und
der andere verhält sich und kommuniziert so, dass er den anderen in der Bezie-
hung halten kann. So entstehen häufig Muster von Hierarchien in Beziehungen,
also ein oben und unten (im Sinne von Herrschen und Unterwürfigkeit), wobei
einer immer oben und der andere immer unten ist. Das führt ebenso zu einer Er-
starrung der Kommunikation.

27
Einführung in die systemische Beratungsarbeit 1371

Virginia Satir hat hierzu beispielhaft vier verschiedene Charaktertypen beschrie-


ben, die in ihrer Reinform entweder zu symmetrischen oder komplementären
Kommunikationsmustern führen.
Dies sind:
 Der Rationalisierer: Der Rationalisierer will alles rein sachlich erledigen,
frei von jeglicher Emotion. Er wirkt steif und unbeweglich und zeigt we-
nig Mimenspiel.
 Der Irrelevante: Der Irrelevante ist der Komplementär zum Rationalisierer.
Er fuchtelt mit den Armen und Händen herum, wirkt in sich verdreht und
kann sich nicht auf ein Thema konzentrieren. Er bringt immer neue Ge-
danken ein, die mit dem Eigentlichen nichts mehr zu tun haben.
 Der Anklagende: Der Anklagende tritt ständig mit erhobenem Finger und
drohender Geste auf. Er spricht laut und angreifend und beschuldigt stän-
dig alle für ihr Verhalten. Sein Komplementär ist der Beschwichtiger.
 Der Beschwichtiger: Der Beschwichtiger kann keinen Konflikt ertragen
und tritt mit flehender Geste auf, um die Wogen zu glätten.
Aus diesen vier Grundtypen lassen sich Kommunikationsmuster ableiten, durch
die sogenannte Kommunikationsschleifen entstehen. Dies sind wiederkehrende,
immer nach demselben Muster verlaufende Kommunikationen zwischen zwei
Kommunikationspartnern. Solche zirkulierende Kommunikationsschleifen können
sich verfestigen und so die Weiterentwicklung einzelner Familienmitglieder und
somit des gesamten Systems verhindern. Virginia Satirs Arbeit war es, solche
Muster mit den Familien herauszuarbeiten, entsprechende Veränderungen anzure-
gen und somit das Wachstum wieder zu ermöglichen.
Grundsätzlich stecken in jedem Menschen Anteile der beschriebenen Charakter-
typen. Es ist also nicht so, dass es ausschließlich das eine oder das andere ist, was
als Charaktereigenschaft auftritt. Entscheidend ist, was gerade in einem bestimm-
ten Beziehungsgefüge vorherrscht, d. h. welche Muster im Moment der Kommu-
nikation aufeinander treffen und welche Kommunikationsschleifen daraus entste-
hen.
So sind beispielsweise in einer Familie häufig zwei anklagende Charaktere zu
finden: Nehmen wir beispielsweise einmal an, dies sei ein Vater und sein heran-
wachsender Sohn. Dazu eine Mutter, die versucht, in der Rolle einer Beschwichti-
gerin den Ausgleich zu schaffen, um die Eskalation zwischen Vater und Sohn und
möglicherweise in Folge dessen mit dem gesamten Familiensystem zu verhindern.
Neben dieser hilfreichen Typologie hat Virginia Satir noch einen weiteren wichti-
gen Beitrag in die systemische Arbeit eingeführt: Die sogenannte Familienskulp-
tur. Das ist eine räumliche Darstellung der Kommunikations- und Beziehungs-
muster, die in einer Familie gelebt werden.
Dazu hat Satir Familienmitglieder aufgefordert, sich entsprechend ihres eigenen
inneren Bildes – wie eine „Skulptur im Raum“ – zueinander aufzustellen. Es wird
also sozusagen ein inneres Modell nach außen hin sichtbar gemacht, wie die Fa-
milie im Beziehungsgefüge zueinander steht.

28
Einführung in die systemische Beratungsarbeit 1371

Satir hat dann mit den Menschen durch Veränderung dieser so entstandenen
Skulptur eine Verbesserung erarbeitet und dabei festgestellt, dass die Wirkung gut
und stärker war, als wenn nur über die Dinge gesprochen wurde.
Virginia Satir hat auch die frühen Familientherapieschulen in Deutschland stark
geprägt. Dies vor allem wegen ihrer humanistischen Ausrichtung, die in den frü-
hen 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts eine sehr große, auch gesellschaftspoliti-
sche Bedeutung hatte. Nicht zuletzt aber auch, weil sie eine sehr beeindruckende
Persönlichkeit war.

5.4 Die strategische Familientherapie


Dieser Ansatz geht, ähnlich wie die strukturelle Familientherapie, direktiv vor. Er
geht von kybernetischen Konzepten aus (Kybernetik befasst sich mit Steuerungs-
vorgängen in Systemen), die deutlich machen, dass Familienprobleme Ausdruck
dysfunktionaler Organisationsstrukturen einer Familie sind.
Wenn zum Beispiel ein Vater seine Tochter zu „seiner Prinzessin“ erhebt und sie
wichtiger nimmt als seine Frau, kann das Kind sich einerseits stark fühlen, es
kann aber auch mit einer solchen Überhöhung völlig überfordert sein.
Oder Eltern entscheiden, aus der gemeinsamen Unfähigkeit heraus sich über Er-
ziehungsziele und Erziehungsmaßnahmen zu einigen, das Kind dürfe selbst be-
stimmen und entscheiden, was es tue. Das führt bei Kindern, wenn dieser Vor-
gang entwicklungspsychologisch zu früh einsetzt, zu Orientierungslosigkeit und
es entstehen daraus Auffälligkeiten (Symptome).
Die Annahme ist, dass wenn denn diese dysfunktionalen Organisationsstruktu-
ren im therapeutischen Prozess herausgearbeitet und verändert worden sind, die
Symptome ihren Sinn verlieren und eingestellt werden können. Dabei richtet die-
ser Ansatz ein besonderes Augenmerk auf Grenzen und Hierarchien im System.
Ein weiterer wichtiger Begriff dieses Ansatzes ist die sogenannte Dreiecksbil-
dung, auch Triangulation genannt. Im obigen Beispiel stellt die Überhöhung der
Tochter eine Form der Triangulation dar: Die Überhöhung der Tochter durch den
Vater führt dazu, dass sie sich beim Vater besonders in den Vordergrund gehoben
fühlt. Durch diesen positiven Aspekt in der Beziehung der Tochter zum Vater
ergibt sich aber gleichzeitig in der Beziehung zur Mutter ein Problem. Sie verliert
die Nähe zur Mutter. Geschieht dies mit Absicht durch den Vater, benutzt er mög-
licherweise die Tochter in seinen Konflikten mit der Mutter, weil er die Konflikte
nicht direkt mit der Mutter des Kindes klären kann. Das Kind gerät so in eine Si-
tuation, die es nicht klären, nicht abstrahieren, nicht deuten kann. Demnach kann
es sich auch nicht angemessen verhalten und es kommt zu Symptomen und auffäl-
ligem Verhalten. Der therapeutische Prozess hat zum Ziel, solche dysfunktionalen
Strukturen aufzulösen und eine verbesserte Organisation anzuregen und zu errei-
chen.
Symptome werden immer daraufhin untersucht, welchen Sinn sie für die Auf-
rechterhaltung des Gleichgewichts und die Stabilität eines Systems haben. Ziel
des therapeutischen Prozesses ist es dann, die Regeln und Interaktionen in der
Familie so zu verändern, dass die Symptome ihre Bedeutung für das Gleichge-
wicht des Systems verlieren oder angemessenere Formen gefunden werden, die

29
Einführung in die systemische Beratungsarbeit 1371

ebenso die Absicht hegen, die Herstellung des Gleichgewichts im System zu er-
möglichen.
Die Interventionen sind dabei häufig sehr direktiv (werden durch den Therapeuten
initiiert und können strikte Vorgaben beinhalten). Die Arbeit befasst sich nur mit
der Gegenwart der Familie, ihren aktuellen Kommunikations- und Organisa-
tionsmustern und der Bedeutung der Symptome für das Familiensystem.
Zu den wichtigsten Interventionsformen der strategischen Familientherapie gehö-
ren:
 Reframing
 Positive Konnotationen
 Paradoxe Interventionen
 Ordeale
Reframing
Damit ist eine positive Umdeutung des symptomatischen Verhaltens gemeint. Bei
einer solchen Umdeutung wird dem Verhalten eine positive Bedeutung gegeben.
Es wird z. B. herausgearbeitet, was dieses Verhalten für das System eigentlich
sicherstellen soll, also welche positive Intention mit dem symptomatischen Ver-
halten verbunden ist. Damit ist keine Wertung in dem Sinne gemeint, dass das
symptomatische Verhalten gut oder schlecht für die Beteiligten oder für das Sys-
tem ist, sondern welche „gute Absicht“ für das System damit verbunden ist.
Positive Konnotationen
Dies meint eine Haltung, die ausdrückt, dass alles Verhalten in einem System als
grundsätzlich wichtig und nützlich für das System erachtet wird.
Paradoxe Interventionen
Der Begriff „Paradoxe Interventionen“ bezeichnet Methoden, die dazu verwendet
werden, einen scheinbaren Widerspruch zu den therapeutischen Zielen zu erzeu-
gen, die aber dafür entworfen sind, diese Ziele tatsächlich zu erreichen.
Ordeale
Übersetzt bedeutet Ordeal „Rosskur“ oder „Feuerprobe“. Im therapeutischen Kon-
text meint ein Ordeal, dass dem Klienten für den Zeitpunkt des Auftretens seines
Symptomes auferlegt wird, eine Aufgabe auszuführen, die unangenehmer oder
schwieriger ist als sein Symptom selbst. Z. B. bei beklagter Schlafstörung (Symp-
tom) soll er, statt zu schlafen, beispielsweise irgendeine Hausarbeit verrichten.
Die Annahme ist, dass wenn es schwerer ist, ein Symptom zu erhalten, anstatt es
aufzugeben, dann wird es eher aufgegeben als aufrechterhalten. Voraussetzung ist
die sorgfältige Auswahl der Aufgabe und die Bereitschaft des Klienten, das Or-
deal anzunehmen.
Die oben genannten Interventionsformen sind auch für die systemische Beratung
von besonderer Bedeutung, da es Interventionen sind, die sich über die Entwick-
lung von der Familientherapie hin zur systemischen Therapie und Beratung als
praxisrelevant und tauglich bewährt haben.

30
Einführung in die systemische Beratungsarbeit 1371

Die strategische Familientherapie gilt wegen ihrer Gegenwartsorientierung, also


der Orientierung an den aktuell beobachtbaren Mustern in der Familie, als Vor-
läufer der lösungsorientierten Therapie, die auch Kurzzeittherapie genannt wird.
Dementsprechend sind in der strategischen Therapie die Verläufe erstmals sehr
viel kürzer als bei anderen therapeutischen Konzepten.

5.5 Systemisch-kybernetische Familientherapie


Dieser Ansatz ist geprägt von der Mailänder Schule, die in der Entwicklung der
Familientherapie eine sehr große Bedeutung hat. Die bedeutendsten Vertreter wa-
ren Luigi Boscolo und Gianfranco Cecchin.
Die zentralen Begriffe, die Prinzipien, die durch die Mailänder Schule geprägt
und in die Familientherapie eingeführt wurden, sind:
 Zirkularität,
 Hypothetisieren und
 Neutralität (siehe unten).
Das Mailänder Team arbeitete in einer Klinik. Vor allem in den frühen Grün-
dungsjahren nahmen sie das starre Setting des psychiatrisch-klinischen Kontextes
an und versuchten, es zu nutzen. So waren die Sitzungen häufig sehr klar regle-
mentiert. Die Therapeuten übernahmen die Führung und wollten sich keinesfalls
von der Dynamik des Systems oder der Wirkung von Symptomen beeinflussen
lassen.
Hier wird deutlich, dass es sich bei der Mailänder Schule immer noch um einen
Ansatz klassischer Familientherapie handelt, welcher versucht, dem Therapeuten
einen besonderen Status zu geben im Sinne eines unbeeinflussten Beobachters
und Begleiters. Aus diesem Setting, das von den Mitgliedern des Teams selbst so
inszeniert wurde, ergab sich eine seltsam große Distanz zwischen den Therapeu-
ten und den Familien, mit denen sie arbeiteten.
Die Interventionen wurden nicht selten als Zumutung von den Familien erlebt.
Gerade aus der Tatsache, dass die Therapeuten keine Diskussionen zuließen, sie
sogleich sehr überzeugt waren von ihren Ideen und gleichzeitig den Familien die
Möglichkeit einer Schuldzuweisung nahmen, da sie (die Therapeuten) sich selbst
als unbeeinflusste „neutrale“ Beobachter definierten, entstanden sehr wirkungs-
volle Interventionsformen.

5.5.1 Zirkularität
Die Grundidee war, dass die Prozesse in Familien (oder allgemein in Systemen)
immer zirkulär sind. Damit ist gemeint, dass alles, was in einer Familie geschieht,
immer in Wechselwirkung zueinander steht, sich immer gegenseitig beeinflusst,
also zirkuliert. Aus der Idee der Zirkularität der Prozesse entwickelte das Mailän-
der Team eine besondere und effektive Fragetechnik: Das sogenannte „zirkuläre
Fragen“, welches bis heute prägend für die systemische Arbeit in allen Bereichen
der Beratung ist. Sie werden diese Fragetechnik noch eingehend kennenlernen.

31
Einführung in die systemische Beratungsarbeit 1371

Beim zirkulären Fragen wird ein Mitglied des Systems dazu befragt, was es
glaubt, wie ein anderes Mitglied über einen bestimmten Sachverhalt oder über
eine bestimmte Beziehung im System denkt.

Beispiel: Das System ist eine Familie mit Sohn und Tochter
Frage an z. B. den Vater:
„Was glauben Sie, was Ihre Frau denkt, wenn sie beobachtet, wie sich Ihr Sohn
und Ihre Tochter um Sie als Vater streiten?“
Frage an z. B. die Mutter, deren Tochter sich geritzt hat:
„Was glauben Sie, was Ihr Sohn denkt, wenn er Sie und Ihren Mann dabei beo-
bachtet, wie Sie in dieser Situation mit Ihrer Tochter umgehen?“

Durch solche Fragen werden im Beratungsprozess für den Therapeuten und vor
allem auch für den Klienten selbst Informationen über das Beziehungsgeflecht
und die Prozesse der Familienmitglieder untereinander sichtbar und verfügbar.
Diese Fragetechnik hat sich als sehr hilfreich für den therapeutischen bzw. bera-
tenden Prozess erwiesen.

5.5.2 Hypothetisieren
Hypothetisieren bedeutet, dass der Therapeut oder Berater Annahmen über das
System (z. B. eine Familie) formulieren. Und zwar auf der Basis von vorab (also
schon vor der Sitzung) zur Verfügung stehenden Informationen bzw. vor einer
jeden Sitzung. Dann werden Hypothesen darüber gebildet, was sich in der Zeit
zwischen zwei Sitzungen verändert haben könnte, was wiederum dann aktuell
Thema in der Sitzung sein könnte.
Hierbei geht es auch um zirkuläre Hypothesen, d. h. um Hypothesen, die Annah-
men über die Beziehungen in einer Familie formulieren. Wenn sich z. B. zwischen
zwei Sitzungen etwas am symptomatischen Verhalten eines Familienmitgliedes
verändert haben sollte, interessiert uns vor allem, welche Auswirkungen diese
Veränderung auf die anderen Familienmitglieder und deren Beziehungen unterei-
nander haben könnte.

Beispiel:

Ein Vater hat bei der letzten Sitzung die Aufgabe bekommen, wenn er zu viel
getrunken hat, ein Zimmer in einer Pension zu nehmen, anstatt seine Familie zu
verprügeln.
Hypothesen könnten dann etwa in der folgenden Form gebildet werden:
‒ Die Erfüllung dieser Aufgabe hat Auswirkungen auf die Beziehung zwischen
Frau und Mann, wenn es x4 Monate gibt, in denen die Frau nicht verletzt
wird.
‒ Frau X. wird etwas vermissen, wenn ihr Mann nicht neben ihr schläft.

4
x = eine Anzahl.

32
Einführung in die systemische Beratungsarbeit 1371

‒ Die Kinder denken darüber nach, wie es dem Vater dann geht, wenn er nicht
zu Hause schläft.
‒ Die Familienmitglieder werden die Zeit anders miteinander verbringen,
wenn der betrunkene prügelnde Vater nicht die Zeit und den Raum einnimmt,
und könnten somit neue gemeinsame Interessen entwickeln.

Diese Hypothesen werden dann im Gespräch überprüft. Sie können der Familie
dadurch zugänglich gemacht werden.
Hypothesen dienen in der Hauptsache zur Vorbereitung auf die Sitzungen für den
Therapeuten. Der Therapeut hat hierdurch die Möglichkeit, alleine oder mit Un-
terstützung seines Teams, immer wieder den Einbezug verschiedener Familien-
mitglieder zu praktizieren und sich aus der Distanz heraus mit der Familie zu be-
schäftigen. So läuft er weniger Gefahr, einzelnen Familienmitgliedern die Ver-
antwortung für schwierige Familiensituationen alleine zu übertragen. Und es ist
eine Möglichkeit, besser sicherzustellen, dass alle Elemente des Systems einbezo-
gen und keine einseitigen Schwerpunkte gebildet werden.

5.5.3 Neutralität
Neutralität als Prinzip bedeutet die Neutralität des Therapeuten. Neutralität vor
allem gegenüber Themen und Haltungen, die ein System (z. B. eine Familie) mit-
bringt. Das Prinzip wurde entwickelt, damit sichergestellt ist, dass der Therapeut
konsequent jedem Familienmitglied gleichermaßen mit seiner Aufmerksamkeit
zur Verfügung steht. Neutralität bedeutet aber auch, sich neutral gegenüber den
Störungen und Symptomen der Systemmitglieder (z. B. Familienmitglieder) zu
zeigen.
Aus dieser Haltung heraus hat sich die positive Konnotation entwickelt. Alle
Verhaltensweisen, Handlungen und Aussagen der Familienmitglieder, insbeson-
dere symptomatisches Verhalten, werden als grundsätzlich wichtig und nützlich
für das System erachtet, also positiv „konnotiert“ (gedeutet). D. h. nicht, dass die
Therapeuten das Verhalten positiv bewerten oder gar „gut finden“. Allerdings
deuten sie es im Kontext des Systems, mit dem sie arbeiten, als positiv für das
System.
Am oben genannten Beispiel des trinkenden Vaters könnte so eine positive Kon-
notation für das System z. B. sein, dass der Mann mit seinem Verhalten Nähe und
Distanz zwischen ihm und seiner Frau oder ihm und seinen Kindern reguliert.

5.5.4 Paradoxie und paradoxe Interventionen


Neben den drei Prinzipien Zirkularität, Hypothetisieren und Neutralität ist Para-
doxie (auch: paradoxe Interventionen) ein wesentliches Element der Mailänder
Schule. Dabei „verschreiben“ Therapeuten symptomatisches Verhalten. Der Kli-
ent soll genau das bewusst herbeiführen oder tun, was er als Symptom in die Be-
ratung mitgebracht hat. So eine „Verschreibung“ kann beispielsweise als Ab-

33
Einführung in die systemische Beratungsarbeit 1371

schlusskommentar zum Ende einer Sitzung wie eine Hausaufgabe formuliert wer-
den.
Wenn z. B. ein Klient sagt, er könne ein bestimmtes Verhalten nicht aufhören
oder verändern, weil es außerhalb seiner Kontrolle liegt, und auch die Therapie
werde daran nichts verändern, dann kann ihm vom Therapeuten aufgetragen
(„verschrieben“) werden, dieses Verhalten zu zeigen, und zwar gesteuert: zu be-
stimmten Zeiten oder in bestimmten Situationen.
Folgt der Klient dieser Aufforderung und zeigt das Verhalten, wie vom Therapeu-
ten angeordnet, kann er das nur geplant, also kontrolliert tun.
Kann er gezielt dieses Verhalten produzieren, macht er die Erfahrung, dass er es
auch steuern kann. Er kann es also bewusst produzieren und in Folge davon auch
wieder einstellen. Die Therapie ist somit erfolgreich, weil das unerwünschte Ver-
halten durch die Selbststeuerung überwunden wurde.
Zugespitzt bezogen auf das oben genannte Beispiel könnte das bedeuten, den Va-
ter in einem Setting aufzufordern, im nächsten Monat einmal an einem festgeleg-
ten Tag seine Frau und seine Kinder zu misshandeln. Dazu könne er sich betrin-
ken oder auch nicht, der Tag wird nur vorher gemeinsam zwischen Mann und
Frau festgelegt.
Das geht natürlich nur, wenn der Behandlungsverlauf es zulässt. Das geht nicht
bei schwer gestörten Gewalttätern. Im oben genannten Beispiel, in dem auch Res-
sourcen erarbeitet werden konnten, also Phasen, in denen der Vater positives und
vorbildliches Verhalten zeigt, ist das allerdings möglich.
Das Mailänder Modell hat die Familientherapie sehr verändert, ging aber immer
noch davon aus, dass durch gezieltes strategisches Vorgehen eine Veränderung im
System erreicht werden kann. Sie war demnach immer noch ein klassisches Mo-
dell.

34
Einführung in die systemische Beratungsarbeit 1371

Fragen:

13. Wann begannen die klassischen Modelle der Familientherapie sich zu


entwickeln?

14. Was hat die strukturelle Familientherapie geleistet, um die Arbeit auch für
die Klienten darstellbar zu machen?

15. Wie bezeichnet man die weiterentwickelte Darstellungsform der Familie im


Mehrgenerationenmodell?

16. Nennen Sie zwei zentrale Bestandteile in der erlebnis- und


wachstumsorientierten Familientherapie Virginia Satirs.

17. In welcher Schule entwickelten sich die zentralen Ideen der systemisch-
kybernetischen Familientherapie und wie heißen diese?

35
Einführung in die systemische Beratungsarbeit 1371

Abbildungsverzeichnis

Abbildungsnummer Titel Quelle/Copyright


Abb. 1 Die Wurzeln der systemischen Psychotherapie in Eigenes Bild – A.L.
Anlehnung an Klaus Mücke
Abb. 2 Beispielhafte Darstellung einer Systemzeichnung Eigenes Bild – B.A.
Abb. 3 Darstellung eines Genogramms Eigenes Bild – A.L.

61

Das könnte Ihnen auch gefallen