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Intensivkurs Psychiatrie und

Psychotherapie

9. AUFLAGE

Klaus Lieb, Sabine Frauenknecht (Hrsg.)


Mit Beiträgen von: Annette Brückner, Mainz; Stefan Brunnhuber, Colditz; Ulrich Förstner, Bad Aussee (Österreich); Sabine Frauenknecht, Freiburg; Michael
Huss, Mainz; Gitta Jacob, Hamburg; Klaus Lieb, Mainz; Swantje Matthies, Freiburg; Friederike Mayer-Bruns, Freiburg; Wolfgang Retz, Mainz; Stefan
Schenkel, Mainz; Daniel Turner, Mainz; Oliver Tüscher, Mainz; Ulrich Voderholzer, Prien am Chiemsee
Inhaltsverzeichnis
Copyright
Elsevier GmbH, Hackerbrücke 6, 80335 München, Deutschland
Wir freuen uns über Ihr Feedback und Ihre Anregungen an

ISBN 978-3-437-23491-0
eISBN 978-3-437-09716-4

Alle Rechte vorbehalten


9. Auflage 2019
© Elsevier GmbH, Deutschland

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Ärzte / Praktiker und Forscher müssen sich bei der Bewertung und Anwendung aller hier beschriebenen Informationen, Methoden, Wirkstoffe oder
Experimente stets auf ihre eigenen Erfahrungen und Kenntnisse verlassen. Bedingt durch den schnellen Wissenszuwachs insbesondere in den medizinischen
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Um den Textfluss nicht zu stören, wurde bei Patienten und Berufsbezeichnungen die grammatikalisch maskuline Form gewählt. Selbstverständlich sind in
diesen Fällen immer alle Geschlechter gemeint.

Planung: Bernhard Gall


Lektorat und Projektmanagement: Sabine Hennhöfer
Redaktion: Karin Beifuss
Satz: Thomson Digital, Noida/Indien
Druck und Bindung: Drukarnia Dimograf Sp. z o. o., Bielsko-Biała/Polen
Umschlaggestaltung: Spiesz Design, Neu-Ulm
Titelfotografie: © Lars

Aktuelle Informationen finden Sie im Internet unter .


Vorwort zur 9. Auflage
Der Intensivkurs Psychiatrie und Psychotherapie liegt jetzt bereits in der 9. Auflage vor. Er wendet sich wie bisher sowohl an interessierte Studierende der
Medizin während der Prüfungsvorbereitung und des Praktischen Jahrs als auch an Ärztinnen und Ärzte in der Facharztweiterbildung sowie an fachfremde
Ärztinnen und Ärzte. Darüber hinaus ist er auch für Psychologinnen und Psychologen geeignet, die sich in der Ausbildung zum Psychologischen
Psychotherapeuten befinden.
Zur Vorbereitung auf die Facharztprüfung „Psychiatrie und Psychotherapie“ ist der Intensivkurs als Lerngrundlage sehr gut geeignet; es empfiehlt sich dann
aber die Kombination mit einem noch ausführlicheren Lehrbuch zum Nachlesen weiterer Details. Für die Studierenden sind selbstverständlich alle im
Gegenstandskatalog für die Ärztliche Prüfung geforderten Prüfungsinhalte im Buch enthalten.
Der Intensivkurs Psychiatrie und Psychotherapie wurde für die 9. Auflage inhaltlich komplett überarbeitet und aktualisiert. Außerdem wurden mehrere neue
Krankheitsbilder erstmals ausführlicher beschrieben, so z.  B. Autismus und ADHS im Erwachsenenalter, Geschlechtsinkongruenz  /  -dysphorie,
Abhängigkeiten von neuen psychoaktiven Substanzen wie z.  B. synthetischen Cannabinoiden, Zwangsspektrumsstörungen oder Verhaltenssüchte wie die
Internetabhängigkeit. Eine weitere wichtige Neuerung ist, dass die neue Klassifikation der Krankheitsbilder in der ICD-11 schon in den Blick genommen wird.
Dies wurde so gelöst, dass zu Beginn der Kapitel eine Übersicht der zu erwartenden Änderungen gegenüber der ICD-10 dargestellt wird und in den Kapiteln
dann die neuen Krankheitsbilder erläutert werden. Zu Beginn des Buches sind zur weiteren Orientierung zwei Tabellen (➤ und ➤ ) eingefügt, die auf die
wichtigsten Änderungen in der ICD-11 hinweisen und angeben, wo die entsprechenden Ausführungen im Buch zu finden sind. Da die ICD-10 aber auch in den
kommenden Jahren des Übergangs in die ICD-11 unverändert gültig sein wird und die detaillierten operationalisierten Diagnosekriterien der ICD-11 noch nicht
veröffentlicht sind, werden unverändert zu den Vorauflagen die genauen Diagnosekriterien der ICD-10 dargestellt.
Neu ist in der 9. Auflage auch die verstärkte Evidenzbasierung der therapeutischen Empfehlungen: Für die wichtigsten pharmakologischen und
psychotherapeutischen Interventionen werden Effektstärken berichtet, die direkte Vergleiche der Wirksamkeit unterschiedlicher Interventionen ermöglichen.
Erstmals wurden die Lebensläufe und Interessenkonflikte der beteiligten Autorinnen und Autoren auf S. VIIVIII dargestellt. Dadurch können sich die
Leserinnen und Leser einen Überblick verschaffen, vor welchem Hintergrund die Autorinnen und Autoren arbeiten und welche Interessenkonflikte sie haben.
Auf S. VII ist auch dargestellt, welche Maßnahmen ergriffen wurden, um die Inhalte möglichst neutral und unabhängig von anderen Interessen darzustellen.
Eine Einführung zu Interessenkonflikten, deren Auswirkungen auf das therapeutische Handeln und den Umgang damit findet sich in ➤ .
Mit der 9. Auflage hat sich der Intensivkurs zu einem Mehrautoren-Buch weiterentwickelt. Wir bedanken uns sehr bei unseren neuen Autorinnen und
Autoren für die hervorragende Zusammenarbeit und die Aktualisierung bzw. Neugestaltung mehrerer Kapitel. Ebenso danken wir Herrn Matthias Favreau,
München, Herrn Prof. Dr. Christoph Hiemke, Frau PD Dr. Sarah Kayser und Frau Dr. Susanne Englisch, Mainz, für hilfreiche Kommentare zu einzelnen
Buchkapiteln sowie Frau Karin Beifuss, Frau Sabine Hennhöfer, Frau Uschi Jahn und Herrn Dr. Bernhard Gall für die hervorragende Unterstützung von
Verlagsseite.
Mainz und Freiburg, Mai 2019
Prof. Dr. Klaus Lieb und Dr. Sabine Frauenknecht
Kurzlebensläufe der Autorinnen und Autoren und
Umgang mit Interessenkonflikten
Bei der Präsentation der Inhalte war es den Herausgebern schon in den Vorauflagen wichtig, die Inhalte wissenschaftlich basiert, kritisch und möglichst frei von
unangemessenen externen Einflüssen darzustellen. Mit der 9. Auflage haben wir diesen Weg konsequent weiterverfolgt und bei der Auswahl der Autorinnen
und Autoren besonderen Wert darauf gelegt, dass diese neben ihrem Expertenwissen möglichst frei von finanziellen Beziehungen zur pharmazeutischen
Industrie sind. Bei zwei der Autoren lagen in den letzten drei Jahren finanzielle Beziehungen zu verschiedenen pharmazeutischen Unternehmen vor. Bei den
von diesen Autoren bearbeiteten Kapiteln ging es in einem Fall nicht um Medikamente (➤ , Begutachtung), im anderen Fall (➤ ) haben die Herausgeber durch
Gegenlesen der entsprechenden Kapitel eine ausgewogene Darstellung der Inhalte sichergestellt.
Beim Versuch, Therapieverfahren unabhängig, kritisch und möglichst frei von unangemessenen sekundären Einflüssen darzustellen, wurde neben der oben
beschriebenen Auswahl der Autorinnen und Autoren, der Transparenz von finanziellen und nichtfinanziellen Interessenkonflikten (s.  u.) und dem o.  g.
Management von Interessenkonflikten auf folgende Aspekte besonderer Wert gelegt (s. a. Lo B, Ott C. What is the enemy in CME, conflicts of interest or bias?
JAMA 2013; 310(10): 1019–1020 und ➤ ):

• Bei der Darstellung der Therapieverfahren werden medikamentöse und nichtmedikamentöse Alternativen gleichermaßen dargestellt und in ihren
Effektstärken verglichen.
• Die Wirksamkeit der Therapieverfahren wird auf der Basis kritischer Reviews / Metaanalysen dargestellt, die nicht Einzelstudien, sondern möglichst
das gesamte Wissen aus Studien erfassen.
• Um eine unangemessene Werbung zu verhindern, werden bei den Medikamenten lediglich die Inhaltsstoffe genannt. Nur in Ausnahmefällen werden
die Handelsnamen angegeben, etwa wenn sich Aussagen (z. B. zur Dosierung oder bei Depot-Präparaten zum Applikationsintervall) auf spezifische
Handelspräparate beziehen oder wenn ein Medikament mit spezifischen Handelsnamen für unterschiedliche Indikationen zugelassen ist.

Kurzlebensläufe und Interessenkonflikt-Erklärungen der Autorinnen und Autoren


Annette Brückner ist Leiterin des Sozialdienstes der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz. Sie studierte Soziale Arbeit
und ist Diplom-Sozialpädagogin  /  -arbeiterin (FH) und absolvierte eine Weiterbildung zur Fachkraft in der Gemeindepsychiatrie. Ihr Interessenschwerpunkt
liegt im Bereich „Kinder psychisch kranker Eltern“; in diesem Zusammenhang ist sie Beraterin im Projekt „zebra-Zielorientierte Elternberatung“ für psychisch
kranke Eltern, deren Kinder und Bezugspersonen.
Prof. Dr. Dr. Stefan Brunnhuber ist Direktor und Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Diakonie Kliniken Zschadraß / Sachsen. Er
studierte Humanmedizin, Philosophie und Ökonomie und ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Facharzt für Psychosomatische Medizin. Sein
Forschungsinteresse liegt im Bereich Naturheilverfahren und psychische Erkrankungen. Derzeit hält er eine Professur für Psychologie und Nachhaltigkeit an
der Fachhochschule Mittweida. Er hat seit 2008 keine persönlichen Honorare für Beratertätigkeiten, Fortbildungsveranstaltungen, Vorträge oder
Stellungnahmen von pharmazeutischen Unternehmen oder Medizinprodukteherstellern erhalten.
Dr. Ulrich Förstner ist Oberarzt des AMEOS Klinikum Bad Aussee für Psychosomatik und Psychotherapie, assoziiert an die Medizinische Universität
Graz. Er studierte Humanmedizin und ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Seine besonderen Interessen liegen in den Bereichen Zwangs- und
Angststörungen, somatische Belastungsstörungen, Schmerzstörungen sowie posttraumatische Belastungsstörungen. Er wurde psychotherapeutisch mit
kognitiv-verhaltenstherapeutischem Schwerpunkt sowie in Dialektisch-behavioraler Therapie (DBT), spezieller Schmerzpsychotherapie und Traumatherapie
ausgebildet. Er hat seit 2007 keine persönlichen Honorare für Beratertätigkeiten, Fortbildungsveranstaltungen, Vorträge oder Stellungnahmen von
pharmazeutischen Unternehmen oder Medizinprodukteherstellern erhalten.
Dr. Sabine Frauenknecht ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie in eigener Praxis in Freiburg. Sie studierte Humanmedizin in Würzburg und hat
Ausbildungen zur Verhaltenstherapeutin, in Interpersoneller Psychotherapie und CBASP abgeschlossen. Ihr Arbeitsschwerpunkt liegt auf der psychiatrischen
und psychotherapeutischen ambulanten Patientenversorgung, insbesondere bei affektiven Störungen und Angsterkrankungen. Sie hat seit 2009 keine
persönlichen Honorare für Beratertätigkeiten, Fortbildungsveranstaltungen, Vorträge oder Stellungnahmen von pharmazeutischen Unternehmen oder
Medizinprodukteherstellern erhalten.
Prof. Dr. Michael Huss ist Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz sowie ärztlicher
Direktor der Rheinhessen-Fachklinik Alzey. Er studierte Humanmedizin, Psychologie und Philosophie und ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und
-psychotherapie. Seine Forschungsinteressen liegen in den Bereichen ADHS und Depression im Kindes- und Jugendalter. Er wurde psychotherapeutisch mit
tiefenpsychologischem und systemischem Schwerpunkt ausgebildet. In den letzten 3  Jahren hat er persönliche Honorare für Beratertätigkeiten,
Fortbildungsveranstaltungen, Vorträge und Stellungnahmen der pharmazeutischen Unternehmen Engelhard Arzneimittel, Medice und Shire erhalten.
PD Dr. Gitta Jacob ist leitende Psychotherapeutin der GAIA AG Hamburg. Sie studierte Psychologie und ist Psychologische Psychotherapeutin. Ihre
Forschungsinteressen liegen in den Bereichen E-Health und Schematherapie. Sie wurde psychotherapeutisch mit verhaltenstherapeutischem Schwerpunkt
ausgebildet und hat einen Weiterbildungsschwerpunkt in Schematherapie. Sie hat noch nie Honorare für Beratertätigkeiten, Fortbildungsveranstaltungen,
Vorträge oder Stellungnahmen von pharmazeutischen Unternehmen oder Medizinprodukteherstellern erhalten.
Prof. Dr. Klaus Lieb ist Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz sowie wissenschaftlicher Geschäftsführer
des Deutschen Resilienz Zentrums (DRZ gGmbH) Mainz. Er studierte Humanmedizin und Philosophie und ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie.
Seine Forschungsinteressen liegen in den Bereichen Resilienz, affektive Störungen und Interessenkonflikte  /  ärztliche Unabhängigkeit. Er wurde
psychotherapeutisch mit verhaltenstherapeutischem und schematherapeutischem Schwerpunkt sowie in Dialektisch-behavioraler Therapie (DBT) ausgebildet.
Er hat seit 2008 keine persönlichen Honorare für Beratertätigkeiten, Fortbildungsveranstaltungen, Vorträge oder Stellungnahmen von pharmazeutischen
Unternehmen oder Medizinprodukteherstellern erhalten.
PD Dr. Swantje Matthies ist Oberärztin an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Freiburg. Sie studierte Humanmedizin
und Philosophie und ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie. Ihre Forschungsinteressen liegen in den Bereichen Psychotherapie der ADHS im
Erwachsenenalter und emotionale Instabilität. Sie wurde psychotherapeutisch mit verhaltenstherapeutischem Schwerpunkt und in Dialektisch behavioraler
Therapie (DBT) ausgebildet. Sie hat in den letzten 3  Jahren keine persönlichen Honorare für Beratertätigkeiten, Fortbildungsveranstaltungen, Vorträge oder
Stellungnahmen von pharmazeutischen Unternehmen oder Medizinprodukteherstellern erhalten.
Dr. Friederike Mayer-Bruns ist als Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie in eigener Praxis in Freiburg tätig und hat die ärztliche Leitung der
ambulanten Rehabilitation der Beratungsstelle FrauenZimmer für Frauen und Mädchen mit Suchterkrankungen inne. Sie arbeitet als Supervisorin,
Selbsterfahrungsleiterin und Dozentin für Verhaltenstherapie und Dialektisch-behaviorale Therapie (DBT). Nach dem Studium der Humanmedizin in Berlin
absolvierte sie ihre Facharztausbildung an der Universitätsklinik in Freiburg und war an Psychotherapiestudien zur Borderline-Persönlichkeitsstörung und DBT
beteiligt. Sie hat seit 2005 keine persönlichen Honorare für Beratertätigkeiten, Fortbildungsveranstaltungen, Vorträge oder Stellungnahmen von
pharmazeutischen Unternehmen oder Medizinprodukteherstellern erhalten.
Prof. Dr. Wolfgang Retz ist Direktor des Instituts für Gerichtliche Psychologie und Psychiatrie der Universität des Saarlandes und Leiter der Forensischen
Psychiatrie und Psychotherapie an der Universitätsmedizin Mainz. Er studierte Humanmedizin, ist Facharzt für Psychiatrie und Psychiatrie und besitzt die
Schwerpunktbezeichnung Forensische Psychiatrie. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Gewaltdelinquenz und ADHS im Erwachsenenalter.
In den letzten 3 Jahren hat er persönliche Honorare für Beratertätigkeiten, Fortbildungsveranstaltungen, Vorträge und Stellungnahmen des pharmazeutischen
Unternehmens Medice erhalten.
Dr. Stefan Schenkel ist Assistenzarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz. Er studierte Humanmedizin und
promovierte an der Universitätsmedizin Mainz. Seine klinischen Interessen liegen in den Bereichen psychiatrische Notfallmedizin und Konsiliardienst. Er hat
noch nie Honorare für Beratertätigkeiten, Fortbildungsveranstaltungen, Vorträge oder Stellungnahmen von pharmazeutischen Unternehmen oder
Medizinprodukteherstellern erhalten.
Dr. Dr. Daniel Turner ist Assistenzarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz sowie Post-Doc in der Arbeitsgruppe
Forensische Psychiatrie. Er studierte Psychologie und Medizin und promovierte in beiden Fächern. Seine Forschungsinteressen liegen in den Bereichen
gesundes sexuelles Verhalten, sexuelle Störungen sowie sexuelle Gewalt gegen Erwachsene und Kinder. Er hat noch nie Honorare für Beratertätigkeiten,
Fortbildungsveranstaltungen, Vorträge oder Stellungnahmen von pharmazeutischen Unternehmen oder Medizinprodukteherstellern erhalten.
Prof. Dr. Oliver Tüscher ist stellvertretender Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz sowie Professor für
klinische Resilienzforschung an der Universitätsmedizin und am Deutschen Resilienz Zentrum (DRZ gGmbH) Mainz. Er studierte Humanmedizin und ist
Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Facharzt für Neurologie. Seine Forschungsinteressen liegen in den Bereichen Resilienz, Störungen der
Selbstregulation, neurodegenerative und neuropsychiatrische Erkrankungen sowie seltene Erkrankungen des zentralen Nervensystems. Er wurde
psychotherapeutisch mit verhaltenstherapeutischem und schematherapeutischem Schwerpunkt sowie in Dialektisch-behavioraler Therapie (DBT) ausgebildet.
Er hat seit 2009 keine persönlichen Honorare für Beratertätigkeiten, Fortbildungsveranstaltungen, Vorträge oder Stellungnahmen von pharmazeutischen
Unternehmen oder Medizinprodukteherstellern erhalten.
Prof. Dr. Ulrich Voderholzer ist ärztlicher Direktor der Schön Klinik Roseneck und außerplanmäßiger Professor an der Klinik für Psychiatrie und
Psychotherapie des Universitätsklinikums Freiburg. Er leitet darüber hinaus eine wissenschaftliche Arbeitsgruppe in Kooperation mit der Klinik für Psychiatrie
und Psychotherapie des Universitätsklinikums München. Er studierte Humanmedizin und Philosophie und ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie
sowie Supervisor in Psychotherapie. Darüber hinaus ist er Master of Medical Education an der Universität Bern. Seine Forschungsinteressen liegen in den
Bereichen Zwangsstörungen, Essstörungen sowie Schlaf- und affektive Störungen mit Schwerpunkt Psychotherapieforschung. Er hat seit 2009 keine
persönlichen Honorare für Beratertätigkeiten, Fortbildungsveranstaltungen, Vorträge oder Stellungnahmen von pharmazeutischen Unternehmen oder
Medizinprodukteherstellern erhalten.
Adressen
Annette Brückner , Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Universitätsmedizin Mainz
Untere Zahlbacher Str. 8
55131 Mainz
Prof. Dr. Dr. med. Stefan Brunnhuber , Diakoniewerk Zschadraß gGmbH
Fachkrankenhaus für Psychiatrie,
Psychotherapie und Neurologie
Im Park 15A
04680 Colditz
Dr. med. Ulrich Förstner , AMEOS Klinikum Bad Aussee, assoziiert an die Medizinische Universität Graz
Sommersbergseestr. 395
A-8990 Bad Aussee
Dr. med. Sabine Frauenknecht , Goethestr. 24
79100 Freiburg
Prof. Dr. med. Michael Huss , Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie
Universitätsmedizin Mainz
Langenbeckstr. 1
55131 Mainz
PD Dr. phil. Gitta Jacob , Lorenzengasse 7
22303 Hamburg
Prof. Dr. med. Klaus Lieb , Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Universitätsmedizin Mainz
Untere Zahlbacher Str. 8
55131 Mainz
PD Dr. med. Swantje Matthies , Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Universitätsklinikum Freiburg
Hauptstr. 5
79104 Freiburg
Dr. med. Friederike Mayer-Bruns , Praxis für Psychiatrie und Psychotherapie
Oberlindenpassage
Herrenstr. 49
79098 Freiburg
Prof. Dr. med. Wolfgang Retz , Abt. Forensische Psychiatrie und Psychotherapie
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Universitätsmedizin Mainz
Untere Zahlbacher Str. 8
55131 Mainz
Dr. med. Stefan Schenkel , Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Universitätsmedizin Mainz
Untere Zahlbacher Str. 8
55131 Mainz
Dr. Dr. med. Daniel Turner , Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Universitätsmedizin Mainz
Untere Zahlbacher Str. 8
55131 Mainz
Prof. Dr. med. Oliver Tüscher , Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Universitätsmedizin Mainz
Untere Zahlbacher Str. 8
55131 Mainz
Prof. Dr. med. Ulrich Voderholzer , Schön Klinik Roseneck
Am Roseneck 6
83209 Prien am Chiemsee
Abkürzungen
AChE Acetylcholinesterase
ACT Acceptance-and-Commitment-Therapie
AD(H)S Aufmerksamkeitsdefizit(- / Hyperaktivitäts)störung
ALAT Alanin-Aminotransferase
AMDP Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Dokumentation in der Psychiatrie
APA American Psychiatric Association
APP Amyloid-Vorläuferprotein; Ambulante psychiatrische Pflege
ASAT Aspartat-Aminotransferase
ASS Autismus-Spektrum-Störungen
AVK arterielle Verschlusskrankheit
BDD Bodily Distress Disorder
BDI Beck-Depressions-Inventar
BGB Bürgerliches Gesetzbuch
BMI Body-Mass-Index
BPS Borderline-Persönlichkeitsstörung
BSG Blutkörperchensenkungsgeschwindigkeit
BtM(G) Betäubungsmittel(-Gesetz)
BVerfG Bundesverfassungsgericht
bzgl. bezüglich
CBASP Cognitive-Behavioral Analysis System of Psychotherapy
cCT kranielle Computertomografie
CDT kohlenhydratdefizientes Transferrin
CFS Chronic-Fatigue-Syndrom
CJK Creutzfeldt-Jakob-Krankheit
CK Kreatinphosphokinase
CO Kohlenstoffmonoxid
CR konditionierte Reaktion
CRP C-reaktives Protein
CS konditionierter Stimulus
CT Computertomografie
d. h. das heißt
DBT Dialektisch-behaviorale Therapie
DD Differenzialdiagnose
DDD defined daily doses; definierte Tagesdosen
DSM Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders
EEG Elektroenzephalografie / -gramm
EKG Elektrokardiografie / -gramm
EKT Elektrokonvulsionstherapie
engl. englisch
EPS extrapyramidalmotorische Störungen
fMRT funktionelle Magnetresonanztomografie
FTD frontotemporale Demenz
GAS generalisierte Angststörung
G-CSF Granulozytenkolonie-stimulierender Faktor
GFR glomeruläre Filtrationsrate
ggw. gegenwärtig
γ-GT Gamma-Glutamyltranspeptidase
GHB Gamma-Hydroxy-Buttersäure
GOT Glutamat-Oxalacetat-Transaminase
GPT Glutamat-Pyruvat-Transaminase
h lat. hora; Stunde
HAMD Hamilton-Depressionsskala
HEE high expressed emotions
HIV humanes Immundefizienzvirus
HWZ Halbwertszeit
i. S. im Sinne
i. Allg. im Allgemeinen
i. m. intramuskulär
i. v. intravenös
i. d. R. in der Regel
ICD International Statistical Classification of Diseases, Injuries and Causes of Death
IDS Inventar depressiver Symptome
insb. insbesondere
IPT Interpersonelle Psychotherapie
IQ Intelligenzquotient
Jh. Jahrhundert
KHK koronare Herzkrankheit
Kps. Kapsel
KVT kognitive Verhaltenstherapie
Li Lithium
Lj. Lebensjahr
LKD Lewy-Körperchen-Krankheit
LSD Lysergsäurediethylamid
MAO Monoaminoxidase
MAS multiaxiales Klassifikationsschema
MBCT Mindfulness-based Cognitive Therapy
MBT Mentalization-based Therapy
MCI mild cognitive impairment
MCV mittleres korpuskuläres Volumen
MD(M)A Methylendioxy(-N-methyl)amphetamin
min Minute
MMST Mini-Mental-Status-Test
MNS malignes neuroleptisches Syndrom
MoCA Montreal Cognitive Assessment
MRS Magnetresonanzspektroskopie
MRT Magnetresonanztomografie
MS multiple Sklerose
n. n. bez. nicht näher bezeichnet
NAA N-Acetyl-Aspartat
NaSSA noradrenerge und spezifisch serotonerge Antidepressiva (α 2 -Antagonisten)
NCD neurocognitive disorders (neurokognitive Störungen)
Ncl. Nucleus
NPS neuartige psychoaktive Substanzen
OCD obsessive-compulsive disorder
p. o. per os; oral
PCP Phencyclidin
PCR Polymerase-Kettenreaktion
PET Positronenemissionstomografie
PIA Psychiatrische Institutsambulanz
PMR progressive Muskelrelaxation
PPA primär progressive Aphasie
PS Persönlichkeitsstörung
PSG Polysomnografie
PsychKG Psychisch-Kranken-Gesetz
Psych-PV Psychiatrie-Personalverordnung
PTBS posttraumatische Belastungsstörung
RCT randomised controlled trial (randomisierte, kontrollierte Studie)
REM rapid eye movement
RET Rational-emotive Therapie
ret. retard
RR Blutdruck nach Riva-Rocci
s. c. subkutan
s. o. / u. siehe oben / unten
SFT Schemafokussierte Therapie
SHT Schädel-Hirn-Trauma
SIADH Syndrom der inadäquaten ADH-Sekretion
SLE systemischer Lupus erythematodes
SNDRIs selektive (duale) Noradrenalin- und Dopamin-Wiederaufnahmehemmer
SNRIs selektive Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer
SPECT Single Photon Emission Computed Tomography
SSNRIs selektive (duale) Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer
SSRIs selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer
StäB Stationsäquivalente Behandlung
StGB Strafgesetzbuch
StPO Strafprozessordnung
Tbl. Tablette
TDM therapeutisches Drug-Monitoring
TFT Transference Focused Therapy, übertragungsfokussierte Therapie
TIA transitorische ischämische Attacke
TSG Transsexuellen-Gesetz
TSH Thyreoidea-stimulierendes Hormon
TZA trizyklische Antidepressiva
UBG Unterbringungsgesetz
UCS unkonditionierter Stimulus
v. a. vor allem
WfbM Werkstatt für behinderte Menschen
z. N. zur Nacht
z. B. zum Beispiel
ZNS zentrales Nervensystem
ZPO Zivilprozessordnung
Abbildungsnachweis
Der Verweis auf die jeweilige Abbildungsquelle befindet sich bei allen Abbildungen im Werk am Ende des Legendentextes in eckigen Klammern. Alle nicht
besonders gekennzeichneten Grafiken und Abbildungen © Elsevier GmbH, München.
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G813 Bleuler M. Lehrbuch der Psychiatrie. 15. A. Berlin, Heidelberg: Springer 1983
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H096-001 Kraus L, Pabst A. Epidemiologischer Suchtsurvey 2009. Sucht 2010; 56: 309–384. Hogrefe
L141 Stefan Elsberger, Planegg
L143 Heike Huebner
L231 Stefan Dangl, München
M1010 Prof. Dr. Dr. Stefan Brunnhuber, Zschadraß
M1012 Prof. Dr. Christoph Wewetzer, Würzburg
M515 Prof. Dr. Klaus Lieb, Mainz
M516 Dr. Sabine Frauenknecht, Freiburg
M823 Prof. Dr. Otmar Wiestler, DKFZ Heidelberg
M825 Dr. Michael Schirmer, Berlin
P553 Prof. Dr. med. Oliver Tüscher, Mainz
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R282-6 Hiller W, Rief W. Somatoforme Störungen. In: Berger M (Hrsg.). Psychische Erkrankungen. Klinik und Therapie. München: Elsevier Urban & Fischer
2019, S. 551
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R378 Ebe M, Homma I. Leitfaden für die EEG-Praxis. 3. A. München: Elsevier Urban & Fischer 2002
T788 Psychological Assessment Resources, Inc., Lutz, Florida (USA). Copyright 1975, 1998, 2001 by Mini Mental LLC, Inc. © Psychological Assessment
Resources 2001
T1025 Prof. Dr. Hans-Ulrich Wittchen, Dresden
T1026 Prof. Dr. Hüll Michael, Freiburg
T1027 Kinsey Institute, Indiana University
T1028 Prof. Dr. Dieter Riemann, Freiburg
W1073 Riemann D, Fischer J, Mayer G, Peter HJ. Leitlinie „Nicht erholsamer Schlaf”: Relevanz für Diagnostik und Therapie der Insomnie. Somnologie -
Schlafforschung und Schlafmedizin 2003; 7(2): 66–76. Springer Science + Business Media
W893 Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. (DGPPN)
W893-1 Fichter M, Schweiger U, Krieg C, Prike K-M, Ploog D, Remschmidt H. Behandlungsleitlinie Eßstörungen. In: Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie,
Psychotherapie und Nervenheilkunde (Hrsg.), Praxisleitlinien in Psychiatrie und Psychotherapie. Bd. 4; Darmstadt: Steinkopff 2000
KAPITEL 0

Wichtigste diagnostische Hauptgruppen der ICD-


10 und ICD-11
Tab. 0.1 Die wichtigsten diagnostischen Hauptgruppen der ICD-10
ICD-10-Kapitel Kapitel in diesem
Buch
F0 Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen

F00 Demenz bei Alzheimer-Krankheit ➤

F01 Vaskuläre Demenz ➤

F02 Demenz bei sonstigen anderenorts klassifizierten Erkrankungen ➤



F03 Nicht näher bezeichnete Demenz ➤

F04 Organisches amnestisches Syndrom ➤

F05 Delir, nicht durch psychotrope Substanzen bedingt ➤

F06 Sonstige psychische Störungen aufgrund einer Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns oder einer körperlichen ➤
Krankheit

F07 Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen aufgrund einer Krankheit, Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns ➤

F1 Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen

F10 Störungen durch Alkohol ➤

F11 Störungen durch Opioide ➤

F12 Störungen durch Cannabinoide ➤

F13 Störungen durch Sedativa oder Hypnotika ➤

F14 Störungen durch Kokain ➤

F15 Störungen durch sonstige Stimulanzien einschließlich Koffein ➤

F16 Störungen durch Halluzinogene ➤

F17 Störungen durch Tabak ➤.

F18 Störungen durch flüchtige Lösungsmittel ➤

F19 Störungen durch multiplen Substanzgebrauch und Konsum anderer psychotroper Substanzen ➤

F2 Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen

F20 Schizophrenie ➤

F21 Schizotype Störung ➤

F22 Anhaltende wahnhafte Störungen ➤

F23 Akute vorübergehende psychotische Störungen ➤

F24 Induzierte wahnhafte Störung ➤

F25 Schizoaffektive Störungen ➤

F28 Sonstige nichtorganische psychotische Störungen ➤

F3 Affektive Störungen

F30 Manische Episode ➤

F31 Bipolare affektive Störung ➤

F32 Depressive Episode ➤

F33 Rezidivierende depressive Störungen ➤

F34 Anhaltende affektive Störungen ➤

F38 Andere affektive Störungen ➤


ICD-10-Kapitel Kapitel in diesem
Buch
F39 Nicht näher bezeichnete affektive Störung ➤

F4 Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen

F40 Phobische Störung ➤

F41 Andere Angststörungen ➤

F42 Zwangsstörung ➤

F43 Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen ➤

F44 Dissoziative Störungen (Konversionsstörungen) ➤

F45 Somatoforme Störungen ➤

F48 Andere neurotische Störungen ➤


F5 Verhaltensauffälligkeiten in Verbindung mit körperlichen Störungen oder Faktoren

F50 Essstörungen ➤

F51 Nichtorganische Schlafstörungen ➤

F52 Nichtorganische sexuelle Funktionsstörungen ➤

F55 Schädlicher Gebrauch von nicht abhängigkeitserzeugenden Substanzen ➤

F6 Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen

F60 Persönlichkeitsstörungen ➤

F61 Kombinierte und sonstige Persönlichkeitsstörungen ➤

F62 Andauernde Persönlichkeitsänderungen ➤

F63 Abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle ➤

F64 Störungen der Geschlechtsidentität ➤

F65 Störungen der Sexualpräferenz ➤

F66 Psychische und Verhaltensprobleme in Verbindung mit der sexuellen Entwicklung und Orientierung ➤

F7 Intelligenzminderung

F70 Leichte Intelligenzminderung ➤

F71 Mittelgradige Intelligenzminderung ➤

F72 Schwere Intelligenzminderung ➤

F73 Schwerste Intelligenzminderung ➤

F74 Dissoziierte Intelligenzminderung ➤

F78 Sonstige Intelligenzminderung ➤

F79 Nicht näher bezeichnete Intelligenzminderung ➤

F8 Entwicklungsstörungen

F80 Umschriebene Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache ➤

F81 Umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten ➤

F82 Umschriebene Entwicklungsstörungen der motorischen Funktionen ➤

F83 Kombinierte umschriebene Entwicklungsstörungen ➤

F84 Tief greifende Entwicklungsstörungen ➤

F9 Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend

F90 Hyperkinetische Störungen ➤

F91 Störungen des Sozialverhaltens ➤

F92 Kombinierte Störungen des Sozialverhaltens und der Emotionen ➤

F93 Emotionale Störungen des Kindesalters ➤

F94 Störungen sozialer Funktionen mit Beginn in der Kindheit und Jugend ➤

F95 Ticstörungen ➤

F98 Sonstige Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend ➤
Tab. 0.2 Die diagnostischen Hauptgruppen der ICD-11
ICD-11-Kapitel Kapitel in diesem Buch

6: Psychische und Verhaltensstörungen und Störungen der neuronalen und mentalen Entwicklung

Entwicklungsstörungen ➤

Schizophrenie und andere primäre psychotische Störungen ➤

Katatonie ➤

Affektive Störungen ➤

Angst- und angstbezogene Störungen ➤

Zwangsstörungen und verwandte Störungen ➤

Stressassoziierte Erkrankungen ➤

Dissoziative Störungen ➤

Fütter- und Essstörungen ➤

Ausscheidungsstörungen ➤

Somatische Belastungsstörung und verwandte Störungen ➤

Substanzabhängigkeiten und Verhaltenssüchte ➤

Impulskontrollstörungen ➤

Disruptive und Sozialverhaltensstörungen ➤

Persönlichkeitsstörungen ➤

Störungen der Sexualpräferenz / Paraphilien ➤

Artifizielle Störungen ➤

Neurokognitive Störungen ➤

Psychische und Verhaltensstörungen in Zusammenhang mit Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett Bei den entsprechenden Störungen

Sekundäre psychische oder Verhaltensstörungen ➤


7: Schlaf-Wach-Störungen

Schlafstörungen ➤

17: Störungen bezogen auf die Sexualität

Sexuelle Funktionsstörungen ➤

Geschlechtsinkongruenz / -dysphorie ➤
vorläufige Übersetzungen der Autoren.
Tab. 0.3 Die wichtigsten neuen Krankheitsbilder in der ICD-11
Krankheitsbild Kapitel in diesem Buch
Katatonie ➤

Bipolar-II-Störung ➤

Prämenstruelle dysphorische Störung ➤

Körperdysmorphe Störung ➤

Olfaktorisches Referenzsyndrom ➤

Zwanghaftes Horten ➤

Trichotillomanie und Dermatotillomanie ➤

Komplexe posttraumatische Belastungsstörung ➤

Prolongierte Trauerstörung ➤

Binge-Eating-Störung ➤

Vermeidend-restriktive Ernährungsstörung (ARFID) ➤

„Body Integrity Dysphoria“ ➤

Pathologischer Internetgebrauch ➤

Pathologisches Sexualverhalten (Hypersexualität) ➤

Intermittierende explosible Störung ➤

Geschlechtsinkongruenz / -dysphorie ➤
KAPITEL 1

Einführung
Klaus Lieb

1.1. Psychiatrie und Psychotherapie


Das Fach Psychiatrie und Psychotherapie umfasst die Diagnostik, Therapie und Prävention psychischer Erkrankungen sowie deren Erforschung und
Lehre. Den Mittelpunkt des Fachs bilden Erkrankungen des zentralen Nervensystems (ZNS), bei denen eine psychische Symptomatik im Vordergrund der
Störung steht. Im Gegensatz dazu befasst sich das Fach Neurologie mit der Diagnostik, Therapie und Prävention organischer Erkrankungen des zentralen,
peripheren oder vegetativen Nervensystems, bei denen keine psychische Symptomatik im Vordergrund steht. Früher waren beide Fächer im Fach
Nervenheilkunde vereint, heute sind die Facharztweiterbildungen bis auf je ein Jahr verpflichtende Weiterbildung im jeweils anderen Fach getrennt (➤ ). Das
Fach Psychosomatische Medizin und Psychotherapie ist in Deutschland, nicht aber international, ein eigenes Fach. Es fokussiert in seinem Kern insbesondere
auf psychische Faktoren bei körperlichen Erkrankungen (z.  B. Psychoonkologie, Essstörungen etc.), hat sich in Deutschland aber häufig dem
Behandlungsspektrum der Psychiatrie und Psychotherapie angenähert, sodass die Fächergrenzen unscharf geworden sind.
In der langen Geschichte der Psychiatrie gab es immer wieder Phasen, in denen (häufig aus ideologischen Gründen) entweder biologische, psychologische
oder soziale Ursachen psychischer Erkrankungen in den Vordergrund des (Forschungs-)Interesses gerückt wurden. So entstanden Forschungs- und
Therapierichtungen wie „Sozialpsychiatrie“ oder „biologische Psychiatrie“, deren Vertreter sich gegenseitig eindimensionale Sichtweisen psychischer
Erkrankungen vorwarfen. Heute ist unumstritten, dass psychologische, neurobiologische / somatische und soziale Faktoren – wenn auch in unterschiedlichem
Ausmaß  –  an der Entstehung und Aufrechterhaltung aller psychischer Erkrankungen beteiligt sind. Daher sollten psychisch erkrankte Menschen immer
multidimensional betrachtet und therapiert werden. Gerade diese multidimensionale Betrachtungsweise des Patienten macht die Psychiatrie zu einem der
spannendsten Fächer der Medizin, da es (leider) einzigartig in der Medizin geworden ist, den Menschen an der Schnittstelle zwischen Somatik und Psyche in
seinen sozialen, psychologischen und biologischen Dimensionen ganzheitlich zu sehen und zu verstehen.
Das Fach Psychiatrie und Psychotherapie hat immer noch mit starken Vorurteilen zu kämpfen. So meinen z. B. viele, die sich erstmals mit diesem Fach
beschäftigen, es wäre im Gegensatz zu Fächern wie Innere Medizin und Chirurgie nicht so wichtig, es wären viel weniger Menschen betroffen, die Systematik
wäre unübersichtlich, Diagnosen könnten nicht valide gestellt werden, die Therapie sei weitgehend eine beruhigende ohne kausale Hilfe, und die Psychiater
seien selbst irgendwie alle verrückt. Wir hoffen, dass wir mit diesem Buch viele dieser Vorurteile abbauen können, denn wir werden sehen:

• Psychische Erkrankungen gehören zu den Erkrankungen, die unter allen (körperlichen und psychischen) Erkrankungen am häufigsten zu
chronischem Leid führen.
• Psychische Erkrankungen lassen sich anhand operationalisierter Diagnosekriterien gut beschreiben und kategorisieren.
• Die Therapiemöglichkeiten psychischer Erkrankungen haben sich in den letzten Jahrzehnten dramatisch verbessert, wofür neben neuen
Medikamentenentwicklungen insbesondere störungsorientierte Psychotherapieverfahren verantwortlich sind. Häufig sind kombinierte Verfahren aus
Psycho- und Pharmakotherapie am besten wirksam.
• Die Diagnostik, Ursachenforschung und Therapie psychischer Erkrankungen orientiert sich an Kriterien der evidenzbasierten Medizin (➤ ). Die
Psychiatrie und Psychotherapie ist eines der medizinischen Fächer, für das am meisten Wissen zu evidenzbasierten Therapieverfahren vorliegt.
• Die Psychiatrie betreibt als Teil der klinischen Neurowissenschaften Forschung zum Verständnis der normalen und gestörten Hirnfunktionen. Durch
modernste Forschungsmethoden hat sie einen zentralen Platz in der höchst spannenden Hirnforschung eingenommen.

Nicht nur das Fach Psychiatrie und Psychotherapie, sondern auch psychisch kranke Menschen werden häufig mit Vorurteilen betrachtet, was man als
Stigmatisierung psychisch kranker Menschen bezeichnet. Beispiele für solche Vorurteile sind: „In einer psychiatrischen Klinik werden nur Verrückte und
Unzurechnungsfähige behandelt“ oder „Wer einmal in der Psychiatrie landet, wird zum Dauerpatienten“. Auch der Sprachgebrauch wie „Klapse“, „Anstalt“,
„Irre“ oder „Idioten“ fördert die Stigmatisierung. Dazu kommen stigmatisierende Kognitionen der Patienten selbst, die sich aufgrund der Erkrankung z. B. für
wertlos halten und sich nichts mehr zutrauen. Stigmatisierung wurde daher auch als das zweite Leiden psychisch kranker Menschen bezeichnet. Gutes Wissen
über psychische Erkrankungen kann helfen, Stigmatisierungen abzubauen.
Gute Kenntnisse des Fachs schützen daher nicht nur vor Fehl-, sondern auch vor Vorurteilen. Indem wir versuchen, mit diesem Buch zu einem fundierten
und vorurteilsfreien Wissen beizutragen, streben wir gleichzeitig an, der Stigmatisierung psychisch kranker Menschen entgegenzuwirken.

1.2. Systematik psychischer Erkrankungen


Beim Erstellen einer Krankheitssystematik stößt das Fach Psychiatrie und Psychotherapie auf größere Schwierigkeiten als andere medizinische Disziplinen.
Das liegt u. a. daran, dass die Ätiologie vieler psychischer Erkrankungen bis heute nicht genau geklärt ist, dass psychopathologische Symptome und Syndrome
eine geringe Spezifität haben und i. d. R. keine Labor- oder anderen „objektiven“ Messparameter vorhanden sind, die eine Diagnose erhärten könnten.
Bis zur Einführung der aktuell gültigen Klassifikationssysteme in den 1990er-Jahren wurden psychische Erkrankungen im sog. triadischen System nach
ihrer angenommenen Ätiologie in organische Psychosen, „endogene“ Psychosen und „psychogene“ Störungen eingeteilt. In den modernen
Klassifikationssystemen – der International Statistical Classification of Diseases der WHO in ihrer immer noch gültigen 10. Auflage von 1992 (ICD-10)
sowie das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders der American Psychiatric Association (APA) in seiner 5. Auflage (DSM-5 ® , 2013) – 
wurde diese Klassifikationsweise aufgegeben. Sie erstellen eine Krankheitssystematik im Wesentlichen anhand phänomenologischer Kriterien wie z.  B.
Symptomatik, Schweregrad und Verlauf. Die ICD-11 befindet sich aktuell in der abschließenden Phase der Entwicklung. Mit einer Veröffentlichung ist nicht
vor 2020 zu rechnen. Selbst bei zeitnaher Veröffentlichung wird es eine jahrelange Übergangsphase geben, bis nach der ICD-11 verbindlich codiert werden
muss. Daher werden in der Neuauflage dieses Buches unverändert die ICD-10-Kriterien der Krankheitsbilder dargestellt und in jedem Kapitel auch die
wichtigsten zu erwartenden Änderungen in der ICD-11 berichtet. Darüber hinaus werden in der ICD-11 erstmals neu beschriebene Krankheitsbilder in den
entsprechenden Kapiteln vorgestellt.

Merke
Die Klassifikationssysteme ICD-10 bzw. ICD-11 und DSM-5® haben das triadische System abgelöst. Sie teilen
psychische Erkrankungen im Wesentlichen nach phänomenologischen Gesichtspunkten ein.

1.2.1. Klassifikation nach der ICD-10


Mit Ausnahme der USA, in denen das DSM-5® gültig ist, werden psychische Erkrankungen weltweit unverändert im Kapitel F der International Statistical
Classification of Diseases der WHO (10. Auflage von 1992, daher ICD-10 ) klassifiziert.
➤ gibt eine Übersicht über die diagnostischen Hauptgruppen der ICD-10 (vgl. auch ➤ ).

Tab. 1.1 Diagnostische Hauptgruppen der ICD-10


F0 Organische psychische Störungen

F1 Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen (Suchterkrankungen)

F2 Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen

F3 Affektive Störungen (Depression, Manie, bipolare Störung)

F4 Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen


• Angst- und Zwangsstörungen
• Anpassungsstörungen
• Somatoforme Störungen
• Dissoziative Störungen

F5 Verhaltensauffälligkeiten in Verbindung mit körperlichen Störungen und Faktoren


• Essstörungen (Anorexie und Bulimie)
• Schlafstörungen

F6 Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen

F7 Intelligenzminderung

F8 Entwicklungsstörungen

F9 Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend

Die Krankheitssystematik der ICD-10 zieht sich als roter Faden durch dieses Buch, wobei den jeweiligen Störungskapiteln zur Vermittlung notwendiger
Grundlagen ein Kapitel zur psychiatrisch-psychotherapeutischen und apparativen Diagnostik und eines zur Therapie psychischer Erkrankungen im
Allgemeinen vorangestellt sind. Für das erste Verständnis ist wichtig:

• Die Diagnosegruppen F0 und F1 sind ätiologisch orientiert: Der psychischen Symptomatik der hier klassifizierten Störungen liegt eine
umschriebene organische Ursache wie z. B. ein neurodegenerativer Prozess (z. B. Alzheimer-Demenz), ein Hirntumor oder eine extrazerebrale
Erkrankung, die das Gehirn sekundär in Mitleidenschaft zieht, zugrunde (F0X.XX), oder sie ist Folge der Einnahme einer psychotropen Substanz
wie z. B. Alkohol oder Heroin (F1X.XX).
• Die Diagnosegruppen F2–F6 unterscheiden sich durch eine mehr oder weniger typische und abgrenzbare Psychopathologie. So stehen bei den
Schizophrenien (F2X.XX) z. B. abnorme Erlebnisweisen wie Wahn oder Halluzinationen im Vordergrund der Symptomatik, während bei affektiven
Störungen wie z. B. den Depressionen Störungen des emotionalen Erlebens führend sind. Die Ätiologie dieser Störungen ist multifaktoriell, wobei
je nach Störung biologische, psychologische oder soziale Krankheitsursachen überwiegen.
• Die Diagnosegruppen F7–F9 klassifizieren Entwicklungsstörungen, die u. a. in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie behandelt
werden.

Das Einteilungsprinzip der ICD-10 nach phänomenologischen Gesichtspunkten lässt sich gut am Beispiel Depression erläutern (➤ ). Depressionen sind
gekennzeichnet durch:

• bestimmte psychopathologische Symptome, die in drei Hauptkriterien und sieben Nebenkriterien eingeteilt werden;
• einen bestimmten Schweregrad (leicht, mittelgradig oder schwer), über den die Anzahl der Haupt- und Nebenkriterien entscheidet;
• einen bestimmten Verlauf: Depressionen können einmalig oder wiederkehrend (rezidivierend) oder im Wechsel mit manischen Episoden (bipolare
Störung) auftreten.

Hat die depressive Symptomatik eine nachweisbare organische Ursache (z.  B. einen Hirntumor oder eine schwere Hypothyreose), spricht man von einer
organischen Depression und codiert die Störung im Kapitel F0 (also bei den organischen psychischen Störungen). Falls eine organische Ursache
ausgeschlossen ist und die Diagnosekriterien erfüllt sind, codiert man die Störung im Kapitel F3 bei den affektiven Störungen.
An der kategorialen Diagnostik psychischer Störungen wurde zu Recht viel Kritik geübt und an deren Stelle oder in Ergänzung dimensionale Modelle z. 
B. bei den Persönlichkeitsstörungen im DSM-5® (➤ ) vorgeschlagen.
Auch an der Ausweitung der Diagnosen in den Klassifikationssystemen wie dem DSM-5® wurde vielfach Kritik geäußert, u. a. von Allen Frances, dem
Leiter der DSM-IV-Entwicklung. Hauptkritikpunkt ist die Befürchtung, dass immer mehr Variationen des normalen Erlebens pathologisiert und damit immer
mehr Menschen als psychisch krank deklariert werden. Auf der anderen Seite erlaubt die immer differenzierter werdende Beschreibung psychischer Störungen
auch Störungsbeschreibungen, die dem einzelnen Patienten besser gerecht werden und die neue Möglichkeiten der Erforschung der zugrunde liegenden
Ursachen und von Behandlungsoptionen eröffnen.

1.2.2. Zu erwartende Änderungen in der Klassifikation nach ICD-11


In der ICD-11 (die bisher nur in einer vorläufigen Endversion vorliegt) werden die psychischen Störungen im Kapitel 6 (nicht mehr F) unter „Mental,
behavioural or neurodevelopmental disorders“ sowie in den Kapiteln 7 („Sleep-wake disorders“) und 17 („conditions related to sexual health“) beschrieben (➤
). Voraussichtlich wird es dazu kommen, dass die Erkrankungen wie auch im DSM-5® nicht mehr in so großen Kategorien wie in der ICD-10
zusammengefasst werden. So wird z.  B. das Kapitel F04 („Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen“) in die einzelnen Krankheitsgruppen
Angststörungen, Zwangsstörungen, stressassoziierte Erkrankungen (z.  B. posttraumatische Belastungsstörung und Anpassungsstörungen) und dissoziative
Störungen aufgelöst. Andere Störungen, die bisher in größeren Kategorien subsumiert wurden, bekommen nun eigene Kategorien, so z. B. die katatone Störung,
die Ausscheidungsstörungen (Enuresis, Enkopresis), die Impulskontrollstörungen oder die Störungen der Sexualpräferenz  /  Paraphilien. Bestimmte
Erkrankungen werden anderen Kategorien zugerechnet: So wird z.  B. die Hypochondrie nicht mehr bei den somatoformen Störungen, sondern bei den
Zwangsspektrumsstörungen beschrieben. Und es werden einige Erkrankungen erstmals genauer beschrieben, so z.  B. die artifiziellen Störungen und die
Geschlechtsdysphorie. Insgesamt ähneln sich die Klassifikationen im DSM-5® und in der ICD-11 über weite Strecken.
Wir haben die in der ICD-11 zu erwartenden Änderungen in diesem Buch aufgegriffen: Zu Beginn eines Kapitels geben wir jeweils eine Übersicht über die
Kategorisierung der Erkrankungen nach ICD-10, ICD-11 und DSM-5® und haben die Krankheitsbilder in Annäherung an die Gliederung der ICD-11 neu
geordnet. Da jedoch in der Übergangsphase zur ICD-11 auf absehbare Zeit weiterhin nach der ICD-10 codiert werden muss, stellen wir unverändert zur 8.
Auflage die ICD-10-Kriterien der einzelnen Störungen vor. Zusätzlich beschreiben wir aber die Störungen, die neu in die ICD-11 aufgenommen werden sollen.
So bietet das Buch alle Elemente der ICD-10, nimmt zukunftsweisend aber schon die ICD-11 in den Blick.
Eine Übersicht über die Störungsgruppen in der ICD-11 findet sich am Anfang des Buches (➤ ).

1.3. Epidemiologie und Ursachen psychischer Erkrankungen


1.3.1. Häufigkeit psychischer Erkrankungen

Merke
Der Erwerb von Kenntnissen im Fach Psychiatrie und Psychotherapie ist für jeden in der Krankenversorgung tätigen
Arzt wichtig, da psychische Erkrankungen zu den häufigsten Erkrankungen überhaupt gehören. Eine Vielzahl der
Patienten wird von Ärzten anderer Disziplinen behandelt oder zumindest initial von ihnen gesehen.

Epidemiologische Erhebungen in Deutschland (ohne illegale Drogen) für den Zeitraum 2008–2011 zeigen:

• Die Wahrscheinlichkeit, in den letzten 12 Monaten an einer psychischen Erkrankung (ohne Nikotinabhängigkeit) gelitten zu haben, liegt bei 27,7 %
(➤ , ➤ ).
• Frauen (33,3 %) sind häufiger betroffen als Männer (22 %).
• Angststörungen (15,3 %), unipolare Depressionen (7,7 %) und Störungen durch Alkohol- und Medikamentenkonsum (6,9 %) gehören zu den
häufigsten Erkrankungen.
• 55,7 % leiden nur unter einer, 22,1 % unter zwei, 9,6 % unter drei und 12,8 % unter vier oder mehr Störungen.
• Gegenüber der Erhebung von 1998 ergaben sich keine signifikanten Veränderungen. Auch Angststörungen und Depressionen haben nicht
zugenommen. Demenzen nehmen allerdings aufgrund der steigenden Lebenserwartung zu.
• Im Vergleich zu den 35- bis 49-Jährigen sind psychische Erkrankungen häufiger bei Jüngeren (18–34 Jahre) und seltener bei Älteren (65–79 Jahre).
• Psychische Erkrankungen sind häufiger in der unteren im Vergleich zur mittleren sozioökonomischen Schicht.
• Psychotische und affektive Störungen sind häufiger in Großstädten.

Abb. 1.1 12-Monats-Prävalenz verschiedener psychischer Störungen (Jacobi et al. 2014) [T1025 / L141]

Tab. 1.2 Prävalenzraten psychischer Erkrankungen


Gesamt [%] Frauen [%] Männer [%]
Lebenszeitprävalenz 42,6 48,9 36,8

12-Monats- Prävalenz 31,1 37,0 25,3

1-Monats- Prävalenz 19,8 23,9 15,8

Suizide als häufige Todesursache


In Deutschland versterben mehr Menschen durch Suizid als durch Drogen, Verkehr, Mord und AIDS zusammen (➤ ). Wenn man davon ausgeht, dass Suizide
in ca. 90 % der Fälle im Rahmen psychischer Erkrankungen (v. a. Depressionen, Suchterkrankungen und Schizophrenien) erfolgen, lässt sich auch daran die
Bedeutung psychischer Erkrankungen verdeutlichen. Trotz der hohen Bedeutung von Suizidalität und der klaren Tendenz zur Abnahme von Verkehrs- und
Drogentoten wird die Suizidprävention gesundheitspolitisch bisher eher stiefmütterlich behandelt. Im Jahr 2015 gab es in Deutschland 3.459  Verkehrstote,
während 10.080 Menschen durch Suizid starben (➤ ).
Abb. 1.2 Todesursachen in Deutschland 2015 im Vergleich [L141]

1.3.2. Beeinträchtigung der Lebensqualität


Psychische Erkrankungen führen zu einer erheblichen Einschränkung der Lebensqualität und zu einer Erhöhung der Mortalität. Als Summenmaß für die
Krankheitslast haben sich international die Disability-adjusted Life Years (DALYs) durchgesetzt, die sich aus zwei komplementären Einheiten
zusammensetzen: den „Years of Life Lost due to premature death“ (YLL), also dem Verlust an Lebensjahren durch frühzeitigen Tod, und die „Years of Life
lived with Disability“ (YLD), also den durch Behinderung beeinträchtigten Lebensjahren. Die WHO bildet aus diesen Maßen Ranglisten für alle Arten von
Erkrankungen. Basierend auf dieser Berechnung stellt die WHO in ihrem World Health Report 2001 fest, dass in der Gruppe der 15- bis 44-Jährigen unter den
zehn Erkrankungen, die zur stärksten Beeinträchtigung der Lebensqualität führen, vier psychische Erkrankungen rangieren: die unipolaren Depressionen, die
Alkoholerkrankungen, die Schizophrenien und die bipolaren Erkrankungen. Diese Erkrankungen machen etwa ein Viertel aller durch Behinderung
beeinträchtigten Lebensjahre in dieser Altersgruppe aus.
Zukünftig werden psychische Erkrankungen weltweit an Bedeutung gewinnen. Nach Hochrechnungen der WHO zum Global Burden of Disease werden im
Jahr 2030 drei der fünf Erkrankungen mit den stärksten Beeinträchtigungen aus dem Bereich der Psychiatrie kommen, nämlich unipolare Depressionen,
Demenzen und alkoholbezogene Suchterkrankungen (➤ ). Für Deutschland wurden DALYs, YLLs und YLDs für das Jahr 2010 ermittelt. Demnach rangieren
psychische Erkrankungen bzgl. DALYs nach den Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs und muskuloskelettalen Erkrankungen an vierter und bzgl. YLDs an
zweiter Stelle. Unter den psychischen Erkrankungen tragen unipolare Depressionen (Rang 3 nach Rückenschmerzen und ischämischen Herzerkrankungen) und
Angststörungen (Rang 10) am stärksten zu den DALYs bei. Betrachtet man die 20 wichtigsten Todesursachen der Jahre 1990 und 2010, fällt auf, dass
einerseits die Mortalität infolge von Selbstverletzungen abnimmt (Rang 13 auf 18, ➤ ) und andererseits die Mortalität durch Demenzen stark zunimmt (Rang 28
auf 12).
Abb. 1.3 Hochrechnung der WHO: Burden of Disease 2030 der Industrieländer für 12-Monats-Prävalenzen in % [G785 / L141]

1.3.3. Ursachen psychischer Erkrankungen


Psychische Erkrankungen entstehen durch ein komplexes Zusammenspiel biologischer (also z.  B. genetischer, entwicklungsbiologischer, neurochemischer
etc.), psychischer (also z. B. Lernerfahrungen, Traumatisierungen etc.) und sozialer (z. B. Bezugspersonen, Bildung etc.) Faktoren. Je nach Erkrankung haben
jedoch die einzelnen Faktoren wie z.  B. biologische bzw. genetische Ursachen ein unterschiedlich starkes Gewicht (➤ ). Während etwa Depressionen und
Persönlichkeitsstörungen nur zu ca. 30  % durch genetische  /  biologische Faktoren bedingt sind, sind es 60–80  % in der Genese bipolarer Störungen und
Schizophrenien. Auf der anderen Seite spielen psychosoziale Faktoren z. B. bei der Genese von Persönlichkeitsstörungen oder Angsterkrankungen eine größere
Rolle.

Tab. 1.3 Geschätztes prozentuales Gewicht genetischer / biologischer Faktoren bei der Entstehung psychischer und anderer
Erkrankungen
Erblichkeit [%] Psychische Erkrankungen Andere Erkrankungen oder Normvarianten im Vergleich
20–40 Depression, Angststörung, Bulimie, Persönlichkeitsstörung Herzinfarkt

40–60 Alkohol- und Drogenabhängigkeit Blutdruck, Asthma

60–80 Bipolare Störung, Schizophrenie Gewicht, Knochendichte

80–100 Autismus Größe, Gehirnvolumen

Eine Gleichsetzung von „eher biologisch bedingt = eher medikamentöse Therapie“ und „eher psychisch bedingt = eher Psychotherapie“ kann nur
annäherungsweise gelten. Bei Erkrankungen, die wahrscheinlich größtenteils biologisch bedingt sind (wie etwa die Schizophrenien), spielen
psychotherapeutische und soziale Interventionen für den Verlauf eine vergleichbar große Rolle wie Medikamente. Grundsätzlich sollte ein Behandlungskonzept
daher immer biopsychosozial ausgerichtet sein. Insbesondere schwere Störungen profitieren am besten von einer multimodalen Therapie.

1.4. Versorgung psychisch Kranker


Der Bedarf an Behandlungsangeboten für Menschen mit psychischen Erkrankungen wächst kontinuierlich. Dies liegt daran, dass Erkrankungen wie Demenzen
aufgrund der steigenden Lebenserwartung zunehmen, v.  a. aber daran, dass psychische Störungen heute besser erkannt und diagnostiziert und
Behandlungsangebote verstärkt nachgefragt werden.

1.4.1. Gesundheitsausgaben für psychisch Kranke


In Deutschland lagen im Jahr 2015 die gesamten Gesundheitsausgaben bei ca. 338  Mrd. EUR und damit bei ca. 11  % des Bruttoinlandsprodukts. Die
Gesamtausgaben für psychische Erkrankungen und Verhaltensstörungen lagen 2015 mit 44,4 Mrd. EUR oder 13,1 % aller Krankheitskosten an zweiter Stelle
nach den Herz-Kreislauf-Erkrankungen mit 46,4 Mrd. EUR oder 13,7 %. Von den Ausgaben für psychische und Verhaltensstörungen entfielen im Jahr 2015
hohe Ausgaben auf zwei Erkrankungen, nämlich 15,1 (2008: 9,4) Mrd. EUR auf die Behandlung Demenzkranker und 8,7 (2008: 5,2) Mrd. EUR auf die
Behandlung von Depressionen. Seit 2002 sind die Gesundheitsausgaben bei diesen beiden Erkrankungen überproportional angestiegen.
Die höchsten K o s t e n entstehen durch stationäre Krankenhausbehandlung. Spitzenreiter bei den Einweisungsdiagnosen sind Alkohol- und
Drogenabhängigkeit, gefolgt von affektiven Störungen, organischen psychischen Störungen sowie Angst- und somatoformen Störungen.
Psychische Erkrankungen führen nicht nur zu hohen direkten Kosten, die durch die Behandlung der Erkrankungen selbst entstehen, sondern auch zu hohen
indirekten Kosten. Eine der häufigsten Ursachen für Arbeitsunfähigkeit sind heute psychische Erkrankungen, wobei Depressionen, Angst- und somatoforme
Störungen im Vordergrund stehen. Der Anteil psychischer Erkrankungen an den Frühberentungen hat sich seit 1985 nahezu verdreifacht. Heute stellen bei den
Frühberentungen wegen Erwerbsunfähigkeit die psychischen Störungen, gerade auch bei Frauen, die Hauptursache dar.

1.4.2. Ambulante und stationäre Behandlung


Etwa 80  % aller Patienten mit psychischen Erkrankungen werden nicht von Fachärzten für Psychiatrie und Psychotherapie, sondern von den ca. 50.000
Hausärzten in Deutschland behandelt. In den Hausarztpraxen ist ca. jeder vierte Fall (d. h. 25 %) ein Patient mit einer psychischen Erkrankung, wobei auch hier
wieder Depressionen, Angststörungen, Alkoholerkrankungen und somatoforme Störungen ganz vorn liegen. Gerade deshalb ist es für jeden Arzt und
insbesondere für jeden Allgemeinarzt wichtig, gute Kenntnisse im Fach Psychiatrie und Psychotherapie zu erwerben.

Merke
25  % der Patienten einer Hausarztpraxis leiden an einer psychischen Erkrankung. Im Vordergrund stehen dabei
depressive Erkrankungen, Angst- und Alkoholstörungen sowie somatoforme Störungen.

Die meisten psychisch Kranken werden ambulant behandelt. Bei ca. 6 % der Fälle kommt es zu einer stationären Krankenhausbehandlung. Aufgrund der
insgesamt besseren ambulanten Behandlungsmöglichkeiten sank die mittlere Verweildauer in den Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie zwischen 1991
und 2017 von 65 auf 23  Tage. Dies ging allerdings mit einer erhöhten Rate von Wiederaufnahmen einher. Im Zuge dieser Deinstitutionalisierung kam es
insbesondere zwischen 1991 und 2001 zu einem Rückgang der Krankenhausbetten um 35 % von 84.048 auf 54.289. 2017 waren in Deutschland 56.223 Betten
in Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie aufgestellt (im Vergleich: 11.410 in der Psychotherapeutischen Medizin / Psychosomatik).
Vor allem Menschen mit chronischen psychischen Erkrankungen wie z. B. Schizophrenien oder Demenzen kann nur adäquat geholfen werden, wenn ihnen
nicht nur Psycho-, Pharma- und Soziotherapie zugutekommen, sondern wenn ihnen durch eine Vielzahl unterstützender Maßnahmen in betreuten
Wohneinrichtungen, Tagesstätten, Werkstätten etc. eine Teilhabe am selbstbestimmten Leben ermöglicht wird. In vielen Städten arbeiten die entsprechenden
Einrichtungen in sog. gemeindepsychiatrischen Verbünden zusammen. Je besser diese Hilfsangebote mit den stationären und ambulanten Therapieangeboten
im Rahmen integrierter Therapiekonzepte verzahnt sind, umso besser kann die Rehabilitierung der Patienten gelingen und eine stationäre Behandlung
verhindert werden.

1.4.3. Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie


Die Weiterbildung zum Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie umfasst 4 Jahre Weiterbildung in Psychiatrie und Psychotherapie sowie eine einjährige
Weiterbildung in Neurologie. Die Einzelheiten der Inhalte der Weiterbildung sind auf Länderebene geregelt. Weiterbildungszeiten in anderen Fächern wie z. B.
Neurochirurgie oder Neuropathologie können teilweise angerechnet werden. Im Jahr 2019 hat die Bundesärztekammer (BÄK) eine neue
Musterweiterbildungsordnung für das Fach Psychiatrie und Psychotherapie verabschiedet, die derzeit auf Länderebene umgesetzt wird.
In den letzten 15 Jahren hat die Zahl der Fachärzte kontinuierlich zugenommen. Pro Jahr legen etwa 600 Ärzte die Facharztprüfung ab und 220 scheiden
durch Pensionierung, Tod oder aus sonstigen Gründen aus, was einem Nettozuwachs von etwa 380/Jahr entspricht. 2018 gab es in Deutschland laut BÄK
11.346  berufstätige Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie (Vergleich: 54.982  Fachärzte für Innere Medizin), die ca. 2,5  Mio. Patienten pro Jahr
behandeln. Den Ärzten für Psychiatrie und Psychotherapie kommt nach den Hausärzten in der ambulanten Versorgung psychischer Erkrankungen die
zweitgrößte Bedeutung zu. Das Verhältnis von Fachärzten zu Einwohnern beträgt ca. 1 : 7.500.

1.5. Evidenzbasierte Therapie


In den letzten 30  Jahren hat sich gerade das Fach Psychiatrie und Psychotherapie sehr um die Evidenzbasierung seiner Therapieverfahren bemüht. Damit
gelang es, dieses Fach so zu entwickeln, dass heute viele Therapieverfahren als wirksam und sicher angesehen werden können und das Fach als eines der
wissenschaftlich am interessantesten und anspruchsvollsten gelten kann. Unter Evidenzbasierung versteht man, dass Verfahren wie pharmakologische oder
psychotherapeutische Behandlungsansätze in wissenschaftlichen Studien auf ihre Wirksamkeit und Verträglichkeit getestet wurden und eine Überlegenheit
gegenüber einer Vergleichsbehandlung gezeigt werden konnte. Der Goldstandard für solche sog. randomisierten, kontrollierten Studien („randomized
controlled trials“, RCTs ) ist das randomisierte, kontrollierte und doppelblinde Design, bei dem 1) der Effekt einer Therapie mit einer Kontrolle verglichen
wird, 2) die Patienten einem der Behandlungsarme zufällig zugewiesen werden (Randomisierung) und 3) weder Patient noch Arzt wissen (daher doppelblind),
ob der Patient die zu testende Therapie oder die Kontrolle erhält. Bei den Medikamentenstudien wird i. d. R. gegen ein Placebo oder ein anderes Medikament,
bei Psychotherapiestudien gegen eine Standardbehandlung oder Wartegruppe getestet (hier kann das Design natürlich nicht doppelblind sein).
In diesem Buch stellen wir hauptsächlich die Verfahren mit der besten Evidenz vor. Wer sich noch intensiver mit evidenzbasierten Fragen beschäftigen
möchte, sollte in Kombination mit diesem Buch das Lehrbuch von Berger (2019) lesen. Dort werden zu jeder Therapieform die Evidenzgrade anhand von
Cochrane-Reviews bzw. Leitlinien übersichtlich dargestellt.

1.5.1. Bewertung von Therapieeffekten


Grundsätzlich kann man davon ausgehen, dass alle zur Behandlung psychischer Störungen zugelassenen Medikamente in ihrer Zulassungsindikation einer
Placebobehandlung statistisch signifikant überlegen sind. Dies hilft jedoch bei der Auswahl der geeigneten Substanz nicht weiter, denn die statistische
Signifikanz sagt nichts über die Größe des Therapieeffekts aus. Daher stellen wir in diesem Buch Therapieeffekte nicht mit Signifikanzniveaus, sondern in
Effektstärken dar. Diese Effektstärken geben über die Größe des Wirkunterschieds zur Vergleichstherapie Auskunft und können daher für die Auswahl einer
geeigneten Substanz hilfreich sein. So unterscheiden sich die Effektstärken bei den zur Behandlung von Schizophrenien zugelassenen Antipsychotika deutlich:
Die Effektstärken der Substanzen liegen zwischen 0,3 und 0,9 – also zwischen kleinen und großen Effekten.

Merke
Eine Effektstärke von 0,2 zeigt einen kleinen Effekt, eine von 0,5 einen mittelgroßen Effekt, eine von 0,8 einen
großen und eine > 1,2 einen sehr großen Effekt an.

Effektstärken werden auch als standardisierte Mittelwertdifferenzen bezeichnet und geben an, wie groß der Unterschied zwischen zu testender Therapie
und Kontrollbedingung zu Behandlungsende in einer RCT ist.
Wie in ➤ dargestellt, interessieren bei der Bewertung der Wirksamkeit einer Therapie also nicht die sog. Prä-post-Effekte, sondern die Effektunterschiede zu
Behandlungsende. Betrachtet man die Prä-post-Effekte, also die Unterschiede zwischen der Symptomausprägung vor und nach Therapieende, haben praktisch
alle Interventionen einen mehr oder weniger großen Effekt. Dies liegt daran, dass sich fast alle psychischen Störungen im Verlauf bessern, sowohl unter
Therapie als auch unter Placebobehandlung. In der evidenzbasierten Medizin bezeichnet man solche „Wirkungen“ nicht als echte Therapieeffekte (obwohl sich
ja tatsächlich etwas und z.  T. sehr viel ändert). Als Wirksamkeit einer Therapie wird nur die Überlegenheit gegenüber einer Kontrollbehandlung zu
Behandlungsende bezeichnet. Diese einfache Logik kann dazu beitragen zu verstehen, dass die einen z.  B. Homöopathie als „wirksam“ bezeichnen (da oft
große Prä-post-Effekte gesehen werden) und andere nicht (da in RCTs keine Wirksamkeitsunterschiede zwischen homöopathischen Substanzen zu Placebo am
Behandlungsende nachweisbar sind).
Abb. 1.4 Effektstärken [M515 / L141]

Effektstärkenschätzungen von Therapien unterliegen großen Unsicherheiten, insbesondere wenn die Qualität der durchgeführten RCTs schlecht ist (z.  B.
unzureichende Verblindung, unzureichende Randomisierung o. Ä.) und wenn nur wenige Patienten in den beiden Vergleichsarmen behandelt werden. Daher
werden Effektstärken von Interventionen meist aus Metaanalysen abgeleitet. In solchen Metaanalysen werden mehrere RCTs zu vergleichbaren Interventionen
zusammengefasst, sodass große Behandlungszahlen zusammenkommen. Man kann ungefähr davon ausgehen, dass erst bei mehr als 1.000–2.000 in RCTs
behandelten Patienten Effektstärken einer Intervention zuverlässig geschätzt werden können. Daher sollten kleine Studien zu neuen Therapien immer sehr
vorsichtig interpretiert werden. Sie sind häufig falsch positiv und lassen sich bei der Durchführung weiterer Studien nicht replizieren. ➤ zeigt den
metaanalytischen Vergleich von trizyklischen Antidepressiva und SSRIs in einem sog. Forest-Blot. Nur die Konfidenzintervalle der Effektstärken von
Amitriptylin im Vergleich zu SSRIs kreuzen nicht die Nulllinie, woraus man entnehmen kann, dass dieser Vergleich statistisch signifikant ist. Amitriptylin ist
damit einer SSRI-Behandlung mit einer kleinen Effektstärke von ca. 0,15 signifikant überlegen, während diese Aussage nicht für andere Trizyklika oder die
Gesamtgruppe der Trizyklika getroffen werden kann. Dieser überlegene Effekt ist zwar klein, aber zuverlässig, da in den Vergleich Daten von mehr als 3.000
Patienten eingegangen sind.
Abb. 1.5 Vergleichende Wirksamkeit einzelner trizyklischer Antidepressiva und SSRIs (Anderson 2000) [W898 / L141]

Auch bei Psychotherapiestudien ist Vorsicht geboten. Die Effekte werden i. d. R. deutlich überschätzt – zum einen, weil die Studien oft wenige Patienten
eingeschlossen haben, die Qualität der Studien häufig deutlich schlechter ist als bei Medikamentenstudien, die Therapie nicht verblindet erfolgen kann und als
Kontrolle sehr oft eine Warteliste verwendet wird, bei der die Patienten überhaupt keine Therapie erhalten. Bei Medikamentenstudien erhalten die Patienten als
Vergleich dagegen immer ein Placebo oder ein anderes Medikament – die Überlegenheit ist hier entsprechend viel schwerer zu zeigen!
In diesem Buch werden die Effektstärken verschiedener medikamentöser und psychotherapeutischer Interventionen bei den einzelnen Krankheitsbildern im
Therapieteil bzw. in ➤ bei den einzelnen Medikamenten und Verfahren dargestellt. Sie sollen der Orientierung bei der evidenzbasierten Auswahl geeigneter
Verfahren helfen.

1.5.2. Interessenkonflikte und Unabhängigkeit


Ein weiteres, wichtiges Anliegen dieses Buches ist es, unabhängig über die Wirksamkeit von Therapieverfahren zu berichten. Gerade bei Medikamenten, aber
auch bei Psychotherapien, führen Interessen der Entwickler, ihre eigenen Produkte oder Therapieverfahren besser als die anderer Entwickler darzustellen, zu
verzerrten Darstellungen von Effekten. Die Folge ist häufig, dass die Vorteile eines Medikaments oder eines Verfahrens überschätzt und die Nachteile
unterschätzt werden. Mechanismen, die zu verzerrter Evidenz führen, sind z.  B. schlecht durchgeführte RCTs, die Nichtveröffentlichung unerwünschter
(negativer) Studienergebnisse, das Zurückhalten wichtiger Informationen (z. B. relevante Nebenwirkungen wie Suizide oder Gewichtszunahme in Studien) oder
die finanzielle Unterstützung von Referenten, die zu Produkten der entsprechenden Firmen Stellung nehmen sollen. Die pharmazeutischen Unternehmen lassen
es sich darüber hinaus sehr viel kosten, Ärzte durch einseitiges Informationsmaterial, Praxisgeschenke oder Einladungen zu Fortbildungsveranstaltungen und
Essen zu einer Änderung ihres Verordnungsverhaltens zugunsten der eigenen Produkte zu bewegen.
Dadurch kommen die Ärzte in einen Interessenkonflikt, denn sie wollen auf der einen Seite dem Patienten das bestmögliche Medikament verschreiben und
andererseits (meist unbewusst) die Verschreibungserwartungen der pharmazeutischen Unternehmen erfüllen. Dieser Interessenkonflikt ist gerade in der
Psychiatrie problematisch, da viele Menschen betroffen sind, die Medikamente große Umsätze erzielen (Psychopharmaka nahmen 2017 mit Nettokosten von
1,7 Mrd. für die gesetzliche Krankenversicherung Rang 6 der umsatzstärksten Arzneimittelgruppen ein) und in der Medikamentenentwicklung zumindest in
den letzten Jahren eine Innovationskrise herrscht. (Das gilt auch ganz allgemein für neue Medikamente: Nur 50 % aller neu zugelassenen Medikamente haben
einen Zusatznutzen gegenüber bereits auf dem Markt befindlichen Substanzen, und nur 20  % haben einen großen Zusatznutzen! Und gerade Medikamente
ohne Zusatznutzen werden stark beworben.) Darüber hinaus sind psychisch kranke Menschen häufig weniger als andere Patientengruppen in der Lage, sich
selbst über Medikamente zu informieren und bedürfen daher eines besonderen ärztlichen Schutzes. Dieser Interessenkonflikt kann aufgelöst werden, wenn sich
die Ärzte dieser Einflussnahme bewusst werden, die kritische Distanz zu pharmazeutischen Unternehmen suchen, auf Geschenke und Einladungen verzichten
und ihre Therapieentscheidungen auf der Basis unabhängiger Informationen treffen.
Unabhängige Informationen zu Medikamenten bieten z.  B. der Arzneimittelbrief ( ), das arznei-telegramm© und die Arzneimittelkommission der
deutschen Ärzteschaft ( ). Mehr zu Interessenkonflikten findet sich bei , beim Fachausschuss für Transparenz und Unabhängigkeit der AkdÄ ( ) und bei
mezis.de. Bei der Zusammenstellung unserer Autoren haben wir darauf geachtet, dass diese sich weitgehend durch einen völligen Verzicht auf die Annahme
persönlicher Zuwendungen pharmazeutischer Unternehmen auszeichnen. Dies soll die Unabhängigkeit und die Vermittlung bestmöglichen Wissens in diesem
Buch fördern. Interessenkonflikterklärungen der beteiligten Autorinnen und Autoren finden sich auf S. VII–VIII.

Literatur
American Psychiatric Association (APA) (2015). Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-5®. Dt. Ausgabe, Hrsg.: Falkai P, Wittchen H-U.
Göttingen: Hogrefe.
Anderson IM (2000). Selective serotonin reuptake inhibitors versus tricyclic antidepressants: a meta-analysis of efficacy and tolerability. J Affect Disord 58: 19–36.
Berger M (Hrsg.) (2019). Psychische Erkrankungen. Klinik und Therapie. 6. A. München: Elsevier Urban & Fischer.
Frances A (2014). Normal. Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen. Köln: Dumont.
Huhn M, Tardy M, Spineli LM, Kissling W, Förstl H, Pitschel-Walz G, et al. (2014). Efficacy of pharmacotherapy and psychotherapy for adult psychiatric disorders: a
systematic overview of meta-analyses. JAMA Psychiatry 71(6): 706–715.
Jacobi F, Höfler M, Strehle J, Mack S, Gerschler A, Scholl L et al. (2014). Psychische Störungen in der Allgemeinbevölkerung. Studie zur Gesundheit Erwachsener in
Deutschland und ihr Zusatzmodul psychische Gesundheit (DEGS1-MH). Nervenarzt 85(1): 77–87.
Lieb K, Klemperer D, Kölbel, R, Ludwig WD (Hrsg.) (2018). Interessenkonflikte, Korruption und Compliance im Gesundheitswesen. Berlin: Medizinisch Wissenschaftliche
Verlagsgesellschaft.
Plass D, Vos T, Hornberg C, Scheidt-Nave Ch, Zeeb H, Krämer A (2014). Entwicklung der Krankheitslast in Deutschland: Ergebnisse, Potenziale und Grenzen der Global
Burden of Disease-Studie. Dtsch Ärztebl Int 111(38): 629–638.
Schneider F, Falkai P, Maier W (2012). Psychiatrie 2020 plus. Berlin, Heidelberg: Springer.
Schwabe U, Pfaffrath D, Ludwig W-D, Klauber J (Hrsg.) (2018). Arzneiverordnungsreport 2018. Berlin, Heidelberg: Springer.
Weltgesundheitsorganisation (WHO) (2004). The Global Burden of disease 2004 Update; (letzter Zugriff: 2.2.2019).
Weltgesundheitsorganisation (WHO) (2011). Internationale Klassifikation psychischer Störungen ICD-10 (Forschungskriterien). 5. A. Bern: Huber.
Weltgesundheitsorganisation (WHO) ICD-11 vorläufige Version; (letzter Zugriff: 2.2.2019).
KAPITEL 2

Psychiatrische Diagnostik
Klaus Lieb

2.1. Einführung
Dieses Kapitel beschäftigt sich mit den Grundlagen der psychiatrischen Diagnostik. Es behandelt folgende Aspekte:

• Psychiatrisches Erstgespräch
• Psychopathologischer Befund
• Möglichkeiten der Objektivierung und Quantifizierung psychopathologischer Befunde
• Prinzipien der klassifikatorischen Diagnostik
• Befunddokumentation
• Apparative Zusatzdiagnostik

➤ gibt einen Überblick über die Inhalte einer vollständigen psychiatrischen Untersuchung. Kernelemente sind die Erhebung der psychiatrischen Anamnese
(ggf. ergänzt durch eine Fremdanamnese) und des psychopathologischen Befunds. Zum Ausschluss körperlicher Ursachen der Psychopathologie (z. B. einer
Hypothyreose als Ursache eines depressiven Syndroms) gehören zu jeder psychiatrischen Untersuchung immer auch die körperliche Anamnese und
Untersuchung sowie ggf. die Anwendung apparativer Diagnoseverfahren (z.  B. Labordiagnostik und Bildgebung). In besonderen Fällen kann eine
testpsychologische Untersuchung (z. B. Intelligenz-, Leistungs- oder Persönlichkeitstests) hilfreich sein.

Tab. 2.1 Inhalt einer vollständigen psychiatrischen Untersuchung


Anamnese • Aktuelle Krankheitsgeschichte (Vorgeschichte und gegenwärtige Beschwerden)
• Psychiatrische und somatische Vorgeschichte
• Drogen- und Medikamentenanamnese
• Biografie (körperliche und psychische Entwicklung, beruflicher und sozialer Werdegang, Lebensgewohnheiten, Freizeitgestaltung,
chronische Konflikte, Traumen)
• Familienanamnese (soziale, allgemeinmedizinische, psychiatrische und neurologische Familienvorgeschichte)
• Fremdanamnese

Befund • Psychischer (psychopathologischer) Befund


• Körperlicher Befund
• Apparative Zusatzdiagnostik
• Ggf. testpsychologischer Befund

2.2. Psychiatrisches Erstgespräch


Das Gespräch mit dem Patienten und die Beobachtung seines Verhaltens sind die wichtigsten Elemente der psychiatrischen Diagnostik.

2.2.1. Aufbau und Ziele des Erstgesprächs


Wichtigste Ziele des psychiatrischen Erstgesprächs sind:

• die Erhebung der Anamnese


• die Erhebung des psychischen (psychopathologischen) Befunds
• die Herstellung einer vertrauensvollen Beziehung

Voraussetzung für ein erfolgreiches psychiatrisches Erstgespräch ist, dass der Patient zur Mitarbeit motiviert und in der Lage ist, dem Gespräch zu folgen
und adäquate Angaben zu machen. In vielen Fällen (z. B. bei organischen psychischen Störungen, bei akuten Schizophrenien oder schweren Depressionen) ist
der Patient dazu nicht in der Lage, sodass man sich hier zunächst auf die Verhaltensbeobachtung und die Erhebung der Fremdanamnese beschränken muss (➤
).
Das Erstgespräch mit einem zur Mitarbeit fähigen und kooperativen Patienten lässt sich prinzipiell in drei Teile gliedern:

• Im ersten Teil lässt der Untersucher den Patienten über seine aktuellen Beschwerden berichten, überlässt die Wahl des Themas dem Patienten und
nimmt selbst eine eher passive Rolle ein ( unstrukturierter Teil i. S. eines Interviews).
• Im zweiten, stärker strukturierten Teil (i. S. einer Exploration) erfragt der Arzt gezielt psychopathologische Phänomene oder andere Aspekte,
sofern sie sich noch nicht aus dem ersten Teil des Gesprächs ergeben haben.
• Das Gespräch sollte mit einem dritten, wieder offenen Teil enden, in dem der Patient die Möglichkeit hat, Fehlendes zu ergänzen und Fragen zu
stellen.

Eine positive, zugewandte und wertschätzende Haltung des Untersuchers trägt wesentlich dazu bei, dass bereits im Erstgespräch eine vertrauensvolle
Beziehung zum Patienten aufgebaut wird, die für jede erfolgreiche therapeutische Intervention eine wichtige Voraussetzung ist.

Merke
Ein bewusstseinsklarer und mitteilsamer Patient sollte zunächst immer Gelegenheit haben, von sich aus über seine
Person, seine Vorgeschichte und seine Beschwerden zu berichten. Im Laufe des Gesprächs wird der Untersucher dann
mehr und mehr aktiv und gezielt fragen und dem Gespräch eine gezielte Richtung geben.

Die Selbstschilderungen des Patienten müssen immer auf ihre Zuverlässigkeit und Verwertbarkeit geprüft werden. Eine wichtige Rolle spielt dabei die
Tendenz mancher Patienten, Erlebnisse zu verschweigen (Dissimulation). Beispielsweise schweigt ein schizophrener Patient über seinen Wahn aus Angst, man
könne ihn für verrückt halten. Die Dissimulation ist häufiger als die bewusste Vortäuschung (Simulation) einer psychischen Symptomatik. Auch können die
Patienten unfähig sein, Erlebnisse zu verbalisieren, oder sie möchten sich „von ihrer besten Seite“ zeigen und bagatellisieren relevante Probleme. Dies ist z. B.
häufig bei suchtkranken Patienten der Fall, die das Ausmaß ihres Substanzkonsums herunterspielen.
Das erste Gespräch mit dem Patienten gibt darüber hinaus Aufschluss über das äußere Erscheinungsbild des Patienten (z.  B. Kleidung, gepflegt  / 
ungepflegt, übergewichtig), seine Gestik, Mimik u n d Sprache. Zusätzlich gewinnt man Informationen über seinen Kontakt zum Untersucher, seine
Gesprächsbereitschaft und sein Verhalten als Ganzes (z. B. freundlich zugewandt / abweisend, offen / verschlossen, situationsangepasst, zielgerichtet).

Schweigepflicht
Gerade in der Psychiatrie und Psychotherapie kommt der Schweigepflicht eine besondere Bedeutung zu, da psychisch kranke Menschen häufig stigmatisiert
werden und psychische Erkrankungen für viele Patienten mit Schamgefühlen verbunden sind. Es ist daher sinnvoll, die Patienten bei der ersten
Kontaktaufnahme explizit auf die Einhaltung der Schweigepflicht aller an der Behandlung Beteiligten hinzuweisen (➤ ).

Merke
In der Psychiatrie und Psychotherapie ist auf die Einhaltung der Schweigepflicht besonders Wert zu legen.

2.2.2. Anamneseerhebung
➤ zeigt, welche Inhalte im Rahmen der Anamneseerhebung immer erfasst werden sollten.

Box 2.1
Inhalt der psychiatrischen Anamnese

• Soziodemografische Daten
• Aktuelle Krankheitsanamnese
• Weitere Vorgeschichte
• Körperliche Anamnese
• Drogen- und Medikamentenanamnese
• Familienanamnese
• Biografie und aktuelle soziale Situation

Soziodemografische Daten
Bei der Erhebung der soziodemografischen Daten sollten Name, Geschlecht, Geburtsdatum, Geburtsort, Adresse, telefonische Erreichbarkeit des Patienten und
seiner Angehörigen, Familienstand, berufliche Situation und schulischer Werdegang / Berufsausbildung erfasst werden.

Merke
Die Erfassung der Telefon-  /  Mobilfunknummer des Patienten sowie seiner Angehörigen und ggf. engsten Freunde
kann lebensrettend sein, wenn ein suizidaler Patient die Klinik oder Praxis verlässt und sein Aufenthaltsort dadurch
schnell ermittelt werden kann.

Aktuelle Krankheitsanamnese und weitere Vorgeschichte


➤ fasst zusammen, welche Elemente zur Erhebung der aktuellen Krankheitsanamnese gehören. Besonders zu beachten ist, dass:

• alle beobachtbaren Phänomene erfasst werden und nicht nur die, die für die vermutete Diagnose relevant sein könnten,
• Beginn und Verlauf detailliert beschrieben werden,
• Umstände wie z. B. kritische Lebensereignisse, die mit der Entwicklung der Symptomatik in Verbindung stehen, erfasst werden,
• der Grad der Beeinträchtigung durch die Symptome erfasst
• und das Krankheitskonzept (subjektive Krankheitstheorie) des Patienten verstanden wird.

Tab. 2.2 Inhalt der Krankheitsanamnese


Aktuelle Krankheitsanamnese Entwicklung der aktuellen Beschwerden und Symptome

Subjektive Gewichtung der Symptome, Beurteilung und Erleben der Erkrankung

Auslösefaktoren, die insbesondere folgende Problemfelder betreffen:


• Persönliche Bindungen, Beziehungen und Familienleben
• Herkunftsfamilie (z. B. Ablösung von der Primärfamilie)
• Berufsprobleme, Arbeitsstörungen und Lernschwierigkeiten
• Besitzerleben und -verhalten
• Soziokulturelle Rahmenbedingungen

Art und Erfolg bisheriger psychopharmakologischer, psychotherapeutischer und anderer


Behandlungsversuche

Therapiemotivation, Erwartung an die Behandlung

Komplikationen wie z. B. delinquentes Verhalten, Führerscheinentzug, Selbstverletzungen oder Gebrauch


psychotroper Substanzen

Frühere psychiatrische und somatische Entwicklung und Art der Erkrankungen, Diagnosen
Erkrankungen
Dauer und Verlauf dieser Erkrankungen, ambulante und stationäre Vorbehandlungen, psychosoziale
Konsequenzen
Die weitere Vorgeschichte umfasst alle früheren psychischen und somatischen Erkrankungen, die chronologisch erfasst werden sollen. Dazu gehört auch die
Erfassung des Ersterkrankungsalters, der Ersthospitalisierung und der bisherigen Behandlungsversuche, v.  a. der bisherigen medikamentösen und
psychotherapeutischen Behandlungen.
Ein sehr bewährtes Hilfsmittel zur Erfassung der Vorerkrankungen und Vorbehandlungen ist ein Phasen- oder Episodenkalender. ➤ zeigt einen solchen
Phasenkalender bei einer bipolaren Störung. Hier können nicht nur die Phasenverläufe chronologisch erfasst, sondern auch entsprechende therapeutische
Interventionen parallel eingetragen werden, was die Übersichtlichkeit des Krankheitsverlaufs erheblich vereinfacht.

Familienanamnese
Da viele psychische Erkrankungen eine familiäre Häufung aufweisen, ist die Erfassung psychosozialer und krankheitsrelevanter Aspekte aus der
Herkunftsfamilie des Patienten wichtig. Insbesondere sollten Erkrankungen der Großeltern, Eltern, Geschwister und Kinder erfragt werden. Die Erstellung
eines Familienstammbaums kann hilfreich sein.
Folgende Angaben gehören zu einer umfassenden Familienanamnese:

• Psychosoziale Situation der Eltern und Großeltern (Alter, Beruf, finanzielle Verhältnisse, ggf. Todesdaten und -ursachen)
• Geschwister (Anzahl, Alter, Geschlecht, Familienstand etc.)
• Familienatmosphäre
• Art der Beziehung zu primären Familienangehörigen, Erziehung, Sexualität etc.
• Familiäre Belastung mit psychischen und somatischen Erkrankungen (Diagnosen und Behandlungen, Suizide, Suizidversuche etc.)

Merke
Die Erfassung der Familienanamnese spielt in der psychiatrischen Anamnese wegen der familiären Häufung vieler
psychischer Erkrankungen eine wichtige Rolle.

Biografie und aktuelle soziale Situation


Die Erfassung der Biografie ist besonders bedeutsam, da bei vielen psychischen Erkrankungen lebensgeschichtliche Faktoren und die Persönlichkeitsstruktur
eine wichtige Rolle spielen. Ebenso kann die biografische Situation bei Erkrankungsbeginn einen besonderen Einfluss haben. So stehen Schwellenereignisse
wie etwa Heirat, Studienbeginn oder die Einberufung zum Wehrdienst häufig am Anfang einer psychischen Erkrankung.
Die Erhebung biografischer Daten und der aktuellen sozialen Situation sollte anhand von Themenbereichen erfolgen (s. Klinikkasten). Ein einfaches
Hilfsmittel kann sein, den Patienten um einen handgeschriebenen Lebenslauf zu bitten.

Klinik
Angaben zur Biografie und aktuellen sozialen Situation
Schwangerschafts- und Geburtsumstände, frühkindliche Entwicklung, vorschulische und schulische Entwicklung, Pubertät und frühes Erwachsenenalter,
berufliche Entwicklung, Partnerschaften, Ehe, Familie und Kinder, erlebte Traumata, sozioökonomische Besonderheiten, Freizeit und Angaben zu den
Lebensgewohnheiten

2.3. Der psychopathologische Befund


Die Erhebung des psychischen (psychopathologischen) Befunds stellt das Kernstück der psychiatrischen Diagnostik dar. Der folgende Kasten gibt eine
Übersicht über die Inhalte des psychopathologischen Befunds.

Klinik
Bestandteile des psychopathologischen Befunds

• Äußeres Erscheinungsbild
• Verhalten in der Untersuchungssituation
• Bewusstsein
• Orientierung
• Aufmerksamkeit und Gedächtnis
• Formales und inhaltliches Denken
• Wahrnehmungsstörungen
• Ich-Störungen
• Antrieb und Psychomotorik
• Affektivität
• Zirkadiane Besonderheiten
• Suizidalität, Fremdgefährlichkeit

Bei der Erhebung des psychischen Befunds sollte beachtet werden, dass psychopathologische Symptome für sich allein genommen nie schlechthin
krankhaft sind, sondern in bestimmten Situationen auch beim Gesunden vorkommen können, z. B. Wahrnehmungsstörungen bei Übermüdung. Daher müssen
die einzelnen Symptome immer im Kontext des Gesamtbefunds interpretiert werden. Außerdem sind die meisten psychopathologischen Symptome
unspezifisch, d. h., es besteht bei keinem Symptom eine eindeutige Korrelation zu einer gleichbleibenden Ursache.
Der psychische Befund muss immer vollständig erhoben werden, d.  h., auch das Fehlen von z.  B. Ich-Störungen oder inhaltlichen Denkstörungen muss
vermerkt werden. Bezeichnende Äußerungen des Patienten sollten wörtlich wiedergegeben werden.

Merke
Nur die Interpretation der psychopathologischen Einzelbefunde im Kontext des Gesamtbefunds erlaubt eine
diagnostische Einordnung. Einzelne Symptome sind unspezifisch und können in bestimmten Situationen auch bei
Gesunden auftreten.

Als hilfreiches Mittel zur Befunderhebung haben sich strukturierte Interviewleitfäden bewährt. Ein Beispiel ist das AMDP-System der Arbeitsgemeinschaft
für Methodik und Dokumentation in der Psychiatrie, bei dem der psychische und der somatische Befund im Rahmen eines semistrukturierten Interviews erfasst
werden.

2.3.1. Bewusstseinsstörungen
Definition
Bewusstsein wird nicht nur in der Psychiatrie sehr unterschiedlich definiert. Nach Scharfetter umfasst Bewusstsein die folgenden drei Bereiche:

• Vigilanz (Wachheit) als Voraussetzung des klaren Bewusstseins


• Bewusstseinsklarheit, d. h. die Intaktheit perzeptiver und kognitiver Funktionen
• Selbst-(Ich-)Bewusstsein

Der Grad der Vigilanz lässt sich klinisch aus der Verhaltensbeobachtung und Befragung erfahren. Die Bewusstseinsklarheit ist eng mit dem Grad der
Vigilanz verbunden, d. h., wenn der Patient z. B. somnolent ist, sind entsprechend auch seine perzeptiven und kognitiven Funktionen gestört.
Traditionell lassen sich quantitative und qualitative Bewusstseinsstörungen unterscheiden (➤ ). Bewusstseinsstörungen sind immer ein Hinweis für eine
organische Ursache der Störung.

Abb. 2.1 Quantitative und qualitative Bewusstseinsstörungen [M1010 / L141]

Klinik
Prüfung der Bewusstseinsklarheit
Durch Beurteilung von:

• Funktion der Sinne


• Orientierung
• Gedächtnis- und Erinnerungsfunktionen
• Aufmerksamkeits-, Konzentrations- und Auffassungsfähigkeit
• Möglichkeit zu sprachlicher Verständigung und situationsangepasstem Verhalten

Quantitative Bewusstseinsstörungen
Sie kommen bei den verschiedensten Formen zentralnervöser Funktionsstörungen vor. Nach zunehmendem Grad der Bewusstseinsstörung werden
unterschieden:

• Benommenheit: leichte Beeinträchtigung von Vigilanz und Bewusstseinsklarheit. Der Patient ist schläfrig, aber durch Ansprechen oder Anfassen
leicht weckbar. Er ist meist gut orientiert, zeigt aber nur geringe spontane sprachliche Äußerungen, das Verhalten ist verlangsamt. Reflexe und
Muskeltonus sind ungestört.
• Somnolenz: Der Patient ist sehr apathisch und so schläfrig, dass er nur durch lautes Ansprechen oder Anfassen erweckbar ist. Daraufhin ist er oft
sehr erstaunt, meist aber noch einigermaßen orientiert. Oft liegen keine spontanen sprachlichen Äußerungen mehr vor, falls doch, dann sind sie
kaum verständlich (Murmeln). Die Reflexe sind erhalten, der Muskeltonus etwas vermindert, die Reaktion auf Schmerzreize erfolgt gezielt.
• Sopor: Der Patient ist nur durch starke Weckreize wie Schütteln oder Zwicken erweckbar, ist nicht mehr orientiert und zeigt keine sprachlichen
Äußerungen. Abwehrbewegungen auf Schmerzreize sind ungezielt, die Reflexe sind erhalten, der Muskeltonus ist herabgesetzt.
• Präkoma und Koma: Der Patient ist auch durch stärkste Weckreize nicht erweckbar. Es erfolgen keine Abwehrbewegungen. Die physiologischen
Reflexe sind erloschen, es treten in der Folge pathologische Reflexe auf. Zusätzlich besteht eine Störung zentraler vegetativer Funktionen wie
Atmung, Kreislauf und Temperaturregulation.

Qualitative Bewusstseinsstörungen
Qualitative Bewusstseinsstörungen weichen weniger dem Grad als der Art nach von normalen Bewusstseinszuständen ab. Neben einer meist geringer
ausgeprägten quantitativen Bewusstseinsstörung liegen hier andere psychopathologische Symptome vor, z.  B. produktiv-psychotische (wahnhafte oder
halluzinatorische) Symptome. Man zählt dazu das Delir und den „Dämmerzustand“.

Delir
➤.

Dämmerzustand
Der Begriff „Dämmerzustand“ ist heute nicht mehr gebräuchlich. Man hat ihn früher zur Beschreibung qualitativer Bewusstseinsstörungen im Rahmen z. B.
von Schädel-Hirn-Traumata (SHT), nach epileptischen Anfällen, im pathologischen Rausch sowie bei dissoziativen Störungen verwendet. Konnte man keine
quantitative Bewusstseinsstörung feststellen, wurde auch von geordneten oder orientierten „Dämmerzuständen“ gesprochen.
Mit dem Begriff „Dämmerzustand“ hat man Zustände beschrieben, in denen die Patienten nach außen hin orientiert und geordnet erscheinen und auch
scheinbar besonnen ihre Handlungen ausführen. Jedoch ist das Bewusstsein auf das innere Erleben eingeengt, durch das es u. U. auch ganz gesteuert wird. Die
Vorgänge in der Umwelt werden vermindert wahrgenommen, und die Patienten erscheinen wie in einem traumwandlerischen Zustand. Illusionäre
Verkennungen der Umgebung sind häufig, auch Halluzinationen kommen vor. Ein „Dämmerzustand“ beginnt und endet meist innerhalb kurzer Zeit. Er geht
vielfach in Schlaf über und hinterlässt eine partielle oder komplette Amnesie. Zusammenfassend sind drei Merkmale entscheidend:

• Eingeengte Aufmerksamkeit
• „Verschobene“ Bewusstseinslage
• Amnesie

2.3.2. Orientierungsstörungen
Definition
Unter Orientierung versteht man das Bescheidwissen und Sich-Zurechtfinden in der jeweiligen zeitlichen, örtlichen, situativen und persönlichen Gegebenheit.
Beim Vorliegen von Orientierungsstörungen muss man immer an eine organische Genese der psychischen Störung wie z. B. eine Demenz, ein Delir oder ein
amnestisches Syndrom denken.
Man unterscheidet folgende Orientierungsstörungen:

• Desorientiertheit zur Zeit: Der Patient weiß Datum, Wochentag, Monat oder Jahr nicht. Die zeitliche Orientierung ist labil und am leichtesten
störbar. Relativ stabil ist das Wissen um die Tages- und Jahreszeit.
• Desorientiertheit zum Ort: Der Patient weiß nicht, an welchem Ort er sich befindet. Die Orientierung an vertrauten Orten ist relativ stabil, während
sie in einer neuen Umgebung erst erworben werden muss und relativ instabil ist.
• Desorientiertheit zur Situation: Ein situativ desorientierter Patient kann die augenblickliche Situation in ihrem Sinn- und
Bedeutungszusammenhang für seine eigene Person nicht erfassen. So glaubt ein deliranter Patient, nicht in der Klinik bei der Untersuchung durch
den Arzt zu sein, sondern zu Hause beim Besuch der Nachbarn.
• Desorientiertheit zur eigenen Person: Bei dieser Form der Orientierungsstörung weiß der Patient nicht mehr, wer und was er ist. Er hat seinen
Namen, sein Geburtsdatum, sein Herkommen und seinen Beruf vergessen. Diese schwere Art der Störung ist praktisch immer mit einer Störung der
anderen Orientierungsqualitäten verbunden.

Merke
Orientierungsstörungen sprechen immer für eine organische Genese der Erkrankung. Je nach Schwere der Störung ist
i. d. R. zunächst die Orientierung zur Zeit, dann zum Ort, zur Situation und zuletzt zur eigenen Person gestört.

2.3.3. Störungen von Aufmerksamkeit und Gedächtnis


Aufmerksamkeits-, Konzentrations- und Auffassungsstörungen
Wichtigste Voraussetzungen für eine ungestörte Aufmerksamkeit, Konzentration und Auffassung sind Wachheit und Bewusstseinsklarheit.
Bei einem bewusstseinsgestörten Patienten etwa ist, was naheliegt, die Aufmerksamkeit herabgesetzt, die Konzentration vermindert und die Auffassung z. B.
von Fragen des Untersuchers nur erschwert möglich. Aber auch bei Übermüdung, unter dem Einfluss von Drogen oder bei affektiven Störungen und
Schizophrenien können diese Funktionen gestört sein.
Aufmerksamkeits-, Konzentrations- und Auffassungsstörungen sind demnach keine spezifischen oder typischen Symptome einer psychischen Störung.
Sie haben daher kaum pathognomonisches Gewicht.

Klinik
Prüfung von Aufmerksamkeit, Konzentration und Auffassung
Eine orientierende Untersuchung lässt sich leicht durch folgende klinische Tests durchführen:

• Prüfung von Aufmerksamkeit und Konzentration:


– Von 100 fortlaufend 7 oder auch 3 abziehen lassen
– Wochentage oder Monatsnamen rückwärts aufzählen lassen
– Längere Worte buchstabieren lassen
• Prüfung der Auffassung:
– Den Sinn von Sprichwörtern erklären lassen
– Eine Fabel erzählen und diese reproduzieren lassen

Gedächtnisstörungen
Gedächtnis und Erinnerung bezeichnet man auch als mnestische Funktionen. Sie ermöglichen es uns, Erfahrenes zu behalten und wieder zu
vergegenwärtigen, also zu erinnern.
Demzufolge beruhen Merkstörungen auf einer mangelhaften oder gar nicht stattfindenden Speicherung (Engrammbildung) von Wahrnehmungsinhalten,
Erinnerungsstörungen dagegen auf einer Störung der Mobilisierung (Wiedererinnerung) von im Gedächtnis bereits gespeicherten Inhalten. Man findet sie v. 
a. bei organischen psychischen Störungen, z. B. den Demenzen, aber auch im normalpsychischen Bereich, z. B. bei mangelnder Aufmerksamkeit.

Neu- und Altgedächtnis und dessen Prüfung


Man kann unterscheiden:

• Arbeitsgedächtnis (eine Exekutivfunktion zur Speicherung und Reproduktion kurzfristiger Gedächtnisinhalte für 10–30 s)
• Neugedächtnis (ca. 20 min)
• Altgedächtnis (stabil)

Klinisch kann man sich schon während der Exploration ein Bild machen. Eine erweiterte klinische Prüfung ist mittels der im Klinikkasten aufgeführten
einfachen Tests möglich.

Klinik
Klinische Prüfung des Gedächtnisses bei der Exploration

• Arbeitsgedächtnis: 5 bis 7 Ziffern reproduzieren oder einfache Rechenaufgaben lösen lassen


• Drei Begriffe (z. B. Uhr, Auto, Boot) vorsprechen und diese sofort und einige Zeit später reproduzieren lassen (Neugedächtnis)
• Abfragen biografischer Inhalte (Altgedächtnis)

Bei Gedächtnisstörungen, z. B. im Rahmen einer demenziellen Erkrankung, gehen zunächst neuere Gedächtnisinhalte verloren. Inhalte des Altgedächtnisses
verliert der Patient dagegen erst, wenn die Erkrankung weiter fortgeschritten ist. Ebenso verschwinden eher abstrakte Kenntnisse als konkrete Ereignisse aus
dem Gedächtnis.

Amnestisches Syndrom („Korsakow-Syndrom“)


Von einem Korsakow-Syndrom spricht man beim Vorliegen der Trias:

• Desorientiertheit
• Merkfähigkeitsstörung: „Sekundengedächtnis“, d. h. eine schwere Störung des Neugedächtnisses, sowie
• Konfabulationen: vom Patienten für echte Erinnerungen gehaltene Lückenfüller für Erinnerungsausfälle, die dem Patienten zur Wiederherstellung
der amnestischen Kontinuität dienen. Beispiel: Ein Patient berichtet flüssig und überzeugend, was er am gestrigen Tag gemacht hat. Bei genauerer
Prüfung stellt sich heraus, dass die Inhalte nicht der Realität entsprechen.

Weitere Ausführungen finden sich in ➤ .

Paramnesien
Darunter versteht man Gedächtnisstörungen mit verfälschter Erinnerung bei wechselnder Bewusstseinsklarheit. Sie können bei verschiedenen
psychiatrischen und neurologischen Erkrankungen auftreten, physiologischerweise im Traum. Man rechnet dazu:

• Déjà-vu („schon gesehen“) und Déjà-vécu („schon erlebt“): Gefühl, etwas, das gerade vorgeht, schon einmal gesehen bzw. erlebt zu haben
• Ekmnesie: Störung des Zeiterlebens die Vergangenheit wird als Gegenwart erlebt
• Hypermnesie: gesteigerte Erinnerungsfähigkeit

Amnesien
Als Amnesie bezeichnet man i. Allg. eine zeitlich oder inhaltlich begrenzte Erinnerungslücke, die total oder partiell sein kann.
Bei der retrograden Amnesie besteht eine Erinnerungslücke, die meist Minuten oder Stunden, längstens Tage oder Wochen der Zeit vor der
Hirnschädigung betrifft.
Bei der anterograden Amnesie besteht eine Erinnerungslücke für die Zeit nach der Hirnschädigung bzw. nach dem Wiedererlangen des Bewusstseins.
Da oft nicht festgestellt werden kann, wann die Bewusstlosigkeit beendet war, fassen einige Autoren die Bewusstlosigkeit und die laut Definition eigentlich
erst nach Wiedererlangen des Bewusstseins einsetzende anterograde Amnesie als anterograde Amnesie zusammen.
Als kongrade Amnesie bezeichnet man die Erinnerungslücke für die Dauer der Bewusstlosigkeit.

Merke
Bei keiner Amnesieform kann von der Länge der Erinnerungslücke auf die Dauer der Bewusstlosigkeit geschlossen
werden.

Amnesien kommen u. a. vor bei SHT, zerebralen Infarkten des Basilaris- bzw. Posterior-Stromgebiets, Herpes-Enzephalitis, Wernicke-Korsakow-Syndrom
und der transienten globalen Amnesie (TGA; s. Lehrbücher der Neurologie). Des Weiteren treten Amnesien bei hypoxischen Schädigungen des Hippokampus
(z. B. durch CO-Vergiftung, Strangulation, rezidivierende Hypoglykämien) und als dissoziative Amnesien (➤ ) auf.

2.3.4. Denkstörungen
Definition
Unter Denken versteht man einen Vorgang, in dessen Verlauf ein Gegenstand, eine Situation, ein Problem oder Aspekte davon erfasst und verarbeitet werden.
In den Prozess des Denkens gehen Vorgänge wie Vorstellen, Überlegen, Abstrahieren, In-Begriffe-Fassen, Beurteilen, Schlussfolgern und Antizipieren mit ein.
Die Art und Weise des Denkens wie Tempo, Inhaltsreichtum oder Beweglichkeit gibt nicht nur Auskunft über die rational-logische Denkbefähigung eines
Menschen, sondern auch über sein Wesen und seine augenblickliche Stimmung. Daher sind Denkstörungen auch nie isoliert, sondern immer als Ausdruck der
Gesamtbetroffenheit eines Menschen zu betrachten.
Die Sprache ist Medium und Ausdruck des Denkens. Erst durch sie erschließt sich dem Untersucher das Denken des Patienten.
Bei den Denkstörungen unterscheidet man inhaltliche und formale Denkstörungen. Im Gegensatz zu den inhaltlichen Denkstörungen, bei denen das
inhaltliche Ergebnis des Denkprozesses abnorm verändert ist und zu denen Wahn, Zwänge und überwertige Ideen gerechnet werden, sind formale
Denkstörungen Störungen des Gedankenablaufs.

Merke
Zu den inhaltlichen Denkstörungen gehören der Wahn, überwertige Ideen und Zwänge. Hier ist das inhaltliche
Ergebnis des Denkprozesses abnorm verändert. Im Gegensatz dazu sind formale Denkstörungen Störungen des
Gedankenablaufs.

➤ gibt einen Überblick über formale und inhaltliche Denkstörungen.


Tab. 2.3 Übersicht über die Denkstörungen
Formale Denkstörungen Inhaltliche Denkstörungen
• Verlangsamtes, gehemmtes, eingeengtes • Wahn: z. B. Beziehungswahn, Beeinträchtigungswahn, Verfolgungswahn, hypochondrischer Wahn,
Denken Größenwahn, Schuld- oder Versündigungswahn
• Grübeln • Überwertige Ideen: z. B. die noch korrigierbare Idee, besondere Schuld auf sich geladen zu haben
• Gedankensperrung, -abreißen • Zwänge: z. B. Zwangsgedanken, Zwangseinfälle, Zwangsimpulse und Zwangshandlungen
• Umständliches, weitschweifiges Denken
• Perseveration des Denkens,
Verbigerationen, Neologismen
• Gedankendrängen und Ideenflucht
• Zerfahrenes oder inkohärentes Denken,
Vorbeireden

Formale Denkstörungen
Formale Denkstörungen sind Störungen des Gedankenablaufs:

• Verlangsamtes Denken: Der Gedankengang im Ganzen ist mühsam, schleppend und zäh. Vorkommen: z. B. bei organischen psychischen
Störungen oder gehemmt-depressiven Syndromen
• Gehemmtes Denken: Der Denkvorgang ist unregelmäßig, gebremst, mühsam und schleppend, was der Patient im Gegensatz zum verlangsamten
Denken auch selbst als störend empfindet und was er auch durch offensichtliches Bemühen nicht verhindern kann.

Klinik
Unterscheidung von Denkverlangsamung und Denkhemmung: praktisches Vorgehen
„Haben Sie den Eindruck, dass Ihr Denken langsamer, mühsamer oder schleppender geworden ist?“

Ja → Denkverlangsamung
„Fällt es Ihnen schwerer, einen Gedanken zu Ende zu denken?“
„Müssen Sie sich zwingen, einem Gedankengang zu folgen?“
„Verspüren Sie einen inneren Widerstand gegen das eigene Denken?“

Ja → Denkhemmung
Das subjektive Empfinden eines „Widerstands“ unterscheidet zwischen Denkhemmung und Denkverlangsamung.

• Eingeengtes Denken: Das Denken verhaftet hier an einem oder wenigen Themen, ist auf wenige Denkinhalte fixiert. Der Patient hat im Gespräch
Mühe, von einem Thema zu einem anderen zu wechseln. Vorkommen: z. B. bei der Depression, wo die Gedanken um ein Thema kreisen. Hier
besteht ein fließender Übergang zum Grübeln.
• Grübeln: unablässiges Beschäftigtsein mit meist unangenehmen Gedankengängen aus der aktuellen Lebenssituation.
• Gedankensperrungen / -abreißen / -abbrechen: Der sonst flüssige Gedankengang bricht plötzlich ohne erkennbaren Grund ab, der Patient stockt
mitten im Gespräch, er hat den „roten Faden“ verloren. Nach einer kurzen Pause nimmt der Patient das Gespräch u. U. mit einem neuen Thema
wieder auf. Vorkommen: typischerweise bei den Schizophrenien.
• Umständliches, weitschweifiges Denken: Der Patient kann hier nicht das Wesentliche vom Unwesentlichen trennen, sondern verliert sich
weitschweifig oder umständlich in unwichtigen Einzelheiten. Vorkommen: z. B. bei den Schizophrenien oder der Manie.
• Perseveration des Denkens, Verbigeration und Neologismen: Haftet der Patient an Worten und Gedanken, die vorher gebraucht, aber jetzt nicht
mehr sinnvoll sind, spricht man von einer Perseveration des Denkens. Wiederholt er sie dann sinnlos immer wieder, spricht man von einer
Verbigeration. Dabei werden gelegentlich nicht unmittelbar verständliche Wortneubildungen (Neologismen) geschaffen, z. B. schildert ein Patient
seine Angst, die in seine Stirn aufsteige, mit den Worten: Die Angst „auffümt zur Bastur“. Vorkommen: selten bei den Schizophrenien.
• Gedankendrängen und Ideenflucht: Dem Patienten drängen sich Gedanken, Einfälle oder Ideen unwillkürlich auf. Das kann sich bis zur
Ideenflucht steigern, bei der das Denken ständig sein Ziel wechselt und der Gedankengang durch immer wieder dazwischenkommende
Assoziationen abgelenkt und unterbrochen wird. Bei der Ideenflucht, die typisch für die Manie ist, ist der Zusammenhang der sprachlichen
Äußerungen jedoch nur gelockert, sodass der Untersucher den flüchtigen Ideen (im Gegensatz zum inkohärenten Denken) noch folgen kann.
• Zerfahrenes oder inkohärentes Denken: Das Denken ist hier zerrissen bis in einzelne, scheinbar zufällig durcheinandergewürfelte Sätze, die ohne
verständlichen oder nachvollziehbaren Sinnzusammenhang nebeneinander stehen. Bei leichten Formen ist der Satzbau noch intakt (Paralogik), bei
schwereren ist er zerstört (Paragrammatismus) bis hin zum unverständlichen Wortsalat (Begriffs-, Sprachzerfall, Schizophasie). Zerfahrenes
Denken ist typisch für die Schizophrenie, kann aber auch z. B. bei organischen psychischen Störungen auftreten.

Klinik
Beispiele aus dem Lehrbuch „Allgemeine Psychopathologie“ von Scharfetter (2010): „Sehr wahrscheinlich haben sie gehört, wie sie das Gehirn
abziehen … man will probieren, mir den Weltuntergang zu stoppen … Himmelwind und Wetter und dass die Leute in andere Stimmung kommen, das nenne
ich absegmentieren. Auch der Hauswind, das Kraftsegmentierung … ich sag das Morden, ich hätte Hypnose produzieren sollen …“
Hier ist der Satzaufbau zerstört (Paragrammatismus).
Im folgenden Beispiel ist der Satzbau noch einigermaßen intakt (Paralogik): „Früher sind die Leute aus blauäugigen Menschen bestanden und wie die
Hirne schaffen. Die mit den blauen Augen schaffen anders im Hirn als die mit den braunen, und dann kommen noch die Gelben, die Chinesen …“

• Vorbeireden: Der normale intentionale Bogen zwischen Frage und Antwort geht hier verloren. Der Patient versteht zwar die Frage, gleitet aber in
der Beantwortung ab. Das Vorbeireden ist ein psychopathologisches Symptom, das darauf hinweist, dass sich Ich-Strukturen des Patienten auflösen
bzw. destabilisieren. Vorkommen: bei den Schizophrenien.

Inhaltliche Denkstörungen
Bei den inhaltlichen Denkstörungen ist nicht der Gedankenablauf gestört, sondern das Ergebnis des inhaltlichen Gedankenprozesses abnorm verändert (➤ ).

Wahn
Lange Zeit galt der Wahnsinn (von mhd. „wan“ = leer, also leer von Sinnen oder ohne Verstand) als das Kennzeichen von „Geistesstörungen“ schlechthin.
Wahnphänomene findet man z.  B. bei Schizophrenien und wahnhaften Störungen, bei psychotischen („wahnhaften“) Depressionen und Manien sowie bei
organischen psychischen Störungen (z. B. Wahnerleben im Rahmen eines Alkoholentzugssyndroms, einer Demenz oder als Eifersuchtswahn bei chronischer
Alkoholabhängigkeit).

Definition
Definition
Wahn ist eine inhaltlich falsche, krankhaft entstandene und die Lebensführung behindernde Überzeugung, an welcher der Patient trotz Unvereinbarkeit mit
dem bisherigen Erfahrungszusammenhang und der objektiv nachprüfbaren Realität unbeirrbar festhält, oder kürzer gefasst: Wahn ist eine unkorrigierbar falsche
Beurteilung der Realität.

Merke
Unter dem Begriff „Wahn“ versteht man eine unkorrigierbar falsche Beurteilung der Realität. Wahnphänomene treten
typischerweise bei Schizophrenien, aber auch bei wahnhaften Depressionen oder organischen Psychosen (z.  B. im
Rahmen einer Demenz) auf.

Formen des Wahns (➤ )

• Wahnstimmung: Die Wahnstimmung (Wahnspannung) geht meist dem manifesten Wahn voraus. In ihr erscheint dem Patienten die Welt
unheimlich verändert und bedrohend. Er ist davon überzeugt, dass etwas Unheilvolles in der Luft liegt, dass etwas „im Gange ist“, ohne genau
sagen zu können, was es ist. Nur selten schildern die Patienten positive Erfahrungen wie Beglückung oder Leichtigkeit.
• Wahnwahrnehmung: Eine Wahnwahrnehmung liegt vor, wenn einer objektiv „richtigen“ Wahrnehmung eine abnorme, wahnhafte Bedeutung,
meist i. S. einer übersteigerten Ich-Bezogenheit, zugemessen wird. Die Wahnwahrnehmung ist also zweigliedrig: So nimmt der Patient z. B. richtig
wahr, dass die Autos auf der Straße Licht anhaben, ist aber davon überzeugt, damit wolle man ihm etwas Bestimmtes mitteilen. Typische
Wahnwahrnehmungen sind der hier geschilderte Beziehungswahn und der Beeinträchtigungswahn. Wahnwahrnehmungen sind ein
diagnoseweisendes Symptom für die Schizophrenien (➤ ).
• Wahnidee (Wahngedanke, Wahneinfall): Wahnideen entstehen in der Vorstellung des Patienten ohne vorausgehende objektiv-richtige
Sinneswahrnehmung. Wahneinfälle sind also eingliedrig. Wahnideen kommen z. B. als Verfolgungs- oder Berufungswahn bei Schizophrenien, als
Größenwahn bei psychotischen Manien oder als Schuld- oder Verarmungswahn bei wahnhaften Depressionen vor.
• Wahnerinnerung: Bei der Wahnerinnerung wird ein Ereignis aus früheren gesunden Zeiten wahnhaft umgedeutet. Beispiel: Ein Patient interpretiert
eine Begegnung vor 5 Jahren als erstes Zeichen dafür, dass man mit seiner Verfolgung begonnen habe.
• Wahnarbeit: Unter Wahnarbeit versteht man den gesamten Prozess der Ausgestaltung, d. h. der sekundären Verknüpfung, Begründung und
Erklärung der verschiedenen Wahninhalte, der letztendlich zu einem Wahnsystem mit in sich geschlossener Struktur führen kann. Von besonderer
Bedeutung ist dabei der Erklärungswahn, unter dem man einen rationalen Erklärungsversuch versteht, durch den normales (z. B. tatsächliche
Anfeindungen) oder psychotisches Erleben (z. B. Halluzinationen) erklärt werden soll. Beispiel: Ein Patient ist davon überzeugt, dass die Träger der
Stimmen, die er hört, ihn mit einer Fernsehantenne überwachen.
• Wahnhafte Personenverkennung: Hier werden Personen, die dem Patienten eigentlich bekannt sein müssten, wahnhaft als andere Personen
„verkannt“. Beispiel: Der Vater eines Patienten wird als „verteufelnde Horrorfigur“ verkannt.
• Symbiotischer Wahn (Folie à deux): Unter einem symbiotischen Wahn versteht man einen induzierten Wahn bei nahen Bezugspersonen von
Wahnkranken, der schizophrenieähnlich aussehen kann, bei Trennung von dem Wahnkranken aber meist wieder verschwindet.

Box 2.2
Wahnformen

• Wahnstimmung
• Wahnwahrnehmung
• Wahneinfall = Wahngedanke = Wahnidee
• Wahnerinnerung
• Wahnarbeit
• Wahnhafte Personenverkennung
• Symbiotischer Wahn (Folie à deux)

Wahnthemen
Das Thema des Wahns ist oft aus der Betrachtung der Biografie des Patienten oder aus seinem jetzigen Zustand heraus verständlich. So wird ein streng religiös
erzogener Patient z. B. eher einen Versündigungswahn entwickeln als ein nicht religiös erzogener Patient. Auf der anderen Seite sind die Themen niemals für
eine Diagnose beweisend. Trotzdem gilt generell, dass bestimmte Wahnthemen eher bei wahnhaften Depressionen (z. B. Versündigung) und andere eher bei
Schizophrenien (z. B. Verfolgung) auftreten. ➤ ist zu entnehmen, welche Wahnthemen bei welchen Störungen typischerweise vorkommen.

• Beziehungswahn: eine Wahnwahrnehmung, bei welcher der Kranke der festen Überzeugung ist, dieses oder jenes, das in seiner Umgebung
geschieht, ereigne sich nur seinetwegen. Er bezieht z. B. den Blick der Passanten, die Anzeige in der Zeitung, die Fahrweise des Autos auf sich, als
solle ihm dadurch etwas mitgeteilt werden. Wird der Wahn weiter ausgebaut, wähnt er, dass fremde Leute hinter seinem Rücken über ihn sprechen
oder sich über ihn lustig machen. Vorkommen: typischerweise bei Schizophrenien.
• Beeinträchtigungswahn: In diesem Wahn (ebenfalls eine Wahnwahrnehmung) sieht der Kranke nicht nur wie im Beziehungswahn alles auf sich
bezogen, sondern auch gegen sich gerichtet. Er wähnt, man wolle ihn schädigen, demütigen oder ruinieren. Vorkommen: typischerweise bei
Schizophrenien.
• Verfolgungswahn: kann als Wahnidee bestehen oder als Wahnwahrnehmung eine Steigerung des Beeinträchtigungswahns darstellen. Harmlose
Ereignisse der Umwelt werden vom Patienten als Zeichen dafür angesehen, dass man ein Komplott gegen ihn schmiedet oder nur auf die günstige
Gelegenheit wartet, ihn umzubringen; Autos und Polizei seien unterwegs, was zweifellos ihm gelte. Der Patient fühlt sich ständig von Verfolgern,
Drahtziehern und deren Helfershelfern umgeben. Eine Sonderform stellt der Vergiftungswahn dar. Vorkommen: typischerweise bei
Schizophrenien.
• Dermatozoenwahn: bezeichnet die wahnhafte Vorstellung, an einer Hauterkrankung durch in die Haut eingedrungene tierische Erreger zu leiden.
Der auch als chronische taktile Halluzinose (➤ ) bezeichnete Dermatozoenwahn tritt v. a. bei älteren Menschen und häufiger bei Frauen auf.
Vorkommen: bei verschiedenen psychischen Erkrankungen, insbesondere bei organischen psychischen Störungen, aber auch bei Schizophrenien.
• Hypochondrischer Wahn: Der Patient ist wahnhaft davon überzeugt, an einer schweren körperlichen Erkrankung wie Krebs zu leiden und daran
bald zu sterben. Vorkommen: typischerweise bei wahnhaften Depressionen.
• Schuld- oder Versündigungswahn: Hier ist der Patient z. B. wahnhaft davon überzeugt, nichts geleistet, alles versäumt oder seine Familie im Stich
gelassen zu haben. Damit habe er unermessliche Schuld auf sich geladen, welche die Ursache für das Unheil in der Welt sei. Vorkommen:
typischerweise bei wahnhaften Depressionen.
• Verarmungswahn: Der Patient ist wahnhaft überzeugt zu verarmen. So ist er z. B. davon überzeugt, dass er die Krankenhausrechnung nicht
bezahlen könne, weil kein Geld da sei, oder er nichts mehr zum Anziehen habe, obwohl der Kleiderschrank gut gefüllt ist, usw. Vorkommen:
typischerweise bei wahnhaften Depressionen.
• Größenwahn: Der Patient überschätzt wahnhaft die Bedeutung, Fähigkeit und Leistung seiner Person. Er hält sich für sehr reich (Reichtumswahn),
von besonderer Abstammung (Abstammungswahn), für einen genialen Erfinder oder als von Gott berufen, das Böse der Welt zu besiegen
(Berufungswahn). Vorkommen: bei Schizophrenien und psychotischen Manien.
• Kleinheitswahn oder Nichtigkeitswahn: das Gegenstück zum Größenwahn. Vorkommen: typischerweise bei wahnhaften Depressionen.
• Liebeswahn: Dieser Wahn (auch als erotischer Beziehungswahn bezeichnet) tritt z. B. im Rahmen wahnhafter Störungen (➤ ) v. a. bei Frauen auf.
Die Patientinnen sind z. B. wahnhaft davon überzeugt, von einem bestimmten Menschen geliebt zu werden, der diese Liebe aber nicht zulassen
könne. Sie sind sich dieser Sache ganz sicher, auch wenn sie diesen Menschen nur flüchtig kennen und kaum mit ihm gesprochen haben. Durch
seine Blicke und Gesten gebe er ihnen zu verstehen, dass er sie liebe. Der Liebeswahn kann sich zu einem Verfolgungswahn steigern, wobei die
Patientin überzeugt ist, der Betreffende wolle sie sexuell belästigen oder vergewaltigen.
• Eifersuchtswahn: tritt häufiger bei Männern als bei Frauen auf. Die betroffenen Männer sind unkorrigierbar von der Untreue ihrer Ehefrauen
überzeugt, für die es aber keine objektiven Anhaltspunkte gibt. Die Patienten stellen z. B. absurde Behauptungen über das ausschweifende Leben
ihrer Partnerinnen auf und führen als „Beweise“ an, ihre Frauen hätten sich beim Einkaufen verdächtig lange umgesehen oder seien zu spät von der
Arbeit zurückgekehrt. Vorkommen: bei Schizophrenien, aber auch bei chronischer Alkoholabhängigkeit.

Tab. 2.4 Wahnthemen


Wahnthema Typisches Vorkommen
Beziehungswahn Schizophrenie

Beeinträchtigungswahn Schizophrenie

Verfolgungswahn Schizophrenie

Dermatozoenwahn Organische psychische Störungen, Schizophrenie

Hypochondrischer Wahn Wahnhafte Depressionen

Schuld- oder Versündigungswahn Wahnhafte Depressionen

Verarmungswahn Wahnhafte Depressionen

Größenwahn Schizophrenie, psychotische Manie

Kleinheitswahn, Nichtigkeitswahn Wahnhafte Depressionen

Liebeswahn Wahnhafte Störungen

Eifersuchtswahn Schizophrenien, chronische Alkoholabhängigkeit, organische psychische Störungen

Überwertige Ideen
Als überwertige Ideen bezeichnet man emotional stark besetzte Gedanken meist negativer Art, welche die gesamte Person in unangemessener Weise
beherrschen, z. B. nicht wieder gesund zu werden oder schwere Schuld auf sich geladen zu haben. In Abgrenzung zu wahnhaften Ideen besteht jedoch eine
intakte Realitätskontrolle (d. h., die Patienten können sich zumindest zeitweise auch wieder von den Ideen distanzieren), eine größere logische Konsistenz
der Inhalte und eine geringere Ich-Bezogenheit. Vorkommen: z. B. im Rahmen schwerer depressiver Episoden.

Zwänge

Definition
Von einem Zwang spricht man, wenn sich ich-fremde Gedanken oder Handlungsimpulse immer wieder aufdrängen. Diese können nicht unterdrückt oder
verdrängt werden, obwohl der Patient sie als unsinnig und unangenehm erlebt. Wird den Gedanken oder Handlungsimpulsen nicht nachgegeben, resultieren
oft Angst und Unbehagen.
Leichtere Zwangsphänomene trifft man auch im normalpsychischen Bereich an. Man beobachtet z.  B. bei sich selbst, wie man immer wieder die
Glockenschläge oder Treppenstufen mitzählen muss oder vor dem Verlassen des Hauses noch einmal nachschaut, ob der Herd auch abgestellt ist. Zwanghafte
Rituale finden sich häufig auch beim Essen, Waschen und Schlafen.
Diese Zwangsphänomene sind erst dann als Zeichen einer krankhaften Störung anzusehen, wenn sie in ihrer Intensität, Häufigkeit und Dauer ein solches
Ausmaß annehmen, dass der Betroffene darunter leidet und in seiner Leistungsfähigkeit erheblich beeinträchtigt ist.

Einteilung der Zwänge

• Zwangsgedanken, Zwangsvorstellungen oder Zwangseinfälle: Darunter versteht man das zwanghafte Auftreten von Gedanken und
Vorstellungen, oft als Gegenimpuls zu einer Situation: z. B. zwanghaftes Aufdrängen gotteslästerlicher Worte in der Kirche. Auch Zwangsgrübeln
und Zwangsbefürchtungen (z. B. die Angehörigen könnten dauernd in großer Gefahr schweben oder man könne sich infiziert oder verschmutzt
haben) gehören dazu.
• Zwangsimpulse: Hierbei kommt es zu zwanghaft sich aufdrängenden Impulsen zu bestimmtem, oft aggressivem Tun, das aber
charakteristischerweise nicht ausgeführt wird. Die Patienten leben dann z. B. in der ständigen Angst, sich selbst oder andere Menschen impulsiv zu
verletzen oder sonst wie zu schädigen.
• Zwangshandlungen: meist aufgrund von Zwangsimpulsen oder Zwangsbefürchtungen vorgenommene Handlungen mit Zwangscharakter. Typisch
sind der Zählzwang, Kontrollzwang, Ordnungszwang, Putzzwang und Waschzwang. Zwangshandlungen werden oft in Form eines Zwangsrituals
oder Zwangszeremoniells ausgeübt, das in bestimmter Form und Häufigkeit ausgeführt werden muss. Nach seiner Verrichtung bestehen oft
Zweifel, ob es auch in der richtigen Art und Weise durchgeführt wurde, was wiederum Anlass zur Wiederholung gibt. Durch Zwangshandlungen
wird das Leben der Betroffenen oft erheblich beeinträchtigt.

Klinik
Vorkommen von Zwängen
Zwangsphänomene sind unspezifisch, d. h., sie können im Rahmen verschiedener Erkrankungen auftreten, z. B.:

• Zwangsstörungen und Zwangsspektrumsstörungen


• Zwanghafte Persönlichkeitsstörung
• Depressive Erkrankungen (z. B. als Zwangsgrübeln)
• Schizophrenien (bizarre Zwänge)
• Verschieden neurologische Erkrankungen (z. B. Gilles-de-la-Tourette-Syndrom)
2.3.5. Wahrnehmungsstörungen
Definition
Es lassen sich drei große Gruppen von Wahrnehmungsstörungen unterscheiden, die in ➤ zusammengefasst sind.

Tab. 2.5 Formen von Wahrnehmungsstörungen


Halluzinationen • Akustische Halluzinationen
• Optische Halluzinationen
• Olfaktorische und gustatorische Halluzinationen
• Taktile oder haptische Halluzinationen
• Zönästhesien
• Leibliche Beeinflussungserlebnisse

Halluzinationen nahestehende Phänomene • Pseudohalluzinationen


• Illusionen oder illusionäre Verkennungen
• Pareidolien

Einfache Wahrnehmungsveränderungen oder sensorische Störungen • Intensitätsminderung oder Intensitätssteigerung der Wahrnehmung
• Verschwommensehen, Farbigsehen
• Mikropsie, Makropsie
• Metamorphopsie / Dysmegalopsie

Vorkommen
Wahrnehmungsstörungen kommen bei vielen Störungen vor, z. B. bei Schizophrenien (v. a. als akustische Halluzinationen) und organischen Psychosen (v. a.
als optische Halluzinationen), aber auch im normalpsychischen Zustand, z.  B. als illusionäre Verkennungen bei ängstlicher Erregung oder als hypnagoge
Halluzinationen beim Einschlafen.

Halluzinationen

Definition
Halluzinationen sind Wahrnehmungen ohne entsprechenden Sinnesreiz von außen, d. h., es wird etwas gehört, gesehen, gefühlt, geschmeckt oder gerochen,
was „der mittels seiner eigenen intakten Sinnesfunktionen und durch seine Situationsteilnahme zur Nachprüfung befähigte Mitmensch nicht bestätigen kann“
(Scharfetter 2010).
Das Urteil des Patienten über die Realität der Halluzinationen reicht von der absoluten Gewissheit bis hin zum Urteil „zweifelhaft“ oder „nicht wirklich“ und
zeigt damit fließende Übergänge zu den Pseudohalluzinationen.
Eine Sonderform stellen die funktionellen Halluzinationen dar, bei denen es nur zu Halluzinationen kommt, wenn gleichzeitig eine wirkliche
Wahrnehmung erfolgt. Die Patienten hören dann z. B. das Zwitschern eines Vogels und Stimmen synchron, d. h., die reale Wahrnehmung besteht im Gegensatz
zur Illusion neben der Halluzination unverändert weiter. Hört das Zwitschern auf, verschwinden auch die Halluzinationen wieder.

Merke
Halluzinationen sind Wahrnehmungen o h n e entsprechenden Sinnesreiz von außen. Sie können auf allen
Sinnesgebieten in akustischer, optischer, olfaktorischer, gustatorischer oder taktiler Form auftreten.

• Akustische Halluzinationen: können sich äußern als ungeformte elementare Geräusche wie z. B. Knallen, Zischen oder Heulen (Akoasmen) oder
als Wörter, Sätze oder Stimmen (Phoneme). Stimmenhören in Form von Rede und Gegenrede (dialogisch) sowie Stimmen, welche die eigenen
Handlungen mit Bemerkungen begleiten (kommentierend) bzw. Befehle geben (imperativ), und das Gedankenlautwerden sind typisch für die
Schizophrenien. Aber auch bei verschiedenen organischen psychischen Störungen wie der Alkoholhalluzinose, dem Alkoholdelir oder der
epileptischen Aura treten akustische Halluzinationen auf.
• Optische Halluzinationen: äußern sich als elementare optische Erlebnisse wie Blitze, Lichter oder Farben (Photome, bei Erkrankungen des Auges,
der Sehbahn usw.) oder als Gestalten, Figuren, Szenen (eigentliche optische Halluzinationen). Optische Halluzinationen kommen zwar auch bei den
Schizophrenien vor, sind aber typischer für organische psychische Störungen: Im Alkoholentzugsdelir etwa sieht der Patient weiße Mäuse über die
Bettdecke huschen oder eine ganze Blaskapelle vor dem Krankenzimmer spielen. Andere Beispiele sind optische Halluzinationen im Rahmen
drogeninduzierter Psychosen (z. B. durch LSD) oder Halluzinationen bei Läsionen des Okzipitallappens.
• Olfaktorische und gustatorische Halluzinationen: Man beobachtet sie bei Tumoren in der Area olfactoria oder in der Aura epileptischer Anfälle.
Sie treten aber auch bei Schizophrenien mit wahnhaften Verfolgungs- und Vergiftungsängsten auf (die Patienten geben dann z. B. an, Gift zu
riechen) oder bei depressiven Erkrankungen (die Patienten nehmen dann z. B. Leichen- oder Fäulnisgeruch wahr).
• Taktile oder haptische Halluzinationen: Diese Halluzinationen beziehen sich auf Hautempfindungen. Die Patienten fühlen sich z. B. festgehalten,
angeblasen, durchstochen oder gewürgt, oder sie sind der festen Überzeugung, auf ihrer Haut krabbelten kleine Tiere wie Käfer oder Würmer
(Dermatozoenwahn oder chronische taktile Halluzinose). Solche Halluzinationen treten in erster Linie im Rahmen organischer
Hirnerkrankungen auf.
• Zönästhesien: Mit fließenden Übergängen zu den taktilen Halluzinationen handelt es sich bei den Zönästhesien um mannigfaltige, z. T. bizarre
Störungen des Leibempfindens (den Patienten ist es, als ob sie versteinert, vertrocknet, verfault, leer oder inwendig aus Gold wären) oder um eine
erlebte Leibentstellung (der Körper verändert sich, wächst, schrumpft, einzelne Körperteile wechseln Lage und Form, der Körper schwebt oder
bewegt sich usw.). Typische Zönästhesien sind auch eigenartig ziehende, wie Feuer brennende, stechende Schmerzen, die differenzialdiagnostisch
nicht immer leicht gegen organische Schmerzsyndrome abgrenzbar sind.
• Leibhalluzinationen oder zönästhetische Halluzinationen: Von Leib- oder zönästhetischen Halluzinationen spricht man, wenn die
Leibgefühlsstörungen den Charakter des von außen Gemachten haben: Die Patienten fühlen sich dann im Körper magnetisch aufgeladen, von
elektrischen Strömen durchflutet oder im Körperinnern durch Suggestion oder Hypnose verändert. Dadurch unterscheiden sich die
Leibhalluzinationen oder leiblichen Beeinflussungserlebnisse von den Zönästhesien, die den Charakter des „Gemachten“ vermissen lassen.
Typischerweise treten Leibhalluzinationen und Zönästhesien bei Schizophrenien auf.
• Sonderformen sind vestibuläre Halluzinationen (das Gefühl zu schweben) und kinästhetische Halluzinationen (das Gefühl, bewegt zu werden).

Halluzinationen nahestehende Phänomene

• Pseudohalluzinationen: Im Gegensatz zu den echten Halluzinationen, die der Patient ähnlich wie Sinneswahrnehmungen erlebt, handelt es sich
hierbei um bildhafte und mehr im subjektiven Raum wahrgenommene Sinnestäuschungen. Ihr Trugcharakter wird erkannt und darüber das
Urteil „nicht wirklich“ gefällt. Sie sind oft Vorstufen der echten Halluzinationen, zu denen ein fließender Übergang besteht. Beispiel: Ein Patient mit
einer Depression sieht eine Hand oder einen Totenkopf, die er aber sogleich als „Bilder“ entlarvt.
• Illusionen oder illusionäre Verkennungen: Hier wird etwas tatsächlich gegenständlich Vorhandenes für etwas anderes gehalten, als es wirklich ist,
d. h., es wird verkannt. Illusionäre Verkennungen werden begünstigt durch erschwerte Wahrnehmungsbedingungen aufseiten des Gegenstands (z. 
B. Dunkelheit) oder des Wahrnehmenden (Übermüdung oder affektive Anspannung, daher auch Affektillusion genannt). Das ängstliche Kind hält z. 
B. den Busch am Wegrand für einen Räuber. Im Gegensatz zur Pareidolie werden aber nicht Busch und Räuber gleichzeitig wahrgenommen,
sondern – wenn auch nur kurz – der Busch als Räuber und nur als solcher. Vorkommen: Illusionen treten für sich genommen auch im
normalpsychischen Bereich auf und sind daher niemals als schlechthin krankhaft zu bewerten, z. B. deutet jemand, der Besuch erwartet, ein
beliebiges Geräusch als Klopfen an der Tür. Bei Schizophrenen treten sie bevorzugt auf akustischem Gebiet – ein Patient hört z. B. aus Äußerungen
fremder Menschen auf der Straße herabsetzende Bemerkungen über sich heraus – und bei organischen Psychosen eher auf optischem Gebiet auf.
• Pareidolien: Hierbei wird in wirklich Vorhandenes Nichtvorhandenes hineingesehen (z. B. Gesichter in Wolken oder in die Tapete), oder es
werden aus unklaren Geräuschen Wörter herausgehört. Im Gegensatz zur illusionären Verkennung, in die eine Pareidolie z. B. bei ängstlicher
Anspannung übergehen kann, bestehen Gegenstand und Fantasiegebilde nebeneinander.

Einfache Wahrnehmungsveränderungen
Bei den einfachen Wahrnehmungsveränderungen wird die Realität zwar richtig erkannt, jedoch hinsichtlich Intensität und Qualität in gewisser Weise
verändert, entstellt oder verzerrt wahrgenommen. Einfache Wahrnehmungsveränderungen betreffen meist das visuelle System, können aber auch auf
akustischem, olfaktorischem und gustatorischem Gebiet vorkommen. Man unterscheidet:

• Intensitätsminderung der Wahrnehmung: Alles erscheint farblos, fade und grau, der Wahrnehmungscharakter ist weniger lebendig als sonst, bei
der Depression häufig mit Derealisationserleben verbunden.
• Intensitätssteigerung der Wahrnehmung: z. B. bei der Manie oder unter Drogeneinfluss
• Verschwommensehen
• Farbigsehen
• Mikropsie: Gegenstände erscheinen kleiner, als sie sind
• Makropsie: Gegenstände erscheinen größer, als sie sind
• Metamorphopsie / Dysmegalopsie : Gegenstände werden in Farbe und Form verändert oder verzerrt wahrgenommen

Vorkommen
Einfache Wahrnehmungsstörungen können bei allen psychischen Erkrankungen vorkommen, aber auch bei organischen Erkrankungen des entsprechenden
Sinnessystems (z. B. bei Tumoren im Bereich der Sehbahn oder des Schläfenlappens) oder anderen Störungen (z. B. Epilepsien).

2.3.6. Ich-Störungen
➤ gibt einen Überblick über die Ich-Störungen.

Tab. 2.6 Einteilung der Ich-Störungen


Psychotische Ich-Störungen • Gedankeneingebung
• Gedankenentzug
• Gedankenausbreitung
• Willensbeeinflussung

„Entfremdungserleben“ • Depersonalisationserleben
• Derealisationserleben

Psychotische Ich-Störungen
Ich-Störungen oder „ Störungen der Meinhaftigkeit“ gehören nach Kurt Schneider zu den Erstrangsymptomen der Schizophrenien (➤ ) und bestehen darin,
dass eigene seelische Vorgänge und Zustände nicht mehr als zum Ich zugehörig, sondern als von außen und von anderen gemacht, gelenkt und beeinflusst
erlebt werden. Betreffen sie das Denken, spricht man von Gedankeneingebung, Gedankenentzug oder Gedankenausbreitung. Erlebt der Schizophrene seine
Handlungen als von außen gemacht oder gelenkt, spricht man von Willensbeeinflussung.
Mit anderen Worten: Bei den Ich-Störungen kommt es zu einer „Durchlässigkeit der Ich-Umwelt-Grenze“, zu einem Verlust der „Ich-Demarkation“, d. h.
der Abgrenzung der Realität von dem, was den eigenen Gedanken und dem eigenen Willen entspringt. Ich-Abgrenzung steht somit in engem Zusammenhang
mit der Realitätskontrolle. Beispiel: Ein schizophrener Patient klagt darüber, dass er nicht so denken und fühlen könne, wie er wolle, und Handlungen
ausführen müsse, die von außen gesteuert seien, dass man ihm ständig fremde Gedanken eingebe und die eigenen wegnehme.
Auch das Erlebnis, die eigenen Gedanken würden laut und damit für andere hörbar (Gedankenlautwerden), kann man den Ich-Störungen zurechnen. Kurt
Schneider zählt das Gedankenlautwerden jedoch zu den Wahrnehmungsstörungen.
Schizophrene Patienten versuchen häufig, psychotische Ich-Störungen für sich zu erklären, indem sie dieses Erleben z.  B. auf Suggestion, Hypnose oder
Fernsteuerung zurückführen (man spricht dann von einem Erklärungswahn).

„Entfremdungserleben“
Entfremdungserlebnisse stehen den Ich-Störungen nahe. Sie werden heute als dissoziatives Erleben bezeichnet (➤ ). Kennzeichnend ist der Charakter der
Fremdheit und Unwirklichkeit. Kommt der Patient sich selbst fremd, schattenhaft und unvertraut vor, spricht man von einem Depersonalisationserleben.
Dieses ist kaum von dem Gefühl der Derealisation zu trennen, bei dem Patienten die Umwelt entfremdet vorkommt.

Beispiel
Beschreibung einer Patientin mit einer Depression: „Ich bin nur noch ein Schatten, ich spüre mich nicht mehr, alles ist fern und weit von mir gerückt – wie im
Nebel.“ Ein Patient mit einer PTBS berichtet, dass er sich „wie unter eine Glocke“ erlebe, die Umwelt sei „wie Watte“ für ihn.

Vorkommen
Typischerweise lassen diese Entfremdungserlebnisse das Gefühl des Gemachten vermissen, d.  h., sie werden nicht auf einen Außeneinfluss zurückgeführt.
Daher sind sie nosologisch unspezifisch. Sie treten im normalpsychischen Bereich (z.  B. bei Übermüdung oder in Stressphasen) und bei verschiedensten
psychischen Erkrankungen wie Persönlichkeitsstörungen, Depressionen, Schizophrenien, PTBS, dissoziativen Störungen sowie bei Drogenkonsum (z. B. nach
LSD-Einnahme) auf. Bei einem Depersonalisations- / Derealisationssyndrom (➤ ) ist das „Entfremdungserleben“ das führende Symptom der Störung.

2.3.7. Störungen der Affektivität und Angst


Definition
Mit dem Begriff „Affektivität“ bezeichnet man das gesamte Gefühlsleben eines Menschen nach dessen Grundstimmung, Intensität, Ansprechbarkeit und
Dauer. Die Affekte dagegen bezeichnen die Gestimmtheit im Augenblick.

Merke

• Affektivität: Gesamtheit des Gefühlslebens eines Menschen nach dessen Grundstimmung, Intensität,
Ansprechbarkeit und Dauer
• Affekt: Gestimmtheit im Augenblick
Störungen der Affektivität

• Affektverarmung, Affektverflachung: Unter Affektarmut versteht man den Mangel oder Verlust an emotionaler Schwingungsfähigkeit und
affektiver Ansprechbarkeit. Der Verlust der Fähigkeit, Freude zu empfinden, wird auch als Anhedonie bezeichnet. Wenn der Patient selbst
darunter leidet, spricht man auch vom Gefühl der Gefühllosigkeit. Die Patienten klagen darüber, die Gefühle seien abgestorben, sie könnten für
niemanden und nichts mehr etwas empfinden oder durch nichts mehr erschüttert werden, alles sei einerlei. Vorkommen: Affektverarmung findet
man bei affektiven und organischen Psychosen, das Gefühl der Gefühllosigkeit v. a. bei Depressionen. Affektverarmung bei schizophrenen
Psychosen bezeichnet man auch als „Affektverflachung“.
• Affektstarre: Im Gegensatz zur Affektarmut hat der affektstarre Patient zwar Affekte, verharrt aber in diesen unabhängig von der äußeren Situation
oder vom Gesprächsgegenstand. Man spricht auch vom Verlust der affektiven Modulationsfähigkeit. Vorkommen: bei organischen Psychosen,
Schizophrenien und Depressionen.
• Inadäquater oder parathymer Affekt: Man spricht auch von paradoxen Affekten: Gefühlsausdruck und Erlebnisinhalt stimmen nicht überein.
Vorkommen: typischerweise bei Schizophrenien. Beispiel: Ein Patient lacht dabei, wenn er erzählt, sein Körper sei innerlich verfault.
• Affektinkontinenz: Hierunter versteht man eine mangelnde Affektsteuerung. Die Affekte springen übermäßig schnell an, haben eine oft übermäßige
Stärke und können nicht beherrscht werden. Man spricht auch von Affekteinbrüchen. Vorkommen: bei organischen psychischen Störungen, z. B.
vaskulären ZNS-Erkrankungen. Beispiel: Fragt man einen Patienten nach dem Namen seiner Frau, fängt er an, bitterlich zu weinen.
• Affektlabilität: Hier wechselt die Stimmung des Patienten während des Gesprächs schnell, und die Affekte haben meist eine kurze Dauer.
Beispielsweise ist ein Patient bei einem Thema zu Tode betrübt, beim nächsten erheitert. Vorkommen: v. a. bei organischen psychischen Störungen.
• Ambivalenz: Hier bestehen nebeneinander positive und negative Gefühle, Stimmungen oder Strebungen. Es handelt sich also nicht um ein schnelles
Alternieren zwischen beiden Extremen, sondern um ein gleichzeitiges Nebeneinander: Der Patient empfindet z. B. gleichzeitig Liebe und Hass für
eine Person oder will zugleich essen und nicht essen. Vorkommen: bei Depressionen, Zwangsstörungen und Schizophrenien.

Depressive und manische Verstimmung


➤,➤.

Angst

Definition
Unter Angst versteht man ein gegenstandsloses, qualvolles, unbestimmtes und individuell sehr unterschiedlich ausgeprägtes Gefühl der Beengung, der
Bedrohung und des Ausgeliefertseins.
Im Gegensatz dazu versteht man unter einer Phobie die Furcht vor bestimmten Situationen oder Objekten wie z. B. Spinnen oder Hunden. Die Betroffenen
sehen zwar die Unbegründetheit ihrer Angst  –  vom Gegenstand her  –  ein, werden aber dennoch bei Konfrontation zwangartig von der Angst überwältigt.
Typischerweise führen Phobien zu einem Vermeidungsverhalten, d. h., der angstauslösenden Situation wird aus dem Weg gegangen.
Ängste und phobische Reaktionen gehen meistens mit vegetativen Symptomen wie z. B. Herzrasen, Schweißausbrüchen oder Zittern einher.

Vorkommen

• Im normalpsychischen Bereich als Realangst (Examen, unbekannte Situation, Trauma)


• Bei körperlichen Erkrankungen (z. B. im Rahmen eines Angina-pectoris- oder Asthmaanfalls)
• Bei Angststörungen wie z. B. den phobischen Störungen, der Panikstörung oder der generalisierten Angststörung (➤ )
• Im Rahmen anderer psychischer Störungen wie Depressionen (z. B. ängstlich-agitiertes depressives Syndrom), Schizophrenien, somatoformen
Störungen, Anpassungs- und Belastungsstörungen

2.3.8. Antriebsstörungen und katatone Symptome


Definition
Als Antrieb bezeichnet man die Grundaktivität des Menschen, eine hypothetisch angenommene Kraft für alle psychischen und physischen Leistungen.
So unterhält der Antrieb z. B. Lebendigkeit, Schwung, Initiative, Tatkraft und Aufmerksamkeit. Er ist zunächst nicht zielgerichtet, sondern wird erst durch
Motivation, Bedürfnisse oder den Willen auf ein Ziel ausgerichtet. Der Antrieb ist individuell verschieden und stark umweltabhängig und zeigt sich in erster
Linie am Ausdrucksverhalten des Patienten, an seiner Psychomotorik.
Der Antrieb kann herabgesetzt, gesteigert oder enthemmt sein, woraus sich die nachfolgend beschriebenen Antriebsstörungen ergeben.

Antriebsstörungen

• Antriebsarmut oder Antriebsmangel: Der Mangel an Energie und Initiative wird subjektiv vom Patienten erlebt. Für den Untersucher wird dies an
der spärlichen und verlangsamten Motorik sowie der mangelnden Initiative und Spontaneität im Gespräch sichtbar. Vorkommen: z. B. bei
organischen psychischen Störungen sowie affektiven Störungen und Schizophrenien.

Merke
B e i m Antriebsmangel fehlt das subjektive Interesse. Das Gewollte wird nicht durchgeführt. Bei der
Antriebshemmung ist das subjektive Interesse erhalten, aber es wird ein innerer Widerstand gegen die Verrichtung
des Gewollten verspürt.

• Antriebshemmung und Antriebsschwäche: Bei der Antriebshemmung werden Initiative und Energie nicht an sich als vermindert erlebt, vielmehr
fühlt sich der Patient gebremst – er möchte etwas erreichen, schafft es jedoch nicht, bricht ab, rafft sich wieder auf usw. Im Gegensatz dazu ist die
Antriebsschwäche dadurch gekennzeichnet, dass ein zunächst vorhandener Antrieb rasch erlahmt oder nur bei genügender Anstrengung noch
aufrechterhalten werden kann. Vorkommen: Antriebshemmung und Antriebsschwäche bis hin zum Stupor beobachtet man typischerweise bei
Depressionen.

Klinik
Fragen zur Antriebsminderung / Antriebshemmung
„Haben Sie die Lust oder Energie verloren, Aktivitäten nachzugehen, die Ihnen früher gefallen haben?“

Ja → Antriebsmangel
„Verspüren Sie einen inneren Widerstand gegen die Verrichtung Ihrer Handlungen?“
„Kostet es viel Mühe und Anstrengung, und müssen Sie sich dazu zwingen?“

Ja → Antriebshemmung
• Antriebssteigerung, Antriebsenthemmung: Die Patienten sind lebhafter als sonst, haben mehr Schwung und Initiative, stecken voller Ideen und
sprechen mehr und rascher. Im Gegensatz zur ziellosen motorischen Unruhe zeigt sich die Antriebssteigerung meist im Rahmen einer geordneten,
zielgerichteten Tätigkeit und wird erst bei einer schweren Ausprägung der Erkrankung chaotisch und ungeordnet. Vorkommen:
Antriebssteigerungen finden sich z. B. bei Manien und organischen psychischen Störungen. Bei den Manien ist der Antrieb oft bis zur Enthemmung
gesteigert. Ebenso kann es auch bei starker affektiver Erregung oder nach Genuss psychoaktiver Substanzen wie Amphetaminen, Koffein oder
Nikotin zu einer Steigerung des Antriebs kommen.

Katatone Symptome
Störungen von Antrieb und Psychomotorik bezeichnet man auch als katatone Symptome. ➤ listet die wichtigsten katatonen Symptome auf, die man in dieser
Form typischerweise bei schizophrenen Psychosen beobachten kann (➤ ). Katatone Symptome treten aber auch bei anderen Störungen auf, z. B. als depressiver
Stupor, als manischer Erregungszustand, als Echopraxie bei Frontalhirnläsionen oder medikamenteninduziert. Daher sind diese Störungen in der ICD-11 unter
einem separaten Kapitel der Katatonien (➤ ) zusammengefasst und nicht mehr wie in der ICD-10 hauptsächlich auf die Schizophrenie bezogen.

Tab. 2.7 Katatone Symptome


Hypokinesen • Stupor / Mutismus: gänzliches Fehlen von Bewegung bzw. Sprechen bei klarem Bewusstsein

• Negativismus: Sperren gegen jede Handlung, zu der man aufgefordert wird

• Katalepsie: passiv vorgegebene und auch noch so unbequeme Körperstellungen werden abnorm lange beibehalten

• Haltungsstereotypien: Verharren in bestimmten Haltungen über lange Zeit, im Gegensatz zur Katalepsie auch bei äußeren Versuchen der
Veränderung

Hyperkinesen • Psychomotorische Erregung

• Bewegungs- und Sprachstereotypien: fortgesetztes leeres und zielloses Wiederholen von Bewegungen, Sätzen, Wörtern oder Silben

• Echopraxie / Echolalie: ständiges sinnloses Nachahmen von Bewegungen bzw. Nachsprechen

• Manierismen: sonderbare, verschrobene oder bizarre Abwandlungen alltäglicher Bewegungen und Handlungen (Grimassieren, wenn die
Mimik betroffen ist)

2.3.9. Kontaktstörungen
Definition
Als Kontakt kann man die Fähigkeit bezeichnen, Isolation zu überwinden und die soziale Distanz zum Mitmenschen zu verringern.
Kontaktstörungen können quantitativer Art sein, z. B. als völlige Kontaktunfähigkeit des stuporösen depressiven Patienten oder als völlige Distanzlosigkeit
eines Manikers, oder qualitativer Art, z. B. aggressiv, oberflächlich, misstrauisch, ängstlich.

Vorkommen
Beeinträchtigungen der Kontaktfähigkeit sind nicht nur bei den verschiedensten psychischen Erkrankungen zu finden, sondern auch im normalpsychischen
Bereich. Hier wie dort sind sie häufig durch alters-, geschlechts- oder sozialspezifische Normen bedingt. Man denke z.  B. an Kontaktstörungen zwischen
Menschen verschiedener sozialer und kultureller Herkunft oder verschiedenen Alters.

Merke
Kontaktstörungen kommen bei allen Arten psychischer Erkrankungen vor, z.  B. bei Persönlichkeitsstörungen,
Sexualstörungen, Suchterkrankungen, organischen, affektiven und schizophrenen Störungen.

Bei der Schizophrenie kann die Störung des emotionalen Kontakts für die Frühdiagnose der Erkrankung im Prodromalstadium von Bedeutung sein. Ein nach
Bleuler wichtiges Symptom der Schizophrenie ist der Autismus, worunter er sozialen Rückzug und eine Minderung des Kontaktbedürfnisses versteht.

2.3.10. Suizidalität
Die Abklärung von Suizidalität gehört zwingend zu jeder Erhebung des psychopathologischen Befunds.

Definition
Suizidalität bezeichnet alle Kräfte eines Menschen, die in Richtung Selbsttötung gehen. Man unterscheidet dabei folgende Begriffe:

• Suizidideen: gedankliche Auseinandersetzung mit der Suizidabsicht.


• Suizidale Handlung: Suizidversuch oder Suizid.
• Suizidversuch: versuchte Selbsttötung.
• Suizid: erfolgte Selbsttötung.
• Parasuizidale Handlung: eine Handlung, die prinzipiell zum Suizid geeignet ist (z. B. Tabletteneinnahme, Verletzung mit Rasierklingen), aber nicht
mit der Intention der Selbsttötung, sondern aus anderen Motiven eingesetzt wird (z. B. um Spannungszustände bei einer Borderline-Störung zu
reduzieren oder als „Hilferuf“).
• Erweiterter Suizid: Neben der Selbsttötung werden gegen ihren Willen vorher andere Personen getötet; kommt z. B. bei Müttern mit schweren
wahnhaften Depressionen oder Schizophrenien vor, die aus Verzweiflung ihre Kinder mit in den Tod nehmen.
• Gemeinsamer Suizid: Zwei oder mehrere Personen begehen einvernehmlich Suizid.

Epidemiologie
Nach Schätzungen der WHO kommt es weltweit zu ca. 1 Mio. Suiziden pro Jahr. In Deutschland sind die Zahlen rückläufig: Die Suizidrate sank von 33,2 pro
100.000 Einwohner im Jahre 1980 auf 12,3 im Jahre 2015; seit 2010 nimmt sie wieder leicht zu. Der Rückgang ist sowohl bei Frauen als auch bei Männern zu
beobachten. Im Jahr 2015 suizidierten sich in Deutschland 10.080 Menschen (ca. 1 % aller Todesfälle), wobei von einer hohen Dunkelziffer (v. a. im Rahmen
selbstverschuldeter Verkehrsunfälle, die nicht als Suizide erkannt werden) auszugehen ist. Im Vergleich zu anderen Todesursachen wie Verkehrsunfall, Mord
oder AIDS-Erkrankung sind Suizide damit sehr viel häufiger (➤ ). Suizidversuche wiederum sind ca. 10- bis 100-mal häufiger als Suizide.

Risikofaktoren
Risikofaktoren für Suizidversuche bzw. Suizide sind:

• Psychische Erkrankungen: v. a. affektive Störungen, Suchterkrankungen, Schizophrenien und bestimmte Persönlichkeitsstörungen haben ein
gegenüber der Normalbevölkerung deutlich erhöhtes Suizidrisiko.
• Bereits erfolgter Suizidversuch: Der wichtigste Prädiktor für eine suizidale Handlung ist ein bereits stattgehabter Suizidversuch, der das Risiko
für einen erneuten Suizidversuch erhöht.
• Positive Familienanamnese: Suizide in der Familie gehen mit einem erhöhten Suizidrisiko einher.
• Geschlecht: Suizidversuche werden häufiger von Frauen, Suizide häufiger von Männern verübt. 2012 lag die Suizidrate bei Männern mit 18,1 /
100.000 dreimal höher als bei Frauen (6 / 100.000). Männer wählen deutlich häufiger „harte“ Suizidmethoden wie Erhängen, Erschießen und Tod
durch (Auto-)Gase, während Frauen sich häufiger durch Medikamente suizidieren.
• Alter: Im Jahr 2012 war das mittlere Alter der Suizidenten 57 Jahre, d. h., die Suizidraten steigen mit dem Alter an. Bei den über 20-Jährigen ist die
Suizidrate mit 73 / 100.000 bei den 80- bis 85-jährigen Männern am höchsten, während sie mit 2,3 / 100.000 bei den 20- bis 24-jährigen Frauen am
niedrigsten ist.
• Sozialer Status und Lebensraum: Ein schneller Wechsel des sozialen Status und das Leben in der Stadt sind mit erhöhter Suizidalität assoziiert.

Weitere Indikatoren für ein erhöhtes Suizidrisiko bei Depressionen finden sich in ➤ (➤ ).

Merke
Über 90 % der Suizide erfolgen im Rahmen psychischer Erkrankungen, wobei in ca. 40–70 % der Fälle Depressionen,
bei ca. 20 % Suchterkrankungen, bei ca. 10 % Schizophrenien und bei je ca. 5 % Persönlichkeitsstörungen und andere
psychische Erkrankungen vorliegen.

Entwicklung
Die typische Abfolge von Prozessen vor einer suizidalen Handlung sind passiver Todeswunsch, unkonkrete Suizidgedanken, Entwicklung eines konkreten
Suizidplans, das Treffen von Abschiedsvorbereitungen und schließlich die Suizidhandlung. Mit jeder Stufe nimmt die Suizidgefahr zu.
Ringel hat das einer Suizidhandlung vorausgehende präsuizidale Syndrom beschrieben, das sich aus drei Komponenten zusammensetzt:

1. Einengung der sozialen und psychischen Lebensbereiche,


2. Aggressionshemmung nach außen und Wendung gegen die eigene Person und
3. Rückgang der allgemeinen Appetenz sowie erste Todesfantasien.

Pöldinger hat in der Vorphase eines Suizids drei Phasen unterschieden: das Erwägungsstadium (Suizidgedanken), das Ambivalenzstadium (mit
wiederkehrenden Suizidimpulsen) und das Entschlussstadium, das schließlich in den Suizid mündet.

Klinik
Oft erscheinen Patienten, nachdem sie den Entschluss gefasst haben, sich umzubringen, paradoxerweise gefasst und entspannt („Ruhe vor dem Sturm“).
Dies kann als Besserung der z. B. depressiven Erkrankung fehlinterpretiert werden und anschließend z. B. bei stationären Patienten zu einer Lockerung der
Ausgangsregel führen, die das Umsetzen der Suizidhandlung begünstigt.

Abklärung von Suizidalität


Suizidgedanken, -impulse oder -absichten müssen immer konkret und einfühlsam angesprochen werden, und jede suizidale Äußerung ist sehr ernst zu nehmen.
Die meisten Suizidenten kündigen ihren Suizid an. Sprüche wie „Wer vom Suizid spricht, vollbringt ihn nicht“ oder „Wenn ich Suizidgedanken anspreche,
bringe ich den Patienten erst darauf“ sind definitiv falsch.

Klinik
Fragenkatalog zur Abschätzung von Suizidalität

1. Haben Sie in letzter Zeit daran denken müssen, dass es vielleicht besser wäre, nicht mehr zu leben?
2. Geschah das in letzter Zeit häufiger?
3. Haben Sie auch daran denken müssen, ohne es zu wollen? Haben sich Ihnen Gedanken aufgedrängt, Ihr Leben zu beenden?
4. Haben Sie bereits konkrete Ideen, wie Sie es machen könnten?
5. Haben Sie bereits Vorbereitungen getroffen?
6. Haben Sie schon zu jemandem über Ihre Suizidgedanken gesprochen?
7. Haben Sie schon einmal einen Suizidversuch unternommen?
8. Hat sich in Ihrer Familie oder Ihrem Freundes- oder Bekanntenkreis schon einmal jemand das Leben genommen?
9. Was hat Sie bisher von einem Suizidversuch abgehalten (z. B. Eltern, Kinder, denen man es nicht antun würde)?
10. Haben Sie religiöse Bindungen und Pläne für die Zukunft in Familie und Beruf?

Wenn die Suizidgefahr als akut eingeschätzt wird, gilt als wichtigste Regel, den Patienten nicht allein zu lassen und unverzüglich in einer psychiatrischen
Klinik vorzustellen. Dort wird durch einen Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie abgeklärt, ob der Patient stationär (möglicherweise auch gegen seinen
Willen) aufgenommen werden muss oder ambulant (ggf. unter Abschließen eines Non-Suizidvertrags bis zum nächsten Behandlungstermin) weiterbehandelt
werden kann.

Merke
Suizidale Patienten dürfen nie aus den Augen gelassen werden!

Rechtliche Aspekte ➤ ; weitere Ausführungen finden sich im Zusammenhang mit den affektiven Störungen (➤ ) und psychiatrischen Notfällen (➤ ).

2.4. Psychopathologische Syndrome


Definition

• Als Symptome bezeichnet man die kleinsten Einheiten zur Beschreibung psychopathologischer Phänomene, z. B. einen Zwang, einen depressiven
Affekt oder eine akustische Halluzination.
• Überzufällig häufig gemeinsam auftretende Komplexe von Symptomen bezeichnet man auch als Syndrome. Die Syndrome werden nach den oben
aufgeführten psychopathologischen Kriterien wie z. B. Bewusstsein, Wahrnehmung, Antrieb oder Stimmung beschrieben und dann nach dem
hervorstechenden Symptom benannt.

Man spricht so z.  B. von einem depressiven Syndrom, wenn die traurige Verstimmung im Vordergrund des klinischen Bildes steht, oder von einem
ängstlichen Syndrom, wenn die Angst Hauptmerkmal des Zustands ist. Weitere Beispiele sind das manische Syndrom oder das paranoid-halluzinatorische
Syndrom. Einige der Syndrome können noch weiter differenziert werden. Bei einem depressiven Syndrom z.  B. unterscheidet man ein gehemmtes und ein
agitiertes depressives Syndrom.
Syndrome sind ätiologisch unspezifisch. So ist z. B. mit der Beschreibung eines depressiven Syndroms noch nichts darüber ausgesagt, ob es sich um einen
depressiven Verstimmungszustand im Rahmen einer affektiven Störung, einer Anpassungsstörung oder einer organischen psychischen Störung handelt. Somit
dürfen Syndrome auch nicht mit Diagnosen verwechselt werden. Bei einer Diagnose müssen die objektivierbaren Kriterien der internationalen
Klassifikationssysteme (ICD-10; ICD-11; DSM-5®) vorliegen (➤ ).

Merke
Syndrome sind ätiologisch unspezifisch. Ein Syndrom darf deshalb nicht mit einer Diagnose verwechselt werden.

2.5. Testpsychologische Verfahren


Testpsychologische Verfahren werden in der Psychiatrie eingesetzt:

• um das subjektive Urteil des klinischen Interviews mit Ergebnissen hinsichtlich Objektivität, Reliabilität und Validität (s. u.) überprüfter
Messverfahren zu ergänzen,
• um Vergleiche mit den Normdaten klinischer und gesunder Stichproben zu ermöglichen,
• um eine dimensionale Schweregradeinschätzung von klinischen Symptomen oder Erkrankungen vornehmen zu können (➤ ; ➤ ),
• um Baseline, Verlaufs- und Therapieerfolgsmessungen zu ermöglichen,
• zur Leistungsdiagnostik (➤ ) und
• zur Unterstützung der klassifikatorischen Erfassung von Erkrankungen (➤ ).

Dabei kommen Untersuchungsverfahren zum Einsatz, für die in Voruntersuchungen nachgewiesen wurde, dass die Testergebnisse vom aktuellen
Untersucher unabhängig sind (Objektivität), dass der Test zuverlässig und genau misst (Reliabilität) und dass tatsächlich das Zielsymptom oder die relevante
Leistungsdimension abgebildet wird (Validität).

Merke
Validität beschreibt die Zuverlässigkeit oder Genauigkeit, mit der ein Verfahren genau das misst, was es zu messen
vorgibt. Beispiel: Ein valides Messverfahren für Depression trennt sicher die betroffenen Patienten von gesunden
Probanden. Die Reliabilität gibt die Genauigkeit an, mit der zwei oder mehrere Untersucher mit dem gleichen
Messinstrument zu einem gleichen oder ähnlichen Ergebnis kommen.

Bei den Verfahren zur dimensionalen Schweregraderfassung kann man grundsätzlich störungsgruppenübergreifende und störungsgruppenbezogene
Verfahren unterscheiden. Bei beiden gibt es wiederum Fremd- und Selbstbeurteilungsverfahren.

2.5.1. Störungsgruppenübergreifende Verfahren


In ➤ sind einige Beispiele für mehrdimensionale Verfahren aufgeführt, mit deren Hilfe ein weites Spektrum klinisch bedeutsamer Syndrome, Befindlichkeiten
und Beschwerden, unabhängig von einer bestimmten Störungsgruppe, abgebildet werden kann.

Tab. 2.8 Standardisierte Befunderhebung mittels störungsgruppenübergreifender Verfahren


Mehrdimensionale Selbst- und Fremdbeurteilungsverfahren Symptom-Checklist e (SCL-90- 90 Items, 9 Skalen, 3 Globalskalen
R)

Brief Psychiatric Rating Scale 18 Symptomenkomplexe, Gesamtwertung, 5


(BPRS) Subskalen

AMDP-System (AMDP) 140 Items, 9 Subskalen, 3 übergeordnete


Skalen

Present State Examination 140 Items, 38 Subskalen


(PSE)

Störungsgruppenübergreifende Verfahren zur Erfassung von Befindlichkeitsskala (Bf-S) 28 Items, Gesamtwert, 2 Parallelformen
Befindlichkeit / Stimmung
Visuelle Analogskalen (VAS) 100-mm-Skala mit 2 Ankerpunkten

Störungsgruppenübergreifende Verfahren zur Erfassung von Beschwerdenliste (BL) 24 Items, Gesamtwert, 2 Parallelformen
Beschwerden
Freiburger Beschwerdenliste 71 Items, 9 Subskalen, Gesamtwert, Kurz- und
(FBL-R) Langform

2.5.2. Störungsgruppenbezogene Verfahren


Störungsgruppenbezogene Selbst- und Fremdbeurteilungsverfahren werden eingesetzt, um bestimmte Syndrome zu erfassen und zu quantifizieren bzw.
Störungsgruppen genauer zu beschreiben. Bei diesen Verfahren (➤ ) ist Folgendes zu beachten:

• Obwohl für die meisten Skalen Normwerte oder Cut-off-Werte vorliegen, dienen diese Skalen nicht der Diagnosestellung, sondern lediglich einer
Quantifizierung des Beschwerdebilds.
• Für die Anwendung von Fremdbeurteilungsverfahren müssen die Anwender geschult werden, um Objektivität und Reliabilität der Testergebnisse
sicherzustellen.
Tab. 2.9 Beispiele für störungsgruppenbezogene Selbst- und Fremdbeurteilungsverfahren, geordnet nach ICD-10
Psychische und Verhaltensstörungen durch CAGE-Fragebogen Selbstbeurteilung, 6 Items
psychotrope Substanzen (ICD-10 F1)
Münchner Alkoholismustest (MALT) Selbst- und Fremdbeurteilung, 29 Items

Schizophrenie und andere psychotische Störungen Scale for the Assessment of Positive and Fremdbeurteilung, 35 bzw. 19 Items
(ICD-10 F2) Negative Symptoms (SAPS, SANS)

Positive and Negative Syndrome Scale (PANSS) Fremdbeurteilung 30 Items

Affektive Störungen (ICD-10 F3) Hamilton-Depressionsskala (HAMD) Fremdbeurteilung 17 Items

Beck-Depressions-Inventar (BDI) Selbstbeurteilung 21 Items

Inventar depressiver Symptome (IDS) Fremd- und Selbstbeurteilung, 30 Items

Bech-Rafaelsen-Mania-Skala (BRMAS) Fremdbeurteilung 11 Items

Weitere Störungen Yale-Brown Obsessive Compulsive Scale (Y- Fremdbeurteilung von Zwangssymptomen, 19
BOCS) Items

Fragebogen zu dissoziativen Symptomen (FDS) Selbst beurteilung, 44 Items

Clinician administered PTSD Scale (CAPS) Fremd beurteilung von Symptomen


posttraumatischer Belastungsstörungen

Klinik
Für die Schweregradeinschätzung haben die beiden Skalen folgende Cut-off-Werte:

• HAMD (17 Items): 7–17 Punkte: leicht depressiv; 18–24 Punkte: mittel / mäßig depressiv; ≥ 25 Punkte: schwer depressiv
• BDI-II (21 Items): 0–13 Punkte = keine oder minimale Depression; 14–19 Punkte = leichte Depression; 20–28 Punkte = mittelschwere Depression;
29–63 Punkte = schwere Depression

➤ zeigt einen Ausschnitt aus einer Selbstbeurteilungsskala für Depressionen, dem Beck-Depressions-Inventar (BDI). Die Gesamtpunktzahl ergibt sich aus
der Addierung der Punktzahl aller Items.

Tab. 2.10 Selbstbeurteilungsskala aus der Depressionsdiagnostik: Beck-Depressions-Inventar (BDI) (Auszug)


Name: Geschlecht:

Geburtsdatum: Ausfülldatum:

Dieser Fragebogen enthält 21 Gruppen von Aussagen. Bitte lesen Sie jede Gruppe sorgfältig durch. Suchen Sie dann die eine Aussage in jeder Gruppe
heraus, die am besten beschreibt, wie Sie sich in dieser Woche einschließlich heute gefühlt haben, und kreuzen Sie die dazugehörige Ziffer (0, 1, 2 oder 3)
an. Falls mehrere Aussagen einer Gruppe gleichermaßen zutreffen, können Sie auch mehrere Ziffern markieren. Lesen Sie auf jeden Fall alle Aussagen in
jeder Gruppe, bevor Sie Ihre Wahl treffen.

0 Ich bin nicht traurig.

1 Ich bin traurig.

2 Ich bin die ganze Zeit traurig und komme nicht davon los.

3 Ich bin so traurig oder unglücklich, dass ich es kaum noch ertrage.

0 Ich sehe nicht besonders mutlos in die Zukunft.

1 Ich sehe mutlos in die Zukunft.

2 Ich habe nichts, worauf ich mich freuen kann.

3 Ich habe das Gefühl, dass die Zukunft hoffnungslos ist und dass die Situation nicht besser werden kann.

0 Ich fühle mich nicht als Versager.

1 Ich habe das Gefühl, öfter versagt zu haben als der Durchschnitt.

2 Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, sehe ich bloß eine Menge Fehlschläge.

3 Ich habe das Gefühl, als Mensch ein völliger Versager zu sein.

2.5.3. Leistungsdiagnostik
Viele psychische Funktionen wie Aufmerksamkeit, Orientierung, Gedächtnis, Intelligenz, visuell-motorische Koordination und exekutive Funktionen können
unter dem Aspekt der Leistungsfähigkeit beschrieben werden. Da viele psychiatrische Erkrankungen mit Minderungen der Leistungsfähigkeit in diesen
Funktionsbereichen einhergehen, kann deren testpsychologische Quantifizierung wichtige diagnostische und prognostische Hinweise geben.
Eine Leistungsdiagnostik misst typischerweise:

• Intelligenz: z. B. Wechsler-Intelligenztest für Erwachsene (WIE), Mehrfachwahl-Wortschatz-Intelligenztest


• Aufmerksamkeit: z. B. Testbatterie zur Aufmerksamkeitsprüfung (TAP); oder d2-Aufmerksamkeitsbelastungstest
• Gedächtnis: z. B. Verbaler Lern- und Merkfähigkeitstest (VLMT); Wechsler-Gedächtnistest (WMS-R)
• Exekutivfunktionen: z. B. Wisconsin Card Sorting Test (WCST), Turm von London (TL-D)

Intelligenzmessung
Der am weitesten verbreitete Test zur Messung von Intelligenz ist der Wechsler-Intelligenztest für Erwachsene (WIE). Kritisch ist bei diesem Test
anzumerken, dass die Testleistung wegen der verbalen Orientierung des Tests stark von sozialen Faktoren, insbesondere der Schulleistung, mitgeprägt ist. Der
WIE besteht aus einem Verbal- und einem Handlungsteil mit mehreren Untertests:

• Verbalteil: allgemeines Wissen, allgemeines Verständnis, Wortschatz, Zahlennachsprechen, rechnerisches Denken, Buchstaben-Zahlen-Folgen,
Gemeinsamkeiten finden
• Handlungsteil: Untertests zu geschwindigkeitsabhängigen und handlungsbezogenen intellektuellen Leistungen, nämlich Matrizen-Test,
Symbolsuche, Zahlen-Symbol-Test, Bilderordnen, Bilderergänzen, Mosaiktest und Figurenlegen

Eine relativ einfache Möglichkeit der orientierenden Erfassung von Intelligenz stellt der häufig verwendete Mehrfachwahl-Wortschatz-Intelligenztest dar.
Hier sehen die Patienten mehrere Reihen mit zunehmenden Schwierigkeitsgrad von jeweils fünf Wörtern, von denen aber immer nur eines ein echtes Wort ist,
das die Patienten unterstreichen müssen. Beispiel einer Reihe: Pararetur-Ratetur- Reparatur -Partepara-Prepartur.
Weitgehend unabhängig von Sprachleistungen sowie von Kultur- und Bildungseinflüssen ist der Standard-Progressive-Matrices-Test (SPM), der sich
als Alternative bei Patienten mit schlechten Deutschkenntnissen anbietet. Die 60 Aufgaben bestehen aus geometrischen Mustern, die nach einem bestimmten
Konstruktionsprinzip aufgebaut sind. Ein freies Feld in dieser Vorlage ist nach dem Multiple-Choice-Prinzip so zu ergänzen, dass das Konstruktionsmuster
gewahrt bleibt.
Für Intelligenzleistungen bestehen folgende Cut-off-Werte:

• IQ < 20: schwerste Intelligenzminderung


• IQ < 35: schwere Intelligenzminderung
• IQ < 50: mittelgradige Intelligenzminderung
• IQ < 70: weit unterdurchschnittliche Intelligenz / leichte Intelligenzminderung
• IQ 70–85: niedrige Intelligenz
• IQ 85–115: durchschnittliche Intelligenz
• IQ 115–130: hohe Intelligenz
• IQ > 130: sehr hohe Intelligenz

Aufmerksamkeitsmessung
Zur Messung von Aufmerksamkeitsleistungen wird typischerweise die Testbatterie zur Aufmerksamkeitsprüfung (TAP) oder der d2-
Aufmerksamkeitsbelastungstest verwendet. Die TAP repräsentiert eine Familie computerisierter Testverfahren, die mittels einfacher Reizvorgaben am
Computerbildschirm spezifische Komponenten der Aufmerksamkeit erfasst (z.  B. Alertness, selektive Aufmerksamkeit, geteilte Aufmerksamkeit, Vigilanz
etc.). Die Leistungsfähigkeit in der jeweiligen Aufmerksamkeitskomponente wird in alters- und bildungsadjustierten Prozentrangnormen automatisiert
ausgegeben. Der d2-Test ist ein Papier-Bleistift-Testverfahren, ein Durchstreichtest, bei dem unter belastendem Zeitdruck die Funktion der selektiven
Aufmerksamkeit gemessen und quantifiziert in Prozentrangnormen ausgewertet werden kann.

Neugedächtnismessung
Zur Messung des Neugedächtnisses werden z.  B. der Verbale Lern- und Merkfähigkeitstest (VLMT) und der Wechsler-Gedächtnistest (Wechsler Memory
Scale, WMS-R) eingesetzt:

• VLMT: fünfmalige Vorgabe und freie Wiedergabe einer 15-Wort-Lernliste, anschließend einer 15-Wort-Störliste und schließlich freie und
verzögerte Wiedergabe der ersten Wortliste sowie ein Wiedererkennensdurchgang. Ergebnisse sind die unmittelbare Merkspanne, die Lernleistung,
die Interferenzanfälligkeit sowie die verzögerte Wiedergabe- und Wiedererkennensleistung.
• Die WMS-R umfasst 13 Gedächtnistests mit folgenden Ergebnisparametern: verbales Gedächtnis, visuelles Gedächtnis, Aufmerksamkeit / 
Konzentration, verzögerte Wiedergabe; Summenwert: allgemeines Gedächtnis aus verbalen und visuellen Leistungen.

Testung von Exekutivfunktionen


D e r Wisconsin Card Sorting Test (WCST) ist eine Kartenzuordnungsaufgabe und erfasst Fähigkeiten zur Analyse- und Problemlösefähigkeit,
Konzeptbildung und Umstellungsfähigkeit.
Der Turm von London (TL-D) ist ein Testverfahren, das die Fähigkeiten zum Planen und problemlösenden konvergenten Denken erfasst. Es müssen
verschiedenfarbige Kugeln auf einem Steckbrett mit einer bestimmten Anzahl von Zügen aus einer Ausgangs- in eine Zielposition gebracht werden.

2.5.4. Klinischer Einsatz testpsychologischer Verfahren und Bewertung der Testergebnisse


Testpsychologische Verfahren können wegen des hohen Aufwands nicht bei allen Patienten durchgeführt werden. Es muss daher eine Vorauswahl der
Patienten getroffen werden, die sich an folgenden Fragen orientiert:

• Hat die testpsychologische Untersuchung unterstützenden Charakter für die Diagnosestellung?


• Erbringt die testpsychologische Untersuchung zusätzliche differenzialdiagnostische Informationen?
• Ist eine quantitative Bestimmung der Parameter Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Denkvermögen, Exekutivfunktionen notwendig?
• Ist eine Quantifizierung der vorliegenden Symptomatik zu Behandlungsbeginn, im Verlauf und zur Therapieerfolgsmessung angezeigt?
• Werden prognostische Aussagen benötigt?
• Werden Aussagen zur Rehabilitations- oder Wiedereingliederungsfähigkeit benötigt?

Störungsspezifische und -übergreifende Tests zur Erfassung und Quantifizierung psychischer Syndrome ermöglichen es i. d. R., die Patienten von gesunden
Stichproben zu trennen und die Symptomatik z.  B. im Sinne von Prozentrangnormen quantifiziert auszudrücken. Bei der Interpretation müssen jedoch die
Reliabilität und damit das Vertrauensintervall und die klinische Relevanz der Messwerte eingeschätzt werden.
Für die Leistungstests gilt, dass die Störungen keine typischen und unterschiedlichen Testprofile aufweisen. Für die Interpretation testpsychologischer
Untersuchungsergebnisse muss zusätzlich zum klinischen Störungswissen Wissen um die kognitiven Defizite der verschiedenen psychischen Störungsbilder
und Wissen über die verwendeten Testverfahren vorliegen.
Testpsychologische Verfahren zur Leistungsdiagnostik und klassifikatorischen Schweregradeinschätzung können die Einzelfalldiagnostik nur in
Ausnahmefällen (persistierendes amnestisches Syndrom, Demenzerkrankungen) unterstützen und sind daher auch nur im Gesamtkontext der klinischen
Einschätzung zu bewerten. Typische Befundkonstellationen sind:

• Affektive Störungen: Die bipolare Störung mit psychotischer Symptomatik weist bei den affektiven Störungen die schwersten kognitiven Defizite
auf, gefolgt von der Depression mit psychotischen Symptomen und den manischen Episoden, die jeweils mit größeren Defiziten einhergehen als
bipolar oder unipolar depressive Episoden. Die Defizite nehmen mit der Anzahl der Erkrankungsepisoden, mit höherem Alter und bei depressiven
Patienten mit dem Vorliegen melancholischer Symptome zu. Die deutlichsten Defizite zeigen sich in den Exekutivfunktionen, gefolgt von Defiziten
in Bezug auf Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Psychomotorik (Hand-Auge-Koordination). In der Regel kommt es bei Besserung der affektiven
Symptomatik auch zu substanziellen Verbesserungen der kognitiven Defizite. In Verlaufsuntersuchungen wurden jedoch auch residuale kognitive
Störungen gefunden. Eine solche chronische kognitive Störung erschwert die Reintegration der betroffenen Patienten.
• Schizophrenie: Mit Ausnahme der alkoholbedingten persistierenden amnestischen Störung und der Demenzen haben schizophrene Patienten im
Bereich der psychischen Erkrankungen im Durchschnitt die gravierendsten kognitiven Beeinträchtigungen. Die kognitiven Defizite bestehen bereits
bei unmedizierten Ersterkrankten, bleiben auch bei erfolgreicher antipsychotischer Medikation weitgehend bestehen und sind ein Kernmerkmal der
Erkrankung. Es gibt kein krankheitsspezifisches Störungsmuster, sondern breitgefächerte Einbußen. Häufig sind die supramodalen
Funktionssysteme der Aufmerksamkeit und der Exekutivfunktionen betroffen, welche die Informationsverarbeitung, das Gedächtnis und das
Denkvermögen in Mitleidenschaft ziehen. Die kognitiven Beeinträchtigungen korrelieren nicht mit der Positivsymptomatik (Halluzinationen,
Wahnsymptome) und nur mäßig mit der Negativsymptomatik. Die kognitiven Defizite bestimmen aber weitgehend das alltägliche Funktionsniveau
im Krankheitsverlauf und damit die Prognose. Bei erfolgreicher und stabiler antipsychotischer Behandlung lässt sich durch eine
neuropsychologische Therapie eine deutliche Verbesserung der kognitiven Funktionen erreichen.
• Alkoholabhängigkeit (ohne amnestisches Syndrom): moderate kognitive Defizite (Exekutivfunktionen, visuell-räumliche Leistungen, nonverbales
Denkvermögen) im Zustand nach Entzugsbehandlung, die nach 3–6 Monaten Abstinenz wieder das Niveau der Altersnorm erreichen.
• Alkoholinduziertes persistierendes amnestisches Syndrom (Korsakow-Syndrom): dauerhafter Ausfall der verbalen und konstruktiv-figuralen
Lern- und Gedächtnisleistungen bei unbeeinträchtigten Aufmerksamkeitsfunktionen und Merkspannen. Zusätzlich sind die Exekutivfunktionen
(Problemlösen, Planen, Arbeitsgedächtnis, Inhibition) beeinträchtigt. Die Patienten sind auf dauerhafte Pflege und Unterstützung angewiesen.
• Alzheimer-Demenz: Beginn i. d. R. mit Störungen des verbalen oder konstruktiv-figuralen Gedächtnisses und räumlichen Orientierungsstörungen.
Im kontinuierlich progredienten Verlauf sind alle kognitiven Domänen betroffen.
• Vaskuläre Demenz: zu Beginn häufig Störungen der Exekutivfunktionen und des psychomotorischen Tempos, wobei das Defizitprofil heterogen ist
und von der ursächlichen Schädigung abhängt; häufig rascher Beginn mit stufenförmigem Abbauprofil.

2.6. Klassifikation psychischer Störungen


Bisher wurde die Diagnostik auf der Symptomebene (psychopathologischer Befund) und der Syndromebene besprochen. Unter einer Klassifikation versteht
man nun die Einordnung klinisch bedeutsamer Phänomene (z.  B. Symptome) in ein nach Klassen eingeteiltes System, das Klassifikationssystem. In diesen
Klassifikationssystemen werden Störungen nach bestimmten Einteilungsprinzipien klassifiziert, zu denen etwa das Erscheinungsbild (z.  B. affektive
Störungen), die Ätiologie (z.  B. organisch bedingte psychische Störungen), der Verlauf der Erkrankung (z.  B. rezidivierende depressive Störung) oder auch
psychosoziale Faktoren (z. B. Schichtzugehörigkeit, Bildungsstand) gehören.

2.6.1. Aktuelle Klassifikationssysteme: ICD-10, ICD-11 und DSM-5®


Für die Klassifikation psychischer Erkrankungen existieren zwei Klassifikationssysteme, die zum Ziel haben, eine internationale Verständigung und
Vereinheitlichung in Diagnostik, Therapie und Erforschung psychischer Erkrankungen zu ermöglichen:

• Die International Statistical Classification of Diseases, Injuries and Causes of Death (ICD) der WHO, Kapitel F, derzeit in der 10. Version: ICD-10.
Diese wird in den nächsten Jahren Schritt für Schritt von der ICD-11 abgelöst werden (➤ und ➤ ). In den Kapiteln zu den einzelnen Störungsbildern
werden im Vorgriff auf dieses neue Klassifikationssystem die neuen Einteilungen der ICD-11 sowie die Krankheitsbilder vorgestellt, die in der
ICD-10 noch nicht beschrieben wurden. Da die ICD-10 auch nach Erscheinen der ICD-11 in der Übergangsphase noch mehrere Jahre Gültigkeit
haben wird (➤ ), liegt der Schwerpunkt aber auf der Darstellung der operationalisierten Diagnosekriterien der ICD-10.
• Das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders der American Psychiatric Association (APA), derzeit in der 5. Fassung von 2013: DSM-
5 ®. Die Einteilung der Störungen nach dem DSM-5® wird bei den meisten Krankheitsbildern zu Beginn dargestellt. Aus Platzgründen und weil
das DSM-5® in Deutschland nicht gültig ist, wird auf genauere Diagnosekriterien aber nur eingegangen, wenn in der ICD-10 keine entsprechenden
Kriterien beschrieben sind.

Merke
Die derzeit weltweit gültigen psychiatrischen Klassifikationssysteme sind die ICD-10 und das DSM-5®. Die ICD-11
befindet sich zurzeit in der abschließenden Phase der Entwicklung und wird in den kommenden Jahren Schritt für
Schritt eingeführt werden.

Kennzeichen der Klassifikationssysteme


Beide Klassifikationssysteme sind durch drei wesentliche Kennzeichen charakterisiert:

1. Operationalisierte Diagnostik: Für jede psychische Erkrankung sind diagnostische Kriterien explizit vorgegeben (Beispiel: die Diagnosekriterien
der depressiven Episode in ➤ ). Zu diesen Kriterien zählen etwa: Beschreibung von Symptomkonstellationen, Schweregradangaben, Mindestdauer,
Ein- und Ausschlusskriterien, Entscheidungs- und Verknüpfungsregeln.
2. Komorbiditätsprinzip: Die Klassifikationssysteme erlauben die gleichzeitige Verschlüsselung mehrerer Diagnosen, was in den alten Systemen
nicht möglich war: Damals hat die „biologischere“ Erkrankung die „psychogenere“ Erkrankung ausgeschlossen. So war z. B. die Vergabe zweier
komorbider Diagnosen (Depression und Persönlichkeitsstörung) anders als heute nicht möglich. Komorbiditäten sind bei psychisch Kranken eher die
Regel als die Ausnahme. Liegen neben einer oder mehreren psychischen Störungen auch noch zusätzliche körperliche Erkrankungen vor, spricht
man von Multimorbidität.
3. Multiaxiale Diagnostik: Ziel ist hier, der Komplexität klinischer Beschwerden eines Patienten im Sinne eines biopsychosozialen Ansatzes
Rechnung zu tragen, indem man den Patienten und seine Störung anhand von klinisch als bedeutsam angesehenen Merkmalen, sog. Dimensionen
oder Achsen, beschreibt. In der ICD-10 werden drei Achsen unterschieden (➤ ). Während das DSM-IV noch fünf Achsen unterschied, hat das DSM-
5® nur noch drei Achsen (➤ ). Besonders wichtig ist, dass die Persönlichkeitsstörungen wie in der ICD-10 jetzt auch auf Achse I codiert werden.
Tab. 2.11 Multiaxialer Ansatz der ICD-10
Achsen Inhalte
I Klinische Diagnosen Psychiatrische Diagnosen (Kapitel F)

Somatische Diagnosen (aus den anderen Kapiteln der ICD-10)

II Soziale Funktionseinschränkungen Disability Assessment Scale der WHO


• Individuelle soziale Kompetenzen
• Berufliche Funktionsfähigkeiten
• Familiäre Funktionsfähigkeiten
• Soziales Verhalten

III Abnorme psychosoziale Situationen • Entwicklung in der Kindheit


• Erziehungsprobleme
• Schwierigkeiten in der sozialen Umgebung
• Besondere berufliche Probleme
• Juristische und andere psychosoziale Schwierigkeiten
• Familienanamnese psychiatrischer Störungen usw.

Tab. 2.12 Multiaxialer Ansatz im DSM-5®


Achsen Inhalte
I Klinische Störungen Psychiatrische Diagnosen

II Wichtige psychosoziale kontextuelle Faktoren z. B. zwischenmenschliche Probleme, Wohn-, Arbeitsprobleme, Trauma, Behinderungen,
Konflikte mit dem Gesetz

III Gesamtbeurteilung des psychosozialen WHO Disability Assessment Schedule (WHODAS)


Gesamtzustands

ICD-10 und ICD-11


Einen Überblick über alle diagnostischen Hauptgruppen des psychiatrischen Teils (Kapitel F) der ICD-10 und die Änderungen in der ICD-11 geben die drei
Tabellen zu Beginn dieses Buches (➤ bzw. ➤ und ➤ ). In der ICD-11 wird es viele Änderungen geben. Dazu gehört u. a., dass die Störungen nicht mehr in
einem, sondern in drei Kapiteln zu finden sind und dass die psychischen und Verhaltensstörungen neu kategorisiert werden. Weitere Details dazu finden sich in
➤ sowie in den Kapiteln zu den einzelnen Störungen.
Die Besonderheit dieses Buches ist, dass es die Neugruppierung der Störungen aufgreift und auch die neu in die ICD-11 aufgenommenen Störungen
beschreibt, aber unverändert die weiterhin gültigen Kriterien der Störungen nach der ICD-10 aufführt. So ist eine gute Balance zwischen gültigem und
zukunftsweisendem Wissen hergestellt.

2.6.2. Erhebungsinstrumente der klassifikatorischen Diagnostik


Diagnosen werden im klinischen Alltag im Anschluss an ein psychiatrisch-psychotherapeutisches Gespräch und ggf. eine erweiterte organische Diagnostik
gestellt. Empirische Untersuchungen haben jedoch gezeigt, dass Validität und Reliabilität solcher klinischen Diagnosestellungen eher gering sind.
Daher wurden Erhebungsinstrumente zur Hilfestellung bei der Diagnosestellung entwickelt, wobei man folgende Arten unterscheidet:

• Checklisten: enthalten i. d. R. nur die für die einzelnen diagnostischen Kategorien relevanten Kriterien; es ist dem Untersucher überlassen, wie er die
Fragen stellt. Beispiele sind:
– ICD-10-Checklisten
– Internationale Diagnosen-Checklisten für Persönlichkeitsstörungen nach ICD-10 (ICDL-P)
• Strukturierte Interviews: Hier sind die Fragen des Untersuchers genau vorgegeben, die Bewertung und Gewichtung der Antworten wird aber mehr
oder weniger dem Untersucher überlassen. Bei einigen Interviews werden hierzu auch Hilfestellungen mitgegeben. Beispiele sind:
– Diagnostisches Interview bei psychischen Störungen (DIPS)
– Strukturiertes Klinisches Interview für DSM-IV (für DSM-5® noch nicht erhältlich), Achse I (SKID-I)
– Strukturiertes Interview für die Diagnose von Demenzen (SIDAM)
– Strukturiertes Interview für anorektische und bulimische Essstörungen
– International Personality Disorder Examination (IPDE)
• Standardisierte Interviews: Hier sind alle Ebenen des diagnostischen Prozesses inkl. der Codierung der Antworten genau festgelegt. Die
Diagnosestellung erfolgt meist computerisiert. Ein Beispiel ist das Composite International Diagnostic Interview (CIDI).

Bei den genannten Untersuchungsinstrumenten muss beachtet werden, dass die reliable Anwendung trainiert werden muss, wobei der Trainingsaufwand bei
den strukturierten Interviews am höchsten ist. Weiterhin ist der Zeitaufwand relativ hoch; so benötigt man z. B. für die Durchführung eines kompletten IPDE
oder SKID-I je nach Patient 60–120 min.
Die notwendige klinische Erfahrung des Untersuchers ist vom Strukturierungsgrad des angewendeten Instruments abhängig: So sollte sie bei den
Checklisten am höchsten sein, während bei den standardisierten Interviews die Anforderungen an die klinische Erfahrung des Untersuchers relativ gering sind.

2.7. Apparative Zusatzverfahren


Im Rahmen der erweiterten psychiatrischen Diagnostik, insbesondere zum Ausschluss organischer Ursachen einer psychopathologischen Symptomatik sowie
zum Therapiemonitoring, kommen apparative Verfahren zur Anwendung. Dazu gehören im Einzelnen:

• Elektrokardiografie (EKG)
• Elektroenzephalografie (EEG)
• Polysomnografie (PSG)
• Labordiagnostik
• Diagnostik mittels bildgebender Verfahren

2.7.1. EKG, EEG und Polysomnografie


Elektrokardiografie (EKG)
Im Rahmen der somatischen Ausschlussdiagnostik gehört das Elektrokardiogramm (EKG) zu den Basisuntersuchungen in der Psychiatrie.
Darüber hinaus ist zu beachten, dass eine Vielzahl von Psychopharmaka unerwünschte kardiale Nebenwirkungen hat, sodass vor Beginn einer
psychopharmakologischen Therapie immer ein EKG abgeleitet werden sollte. Im Verlauf der Therapie müssen Kontrolluntersuchungen durchgeführt werden.
Folgende EKG-Veränderungen sind wichtig:

• Tachykardien: Bei Substanzen, die muscarinerge Acetylcholin- (z. B. Amitriptylin) oder α 1 -adrenerge Rezeptoren (z. B. Risperidon) blockieren oder
die Noradrenalin-Wiederaufnahme hemmen (z. B. Bupropion)
• AV-Blockierungen, z. B. bei trizyklischen Antidepressiva
• Harmlose Endstreckenveränderungen (z. B. T-Wellen-Abflachung unter Lithium)
• QT c -Zeit-Verlängerungen: Bei der frequenzkorrigierten QT-Zeit sind Werte > 440 ms für Männer und > 450 ms für Frauen auffällig, ab > 500 ms
steigt das Risiko für ventrikuläre Arrhythmien (v. a. Torsades-de-pointes-Tachykardien) und plötzlichen Herztod deutlich an, insbesondere wenn
andere kardiale Risikofaktoren bestehen. Eine relative Verlängerung um > 60 ms erhöht das Risiko für Arrhythmien ebenfalls deutlich. Bei vielen
Antipsychotika ist die QT c -Zeit-Verlängerung dosisabhängig.

Merke
Ein besonders hohes Risiko für QT c -Zeit-Verlängerungen besteht bei den Antipsychotika Thioridazin, Pimozid,
Sertindol, Haloperidol (i. v.), Melperon und Ziprasidon sowie bei den Antidepressiva Citalopram und Escitalopram in
höheren Dosierungen. Besondere Vorsicht ist bei Kombinationen von Substanzen geboten, welche die QT-Zeit
verlängern, sowie bei Hypokaliämien, welche die Arrhythmiegefahr erhöhen.

Zusätzlich ist zu beachten, dass einige Psychopharmaka über eine Hemmung der Cytochrom-P450-Isoenzyme der Leber den Abbau bestimmter
internistischer Medikamente hemmen können, sodass verstärkt Nebenwirkungen auftreten können (➤ ).

Elektroenzephalografie (EEG)

Grundlagen
Das Elektroenzephalogramm (EEG), das 1929 von Hans Berger entwickelt wurde, zeichnet an der Oberfläche der Hirnrinde abgeleitete
Potenzialschwankungen auf, die Feldpotenzialänderungen von Nervenzellverbänden der oberflächlichen Schichten der Hirnrinde reflektieren. Die elektrische
Aktivität tiefer gelegener Hirnregionen kann also im Regelfall nicht erfasst werden. Dazu können intrazerebrale Elektroden angebracht werden, wie sie in der
Epileptologie eingesetzt werden. Diese Verfahren spielen in der Psychiatrie, außerhalb von Forschungsprojekten, jedoch keine Rolle.
Die spontan auftretenden EEG-Wellen werden in die folgenden Frequenzbänder eingeteilt: Beta-Wellen (Frequenz 14–30 Hz), Alpha-Wellen (Frequenz 8–
13 Hz), Theta-Wellen (Frequenz 4–7 Hz) und Delta-Wellen (Frequenz 0,5–3 Hz).
Beim gesunden Erwachsenen treten im aktiven Wachzustand bei geschlossenen Augen Alpha-Wellen auf, die beim Öffnen der Augen in Beta-Wellen
übergehen (Alphablockade). Beim Übergang in den Schlafzustand treten dann zunehmend langsamere Wellen vom Theta- und Delta-Typ auf.

Klinik
Für die Beschreibung des EEG sind folgende Kriterien wichtig:

• Amplitude und Frequenz der Wellen


• Verteilung der Rhythmen über den verschiedenen Hirnregionen
• Auftreten abnormer Potenzialschwankungen bzgl. Form, Steilheitsgraden und Polungsrichtungen
• Seitendifferenzen und Herdbefunde

Neben der Ableitung eines Ruhe-EEG können verschiedene Provokationsmethoden eingesetzt werden, die über eine Steigerung des kortikalen
Erregungsniveaus insbesondere der Provokation epileptischer Potenzialschwankungen dienen. Dazu gehören:

• Hyperventilation: forcierte Mehratmung über 3–5 min mit ca. 25 tiefen Atemzügen pro Minute
• Fotostimulation: Applikation hochfrequenter Flimmerreize
• Schlafentzugs-EEG: Ableitung eines EEG nach komplettem Schlafentzug

Bedeutung des EEG in der Psychiatrie


Bis zu 60 % auch der nicht organischen psychischen Störungen zeigen unspezifische EEG-Veränderungen (z. B. intermittierende generalisierte Veränderungen
im Theta- und Deltaband, langsame und steile Wellen, Spike-Wave-Komplexe), die bisher diagnostisch und therapeutisch als nicht relevant angesehen werden.
Folgende EEG-Veränderungen werden jedoch in der Psychiatrie als klinisch bedeutsam interpretiert:

• Für die Psychiatrie sind relevante EEG-Veränderungen bei Epilepsien:


– Alternativpsychose: Einige Epilepsiepatienten, bei denen durch eine effektive antiepileptische Behandlung die Häufigkeit epileptischer
Anfälle reduziert wurde, entwickeln ein psychotisches Zustandsbild, das gleichzeitig mit einer deutlichen Normalisierung des EEG-
Befunds einhergeht. Dies bezeichnet man als forcierte Normalisierung bzw. als Alternativpsychose.
– Epilepsieassoziierte paranoid-halluzinatorische Psychosen: z. B. iktale Psychosen bei komplex-partiellen Anfällen in
frontolimbischen Arealen, postiktale Psychosen mit starker affektiver Erregung nach einem Anfall bei chronischen therapierefraktären
Epilepsien oder interiktale Psychosen (meist ohne starke affektive Erregung) ebenfalls bei chronischen therapierefraktären Epilepsien.
– Epileptischer Anfall im Rahmen eines Alkohol- oder Benzodiazepin-Entzugs (➤ bzw. ➤ )
• EEG-Veränderungen bei organischen Hirnerkrankungen: Einige weitere Hirnerkrankungen zeigen charakteristische EEG-Auffälligkeiten. Zu
nennen sind:
– Creutzfeldt-Jakob-Krankheit: Diese Prionenerkrankung geht mit einer zunehmenden Frequenzverlangsamung des EEG einher, die in
der Folge zu einer desorganisierten Delta-Aktivität mit charakteristischen repetitiven triphasischen Wellen führt (➤ ).
– Enzephalitiden: Diese entzündlichen Hirnerkrankungen zeigen entsprechend dem Hirnbefall Grundrhythmusverlangsamungen über
den betroffenen Hirnregionen. Charakteristisch sind langsame Wellen über der Temporallappenregion, z. B. bei der Herpes-
Enzephalitis.
• EEG unter Therapie mit Psychopharmaka: Praktisch alle Psychopharmaka können auch in therapeutischen Dosen zu Veränderungen des EEG
führen, wobei diese von den Eigenschaften der Substanz, der Höhe und Dauer der Dosierung, dem Verlauf der Grunderkrankung und dem
Ausgangs-EEG abhängig sind. Wenn möglich, sollte vor Beginn jeder Pharmakotherapie ein EEG abgeleitet werden. Besonders zu empfehlen ist
ein EEG vor und im Verlauf der Therapie mit Clozapin. Folgende Änderungen im EEG unter Psychopharmakotherapie sind zu erwarten:
– Grundrhythmusverlangsamung und Amplitudenanstieg des Alpha-Rhythmus: bei verschiedenen Antidepressiva und
Antipsychotika
– Induktion epileptischer Aktivität: viele Antidepressiva und Antipsychotika, v. a. Clozapin. Hierbei ist zu beachten, dass aus dem
Auftreten paroxysmaler epileptischer EEG-Aktivität nicht sicher auf die Gefahr eines Auftretens epileptischer Anfälle geschlossen
werden kann.
– Vermehrte Beta-Aktivität: insbesondere unter Gabe von Benzodiazepinen zu beobachten.
Merke
Das EEG wird zur Diagnostik von Epilepsien und organischen Hirnerkrankungen eingesetzt. Auch im Verlauf einer
Psychopharmakotherapie kommt es zur Erfassung von möglichen Änderungen der Hirnstromaktivität zur Anwendung.

Polysomnografie
Die Polysomnografie (PSG) wird zur Diagnostik von Schlafstörungen (➤ ) eingesetzt. Dabei werden während des Schlafs gleichzeitig das EEG, das
Elektrookulogramm (EOG) und das Elektromyogramm (EMG) der Kinnregion oder ggf. der Beine aufgezeichnet. Anhand charakteristischer Veränderungen
im EEG, EOG und EMG werden verschiedene Schlafstadien unterschieden (➤ ).

Tab. 2.13 Polysomnografische Charakteristika im EEG, EOG und EMG


EEG EOG EMG
Wach Alpha-Aktivität Lidschläge hoher Tonus

Non-REM 1 Theta-Aktivität; Vertexzacken langsame Augenbewegungen Abnahme des Muskeltonus

Non-REM 2 Theta-Aktivität; K-Komplexe, Schlafspindeln keine Augenbewegungen Abnahme des Muskeltonus

Non-REM 3 hohe Delta-Wellen keine Augenbewegungen Abnahme des Muskeltonus

Non-REM 4 hohe Delta-Wellen keine Augenbewegungen Abnahme des Muskeltonus

REM Theta-Aktivität; Sägezahnwellen konjugierte, schnelle Augenbewegungen niedriger Tonus

Dabei dient das EOG insbesondere zur Identifizierung des REM-Schlafs, der durch schnelle konjugierte Augenbewegungen gekennzeichnet ist. Darüber
hinaus können mithilfe des EOG auch Lidschläge im Wachzustand und langsam rollende Augenbewegungen im leichten Non-REM-Schlaf (Stadium 1)
aufgezeichnet werden. Mit dem EMG werden phasische Muskelaktivitäten im REM-Schlaf erfasst. Daneben lassen sich auch periodische nächtliche
Beinbewegungen mit Spezialableitungen erfassen.
Weitere spezialisierte Diagnoseverfahren sind die Messung nächtlicher Erektionen beim Mann und die Registrierung bestimmter atmungsphysiologischer
Parameter.

2.7.2. Labordiagnostik
Neben der ausführlichen Erhebung der körperlichen und der Medikamentenanamnese sowie der körperlichen Untersuchung gehört die Labordiagnostik,
bestehend aus Blut-, Harn- und ggf. Liquoruntersuchung, zu den zentralen Bausteinen der psychiatrischen Ausschluss- und Zusatzdiagnostik.

Klinik
Eine gründliche Anamneseerhebung kann eine den Patienten belastende und unnötige Kosten verursachende ungezielte Diagnostik in vielen Fällen
vermeiden. Fragen Sie daher immer genau nach organischen Vorerkrankungen, körperlichen Beschwerden, der Sexual-, Medikamenten- und
Drogenanamnese sowie nach Auslandsaufenthalten. Eine genaue internistisch-neurologische Untersuchung ermöglicht eine fokussierte weiterführende
Diagnostik.

Routinelabor
Folgende Basisparameter sollten bei jedem Patienten bestimmt werden:

• Blutkörperchensenkungsgeschwindigkeit (BSG) und / oder C-reaktives Protein (CRP)


• Blutbild inkl. Differenzialblutbild
• Elektrolyte (v. a. Na, K, Ca)
• Kreatinin
• GOT, GPT und γ-GT
• Blutzucker
• Schilddrüsenparameter (TSH als Screeningparameter i. d. R. ausreichend)
• Urinstatus

Neben der Ausschlussdiagnostik körperlicher Erkrankungen dienen diese Parameter auch als Ausgangswert für Verlaufskontrollen unter medikamentöser
Therapie (Beispiel: Hyponatriämie unter SSRI- oder Carbamazepin-Therapie, ➤ ; Neutropenie / Agranulozytose unter Clozapin-Gabe, ➤ ).
Vor und während der Behandlung mit klassischen Antipsychotika sollte auch die Kreatinphosphokinase (CK) bestimmt werden; bei Antipsychotika, die mit
Gewichtszunahme und diabetischer Stoffwechsellage einhergehen können, sollten Blutzuckerwerte, Blutfette und HbA 1 C kontrolliert werden (➤ ); bei
Antipsychotika mit starker Bindung an D 2 -Rezeptoren ggf. Prolaktin.
Bei Patientinnen im gebärfähigen Alter, insbesondere bei nicht erfolgter Kontrazeption, sollte vor medikamentöser Therapie ein Schwangerschaftstest
durchgeführt und eine sichere Kontrazeption initiiert werden, um teratogene Auswirkungen von Psychopharmaka im 1. Trimenon zu verhindern (v.  a. bei
Valproinsäure und Carbamazepin!).
Weitere laborchemische Untersuchungen müssen entsprechend den Ergebnissen aus der körperlichen Anamnese und Befunderhebung erfolgen.

Klinik
Zu den wichtigsten Laborveränderungen unter einer Therapie mit Psychopharmaka gehören Transaminasenanstiege (viele Substanzen), Leukopenien und
Agranulozytosen (v.  a. Clozapin, Carbamazepin), Hyponatriämien (z.  B. Carbamazepin und SSRIs), Nierenfunktionsstörungen und Hypothyreose
(Lithium), Hyperglykämien und Hyperlipidämien (v. a. Antipsychotika der 2. Generation wie z. B. Olanzapin).

Drogenscreening
Viele psychische Störungen können durch die Einnahme von Drogen hervorgerufen werden. Daher ist der differenzialdiagnostische Ausschluss einer
drogeninduzierten Störung, insbesondere bei akuten Erregungszuständen und psychotischen Zustandsbildern, wichtig. Mit den gängigen
Drogenscreeningverfahren können im Ausgangsmaterial (Blut oder Urin) meist die folgenden Substanzen bestimmt werden:

• Amphetamine
• Barbiturate
• Benzodiazepine
• Cannabis
• Halluzinogene
• Kokain
• LSD
• Opioide

Klinik
Meist werden zum Drogennachweis Schnellnachweisverfahren verwendet, die nicht nur teuer sind, sondern auch oft eine zu geringe Sensitivität oder
Spezifität aufweisen. So werden etwa bestimmte Benzodiazepine nicht erfasst, oder es kommt aufgrund von Kreuzreaktionen zu falsch positiven Befunden.
Im Regelfall kann bei Anwendung dieser Tests also ein positives Drogenscreening nicht als Beweis für einen Suchtmittelgebrauch dienen. Hierzu sind
explizite Stoffnachweise erforderlich, wie sie z. B. in der Rechtsmedizin durchgeführt werden.

Liquordiagnostik
Eine Liquordiagnostik sollte dann durchgeführt werden, wenn die Anamnese bzw. internistisch-neurologische Untersuchung und apparative Zusatzdiagnostik
den Verdacht auf einen entzündlichen ZNS-Prozess ergibt. Nach Ausschluss eines erhöhten Liquordrucks (Bildgebung oder Augenhintergrundspiegelung) und
Ausschluss einer Gerinnungsstörung (Kontraindikation bei mit Gerinnungshemmern behandelten Patienten!) werden folgende Parameter bestimmt:

• Farbe und Klarheit des Liquors


• Leukozytenzahl
• Zelldifferenzierung
• Glukose- und Proteinkonzentration
• Liquor / Serum-Quotient für Albumin als Hinweis auf eine Störung der Blut-Hirn-Schranke

Bei pathologischer Veränderung dieser Basisparameter können evtl. weitere Untersuchungen wie z. B. eine quantitative Bestimmung von Immunglobulinen,
der Nachweis oligoklonaler Banden und von Autoantikörpern sowie Antikörpernachweise bestimmter Erreger (z. B. Herpesviren) erfolgen.

2.7.3. Bildgebende Verfahren


Bei den bildgebenden Verfahren unterscheidet man strukturelle und funktionelle Verfahren.
Zu den strukturellen Verfahren gehören:

• die Computertomografie (CT)


• die Kernspin- oder Magnetresonanztomografie (MRT)

Zu den funktionellen Verfahren gehören:

• die Single Photon Emission Computed Tomography (SPECT)


• die Positronenemissionstomografie (PET)
• die in der Forschung eingesetzte funktionelle MRT (fMRT)

Strukturelle Verfahren (CT und MRT)


Bei jeder Erstmanifestation einer psychischen Erkrankung sollte zur Ausschlussdiagnostik und bei jedem klinischen Verdacht auf das Vorliegen einer
organischen psychischen Störung ein strukturelles bildgebendes Verfahren durchgeführt werden (➤ ).
Abb. 2.2 Magnetresonanztomografie (MRT) des Gehirns: Markierung wichtiger anatomischer Strukturen [M515]

Als Standardverfahren wird häufig eine Computertomografie (CT) des Schädels durchgeführt, mit deren Hilfe insbesondere Tumoren, Blutungen, ältere
Hirninfarkte, Abszesse, Fehlbildungen, Atrophien und Knochenanomalien nachweisbar sind. ➤ zeigt ein im CT nachgewiesenes Falxmeningeom.
Abb. 2.3 CT eines Falxmeningeoms: Man erkennt nur das massive Hirnödem als hypodense Zone in der rechten Großhirnhemisphäre und die
Verdrängung der Mittellinie [M825].

Durch die überlegene Kontrastdiskriminierung verschiedener Gewebe erlaubt die Kernspin- oder Magnetresonanztomografie (MRT) eine sensitivere
Darstellung der zerebralen Strukturen, sodass die MRT zunehmend das CT in der Ausschlussdiagnostik psychischer Störungen verdrängt. Insbesondere feinste
zerebrovaskuläre Läsionen, entzündliche Erkrankungen und demyelinisierende Prozesse sowie kleine Metastasen und Neurinome können sensitiver mittels
MRT erfasst werden. Da knochenbedingte Artefakte nicht auftreten, ist die MRT insbesondere an der Schädelbasis und der hinteren Schädelgrube dem CT
überlegen. Die Auflösung liegt bei wenigen Millimetern im Vergleich zu nahezu 1 cm bei der CT. ➤ zeigt ein Falxmeningeom in einer MRT-Aufnahme.
Abb. 2.4 MRT (axiale Schichtführung) eines Falxmeningeoms: Der Tumor ist nur andeutungsweise erkennbar; deutlich hyperintens (weiß)
stellt sich das Hirnödem dar, das den Tumor umgibt. [M825]

Das Tragen eines Herzschrittmachers stellt eine Kontraindikation dar, metallische Fremdkörper je nach Lage eine relative Kontraindikation.
In ➤ sind die jeweiligen Vorteile von CT und MRT gegenübergestellt.

Tab. 2.14 Vorteile von CT und MRT


Vorteile CT Vorteile MRT
• Niedrigere Kosten • Höhere Sensitivität
• Schneller durchzuführen • Funktionelle Diagnostik möglich (z. B. Liquorflussmessungen)
• Metall keine Kontraindikation • Keine Strahlenbelastung
• Notfalldiagnostik einfacher • Wahl verschiedener Schichtrichtungen möglich
• Durchführung auch bei sehr adipösen und begrenzt kooperativen Patienten durch • Bessere Darstellung von basalen Hirnregionen, Hirnstamm und
kurze Dauer Temporallappen
• Nachweis von Verkalkungen und Knochenveränderungen

Mithilfe der Magnetresonanzspektroskopie (MRS) ist eine nichtinvasive Quantifizierung von Stoffwechselprodukten im ZNS möglich, sodass
Rückschlüsse auf neurochemische Stoffwechselprozesse in verschiedenen Hirnregionen möglich sind. Die MRS, die bisher praktisch nur im Rahmen von
Forschungsprojekten zum Einsatz kommt, stellt somit ein Bindeglied zwischen den strukturellen und funktionellen Verfahren dar. Häufigster gemessener
Parameter ist das N-Acetyl-Aspartat (NAA), dessen Erniedrigung auf eine neuronale Funktionsstörung hinweist.

Funktionelle Verfahren (SPECT, PET und fMRT)


Die funktionellen Verfahren dienen dem Nachweis physiologischer und pathophysiologischer Stoffwechselprozesse im Gehirn.

Single Photon Emission Computed Tomography (SPECT)


Die SPECT wurde erstmals 1963 beschrieben, also 10 Jahre vor der Einführung der CT. Dabei handelt es sich um ein szintigrafisches Verfahren, bei dem
radioaktiv markierte Substanzen intravenös appliziert werden. Dabei kommen Gammastrahler wie z.  B. 9 9 m Technetium oder 1 2 3 Jod zum Einsatz. Diese
Gammastrahler werden dann an spezielle Trägersubstanzen gekoppelt, deren Gewebeverteilung bzw. Bindung an Rezeptoren mittels einer Gammakamera
gemessen werden kann. Die Untersuchungsdauer liegt bei 20–60 min. Als Radiopharmaka werden z. B. eingesetzt:

• 99m Technetium-HMPAO zur zerebralen Blutflussmessung


• 123 Jod-IBZN zur Darstellung zerebraler Dopamin-Rezeptoren
• 123 Jod-Jomazenil zur Darstellung von Benzodiazepin-Rezeptoren

Zwar sind die räumliche und die zeitliche Bildauflösung schlechter als bei der PET, bei der SPECT sind jedoch die Halbwertszeiten der verwendeten
Substanzen länger, sodass kein Zyklotron am Untersuchungsort zur Verfügung stehen muss.

Positronenemissionstomografie (PET)
Bei der PET werden Gammaquanten aufgezeichnet, die durch den Zerfall von Positronenstrahlern emittiert werden (➤ ). Bei sehr kurzlebigen Nukliden wie 15
O muss ein Zyklotron am Untersuchungsort verfügbar sein. Folgende Positronenstrahler kommen in der neurowissenschaftlichen PET vornehmlich zur
Anwendung:

• 15 Sauerstoffmarkiertes Wasser zur Messung der Hirndurchblutung: [H 2 15 O]-PET


• 18 Fluordesoxyglukose zur Quantifizierung des Energiestoffwechsels: [ 18 FDG]-PET
• 18 Fluordopa zur Darstellung der dopaminergen Neurotransmission: [ 18 F-DOPA]-PET
• [ 11 C-PIB]-PET zum Nachweis von β-Amyloid-Ablagerungen bei Demenzen

Abb. 2.5 Positronenemissionstomografie (PET) des Gehirns: leichte parietotemporale (↗) Minderbelegung ( 18 F-Desoxyglukose-PET) bei
beginnender Alzheimer-Demenz (MMS 24 Punkte). [P553]

Die PET wird klinisch am häufigsten zur erweiterten Diagnostik bei Demenzen eingesetzt, bei der sich charakteristisch verteilte Minderutilisationen von
Glukose im [ 18 FDG]-PET zeigen (➤ ).

Literatur
Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Dokumentation in der Psychiatrie (AMDP) (Hrsg.) (2016). Das AMDP-System. Manual zur Dokumentation psychiatrischer
Befunde. 9. A. Göttingen: Hogrefe.
Falkai P, Wittchen HU (2015). Diagnostisches und Statistisches Manual psychischer Störungen, DSM-5. Göttingen: Hogrefe.
Reed GM, First MB, Kogan CS, Hyman SE, Gureje O, Gaebel W, et al. (2019). Innovations and changes in the ICD-11 classification of mental, behavioural and
neurodevelopmental disorders. World Psychiatry 18: 3–19.
Scharfetter C (2010). Allgemeine Psychopathologie. 6. A. Stuttgart: Thieme.
Stieglitz R-D, Freyberger HJ (2019). Psychiatrische Diagnostik und Klassifikation. In: Berger M (Hrsg.). Psychische Erkrankungen. Klinik und Therapie. 6. A. München:
Elsevier Urban & Fischer, S. 35–52.
Weltgesundheitsorganisation (WHO) (2011). Internationale Klassifikation psychischer Störungen ICD-10 (Forschungskriterien). 5. A. Bern: Huber.
Weltgesundheitsorganisation (WHO) (2018). ICD-11, vorläufige Version (letzter Zugriff: 5.2.2019).
211,42,200,136,89,65,217,215,112,21,240,119:1U+kuk+KTz3c18UedDiTrcR2tRPx0cYhxkr2IzFo1LH/X5OABicMLqd8p0NbDOo/eJ16/6/X6ymFhZnUQeIjBlsslSxiGrN2PjZmg1MPv7v56FOV0OiziTuMtYH91RsXUrsAv7sZCOn
KAPITEL 3

Therapie psychischer Erkrankungen


Klaus Lieb

Gitta Jacob

Annette Brückner

Sabine Frauenknecht

3.1. Einführung
Klaus Lieb

Entsprechend der Bedeutung biologischer, psychischer und sozialer Faktoren in der Pathogenese psychischer Erkrankungen darf auch deren Behandlung nicht
eindimensional ausgerichtet sein, sondern sollte immer die Möglichkeiten multimodaler Therapieansätze ausschöpfen.
Interessanterweise haben sich in den letzten Jahren bei Erkrankungen, die früher als rein „psychogen“ angesehen wurden und damit als Domäne der
psychotherapeutischen Behandlung galten, auch pharmakologische Therapieverfahren als wirksam erwiesen. So sprechen z. B. Angststörungen nicht nur gut
auf eine kognitive Verhaltenstherapie, sondern auch auf eine Behandlung mit serotonerg wirksamen Antidepressiva an. Auf der anderen Seite haben
psychotherapeutische Verfahren in der Behandlung von Störungen, deren Ursache ursprünglich als klassischerweise biologisch angesehen wurde und die als
Domäne der Pharmakotherapie galten, zunehmend an Bedeutung gewonnen. So ist z.  B. eine psychotherapeutische Behandlung schizophrener Patienten bei
chronisch-produktiver Symptomatik oder in der Rückfallprophylaxe nicht mehr wegzudenken. Ähnliches kann auch für psychosoziale Therapien gesagt
werden, die in allen Behandlungsphasen einen großen Stellenwert haben.
In den folgenden Kapiteln sollen nun die Grundlagen folgender therapeutischer Interventionen besprochen werden:

• Psychopharmakotherapie (➤ )
• Nichtpharmakologische biologische Verfahren (➤ )
• Psychotherapeutische Verfahren und Methoden (➤ )
• Psychosoziale Therapien und Rehabilitation (➤ )
• Psychoedukation (➤ )

In der Darstellung der einzelnen psychischen Störungen und ihrer Behandlung in den weiteren Kapiteln wird immer wieder auf diese Grundlagen Bezug
genommen, dann werden aber die eher spezifischen Behandlungsaspekte der Erkrankungen besprochen. Dass diese Abtrennung des Therapiekapitels sinnvoll
ist, wird z.  B. daran deutlich, dass Antidepressiva nicht nur bei Depressionen und Antipsychotika nicht nur bei Schizophrenien, sondern bei vielen anderen
psychischen Störungen eingesetzt werden. Damit wäre eine Abhandlung der entsprechenden Substanzen nur im jeweiligen Kapitel wenig zweckmäßig.

3.2. Psychopharmakotherapie
Klaus Lieb

Definition
Als Psychopharmaka bezeichnet man Substanzen, die einen psychotropen Effekt auf das zentrale Nervensystem (ZNS) haben und die zur Behandlung
psychischer Erkrankungen eingesetzt werden.
In diesem Kapitel werden folgende Gruppen von Psychopharmaka genauer behandelt:

• Antidepressiva
• Stimmungsstabilisierer („Phasenprophylaktika“)
• Antipsychotika (früher: Neuroleptika)
• Anxiolytika und Hypnotika
• Antidementiva
• Psychopharmaka in der Behandlung von Abhängigkeitserkrankungen
• Psychostimulanzien
• Medikamente zur Behandlung von sexuellen Störungen

Darüber hinaus werden einige besondere Aspekte der Psychopharmakotherapie im Alter, während Schwangerschaft und Stillzeit sowie bzgl. des Führens
von Kraftfahrzeugen besprochen.
Psychopharmaka gehören zu den am häufigsten verordneten Medikamenten überhaupt. Nach den Angiotensin-Hemmstoffen liegen sie mit 47,3 Mio.
Verordnungen im Jahr 2016 an zweiter Stelle der am häufigsten verordneten Arzneimittelgruppen in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Nach den
Immunsuppressiva, Antidiabetika, antithrombotischen und antiviralen Mitteln liegen sie 2016 mit einem Jahresumsatz von 1,72 Mrd. EUR an 5. Stelle der
umsatzstärksten Arzneimittelgruppen.
➤ gibt eine Übersicht über die Verordnungen der wichtigsten Psychopharmakagruppen zu Lasten der GKVen in Deutschland im Jahr 2016. Antidepressiva
werden am häufigsten verordnet. Ihre Verordnung hat zwischen 2004 und 2016 von 643 auf 1.467 Mio. definierte Tagesdosen (DDD) deutlich zugenommen.
Demgegenüber ist die Verordnung von „Tranquillanzien“ (v. a. Benzodiazepine) seit 10 Jahren kontinuierlich rückläufig (2004: 154 Mio. DDD, 2016: 94 Mio.
DDD) und die der Antipsychotika schwächer, aber auch kontinuierlich angestiegen (2004: 234 Mio. DDD, 2016: 339 Mio. DDD).
Abb. 3.1 Verordnungen von Psychopharmaka 2016 in der gesetzlichen Krankenversicherung (Schwabe et al. 2016). Gesamtverordnungen
nach definierten Tagesdosen (DDD) für die wichtigsten Psychopharmakagruppen [L141]

Im Folgenden werden die Grundlagen der Psychopharmakotherapie detailliert und kritisch dargestellt, um das ärztliche Verordnungsverhalten nach
evidenzbasierten und rationalen Kriterien ausrichten zu können (s. a. ➤ zu Interessenkonflikten bei der Verordnung von Psychopharmaka).

3.2.1. Antidepressiva: Grundlagen


Definition
Antidepressiva sind Psychopharmaka, die stimmungsaufhellend und mit verschiedener Schwerpunktbildung antriebssteigernd oder psychomotorisch dämpfend
wirken. Toleranzentwicklung und Abhängigkeit sind nicht zu befürchten.

Indikationen
Antidepressiva werden nicht nur zur Behandlung depressiver Störungen, sondern auch bei einer Vielzahl anderer psychischer Störungen eingesetzt. Dazu
gehören z. B.:

• Angsterkrankungen (v. a. SSRIs und MAO-Hemmer)


• Zwangs- und Zwangsspektrumsstörungen (v. a. SSRIs)
• Schlafstörungen (v. a. Mirtazapin, Trazodon, sedierende TZA und Trimipramin)
• Entzugssyndrome (v. a. Doxepin)
• Chronische Schmerzzustände (v. a. Amitriptylin, Duloxetin)

Klassifikation
Die erste antidepressiv wirksame Substanz war das von dem Schweizer Psychiater Kuhn 1957 per Zufall entdeckte trizyklische Antidepressivum (TZA)
Imipramin. Etwa zur gleichen Zeit wurden auch antidepressive Eigenschaften des in der Tuberkulosebehandlung eingesetzten MAO-Hemmers Iproniazid
beschrieben. Auf der Basis dieser Substanzen wurden in der Folgezeit weitere tri- und tetrazyklische Antidepressiva und MAO-Hemmer entwickelt.
Basierend auf der Annahme, dass dem Wirkmechanismus der TZA eine Hemmung der präsynaptischen Wiederaufnahme von Serotonin zugrunde liegt,
wurden in den 1980er-Jahren die selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRIs) entwickelt, die selektiv die Serotonin-Wiederaufnahme hemmen und
häufig besser verträglich, aber nicht besser wirksam sind als die TZA, die über eine Bindung an verschiedene weitere Rezeptoren eine Vielzahl von
Nebenwirkungen entfalten. Später folgten dann weitere Entwicklungen wie die dualen Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer, die α 2 -
Antagonisten, die selektiven Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer sowie die selektiven Noradrenalin- und Dopamin-Wiederaufnahmehemmer (➤ ) . Die
neuesten Antidepressiva sind Vortioxetin, das im Jahr 2015 eingeführt wurde, sowie das seit 1997 in Frankreich auf dem Markt erhältliche Milnacipran, das
2016 auch in Deutschland eingeführt wurde.

Abb. 3.2 Zeitverlauf der Markteinführung von Antidepressivaklassen [G791 / L141]

Dass seit der Einführung der TZA und MAO-Hemmer wirklich neue Antidepressiva entwickelt wurden, ist vielfach infrage gestellt worden. Im Wesentlichen
handelt es sich bei allen späteren Substanzen um Abwandlungen der Prinzipien, die bereits in einer der ersten Substanzen, nämlich Amitriptylin, verwirklicht
waren: Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmung sowie Blockade postsynaptischer 5-HT 2 -Rezeptoren. Auch das Prinzip der α 2 -Rezeptor-
Blockade, das in dem 1996 eingeführten NaSSA Mirtazapin verwirklicht ist, fand sich schon im viel früher eingeführten Mianserin. Insofern kann man die
neueren Substanzen allenfalls als Schritt- oder Scheininnovationen (mit dem Vorteil geringerer oder unterschiedlicher Nebenwirkungen bei gleicher oder
schlechterer Wirksamkeit) bezeichnen und muss konstatieren, dass sich die Antidepressivaentwicklung in einer Innovationskrise befindet.
Hinsichtlich der eher sedierenden oder eher aktivierenden Wirkung der tri- und tetrazyklischen Antidepressiva nahm Kielholz folgende Einteilung nach
der Wirkqualität vor, die als Klassifikationskriterium weiterhin im klinischen Gebrauch ist. In dieses Klassifikationsschema (Kielholz-Schema) können auch
die neueren Antidepressiva eingeordnet werden:

• eher sedierende Antidepressiva vom Amitriptylin-Typ: Beispielsubstanzen sind Amitriptylin, Doxepin, Trimipramin, Mianserin, Mirtazapin,
Agomelatin;
• Antidepressiva vom Imipramin-Typ: Diese Substanzen nehmen eine Mittelstellung ein. Beispiel: Imipramin;
• eher antriebssteigernde Antidepressiva vom Desipramin-Typ: Beispielsubstanzen: Desipramin, Nortriptylin, alle SSRIs, Venlafaxin, MAO-
Hemmer.

Merke
Die tri- und tetrazyklischen Antidepressiva werden nach Kielholz wie folgt eingeteilt: eher sedierende Antidepressiva
vom Amitriptylin-Typ und eher antriebssteigernde Antidepressiva vom Desipramin-Typ. Die Antidepressiva vom
Imipramin-Typ nehmen eine Mittelstellung ein.

Kasuistik
Auswahl des Antidepressivums nach der Zielsymptomatik
Fall 1
Ein 58-jähriger Patient stellt sich mit einem ängstlich-agitierten depressiven Syndrom bei einem niedergelassenen Psychiater vor. Nach Ausschluss
organischer Ursachen und Diagnosesicherung einer ersten schweren depressiven Episode beginnt der Arzt eine Behandlung mit dem sedierenden
Antidepressivum Mirtazapin. Da sich die Symptomatik nach 3-wöchiger Behandlung jedoch nicht bessert, kombiniert er die Substanz mit dem SSRI
Escitalopram, worunter es innerhalb von 4 Wochen zu einer kompletten Remission der Depression kommt.
Fall 2
Eine 39-jährige Patientin leidet seit 3 Monaten an einem antriebsarmen depressiven Syndrom, das bisher unter Agomelatin erfolglos therapiert wurde.
Wegen der im Vordergrund stehenden Antriebsarmut wird auf eine Therapie mit dem antriebssteigernd wirkenden SSRI Sertralin umgestellt. Infolge der
Umstellung treten eine leichte Unruhe und Übelkeit auf, die sich innerhalb von 10 Tagen zurückbilden. Innerhalb von 2 Wochen kommt es zu einer
Antriebssteigerung und nach 3 Wochen zu einer deutlichen Stimmungsaufhellung. Die Vollremission des depressiven Syndroms tritt nach 6 Wochen ein.

Generelle Wirksamkeit von Antidepressiva


Die Wirksamkeit von Antidepressiva wurde in einer Vielzahl von randomisierten, placebokontrollierten Studien untersucht. Dabei ergab sich, dass alle auf dem
Markt befindlichen Antidepressiva (mit Ausnahme von Reboxetin) gegenüber Placebo in der Behandlung von Depressionen überlegen sind. Dieser Unterschied
zeigt sich statistisch aber nur bei schwerer ausgeprägten Depressionen, sodass man Antidepressiva bei leichten Depressionen heute nur noch sehr zurückhaltend
einsetzen sollte (➤ ).
Grund dafür, dass das Antidepressivum Reboxetin einer Placebobehandlung nicht überlegen ist, war die Nichtveröffentlichung negativer Studien durch den
Hersteller, sodass erst bei Analyse aller durchgeführten Studien nachgewiesen werden konnte, dass Reboxetin in der Gesamtschau der Studien Placebo nicht
überlegen ist. Reboxetin ist damit seitens der Krankenkassen nicht mehr erstattungsfähig. Auch wenn alle anderen Antidepressiva einer Placebobehandlung
überlegen sind, so ist die in Studien nachgewiesene Überlegenheit doch eher gering (ca. 4 Punkte auf der HAMD-Skala). Mit anderen Worten: Mindestens 60–
75  % der Wirkung sind auf Placeboeffekte zurückzuführen. Die Effektstärken (➤ ) von Antidepressiva bei der Behandlung depressiver Störungen liegen
dementsprechend mit durchschnittlich 0,3 (Spannbreite 0,23–0,48, für die Einzelsubstanzen ➤ ) im kleinen bis mittleren Bereich (➤ ).
Die Ansprechraten auf Antidepressiva in der Behandlung depressiver Störungen liegen bei einer 3- bis 6-wöchigen Therapiedauer i. Allg. bei ca. 60 bis max.
70 %. Neuere Studien haben allerdings gezeigt, dass bei Patienten, die nach 2 Wochen Therapie eine Symptomverbesserung von weniger als 20 % zeigen, die
Wahrscheinlichkeit eines Ansprechens nach 6 Wochen sehr gering ist. Daher wird gegenwärtig diskutiert, die Medikamente bei Ausbleiben eines Ansprechens
bereits nach 2 Wochen (und nicht erst nach 3–4 Wochen) umzusetzen.

Vergleichende Wirksamkeit von Antidepressiva


Trotz der unterschiedlichen Wirkmechanismen auf synaptischer Ebene unterscheiden sich die verschiedenen Antidepressiva in ihrer klinischen Wirksamkeit
unterm Strich nur relativ wenig voneinander. Zur unterschiedlichen Wirksamkeit kann man folgende Aussagen treffen (➤ und ➤ ):

• Tri- und tetrazyklische Antidepressiva und SSRIs wirken in der Behandlung depressiver Erkrankungen vergleichbar gut, wobei Amitriptylin
(wahrscheinlich infolge seines dreifachen Wirkprinzips) in der Behandlung schwerer Depressionen den SSRIs leicht überlegen ist (➤ Abb. 1.6).
• Das Antidepressivum Venlafaxin ist einer SSRI-Behandlung überlegen: Im direkten Vergleich mit SSRIs führt es zu einer höheren Zahl von
Therapieansprechern (wahrscheinlich aufgrund seines dualen Wirkmechanismus).
• Die neueren Antidepressiva sind oft besser verträglich – in Metaanalysen sind die Abbruchraten signifikant niedriger als die der klassischen
Antidepressiva.
• Unter Abwägung von Wirksamkeit und Nebenwirkungsprofil der entsprechenden Antidepressiva ergeben sich Therapieempfehlungen für den
sequenziellen Einsatz von Antidepressiva, die in ➤ dargestellt sind.

Wirkmechanismen
Seit der Entdeckung der antidepressiven Effekte von Imipramin wurden die neurobiologischen Wirkmechanismen von Antidepressiva intensiv untersucht, ohne
dass bis heute genau verstanden ist, was den antidepressiven Effekt ausmacht. ➤ gibt eine Übersicht über die Ebenen, auf denen Antidepressiva ihre Wirkung
entfalten.

Abb. 3.3 Wirkmechanismen von Antidepressiva auf verschiedenen Ebenen (Übersichtsschema) [M516 / L141]

Wirkung auf Enzym- bzw. Transporterebene


Von besonderer Bedeutung für das Verständnis der Wirkmechanismen von Antidepressiva war die Beobachtung, dass das Antihypertensivum Reserpin bei 10–
20  % der behandelten Patienten zu depressiven Syndromen führte. Da Reserpin zu einer Entleerung noradrenerger Speicher führt, konzentrierten sich die
Überlegungen zum Wirkmechanismus von Antidepressiva in der Anfangsphase auf die Bedeutung der monoaminergen Synapsen (v.  a. serotonerge und
noradrenerge) im ZNS.
Auf Basis dieser Beobachtungen zum Reserpin wurde in den 1960er-Jahren die Monoaminmangel-Hypothese der Depression aufgestellt. Demnach wurde
angenommen, dass depressiven Syndromen ein Mangel an Serotonin und / oder Noradrenalin zugrunde liegt. Der Wirkmechanismus von Antidepressiva wurde
im Gegenzug darauf zurückgeführt, dass Antidepressiva i. d. R. präsynaptische Wiederaufnahmehemmer von Serotonin und / oder Noradrenalin bzw. Hemmer
des Enzyms Monoaminoxidase (MAO) sind, wodurch der Abbau von Noradrenalin und Serotonin inhibiert wird (➤ ).

Abb. 3.4 Wirkmechanismen von Antidepressiva auf Enzym- bzw. Transporterebene MAO = Monoaminoxidase; NA = Noradrenalin; NA-T =
Noradrenalin-Transporter; SNRIs = selektive Noradrenalin-Reuptake-Inhibitoren; SSNRIs = selektive Serotonin- und Noradrenalin-Reuptake-
Inhibitoren; SSRIs = selektive Serotonin-Reuptake-Inhibitoren; TZA = trizyklisches Antidepressivum; 5-HT = Serotonin; 5-HTT = Serotonin-
Transporter [M516 / L141]

Wie in ➤ dargestellt, wirken viele Antidepressiva in der Tat als Hemmer der präsynaptischen Wiederaufnahme von Serotonin und Noradrenalin. Wird
primär die Wiederaufnahme von Serotonin gehemmt, spricht man von selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRIs; RI = engl. „reuptake
inhibitors“), während bei den selektiven Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmern (SNRIs) präferenziell die Noradrenalin-Wiederaufnahme gehemmt wird.

Tab. 3.1 Bindungsprofile verschiedener Antidepressiva an den Noradrenalintransporter (NA-T) bzw. Serotonintransporter (5-
HTT) sowie prä- und postsynaptische Rezeptoren (K i = Bindungsaffinität in nM , α 2 -AR = präsynaptischer α 2 -Autorezeptor, 5-
HT 2 -R = postsynaptischer Serotonin-Typ-II-Rezeptor)
Medikament NA-T 5-HTT α 2 -AR 5-HT 2 -R

Amitriptylin (TZA ) 14 84 1.000 18

Citalopram (SSRI) > 1.000 1 > 1.000 > 1.000

Reboxetin (SNRI) 8 1.000 > 1.000 > 1.000

Venlafaxin (SSNRI) 210 39 > 1.000 > 1.000

Mirtazapin > 1.000 > 1.000 1 5


Je niedriger der K i -Wert, desto stärker die Bindung

Duale Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SSNRIs) wie Venlafaxin, Duloxetin und Milnacipran hemmen die Wiederaufnahme von
Noradrenalin und Serotonin. Dies trifft auch auf viele TZA zu. So hemmt z.  B. Amitriptylin stark die Wiederaufnahme von Serotonin und Noradrenalin,
weshalb auch dieses Medikament als dualer SSNRI bezeichnet werden kann.
Obwohl die Monoaminmangel-Hypothese in vielen Aspekten zutreffend ist, sprechen dennoch im Wesentlichen folgende Aspekte gegen die Annahme, dass
Antidepressiva allein über einen Ausgleich dieses monoaminergen Defizits wirken:

• Nicht alle wirksamen Antidepressiva sind Serotonin- und / oder Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer: Wie in ➤ zu sehen ist, entfaltet z. B.
Mirtazapin keine Noradrenalin- und Serotonin-Wiederaufnahmehemmung. Dasselbe gilt für das Antidepressivum Trimipramin.
• Die Hemmung der Serotonin- / Noradrenalin-Wiederaufnahme ist ein Effekt, der innerhalb von Minuten bis Stunden eintritt. Die Wirklatenz von
Antidepressiva beträgt aber i. d. R. mindestens 10 Tage.

Daher nimmt man heute an, dass die initialen Prozesse wie die Noradrenalin- / Serotonin-Wiederaufnahmehemmung, aber auch andere Kurzzeitwirkungen
langfristig zu Veränderungen auf der Ebene der prä- und postsynaptischen Rezeptoren, der Second-Messenger-Systeme und letztendlich der Genexpression
und der Veränderung neuronaler Netze führen, die enger mit der Latenz bis zum Wirkeintritt der Antidepressiva korreliert sind.

Merke
Die Wirksamkeit von Antidepressiva beinhaltet neben der kurzfristigen Wiederaufnahmehemmung von Monoaminen
(Noradrenalin und Serotonin) langfristige Veränderungen auf der Ebene der prä- und postsynaptischen Rezeptoren,
der Second-Messenger-Systeme und letztendlich der Genexpression und neuronaler Netzwerke.

Wirkung auf der Ebene der prä- und postsynaptischen Rezeptoren


Die Beobachtung, dass sich durch längere Anwendung von Antidepressiva die Dichte von einzelnen prä- und postsynaptischen Rezeptoren verändert, führte zu
der Annahme, dass das Herunterregulieren der präsynaptischen α 2 -Rezeptoren und der postsynaptischen β-Rezeptoren mit der Wirksamkeit von
Antidepressiva korreliert ist. Wie ➤ zeigt, geht diese Hypothese davon aus, dass während einer Depression durch den Mangel an Monoaminen im
synaptischen Spalt die präsynaptischen α 2 - und die postsynaptischen β-Rezeptoren hochreguliert sind. Im Laufe der Therapie mit monoaminergen
Wiederaufnahmehemmern kommt es dann zu einer Erhöhung der Monoamine im synaptischen Spalt, was zu einer Herunterregulation der entsprechenden
Rezeptoren führt. Da die präsynaptischen α 2 -Autorezeptoren einen inhibitorischen Tonus auf die noradrenerge bzw. serotonerge präsynaptische Aktivität
darstellen, wird dadurch der monoaminerge Tonus zusätzlich erhöht.

Abb. 3.5 Wirkmechanismen von Antidepressiva: α 2 - und β-Downregulation (AR = Autorezeptor; R = Rezeptor; NA = Noradrenalin) [M516 /
L141]

Obwohl das Herunterregulieren von Rezeptoren vom Zeitverlauf her eher mit der Wirklatenz von Antidepressiva korreliert, wird diese Hypothese dadurch
infrage gestellt, dass einige der Antidepressiva nicht mit den genannten adaptiven Rezeptorveränderungen einhergehen.
Dass Antidepressiva auch über eine direkte Beeinflussung prä- und postsynaptischer Rezeptoren wirken können, soll am Beispiel von Mirtazapin genauer
dargestellt werden (➤ ). Wie bereits erläutert (➤ ), führt Mirtazapin nicht zu einer Wiederaufnahmehemmung von Noradrenalin oder Serotonin, jedoch zu einer
starken Antagonisierung des präsynaptischen α 2 -Autorezeptors und des postsynaptischen Serotonin-Typ-II-Rezeptors (5-HT 2 -R). Diese
Rezeptorantagonisierung tritt bei den selektiven Serotonin- und  /  oder Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmern nicht auf, wird jedoch bzgl. des 5-HT 2 -
Rezeptors auch bei Amitriptylin beobachtet. Der präsynaptische α 2 -Autorezeptor entfaltet einen inhibitorischen Effekt auf die präsynaptische noradrenerge
und serotonerge Neurotransmission, während der postsynaptische 5-HT 2 -Rezeptor die postsynaptische serotonerge Neurotransmission inhibiert. Durch
Blockade beider Rezeptoren (und dadurch Hemmung der Hemmung) durch Mirtazapin wird die serotonerge und noradrenerge Neurotransmission verstärkt.
Am Beispiel von Mirtazapin wird daher deutlich, dass die Wiederaufnahmehemmung von Serotonin und  /  oder Noradrenalin nicht den zentralen
Wirkmechanismus der Antidepressiva darstellen kann.
Abb. 3.6 Wirkmechanismen von Antidepressiva auf der Ebene der prä- und postsynaptischen Rezeptoren am Beispiel von Mirtazapin (AR =
Autorezeptor; R = Rezeptor; NA = Noradrenalin; 5-HT = Serotonin) [M516 / L141]

Wirkung auf der Ebene der Second-Messenger- / Genexpression und der Neuroneogenese


Man nimmt heute an, dass die oben beschriebenen initialen synaptischen Veränderungen durch Antidepressiva zu postsynaptischen Änderungen auf der Ebene
der Second-Messenger- und der Genexpression führen, die letztendlich für den antidepressiven Effekt verantwortlich sind (➤ ). So weiß man heute, dass die
postsynaptischen Rezeptoren an eine Vielzahl von Signaltransduktionswegen gekoppelt sind, die zu einer Veränderung von Genexpressionsmustern führen.
Abb. 3.7 Wirkmechanismen von Antidepressiva auf der Ebene der Second-Messenger- und der Genexpression (A-cyc. = Adenylatcyclase; Ca
2+
-abh. Kinasen = kalziumabhängige Kinasen; BDNF = Brain-derived neurotrophic Factor; CREB = cAMP Response Element-binding Protein; G
s = stimulierende G-Proteine; MAP-Kinasen = mitogenaktivierte Proteinkinasen; PKA = Proteinkinase A; R = Rezeptor; 5-HT = Serotonin) [M516 /
L141]

Am bekanntesten sind die Untersuchungen zur Veränderung des Second-Messenger-cycloAMP (cAMP), der über eine erhöhte Expression des
Transkriptionsfaktors CREB z. B. zu einer Hochregulation von Wachstumsfaktoren wie BDNF führt. Durch diese veränderte Genexpression können Prozesse
in Gang gesetzt werden, die man als neuronale Plastizität bezeichnet. Ein anderes Beispiel ist die Modulation kalziumabhängiger Kinasen oder von
mitogenaktivierten Proteinkinasen.
Eine Hypothese postuliert, dass Antidepressiva über eine Beeinflussung der zerebralen Neuroneogenese wirken. Man weiß heute, dass, entgegen früheren
Annahmen, auch im adulten Gehirn und vornehmlich im Hippokampus Nervenneubildungen stattfinden. Im Tiermodell konnte gezeigt werden, dass die
Wirksamkeit von Antidepressiva eng an eine intakte Neuroneogenese gebunden war. Ob dies beim Menschen ein relevanter Mechanismus ist, ist bis heute
noch unklar. Dass Antidepressiva aber zu Netzwerkveränderungen im Gehirn führen und dies auf neuroplastische Veränderungen zurückzuführen ist, ist höchst
wahrscheinlich.

Merke
Zusammengefasst konzentrieren sich die wissenschaftlichen Untersuchungen zum Wirkmechanismus von
Antidepressiva derzeit auf die postsynaptischen Prozesse, wobei der Veränderung von Second-Messenger-Systemen
und der differenziellen Genexpression sowie von zerebralen Netzwerken durch Antidepressiva besondere
Aufmerksamkeit geschenkt wird.

Pharmakokinetik und Wechselwirkungen


Antidepressiva werden i. d. R. oral verabreicht, wobei einzelne Substanzen wie verschiedene tri- und tetrazyklische Antidepressiva in seltenen Fällen auch
parenteral gegeben werden. Die Bioverfügbarkeit ist bei den meisten Substanzen aufgrund eines starken First-Pass-Effekts in der Leber eingeschränkt.
Maximale Plasmaspiegel werden i. d. R. nach 1–6 h gemessen, und die Eliminationshalbwertszeit liegt mit wenigen Ausnahmen bei ca. 10–40 h (Ausnahme:
sehr lange Halbwertszeit [HWZ] von 2–7  Tagen bei Fluoxetin), sodass ein Steady-State bei den meisten Substanzen nach ca. 5–10  Tagen erreicht wird
(Details ➤ in ➤ ).
Die Ausscheidung der Antidepressiva und ihrer Metaboliten erfolgt nach Oxidation und Konjugation mit Glucuronsäure in der Leber hauptsächlich über die
Nieren.

Cytochrom-P450-System
Fast alle Psychopharmaka (Ausnahmen: z. B. Lithium, Amisulprid, Pregabalin und Milnacipran) werden über das Cytochrom-P450-Enzymsystem der Leber
verstoffwechselt. Man kennt heute mehrere solcher Enzyme, wobei für die Verstoffwechslung von Psychopharmaka v.  a. die Enzyme CYP1A2, CYP2C9,
CYP2C19, CYP2D6 und CYP3A4 von Bedeutung sind (➤ ). Bei bis zu 10 % der Normalbevölkerung treten in den Enzymen CYP2A6, CYP2C9, CYP2C19
und CYP2D6 genetische Polymorphismen (Genvarianten) auf, die dazu führen, dass diese Gruppe von Enzymen entweder besonders stark oder besonders
schwach arbeitet. Insgesamt wurden bisher mehr als 50  verschiedene Genvariationen identifiziert. Aufgrund dieser Genvarianten können Medikamente sehr
schnell bzw. sehr langsam abgebaut werden. Man unterscheidet:

• „Ultrarapid metabolizer“: Bei diesen Menschen werden die Medikamente so schnell abgebaut, dass oft keine ausreichenden
Plasmakonzentrationen aufgebaut werden.
• „Poor metabolizer“: Bei diesen Personen werden die Medikamente so langsam abgebaut, dass bereits bei kleinen Dosen ausgeprägte
Nebenwirkungen auftreten können.
• „Extensive metabolizer“: Diese Menschen zeigen eine normale Verstoffwechslung (hier liegen also keine Genvariationen vor).
Tab. 3.2 Antidepressiva, die durch Cytochrom (CYP)-450-Enzyme metabolisiert werden
Enzym Substrat
CYP1A2 Amitriptylin, Agomelatin, Clomipramin, Duloxetin, Fluvoxamin, Imipramin, Mirtazapin

CYP2C9 Amitriptylin, Fluoxetin, Sertralin, Vortioxetin

CYP2C19 Amitriptylin, Citalopram, Clomipramin, Doxepin, Fluoxetin, Imipramin, Moclobemid, Sertralin, Trimipramin, Vortioxetin

CYP2D6 Amitriptylin, Clomipramin, Desipramin, Duloxetin, Fluoxetin, Fluvoxamin, Imipramin, Mianserin, Mirtazapin, Nortriptylin, Paroxetin,
Sertralin, Trazodon, Venlafaxin, Vortioxetin

CYP3A4 / Amitriptylin, Clomipramin, Fluoxetin, Imipramin, Mirtazapin, Sertralin, Trazodon, Venlafaxin, Vortioxetin
5 /7

Die genetischen Polymorphismen sind in spezialisierten Labors mittels Polymerase-Kettenreaktion (PCR) diagnostisch nachweisbar. Wie ➤ zeigt, können
unterschiedliche genetische Variationen zu unterschiedlichen Effekten führen. Dabei ist zu beachten, dass z. B. das CYP2D6-Gen bei ca. 5 bis max. 10 % der
Normalbevölkerung in Europa mehrfach vorliegt, wobei bis zu 13  Kopien des Gens gefunden wurden. Durch solche Genduplikationen kann es zu einem
verstärkten Abbau von Medikamenten und damit zum Ultrarapid-metabolizer-Status kommen. Auch Serumspiegelkontrollen geben Auskunft über den
Metabolisierungsstatus, aus denen man Hinweise für das Vorliegen eines genetischen Polymorphismus erhält.

Tab. 3.3 Beispiele für polymorphe Cytochrom-P450-Isoenzyme


Enzym Varianten (Bsp.) Funktion Häufigkeit in der Bevölkerung [ %]
CYP2A6 Leu160His inaktives Enzym 1–3

Deletion kein Enzym 1

CYP2C9 Arg144Cys erniedrigte Affinität 8–13

Ile359Leu andere Substratspezifität 6–9

CYP2D6 Duplikation superaktives Enzym 1–5

Deletion kein Enzym 2–7

defektes Splicing inaktives Enzym 12–21

Pro34Ser instabiles Enzym 1–2

Die Cytochrom-P450-Isoenzyme sind nicht nur im Hinblick auf den Abbau der Medikamente, sondern auch in Bezug auf Medikamenteninteraktionen
relevant. Manche Antidepressiva wie z.  B. die älteren SSRIs Paroxetin, Fluoxetin und Fluvoxamin, aber auch andere Medikamente können hemmend auf
P450-Isoenzyme einwirken. Dadurch kann es bei Kombinationsbehandlung zu entsprechenden Plasmaspiegelerhöhungen mit Intoxikationsgefahr kommen.
Andererseits gibt es Medikamente wie Carbamazepin oder Lebensgewohnheiten wie Rauchen, welche die Aktivität bestimmter P450-Isoenzyme (CYP3A3 /
4) induzieren können. Dadurch können nicht nur die Plasmaspiegel von Carbamazepin selbst durch Selbstinduktion erniedrigt, sondern auch die
Plasmakonzentrationen von anderen Medikamenten wie z. B. Amitriptylin bei Komedikation gesenkt werden. ➤ gibt eine Übersicht über klinisch bedeutsame
Inhibitoren und Induktoren von CYP450-Enzymen. In Kombination mit ➤ lassen sich relevante Medikamenteninteraktionen leicht identifizieren.

Klinik
Bei Patienten, die stark rauchen, kann es bei plötzlicher Reduktion des Rauchens oder völligem Verzicht durch den Wegfall der Enzyminduktion zu
erhöhten Plasmaspiegelkonzentrationen und demzufolge zu verstärkten Nebenwirkungen bis hin zu Intoxikationen kommen. Die Patienten sind darüber
entsprechend aufzuklären.
Tab. 3.4 Beispiele für Medikamenteninteraktionen auf der Ebene der CYP450-Isoenzyme (starke Inhibitoren sind fett
hervorgehoben)
Enzym Beispiel für Klinisch wichtige Klinisch wichtige Beispiel für klinische Konsequenz
Substrat Induktoren Inhibitoren
(➤ und ➤ )
1A2 Clozapin Rauchen Fluvoxamin, Perazin erhöhte Clozapin-Plasmaspiegel bei Kombination mit Fluvoxamin;
Carbamazepin Ciprofloxacin erniedrigte Spiegel bei Carbamazepin-Gabe und Rauchern
Rifampicin Norfloxacin

2C9 Phenytoin Carbamazepin Amiodaron Änderung der Gerinnungswerte bei Kombination von Phenprocoumon
Phenprocoumon Rifampicin Fluconazol mit Carbamazepin
Fluvoxamin
Valproinsäure

2C19 Citalopram, Carbamazepin Omeprazol Verlängerung der Diazepam-HWZ bei Kombination mit Fluvoxamin
Diazepam Phenytoin Fluconazol
Rifampicin Fluvoxamin

2D6 Metoprolol unbekannt Amiodaron, Bupropion, erhöhte Metoprolol-Spiegel bei Kombination mit Bupropion
Duloxetin
Fluoxetin,
Levomepromazin,
Melperon, Paroxetin
Perphenazin, Propranolol

3A4 Digoxin, Carbamazepin Atorvastatin erniedrigte Digoxin-Plasmaspiegel und potenzieller Wirkverlust bei
Ciclosporin Johanniskraut Erythromycin Kombination mit Johanniskraut
Carbamazepin Phenobarbital Indinavir
Phenytoin Simvastatin
Rifampicin Verapamil
Grapefruitsaft

Bestimmung der Plasmakonzentration


Die Messung der Plasmakonzentration von Psychopharmaka („therapeutisches Drug-Monitoring“, TDM) hat eine große Bedeutung, v. a. bei der Behandlung
mit Antidepressiva, Antipsychotika sowie Stimmungsstabilisierern, also Medikamenten zur Phasenprophylaxe affektiver Erkrankungen wie z.  B. Lithium,
Carbamazepin, Valproinsäure und Lamotrigin. ➤ (➤ ) und ➤ ( ➤ ) geben eine Übersicht zu den empfohlenen therapeutischen Plasmakonzentrationen von
Antidepressiva bzw. Antipsychotika und die Dauer bis zum Erreichen eines Steady-State, zu dem die Bestimmung frühestens erfolgen sollte.
Plasmakonzentrationsbestimmungen können folgende praktische Bedeutung haben:

• Überprüfung der Compliance des Patienten


• Überprüfung der Richtigkeit der gewählten Dosis bei Nichtansprechen auf ein Medikament oder beim Auftreten überdurchschnittlich stark
ausgeprägter Nebenwirkungen
• Therapiesteuerung bei pharmakokinetischen Medikamenteninteraktionen

Patientengruppen, die besonders von TDM profitieren, sind Kinder, Schwangere, ältere Patienten, Patienten mit bekannten oder vermuteten Varianten von
CYP450-Enzymen sowie Patienten unter Polypharmazie.

Merke
Liegt der Plasmaspiegel eines ausreichend dosierten Antidepressivums unterhalb der empfohlenen Konzentration,
kann ein Einnahmefehler, eine beschleunigte Metabolisierung über das Cytochrom-P450-System in der Leber oder
eine Medikamenteninteraktion die Ursache sein.

Wechselwirkungen
Antidepressiva können in vielfältiger Weise mit anderen Medikamenten interagieren. Folgende Wechselwirkungen sind von besonderer Bedeutung:

• Hemmung von Cytochrom-P450-Isoenzymen durch ältere SSRIs: Vor allem ältere SSRIs wie Fluoxetin, Fluvoxamin oder Paroxetin können die
Wirkung einer Komedikation verstärken, indem sie ihren Abbau inhibieren (➤ ).
• Kombination von MAO-Hemmern und SSRIs: Durch diese kontraindizierte Kombination kann ein Serotonin-Syndrom ausgelöst werden (s. u.).
Auch die Kombination von SSRIs und Lithium erhöht die Gefahr eines Serotonin-Syndroms.

Klinik
Hilfen beim Erkennen und Vermeiden von Medikamentenwechselwirkungen

• Vorsicht bei kurzfristiger Zusatzmedikation (z. B. Antibiotika, Analgetika)


• Plasmaspiegelbestimmungen bei zweifelhafter Compliance, ungewöhnlich starken Nebenwirkungen, Verdacht auf Intoxikation oder
Therapieversagen
• Niedrige und langsame Dosissteigerung bei mehrfach medizierten Patienten
• Nachschauen in Computerdatenbanken zu Medikamentenwechselwirkungen (z. B. )

Nebenwirkungen und Nebenwirkungsmanagement


Neben den erwünschten antidepressiven Wirkungen zeigen Antidepressiva auch unterschiedlich stark ausgeprägte Nebenwirkungen, die sich z.  T. aus der
Beeinflussung des cholinergen, (nor-)adrenergen, serotonergen, dopaminergen und histaminergen Systems ableiten lassen. Diese Nebenwirkungen treten vor
der antidepressiven Wirkung ein und können besonders zu Beginn der Therapie sehr störend sein, bilden sich aber bei längerer Therapie oft wieder zurück.
Teilweise muss die Therapie wegen Nebenwirkungen abgebrochen und auf ein anderes Medikament umgestellt werden.
Die Art der (teilweise erwünschten) Nebenwirkung lässt sich aus dem Bindungsprofil an Transporter bzw. Rezeptoren ableiten:

• Hemmung der Serotonin-, Noradrenalin-, Dopamin-Wiederaufnahme: entsprechende Nebenwirkung durch verstärkte Verfügbarkeit des
Neurotransmitters
• Blockade von Histamin (H 1 )-Rezeptoren: Sedierung und Gewichtszunahme
• Blockade von cholinergen Rezeptoren: Mundtrockenheit, Schwitzen, Sinustachykardie, Obstipation, Miktionsbeschwerden, Sehstörungen
• Blockade von adrenergen Rezeptoren: Hypotonie, Orthostase, reflektorische Tachykardie
• Blockade von Serotonin-(5-HT 2 -)Rezeptoren: Reduktion von sexuellen Funktionsstörungen
• Blockade von Serotonin-(5-HT 3 -)Rezeptoren: Reduktion von Übelkeit und Erbrechen

So kann man aus ➤ ablesen, dass Amitriptylin und Mirtazapin, nicht aber z. B. Citalopram sedierend wirken und mit einer Gewichtszunahme einhergehen
und dass Amitriptylin im Gegensatz zu den SSRIs und SNRIs anticholinerge Nebenwirkungen mit sich bringt. Aus den genannten Bindungskonstanten lässt
sich darüber hinaus ableiten, dass Mirtazapin über eine Blockade postsynaptischer 5-HT 2 -Rezeptoren seltener mit sexuellen Funktionsstörungen einhergeht
(was v. a. bei den SSRIs ein großes Problem darstellt, ➤ ) und dass es durch die Blockade von 5-HT 3 -Rezeptoren Übelkeit und Erbrechen, ausgelöst z. B.
durch SSRIs, reduzieren kann. Auch aus diesem Grund kann eine Kombinationsbehandlung aus SSRIs und Mirtazapin sinnvoll sein.

Tab. 3.5 Nebenwirkungsprofil von Antidepressiva, das sich aus ihrem Rezeptorbindungsprofil ergibt. Die Zahlen sind K i -
Werte, welche die Bindungsaffinität in nM angeben.
Medikament H 1 -R ACh-R α 1 -R 5-HT 2 -R 5-HT 3 -R

Amitriptylin (TZA) 1 10 24 18

Citalopram (SSRI) 470 > 1.000 > 1.000 > 1.000

Reboxetin (SNRI) > 1.000 > 1.000 > 1.000 > 1.000

Venlafaxin (SSNRI) > 1.000 > 1.000 > 1.000 > 1.000

Mirtazapin 0,5 500 500 5 5


Je niedriger der K i -Wert, desto stärker die Bindung

Antidepressiva können in unterschiedlichem Ausmaß zu einer Gewichtszunahme führen:

• Zu ausgeprägter Gewichtszunahme führen: Amitriptylin, Mirtazapin, Trimipramin


• Zu Gewichtszunahme führen: Citalopram, Paroxetin
• Eher nicht zur Gewichtszunahme führen: Agomelatin, Duloxetin, Escitalopram, Fluoxetin, Sertralin, Trazodon, Venlafaxin, Vortioxetin
• Eher zu Gewichtsabnahme führen: Bupropion, Milnacipran

Zu den Psychopharmaka, die ein Restless-Legs-Syndrom auslösen bzw. verschlechtern können, gehören:

• Antidepressiva: Mirtazapin, Citalopram, Sertralin, Paroxetin, Fluoxetin, Mianserin, Lithium


• Antipsychotika: Clozapin, Haloperidol, Olanzapin, Quetiapin, Risperidon

Zu sexuellen Funktionsstörungen unter Antidepressiva ➤ .

Absetzphänomene
Antidepressiva führen im Prinzip nicht zu einer Abhängigkeitsentwicklung. Das bedeutet aber nicht, dass nicht auch Absetzsyndrome auftreten können, die von
der Symptomatik her Entzugssyndromen gleichen und bei bis zu einem Drittel der Patienten auftreten. So kann das schnelle Absetzen von TZA und v. a. kurz
wirksamen SSRIs (z.  B. Paroxetin) oder auch von z.  B. Venlafaxin zu Unruhe, Schweißausbrüchen, Erbrechen und Schlafstörungen führen. Antidepressiva
sollten daher immer langsam ausgeschlichen und die Patienten entsprechend informiert werden. Andere Kennzeichen von Abhängigkeitsentwicklungen wie
Toleranzentwicklung mit Dosissteigerung oder Kontrollverlust kennt man bei Antidepressiva i. d. R. nicht. Bei Tianeptin wurden allerdings missbräuchliche
Verwendungen und Abhängigkeitsentwicklungen beschrieben, was evtl. auf dessen dopaminergen Wirkmechanismus zurückzuführen ist.

Merke
Eine Therapie mit Antidepressiva führt nicht zu einer Abhängigkeit! Trotzdem soll das Absetzen immer
ausschleichend erfolgen, da beim schnellen Absetzen Symptome wie z. B. Unruhe, Schweißausbrüche, Erbrechen oder
Schlafstörungen auftreten können.

Syndrom der inadäquaten ADH-Sekretion (SIADH)


In seltenen Fällen kann unter TZA und SSRIs ein SIADH ausgelöst werden. Durch eine vermehrte Sekretion von antidiuretischem Hormon (ADH) kommt es
zu einer verminderten Flüssigkeitsausscheidung, was sich klinisch in einer konzentrierten Harnausscheidung und laborchemisch in Form einer
Verdünnungshyponatriämie und verminderter Serumosmolalität äußert. Klinische Symptome sind körperliche Schwäche, Lethargie, Gewichtszunahme,
Kopfschmerzen bis hin zu Verwirrtheit, Krampfanfälle und Koma. Im Verdachtsfall muss das Antidepressivum abgesetzt werden. Anschließend muss unter
engmaschiger Kontrolle der Elektrolyte ein Präparatewechsel stattfinden.

Kasuistik
Syndrom der inadäquaten ADH-Sekretion (SIADH)
Eine 60-jährige Patientin wird im Rahmen einer schweren rezidivierenden Depression seit 1 Woche mit dem TZA Doxepin behandelt. Im Verlauf von 2 
Tagen treten körperliche Schwäche, Lethargie, Kopfschmerzen, Gangstörung, Somnolenz und Verwirrtheit auf. In der zerebralen Bildgebung finden sich
keine Auffälligkeiten. In den Laboruntersuchungen fallen eine Serum-Natriumkonzentration von 119 mmol / l und eine verminderte Serumosmolalität auf.
Die körperliche Untersuchung ist unauffällig, Ödeme bestehen nicht. Aufgrund der Symptomatik in Verbindung mit einer Hyponatriämie und verminderter
Serumosmolalität wird die Verdachtsdiagnose eines SIADH gestellt und das Antidepressivum abgesetzt. Vorübergehend erfolgt nur eine Therapie mit
niedrig dosierten Benzodiazepinen auf einer geschützten Intensivpflegestation. Da die Serum-Natriumkonzentration bei Aufnahme im (unteren)
Normbereich lag, legt der Zeitverlauf einen Kausalzusammenhang mit der Gabe von Doxepin nahe. Andere Ursachen für ein SIADH (schwere ZNS-
Erkrankung, Pneumonie, kleinzelliges Bronchialkarzinom) konnten ausgeschlossen werden. Nach Absetzen von Doxepin bildet sich das Syndrom
innerhalb von 3 Tagen zurück. Anschließend erfolgt eine Weiterbehandlung mit Mirtazapin.
Therapie von Nebenwirkungen
Viele Nebenwirkungen werden toleriert, wenn der Patient über ihr mögliches Auftreten vor Therapiebeginn aufgeklärt wurde, er im Sinne einer partizipativen
Entscheidungsfindung der Gabe des Antidepressivums unter Abwägung des Nutzens und der in Kauf zu nehmenden Nebenwirkungen und Risiken zugestimmt
hat und darauf aufmerksam gemacht wurde, dass es sich größtenteils um vorübergehende Begleiterscheinungen der Therapie handelt.

Klinik
Allgemeine Maßnahmen zur Reduzierung unangenehmer Nebenwirkungen

• Langsame Dosissteigerung
• Zwischenzeitliche Dosisreduzierung bei Intoleranz von Nebenwirkungen
• Kombination von SSRIs mit Mirtazapin

Kontrolluntersuchungen im Therapieverlauf
Aufgrund der relativ häufigen Nebenwirkungen der trizyklischen Antidepressiva (TZA) sind bei diesen Medikamenten in regelmäßigen Abständen
Kontrolluntersuchungen erforderlich (➤ ).

Tab. 3.6 Kontrolluntersuchungen im Verlauf einer antidepressiven Pharmakotherapie. Die nachfolgend aufgelisteten
Untersuchungen sind während stationärer und ambulanter Behandlung mit Antidepressiva (AD) durchzuführen und zu
dokumentieren
Untersuchungsparameter Zeitpunkt und Häufigkeit
vorher Monat 1 Monat 2 Monat 3 Monat 4 Monat 5 Monat 6 ¼-jährlich ½-jährlich
Für alle Antidepressiva: Blutbild X X X X

Kreatinin X X X X X

GPT, γ-GT X X X X X X

Na, K X X X X X X

Blutzucker, HbA 1c X X X X X

EKG X X X X X

RR, Puls X X X X X

Körpergewicht X XX XX X X X X X X

Großes Blutbild speziell bei: TZA X XX XX X X X X X

Mianserin X XXXX XXXX XXXX X X X X


X Häufigkeit der Kontrolle
Bei trizyklischen Antidepressiva (TZA)
Bei Patienten > 60 Jahre häufigere Kontrollen empfohlen

3.2.2. Antidepressiva: Substanzen


➤ gibt eine Übersicht über die Antidepressivaklassen und ihre wichtigsten Vertreter. Weitere Detailinformationen zu den Substanzen wie Tagesdosen und
therapeutischer Plasmakonzentrationsbereich finden sich in ➤ (➤ ).
Tab. 3.7 Klassen von Antidepressiva und deren wichtigste Vertreter
Klassische Antidepressiva
Trizyklische Antidepressiva (TZA) Imipramin, Amitriptylin, Doxepin, Nortriptylin

Tetrazyklische Antidepressiva Maprotilin, Mianserin

Monoaminoxidase-Hemmer (MAO-Hemmer) Tranylcypromin, Moclobemid


Neuere Antidepressiva
Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRIs) Fluoxetin, Paroxetin, Fluvoxamin, Citalopram, Sertralin,
Escitalopram

Selektive Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRIs) Reboxetin – nicht mehr erstattungsfähig

Selektive Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SSNRIs) Venlafaxin, Duloxetin, Milnacipran

Selektive Noradrenalin- und Dopamin-Wiederaufnahmehemmer (SNDRIs) Bupropion

α 2 -Antagonisten oder noradrenerge und spezifisch serotonerge Antidepressiva Mirtazapin


(NaSSA)

Substanzen mit anderem Wirkmechanismus Agomelatin, Tianeptin, Trazodon, Trimipramin, Vortioxetin


Pflanzliche Präparate
Johanniskraut-Extrakte

Klassische Antidepressiva

Tri- und tetrazyklische Antidepressiva


Die trizyklischen Antidepressiva wie Imipramin , Amitriptylin , Nortriptylin sowie Doxepin und die tetrazyklischen Antidepressiva wie Maprotilin und
Mianserin gehören zu den klassischen Antidepressiva (➤ ). Sie hemmen je nach Substanz stärker die präsynaptische Serotonin- oder Noradrenalin-
Wiederaufnahme oder beide.
Da sie an eine Vielzahl von Rezeptoren binden, entfalten sie relativ viele Nebenwirkungen (s. u.), die z. T. erwünscht (z. B. Sedierung durch Blockade von
Histamin-Rezeptoren) oder unerwünscht (z.  B. anticholinerge Nebenwirkungen mit Mundtrockenheit und Obstipation) sind. Mianserin führt häufiger als
andere Antidepressiva zu Leukopenien, sodass es in der psychiatrischen Pharmakotherapie heute verzichtbar ist.

Wichtige Nebenwirkungen
Nebenwirkungen von tri- und tetrazyklischen Antidepressiva können sein:

• anticholinerg (Blockade muscarinischer Acetylcholin-Rezeptoren): Mundtrockenheit, Obstipation, Miktionsbeschwerden, Sinustachykardie,


Akkommodationsstörungen
• antiadrenerg (Blockade α 1 -adrenerger Rezeptoren): Hypotonie, orthostatische Dysregulation, reflektorische Tachykardien, Arrhythmien,
Palpitationen, Schwitzen
• antihistaminerg (Blockade von Histamin-1-Rezeptoren): Müdigkeit, Gewichtszunahme
• andere: Überleitungsstörungen am Herzen mit Verlängerung der PQ- und QT-Zeiten; Myoklonien, Gewichtszunahme, allergische Exantheme

Ernste, aber seltener auftretende Nebenwirkungen von TZA sind dem folgenden Klinikkasten zu entnehmen.

Klinik
Ernste, aber seltene Nebenwirkungen von trizyklischen Antidepressiva

• Krampfanfälle durch Senkung der Krampfschwelle


• Anticholinerge Delire (v. a. bei älteren Patienten und zerebraler Vorschädigung)
• Syndrom der inadäquaten ADH-Sekretion (SIADH)
• Veränderungen des weißen Blutbilds (Leukopenie) und cholestatische Hepatose
• Paralytischer Ileus
• Kardiomyopathien

Bei Überdosierung bzw. Intoxikation mit anticholinerg wirksamen Medikamenten wie z. B. TZA oder dem atypischen Antipsychotikum Clozapin sowie in
normalen Dosisbereichen bei Slow-metabolizer-Status (s.  o.), hohem Alter und zerebraler Vorschädigung kann es zur Entwicklung eines zentralen
anticholinergen Syndroms bzw. anticholinergen Delirs kommen. Die Symptomatik besteht in ausgeprägten anticholinergen Symptomen wie trockener Haut,
Hyperthermie, Mydriasis, Harnverhalt, Obstipation bis hin zum paralytischen Ileus, tachykarden Herzrhythmusstörungen sowie deliranter Symptomatik mit
Desorientiertheit, motorischer Unruhe, Dysarthrie, Krampfanfällen, Somnolenz bis hin zum Koma. Therapeutisch muss die verursachende Substanz abgesetzt
werden, bei Persistenz kann der Cholinesterase-Hemmer Physostigmin parenteral appliziert werden.
Möglichkeiten zur Behandlung von anticholinergen Nebenwirkungen werden bei den Antipsychotika in ➤ dargestellt (➤ ).

Kontraindikationen und Wechselwirkungen


Aus den oben aufgezählten Nebenwirkungen der tri- und tetrazyklischen Antidepressiva lassen sich auch leicht deren Kontraindikationen ableiten:
Prostatahyperplasie, Engwinkelglaukom (Glaucoma congestivum; ein Weitwinkelglaukom stellt jedoch keine Kontraindikation dar!), Pylorusstenose, schwere
Schäden an Leber oder Herz, kardiale Überleitungsstörungen und eine erhöhte Thromboseneigung.
Bei kardial vorbelasteten Patienten sollten bevorzugt Nicht-TZA (z. B. SSRIs) eingesetzt werden, da hier kardiovaskuläre Nebenwirkungen seltener sind.
Bei Überdosierung von tri- und tetrazyklischen Antidepressiva, z.  B. in suizidaler Absicht, muss eine intensivtherapeutische Behandlung erfolgen, da es
aufgrund der anticholinergen Wirkungen zu lebensbedrohlichen Zuständen wie Arrhythmien, Hyperthermie, Delir, Koma oder Krampfanfällen kommen kann.

Wechselwirkungen
Wichtige Wechselwirkungen der tri- und tetrazyklischen Antidepressiva sind ➤ und ➤ zu entnehmen. Stark anticholinerg wirkende Substanzen sollten, v. a.
bei älteren Menschen, wegen der Gefahr eines anticholinergen Delirs nicht mit Anticholinergika oder z. B. anticholinerg wirkenden Antipsychotika kombiniert
werden. TZA sollten nicht mit Antiarrhythmika vom Chinidintyp kombiniert werden.

Monoaminoxidase-Hemmer
Auch die Monoaminoxidase-(MAO-)Hemmer gehören zu den klassischen Antidepressiva. Sie wirken über eine Hemmung der oxidativen Desaminierung von
Noradrenalin, Dopamin und Serotonin. Auf dem Markt sind der irreversible MAO-Hemmer Tranylcypromin und der reversible MAO-Hemmer Moclobemid.
Indiziert sind MAO-Hemmer einerseits zur Behandlung von depressiven Erkrankungen, insbesondere wegen der relativ starken Antriebssteigerung bei
gehemmten, antriebsarmen Depressionen, bei Therapieresistenz und bei Depressionen mit atypischer Symptomatik, die durch Hypersomnie,
Gewichtszunahme, Angstsymptome und eine extrovertiert-histrionische Persönlichkeitsstruktur gekennzeichnet ist. Eine weitere Indikation ist die Therapie von
Angststörungen.

Wichtige Nebenwirkungen
Die wichtigsten Nebenwirkungen irreversibler Hemmer der Monoaminoxidase A und B wie Tranylcypromin sind orthostatische Regulationsstörungen,
Schwindel und Kopfschmerzen. Besonders durch den Genuss tyraminhaltiger Nahrungsmittel (z. B. Rotwein, Schokolade, fermentierter Käse, Salami) können
hypertone Blutdruckkrisen ausgelöst werden, die gefürchtet, insgesamt jedoch sehr selten sind. Bei der Therapie mit Tranylcypromin müssen die Patienten
daher eine entsprechende tyraminarme Diät einhalten. Unruhe- und Erregungszustände sowie eine Senkung der Krampfschwelle mit einer erhöhten Gefahr von
Krampfanfällen treten gelegentlich auf.

Klinik
Nach der Therapie mit einem MAO-Hemmer muss ein therapiefreies Intervall von mindestens 2  Wochen eingehalten werden. Bei Gabe von
Tranylcypromin nach vorheriger Gabe eines anderen Antidepressivums muss eine Karenzzeit von mindestens 5 HWZ (im Falle von Fluoxetin 5 Wochen)
eingehalten werden.

Bei Moclobemid treten die o. g. Nebenwirkungen seltener auf, da Moclobemid nur die MAO-A und diese auch nur reversibel blockiert. Daher brauchen die
Vorsichtsmaßnahmen beim Genuss tyraminhaltiger Nahrung und bei der Kombination mit üblichen Antidepressiva hier nicht beachtet zu werden.

Kontraindikationen und Wechselwirkungen


Kontraindiziert sind MAO-Hemmer bei Suizidalität, ängstlich-agitierten Depressionen, erhöhter Krampfbereitschaft und Leber- oder Nierenschäden.
Eine Kombination mit SSRIs, TZA, SSNRIs sowie Bupropion, Triptanen, Tramadol, Pethidin und Disulfiram ist wegen der Gefahr eines serotonergen
Syndroms ebenfalls kontraindiziert.

Neuere Antidepressiva

Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRIs)


SSRIs wie Fluoxetin , Paroxetin , Fluvoxamin , Citalopram , Sertralin u n d Escitalopram hemmen selektiv die Serotonin-Wiederaufnahme in das
präsynaptische Neuron, während die Noradrenalin-Wiederaufnahme nicht oder kaum beeinflusst wird. SSRIs (v. a. Citalopram und Sertralin) sind heute wegen
der besseren Verträglichkeit und der relativ sicheren Anwendung auch bei kardialen Erkrankungen Mittel der 1. Wahl in der Behandlung depressiver
Störungen (➤ ). Dennoch wird die Auslösung von Unruhe und Übelkeit bis hin zu Erbrechen, insbesondere zu Beginn der Therapie, von vielen Patienten als
unangenehm erlebt, was nicht selten zum Therapieabbruch führt.

Wichtige Nebenwirkungen
Die SSRIs werden i. Allg. besser vertragen als TZA; die Abbruchrate ist allerdings nur geringfügig niedriger als bei den Trizyklika. Das liegt daran, dass sie
zwar keine nennenswerten anticholinergen Nebenwirkungen aufweisen und bei kardialen Vorerkrankungen sicherer sind, jedoch initial häufig zu Übelkeit bis
hin zum Erbrechen, Diarrhö, zu Unruhezuständen mit Schlafstörungen und bei längerer Einnahme zu sexuellen Funktionsstörungen (➤ ) führen.
Aufgrund der Unruhezustände ist initial häufig eine Kombinationstherapie mit einem sedierenden Antidepressivum (z. B. Trazodon oder Mirtazapin) oder
einem Benzodiazepin-Präparat (z.  B. Lorazepam) erforderlich. Dies ist auch daher bedeutsam, da starke Angst- und Unruhezustände Suizidgedanken
verstärken können.

Kasuistik
Sexuelle Funktionsstörungen unter SSRIs
Ein 32-jähriger Patient wurde seit 3 Wochen erfolglos mit dem SSRI Paroxetin behandelt. Darunter beklagte der Patient eine verminderte Libido und eine
verzögerte Ejakulation, die zwar in leichter Form seit Beginn des depressiven Syndroms bestanden, seit der Gabe von Paroxetin jedoch deutlich
zugenommen hatten. Es wurde daher die Diagnose einer durch Paroxetin induzierten sexuellen Funktionsstörung gestellt. Da sexuelle Funktionsstörungen
auf eine Erhöhung der serotonergen Transmission an den 5-HT 2 -Rezeptoren zurückgeführt werden, erfolgte eine Umstellung auf Mirtazapin, das neben
der α 2 -antagonistischen Wirkung einen zusätzlichen antagonistischen Effekt am 5-HT 2 -Rezeptor besitzt und daher keine sexuellen Funktionsstörungen
hervorruft. Bei dem Patienten bildeten sich die sexuellen Funktionsstörungen zurück, und es kam innerhalb von 4  Wochen zu einer Remission des
depressiven Syndroms.

Gefürchtet ist das Auftreten eines serotonergen Syndroms. Dieses Syndrom tritt relativ selten bei Pharmaka bzw. Drogen mit serotonerger
Wirkkomponente wie SSRIs, MAO-Hemmern, TZA (v. a. Clomipramin), Kokain, Amphetaminen und Lithium auf. Die Gefahr eines serotonergen Syndroms
ist bei Patienten mit Poor-metabolizer-Status oder bei Kombination der o.  g. Medikamente erhöht (wegen der Gefahr eines serotonergen Syndroms dürfen
selektive oder überwiegende Serotonin-Wiederaufnahmehemmer auch nicht mit MAO-Hemmern kombiniert werden!).

Klinik
Symptome eines serotonergen Syndroms

• Trias aus Fieber, neuromuskulären Symptomen (Hyperrigidität, Hyperreflexie, Myoklonien, Tremor) sowie psychopathologischen
Auffälligkeiten (Desorientiertheit, Verwirrtheit, Erregungszustände)
• Gastrointestinale Symptome: Übelkeit, Erbrechen, Diarrhö
• Vital bedrohliche Komplikationen: Krampfanfälle, Herzrhythmusstörungen, Koma, Multiorganversagen, Verbrauchskoagulopathie
Um ein potenziell lebensbedrohliches serotonerges Syndrom frühzeitig zu erkennen, muss jeder Patient über die Symptomatik aufgeklärt werden.

Kasuistik
Serotonerges Syndrom
Eine 25-jährige Patientin wird seit 3 Tagen erstmals wegen einer depressiven Episode mit dem SSRI Fluoxetin behandelt. Nach anfänglich relativ guter
Verträglichkeit entwickelt sich innerhalb von 24  h ein Krankheitsbild mit gastrointestinalen Symptomen (Übelkeit, Erbrechen und Diarrhö), Fieber bis
38,5 °C, Tremor und leichtem Rigor sowie einem Erregungszustand und zeitlicher Desorientiertheit. Aufgrund des akuten Zustandsbilds wird die Patientin
stationär aufgenommen. Es wird die Verdachtsdiagnose eines serotonergen Syndroms gestellt und die Medikation sofort abgesetzt. Symptomatisch erfolgt
die Therapie mit Benzodiazepinen. Innerhalb von 4 Tagen bildet sich das akute Krankheitsbild komplett zurück, und es erfolgt eine Weiterbehandlung mit
Bupropion.
Ein Absetzen der Medikation ist bei einem serotonergen Syndrom in ca. 90 % der Fälle ausreichend. Bei Persistenz kann ggf. eine Behandlung mit dem
Serotonin-Antagonisten Cyproheptadin erfolgen.

Da Thrombozyten bei herabgesetztem Serotoningehalt eine verminderte Aggregationsfähigkeit aufweisen, kann es unter Antidepressiva mit Hemmung der
Serotoninwiederaufnahme (SSRIs, SSNRIs) bereits nach 1–2 Wochen selten zu einer verlängerten Blutungszeit und / oder Blutungen (z. B. gastrointestinale
und gynäkologische Blutungen, Haut- oder Schleimhautblutungen, möglicherweise auch zu intrakraniellen Blutungen) kommen. Patienten, die
Thrombozytenaggregationshemmer oder eine Antikoagulation erhalten oder Blutungsanomalien in der Vorgeschichte aufweisen, sollten bevorzugt mit
alternativen Substanzen wie z. B. Mirtazapin oder Bupropion behandelt werden. Bei einem anamnestisch erhöhten Risiko für gastrointestinale Blutungen sollte
prophylaktisch ein Protonenpumpenhemmer eingesetzt werden.

Wechselwirkungen
Vor allem wenn die älteren SSRIs Fluvoxamin, Paroxetin oder Fluoxetin mit TZA kombiniert werden, kann die Konzentration der Trizyklika durch Inhibition
von CYP450-Enzymen stark ansteigen (➤ ; ➤ ). Das Interaktionsrisiko hält bei Fluoxetin aufgrund der langen HWZ noch 2–8 Wochen an. Bei Kombination
mit MAO-Hemmern besteht die Gefahr eines Serotonin-Syndroms, weshalb die Kombination kontraindiziert ist.

Selektive Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRIs)


Der SNRI Reboxetin hemmt selektiv die Noradrenalin-Wiederaufnahme in das präsynaptische Nervenende, während die Serotonin-Wiederaufnahme nicht oder
kaum beeinflusst wird. Die Substanz ist nicht mehr erstattungsfähig, da eine neue Auswertung aller verfügbaren Studiendaten keine Überlegenheit gegenüber
einer Placebobehandlung nachweisen konnte. Als vorwiegend noradrenerg wirksame Alternative steht das TZA Nortriptylin (Nortriptylin Glenmark®) zur
Verfügung.

Duale Noradrenalin- und Dopamin-Wiederaufnahmehemmer (SNDRIs)


Der SNDRI Bupropion ist in Deutschland seit Mitte 2007 als Antidepressivum zugelassen, in den USA war es schon seit Jahren auf dem Markt. Bupropion hat
einen einzigartigen Wirkmechanismus und bietet sich als nichtsedierendes und antriebssteigerndes Antidepressivum insbesondere als Alternative zu oder zur
Kombination mit SSRIs an, wenn diese allein nicht wirksam sind. Vorteile liegen in einer fehlenden Gewichtszunahme und einem geringen Risiko sexueller
Funktionsstörungen (➤ ).

Nebenwirkungen und Wechselwirkungen


Wichtige Nebenwirkungen sind Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen, Mundtrockenheit, Übelkeit und Erbrechen. In hohen Dosen wurden Krampfanfälle
beschrieben, sodass es bei entsprechender Vorgeschichte kontraindiziert ist. Ebenfalls kontraindiziert ist eine Kombination mit MAO-Hemmern. Da Bupropion
CYP2D6 stark hemmt, ist bei einer Kombinationsbehandlung mit Medikamenten, die Substrate an diesem Enzym sind, Vorsicht geboten (➤ ; ➤ ). Bupropion
ist instabil, sodass Hydroxybupropion die pharmakologisch aktive Hauptkomponente darstellt. Der Plasmaspiegelkonzentrationsbereich bezieht sich daher auch
nur auf diesen Metaboliten (➤ in ➤ ).

Duale Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SSNRIs)


Die dualen SSNRIs Venlafaxin, Duloxetin und Milnacipran hemmen die Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahme in das präsynaptische Neuron.
Das Verhältnis der Serotonin- zur Noradrenalin-Wiederaufnahme unterscheidet sich bei den Substanzen: Es beträgt bei Venlafaxin 1 : 30, bei Duloxetin 1 : 9
und bei Milnacipran 1 : 1,6. Bei Venlafaxin wird daher die Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmung erst bei höheren Dosen (ab ca. 225 mg) erreicht, während
die Wiederaufnahmehemmung bei Duloxetin und Milnacipran schon bei niedrigeren Dosen ausgeglichener ist. Metaanalysen zeigen, dass Venlafaxin (nicht
jedoch Duloxetin) einer SSRI-Behandlung überlegen ist. Venlafaxin kann daher zum Einsatz kommen, wenn eine initiale SSRI-Behandlung nicht zum
gewünschten Erfolg führt.

Nebenwirkungen und Wechselwirkungen


SSNRIs weisen die Nebenwirkungen der SSRIs auf (v. a. Übelkeit, Kopfschmerzen), zu denen insbesondere bei hohen Dosen gehäuft Blutdruckerhöhungen
und Schwitzen dazukommen. Wegen der antriebssteigernden Wirkung sollten die SSNRIs nicht nach 15 Uhr eingenommen werden.
Wichtige Wechselwirkungen der SSNRIs sind ➤ und ➤ zu entnehmen. Eine Kombination mit MAO-Hemmern ist wegen der Gefahr eines Serotonin-
Syndroms kontraindiziert. Milnacipran hat den Vorteil, dass es nicht hepatisch metabolisiert und weitgehend unverändert über die Nieren ausgeschieden wird.
Es kann daher bei Polypharmazie günstig eingesetzt werden.

α 2 -Antagonisten
Der α 2 -Antagonist Mianserin und seine Weiterentwicklung Mirtazapin wirken wie oben beschrieben (➤ ).
Durch die sedierende Komponente infolge einer Blockade von Histamin-Rezeptoren werden sie gern bei agitierten Depressionen mit Schlafstörungen
gegeben. Sie antagonisieren darüber hinaus über die Blockade von 5-HT 2 - und 5-HT 3 -Rezeptoren auch SSRI-Nebenwirkungen wie Übelkeit und Unruhe
bzw. sexuelle Funktionsstörungen, sodass sie oft auch in Kombination mit SSRIs gegeben werden. Diese Kombination macht auch zur Augmentierung der
antidepressiven Wirkung der SSRIs Sinn, da damit verschiedene antidepressive Wirkprinzipien kombiniert werden (➤ ).

Wichtige Nebenwirkungen
Durch den blockierenden Effekt auf Histamin-(H 1 )- und 5-HT 2 -Rezeptoren führt Mirtazapin zur Sedierung und auch häufig zu einer Gewichtszunahme.
Weitere besondere Nebenwirkungen sind anormale Träume, periphere Ödeme und Induktion eines Restless-Legs-Syndrom.

Weitere Antidepressiva
Das Antidepressivum Trimipramin hemmt nur unwesentlich die Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahme und hat einen schwachen
dopaminantagonistischen Effekt. Trimipramin hat ausgeprägte anticholinerge und antiadrenerge Effekte. Aufgrund seiner stark sedierenden Wirkung wird es
häufig zur Behandlung von Schlafstörungen gegeben, aber nicht mehr zur Monotherapie depressiver Störungen.
Das pflanzliche Antidepressivum Johanniskraut (Hypericum perforatum) kann bei leichten bis mittelschweren Depressionen eingesetzt werden. Der
Wirkmechanismus liegt wahrscheinlich u. a. in einer leichten Hemmung der Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahme. Da es ein Induktor des CYP3A4-
Enzyms ist, können die Wirkspiegel von CYP3A4-Substraten wie z. B. Digoxin oder Ciclosporin abfallen (Vorsicht Wirkverlust!).
Das 2009 eingeführte Antidepressivum Agomelatin ist ein Agonist an den Melatonin-Rezeptoren MT 1 und MT 2 und ein Antagonist an 5-HT 2 c -Rezeptoren,
über die es zu einer Verstärkung der dopaminergen und noradrenergen Neurotransmission kommen soll. Kontraindikationen sind Leberfunktionsstörungen
(Transaminasen regelmäßig überprüfen!) und Kombinationen mit CYP1A2-Inhibitoren wie Ciprofloxacin und Fluvoxamin, da Agomelatin über CYP1A2
metabolisiert wird und dadurch die Plasmaspiegel ansteigen können. Agomelatin ist zwar meist gut verträglich, kann aber selten zu schwerwiegenden und
potenziell irreversiblen Leberschädigungen führen, weshalb regelmäßige Leberfunktionskontrollen vorgeschrieben sind.
Der Wirkmechanismus von Tianeptin (Markteinführung in Deutschland 2012) ist unklar. Es soll über eine Verstärkung der Serotonin-Wiederaufnahme die
extrazelluläre Serotonin-Konzentration erniedrigen (Serotonin-Reuptake-Enhancement, SRE). Daneben werden neuroprotektive und neurotrophe Effekte sowie
eine Modulation der glutamatergen und dopaminergen Transmission angenommen. Tianeptin wird hauptsächlich renal eliminiert. Es ist schwach wirksam und
muss wegen seiner kurzen HWZ 3  × täglich gegeben werden. Fälle von Missbrauch und Abhängigkeit wurden beschrieben (vermutlich wegen der
dopaminergen Wirkkomponente).
Der duale 5-HT 2a -Antagonist und Serotonin-Wiederaufnahmehemmer Trazodon wirkt als SSRI und blockiert Serotonin-Typ-II-Rezeptoren. Da es dadurch
Nebenwirkungen der SSRIs antagonisieren kann und zusätzlich sedierend wirkt, kann es in Kombination mit SSRIs (Monotherapie ist nicht ausreichend) oder
auch als reines Schlafmittel eingesetzt werden. Als relevante Nebenwirkung ist ein Priapismus infolge der Antagonisierung der Serotonin-Rezeptoren
beschrieben.
Vortioxetin (Markteinführung 2015) ist ein Serotonin-Wiederaufnahmehemmer mit zusätzlich antagonistischen Eigenschaften an 5-HT 3 -, 5-HT 1D - und 5-
HT 7 -Rezeptoren sowie partiellem Agonismus an 5-HT 1 B -Rezeptoren und agonistischen Eigenschaften am 5-HT 1 A -Rezeptor. Dadurch soll es zu einer
verstärkten Freisetzung von Serotonin, Noradrenalin und Dopamin sowie von Acetylcholin und Histamin kommen. Vortioxetin ist ein starker SSRI mit den
entsprechenden Nebenwirkungen. Eine Überlegenheit gegenüber anderen SSRIs kann nicht bescheinigt werden. Ob es kognitive Störungen bei Depression
besonders gut bessert, ist umstritten. Die Plasma-HWZ ist mit 66 h vergleichsweise lang, die Metabolisierung erfolgt hauptsächlich über 2D6, aber auch über
weitere CYP450-Enzyme (➤ ).

3.2.3. Stimmungsstabilisierer („Phasenprophylaktika“)


Definition
Stimmungsstabilisierer oder „Phasenprophylaktika“ sind Substanzen, die zur Stabilisierung depressiver und  /  oder manischer Stimmungsschwankungen im
Rahmen affektiver und schizoaffektiver Störungen eingesetzt werden. Im klinischen Gebrauch sind:

• Lithium
• Valproinsäure
• Carbamazepin
• Lamotrigin

Auch verschiedene Antipsychotika wie z. B. Aripiprazol, Olanzapin oder Quetiapin werden als Stimmungsstabilisierer eingesetzt, wenn die Akutbehandlung
einer manischen oder depressiven Episode mit diesem Medikament erfolgreich war (Einzelheiten ➤ ; ➤ ).

Lithium
Die Hauptindikation für Lithium (Li) besteht in der Prophylaxe bipolarer (manisch-depressiver) und unipolar depressiv verlaufender affektiver Störungen.
Weitere Indikationen sind die Behandlung und Prophylaxe schizoaffektiver (v. a. schizomanischer) Psychosen sowie die Behandlung von Depressionen, wenn
Antidepressiva allein nicht ausreichend sind (Lithiumaugmentation) (➤ ).

Tab. 3.8 Indikationen von Stimmungsstabilisierern zur Behandlung affektiver Störungen


Indikation Stimmungsstabilisierer
Rezidivprophylaxe von Depressionen im Rahmen Lithium (Quilonum® ret.)
unipolarer Depressionen

Rezidivprophylaxe von Depressionen im Rahmen Lamotrigin (Lamictal®) , Lithium (Quilonum® ret.) , Carbamazepin (Tegretal® ret.)
bipolarer Störungen

Rezidivprophylaxe von Manien im Rahmen Valproinsäure (Ergenyl® chrono) , Lithium (Quilonum® ret.) , Carbamazepin (Tegretal® ret.)
bipolarer Störungen

Akuttherapie euphorischer Manien Lithium (Quilonum® ret.) , Valproinsäure (Ergenyl® chrono)

Akuttherapie dysphorischer / gereizter Manien Valproinsäure (Ergenyl® chrono) , Carbamazepin (Tegretal® ret.)

Akuttherapie gemischter Episoden Lamotrigin (Lamictal®)

Therapie des bipolaren Rapid Cycling Valproinsäure (Ergenyl® chrono), Carbamazepin (Tegretal® ret.) , Lamotrigin (Lamictal®) (wenn
depressive Episoden im Vordergrund stehen)
für diese Indikation zugelassen; ret. = retard

Pharmakokinetik und Wechselwirkungen


Lithiumsalze werden nach oraler Gabe vollständig aus dem Magen-Darm-Trakt resorbiert und erreichen nach 1–3 h maximale Serumspiegel.
Lithium wird weder an Plasmaproteine gebunden noch metabolisiert, sondern unverändert über die Nieren ausgeschieden.
Die Li-Clearance liegt bei etwa 20 % der Kreatinin-Clearance. Da sie von Patient zu Patient stark schwankt, muss Lithium individuell entsprechend dem
erreichten Plasmaspiegel dosiert werden. Bei älteren Patienten sind geringere Tagesdosen zum Erreichen therapeutischer Serumspiegel notwendig, weil die
GFR im Alter abnimmt.
Die HWZ von Lithium beträgt ca. 24 h, sodass erst nach etwa 5–6 Tagen Steady-State-Bedingungen erreicht werden. Daher sind Kontrollen der Li-Spiegel
außer beim Auftreten von Intoxikationssymptomen erst 5–6  Tage nach einer Dosisänderung sinnvoll. Aufgrund der geringen therapeutischen Breite von
Lithium sind regelmäßige Serumspiegelkontrollen notwendig.

Merke
Wegen der geringen therapeutischen Breite von Lithium können Intoxikationssymptome (s. u.) rasch auftreten. Auch
die Gefahr einer Überdosierung in suizidaler Absicht sollte in diesem Zusammenhang bedacht werden!

Li-Salze stehen als rasch resorbierbare Tabletten und in Retardform zur Verfügung. Durch Verwendung der Retardform werden gleichmäßige Serumspiegel
erreicht und Serum-Lithiumspitzen verhindert, sodass Nebenwirkungen i. d. R. schwächer ausgeprägt sind.
In ➤ sind mögliche Arzneimittelinteraktionen von Lithium aufgeführt.
Tab. 3.9 Arzneimittelinteraktionen von Lithium
Substanz Einfluss auf Li-Spiegel bzw. Li-Neurotoxizität
Thiaziddiuretika, Schleifendiuretika Intoxikationsgefahr durch verminderte Li-Ausscheidung

Kochsalzarme Diät Intoxikationsgefahr infolge gesteigerter Resorption von Lithium mit Anstieg des
Serumspiegels

Nichtsteroidale Antiphlogistika (z. B. Diclofenac, Ibuprofen, Anstieg des Li-Spiegels infolge verminderter Lithiumausscheidung
Piroxicam)

Tetrazykline Erhöhte Li-Spiegel

ACE-Hemmer (z. B. Enalapril) Verminderte Li-Ausscheidung

Kalziumantagonisten (z. B. Verapamil, Diltiazem) Erhöhte Neurotoxizität bei normalen Plasmakonzentrationen

Carbamazepin Erhöhte Neurotoxizität bei normalen Plasmaspiegeln

Phenytoin Erhöhte Li-Toxizität

Eine Kombination von Lithium mit tri- und tetrazyklischen Antidepressiva ist i. d. R. unproblematisch. Allerdings besteht bei gleichzeitiger Gabe von SSRIs
oder SSNRIs oder auch v. a. serotonerg wirkenden TZA wie z. B. Clomipramin die erhöhte Gefahr eines serotonergen Syndroms, weshalb auf entsprechende
Symptome genau geachtet werden muss (s. o.).

Kasuistik
Wechselwirkungen mit Lithium
Eine 65-jährige Patientin wurde im Rahmen einer bipolaren Störung mit Lithium (Spiegel 0,7 mmol / l) behandelt. Wegen Schmerzen im Rahmen einer
Koxarthrose wurde sie für 12  Tage mit Diclofenac therapiert. Im Laufe von 5  Tagen stellten sich Apathie, psychomotorische Verlangsamung,
Vigilanzstörungen, Rigor und Fieber als Zeichen einer Li-Intoxikation ein. Der gemessene Li-Spiegel lag bei 1,9  mmol  /  l. Das nichtsteroidale
Antiphlogistikum hatte die renale Exkretion von Lithium gehemmt und damit zu einer Li-Intoxikation geführt.

Wirkmechanismus
Der Wirkmechanismus von Lithium ist bisher noch nicht geklärt. Es wird diskutiert, dass Lithium über eine Beeinflussung von G-Proteinen regulierend in die
Funktion verschiedener Neurotransmitter wie z.  B. Serotonin, GABA, Dopamin oder Acetylcholin eingreift. Von größerer Bedeutung scheint jedoch der
Einfluss auf Second-Messenger- und Signaltransduktionsprozesse zu sein, wie z. B. die Hemmung der Adenylatcyclase und des Phosphatidyl-Inositol-Systems,
Interaktionen mit der Proteinkinase C oder Hemmung des Proteins GSK-3β.

Nebenwirkungen und Kontraindikationen


Wie in ➤ dargestellt, muss zwischen initialen Nebenwirkungen einer Therapie mit Lithium und Nebenwirkungen bei längerer Anwendung unterschieden
werden. Am häufigsten sind folgende Nebenwirkungen:

• Feinschlägiger Tremor: kann mit Betablockern wie z. B. Propranolol (10–40 mg) behandelt werden
• Polyurie und Polydipsie
• Gastrointestinale Nebenwirkungen in Form von Magenschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Diarrhö
• Strumabildung
• Gewichtszunahme
• Verlängerung des QT-Intervalls im EKG
Abb. 3.8 Nebenwirkungen von Lithium [M515 / L141]

Die Compliance wird am stärksten durch den feinschlägigen Tremor, die Gewichtszunahme und gelegentlich auftretende Gedächtnisstörungen gefährdet.
Kontraindikationen für eine Therapie mit Lithium sind im folgenden Klinikkasten dargestellt. Eine Schwangerschaft wird heute nicht mehr als
Kontraindikation für Lithium angesehen (➤ ).

Klinik
Kontraindikationen für Lithium

• Schwere Nierenfunktionsstörungen (Niereninsuffizienz, Glomerulonephritis, Pyelonephritis)


• Morbus Addison = Nebenniereninsuffizienz
• Schwere Herz- und Kreislauferkrankungen (z. B. schwere Herzinsuffizienz)
• Störungen des Na-Haushalts (z. B. Hyponatriämie)
• Psoriasis (Lithium kann eine bestehende Psoriasis verschlechtern)

Richtlinien der Therapie mit Lithium

Vor Therapiebeginn
Wichtig ist, den Patienten vor Therapiebeginn ausführlich über mögliche Nebenwirkungen und ein um bis zu 6  Monate verzögertes Einsetzen der
prophylaktischen Wirkung von Lithium aufzuklären. Ein Wiederauftreten von Symptomen in diesem Zeitraum darf nicht als Zeichen der Wirkungslosigkeit
von Lithium angesehen werden und zum Absetzen führen! Die antimanische Wirkung von Lithium setzt dagegen schon mit einer Latenz von ca. 5–7 Tagen
ein, die augmentierende Wirkung einer Antidepressiva-Therapie innerhalb von 2–4 Wochen.
Weiterhin muss das Vorliegen möglicher Kontraindikationen für eine Behandlung mit Lithium (s.  o. Klinikkasten) geprüft werden. Im Anschluss werden
einige Kontrolluntersuchungen durchgeführt (➤ ).
Tab. 3.10 Notwendige Kontrolluntersuchungen vor und während einer Behandlung mit Lithium
Vor Therapiebeginn Während der Behandlung
Anamnese und Untersuchung Anamnese und Untersuchung
• Erfassung von Kontraindikationen • Wirkungen und Nebenwirkungen
• Halsumfang • Schilddrüse (Struma? Halsumfang)
• Körpergewicht • Körpergewicht
• RR und Puls • RR

Labor Labor
• Kreatinin-Clearance • Kreatinin-Clearance 1 × / Jahr
• Urinstatus • Urinstatus
• Schilddrüsenwerte • Schilddrüsenwerte
• Blutbild • Blutbild
• Elektrolyte • Elektrolyte

EEG, EKG EKG mindestens 1 × / Jahr

Kontrollen des Li-Spiegels


• im 1. Monat wöchentlich
• im 1. Halbjahr monatlich
• danach alle 3 Monate

Hauptphase der Therapie

• Einschleichender Beginn der Li-Behandlung bei Einleitung einer stimmungsstabilisierenden Therapie oder Li-Augmentation. Bei Therapie einer
akuten Manie und unter stationären Bedingungen kann auch mit der sofortigen Gabe einer mittleren Tagesdosis begonnen werden (z. B. 2 × 0,5–1 
Tbl. Quilonum® ret.).
• Nach 1 Woche Bestimmung des Serum-Lithiumspiegels mit einer Blutentnahme genau 12 ± ½ h nach der letzten Gabe. Da Lithium meist 2 × / d
gegeben wird (morgens und abends), empfiehlt es sich, den Serumspiegel morgens um 8:00 Uhr, d. h. 12 h nach der letzten Einnahme um 20:00
Uhr, zu bestimmen. Dann erfolgt eine entsprechende Anpassung der Dosis, bis der therapeutische Spiegel für die prophylaktische Wirkung mit
Werten zwischen 0,5 und 0,8 mmol / l erreicht ist. Der therapeutische Spiegel für die Akutbehandlung der Manie liegt zwischen 0,8 und 1,2 mmol / 
l.
• Bei Werten < 0,5 mmol / l besteht wahrscheinlich keine prophylaktische Wirkung mehr, bei Werten > 1,2 mmol / l treten verstärkt unerwünschte
Nebenwirkungen auf.
• Notwendige Kontrolluntersuchungen während einer Therapie mit Lithium (➤ .

Beendigung der Therapie


Die Dauer der Therapie richtet sich nach der vorliegenden Erkrankung (➤ ). Lithium sollte immer ausschleichend abgesetzt werden, wobei sich die
Dosisreduktion i. d. R. über mehrere Monate hinziehen sollte. Lithium darf niemals abrupt abgesetzt werden, da dann das Rezidivrisiko stark erhöht ist.

Intoxikation
Eine Lithiumintoxikation liegt bei Serumspiegeln > 1,6 mmol / l vor, eine vitale Gefährdung des Patienten besteht ab Serumspiegeln von 3,0 mmol / l.
Wichtig ist die Kenntnis der Initialsymptome einer Intoxikation, um frühzeitig therapeutische Maßnahmen ergreifen zu können. Diese umfassen
Schläfrigkeit, Schwindel, verwaschene Sprache und Ataxie sowie Erbrechen, Durchfall und grobschlägigen Tremor der Hände. Später können Rigor,
Reflexsteigerung und Krampfanfälle hinzukommen. Sehr hohe Li-Spiegel führen zu Bewusstlosigkeit und Tod.
Als Ursachen einer Lithiumintoxikation kommen Suizidversuche und unkontrolliertes Einnehmen der Lithiummedikation infrage. Sie kann aber auch
sekundär auftreten als Folge einer kochsalzarmen Diät (verminderte Li-Ausscheidung), einer Kombination mit Diuretika (verminderte Li-Ausscheidung bei
verstärkter Natriurese, daher Diuretika kontraindiziert!), einer Niereninsuffizienz oder eines Flüssigkeitsverlusts im Rahmen einer interkurrenten Erkrankung.
Entscheidend ist, dass Lithium die Na-Rückresorption im distalen Tubulus hemmt, wodurch es zu einer verstärkten Rückresorption von Na und Li am
proximalen Tubulus kommt. Alle renalen Funktionseinschränkungen mit Na-Verlust führen also zu einer verstärkten proximalen Li-Rückresorption.
Ein spezifisches Antidot zur Behandlung der Lithiumintoxikation ist unbekannt. Bei Auftreten eines der o. g. Symptome ist Lithium sofort abzusetzen und
der Li-Spiegel zu bestimmen. Bei hohen Li-Spiegeln wird eine intensivmedizinische Betreuung notwendig. Therapiemaßnahmen umfassen forcierte Diurese
sowie Peritoneal- oder Hämodialyse.

Carbamazepin

Klinische Wirkung und Indikationen


Das strukturchemisch dem Imipramin sehr ähnliche Antiepileptikum Carbamazepin wird nicht nur zur Behandlung von zerebralen Anfallsleiden sowie zum
Anfallsschutz im Rahmen des Benzodiazepin- und Alkoholentzugs, von Schmerzsyndromen (z. B. Trigeminusneuralgie, Migräne, Clusterkopfschmerz) oder
Neuropathien eingesetzt, sondern auch zur Behandlung bipolarer Erkrankungen. Hier ist Carbamazepin zugelassen zur Phasenprophylaxe bipolarer affektiver
Störungen, wenn Lithium nicht oder nicht ausreichend wirksam ist oder wenn Kontraindikationen gegen Lithium bestehen (➤ ). Gegenüber Lithium hat es
wahrscheinlich Vorteile in der Behandlung schizoaffektiver Störungen, in der Akutbehandlung von Manien ist es der Valproinsäure unterlegen. Für beide
Indikationen ist Carbamazepin nicht zugelassen.

Pharmakokinetik und Wechselwirkungen


Carbamazepin wird mit 2–8  h relativ langsam resorbiert und hat eine Bioverfügbarkeit von ca. 80  %. Es ist zu 80  % an Serum-Albumine gebunden.
Carbamazepin wird hauptsächlich über CYP3A4 zum Carbamazepin-10,11-Epoxid metabolisiert, das selbst antiepileptische Eigenschaften aufweist,
andererseits wahrscheinlich aber auch für die toxischen Effekte verantwortlich ist. Bei Monotherapie besteht ein Verhältnis von Carbamazepin zum Epoxid von
ca. 10 : 1. Das Carbamazepin-10,11-Epoxid wird weiter durch Epoxidhydrolase abgebaut.
Nachteile einer Anwendung von Carbamazepin sind insbesondere die Arzneimittelinteraktionen. So induziert Carbamazepin die Aktivität der CYP450-
Isoenzyme 1A2, 2C9, 2C19 und v.  a. 3A4 sowie Glucuronyltransferase und Epoxidhydrolase in der Leber (➤ ), wodurch es nicht nur seinen eigenen
Metabolismus fördert (mit der Folge eines Serumspiegelabfalls; daher sind anfangs regelmäßige Dosisanpassungen nötig), sondern auch den anderer
Medikamente. Dadurch kann es z. B. zum Wirkverlust gleichzeitig verordneter Antidepressiva oder Antipsychotika kommen (genauere Ausführungen s. a.
Arzneimittelinteraktionen von Antidepressiva, ➤ ). Auch ist zu beachten, dass die Wirkung oraler Kontrazeptiva vermindert ist. Auf der anderen Seite
können einige Medikamente den Carbamazepin-Metabolismus über CYP3A4 hemmen, sodass die Carbamazepin-Spiegel ansteigen können (➤ ). Zu nennen
sind z.  B. Verapamil und Erythromycin. Bei einer Kombination mit Valproinsäure können die Valproinsäure-Spiegel durch eine Stimulation der
Glucuronyltransferase sinken.

Wirkmechanismus
Der Wirkmechanismus von Carbamazepin ist weitgehend unbekannt. Ein möglicher Mechanismus sind die Blockierung spannungsabhängiger Natriumkanäle
bzw. kalziumantagonistische Effekte. Inwieweit Carbamazepin auf noradrenerge, serotonerge oder dopaminerge Neurone wirkt, ist bisher noch nicht geklärt.

Nebenwirkungen und Kontraindikationen


Häufige Nebenwirkungen sind Sedierung, Benommenheit, Schwindel, Doppelbilder, Nystagmus und Ataxie, die insbesondere zu Beginn und bei schneller
Aufdosierung auftreten.
Wichtige und nicht selten auftretende Nebenwirkungen sind allergische Hauterscheinungen mit / ohne Fieber. Eine sehr seltene Dermatitis exfoliativa bei
Stevens-Johnson- bzw. Lyell-Syndrom ist lebensbedrohlich.

Klinik
Beim Auftreten allergischer Hautreaktionen kann ein Umstellungsversuch auf ein anderes Präparat manchmal hilfreich sein.

Häufig sind initiale Veränderungen der Leberfunktionswerte, eine Hyponatriämie und Blutbildveränderungen (Leukozytose, Eosinophilie, Leukopenie,
Thrombozytopenie) sowie kardiale Überleitungsstörungen.
Besonders zu beachten ist auch das sehr seltene Auftreten einer Agranulozytose (Risiko 1: 20.000–50.000). Daher sind in den ersten Wochen der Therapie
wöchentliche und später monatliche Kontrollen des Differenzialblutbilds erforderlich. Die Kombination mit anderen potenziell knochenmarktoxischen
Substanzen wie Clozapin oder Mianserin ist kontraindiziert.

Merke
Besonders bei raschem Aufdosieren können unter Carbamazepin Sedierung, Schwindel, Doppelbilder, Nystagmus und
Ataxie auftreten.
Häufige Nebenwirkungen sind allergische Hautreaktionen, Transaminasenerhöhung, Hyponatriämie und
Blutbildveränderungen. Sehr selten tritt eine Agranulozytose auf.

Kontrolluntersuchungen und therapeutische Richtlinien


Wegen der o. g. Nebenwirkungen ist es notwendig, vor der Behandlung, im ersten Monat der Therapie wöchentlich und danach monatlich Leberfunktionswerte
und das Blutbild inkl. Differenzialblutbild zu bestimmen. Kreatinin und Elektrolyte sind monatlich zu kontrollieren. Auch sollten vor Therapiebeginn und im
Verlauf Herzrhythmus- und Überleitungsstörungen durch ein EKG ausgeschlossen werden, da Carbamazepin kardiale Erregungsleitungsstörungen verursachen
kann.
Carbamazepin sollte einschleichend dosiert werden, da v.  a. bei Therapiebeginn Nebenwirkungen wie Müdigkeit, Schwindel oder ataktische Störungen
auftreten können.
Wie bei der antikonvulsiven Therapie sollten Serumspiegel zwischen 4 und 10 (12) μg/ml angestrebt werden, für die Dosen zwischen 400 und 1.600 mg / d
benötigt werden. Um konstante Plasmaspiegel zu erhalten, werden Retardformen verwendet, die eine einmalige Gabe am Abend oder eine Gabe morgens und
abends ermöglichen.

Valproinsäure (Valproat)

Klinische Wirkung und Indikationen


Valproinsäure (Valproat) ist zur Akutbehandlung von Manien (wenn Lithium kontraindiziert ist oder nicht vertragen wird) und zur Prophylaxe bipolarer
Störungen (v. a. bei überwiegend manischen Episoden) zugelassen (➤ ).

Pharmakokinetik und Wechselwirkungen


Wie bei Carbamazepin unterliegt die Pharmakokinetik von Valproinsäure starken individuellen Unterschieden, sodass die Dosis individuell angepasst werden
muss. Die Resorptionsrate bei oraler Gabe ist fast vollständig, die Bioverfügbarkeit liegt bei nahezu 100 %. Wie die anderen Antiepileptika wird Valproinsäure
zum großen Teil an Plasmaproteine gebunden. Valproinsäure wird im Wesentlichen durch Glucuronidierung metabolisiert.
Wichtig ist auch, dass Valproinsäure den freien Carnitin-Plasmaspiegel reduziert, wodurch es zu einer Hyperammonämie und ggf. Enzephalopathie kommen
kann. Bei Kombination mit Antikoagulanzien oder Antiaggreganzien kann es zu einer erhöhten Blutungsneigung kommen (regelmäßig Gerinnungswerte
kontrollieren). Da Valproinsäure den Abbau von Lamotrigin hemmt, muss bei Kombination beider Medikamente vorsichtig vorgegangen werden. Durch eine
Stimulation der Glucuronyltransferase bei Komedikation mit Carbamazepin können die Plasmaspiegel von Valproinsäure sinken.

Nebenwirkungen
Insgesamt wird Valproinsäure recht gut vertragen. Die wichtigsten Nebenwirkungen bei einer Therapie mit Valproinsäure sind:

• Gastrointestinale Nebenwirkungen: treten meist nur initial auf und sind seltener als bei Carbamazepin oder Lithium.
• Tremor und Ataxie: treten meist nur initial auf.
• Sedierung: Eine Sedierung ist insbesondere bei der Akutbehandlung bipolarer Störungen zu Beginn der Behandlung erwünscht, kann aber selten
fortbestehen und in der Phasenprophylaxe dann ungünstig sein.
• Transaminasenerhöhung: ist meist reversibel und zwingt meist nicht zum Absetzen. Die Leberenzyme müssen aber engmaschig überprüft werden,
da – v. a. im Kindes- und Jugendalter auftretend – toxisches Leberversagen die wichtigste Nebenwirkung von Valproat ist. Eine sehr seltene, aber
bedrohliche Nebenwirkung kann auch die Induktion einer Pankreatitis sein.
• Thrombozytopenie und Leukozytopenie.
• Gewichtszunahme: nicht selten und bzgl. der Compliance problematisch.

Valproinsäure hat teratogene Effekte, die v. a. in der Induktion von Neuralrohrdefekten (Spina bifida) bestehen.

Kontrolluntersuchungen und therapeutische Richtlinien


Blutbild, Kreatinin, Leberwerte, Amylase und Lipase sowie Gerinnungsparameter (selten Thrombozytopenien, Koagulopathien) müssen während der
Behandlung zumindest monatlich kontrolliert werden, Pankreasenzyme sofort bei klinischem Verdacht auf Pankreatitis.
Beim akuten manischen Syndrom kann Valproat in einer Dosis von 20 mg / kg KG am ersten Tag (z. B. 1.500 mg bei 75 kg) gegeben werden (Pulse-loading-
Therapie). Der Verzicht auf das langsame Aufdosieren hat hier einen schnelleren Wirkungseintritt zur Folge. Diese Form der Therapie wird heute allerdings
kaum noch durchgeführt, da Antipsychotika höhere Effektstärken haben als Valproinsäure und leichter anwendbar sind.
Ansonsten wird Valproinsäure langsamer aufdosiert (Beginn mit 500–1.000  mg). Eine Plasmakonzentration von 50–100  μg  /  ml wird sowohl in der
Akutbehandlung als auch in der Rezidivprophylaxe angestrebt. Bei akuten Manien werden auch höhere Plasmaspiegel gut vertragen.

Lamotrigin
Klinische Wirkung und Indikationen
Neben Lithium und den Antiepileptika Valproinsäure und Carbamazepin hat sich auch das Antiepileptikum Lamotrigin in kontrollierten Studien insbesondere
zur Rezidivprophylaxe von Depressionen im Rahmen bipolarer affektiver Störungen und überwiegend depressiven Episoden als erfolgreich erwiesen.
Hierfür ist es auch zugelassen (➤ ). Darüber hinaus gibt es Hinweise für eine Wirksamkeit in der Akuttherapie von schweren bipolaren Depressionen und
gemischten Episoden. Demgegenüber sind die akuten antimanischen Effekte und die rezidivprophylaktischen Effekte bei Manien als gering einzuschätzen.
Lamotrigin muss zur Vermeidung gefährlicher Haut- und Schleimhautreaktionen (Dermatitis exfoliativa, Stevens-Johnson- und Lyell-Syndrom) sehr
langsam aufdosiert werden. In den ersten beiden Wochen müssen 25 mg / d und dann für weitere 2 Wochen 50 mg gegeben werden. Anschließend erfolgt eine
Steigerung um 50–100 mg alle 1–2 Wochen. Die Erhaltungsdosis liegt bei 100–200, max. 400 mg.

Pharmakokinetik, Wechselwirkungen und Nebenwirkungen


Ein Plasmaspiegelbereich für die therapeutische Wirksamkeit ist nicht etabliert (Normalbereich 1–6  μg  /  ml). Zur Phasenprophylaxe sollte der Wert
wahrscheinlich über 3,25 μg / ml liegen. Plasmaspiegelkontrollen und ggf. Dosisanpassungen sind u. a. erforderlich bei Komedikation mit:

• Valproinsäure, da Valproinsäure mit Lamotrigin um die hepatische Glucuronidierung konkurriert und so die Eliminations-HWZ auf 45–75 h
verlängert
• Carbamazepin, da Carbamazepin über eine Induktion der UDP-Glucuronosyl-Transferase die Eliminations-HWZ auf 9–14 h verkürzt (bei
Kombinationsbehandlung kann daher die Dosissteigerung schneller erfolgen
• östrogenhaltigen oralen Kontrazeptiva, da sie die Plasmakonzentration um 50 % senken

Sehr häufige Nebenwirkungen sind Kopfschmerzen, Somnolenz, Aggressivität, Übelkeit, Erbrechen, Hautausschlag (sehr selten Dermatitis exfoliativa),
Doppelbilder und Verschwommensehen.

3.2.4. Antipsychotika: Grundlagen


Als erste antipsychotisch wirkende Substanz beschrieben Delay und Deniker zu Beginn der 1950er-Jahre das Phenothiazin-Derivat Chlorpromazin. Zu den
weiteren ersten Antipsychotika gehörte das Ende der 1950er-Jahre eingeführte Butyrophenon-Derivat Haloperidol, das durch Janssen beschrieben wurde.

Definition
Der klinisch-therapeutische Effekt der Antipsychotika beruht in ihrer dämpfenden Wirkung auf psychomotorische Erregtheit, aggressives Verhalten sowie
psychotische Sinnestäuschungen, Wahndenken, katatone Symptome und Ich-Störungen. Wenn ein Pharmakon dieses Wirkprofil besitzt, sollte es unabhängig
davon, ob es extrapyramidalmotorisch wirksam ist oder nicht, als Antipsychotikum bezeichnet werden. Der Begriff Neuroleptika ist veraltet, da er impliziert,
dass antipsychotische Effekte mit extrapyramidalmotorischen Wirkungen und einer bestimmten „neuroleptischen Schwelle“ korreliert sind. Dies trifft v. a. auf
die Antipsychotika der 1. Generation, aber weniger auf die der 2. Generation zu. Daher wird im Folgenden auf den Begriff Neuroleptika zugunsten von
Antipsychotika verzichtet.

Indikationen
Wichtige Indikationen von Antipsychotika sind:

• Akutbehandlung und Rezidivprophylaxe der Schizophrenien


• Behandlung der akuten Manie und bipolarer Depressionen sowie Rezidivprophylaxe bipolarer Störungen
• Behandlung psychotischer (wahnhafter) Depressionen
• Behandlung akuter Erregungszustände, psychotischer Symptome oder Schlafstörungen im Rahmen anderer psychischer Störungen, z. B. bei
organischen psychischen Störungen
• Augmentierung einer Pharmakotherapie, z. B. bei Depressionen oder Zwangsstörungen

Klassifikation
Bei den Antipsychotika lassen sich zwei Gruppen unterscheiden:

• Antipsychotika der 1. Generation (früher: „klassische Neuroleptika“): wirken hauptsächlich über eine Blockade von Dopamin-D 2 -Rezeptoren und
verursachen damit extrapyramidalmotorische Nebenwirkungen
• Antipsychotika der 2. Generation (früher: atypische Neuroleptika): zeichnen sich meist durch einen anderen Wirkmechanismus aus und zeigen daher
keine oder vergleichsweise geringere extrapyramidalmotorische Nebenwirkungen

➤ zeigt den Zeitverlauf der Markteinführung der wichtigsten Antipsychotika.

Abb. 3.9 Zeitverlauf der Markteinführung von Antipsychotika [G791 / L141]

In diesem Kapitel werden zunächst allgemeine Aspekte der Antipsychotika vorgestellt; die einzelnen Substanzen werden in ➤ besprochen.

Antipsychotika der 1. Generation (früher: „klassische Neuroleptika“)


Die Antipsychotika der 1. Generation lassen sich hinsichtlich ihrer chemischen Struktur (➤ ) und ihrer neuroleptischen Potenz in verschiedene Gruppen
einteilen.
Tab. 3.11 Einteilung der Antipsychotika der 1. Generation nach der chemischen Struktur
Chemie Substanzen
Trizyklische Neuroleptika Phenothiazin-Derivate:
• Thioridazin, Perazin, Levomepromazin, Promethazin
• Chlorpromazin, Perphenazin
• Fluphenazin
Thioxanthen-Derivate: Chlorprotixen, Flupentixol

Butyrophenon-Derivate Haloperidol, Bromperidol, Benperidol, Trifluperidol

Diphenylbutylpiperidine Pimozid, Fluspirilen

Früher ging man davon aus, dass die antipsychotische Wirkung oberhalb einer sog. neuroleptischen Schwelle an die Verursachung
extrapyramidalmotorischer Nebenwirkungen durch D 2 -Rezeptor-Blockade gekoppelt sei. Dass dies eine unzureichende Vereinfachung der komplexen
Wirkmechanismen von Antipsychotika darstellt, wurde spätestens durch die Entwicklung des Antipsychotikums Clozapin (s.  u.) klar, das sehr gut
antipsychotisch wirkt, aber keine extrapyramidalmotorischen Nebenwirkungen verursacht.
Die neuroleptische Potenz eines Antipsychotikums der 1. Generation orientiert sich an der Wirkungsintensität des Chlorpromazins, dem per definitionem
die neuroleptische Potenz 1 übertragen wurde. Demnach unterscheidet man Substanzen mit

• niedriger Potenz: Potenz < 1,


• mäßiger Potenz: Potenz 1–10,
• hoher Potenz: Potenz 10–50 und
• sehr hoher Potenz: Potenz 50 bis > 400.

In ➤ sind die unterschiedlichen Wirkprofile nieder- und hochpotenter Antipsychotika aufgeführt. Aus dem unterschiedlichen Wirkprofil ergeben sich auch
die unterschiedlichen Einsatzbereiche der Antipsychotika der 1. Generation (s. Klinikkasten).

Tab. 3.12 Wirkprofile nieder- und hochpotenter Antipsychotika der 1. Generation


niederpotent hochpotent
Sedierung stark gering

Antriebshemmung stark gering

Antipsychotische Wirkung gering stark

Extrapyramidalmotorische Nebenwirkungen gering stark

Anticholinerge Nebenwirkungen eher stark gering

Antiemetische Wirkung schwach mittelstark

Antipsychotika der 2. Generation (früher: „atypische“ Neuroleptika)


Pharmakologisch handelt es sich bei den Antipsychotika der 2. Generation um eine sehr heterogene Gruppe von Substanzen ( ➤ ), deren
Rezeptorbindungsprofile (➤ ) im Gegensatz zu den Antipsychotika der 1. Generation (➤ ) mit Ausnahme von Amisulprid und Aripiprazol weniger im Bereich
der D 2 -Rezeptor-Blockade liegen. Damit führen sie auch seltener zu extrapyramidalmotorischen Nebenwirkungen einschließlich Spätdyskinesien (daher:
„atypisch“). Ein weiterer Unterschied ist die stärkere Blockade von H 1 -Rezeptoren, v. a. bei Olanzapin, Quetiapin und Clozapin, was deren erhöhtes Risiko für
Gewichtszunahme und ein metabolisches Syndrom erklärt. Bezüglich weiterer, für die antipsychotische Wirksamkeit als wichtig angesehener Rezeptoren wie D
1 - und 5-HT 2 -Rezeptoren gibt es keine systematischen Unterschiede zwischen den Antipsychotika der 1. und 2. Generation.
Abb. 3.10 Rezeptorbindungsprofile einiger Antipsychotika der 1. Generation an muscarinerg-cholinerge, adrenerge, dopaminerge und
serotonerge Rezeptoren in Hirnhomogenaten, dargestellt anhand der Dissoziationskonstanten (K D ) bzw. Inhibitionskonstanten (K i ) [F698-003 /
G787 / F1019 / L141]

Vergleichende Wirksamkeit der Substanzen


Die antipsychotische Wirksamkeit von Antipsychotika der 1. und 2. Generation ist in der Akutbehandlung produktiv-psychotischer Symptome schizophrener
Störungen durch Metaanalysen sehr gut belegt. Die Besserungsraten liegen bei ca. 75 % gegenüber einer Besserungsrate von 25 % unter Placebo. Zwischen
den einzelnen Substanzen gibt es deutliche Effektstärkenunterschiede (➤ und ➤ ). Eine grundsätzlich bessere Wirksamkeit der Zweit- gegenüber den
Erstgenerations-Antipsychotika ist aber nicht belegt. Dennoch ist der Vorteil der geringeren extrapyramidalmotorischen Nebenwirkungen der neueren
Antipsychotika (verminderte sekundäre Stigmatisierung der Patienten!) von großer Bedeutung. Nicht zuletzt daher (und obwohl auch sie erhebliche
Nebenwirkungen verursachen können) haben sich die Antipsychotika der 2. Generation in den letzten Jahren als Mittel der 1. Wahl bei der Behandlung
produktiv-psychotischer Symptome durchgesetzt. Ob sich Antipsychotika der 1. und 2. Generation in ihrer Wirksamkeit auf die schizophrene
Negativsymptomatik unterscheiden, ist umstritten.

Wirkmechanismen
Die Wirkmechanismen von Antipsychotika sind unbekannt. Wie bei den Antidepressiva (➤ ) erlauben die Rezeptorbindungsprofile der Substanzen keine
Rückschlüsse auf eine differenzielle Wirksamkeit der Substanzen. Man muss annehmen, dass die Substanzen über die Bindung an Rezeptoren bisher kaum
verstandene neuroplastische Veränderungen und damit letztendlich Veränderungen in zerebralen Netzwerke hervorrufen, die mit der Wirksamkeit besser
korrelieren als die Rezeptorbindungsprofile.
Antipsychotika der 1. und 2. Generation zeigen die in ➤ bzw. ➤ dargestellten Rezeptorbindungsprofile. Mit den postulierten Wirkmechanismen werden
insbesondere die Wirkungen auf das dopaminerge und das serotonerge System in Verbindung gebracht. Für das Verständnis der differenziellen
Nebenwirkungen der Antipsychotika sind v.  a. die Wirkungen auf das dopaminerge System sowie adrenerge, Histamin- und Acetylcholin-Rezeptoren von
Bedeutung (s. Nebenwirkungen in ➤ ).

Abb. 3.11 Rezeptorbindungsprofile von Antipsychotika der 2. Generation an muscarinerg-cholinerge, histaminerge, adrenerge, dopaminerge
und serotonerge Rezeptoren in Hirnhomogenaten, dargestellt anhand der Dissoziationskonstanten (K D ) bzw. Inhibitionskonstanten (K i ).
Berechnung als 1 / K i D 1 + 1 / K i D 2 + 1 / K i 5HT 2 + … = 100 % α 1 , α 2 = α 1 -, α 2 -adrenerge Rezeptoren; D 1 , D 2 , D 4 = Dopamin-D 1 -, -D 2
-, -D 4 -Rezeptoren; H 1 = Histamin-Typ-I-Rezeptoren; m-ACh = muscarinerge Acetylcholin-Rezeptoren; 5HT 2 , 5HT 2a , 5HT 2c = Serotonin-Typ-
2-, -Typ-2a-, -Typ-2c-Rezeptoren [F698-003 / G787 / L141]

Im ZNS unterscheidet man im Wesentlichen vier dopaminerge Bahnsysteme:

• Das mesolimbische dopaminerge System entspringt im Mittelhirn und zieht zu Teilen des limbischen Systems (Nucleus [Ncl.] accumbens,
laterales Septum, Ncl. amygdalae).
• Das mesokortikale dopaminerge System zieht vom Mittelhirn in den präfrontalen Kortex, den Gyrus cinguli und die Regio entorhinalis. Sowohl
die mesolimbische als auch die mesokortikale Bahn sind von zentraler Bedeutung für die Vermittlung antipsychotischer Wirksamkeit.
• Das nigrostriatale dopaminerge System zieht von der Substantia nigra zum Striatum. Dieses System wird mit den extrapyramidalmotorischen
Nebenwirkungen der Antipsychotika in Verbindung gebracht.
• Das tuberoinfundibuläre dopaminerge System zieht vom Ncl. arcuatus des Hypothalamus zur Eminentia mediana, von wo Dopamin über
Portalvenen zur Hypophyse gelangt, in der es über Dopamin-D 2 -Rezeptoren die Prolaktinsekretion hemmt. Dieses System wird mit der verstärkten
Freisetzung von Prolaktin mit der Folge von Galaktorrhö, Gynäkomastie und sexuellen Funktionsstörungen (➤ ) in Verbindung gebracht.

Eine Beeinflussung des serotonergen Systems erfolgt über eine Modulation serotonerger Rezeptoren. Die Blockade des 5-HT 2 a -Rezeptors wurde immer
wieder mit einer günstigen Wirksamkeit auf die schizophrene Negativsymptomatik in Verbindung gebracht. Allerdings hat auch Amisulprid, das rein D 2 -
Rezeptoren blockiert, darauf einen guten Effekt. Der inverse 5-HT 2A -Agonist Pimavanserin wurde in den USA als Nuplazid® zur Behandlung von Psychosen
bei Morbus Parkinson zugelassen. Einige Antipsychotika blockieren auch 5-HT 6 - und 5-HT 7 -Rezeptoren, wobei deren Beitrag zur antipsychotischen Wirkung
unklar ist. Da Phencyclidin und Ketamin psychotische Zustände auslösen können (➤ ), wird auch eine Modulation des glutamatergen Systems als möglicher
Ansatzpunkt für die Neuentwicklung von Antipsychotika untersucht. Entsprechende Substanzen sind bisher aber nicht zugelassen.

Pharmakokinetik und Wechselwirkungen


Antipsychotika werden aus dem Magen-Darm-Trakt gut resorbiert und unterliegen (außer Amisulprid) einem First-Pass-Effekt in der Leber, der mit einer
großen interindividuellen Variationsbreite zwischen 10 und 70 % betragen kann. Dadurch können bei parenteraler Applikation niedrigere Dosen den gleichen
Effekt zeigen.
Bei oraler Gabe werden maximale Plasmaspiegel nach ca. 1–6 h erreicht, nach i. v. bzw. i. m. Injektion schneller; daher kommen im Akutfall häufig auch i.
v. bzw. i. m. Injektionen zum Einsatz! So werden z. B. bei der oralen Gabe von Olanzapin maximale Plasmaspiegel erst nach 3–5 h erreicht, während bei i. m.
Gabe von Olanzapin Plasmapeaks bereits nach 15 min eintreten.

Merke
Im akuten Behandlungsfall zeigt die parenterale Gabe von Antipsychotika eine deutlich schnellere Wirkung als die
orale Gabe!

Die Eliminations-HWZ liegt für die meisten Präparate zwischen 15 und 35  h, einzelne Substanzen weisen aber Extreme auf: So hat Pimozid eine
Eliminations-HWZ von 55 h und Benperidol eine von 5 h.
Aus i. m. injizierten Depotpräparaten, die in der rezidivprophylaktischen Behandlung zur Anwendung kommen, erfolgt die Wirkstofffreigabe sehr langsam.
Die als Depotpräparate zur Verfügung stehenden Antipsychotika der 1. und 2. Generation sowie deren Dosierung und Behandlungsintervalle werden in ➤
dargestellt.
Die meisten Antipsychotika werden durch das Cytochrom-P450-System der Leber metabolisiert (➤ ), wodurch es bei Komedikation zu verschiedensten
Arzneimittelinteraktionen kommen kann (weitere Informationen zu Induktoren und Inhibitoren des CYP450-Systems ➤ ).

Tab. 3.13 Antipsychotika, die durch Cytochrom-P(CYP)450- Enzyme metabolisiert werden


Enzym Substrat
CYP1A2 Clozapin, Fluphenazin, Olanzapin

CYP2C9 Perazin

CYP2C19 Clozapin

CYP2D6 Aripiprazol, Fluphenazin, Haloperidol, Levomepromazin, Perphenazin, Risperidon, Sertindol, Zuclopentixol

CYP3A4 /5 /7 Aripiprazol, Haloperidol, Perazin, Pimozid, Quetiapin, Risperidon, Sertindol, Ziprasidon

Die Hemmung der Metabolisierung von Clozapin über CYP1A2 kann man sich zunutze machen, wenn ein Patient keine ausreichenden Plasmaspiegel von
Clozapin aufbaut. Durch die zusätzliche Gabe von Fluvoxamin, einem CYP1A2-Inhibitor, können die Plasmaspiegel in den gewünschten Bereich angehoben
werden. Dies muss allerdings zunächst mit sehr niedrigen Fluvoxamin-Dosen und streng unter Plasmaspiegelkontrollen erfolgen. Da Rauchen ein starker
Induktor von CYP1A2 (➤ ) ist, können Patienten, die viel rauchen, niedrigere Plasmaspiegel von Medikamenten wie Clozapin und Olanzapin aufweisen bzw.
Patienten, die plötzlich mit dem Rauchen aufhören, entsprechende Intoxikationen entwickeln.

Kasuistik
Medikamentenwechselwirkungen bei Clozapin-Behandlung
Ein 27-jähriger Patient mit einer paranoiden Schizophrenie war unter einer Clozapin-Therapie von 2 × 200 mg und einem Plasmaspiegel von 600 ng / ml
symptomfrei. Wegen einer akuten Bronchitis erhielt er das Antibiotikum Ciprofloxazin. Nach 5  Tagen entwickelte sich ein anticholinerges Delir. Der
gemessene Spiegel lag bei 2.940 ng / ml. Ciprofloxazin, welches das CYP450-1A2-Isoenzym hemmt (➤ ), hatte zu einer Verlangsamung des Abbaus von
Clozapin und damit zur Intoxikation geführt. Ciprofloxazin wurde sofort abgesetzt, die Clozapin-Dosis kurzzeitig ausgesetzt und dann reduziert. Nach 2 
Tagen lag der Clozapin-Spiegel bei 1.200 ng / ml, nach 4 Tagen bei 886 ng / ml.

Nebenwirkungen und Nebenwirkungsmanagement


Die Nebenwirkungen der Antipsychotika unterscheiden sich erheblich zwischen den einzelnen Substanzen, sodass sie separat in ➤ besprochen werden. Die
wichtigsten Nebenwirkungen, die man immer im Blick haben muss, sind extrapyramidalmotorische Nebenwirkungen, Gewichtszunahme und metabolisches
Syndrom, Blutbildveränderungen (v. a. Leukopenie und Agranulozytose) sowie QT c -Zeit-Verlängerungen mit dem Risiko maligner Rhythmusstörungen.

Merke
Bei der Behandlung ist die gemeinsame Entscheidungsfindung von Arzt und Patient für ein Medikament unter
Einbeziehung der Wünsche und Berücksichtigung der Ängste der Patienten vor Nebenwirkungen von entscheidender
Bedeutung für die spätere Compliance der Patienten.

➤ gibt einen Überblick über notwendige Kontrolluntersuchungen während einer Medikation mit Antipsychotika der 1. und 2. Generation und ➤ eine
Übersicht zum Nebenwirkungsmanagement.

Tab. 3.14 Kontrolluntersuchungen im Verlauf einer antipsychotischen Pharmakotherapie. Die nachfolgend aufgeführten
Untersuchungen sind während stationärer und ambulanter Behandlung mit Antipsychotika unter Berücksichtigung des klinischen
Bildes und der Nebenwirkungsprofile der einzelnen Substanzen durchzuführen und zu dokumentieren.
Zeitpunkt (Monate)
vorher Monat Monat Monat Monat Monat Monat monatlich ¼- ½-
1 2 3 4 5 6 jährlich jährlich
Alle Kreatinin X X X X X
Antipsychotika
GPT, γ-GT, CK X X X X X X

Na, K X X X X X

BZ, Blutfette X X, X X X X

Gewicht, Bauchumfang X X X X X X

RR / Puls X X X X X

EKG X X X X X X X X X

EEG (Clozapin) X X X X X

Großes Blutbild Andere X X X X X X X X

Trizyklische X X X X X X X X
Antipsychotika

Clozapin, Perazin X XXXX XXXX XXXX XXXX XX X X


X Häufigkeit der Kontrolle
bei Clozapin und Olanzapin
bei Quetiapin und Risperidon
bei trizyklischen Antipsychotika
bei Thioridazin, Pimozid und Sertindol
Tab. 3.15 Nebenwirkungen und Nebenwirkungsmanagement bei Antipsychotika-Therapie
Nebenwirkung Mögliche Maßnahme
QT c -Zeit- Umstellen der Medikation bei QT c -Zeit > 480–520 ms oder Zunahme > 60 ms
Verlängerung

Tachykardie Dosisreduktion, Umstellen, ggf. niedrig dosierte Betablocker

Orthostatische Langsames Aufstehen aus der Horizontale oder aus dem Sitzen, ausreichende Flüssigkeitszufuhr, ggf. Umstellen auf Medikament
Dysregulation mit weniger antiadrenergen Nebenwirkungen

Agranulozytose s. Vorgehen bei Clozapin (➤ )

Prolaktinerhöhung Dosisreduktion, Umstellen, ggf. niedrig dosiert Aripiprazol (2,5–5 mg), ggf. Bromocriptin (1–5 mg)

Sexuelle Dosisreduktion, Umstellen, ggf. Behandlung der Prolaktinerhöhung, ggf. PDE-5-Inhibitoren


Funktionsstörungen

Mundtrockenheit Dosisreduktion, Umstellen, Trinken kleiner Wassermengen, Lutschtabletten, Kaugummis; ggf. Dosisreduktion, umstellen

Speichelfluss Pirenzepin 25–50 mg

Obstipation Ballaststoffreiche Ernährung, ausreichende Flüssigkeitszufuhr, Laktulose 5–10 mg, Macrogol 13–40 mg, ggf. Umstellen

Miktionsstörungen Dosisreduktion, Umstellen, ggf. Carbachol 1–4 mg / d oral, bei akutem Harnverhalt ggf. 0,25 mg i. m. oder s. c., Distigmin 2,5–5 g
oral

Sedierung Hauptdosis am Abend, ggf. Dosisreduktion, Umstellen


3.2.5. Antipsychotika: Substanzen
➤ gibt eine Übersicht über die Antipsychotikaklassen und ihre wichtigsten Vertreter. Weitere Detailinformationen zu den Substanzen wie Tagesdosen,
therapeutischer Plasmakonzentrationsbereich und Effektstärken sowie Substanzen zur Anwendung in Depotform finden sich in ➤ (➤ , ➤ und ➤ ).

Tab. 3.16 Klassen von Antipsychotika und ihre wichtigsten Vertreter


Antipsychotika der 1. Generation

Niederpotente Chlorprothixen, Levomepromazin, Melperon, Pipamperon, Promethazin, Thioridazin


Antipsychotika

Mittelpotente Antipsychotika Perazin

Hochpotente Antipsychotika Benperidol, Bromperidol, Flupentixol, Fluphenazin, Haloperidol, Perphenazin, Pimozid

Antipsychotika der 2. Generation

Amisulprid, Aripiprazol, Asenapin, Cariprazin, Clozapin, Loxapin, Olanzapin, Quetiapin, Risperidon, Sertindol,
Ziprasidon

Antipsychotika der 2. Generation werden inzwischen mehr als doppelt so häufig verordnet wie Antipsychotika der 1. Generation.

Antipsychotika der 1. Generation


Die wichtigsten Substanzen sind in ➤ zusammengestellt.
Antipsychotika mit niedriger neuroleptischer Potenz können zur Sedierung und Dämpfung psychotischer Erregungszustände eingesetzt werden. Bis auf
die in der Gerontopsychiatrie verwendeten Substanzen Melperon und Pipamperon (➤ und ➤ ) sind diese aber weitgehend durch die besser verträglichen
Benzodiazepine abgelöst worden. Antipsychotika mit hoher neuroleptischer Potenz kommen bei der Therapie produktiver psychotischer Symptome wie
Wahn, Denkstörungen und Sinnestäuschungen zur Anwendung. Diese Substanzen wurden in der Initialbehandlung inzwischen zunehmend durch
Antipsychotika der 2. Generation verdrängt.
Haloperidol hat allerdings immer noch einen wichtigen Stellenwert, v. a. in der Notfallpsychiatrie (➤ ), und weitere Erstgenerations-Antipsychotika werden
unverändert als Mittel der 2. oder 3. Wahl eingesetzt (➤ ). Viele Patienten sind auch mit Depot-Präparaten stabil eingestellt, sodass Kenntnisse über die
Antipsychotika der 1. Generation unverändert wichtig sind. Effektstärken ➤ .

Haloperidol
Eines der ältesten Psychopharmaka, das in der Akutbehandlung von Schizophrenien im Vergleich zu anderen Substanzen sehr gut untersucht ist, da es in den
Studien zu neueren Antipsychotika häufig als Vergleichspräparat verwendet wurde. Es gibt Hinweise dafür, dass die Wirkung schneller eintritt als bei anderen
Antipsychotika. Daher und aufgrund der relativ guten Anwendungssicherheit wird es unverändert häufig in der Behandlung von akuten psychotischen
Erregungszuständen und bei Deliren eingesetzt. Parenteral ist Haloperidol neuerdings als Injektionslösung nur noch bei psychomotorischer Erregung (auch im
Rahmen einer Psychose) zulässig, aber nicht mehr zur Behandlung der schizophrenen Primärsymptomatik. Die i.  v. Gabe von Haloperidol ist wegen
aufgetretener schwerer kardialer Nebenwirkungen nur noch unter EKG-Monitoring erlaubt (➤ , auch zur Anwendung von Benperidol).

Flupentixol
Dieses hochpotente Antipsychotikum bindet etwa gleich stark an D 1 -, D 2 - und D 3 -Rezeptoren sowie an 5-HT 2a -Rezeptoren und nur schwach an H 1 - und
cholinerge Rezeptoren. Es hat bei Therapieresistenz auf Antipsychotika der 2. Generation und in der Behandlung der Negativsymptomatik einen Stellenwert.

Fluphenazin
Blockiert v. a. D 2 -, 5-HT 2 -, α 1 - und H 1 -, aber kaum cholinerge Rezeptoren. Einsatz bei Therapieresistenz auf andere Substanzen.

Perazin
Blockiert mittelstark D 2 -Rezeptoren sowie H 1 -, α 1 - und cholinerge Rezeptoren. Einsatz bei Therapieresistenz auf andere Substanzen.

Fluspirilen
Das wöchentlich gegebene Depotpräparat, das häufig off-label bei nichtpsychotischen Störungen zur „Beruhigung“ eingesetzt wurde, ist obsolet.

Zuclopentixolacetat
Diese Substanz stellt eine Besonderheit dar: Sie hat eine hohe Affinität zu D 2 -, 5-HT 2A -, H 1 - und α 1 -Rezeptoren und wird in einer Dosis von 50–150 mg i. 
m. mit 1- bis 2-maliger Wiederholung alle 2–3 Tage bei anders nicht beherrschbaren schweren Erregungszuständen eingesetzt.

Extrapyramidalmotorische Nebenwirkungen
Die wichtigsten Nebenwirkungen der Antipsychotika der 1. Generation stellen die extrapyramidalmotorischen Nebenwirkungen dar. Diese treten mit umso
größerer Wahrscheinlichkeit auf, je höher potent die Substanz ist. Man unterscheidet:

• Frühdyskinesien
• Parkinsonoid
• Akathisie und Tasikinesie
• Spätdyskinesien
• Malignes neuroleptisches Syndrom

Frühdyskinesien
Zu den Frühdyskinesien, die bei ca. 20 % der Patienten vorübergehend auftreten, werden folgende Symptome gerechnet: Zungen-, Schlund- und
Blickkrämpfe (am häufigsten), unwillkürliche Bewegungen der Gesichtsmuskulatur, Verkrampfungen der Kiefermuskulatur (Trismus), tortikollisartige,
choreatische, athetoide und auch torsionsdystone Bewegungsabläufe in der Muskulatur des Halses und der oberen Extremitäten.
Die Frühdyskinesien manifestieren sich fast ausschließlich zu Behandlungsbeginn (meist in der 1. Behandlungswoche) und korrelieren deutlich mit der
Geschwindigkeit der Dosissteigerung. Später treten sie dann nur noch auf, wenn die Dosis plötzlich erhöht oder auch reduziert wird.

Klinik
Behandlung von Frühdyskinesien

• Prophylaxe: langsames Ein- und Ausschleichen der Antipsychotika, prophylaktische Gabe des Anticholinergikums Biperiden (auch in retardierter
Form)
• Akutbehandlung: Beruhigung und Aufklärung des Patienten über diese i. d. R. nicht gefährliche Nebenwirkung; Gabe von Biperiden oral (2–4 mg)
oder langsam i. v. Dosisreduktion des Antipsychotikums oder Umsetzen auf ein Antipsychotikum der 2. Generation

Bei der Behandlung von Frühdyskinesien ist zu beachten, dass bei langfristiger bzw. hoch dosierter Gabe von Biperiden aufgrund seiner euphorisierenden
Wirkung die Gefahr der Suchtentwicklung und des Auftretens deliranter Syndrome besteht. Das Auftreten und die inkonsequente Behandlung von
Frühdyskinesien ist eine häufige Ursache für die spätere Noncompliance des Patienten. Aus diesem Grund kann eine prophylaktische Gabe von Biperiden zu
Behandlungsbeginn sinnvoll sein.

Kasuistik
Behandlung von Frühdyskinesien
Ein 23-jähriger Patient wird wegen der Erstmanifestation einer paranoiden Schizophrenie mit Fluphenazin behandelt. Nach 3 Tagen stellt sich der Patient
dem diensthabenden Arzt in der Notfallambulanz mit folgenden Symptomen vor: krampfartiges Herausstrecken der Zunge, Blickkrampf, Trismus und
tortikollisartige Bewegungen. Aufgrund des charakteristischen Bilds wird die Diagnose einer antipsychotikainduzierten Frühdyskinesie gestellt. Da
zusätzlich Schluckkrämpfe bestehen, erfolgt die sofortige i. v. Applikation von Biperiden 2,5 mg. Die Dosis wird langsam i. v. appliziert, und es kommt
innerhalb von Minuten zu einer völligen Rückbildung der Frühdyskinesien. Die weitere Behandlung erfolgt durch orale Gabe von Biperiden.

Parkinsonoid oder medikamentöses Parkinson-Syndrom


Die Symptome des medikamentösen Parkinson-Syndroms, das dosisabhängig bei ca. 20–30 % der Patienten auftritt, gleichen denen des Parkinson-
Syndroms: Einschränkung zunächst der Feinmotorik, dann der allgemeinen Beweglichkeit (Bewegungsarmut = Akinese), Erhöhung des Muskeltonus (Rigor),
kleinschrittiger Gang, Hypo- bis Amimie und Salbengesicht sowie Tremor. Das Parkinsonoid manifestiert sich meist erst nach 1- bis 2-wöchiger Therapie.

Klinik
Behandlung eines Parkinsonoids

• Evtl. Dosisreduktion
• Umsetzen des Antipsychotikums auf ein Antipsychotikum der 2. Generation
• Gabe von Anticholinergika, was jedoch meist therapeutisch unbefriedigend bleibt

Akathisie und Tasikinesie


Bei ca. 30 % der Patienten kommt es – meist erst nach längerer Behandlung über einige Wochen – zu einer motorischen Unruhe, die sich als Unfähigkeit,
sitzen bleiben zu können (Akathisie), oder als Drang zu ständiger Bewegung (Tasikinesie) äußern kann.

Klinik
Therapie der Akathisie

• Evtl. Dosisreduktion, Ab- bzw. Umsetzen des Medikaments auf ein Antipsychotikum der 2. Generation
• β-Rezeptoren-Blocker (z. B. Propranolol, z. B. 3 × 10–20 mg)
• Benzodiazepine

Spätdyskinesien oder tardive Dyskinesien


Bei den Spätdyskinesien handelt es sich um abnorme, unwillkürliche Bewegungen hauptsächlich der Muskeln des Kopfes und der Extremitäten. Am
häufigsten sind Bewegungen im Mundbereich wie Herausstrecken der Zunge, Schmatzbewegungen, Seitwärtsbewegungen des Unterkiefers,
rhythmischer Lippentremor (Rabbit-Syndrom) und Grimassieren.
Ebenso oft kommt es zu unwillkürlichen Bewegungen der Finger und Hände, z.  B. zum Ballen der Fäuste. In schwereren Fällen treten vereinzelt
Schleuderbewegungen (Ballismus), Torti- und Retrokollis sowie das Pisa-Syndrom (Schiefhaltung von Kopf, Hals und Schultern) auf. Die Symptome, welche
die Patienten von allen Nebenwirkungen subjektiv am wenigsten belasten, werden durch Stress verstärkt, während des Schlafs verschwinden sie.
Spätdyskinesien entwickeln sich ab einer Behandlungsdauer von ca. 3 Monaten, i. d. R. innerhalb von 3 Jahren Therapie, und sind umso wahrscheinlicher,
je länger der Patient behandelt wurde. Bis zu 20 % aller chronisch mit Antipsychotika der 1. Generation behandelten Patienten entwickeln Spätdyskinesien,
wobei 30–50 % auch nach Absetzen persistieren. Besonders betroffen sind Patienten > 50 Jahre mit zerebralen Vorschädigungen. Auch Antipsychotika der 2.
Generation können Spätdyskinesien auslösen (Inzidenz: 0,5 % / Jahr, bei Antipsychotika der 1. Generation 3–5 % / Jahr). Patienten müssen regelmäßig auf das
Vorliegen von Spätdyskinesien untersucht werden.

Klinik
Interventionsmöglichkeiten bei Spätdyskinesien

• Überprüfung, ob Antipsychotika weiter indiziert sind


• Wahl der niedrigsten noch wirksamen Dosis
• Umstellung auf ein Antipsychotikum der 2. Generation wie z. B. Olanzapin oder Clozapin
• Evtl. Gabe von Tiaprid oder Tetrabenazin
• Evtl. Piracetam (4.800 mg), Levetiracetam (500–3.000 mg) oder Vitamin B 6 (1.200 mg) als Add-on-Therapie
Malignes neuroleptisches Syndrom (MNS)
Ein lebensbedrohliches MNS tritt bei bis zu 1 % der mit Antipsychotika behandelten Patienten auf und verläuft unbehandelt in 20–30 % der Fälle tödlich.

Merke
Ein MNS tritt am ehesten in der 1. und 2. Woche auf und verläuft unbehandelt in 20–30 % der Fälle tödlich!

Es ist gekennzeichnet durch folgende Leitsymptome, die sich innerhalb von 1–3 Tagen entwickeln:

• Extrapyramidale Störungen, v. a. schwerer Rigor


• Vegetative Störungen, v. a. hohes Fieber, aber auch Tachykardien, Blutdruckveränderungen, vermehrtes Schwitzen und Exsikkose
• Fluktuierende Bewusstseinsveränderungen bis hin zum Koma

Im Labor findet sich in 40–50 % der Fälle eine Erhöhung der Kreatinkinase (CK), weniger oft eine Leukozytose und ein Anstieg der Leberenzyme. Eine
Myoglobinurie kann zu renalen Komplikationen führen.

Klinik
Therapeutische Maßnahmen beim malignen neuroleptischen Syndrom

• Sofortiges Absetzen des Antipsychotikums


• Sicherung der Vitalfunktionen und intensivmedizinische Überwachung
• Ggf. Gabe des Hydantoin-Derivats Dantrolen, evtl. in Kombination mit dem Dopamin-Agonisten Bromocriptin. Dantrolen ist ein direkt wirkendes
Muskelrelaxans, das die Kalziumfreisetzung aus dem endoplasmatischen Retikulum hemmt. Dadurch reduziert es die Muskelzerstörung und
Hyperthermie.
• Heparinisierung wegen der erhöhten Gefahr thrombembolischer Komplikationen

Differenzialdiagnostisch kann eine perniziöse, febrile Katatonie schwer abgrenzbar sein, was zu einem therapeutischen Dilemma führt, da die
Antipsychotika bei dieser höher dosiert, beim MNS aber unbedingt abgesetzt werden müssen (DD ➤ ). Vom klinischen Bild ähnelt das MNS auch einer
malignen Hyperthermie, die bei Narkosen auftreten kann.

Kasuistik
Malignes neuroleptisches Syndrom
Ein 42-jähriger Patient mit einer schizophrenen Psychose wird seit 2 Wochen erstmals mit dem Erstgenerations-Antipsychotikum Benperidol behandelt.
Innerhalb von 24  h entwickelt sich ein akutes Krankheitsbild mit Rigor und Akinese, fluktuierender Bewusstseinsstörung sowie einer autonomen
Funktionsstörung mit Tachykardie, Tachypnoe, Hypertonie, starkem Schwitzen und gesteigerter Speichelsekretion. Die Labordiagnostik zeigt eine
Erhöhung der Kreatinkinase und der Transaminasen sowie eine Leukozytose. Aufgrund des charakteristischen klinischen Bildes und des zeitlichen
Zusammenhangs zur Behandlung mit Benperidol wird die Verdachtsdiagnose eines MNS gestellt. Der Patient wird auf eine Intensivstation verlegt, wo
Benperidol abgesetzt und eine Überwachung der Vitalparameter sowie eine parenterale Flüssigkeitszufuhr und Thromboseprophylaxe angeordnet wird. Da
der Patient weiterhin sehr agitiert ist, erfolgt eine sedierende Therapie mit Benzodiazepinen. Zusätzlich wird der Dopamin-Agonist Bromocriptin gegeben.
Innerhalb von 5 Tagen bildet sich das akute Krankheitsbild komplett zurück; eine Weiterbehandlung erfolgt anschließend mit Olanzapin.

Weitere Nebenwirkungen
Vegetative Nebenwirkungen werden häufiger bei niederpotenten Erstgenerations-Antipsychotika beobachtet, da bei diesen die anticholinerge Wirkkomponente
stärker ausgeprägt ist als bei den hochpotenten. Die vegetativen Nebenwirkungen ähneln denen der trizyklischen Antidepressiva, sind aber meist geringer
ausgeprägt.
Klinisch stehen im Vordergrund:

• Blockade von Histamin-(H1-)Rezeptoren: Sedierung und Gewichtszunahme


• Blockade von cholinergen Rezeptoren: Mundtrockenheit, Schwitzen, Sinustachykardie, Obstipation, Miktionsbeschwerden,
Akkommodationsstörungen
• Blockade von adrenergen Rezeptoren: Hypotonie und orthostatische Dysregulation

Starke D 2 -Rezeptor-Blocker (z.  B. Benperidol, Haloperidol) können über eine Blockade des tuberoinfundibulären dopaminergen Systems zu einer
Hyperprolaktinämie mit Galaktorrhö und Menstruationsstörungen führen.
Auch EKG-Veränderungen können auftreten, wobei durch eine Verlängerung der QT c -Zeit maligne Herzrhythmusstörungen auftreten können. Unter den
Antipsychotika der 1. Generation ist das Risiko von QT c -Zeit-Verlängerungen insbesondere bei Thioridazin, Pimozid und Haloperidol (hier nur bei i. v. Gabe)
erhöht. Bei Medikamentenkombinationen ist besondere Vorsicht wegen additiver Effekte geboten.
Einige Antipsychotika der 1. Generation (und Clozapin) senken die Krampfschwelle, sodass epileptische Anfälle unter der Therapie auftreten können.

Antipsychotika der 2. Generation


Die Substanzen der Antipsychotika der 2. Generation sind in ➤ zusammengestellt. Bereits in den 1970er-Jahren wurde als erstes „atypisches Neuroleptikum“
Clozapin entwickelt. Wie aus ➤ ersichtlich, stellt es den Prototyp des „atypischen Neuroleptikums“ dar, da es kaum an D 2 -Rezeptoren bindet und daher nur
äußerst selten extrapyramidalmotorische Nebenwirkungen entfaltet.
Seit Mitte der 1990er-Jahre (➤ ) wurden dann weitere Antipsychotika der 2. Generation entwickelt, die ein mehr oder weniger atypisches
Rezeptorbindungsprofil haben (➤ ):

• Risperidon (Benzisoxazol-Derivat)
• Olanzapin (Dibenzepin-Derivat)
• Amisulprid (Benzamid-Derivat)
• Quetiapin (Dibenzothiazepin-Derivat)
• Ziprasidon (Benzisothiazoylpiperazin-Derivat)
• Aripiprazol (Dichlorphenylpiperazin-Derivat)
• Cariprazin (Dichlorphenylpiperazin-Derivat)
• Sertindol (Phenylindolpiperidin)
• Asenapin (Dibenzoxepin-Pyrrol)
• Loxapin (Dibenzoxazepin)
• Lurasidon (in Deutschland 2015 wegen fehlenden Zusatznutzens wieder vom Markt genommen)

Für lange Zeit standen Depotpräparate nur für die Antipsychotika der 1. Generation zur Verfügung. Mit der Einführung von Risperdal® Consta® (2002),
ZypAdhera® (2009), Xeplion® (2011), Abilify Maintena® (2014) und Trevicta® (2016) können nun aber auch Antipsychotika der 2. Generation i.  m. in
Depotform appliziert werden (➤ in ➤ ).
Antipsychotika der 2. Generation haben i.  d.  R. nur geringe extrapyramidalmotorische Nebenwirkungen, da sie schwächer an Dopamin-D 2 -Rezeptoren
binden, zeichnen sich aber durch eine Vielzahl anderer Nebenwirkungen aus, die in ➤ und ➤ zusammengefasst sind. Besonders problematisch sind bei einigen
Medikamenten Gewichtszunahme, Blutbildungsstörungen, Entwicklung eines metabolischen Syndroms / Diabetes mellitus und QT c -Zeit-Verlängerungen.

Abb. 3.12 Mittlere Gewichtszunahme bei Gabe verschiedener Antipsychotika nach 10 Wochen (nach Allison 1999) [F855-003 / L141]
Tab. 3.17 Antipsychotika der 2. Generation: Nebenwirkungen
Nebenwirkungen Amisulprid Aripiprazol Cariprazin Clozapin Olanzapin Quetiapin Risperidon Ziprasidon Haloperidol
EPS + + + / ++ 0 0 /+ 0 /+ + / ++ + +++

Krampfanfälle 0 0 0 / + +++ 0 0 0 0 0 / +

Anticholinerge NW 0 0 0 +++ + 0 / + 0 0 / + + / ++

Sedierung 0 0 0 +++ ++ ++ 0 / + + + / ++

Orthostatische Hypotonie 0 / + 0 0 / + +++ 0 / + + + 0 / + +

Speichelfluss 0 ? ? ++ 0 0 0 0 0

Prolaktinanstieg +++ 0 0 0 0 / + 0 / + +++ 0 /+ ++

QT-Verlängerung 0 0 0 / + 0 / + 0 + 0 /+ + / ++ 0 /+

Agranulozytose 0 0 0 / + +++ 0 / + 0 0 0 0

Transaminasenanstieg + 0 / + ++ ++ ++ + + 0 / + 0 / +

Gewichtszunahme + 0 0 / + +++ +++ ++ ++ 0 0 / +

Erhöhtes Diabetesrisiko ? 0 0 / + + + ? ? 0 0

Im Folgenden werden Besonderheiten der wichtigsten Substanzen in der Reihenfolge ihrer Bedeutung dargestellt. Einzelheiten zur Dosierung und
Anwendung in der Behandlung von Schizophrenien sowie den Effektstärken und Nebenwirkungen finden sich in ➤ (➤ , ➤ und ➤ ).

Clozapin
Wegen der Auslösung von tödlich verlaufenden Agranulozytosen wurde das in den 1970er-Jahren entwickelte Clozapin in einigen Ländern vorübergehend
wieder vom Markt genommen, ist aber seit 1979 in Deutschland unter besonderen Auflagen und kontrollierten Bedingungen wieder für die Behandlung von
therapieresistenten Schizophrenien sowie psychotischen Symptomen bei Morbus Parkinson zugelassen. Es stellt das Antipsychotikum mit der besten
Wirksamkeit in der Behandlung von Schizophrenien dar und ist wahrscheinlich auch das einzige Medikament, das in seiner Wirkstärke anderen Antipsychotika
überlegen ist. Es bindet nur schwach an D 2 -Rezeptoren und entfaltet daher sehr selten extrapyramidalmotorische Nebenwirkungen (➤ ). Clozapin wird
hauptsächlich über CYP1A2, aber auch CYP2C19 und CYP3A4 verstoffwechselt (Medikamenteninteraktionen ➤ ). Es darf wegen des erhöhten
Agranulozytoserisikos nur bei Therapieresistenz oder Unverträglichkeit von mindestens zwei Antipsychotika, nach schriftlicher Aufklärung und unter
regelmäßigen Blutbildkontrollen (➤ ) eingesetzt werden.

Box 3.1
Blutbildkontrollen bei Behandlung mit Clozapin

• Vor Beginn der Behandlung normales Differenzialblutbild und > 3.500 / μl Leukozyten
• In den ersten 18 Wochen der Behandlung wöchentliche Blutbildkontrollen, danach mindestens 1 × im Monat; nach Absetzen Kontrolle über weitere
4 Wochen:
– 2 × wöchentlich Differenzialblutbild, wenn Leukozyten um mindestens 3.000 / μl abfallen oder die Leukozytenzahl 3.000–3.500 / μl
beträgt
– Sofort absetzen, wenn Leukozyten < 3.000 / μl und / oder neutrophile Granulozyten < 1.500 / μl
– Absetzen empfohlen bei Eosinophilie (> 3.000 / μl) oder Thrombozytopenie (< 50.000 / μl)

Merke
Eine medikamentöse Therapie mit Clozapin ist nur nach schriftlicher Einverständniserklärung des Patienten oder ggf.
seines Betreuers möglich.

Wichtige Kontraindikationen sind hämatologische Erkrankungen oder früher aufgetretene medikamentös bedingte Blutbildschäden, erhöhtes Krampfrisiko
und schwere kardiale Erkrankungen.

Nebenwirkungen
Zu den Nebenwirkungen einer Therapie mit Clozapin gehören:

• Leukopenie und Agranulozytose.


• Sedierung, v. a. initial sehr ausgeprägt.
• Vermehrter Speichelfluss; hier kann ein Therapieversuch mit 25–100 mg Pirenzepin unternommen werden.
• Senkung der Krampfschwelle, v. a. bei raschem Aufdosieren und in hoher Dosis, daher regelmäßige EEG-Kontrollen.
• Anticholinerge Wirkung und anticholinerges Delir: Letzteres kann insbesondere bei zu schneller Dosissteigerung auftreten.
• Orthostatische Dysregulation mit Tachykardie und Hypotonie.
• Gewichtszunahme (➤ ).
• Temperaturerhöhung: Typischerweise ca. 10 Tage nach Therapiebeginn kann es zu Fieber kommen, das bei stabilem Differenzialblutbild ein
Absetzen nicht zwingend notwendig macht.

Weiterhin können allergische Hautreaktionen, Blasenentleerungsstörungen, gastrointestinale Nebenwirkungen (Obstipation) und Transaminasenanstiege
auftreten. Sehr ernste Nebenwirkungen sind Myo- und Perikarditiden sowie Kardiomyopathien mit uncharakteristischem klinischem Bild und selten tödlichem
Ausgang. Wöchentliche EKG-, CRP- und Troponin-Kontrollen in den ersten Wochen der Aufdosierung können die Diagnosestellung erleichtern.

Agranulozytose unter Clozapin


Das Agranulozytoserisiko ist unter einer Behandlung mit Clozapin besonders hoch. Es liegt bei 1–2  % mit einem Häufigkeitsgipfel in der 6. bis 14.
Behandlungswoche.

Merke
Clozapin hat ein Agranulozytoserisiko von 1–2 %.
Vor der Behandlung müssen die Patienten daher darüber aufgeklärt werden, dass sie bei Zeichen einer Infektion sofort einen Arzt aufsuchen müssen, damit
eine Granulozytopenie (< 1.500 Granulozyten / μl) bzw. eine Agranulozytose (< 500 Granulozyten / μl) als Ursache des Infekts ausgeschlossen werden kann.
Bei Agranulozytosen werden die Patienten einerseits isoliert, um sie vor Krankheitserregern zu schützen, andererseits kann eine Behandlung mit dem
Granulozyten-Kolonie-stimulierenden Faktor (G-CSF) durchgeführt werden (300 μg s. c. / d). G-CSF ist ein gentechnologisch hergestellter Wachstumsfaktor,
der 1991 für die Behandlung der Neutropenie im Rahmen einer Behandlung mit Zytostatika zugelassen wurde. Ein frühzeitiger Einsatz von G-CSF kann die
Dauer einer durch Clozapin ausgelösten Agranulozytose verkürzen und dadurch die Gefahr schwerer Komplikationen durch Infektionen vermindern. Eine
vorausgegangene Blutbildschädigung stellt i. d. R. eine Kontraindikation für die erneute Behandlung mit Clozapin dar.

Weitere Substanzen
Amisulprid
Zugelassen zur Behandlung von akuten und chronischen Schizophrenien mit Positiv- und Negativsymptomatik. Es blockiert fast ausschließlich D 2 -Rezeptoren
(➤ ), reichert sich aber v.  a. im mesolimbischen (antipsychotische Wirkung) und tuberoinfundibulären (Prolaktinerhöhung) und weniger im nigrostriatalen
System an, sodass extrapyramidalmotorische Nebenwirkungen relativ schwach ausgeprägt sind. Pharmakokinetische Interaktionen sind nicht bekannt, da es
rein renal eliminiert wird.

Risperidon
Zugelassen zur Behandlung von Schizophrenien, mäßigen bis schweren Manien bei bipolarer Störung, Aggressionen im Rahmen der Alzheimer-Demenz sowie
von Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen mit mentaler Retardierung. Es blockiert v.  a. 5-HT 2 -, D 2 - und α 1 -Rezeptoren und wird über
CYP2D6 zu 9-Hydroxy-Risperidon (Paliperidon) metabolisiert. Da für dieses Abbauprodukt (Scheininnovation) keine überlegene Wirksamkeit nachgewiesen
werden konnte, ist es nicht mehr erstattungsfähig. Als Depotpräparat steht Risperdal® Consta® zur Verfügung (➤ zu Depots in ➤ ). Hier werden wirksame
Plasmakonzentrationen erst 3 Wochen nach der 1. Injektion erreicht, sodass die orale Medikation mindestens für diesen Zeitraum weitergegeben werden muss.
Seit 2011 ist Paliperidonpalmitat als Xeplion® als 1-Monats-Depot auf dem Markt, das gegenüber Risperdal® Consta® Vorteile hat: längeres
Applikationsintervall, größere Dosierungsbreite, keine Notwendigkeit einer gekühlten Aufbewahrung, Möglichkeit der Direktumstellung von der oralen
Medikation. Patienten, die stabil auf Xeplion® eingestellt sind, können seit 2016 auch auf das 3-Monats-Depot Trevicta® umgestellt werden.

Olanzapin
Zugelassen zur Behandlung und Rezidivprophylaxe sowohl der Schizophrenie als auch mäßiger bis schwerer Manien bei bipolarer Störung. Es blockiert neben
5-HT 2 - und D 1–5 -Rezeptoren auch m-ACh, α 1 - und H 1 -Rezeptoren (➤ ). Olanzapin ist auch als i. m. Präparat zur Akuttherapie und als Olanzapinpamoat
(ZypAdhera®) zur Depotbehandlung verfügbar. Ein Nachteil bei der Anwendung von ZypAdhera® ist, dass alle Patienten nach Injektion für mindestens 3 h
auf Anzeichen einer Olanzapin-Überdosierung (Postinjektionssyndrom) überwacht werden müssen. Vorteile von Olanzapin liegen in der Sedierung und dem
geringen Risiko für extrapyramidale Nebenwirkungen. Nachteile sind die Gefahr eines metabolischen Syndroms inkl. Diabetes mellitus und die z. T. erhebliche
Gewichtszunahme, weshalb es trotz guter Wirksamkeit und der häufig erwünschten Sedierung in der Akuttherapie kein Mittel der 1. Wahl ist. Nicht selten
nehmen Patienten innerhalb von 1 Jahr bis zu 30 kg Gewicht zu (➤ ).

Quetiapin
Zugelassen zur Behandlung der Schizophrenie sowie mäßiger bis schwerer Manien und schwerer depressiver Episoden bei bipolarer Störung (einschl. deren
Rezidivprophylaxe). Es blockiert v. a. H 1 -Rezeptoren, schwächer 5-HT 1, 2 -, D 1–3 - und α 1 -Rezeptoren (➤ ). Die Retardform (Seroquel® Prolong) ermöglicht
eine Einmalgabe. Vorteile liegen in der Sedierung und dem geringen Risiko für extrapyramidalmotorische Nebenwirkungen und Prolaktinanstieg, Nachteile in
der Gefahr eines metabolischen Syndroms und deutlicher Gewichtszunahme.

Aripiprazol
Zugelassen zur Behandlung von Schizophrenien (ab 15. Lj.) und zur Behandlung von mäßigen bis schweren Manien (ab 13. Lj.) und deren Rezidivprophylaxe.
Es ist ein D 2 -Rezeptor-Antagonist mit intrinsischer D 2 -agonistischer Wirkung (partieller Agonist) sowie ein partieller Agonist an 5-HT 1a -Rezeptoren (➤ ).
Durch den kombinierten Wirkmechanismus erhofft man sich eine gute Wirksamkeit auf die durch einen Überschuss von Dopamin entstehende psychotische
Symptomatik sowie auf die durch einen Dopaminmangel entstehende Negativsymptomatik. Bis auf eine in bis zu 10 % der Fälle auftretende Akathisie ist die
Substanz i. d. R. gut verträglich und führt auch selten zu Hyperprolaktinämie, QT-Zeit-Verlängerung, Sedierung und Gewichtszunahme (➤ ). Seit 2014 steht
Aripiprazol als Abilify Maintena® auch zur Erhaltungstherapie als Depot zur Verfügung (➤ in ➤ ).

Cariprazin
Cariprazin ist ein seit 2018 in Deutschland verfügbarer partieller Dopamin-D 3 - und weniger starker -D 2 -Rezeptor-Agonist sowie 5-HT 1 A -Rezeptor-Agonist,
5-HT 2 A -Rezeptor-Antagonist und Histamin-H 1 -Rezeptor-Antagonist. Daher sind die häufigsten Nebenwirkungen Akathisie und EPMS, und es wirkt
sedierend. Es wird v. a. über CYP3A4 und in geringerem Maße über CYP2D6 metabolisiert und hat eine sehr lange HWZ von 2–4 Tagen. Der aktive Metabolit
hat eine HWZ von bis zu 3 Wochen. Es gibt Hinweise auf einen Zusatznutzen gegenüber anderen Antipsychotika bei Negativsymptomatik.

Ziprasidon
Zugelassen zur Behandlung der Schizophrenie (auch bei 10- bis 17-Jährigen) sowie leichten bis mäßigen manischen und gemischten Episoden bei bipolaren
Störungen (aber nicht zu deren Rezidivprophylaxe). Es blockiert in erster Linie 5-HT 2a/c -Rezeptoren sowie mittelstark D 2 - und H 1 -Rezeptoren (➤ ). Es führt
kaum zu Gewichtszunahme, hat aber ein relativ hohes Risiko für QT c -Intervall-Verlängerungen.

Sertindol
Zugelassen zur Behandlung der Schizophrenie. Es wurde im Jahr 2006 wieder eingeführt, nachdem es wegen kardiovaskulärer Nebenwirkungen (v. a. QT-Zeit-
Verlängerungen) vom Markt genommen worden war. Es darf unter regelmäßigen EKG-Kontrollen nur bei Patienten eingesetzt werden, die ein anderes
Antipsychotikum nicht vertragen haben oder therapieresistent sind. Der Einsatz sollte wegen der Sicherheitsbedenken auf Ausnahmen beschränkt werden.

Asenapin
Zugelassen seit 2011 zur Behandlung mäßiger bis schwerer manischer Episoden bei bipolarer Störung. Es blockiert D 2 - und 5-HT 2a -Rezeptoren.

Loxapin
Das Präparat ist in den USA schon lange in oraler Form (bis 50  mg  /  d) auf dem Markt. In Deutschland wurde es 2013 nur als (erstes) inhalatives
Antipsychotikum zur Kontrolle leichter bis mittelschwerer Agitiertheit bei erwachsenen Patienten mit Schizophrenie oder bipolarer Störung zugelassen. Wegen
der Gefahr von Bronchospasmen darf es nur im Krankenhausumfeld und unter Bereithaltung eines Sympathomimetikums verabreicht werden. Es blockiert D 2
- und 5-HT 2 A -Rezeptoren und hat anticholinerge, antihistaminerge und adrenerge Nebenwirkungen. Die Einmalgabe kann ggf. nach 2 h wiederholt werden.
Die Anwendung sollte auf Ausnahmefälle beschränkt werden.

3.2.6. Anxiolytika und Hypnotika


Definition
Als Anxiolytika bezeichnet man Substanzen, die angstlösend wirken, als Hypnotika (Schlafmittel) alle Pharmaka, die Schlaf erzeugen.
Bei dieser Definition ist die Gruppe der Hypnotika von der Gruppe der Anxiolytika nicht eindeutig abgrenzbar, da Anxiolytika wie z. B. die Benzodiazepine
nicht nur anxiolytisch, sondern auch sedierend, hypnotisch und narkotisch wirken können. Als Hypnotika sollte man nur die Medikamente bezeichnen, die
vornehmlich zur Therapie von Schlafstörungen oder in der Anästhesie zur Prämedikation bzw. Narkoseeinleitung verwendet werden. Früher hat man für die
Medikamentengruppe der Anxiolytika und Hypnotika auch synonym die Begriffe „Sedativa“, „Tranquilizer“ oder „Ataraktika“ verwendet.
Merke
Unter den Medikamenten mit Missbrauchs- und Abhängigkeitspotenzial kommt den Anxiolytika und Hypnotika die
größte Bedeutung zu (➤ ).

Klassifikation
Folgende Substanzgruppen werden vornehmlich zur Anxiolyse eingesetzt:

• Benzodiazepine
• Buspiron
• Opipramol
• Pregabalin
• Hydroxyzin

Folgende Substanzgruppen kommen insbesondere zur Behandlung von Schlafstörungen zum Einsatz:

• Benzodiazepine und „Non-Benzodiazepin-Hypnotika“ („Z-Substanzen“)


• Antihistaminika wie z. B. Diphenhydramin
• Pflanzliche Produkte

Darüber hinaus werden auch die anxiolytischen bzw. sedierenden Eigenschaften von Antidepressiva (➤ ), Antipsychotika (➤ ) und Betablockern genutzt.

Benzodiazepine
Die Benzodiazepine stellen die wichtigste Gruppe der Anxiolytika und Hypnotika dar.

Pharmakologische Wirkungen und therapeutische Anwendung


Benzodiazepine wirken (➤ )

• anxiolytisch und affektiv entspannend,


• sedierend und schlafanbahnend (hypnotisch),
• muskelrelaxierend,
• antikonvulsiv.

Abb. 3.13 Wirkprofil verschiedener Benzodiazepine im Vergleich [L141]

Aus diesen Eigenschaften ergeben sich auch die therapeutischen Einsatzbereiche:

• In der Psychiatrie und Psychotherapie werden Benzodiazepine zur Akutbehandlung von Angst- und Unruhezuständen eingesetzt. Beispiele
sind:
– Akutbehandlung von Panikattacken
– Zusatzmedikation zur antidepressiven Therapie bei schwer ängstlich-agitierten oder suizidalen depressiven Patienten
– Behandlung schwerer Angst- und Erregungszustände, z. B. im Rahmen einer Schizophrenie oder Manie
– Akutbehandlung des Stupors und Mutismus
– Kurzzeitbehandlung von Schlafstörungen
• In der Neurologie werden Benzodiazepine (z. B. Clonazepam oder Diazepam) zur antikonvulsiven Therapie eingesetzt. Die Zulassung des
Muskelrelaxans Tetrazepam ruht seit 2013, nachdem schwere Hautreaktionen vermehrt beobachtet worden waren.
• In der Anästhesie kommen Benzodiazepine zur Sedierung in Notfallsituationen sowie zur Prämedikation und Narkoseeinleitung zum Einsatz, v. a.
Diazepam und Midazolam.

Klinik
Benzodiazepine werden z.  B. bei Schlafstörungen oder Unruhezuständen oft leichtfertig verordnet, was bzgl. des hohen Abhängigkeitspotenzials
problematisch ist (➤ ). Grundsätzlich sollten sie nur „so lange wie nötig und so kurz wie möglich“ angewendet werden. Es empfiehlt sich eine Gabe für
maximal 4 Wochen.

Grundsätzlich sollten besonders bei leichten Ängsten und Schlafstörungen psychotherapeutische  /  schlafhygienische Maßnahmen bzw. Medikamente im
Vordergrund der Therapie stehen, die keine Abhängigkeit erzeugen, z. B. pflanzliche Präparate, sedierende Antidepressiva oder niederpotente Antipsychotika.
Wenn allerdings eine Verordnung von Benzodiazepinen unumgänglich ist, sollte die Einnahme immer zeitlich begrenzt und ärztlich streng überwacht werden,
um einer Abhängigkeitsentwicklung entgegenzuwirken.

Klassifikation und Substanzen


Benzodiazepine lassen sich nach strukturchemischen Gesichtspunkten und nach der Halbwertszeit (HWZ) in verschiedene Gruppen einteilen:

• Einteilung nach der Struktur: Nach ihrer chemischen Struktur lassen sich vier Untergruppen unterscheiden:
– 1,4-Benzodiazepine, z. B. Diazepam, Lorazepam und Oxazepam)
– 1,5-Benzodiazepine, z. B. Clobazam (nicht mehr auf dem Markt)
– Imidazol-Benzodiazepine, z. B. Midazolam
– Triazolo-Benzodiazepine, z. B. Alprazolam
• Einteilung nach der Halbwertszeit: ➤ gibt einen Überblick über Benzodiazepine mit unterschiedlich langer HWZ. Besonders bei der Verwendung
von Benzodiazepinen mit langer und mittellanger HWZ kann es u. U. am Tag nach der abendlichen Einnahme zu Hangover-Effekten mit
verstärkter Tagesmüdigkeit, Einschränkung der kognitiven Leistungsfähigkeit und damit auch der Verkehrstauglichkeit kommen. Außerdem
kumulieren diese Substanzen eher. Bei sehr kurz wirkenden Benzodiazepinen wie z. B. dem entbehrlichen Triazolam besteht die Gefahr, dass bei
Einmalgabe zur Nacht am Morgen erhöhte Ängstlichkeit und Unruhe (Rebound-Symptomatik) auftreten können.

Tab. 3.18 Benzodiazepine: Überblick über die Einzelsubstanzen


Substanz Dosierung Äquivalenzdosis Metabolisierung Beurteilung
zu 10 mg
Valium

Benzodiazepine, die als Anxiolytika eingesetzt werden

Alprazolam 3 × 0,25–0,5 (max. 1 (0,5) mg HWZ 12–15 h; relativ viele wirksames Anxiolytikum; auf Interaktionen achten
4) mg Interaktionen

Bromazepam 3–6 mg (max. 12– 6 mg HWZ 15–35 h wirksames Anxiolytikum


18) in 2–4 ED

Chlordiazepoxid in ED von max. 25  20 (25) mg sehr lang wirksame Metaboliten, nicht empfehlenswert
mg bis max. 62,5  daher hohe Kumulationsgefahr
mg

Diazepam 2–10 (max. 40) mg 10 mg Hangover-Effekte und sicheres Anxiolytikum mit gleichzeitig guten
Kumulationsgefahr durch lang sedierenden Eigenschaften; Kumulationsgefahr
wirksame Metaboliten

Lorazepam 0,25–5 mg in 2–4 2 (1) mg keine Kumulationsgefahr, HWZ 12– hochwirksames Anxiolytikum mit Stupor- / Mutismus-
ED (max. 7,5 mg) 16 h lösender Wirkung; möglicherweise höheres
Abhängigkeitsrisiko

Oxazepam 10–60 mg in 2–4 30 (20–40) mg HWZ 4–15 h, keine aktiven relativ sicheres Anxiolytikum
Einzeldosen (max. Metaboliten
150 mg)

Benzodiazepine, die als Hypnotika eingesetzt werden

Brotizolam 0,125–0,25 mg 0,5 mg kurze HWZ 4–7 h wirksames Hypnotikum, keine Kumulationsneigung

Flunitrazepam 0,5–2 mg (max. 4  0,5(1) mg zahlreiche Metaboliten mit HWZ 20– Einsatz als Hypnotikum wegen hohen Risikos von
mg) 30 h Hangover-Effekten und Kumulationsgefahr nur in
Ausnahmefällen

Flurazepam 15–30 (max. 60) 30 (15–30) mg Kumulationsgefahr und Hangover- hohes Abhängigkeitsrisiko; Einsatz als Hypnotikum
mg Effekte wegen sehr lang wirksamer nur bei schwersten Schlafstörungen
Metaboliten

Lormetazepam 0,5–1 (max. 2) mg 1 mg relativ kurze HWZ von 8–14 h; keine relativ sicheres Hypnotikum; kaum
klinisch relevanten Metaboliten Kumulationsneigung; Mittel der 2. Wahl bei
Schlafstörungen

Nitrazepam 2,5–5 (max. 10) mg 5 mg HWZ 18–30 h; Kumulationsgefahr hohes Abhängigkeitsrisiko; Einsatz nur in
Ausnahmefällen

Temazepam 10–40 mg 20 mg HWZ 5–13 h; kaum wirksames Hypnotikum bei Ein- und
Kumulationsgefahr Durchschlafstörungen ohne Kumulationsneigung

ED = Einzeldosen

Diazepam
Diazepam wird schnell resorbiert und hat bei Einmalgabe maximale Plasmaspiegel nach 30–90  min. Aufgrund des hohen Verteilungsvolumens hat es bei
Einmaldosierung nur eine kurz dauernde Wirkung. Bei Dauermedikation beträgt die HWZ 24–48  h; aufgrund wirksamer Metaboliten wie Nordazepam und
Oxazepam besteht Kumulationsgefahr. Diazepam wird zur Behandlung von Angst- und Erregungszuständen, beim Alkoholentzugssyndrom sowie als
Hypnotikum eingesetzt, wobei bei Letzterem Hangover-Effekte aufgrund der langen HWZ störend sind. Die Dosierung ist ➤ zu entnehmen. Die i. v. Gabe
muss langsam erfolgen, da schnelle Injektion zu Atemdepression führen kann.

Lorazepam
Lorazepam erreicht nach rascher und vollständiger Resorption nach 1–2 h maximale Spiegel und hat eine HWZ von 12–16 h. Da keine aktiven Metaboliten
entstehen, besteht keine Kumulationsgefahr. Lorazepam ist auch in Form lyophilisierter Plättchen verfügbar. Im Mund lösen sich die Plättchen in Sekunden
auf, was bei Noncompliance das Zurückhalten der Tablette im Mund verhindert. Die Resorption ist aber nicht schneller als bei oraler Gabe. Lorazepam wird
bei Angst- und Erregungszuständen im Rahmen primärer Angststörungen, aber auch affektiver und psychotischer Erkrankungen und zur Lösung von Stupor
und Mutismus gegeben. Die Dosierung ist ➤ zu entnehmen. Das Abhängigkeitsrisiko ist möglicherweise höher als bei anderen Benzodiazepinen.

Wirkmechanismen
Benzodiazepine verstärken die hemmende Funktion GABAerger Neurone durch Interaktion mit spezifischen Benzodiazepin-Rezeptoren (Omega-Rezeptoren)
auf der neuronalen Zellmembran (➤ ). Durch Bindung an den Rezeptor wird die Bindungsfähigkeit von GABA an GABA A -Rezeptoren erhöht, wodurch es
infolge eines vermehrten Chloridioneneinstroms zu einer Hyperpolarisation und damit Mindererregbarkeit der Nervenzellen kommt. Im Gegensatz zu den
Barbituraten wirken Benzodiazepine auch nicht in hohen Dosen als direkte Agonisten am GABA A -Rezeptor, was ihre hohe Anwendungs- und
Intoxikationssicherheit erklärt. Aufgrund dieser Überlegenheit haben sie die Barbiturate in der Psychiatrie völlig verdrängt.
Abb. 3.14 Angriffspunkte von Benzodiazepinen und Barbituraten am GABAergen System [L141]

Durch die Gabe des Benzodiazepin-Rezeptor-Antagonisten Flumazenil können die Effekte von Benzodiazepinen aufgehoben werden, da die Benzodiazepine
aus ihren Bindungsstellen verdrängt werden. Flumazenil wird daher insbesondere zur Therapie der Benzodiazepin-Intoxikation eingesetzt.

Pharmakokinetik und Wechselwirkungen


Die Pharmakokinetik der Benzodiazepine wird bei guter Absorption im Magen-Darm-Trakt im Wesentlichen durch die je nach Substanz sehr unterschiedliche
Metabolisierung bestimmt. In der Leber läuft die Metabolisierung in zwei Schritten ab:

• Oxidative Demethylierung bzw. Dealkylierung und Hydroxylierung


• Konjugation mit Glucuronsäure

Die metabolisierten Substanzen werden dann über die Nieren ausgeschieden. Man muss beachten, dass die Schritte der Demethylierung und Hydroxylierung
langsam ablaufen und meist zur Bildung pharmakologisch wirksamer Metaboliten führen, die ihrerseits wieder eine lange HWZ besitzen und für
Kumulationseffekte verantwortlich sein können (➤ ).
Die Prozesse der Demethylierung und Hydroxylierung in der Leber zeigen im Gegensatz zur Glucuronidierung eine deutliche Abhängigkeit von der
Leberfunktion und dem Alter. Daher kann bei alten Patienten und Patienten mit Leberfunktionsstörungen die HWZ von Diazepam deutlich verlängert und
somit die Kumulationsgefahr erhöht sein, während die Verstoffwechslung von Lorazepam und Oxazepam nicht beeinflusst wird. Eine renale Insuffizienz hat
normalerweise keinen Einfluss auf die Pharmakokinetik der Benzodiazepine.
Durch Hemmung des oxidativen Abbaus durch CYP450-Isoenzyme der Leber können die Plasmaspiegel einiger Benzodiazepine ansteigen. Folgende
Pharmaka kommen in Betracht: Cimetidin, Propranolol, Östrogene, Isoniazid und SSRIs. Durch Enzyminduktion durch z. B. Carbamazepin dagegen können
die Plasmaspiegel gesenkt werden. Dies trifft allerdings nicht für die Benzodiazepine zu, die nicht oxidiert, sondern primär glucuronidiert werden (z.  B.
Lorazepam und Oxazepam).
Die einmalige Verabreichung von Benzodiazepinen weist gegenüber der Daueranwendung einen wichtigen pharmakologischen Unterschied auf: Bei
einmaliger Gabe wird die Dauer der Wirkung nicht durch die HWZ, sondern durch das Ausmaß der Verteilung im Organismus bestimmt. Daher hat Diazepam
trotz langer HWZ wegen seiner ausgeprägten Verteilung in lipidhaltigen peripheren Geweben bei einmaliger Gabe nur eine kurze Wirkdauer, während
Lorazepam und Oxazepam trotz kurzer HWZ, aber schlechter Verteilung relativ lange wirken. Nach Aufdosieren und Erreichen von Steady-State-Bedingungen
(nach 4 HWZ) stellt die Halbwertszeit ein geeignetes Maß für die Dauer bis zum Abklingen der Wirkung dar.

Nebenwirkungen
Benzodiazepine zeichnen sich durch sehr gute Verträglichkeit und eine sehr große therapeutische Breite aus, sodass auch eine Überdosierung i. d. R. nicht
lebensgefährlich ist. Aus diesem Grund sind auch vor und während der Therapie keine routinemäßigen Labor-, EEG- oder EKG-Untersuchungen notwendig.
Bei Überdosierung kann die zentral dämpfende Wirkung der Benzodiazepine mit Flumazenil antagonisiert werden.
An unerwünschten Nebenwirkungen treten besonders zu Beginn Müdigkeit, selten Mundtrockenheit, Einschränkung der Konzentrationsfähigkeit und
Aufmerksamkeit sowie eine Verlangsamung der Reaktionszeit ein, wodurch die Fahrtüchtigkeit herabgesetzt wird.
In höherer Dosierung kann es zu Dysphorie, Dysarthrie, Ataxie und einer anterograden Amnesie kommen. Die muskelrelaxierende Wirkung kann v. a. bei
älteren Menschen zu vermehrten Stürzen führen. Auch Appetitzunahme, Menstruationsbeschwerden und Abnahme der sexuellen Potenz wurden beobachtet.
Bei hohen Dosen können v. a. bei älteren Menschen Paradoxphänomene auftreten, die sich in Agitiertheit, Erregungszuständen, Schlaflosigkeit und Euphorie
äußern.
B e i sehr schneller i. v. Applikation (z.  B. von Diazepam) kann es zu Blutdruckabfall u n d Atemdepression, in seltenen Fällen sogar zum
Kreislaufstillstand kommen. Außerdem kann i. v. Applikation zu lokalen Gefäßirritationen bis hin zu Thrombophlebitiden führen.

Kontraindikationen und Intoxikationen


Benzodiazepine sind kontraindiziert bei bekannter Benzodiazepin-Überempfindlichkeit, bei Myasthenia gravis, beim akuten Engwinkelglaukom und bei einer
akuten Vergiftung durch Alkohol, Opioide, Schlafmittel oder Psychopharmaka.

Abhängigkeitsentwicklung

Merke
Die Entwicklung einer psychischen und physischen Abhängigkeit stellt die größte Gefahr der Benzodiazepine dar.
Klinik
Richtlinien zur Therapie mit Benzodiazepinen

• Strenge Indikationsstellung und regelmäßige Überprüfung der Indikation.


• Verordnung i. d. R. nicht länger als 2–4 Wochen.
• Verwendung der niedrigstmöglichen Dosierung – die anxiolytische Wirkung tritt i. d. R. bei niedrigeren Dosen ein als die sedative.
• Keine Benzodiazepine bei abhängigkeitsgefährdeten Patienten; hier sollten niederpotente Antipsychotika, Antihistaminika wie Promethazin oder
Antidepressiva bevorzugt werden, die keine Abhängigkeit erzeugen.

Hauptkennzeichen der Abhängigkeit sind das Verlangen nach der Substanz („Craving“), Toleranzentwicklung (v.  a. gegenüber der sedierenden,
muskelrelaxierenden und antikonvulsiven Wirkungskomponente, selten aber gegenüber der anxiolytischen Wirkung) und Entzugssymptome. Falls
Benzodiazepine nach längerer Gabe abrupt abgesetzt werden, kommt es zu Entzugssyndromen, die je nach HWZ der Substanz 2–10 Tage nach Absetzen der
Medikation beginnen.
Entzugssymptome sind unterschiedlich stark ausgeprägt:

• Meist leicht: innere Unruhe, Schlaflosigkeit und Angst, Dysphorie und erhöhte Irritabilität sowie Tremor, Tachykardie, Schwitzen, Übelkeit,
Erbrechen
• Schwer, in 20 % der Fälle: paranoid-halluzinatorische Syndrome, Verwirrtheitszustände und Delire, Krampfanfälle, aber auch einfache
Wahrnehmungsveränderungen

Benzodiazepin-Entzugssyndrome lassen sich durch eine schrittweise Dosisreduktion über einen Zeitraum von mindestens 4 Wochen vermeiden. Jede Woche
ist die Dosis um maximal ein Viertel der vorherigen Dosis zu reduzieren, in den letzten Wochen besonders vorsichtig (fraktionierter Entzug).
Nach Entzug sind erneut auftretende Angstsymptome oft nicht von Entzugserscheinungen zu unterscheiden. Dies gilt v.  a. für die sog. „low-dose
dependency“. Hierbei braucht der Patient die Dosis zwar nicht zu steigern, er kann jedoch auf eine bestimmte niedrige Dosis nicht verzichten. Bei Absetzen
dieser üblichen, therapeutisch verordneten Dosen, die über einen langen Zeitraum eingenommen wurden, kommt es zu Entzugssymptomen. Sie nehmen dann
nach Absetzen kontinuierlich zu und können über viele Wochen fluktuieren, sodass sie von primär wieder auftretenden Angstsymptomen nicht sicher zu
unterscheiden sind.

„Non-Benzodiazepin-Hypnotika“ („Z-Substanzen“)
➤ stellt die Substanzen mit Dosis, HWZ und Indikationen dar. Sie wirken pharmakologisch ähnlich wie die Benzodiazepine, unterscheiden sich aber strukturell
von ihnen.

Tab. 3.19 „Non-Benzodiazepin-Hypnotika“ und ihre Zeit bis zu maximalen Plasmaspiegeln sowie HWZ
Substanz Dosis [mg] max. Plasmaspiegel [h] HWZ [h] Indikation
Zopiclon 3,75–7,5 1,5–2 2–6 Ein- und Durchschlafstörungen

Zolpidem 5–10, max. 20 2 1,5–2,5 aufgrund kurzer HWZ nur bei Einschlafstörungen

Zaleplon 5–10 1 1 wegen max. Wirkdauer von 4 h nur bei Einschlafstörungen

Diese Substanzen haben im Vergleich zu manchen Benzodiazepinen keine Hangover-Effekte und sollen beim Absetzen weniger Rebound-Phänomene
verursachen. Aus Letzterem wurde auf ein geringeres Abhängigkeitspotenzial geschlossen. Abhängigkeitsentwicklungen sind aber insbesondere bei Zopiclon
häufiger als früher angenommen, sodass auch diese Substanzen nur kurzfristig und insgesamt zurückhaltend eingesetzt werden sollten.

Andere Anxiolytika
Buspiron
Buspiron ist ein kompletter Agonist an präsynaptischen 5-HT 1a -Autorezeptoren, wodurch er inhibierend auf die Ausschüttung von Serotonin wirkt. Zusätzlich
wirkt er postsynaptisch als partieller Agonist an denselben Rezeptoren mit direktem serotonergem Effekt. Buspiron wirkt anxiolytisch, ohne gleichzeitig zu
sedieren oder eine muskelrelaxierende Wirkung zu entfalten und ist zur „symptomatischen Behandlung von Angstzuständen“ zugelassen. Es besitzt kein
Abhängigkeitspotenzial. Aufgrund der langen Wirklatenz (14 Tage) ist es für die Akutbehandlung von Angstzuständen nicht geeignet. Die Dosierung erfolgt
einschleichend auf eine Erhaltungsdosis von 15–30 mg / d (Höchstdosis 60 mg, Dosisverteilung auf 3–4 Einzelgaben).

Opipramol
Vor allem im Niedergelassenenbereich ist Opipramol eines der am häufigsten verordneten Psychopharmaka. Es wirkt über eine Bindung an Sigma-Rezeptoren
modulierend auf das NMDA-System, blockiert H 1 - und 5-HT 2 a -Rezeptoren, wirkt nur schwach anticholinerg und ist insgesamt gut verträglich. Obwohl
Opipramol mit den TZA strukturell verwandt ist, bewirkt es keine Wiederaufnahmehemmung von Monoaminen. Es wird in einer Dosis von 50–200 mg in 1–3 
Einzelgaben gegeben und ist für die Behandlung von generalisierten Angststörungen und somatoformen Störungen zugelassen. Der anxiolytische Effekt ist
stärker ausgeprägt als der antidepressive.

Pregabalin
Dieses Antikonvulsivum ist außer bei Epilepsien und neuropathischen Schmerzen auch für die generalisierte Angststörung zugelassen. Es ist ein GABA-
Analogon, das nicht aktiv am GABA-Rezeptor wirkt, sondern an eine Untereinheit von spannungsabhängigen Kalziumkanälen bindet und so die Freisetzung
von Monoaminen aus übererregten Neuronen modulieren soll. Es wird praktisch nicht in der Leber metabolisiert (keine Interaktionen!) und weitgehend
unverändert renal ausgeschieden (Dosisreduktion bei eingeschränkter Nierenfunktion). Die Tagesdosis von 150–600  mg wird in 2–3  ED verabreicht.
Abhängigkeitsentwicklungen sind beschrieben worden, sodass es zurückhaltend eingesetzt werden sollte. Nebenwirkungen sind häufig. Dazu gehören z.  B.
Benommenheit, Schläfrigkeit, Schwindel, Gangstörungen, Tremor, Obstipation, Mundtrockenheit, Gewichtszunahme, verringerte Libido und erektile
Dysfunktionen.

Hydroxyzin
Dieses Antihistaminikum wirkt anxiolytisch und über eine Blockade von H 1 -Rezeptoren sedierend. Wegen antiadrenerger und anticholinerger
Nebenwirkungen ist es bei der Behandlung von Angst- und Schlafstörungen nur Mittel der 2. Wahl.

β-Rezeptoren-Blocker
Betablocker kommen vorwiegend bei der Behandlung von Ängsten zur Anwendung, die mit ausgeprägten körperlichen Symptomen einhergehen oder
situationsabhängig sind, z.  B. Examensangst oder „Lampenfieber“. Durch die Verminderung somatischer Angstsymptome in der Peripherie sollen hier
sekundär auch psychische Angstsymptome reduziert werden. Dosierung: z.  B. 10–40  mg Propranolol. Betablocker führen nicht zu einer
Abhängigkeitsentwicklung.

Silexan
Dieses Lavendelöl-Präparat ist zur Behandlung von Unruhezuständen und ängstlicher Verstimmung zugelassen. In einer Dosis von 80 oder 160 mg ist es sehr
gut verträglich; es ist frei von pharmakokinetischen Interaktionen und sediert nicht. Bei leichten Angstzuständen kann es eine Alternative sein.

Andere Hypnotika
In der Behandlung von Schlafstörungen gelingt es häufig, gerade bei leicht ausgeprägten Schlafstörungen mit Verhaltensänderungen (schlafhygienische
Maßnahmen, ➤ ) und pflanzlichen Präparaten (Hopfen- und Baldrianpräparate) auszukommen. Zu den frei im Handel erhältlichen Hypnotika gehören auch
bestimmte Antihistaminika wie z.  B. Diphenhydramin oder Hydroxyzin, deren schlafinduzierende Wirkung gegenüber den eigentlichen Hypnotika relativ
gering ist und die deshalb bei leichten Schlafstörungen indiziert sind. Hier muss allerdings mit anticholinergen Nebenwirkungen gerechnet werden (cave:
anticholinerge Delire bei Überdosierung, z. B. in suizidaler Absicht).
Häufig werden bei Schlafstörungen im Rahmen anderer psychiatrischer Grunderkrankungen die sedierenden Eigenschaften von Antidepressiva und
Antipsychotika ausgenutzt und deren Hauptdosis auf den Abend gelegt. Häufig primär als Hypnotika eingesetzte Substanzen sind die folgenden
niederpotenten Antipsychotika:

• Pipamperon : wirkt über Blockade von 5-HT 2 -Rezeptoren sedierend. Dosis 20–80 mg z. N. Aufgrund fehlender anticholinerger Nebenwirkungen
und geringen Interaktionspotenzials bei geriatrischen Patienten häufig eingesetzt.
• Melperon : wirkt über Blockade von 5-HT 2a -Rezeptoren sedierend. Dosis 25–100 mg z. N. Trotz fehlender anticholinerger Effekte wegen eines
höheren Interaktionspotenzials durch CYP2D6-Inhibition und eines erhöhten Risikos der QT-Zeit-Verlängerung bei geriatrischen Patienten weniger
sicher als Pipamperon.
• Promethazin : wirkt durch H 1 -Blockade gut sedierend, hat aber durch anticholinerge und antiadrenerge Wirkung ein hohes Nebenwirkungsrisiko.
Daher nur Mittel der 2. Wahl. Dosierung 25–100 mg z. N.
• Prothipendyl : wirkt über eine Blockade von 5-HT 2a - und H 1 -Rezeptoren sedierend. Dosierung 40–80 mg z. N. Anticholinerge und antiadrenerge
Nebenwirkungen. Keine Zulassung bei Verhaltensstörungen im Rahmen von Demenzen.

Melatonin ist zur kurzzeitigen Monotherapie (bis 13 Wochen) bei Patienten ab 55 Jahren mit primärer Insomnie zugelassen. Es imitiert die physiologische
Melatoninfreisetzung und entfaltet schlafregulierende Effekte nach einer kontinuierlichen Einnahme von 2 mg z. N. über mindestens 3 Wochen. Die Wirkung
ist vergleichsweise gering; breite klinische Erfahrungen fehlen.
Chloralhydrat ist wegen vielfacher Probleme als Einschlafmittel nicht mehr zu empfehlen. Es handelt sich um ein Alkoholaldehyd-Derivat, dessen
hypnotische Wirkung bei einer Dosis von 0,5–2  g einsetzt und etwa 5  h anhält. Aufgrund einer Enzyminduktion tritt nach regelmäßiger Einnahme bald ein
Wirkungsverlust auf. Die therapeutische Breite ist gering, die letale Dosis liegt bei 6–10 g. Patienten mit Erkrankungen von Magen / Darm, Leber oder Herz
oder unter oraler Antikoagulation dürfen Chloralhydrat nicht einnehmen. Sucht und Gewöhnung können auftreten.

3.2.7. Antidementiva
Definition
Als Antidementiva bezeichnet man eine heterogene Gruppe von Substanzen, die mit dem Ziel der Verbesserung von Gedächtnis, Aufmerksamkeit und
Konzentrationsfähigkeit zur Behandlung von Demenzen eingesetzt werden. In der Gruppe der Antidementiva lassen sich drei Gruppen von Substanzen
unterscheiden:

• Acetylcholinesterase-Hemmer
• der Glutamat-Modulator Memantin
• „Nootropika“

Acetylcholinesterase-Hemmer
Die Acetylcholinesterase-(AChE)-Hemmer Donepezil , Rivastigmin und Galantamin sind zur Behandlung der leichten bis mittelschweren Alzheimer-Demenz
zugelassen, Rivastigmin auch bei leichter bis mittelschwerer Demenz bei Morbus Parkinson.
Je nach klinischem Endpunkt unterscheiden sich die Effektstärken ( ➤ ). Bezüglich der Besserung der Kognition haben sie einen mittelgroßen Effekt
(Effektstärke 0,5), bzgl. der Besserung der Alltagsaktivitäten und des klinischen Gesamteindrucks nur einen kleinen Effekt (0,3). Mangels wirksamerer
Alternativen stellen sie in den o.  g. Indikationen dennoch Mittel der 1. Wahl dar. Wesentliche Wirksamkeitsunterschiede zwischen den drei Substanzen
bestehen nicht. Da die Wirkung dosisabhängig ist, sollte immer mit der höchsten verträglichen Dosis behandelt werden (➤ ; ➤ ).

Tab. 3.20 Wirkmechanismen, therapeutische Dosis und Pharmakokinetik der Acetylcholinesterase-Hemmstoffe


Substanz Startdosis Dosissteigerung Erhaltungsdosis Wirkmechanismus Pharmakokinetik
Donepezil 5 mg nach 4–6 Wochen 10 mg / d hemmt kompetitiv und Metabolisierung über CYP2D6; HWZ ca. 3 
auf 10 mg reversibel die AChE Tage; Einmalgabe am Morgen ist möglich

Rivastigmin oral: 3  oral: alle 2 Wochen oral: 6–12 mg / d führt durch eine muss trotz kurzer Plasma-HWZ (< 2 h) nur 2 × / 
mg; um 3 mg Pflaster: 9,5 mg / d; pseudoirreversible Bindung d gegeben werden, da es durch eine
Pflaster: Pflaster: nach 4  max. Steigerung mit der AChE zu einer pseudoirreversible Bindung mit AChE zu einer
4,6 mg Wochen auf auf 13,3 mg / d bei Reduktion der AChE- Reduktion der AChE-Aktivität für ca. 10 h führt;
Erhaltungsdosis guter Aktivität; zusätzlich hemmt durch gleichmäßige Wirkstofffreisetzung beim
Verträglichkeit es auch den Pflaster sind Nebenwirkungen wie Übelkeit
und nicht Acetylcholinabbau durch die deutlich reduziert
ausreichender Butyrylcholinesterase
Wirkung von 9,5 
mg / d nach 6 
Monaten

Galantamin 8 mg alle 4 Wochen um 16–24 mg / d ist ein ursprünglich aus Metabolisierung über CYP2D6 und CYP3A4;
8 mg Schneeglöckchen isolierter HWZ bei Lösung 6 h, sodass eine
kompetitiver AChE-Hemmer; Dosisverteilung von 2 Gaben pro Tag empfohlen
zusätzlich hat Galantamin wird, bei Retardform nur morgens
auch einen agonistischen
Effekt an nikotinergen
Rezeptoren

Wirkmechanismen und Pharmakokinetik


AChE-Inhibitoren hemmen den Acetylcholinabbau und erhöhen so die Konzentration dieses Neurotransmitters im synaptischen Spalt.
Der Einsatz von AChE-Hemmern in der Therapie der Alzheimer-Demenz basiert im Wesentlichen auf zwei Beobachtungen:

• Die cholinerge Innervation des Kortex und des Hippokampus ist für Aufmerksamkeitsprozesse und Gedächtnisleistungen von Bedeutung.
• Neben den limbischen und paralimbischen Strukturen sind bei der Alzheimer-Demenz die neuropathologischen Veränderungen in den cholinergen
Projektionskernen des basalen Vorderhirns (insb. Ncl. basalis Meynert) besonders ausgeprägt. Im Ncl. basalis Meynert findet sich ein Verlust von
mehr als der Hälfte der cholinergen Nervenzellen.

Damit stellt der Ausgleich dieses „cholinergen Defizits“ durch AChE-Hemmer ein auf pathogenetischen Faktoren beruhendes Behandlungsprinzip dar.
Die Wirkmechanismen der drei auf dem Markt befindlichen AChE-Hemmer und ihre Pharmakokinetik sind in ➤ zusammengestellt.

Nebenwirkungen und Kontraindikationen


Im Wesentlichen sind die Acetylcholinesterase-Inhibitoren gut verträglich. Die häufigsten Nebenwirkungen sind Appetitlosigkeit, Durchfall, Übelkeit und
Erbrechen, Schwindel, Müdigkeit, Schlafstörungen sowie Muskelkrämpfe. Durch langsame Aufdosierung und Gabe als transdermales Pflaster (Rivastigmin)
können die Nebenwirkungen reduziert werden. Gelegentlich, besonders bei gleichzeitiger Gabe von Betablockern, kann es zu Bradykardien kommen (Stürze
durch Synkopen!). Nur unter besonderer Vorsicht sind die AChE-Hemmer bei schwerem Asthma bronchiale, KHK, Herzrhythmusstörungen (insb. AV-Block)
und aktiver Ulkuserkrankung des Magen-Darm-Trakts einzusetzen.

Glutamat-Modulatoren
Die Effektstärken des Glutamat-Modulators Memantin in der Behandlung der Alzheimer-Demenz sind kleiner als die der AChE-Hemmer: Auf die Kognition
liegen sie zwischen 0–0,26 und auf die Alltagsfunktionen bei 0–0,18. Eine Zulassung besteht zur Behandlung der mittelschweren und schweren Alzheimer-
Demenz. Bei Therapieresistenz auf AChE-Hemmer kann Memantin als Add-on-Substanz verordnet werden (➤ ).

Wirkmechanismus und Dosierung


Das angenommene Wirkprinzip der Glutamat-Modulatoren ist, eine schädliche Überstimulation glutamaterger Neurone, die in der Pathogenese demenzieller
Erkrankungen angenommen wird, zu reduzieren. Memantin bindet an den NMDA-Subtyp der Glutamat-Rezeptoren und blockiert dadurch den
Kalziumioneneinstrom in die Nervenzelle. Die Startdosis liegt bei 5  mg am Morgen, anschließend wöchentliche Dosissteigerung um 5  mg bis zur
Erhaltungsdosis von 20 mg.

Pharmakokinetik und Nebenwirkungen


Bei einer HWZ von 60–100  h findet keine Metabolisierung über CYP450-Enzyme der Leber statt, die Elimination erfolgt fast ausschließlich renal. Bei
höhergradiger Niereninsuffizienz muss daher eine Dosisreduktion erfolgen. Die Verträglichkeit ist relativ gut; selten wurden Halluzinationen, Verwirrtheit,
Schwindel, Kopfschmerzen oder Müdigkeit sowie eine Senkung der Krampfschwelle beobachtet.

„Nootropika“
Vor der Entwicklung von AChE-Hemmern und Glutamat-Modulatoren standen zur Behandlung demenzieller Erkrankungen nur Substanzen zu Verfügung, die
über unterschiedliche Wirkmechanismen einen eher schwachen Effekt auf die Verbesserung von „organisch bedingten Hirnleistungsstörungen“ hatten. Zu den
postulierten Wirkmechanismen dieser Substanzen zählen z. B.:

• Durchblutungsförderung durch Gefäßdilatation und Verminderung der Blutviskosität


• Membranstabilisierende Effekte
• Verbesserung der Glukoseverwertung
• Radikalfänger
• Kalziumantagonismus
• Beeinflussung von Neurotransmittersystemen

Für keine dieser Substanzen besteht eine hinreichende Evidenz für die Wirksamkeit bei Alzheimer-Demenz oder anderen Demenzformen, sodass die
Verschreibung nicht zu empfehlen ist.
Zu den Nootropika werden gerechnet: Codergocrin / Dihydroergotoxin, Ginkgo-Präparate , Nicergolin , Piracetam und Pyritinol.

3.2.8. Psychopharmaka in der Behandlung von Abhängigkeitserkrankungen


In der Behandlung von Abhängigkeitserkrankungen kommen in verschiedenen Phasen der Erkrankung verschiedene Klassen von Psychopharmaka zum
Einsatz:

• Behandlung des Alkoholentzugssyndroms:


– Benzodiazepine
– Clomethiazol
• Entwöhnungsmittel von Alkohol:
– Acamprosat
– Naltrexon (Adepend®) und Nalmefen
– Disulfiram
• Substitutionsbehandlung der Opioidabhängigkeit:
– Buprenorphin
– Buprenorphin / Naloxon
– Levomethadon
– Methadon
• Entwöhnungsmittel von Opioiden: Naltrexon (Nemexin®)
• Substitutionsmittel bei Nikotinabhängigkeit: Nikotin
• Entwöhnungsmittel von Nikotin:
– Bupropion
– Vareniclin

Medikamente in der Behandlung des Alkoholentzugssyndroms

Clomethiazol
Clomethiazol ist zur Behandlung des Alkoholentzugssyndroms und -delirs, bei schweren, nicht anders beherrschbaren Erregungs- und Unruhezuständen bei
älteren Patienten mit organischen psychischen Störungen sowie bei nicht anders beherrschbaren Schlafstörungen bei älteren Menschen unter stationären
Bedingungen zugelassen und ist beim unkomplizierten Alkoholentzugssyndroms zusammen mit den Benzodiazepinen Mittel der 1. Wahl.

Wirkmechanismen
Clomethiazol verstärkt die Wirkung der inhibitorischen Neurotransmitter GABA und Glycin, insbesondere am GABA A -abhängigen Chloridionenkanal. Die
Vorteile von Clomethiazol liegen darin, dass es sedierend, hypnotisch sowie antikonvulsiv wirkt und in der Lage ist, die Entwicklung eines Delirs zu
verhindern.
Eine i. v. Applikationsform steht nicht mehr zur Verfügung.

Pharmakokinetik und Interaktionen


Maximale Serumspiegel werden bei Gabe einer Kapsel nach 30 min erreicht. Die Metabolisierung erfolgt in der Leber über CYP2A6, CYP2B6 und CYP3A4,
die Ausscheidung über die Nieren. Mit 3 h ist die HWZ kurz, weshalb es bei oraler Gabe gut steuerbar ist und mehrfach pro Tag verabreicht werden muss. Die
HWZ verlängert sich bei Vorliegen eines Leberschadens auf bis zu 8  h. Durch die Gabe anderer sedierender Medikamente werden die sedierenden
Eigenschaften von Clomethiazol verstärkt.

Nebenwirkungen und Kontraindikationen


Prinzipiell ist Clomethiazol gut verträglich. Sehr häufige Nebenwirkung ist eine erhöhte Speichel- und Bronchialsekretion. Häufig kommen auch Juckreiz und
Hautausschläge sowie gelegentlich Schnupfengefühl und Hustenreiz vor. In höheren Dosen können schwere Nebenwirkungen wie Blutdruckabfall,
Atemdepression sowie Bewusstlosigkeit auftreten.
Kontraindikationen für Clomethiazol sind:

• Akute Alkoholintoxikation (Beginn der Therapie, wenn der Alkoholspiegel < 1 ‰ beträgt)
• Obstruktive Lungenerkrankungen

Merke
Da Clomethiazol selbst ein hohes Abhängigkeitspotenzial besitzt, darf es ausschließlich stationär und für maximal 14 
Tage eingesetzt werden. Da Entzugssyndrome auftreten können, muss es ausschleichend abgesetzt werden.

Clonidin
Clonidin ist ein zentraler präsynaptischer α 2 -Agonist, der als Antihypertensivum eingesetzt wird, aber infolge seiner Aktivitätshemmung noradrenerger
Neurone auch in der Behandlung des Opioid- und Alkoholentzugssyndroms zur Anwendung kommt. Zur Behandlung des akuten Alkoholentzugssyndroms ist
es als Paracefan® zugelassen. Hier darf es allerdings nicht allein gegeben werden, da es keine antikonvulsiven und delirverhütenden Eigenschaften hat. Beim
schweren Alkoholentzugssyndrom kann es i. v. verabreicht werden.
Zu Details der Behandlung im Rahmen des Opioidentzugssyndroms wird auf ➤ verwiesen.

Entwöhnungsmittel von Alkohol

Acamprosat
Acamprosat ist zur Unterstützung der Aufrechterhaltung der Abstinenz bei alkoholabhängigen Patienten zugelassen. Da es das Verlangen nach Alkohol,
das sog. Craving, reduziert, wird es auch als Anticraving-Substanz bezeichnet. Die Effektstärke (➤ ) bzgl. der Verhinderung von Rückfällen ist mit 0,2 klein.
Acamprosat wirkt durch einen antagonistischen Effekt am NMDA- / Glutamat-Rezeptor (Dosierung und Effektivität ➤ ).

Pharmakokinetik und Interaktionen


Wirksame Acamprosat-Spiegel werden bei Gabe der vollen Tagesdosis erst nach 7  Tagen aufgebaut, weshalb früh nach der Entgiftung mit der Therapie
begonnen werden sollte. Acamprosat bindet nicht an Proteine und wird im Wesentlichen unverändert über die Nieren ausgeschieden. Wesentliche
Medikamenteninteraktionen sind nicht bekannt. Acamprosat kann mit Disulfiram und / oder Naltrexon kombiniert werden.

Nebenwirkungen
Meist wird das Medikament sehr gut vertragen, initial können aber Magen-Darm-Beschwerden (v. a. Durchfall, Übelkeit, Erbrechen) oder selten allergische
Reaktionen auftreten. Eine Abhängigkeitsentwicklung ist nicht zu befürchten.

Naltrexon
Naltrexon ist als Adepend® zur Reduktion des Rückfallrisikos bei Alkoholabhängigkeit und als Nemexin® zur medikamentösen Unterstützung bei der
psychotherapeutisch geführten Entwöhnungsbehandlung vormals Opioidabhängiger nach erfolgter Opioidentgiftung (s. u.) zugelassen. Es wird in einer Dosis
von 25–50 mg / d gegeben. Naltrexon ist ein kompetitiver μ-Opioid-Rezeptor-Antagonist ohne klinisch relevante intrinsische Wirkung. Naltrexon soll v.  a.
trinkmengenreduzierend wirken, hat aber ebenso wie Acamprosat nur eine kleine Effektstärke von ca. 0,2 bei der Behandlung der Alkoholabhängigkeit.

Pharmakokinetik und Interaktionen


Naltrexon wird nach oraler Gabe rasch resorbiert; die Bioverfügbarkeit beträgt 20  %. Die HWZ liegt bei 4  h, für den wichtigsten aktiven Metaboliten 6β-
Naltrexol bei 13 h. Allerdings beträgt die Dissoziations-HWZ aus der Opioid-Rezeptor-Blockade 3–4 Tage, sodass auch eine Gabe alle 2 Tage in höherer Dosis
möglich ist (z. B. montags und mittwochs je 100 mg und freitags 150 mg).

Nebenwirkungen und Kontraindikationen


Naltrexon wird meist gut vertragen. Häufige Nebenwirkungen sind Kopfschmerzen, Unruhe und Angstzustände, Schlafstörungen, Übelkeit und Erbrechen
sowie Gelenk- und Muskelschmerzen.

Nalmefen
Nalmefen ist eine Naltrexon-Variante, die unter kontinuierlicher psychosozialer Unterstützung zur Reduktion des Alkoholkonsums bei Patienten mit
Alkoholabhängigkeit zugelassen ist, deren Alkoholkonsum „sich auf einem hohen Risikoniveau befindet“ (> 60 g / d für Männer; > 40 g / d für Frauen), bei
denen keine körperlichen Entzugserscheinungen vorliegen und für die keine sofortige Entgiftung erforderlich ist. Die Wirkung ist vergleichbar schwach wie bei
Naltrexon (Effektstärke 0,2). Eine regelmäßige psychosoziale Begleitung ist Voraussetzung für die Verordnung.

Disulfiram
Disulfiram ist zur Rückfallprophylaxe der Alkoholabhängigkeit zugelassen und nur noch über internationale Apotheken erhältlich. Aufgrund des Risikos
schwerer Komplikationen ist es nur bei sozial stabilen und motivierten Patienten zu empfehlen, die nicht auf Acamprosat oder Naltrexon respondiert haben.

Wirkmechanismus
Disulfiram hemmt die Aldehyddehydrogenase durch wirksame Metaboliten, was bei Alkoholkonsum zu einem Anstieg des Alkoholabbauprodukts Acetaldehyd
bis auf das 10-Fache führt. Bei gleichzeitigem Alkoholkonsum kommt es innerhalb von 10–30 min durch die Akkumulation von Acetaldehyd zu einer sehr
unangenehmen Alkoholunverträglichkeitsreaktion (Disulfiram-Alkohol-Reaktion), die für 60–180  min anhält und noch 1–2  Wochen nach der letzten
Einnahme auftreten kann. Dazu gehören Gesichtsrötung aufgrund einer Vasodilatation, Kopfschmerzen, Schwindel, Herzrasen, Übelkeit, Erbrechen, Atemnot,
Blutdruckanstieg, Schwitzen und starke Angst. In Extremfällen können Atemdepression, starke Hypotonien, Arrhythmien, Krampfanfälle und Tod eintreten.
Das Prinzip der Wirksamkeit von Disulfiram besteht damit in einer „Aversivtherapie“.

Pharmakokinetik und Interaktionen


Disulfiram wird oral in einer Dosis von 200–500 mg verabreicht. Da die Hemmung der Alkoholdehydrogenase irreversibel ist und der klinische Effekt etwa 7 
Tage anhält, kann Disulfiram in der entsprechenden Dosis auch 2 × / Woche verabreicht werden.
Disulfiram ist ein potenter Inhibitor der Cytochrom-P450-Isoenzyme CYP1A2 und CYP2E1, wodurch es zu vielfältigen Interaktionen kommen kann.
Nebenwirkungen und Kontraindikationen
An Nebenwirkungen ohne gleichzeitigen Alkoholkonsum sind Sedierung, allergische Reaktionen, Sehstörungen, sexuelle Funktionsstörungen und selten
Lebertoxizität beschrieben.
Disulfiram ist kontraindiziert bei akuten Intoxikationen mit Psychopharmaka, bei schweren Hepatopathien, floriden Ulzera, kardialen Vorerkrankungen,
Epilepsien und psychotischen Störungen sowie bei Kombinationsbehandlungen mit verschiedenen Antibiotika, Metronidazol, MAO-Hemmern, Amitriptylin
und Isoniazid.

Substitutionsbehandlung der Opioidabhängigkeit

Methadon und Levomethadon


Methadon ist ein μ-Opioid-Rezeptor-Agonist, der im Rahmen eines integrierten Behandlungskonzepts zur Substitutionsbehandlung bei Opioidabhängigkeit und
in der Entgiftungsbehandlung eingesetzt wird. Heute kommt oft die linksdrehende Form von Methadon, Levomethadon, zum Einsatz (➤ ).

Buprenorphin
Buprenorphin ist ein partieller μ-Opioid-Rezeptor-Agonist und ein κ-Opioid-Rezeptor-Antagonist, der im Rahmen medizinischer, sozialer und
psychotherapeutischer Maßnahmen zur Substitutionsbehandlung bei Opioidabhängigkeit zugelassen ist und auch in der Entgiftungsbehandlung eingesetzt wird.
Gegenüber Methadon hat es in der Dosierung eine relativ breite Sicherheitsspanne und eine niedrigere Rate an Komplikationen. Die Abgabe erfolgt nach den
gleichen Richtlinien wie bei Levomethadon (➤ ). Bei Missbrauch durch nasale oder i. v. Applikation ist Buprenorphin/Naloxon vorzuziehen, in dem der reine
Opioid-Rezeptor-Antagonist Naloxon die anfänglich euphorisierende Wirkung von Buprenorphin hemmt, was die Abhängigkeitsgefahr reduziert. Buprenorphin
wird sublingual appliziert. Aufgrund der sehr langsamen Dissoziation vom Rezeptor (➤ ) kann es auch in einer entsprechend höheren Dosis alle 2–3  Tage
verabreicht werden, was die Therapiesteuerung über Wochenenden und Feiertage gegenüber Levomethadon erleichtert.
Klinische Anwendung und Dosierung ➤ .

Entwöhnungsmittel von Opioiden

Naltrexon (Nemexin®)
Naltrexon ist als Nemexin® zur medikamentösen Unterstützung bei der psychotherapeutisch geführten Entwöhnungsbehandlung vormals Opioidabhängiger
nach erfolgter Opoidentgiftung zugelassen (s. o.). Da es bei aktiv Opioide konsumierenden Patienten Entzugssyndrome auslösen kann, sollte es frühestens 7–
10 Tage nach dem letzten Opioidkonsum und initial in einer Dosis von 25 mg gegeben werden, die dann – falls nach 1 h keine Entzugssyndrome auftreten – auf
die übliche Tagesdosis von 50 mg gesteigert werden kann.

Substitutions- und Entwöhnungsmittel bei Nikotinabhängigkeit

Nikotin
Nikotin kann frei verkäuflich in verschiedenen Formen (Kaugummi, Lutschtabletten, Inhaler oder Pflaster) zur Behandlung des Nikotin-Entzugssyndroms und
zur Unterstützung der Raucherentwöhnung eingesetzt werden (➤ ).

Bupropion
Das Antidepressivum Bupropion (➤ ) ist als Zyban® auch zur Hilfe bei der Raucherentwöhnung in Verbindung mit unterstützenden motivierenden
Maßnahmen zugelassen. Es ist verschreibungspflichtig, aber nicht erstattungsfähig.
Dosierung und Anwendung ➤ .

Vareniclin
Vareniclin, ein partieller Agonist an nikotinischen Acetylcholin-Rezeptoren, ist zur Raucherentwöhnung zugelassen. Es ist verschreibungspflichtig, aber nicht
erstattungsfähig.
Dosierung und Anwendung ➤ .

3.2.9. Psychostimulanzien
Psychostimulanzien sind eine heterogene Gruppe von Substanzen, die antriebs-, leistungs- und konzentrationssteigernd sowie vigilanzstabilisierend wirken. Zu
den Psychostimulanzien gehören Substanzen, die vornehmlich als Drogen konsumiert werden (➤ ), und Substanzen, die in verschiedenen psychiatrischen
Indikationen (v. a. Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung [ADHS] und Narkolepsie) therapeutisch eingesetzt werden. Zu Letzteren gehören:

• Methylphenidat
• Dexamfetamin
• Lisdexamfetamin
• Modafinil

Atomoxetin und Guanfacin werden ebenfalls zur Therapie der ADHS eingesetzt. Sie sind aber keine Psychostimulanzien, weshalb sie auch als Nicht-
Psychostimulanzien bezeichnet werden.
Zum therapeutischen Einsatz von Psychostimulanzien bei ADHS und Narkolepsie wird auf ➤ bzw. ➤ verwiesen.

Methylphenidat
Methylphenidat ist im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplans zur Behandlung der ADHS im Kindes- und Jugendalter zugelassen. Auch für die
Behandlung des ADHS im Erwachsenenalter stellt es bei guter Studienlage das Mittel der 1. Wahl dar. Hier sind aktuell Medikinet® Adult und Ritalin® Adult
sowie – falls bereits vor dem 18. Lj. erfolgreich verordnet – Concerta® zugelassen und erstattungsfähig (➤ ).
Da Methylphenidat oft sehr langfristig gegeben werden muss, ist mindestens 1 × / Jahr ein kontrollierter Auslassversuch sinnvoll. Mit einer Effektstärke (➤ )
von ca. 0,8 gehört Methylphenidat zu den Psychopharmaka mit den größten Effektstärken. Die Effekte sind in Studien mit Kindern und bei Fremdbeurteilung
am größten. Bei adultem ADHS liegen die Effektstärken je nach Metaanalyse zwischen 0,5 und 0,7.

Wirkmechanismus und Dosierung


Methylphenidat bewirkt durch eine Blockade des Dopamin- und Noradrenalintransporters eine Rückaufnahmehemmung von Dopamin und Noradrenalin aus
dem synaptischen Spalt. Initial werden 5–10 mg gegeben, die mittlere Tagesdosis muss individuell ermittelt werden und liegt bei 0,5–1 mg / kg KG.

Pharmakokinetik und Wechselwirkungen


Aufgrund seiner kurzen HWZ von ca. 2 h muss Methylphenidat in nichtretardierter Form morgens und mittags eingenommen werden. Die Wirkung tritt rasch
nach 15–30 min ein und erreicht ihr Maximum nach 2–3 h. Durch die Entwicklung von Retardpräparaten konnte die HWZ auf 8–12 h verlängert werden, was
eine Einmalgabe am Morgen ermöglicht. Durch die Unterschiede in der Initial- und Verzögerungsdosis kann individuell das optimale Präparat ausgewählt
werden (➤ ).
Tab. 3.21 Retardierte Methylphenidat-Präparate
Substanz Dosierung Initialdosis [ %] Verzögerungsdosis [ %] Wirkdauer [h]
Concerta® 1 × 18 bis max. 54 mg morgens 22 78 10–12

Equasym® ret. 1 × 10 bis max. 60 mg morgens 30 70 8–10

Medikinet® ret. 1 × 5 bis max. 60 mg morgens 50 50 8–10

Ritalin® LA 1 × 10 bis max. 60 mg morgens 50 50 8–10

Von Vorteil ist auch, dass retardierte Präparate nicht missbräuchlich parenteral appliziert werden können. Die Gefahr einer Suchtentwicklung ist aufgrund
der langsamen Wirkstofffreigabe  –  und damit phasischer statt tonischer Dopaminfreisetzung  –  gegenüber einer nasalen oder i.  v. Applikation von
Amphetaminen deutlich geringer. Methylphenidat unterliegt dem Betäubungsmittelgesetz (BtMG) und wird auf speziellen BtM-Rezepten verordnet.
An relevanten Arzneimittelinteraktionen ist zu erwähnen, dass Carbamazepin die Methylphenidat-Spiegel erheblich senken kann, während Methylphenidat
die Metabolisierung von TZA hemmen kann, wodurch deren Spiegel erheblich ansteigen können.

Merke
Methylphenidat und Amphetamine unterliegen der BtM-Verschreibungsverordnung.

Nebenwirkungen und Kontraindikationen


Häufige unerwünschte Wirkungen sind Appetitminderung und Schlafstörungen, daher sollte Methylphenidat nicht abends eingenommen werden. Andere,
seltenere Nebenwirkungen sind z. B. arterielle Hypertonie, Tachykardie, Kopfschmerzen, Muskelkrämpfe und gastrointestinale Beschwerden. Die Gefahr einer
Abhängigkeitsentwicklung wird bei Behandlung der ADHS und Einsatz von Retardpräparaten als eher gering eingeschätzt. Dennoch sollte die
Behandlungsindikation bei Patienten mit einer Suchtanamnese und bei Patienten mit dissozialen Verhaltensweisen sehr vorsichtig gestellt werden.
Bei manischen oder psychotischen Störungen ist Methylphenidat kontraindiziert, da manische und depressive, selten auch psychotische Syndrome unter
Behandlung mit Methylphenidat beschrieben wurden. Bei Epilepsie darf es nur unter engmaschiger neurologischer Kontrolle verabreicht werden. Auch Herz-
Kreislauf-Erkrankungen stellen eine Kontraindikation dar.

Amphetamin-Derivate
Die BtM-pflichtigen Amphetaminpräparate Lisdexamfetamin (Prodrug von Dexamfetamin) und Dexamfetamin sind als Mittel der 2. bzw. 3. Wahl zur
Behandlung der ADHS bei Kindern und Jugendlichen ab 6 Jahren zugelassen, die unzureichend auf Methylphenidat ansprechen. Seit 2019 ist Lisdexamfetamin
auch bei Erwachsenen zugelassen. Die Effektstärke soll groß sein und bei 1,1 liegen.
Amphetamine hemmen neben der Noradrenalin- auch stark die Dopamin-Wiederaufnahme im synaptischen Spalt und stimulieren direkt die Freisetzung
beider Neurotransmitter.
Die Dosierung bei ADHS wird einschleichend mit 5–10 mg Dexamfetamin begonnen und auf eine Dosis von ca. 0,5 mg / kg KG gesteigert (Höchstdosis 40 
mg). Bei Lisdexamfetamin beginnt man einschleichend mit 15–30 mg und steigert auf eine Maximaldosis von 70 mg / d. Die Nebenwirkungen entsprechen
denen, die man bei Amphetaminen erwartet. Häufig bis sehr häufig sind Schlafstörungen, Appetit- und Gewichtsverlust, Übelkeit (alle häufiger als bei
Methylphenidat) sowie Wachstumsverzögerung, Kopfschmerzen, Unruhe, Aggressivität und Anstieg von Herzfrequenz und Blutdruck. Da das inaktive
Lisdexamfetamin erst in den aktiven Hauptmetaboliten Dexamfetamin und l-Lysin gespalten werden muss, kommt es zu einem langsameren Anfluten des
Amphetamins, was mit einem geringeren Missbrauchsrisiko einhergehen soll. Beweise aus klinischen Studien fehlen dafür aber.
Bei missbräuchlicher intranasaler Applikation besteht ein hohes Abhängigkeitsrisiko.

Modafinil
Modafinil ist nur noch zur Behandlung der Narkolepsie zugelassen und ist nicht BtM-pflichtig. Die Tagesdosis liegt bei 200–400 mg.

Wirkmechanismus
Der Wirkmechanismus von Modafinil ist noch nicht vollständig aufgeklärt. Diskutiert werden eine Aktivierung postsynaptischer α 1 -adrenerger Rezeptoren,
eine Verminderung der GABA-Freisetzung, eine leichte Inhibierung von Dopamintransportern und eine Aktivierung orexinerger Neurone.

Pharmakokinetik und Wechselwirkungen


Modafinil wird zu ca. 60  % an Plasmaproteine gebunden und hauptsächlich über die Nieren ausgeschieden. Die HWZ beträgt 10–12  h, sodass die Gabe
morgens oder morgens und mittags geteilt erfolgen kann. An relevanten Interaktionen ist erwähnenswert, dass Modafinil den Abbau von oralen Kontrazeptiva
beschleunigen kann, weshalb zur Schwangerschaftsverhütung höhere Dosen verwendet werden müssen.

Nebenwirkungen
Eine häufige Nebenwirkung sind Kopfschmerzen. Die Abhängigkeitsgefahr ist eher gering, dennoch sollte es nicht bei Patienten mit bekannter
Abhängigkeitserkrankung gegeben werden.

Atomoxetin
In der Behandlung der ADHS ab dem 6. Lj. und bei Erwachsenen kommt bei ungenügender Wirkung von Methylphenidat als Mittel der 2. Wahl auch der
Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer Atomoxetin zum Einsatz. Bei komorbiden Angst- oder Ticstörungen oder einer komorbiden Suchterkrankung kann es
auch Mittel der 1. Wahl sein. Die Wirksamkeit ist jedoch deutlich geringer als die von Methylphenidat (➤ ).

Guanfacin
Guanfacin ist ein α 2A -Adrenozeptor-Agonist, der in den 1970er Jahren als Antihypertensivum im Handel war. Seit 2015 ist es als Alternative bei Kindern mit
ADHS im Alter von 6–17 Jahren zugelassen. Eine Zulassung für Erwachsene gibt es in Deutschland noch nicht. Der Wirkmechanismus bei ADHS ist nicht
ausreichend geklärt, die Effektstärke ist geringer als bei Psychostimulanzien.

3.2.10. Medikamente zur Behandlung von sexuellen Störungen


Zur spezifischen Behandlung von sexuellen Störungen (➤ ) stehen folgende Substanzen bzw. Substanzgruppen zur Verfügung:

• der SSRI Dapoxetin zur Behandlung der Ejaculatio praecox


• PDE-5-Inhibitoren wie z. B. Sildenafil zur Behandlung der erektilen Dysfunktion
• der α 2 -Rezeptoren-Blocker Yohimbin zur Behandlung der erektilen Dysfunktion
• Cyproteronacetat und LHRH-Antagonisten zur Behandlung paraphiler Störungen (➤ ).

Dapoxetin
Dapoxetin ist ein SSRI, der zur Behandlung der Ejaculatio praecox (➤ ) zugelassen ist. Die Ejakulationslatenz wird um das Zwei- bis Dreifache verlängert. Da
Dapoxetin nach oraler Gabe rasch aufgenommen wird und nach 1–2 h maximale Plasmaspiegel erreicht, kann es in einer Dosis von 30 bis max. 60 mg als On-
Demand-Medikament 1–3 h vor dem geplanten Koitus (max. 1 × / d) eingenommen werden. Da Dapoxetin über CYP3A4 und CYP2D6 metabolisiert wird,
besteht die Gefahr vielfältiger Wechselwirkungen. Wie auch andere SSRIs hat Dapoxetin relativ viele Nebenwirkungen (➤ ; ➤ ). Insgesamt bestehen erst
wenige klinische Erfahrungen.

Klinik
Bei Orthostasereaktionen in der Vorgeschichte oder während des Orthostase-Tests darf Dapoxetin nicht gegeben werden. Eine genaue Anamnese und ein
Orthostase-Test sind daher vor der Gabe durchzuführen. Weitere Kontraindikationen sind schwere Herz-, Leber- und Nierenerkrankungen oder
psychiatrische Störungen.

PDE-5-Inhibitoren
Sildenafil, Vardenafil und Tadalafil hemmen relativ selektiv die Isoform Typ V der Phosphodiesterase, die v. a. im Corpus cavernosum, in Thrombozyten und
Gefäßen vorkommt. Durch die Hemmung kommt es bei sexueller Erregung zu einem verminderten Abbau von cGMP und in der Folge zu einem verminderten
Kalziumioneneinstrom, zur Relaxation der glatten Muskulatur und damit durch einen vermehrten Bluteinstrom in Cavernosum-Sinusoide zur Erektion. Die
Substanzen sind daher zur Behandlung der erektilen Dysfunktion beim Mann (➤ ) zugelassen. Die Einnahme erfolgt 0,5–12 h vor sexueller Aktivität max. 1 
×  /  d (➤ ) . Vor der ersten Einnahme sind Diagnosestellung und Ursachenabklärung sowie die Erhebung des kardiovaskulären Status unerlässlich. Eine
begleitende Psychotherapie ist anzuraten.

Tab. 3.22 PDE-5-Inhibitoren im Vergleich


Substanz HWZ [h] Einnahme vor sexueller Aktivität [h] Dosierung [mg] Besonderheiten
Sildenafil ca. 4 ca. 1 25–100 Substanz mit der breitesten Datenbasis

Vardenafil ca. 4–5 0,5–1 5–20

Tadalafil ca. 17,5 0,5–12 2,5–20 Wirkung bis zu 24–36 h anhaltend

Die drei Substanzen wirken vergleichbar stark, Tadalafil hat allerdings eine deutlich längere HWZ (➤ ). Die wichtigsten Nebenwirkungen sind
Kopfschmerzen und Gesichtsröte (Flush). Patienten mit schweren Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder ausgeprägter Hypotonie ist von der Einnahme abzuraten.
Da der Abbau über CYP3A4 erfolgt, sind Interaktionen zu beachten.

Yohimbin
Yohimbin ist ein α 2 -Rezeptoren-Blocker, dessen Effekte bei erektiler Dysfunktion gering sind. Es ist zwar in dieser Indikation bei leichter bis mittelschwerer
Symptomatik zugelassen, kann aber gegenüber den PDE-5-Inhibitoren nicht empfohlen werden.

3.2.11. Psychopharmaka im Alter


Nebenwirkungen von Psychopharmaka werden bei Patienten > 70  Jahre mindestens doppelt so häufig beobachtet wie bei Patienten < 50  Jahre. Die
relevantesten Nebenwirkungen dabei sind die orthostatische Dysregulation, z.  B. bei Gabe von Antidepressiva und Antipsychotika, und eine erhöhte
Sensitivität für extrapyramidalmotorische Nebenwirkungen von Antipsychotika der 1. Generation. Bei der Gabe von Benzodiazepinen kommt es zu einer
ausgeprägteren Sedierung. Unter Therapie mit TZA ist eine gesteigerte Sensitivität auf anticholinerge Nebenwirkungen zu beobachten, hier ist die
Gefahr eines anticholinergen Delirs zu beachten.
Die erhöhte Inzidenz von Nebenwirkungen im Alter kann u. a. auf folgende Änderungen der Pharmakokinetik und -dynamik zurückgeführt werden:

• Meist reduzierte Medikamentenmetabolisierung in der Leber


• Abnahme der Albuminkonzentration mit der Folge erhöhter freier Wirkstoffspiegel im Blut
• Verminderte renale Medikamentenclearance
• Relative Zunahme des Fettanteils mit Umverteilung fettlöslicher Medikamente
• Erhöhte Sensitivität der Zielorgane

➤ stellt das Risikoprofil einiger Psychopharmaka im Alter zusammen.

Klinik
Prinzipien der Psychopharmakotherapie im Alter

• Prinzipiell sollte die niedrigste wirksame Dosis eingesetzt werden, z. B. 1–2 mg Haloperidol oder 0,5–2 mg Risperidon.
• Polypharmakotherapie sollte, wenn immer möglich, vermieden werden.
• Nebenwirkungen sollten besonders engmaschig kontrolliert werden.
• Um Stürze zu verhindern, sollten insbesondere Medikamente, die sedierend wirken und eine orthostatische Dysregulation bedingen, zurückhaltend
eingesetzt werden.
Tab. 3.23 Risikoprofile einiger Psychopharmaka im Alter
Relativ niedriges Risiko Mittleres Risiko Hohes Risiko
Antipsychotika Amisulprid Haloperidol Clozapin
Melperon, Pipamperon Olanzapin
Quetiapin
Risperidon

Antidepressiva Mirtazapin Nortriptylin die meisten TZA und Tranylcypromin


Moclobemid
SSRIs
Venlafaxin

Anxiolytika und Hypnotika Lorazepam Flunitrazepam lang wirksame Benzodiazepine


Oxazepam Zolpidem
Zopiclon

3.2.12. Psychopharmaka in Schwangerschaft und Stillzeit


Die Behandlung psychisch kranker Frauen während Schwangerschaft und Stillzeit stellt aus mehreren Gründen eine besondere Herausforderung dar:

• Viele Psychopharmaka sind in der Schwangerschaft und Stillzeit nicht zugelassen und müssen, wenn sie unverzichtbar sind, im Rahmen der
ärztlichen Therapiefreiheit verordnet werden.
• Verschiedene Psychopharmaka, v. a. die Stimmungsstabilisierer Valproinsäure und Carbamazepin, gehen mit einem erhöhten teratogenen
Potenzial einher. Für kein Medikament kann ein teratogener Effekt sicher ausgeschlossen werden, trotzdem gibt es zwischen den einzelnen
Medikamenten Unterschiede.
• Während der Schwangerschaft besteht häufig ein stark erhöhtes Risiko für ein Wiederauftreten der Erkrankung. Mit anderen Worten: Bei
Frauen, die unter Psychopharmakotherapie psychopathologisch stabil sind, ist das Risiko des Wiederauftretens der Erkrankung häufig viel höher als
das potenzielle Risiko einer Schädigung des Embryos.
• Es gibt wenige Studien, die für die vorliegende psychiatrische Störung sauber kontrolliert haben. Besser kontrollierte Studien haben für viele
Substanzen (z. B. für Antidepressiva) keine negativen Effekte oder widersprüchliche Daten geliefert.
• Keine Entscheidung, ob für oder gegen eine Pharmakotherapie, ist vollkommen risikofrei.

Prinzipien der Psychopharmakotherapie während der Schwangerschaft


Aus den o. g. Gründen ist immer eine individuelle Beratung und Risikoabwägung erforderlich. Dabei sollten folgende Prinzipien beachtet werden.

Vor geplanter oder ungeplanter Konzeption

• Vor jeder Behandlung mit potenziell teratogenen Substanzen sollte eine Schwangerschaft mittels Schwangerschaftstest ausgeschlossen werden.
Während der Therapie sollte eine wirksame Kontrazeption erfolgen.
• Vor einer geplanten Schwangerschaft sollte eine individuelle Risikoberatung durchgeführt werden, wobei ein potenziell schädigender Effekt auf das
Kind (s. a. ) mit dem Risiko einer Wiedererkrankung der Mutter abgewogen werden muss. Ohne Medikamente beträgt das Rezidivrisiko in der
Schwangerschaft bei Depressionen bis zu 60 %, bei bipolaren Störungen bis zu 85 % und bei Schizophrenien bis zu 50 %. Eine Schwangerschaft
sollte also, wenn immer möglich, gut geplant werden.
• Bei Schwangerschaftswunsch und unverzichtbarer Medikation sollte ggf. auf ein Medikament mit einem geringeren Schädigungspotenzial
umgestellt werden.
• Bei einer unter Medikation eingetretenen Schwangerschaft sollte die Mutter vor einem abrupten Absetzen der Medikation gewarnt werden, da die
Organogenese beim Kind zum Zeitpunkt des positiven Schwangerschaftsnachweises meist schon weitgehend abgeschlossen ist.

Während der Schwangerschaft

• Prinzipiell sollten Psychopharmaka im 1. Trimenon vermieden werden, dies muss allerdings gegen die Gefahr des Risikos einer Wiedererkrankung
abgewogen werden.
• Ist eine medikamentöse Therapie erforderlich, sollte diese in der niedrigstmöglichen Dosis unter regelmäßiger Überwachung von Mutter und
Kind erfolgen.
• Eine Polypharmakotherapie sollte wegen der möglichen Addition schädigender Effekte vermieden werden.
• Wegen pharmakokinetischer Veränderungen während der Schwangerschaft müssen viele Medikamente in der Dosis angepasst werden
(therapeutisches Drug-Monitoring).
• Vor der Geburt sollten Benzodiazepine, TZA und SSRIs wegen der Gefahr von Entzugssyndromen beim Neugeborenen ausschleichend abgesetzt
oder zumindest deutlich reduziert werden.

Teratogene und andere Effekte von Psychopharmaka während der Schwangerschaft


Folgende schädigende Einflüsse auf das ungeborene Kind können von der Gabe von Psychopharmaka während der Schwangerschaft ausgehen:

• Im 1. Trimenon kommt es im Wesentlichen zu teratogenen Effekten, wobei die kritische Phase zwischen dem 17. und 60. Tag der Schwangerschaft
liegt.
• Im 2. und 3. Trimenon können Wachstumsverzögerungen und neurologische Störungen auftreten.
• Nach der Geburt kann es beim Kind zu Entzugssyndromen kommen.

➤ gibt einen Überblick über die Substanzen, die während der Schwangerschaft als besonders problematisch anzusehen sind.

Tab. 3.24 Besonders problematische Medikamente während der Schwangerschaft


Substanz Substanzgruppe Bemerkungen
Benzodiazepine Hypnotika evtl. Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte, Entzugssyndrome beim Neugeborenen

Carbamazepin Stimmungsstabilisierer Spina bifida

Valproinsäure Stimmungsstabilisierer Spina bifida

Antipsychotika
Es liegen Einzelfallberichte über Fehlbildungen der Gliedmaßen insbesondere bei der Gabe niederpotenter Antipsychotika der Phenothiazingruppe vor. Diese
sollten daher, auch wegen der hypotensiven, anticholinergen und antihistaminergen Effekte vermieden werden. Die hochpotenten Antipsychotika der 1.
Generation können dagegen als eher sicher angesehen werden. Über teratogene Effekte von Antipsychotika der 2. Generation liegen wenige Erkenntnisse vor.
Hier soll eine Folsäuresubstitution evtl. das Auftreten von Neuralrohrdefekten minimieren. Clozapin-exponierte Kinder sollten nach der Geburt 6 Monate
wöchentlich auf eine Agranulozytose getestet werden.

Antidepressiva
Eine Behandlung mit den TZA Imipramin und Amitriptylin sowie mit den selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern während der Schwangerschaft kann
als relativ sicher beurteilt werden. Diese Pharmaka stellen daher die Medikamente der Wahl zur Behandlung akuter depressiver Episoden während der
Schwangerschaft dar. Auf Paroxetin und Bupropion, für die die meisten widersprüchlichen Informationen zu teratogenen Effekten vorliegen, sollte möglichst
verzichtet werden. Allerdings kann es bei beiden Medikamentengruppen, insbesondere den TZA, zu Entzugssymptomen beim Kind kommen, wenn die
Medikamente vor der Geburt nicht abgesetzt oder zumindest reduziert wurden.

Stimmungsstabilisierer
Lithium
Bis vor Kurzem ging man von einem erhöhten Gesamtrisiko kardiovaskulärer Fehlbildungen (z. B. Ebstein-Anomalie) bei Gabe von Lithium im 1. Trimenon
aus. Daher hat man geraten, auf eine Lithiumtherapie im 1. Trimenon zu verzichten. Neue Daten sehen dieses erhöhte Risiko nicht mehr, sodass Lithium in der
Schwangerschaft (weiter-)gegeben werden kann. Man muss jedoch beachten, dass es beim Kind zu kardialen Rhythmusstörungen, Strumabildung und
Entstehung eines Diabetes mellitus kommen kann. Perinatal ist auch ein Floppy-Infant-Syndrom beschrieben.
Vor der Geburt sollte Lithium abgesetzt werden, da infolge der absinkenden GFR eine Lithiumintoxikation entstehen kann.

Carbamazepin und Valproinsäure


Beide Medikamente gehen mit einem erhöhten Spina-bifida-Risiko bei Gabe im 1. Trimenon einher. Dabei beträgt das Risiko für Carbamazepin ca. 1 %, bei
Valproinsäure 1–2 %. Die Gabe von Folsäure soll das Risiko vermindern.

Lamotrigin
Hierzu liegen keine detaillierten Erkenntnisse vor.

Anxiolytika und Hypnotika


Bei Einnahme während der Schwangerschaft soll es häufiger zu Embryopathien wie Gesichtsfehlbildungen, Spaltbildungen, Strabismus, kongenitalen Vitien,
Inguinalhernien und Pylorusstenosen kommen, was jedoch umstritten ist. Bei Einnahme kurz vor oder während der Geburt kann beim Kind ein Floppy-Infant-
Syndrom mit Muskelhypotonie, Lethargie und gestörten Saugreflexen auftreten. Möglicherweise zeigt sich auch ein Benzodiazepin-Entzugssyndrom mit
Tremor, Irritierbarkeit, Muskeltonuserhöhung, verstärkten Saugreflexen, Durchfall und Erbrechen. In Notfallsituationen während der Schwangerschaft ist die
kurzzeitige Gabe von Benzodiazepinen allerdings als relativ unproblematisch anzusehen, wobei kurz wirksame Substanzen bevorzugt werden sollten.

Effekte von Psychopharmaka während der Stillzeit


Der Klinikkasten gibt Auskunft darüber, was bei einer Psychopharmakotherapie während der Stillzeit beachtet werden muss.

Klinik
Psychopharmakotherapie während der Stillzeit

• Alle Psychopharmaka gehen in die Muttermilch über, sodass auch hier wie während der Schwangerschaft eine Nutzen-Risiko-Abwägung erfolgen
muss.
• Wenn die Mutter bereits während der Schwangerschaft ein Medikament eingenommen hat, ist es nicht unbedingt notwendig abzustillen, da die
Medikamentendosis, der das Kind ausgesetzt wird, in der Muttermilch deutlich niedriger ist als im Uterus.
• Medikamente sollten bei Frühgeborenen oder bei Erkrankung des Kindes vermieden werden.
• Sedierende Medikamente und Medikamente mit langer HWZ sollten vermieden werden.
• Um die Medikamentenkonzentration möglichst optimal zu erniedrigen, sollte die Medikamentengabe vor der längsten Schlafperiode des Kindes
erfolgen.
• Auffälligkeiten beim Kind sollten genau beobachtet werden.

Bezüglich einzelner Medikamente lässt sich Folgendes festhalten:

• Antipsychotika: Die Einnahme von Antipsychotika der 1. Generation ist relativ unproblematisch, obwohl der Säugling bei hohen Dosen müde und
antriebslos werden kann. Auf die Gabe von Antipsychotika der 2. Generation sollte eher verzichtet werden. Unter Clozapin darf die Mutter nicht
stillen.
• Antidepressiva: Die meisten TZA, SSRIs und Moclobemid sind als relativ sicher zu beurteilen. Auf eine Behandlung mit tetrazyklischen
Antidepressiva (Maprotilin) und Venlafaxin sollte verzichtet werden.
• Stimmungsstabilisierer: Als relativ sicher sind Carbamazepin und Valproinsäure anzusehen. Bei notwendiger Lithiumgabe sollte die Mutter
abstillen, weil die Lithiumkonzentration wegen der nicht gut entwickelten Flüssigkeitsregulation des Säuglings sehr schnell in hohe Bereiche
ansteigen kann. Unter Lamotrigin ist Stillen nicht zu empfehlen.
• Anxiolytika und Hypnotika: Benzodiazepine sind kontraindiziert, da es beim Kind zu vorübergehender Müdigkeit, Muskelschwäche und
Schluckstörungen kommen kann. Die Gabe von Zolpidem ist möglich; die Gabe von Zopiclon ist kontraindiziert.

3.2.13. Psychopharmaka und Fahrtauglichkeit


Psychopharmaka können je nach Substanz die Alltagssicherheit (z.  B. beim Steuern eines Kraftfahrzeugs, bei der Teilnahme am Straßenverkehr oder beim
Bedienen von Maschinen sowie bei Tätigkeiten in Freizeit und Haushalt) über eine Beeinflussung von Aufmerksamkeit, Konzentration und Reaktionsfähigkeit
z. T. erheblich beeinträchtigen. Schätzungen gehen davon aus, dass ca. 25 % der Verkehrsunfälle direkt oder indirekt durch Wirkungen oder Nebenwirkungen
von Medikamenten mit bedingt sind.
➤ gibt einen Überblick über das Gefährdungspotenzial verschiedener Psychopharmaka. Dabei ist zu beachten, dass insbesondere sedierende und
anticholinerg wirkende Substanzen ein erhöhtes Gefährdungspotenzial aufweisen und eine Wirkungsverstärkung der Gefährdung durch Alkohol umso
ausgeprägter ist, je sedierender eine Substanz wirkt.
Tab. 3.25 Gefährdungsindex ausgewählter Psychopharmaka (1 = keine, 2 = mäßige, 3 = deutliche, 4 = ernsthafte
Beeinträchtigung der Verkehrssicherheit)
Substanz Gefährdungsindex
Citalopram, Paroxetin, Moclobemid 1,0

Fluoxetin 1,8

Fluvoxamin, Maprotilin 2,2

Imipramin 2,7

Benzodiazepine 3,5

Amitriptylin 3,9

Einzelheiten zur Beurteilung der Fahreignung finden sich in ➤ .

3.3. Nichtpharmakologische biologische Therapieverfahren


Klaus Lieb

In der Behandlung psychischer Störungen, v.  a. von Depressionen, kommen bei besonderen Konstellationen weitere biologische Therapieverfahren zum
Einsatz, die im Folgenden vorgestellt werden:

• Wachtherapie (Schlafentzugstherapie)
• Lichttherapie
• Elektrokonvulsionstherapie (EKT)
• Andere Stimulationsverfahren

3.3.1. Wachtherapie (Schlafentzugstherapie)


Die Wachtherapie bzw. Schlafentzugstherapie kommt bei der Behandlung von depressiven Syndromen, meist als Add-on-Therapie zu einer
Psychopharmakotherapie, zur Anwendung (➤ ). Kontraindikationen sind ein Anfallsleiden, eine wahnhafte Depression, akute Suizidalität oder multimorbide
Patienten.
Erste Untersuchungen zur antidepressiven Wirksamkeit eines kompletten Schlafentzugs stammen vom Anfang der 1970er-Jahre. Bei der
Schlafentzugstherapie unterscheidet man einen kompletten (eine ganze Nacht, die Patienten sind dabei bis zu 40 h wach) und einen partiellen (2. Hälfte der
Nacht) Schlafentzug, wobei Letzterer in seiner Effektivität dem kompletten Schlafentzug gleichkommt. Die Behandlung wird meist in Serien von 2–3 
Schlafentzügen pro Woche durchgeführt und kann die Zeit bis zum Wirkungseintritt der Psycho- und Pharmakotherapie oft wirkungsvoll überbrücken.
Durchschnittlich sprechen 50 % der Patienten auf eine Wachtherapie an, in einzelnen Studien waren es bis zu 80 %.
Der Wirkmechanismus der Wachtherapie ist bisher nicht bekannt.
In jedem Fall ist es wichtig, dass die Patienten direkt nach dem Schlafentzug tagsüber nicht schlafen, da Kurzschlafepisoden (engl. „naps“) insbesondere
am Vormittag nach erfolgtem Schlafentzug zu einem unmittelbaren Rückfall führen können.
Weitere Details zur Anwendung bei Depressionen finden sich in ➤ .

3.3.2. Lichttherapie
Dieses Therapieverfahren wird v.  a. zur Behandlung saisonaler Depressionen angewandt (➤ ), wobei auch Effekte bei nicht saisonal verlaufenden
depressiven Störungen beschrieben wurden. Wegen der hohen Relapsegefahr sollte bei der saisonalen Depression die Lichttherapie durchgehend auch
prophylaktisch während Herbst und Winter angewendet werden. Kontraindikationen gibt es keine. Patienten mit Risikofaktoren bzgl. ihrer Augen sollten
fakultativ vorher einen Augenarzt aufsuchen.
Die Lichttherapie wird mit hellem, weißem Licht, das bis auf den ultravioletten Anteil das gesamte Spektrum des Lichts beinhaltet, durchgeführt. Die
Beleuchtungsstärke beträgt, abhängig von der Lichtquelle, zwischen 2.500 und 10.000 Lux. Dies entspricht in etwa der Lichtmenge, die ein sonniger
Frühlingstag bringt. Sie ist etwa 5- bis 20-mal so hoch wie die Beleuchtungsstärke der normalen Raumbeleuchtung. Die Lichtapplikation erfolgt durch
Lichttherapiegeräte, die aus 6–8 Leuchtstoffröhren (je 40 Watt) bestehen und ca. 60–80 cm vom Patienten entfernt aufgestellt werden sollten.
Die Lichttherapie kann problemlos während alltäglicher Tätigkeiten wie Lesen, Schreiben, Essen u. Ä. durchgeführt werden. Der Patient sollte jede Minute
ein paar Sekunden lang direkt ins Licht schauen. Am besten ist eine Anwendung täglich morgens (so rasch wie möglich nach dem Erwachen), mindestens
sollten jedoch 2–4 Anwendungen pro Woche erfolgen. Die Therapiedauer sollte bei 10.000-Lux-Geräten 30 min und bei 2.500-Lux-Geräten ca. 2 h betragen.

3.3.3. Elektrokonvulsionstherapie (EKT)


Die Elektrokonvulsionstherapie (Elektrokrampftherapie) wurde 1938 durch Bini und Cerletti eingeführt. Sie hat sich insbesondere bei wahnhaften und
therapieresistenten Depressionen als sehr effektives und schnell wirksames Therapieprinzip erwiesen (➤ ). Weitere Indikationen für eine EKT sind
therapieresistente Manien und Schizophrenien (v. a. die perniziöse Katatonie).
In der Behandlung von (schizo-)affektiven Störungen ist die EKT Mittel der 1. Wahl bei schweren wahnhaften Depressionen, insbesondere wenn ein
depressiver Stupor sowie eine akute Gefährdung durch hohe Suizidalität oder Verweigerung der Nahrungsaufnahme vorliegen. Hier kann die EKT zu einem
schnelleren und besseren Therapieerfolg führen als eine medikamentöse Therapie. In der Behandlung therapieresistenter Depressionen kommt die EKT nach
erfolgloser medikamentöser Therapie zum Einsatz. Derzeit gibt es für diese Indikation keine Therapie mit einer vergleichbar hohen Wirksamkeit. Die
Effektstärke (➤ ) wird auf 1,0 geschätzt. Bei einer schweren perniziösen Katatonie kann eine EKT lebensrettend sein.
Der genaue Wirkmechanismus der EKT ist bis heute unbekannt.

Prinzipien der Anwendung


Bei der EKT wird durch direkte elektrische Stimulation des temporoparietalen Schädelbereichs der nichtdominanten Hemisphäre (i. d. R. also rechts) ein
therapeutischer generalisierter Krampfanfall ausgelöst, der motorisch mindestens 20  s, im EEG mindestens 25  s anhalten sollte. In der Regel werden
wenigstens 6–12 Sitzungen durchgeführt, wobei meist 2–3 Sitzungen pro Woche erfolgen. Zeigt die unilaterale EKT keinen ausreichenden Erfolg, wird häufig
nach der 6. Behandlung auf eine bilaterale oder bitemporale Stimulation umgestellt. Diese hat prinzipiell zwar eine stärkere Wirksamkeit, führt aber
häufiger zu kognitiven Störungen. Wenn ein schneller Wirkungseintritt erzielt werden soll (z. B. bei schwerster wahnhafter Depression mit Suizidalität), ist die
bilaterale Stimulation Mittel der 1. Wahl. Ziel der Behandlung ist stets die Remission. Eine EKT-Serie ohne den gewünschten Effekt sollte erst dann beendet
werden, wenn unter bilateraler Stimulation und adäquaten EEG-Kriterien nach 2 Wochen Therapie keine Verbesserung mehr erzielt werden kann.
Die EKT erfolgt in Kurznarkose mit Muskelrelaxation und Präoxygenierung. Durch die Muskelrelaxation werden die motorischen Entäußerungen des
Krampfanfalls kaschiert. Vor Gabe des Muskelrelaxans (z.  B. Suxamethoniumchlorid) wird ipsilateral zur Stimulationsseite ein Arm oder Bein durch einen
Stauschlauch abgebunden, um den arteriellen Zufluss zu verhindern. Dadurch kann in diese Extremität kein Muskelrelaxans gelangen, sodass hier die
motorische Krampfaktivität zu sehen ist. Bis in die 1950er-Jahre wurde die EKT ohne Muskelrelaxation durchgeführt, was oft zu erheblichen Verletzungen der
Patienten durch die Muskelkontraktionen führte.
Moderne Geräte leiten während der Behandlung kontinuierlich ein EEG ab, das die zerebrale Krampfaktivität sicher anzeigt. Nach einer Titrationsmethode
wird bei der ersten EKT-Sitzung die individuelle Krampfschwelle ermittelt. Die weiteren Behandlungen erfolgen dann bei der unilateralen Stimulation mit
dem 6-Fachen und bei der bilateralen Stimulation mit dem 2,5- bis 3-Fachen über dieser Krampfschwelle. Eine alternative Methode zur Bestimmung der
Ladung ist die Altersmethode. Hierbei entspricht das Alter des Patienten der Stimulationsdosis in Prozent von 504 mC (= 100 %).

Nebenwirkungen
Als Nebenwirkungen der EKT sind beschrieben:

• Akute kognitive Nebenwirkungen als vorübergehende postiktale Unruhezustände und Delir, die bis zu 30 min andauern. In diesem Fall sollte zügig
die Gabe von 5–10 mg Diazepam i. v. erfolgen.
• Kopfschmerzen
• Übelkeit
• Muskelkater
• Kardiale / pulmonale Nebenwirkungen
• Fokalneurologische Defizite
• Selten: prolongierter Krampfanfall und Status epilepticus
• Subakute kognitive Nebenwirkungen als anterograde Amnesie und kurzzeitige retrograde Amnesie sowie andere kognitive Störungen (Gedächtnis / 
Merkfähigkeit / Exekutivfunktionen)
• Selten können persistierende Nebenwirkungen als gravierende retrograde Amnesie (autobiografisches Gedächtnis) auftreten.

Kognitive Störungen treten bei bilateraler Stimulation häufiger auf als bei unilateraler. Die Mortalität bei sachgerechter Durchführung der EKT liegt bei ca.
1 : 50.000 Behandlungen, was in etwa dem allgemeinen ambulanten Narkoserisiko entspricht.

Kontraindikationen
Es bestehen keine absoluten Kontraindikationen für eine EKT. Es gibt jedoch Erkrankungen, die das Risiko bei einer EKT erhöhen:

• Zerebrale Läsionen und Raumforderungen


• Erhöhter intrakranieller Druck
• Aneurysma der zerebralen Gefäße
• Retinaablösung
• Kürzlich stattgehabter Myokardinfarkt / Hirninfarkt (< 3 Monate)
• Beckenvenenthrombose
• Schwere Hypertonie, Herzrhythmusstörungen oder instabile Angina pectoris
• Akuter Glaukomanfall und Phäochromozytom

Vor Durchführung der EKT müssen Begleiterkrankungen wie z. B. chronisch-obstruktive Lungenerkrankung, Asthma bronchiale, arterielle Hypertonie, KHK
und Herzrhythmusstörungen gut eingestellt sein. Da die EKT in Narkose durchgeführt wird, ist das Narkoserisiko zuvor abzuschätzen. Zusammen mit
Internisten und Anästhesisten muss eine Nutzen-Risiko-Abwägung erfolgen. Hohes Alter, Schwangerschaft und Herzschrittmacher stellen keine
Kontraindikationen dar.
Es gibt inzwischen vorgefertigte Aufklärungsbögen, die den Ablauf der EKT genau schildern. Das Aufklärungsgespräch muss im Krankenblatt dokumentiert
werden; überdies muss eine schriftliche Einwilligung des Patienten in die Behandlung eingeholt werden. Ist der Patient nicht einwilligungsfähig (➤ ), muss u. 
U. eine Betreuung eingerichtet werden. Bei einer perniziösen Katatonie kann eine EKT als lebensrettende Maßnahme im rechtfertigenden Notstand gemäß § 34
StGB notwendig sein.

Pharmakotherapie während der EKT


Benzodiazepine erschweren oder verhindern die Auslösung eines Krampfanfalls. Wann immer möglich, sollten daher Benzodiazepine vor der EKT
ausgeschlichen oder zumindest auf kurz wirksame Substanzen wie z. B. Lorazepam umgestellt werden.
Im Prinzip wird die antidepressive Pharmakotherapie während der Therapie fortgesetzt, wenn hinsichtlich der Narkose keine Bedenken der Anästhesisten
bestehen und die Medikation die Krampffähigkeit nicht reduziert (z. B. Antikonvulsiva wie Carbamazepin oder Benzodiazepine, s. o.). Auf der anderen Seite ist
es nicht sinnvoll, Medikamente beizubehalten, die nicht wirksam waren. Daher sollte etwa ab der Hälfte der EKT-Serie auch die Pharmakotherapie optimiert
werden. Beispielsweise kann eine Umstellung auf ein anderes Antidepressivum erfolgen.
Bei Gabe von Lithium muss beachtet werden, dass es am Tag vor der EKT-Sitzung ab- und am Tag danach wieder angesetzt werden muss und der
Lithiumspiegel auf < 0,4  mmol  /  l eingestellt werden kann. In der klinischen Praxis ist aber meistens eine Beibehaltung der ursprünglichen Lithiumdosis
möglich.

Erhaltungs-EKT-Behandlungen
Nach erfolgreichem Abschluss einer EKT-Serie ist das Risiko eines Rückfalls mit 50 % in den ersten 6 Monaten hoch. Um dieses zu reduzieren, erhalten die
Patienten eine pharmakotherapeutische Erhaltungstherapie. Zudem sollte ggf. eine Erhaltungs-EKT in Erwägung gezogen werden. Dabei werden z. B. zwei
EKT-Behandlungen in 1-wöchigen, dann zwei in 2-wöchigen, in 3-wöchigen, in 4-wöchigen, in 5-wöchigen und schließlich zwei in 6-wöchigen Abständen zur
Erhaltungstherapie durchgeführt. Den höchsten Effekt zur Relapseprävention hat eine Kombination aus Psychopharmakotherapie und Erhaltungs-EKT.

3.3.4. Andere Stimulationsverfahren


Die repetitive transkranielle Magnetstimulation (rTMS) wurde erstmalig 1985 von Anthony Barker durchgeführt. Sie ist bei einer moderat ausgeprägten
Depression oder nach einem Medikamentenversagen in der gegenwärtigen Episode in den USA zugelassen. Depressive Patienten profitieren sehr
unterschiedlich von der Methode.
Im Gegensatz zur EKT ist der Patient bei der rTMS wach. Umschriebene Hirnareale werden mit einem sog. „figure 8 coil“ gezielt moduliert. Dabei
induzieren alternierende (pulsierende) Magnetfelder von 1–2  Tesla einen elektrischen Strom im darunter liegenden Hirngewebe und verändern die kortikale
neuronale Aktivität sehr präzise und kontrolliert. Häufigster Stimulationspunkt bei der Depression ist der dorsolaterale präfrontale Kortex (DLPFC), dem eine
zentrale Rolle in der Netzwerkstörung bei Depressionen zugeschrieben wird (➤ ). Ein gängiges Stimulationsprotokoll ist dabei: 10(– 20)-Hz-Stimulation, 110 
% über der Motorschwelle. Eine Behandlung wird 5 × / Woche für 3–6 Wochen durchgeführt.
Wird die Stimulation bei der rTMS verstärkt, können durch diese Technologie auch Krampfanfälle ausgelöst werden (Magnetkonvulsionstherapie, MKT
oder „magnetic seizure therapy“). Bei der MKT sollen durch eine fokale Stimulation im Gegensatz zur breiten Stimulation bei der EKT kognitive
Nebenwirkungen eingespart und gleichzeitig durch die Auslösung eines Krampfanfalls eine vergleichend hohe antidepressive Wirksamkeit wie bei der EKT
erzielt werden. Ob die MKT die EKT möglicherweise in der klinischen Praxis ersetzen kann, wird gegenwärtig untersucht. Erste Ergebnisse, allerdings von
offenen Studien, sind vielversprechend.
Die Vagusnervstimulation (VNS) ist ein mittlerweile zugelassenes Verfahren zur Behandlung chronischer oder rezidivierender Depression von < 2 Jahre
anhaltend und bei therapieresistenter Depression mit ≥ 4 Medikamentenversagen (± EKT). Die VNS wird meist als Add-on-Therapie zur Pharmakotherapie
angewendet. Bei der VNS wird der linke N. vagus im Halsbereich durch einen Stimulator chronisch stimuliert (kontinuierlicher Zyklus: Stimulation 30 s an,
300  s aus). Vorteilhafte Effekte bei therapieresistenter Depression wurden gezeigt, jedoch mit variablen Ergebnissen (ca. 20–50  % Responserate). Der
Wirkmechanismus ist unbekannt.
D i e tiefe Hirnstimulation (THS, engl. „deep brain stimulation“) wird bisher nur im Rahmen von Studien bei sehr schweren therapieresistenten
Depressionen angewandt. Hierbei werden i.  d.  R. beidseits Elektroden stereotaktisch in Hirnregionen implantiert, die ursächlich mit der Entstehung von
Depressionen in Verbindung gebracht werden (z. B. Cg25, vordere innere Kapsel, Ncl. accumbens, mediales Vorderhornbündel). Die Stimulation ist chronisch.
Der Wirkmechanismus ist bisher unbekannt.
91,166,108,45,93,224,222,78,202,198,132,225:IcM3W8AuDrmY1QrIshJXi1VZxymrSFTzb3OILHcvLcLud81lvz7kF5YpPWjoyyRnoiolSVG/aOy7NiFmG2HJif/3fg6ydedGoIGjtsQbFlsT8klfgb6FJPZF9MVlVv/zI3l0RMee4k3a4ih
72,89,60,92,223,167,187,108,214,94,67,89:IARewnBrkiPw8o/EpCWWJZRFK0TrMdDC4YHxP3H7zPVWYBGEtHlvbsloUq6L+hZD1TGPn7f0Svd0ui+zyWbSE7MW9ZIx8Vyu9rWccSVakXeasQOMNZZMPTWgQrZkiczZMd5
KAPITEL 5

Schizophrenien und andere psychotische


Störungen
Klaus Lieb

5.1. Einführung
Die Schizophrenien sind durch ein charakteristisches psychopathologisches Muster mit Störungen im Bereich der Wahrnehmung, des Denkens, der Ich-
Funktionen, der Affektivität, des Antriebs und der Psychomotorik gekennzeichnet. Sie verlaufen häufig episodisch mit akuten psychotischen
Krankheitszuständen. Intra- und interindividuell finden sich im Zeitverlauf sehr variable Verläufe, mit Remissionen oder langfristig persistierenden,
chronischen psychotischen Phänomenen.
Die moderne Beschreibung der Schizophrenien begann Anfang des 20. Jh. durch Schneider, Kraepelin und Bleuler. Im Vordergrund der Symptomatik der
Schizophrenien stehen nach Kurt Schneider (1887–1967) im Gegensatz zu den affektiven Störungen sog. abnorme Erlebnisweisen, d. h. „Störungen, die das
Empfinden und Wahrnehmen, Vorstellungen und Denken, Fühlen und Werten, Streben und Wollen sowie das Ich-Erlebnis betreffen“. Emil Kraepelin (1856–
1926) beschrieb das Krankheitsbild der Schizophrenie 1896 erstmals als „Dementia praecox“ und grenzte es vom „manisch-depressiven Irresein“ ab. Kraepelin
beobachtete, dass sich die „Dementia praecox“ im 2. und 3. Lebensjahrzehnt manifestiert und progredient zu einem „demenziellen Abbau“ führt, während
manisch-depressive Erkrankungen in jedem Lebensalter auftreten können und einen phasenhaften und günstigeren Verlauf zeigen. Kognitive Störungen waren
somit für Kraepelin neben Wahn, Halluzinationen, psychomotorischen Auffälligkeiten und sozialem Rückzug ein kennzeichnendes Symptom der Erkrankung.
Während für Kraepelin damit Verlauf und Ausgang der Erkrankung entscheidende Charakteristika waren, betonte Eugen Bleuler (1857–1939) die im
Querschnitt erfassbare Symptomatik und führte 1911 erstmals den Begriff der Schizophrenie ein. Er unterschied die in ➤ beschriebenen Grundsymptome von
den akzessorischen Symptomen der Schizophrenie und hielt den Begriff „Dementia praecox“ für entbehrlich, weil er viele Fälle beobachtete, die spät begannen
und keinen progredienten Verlauf zeigten.
Heute stehen mit ICD-10, ICD-11 und DSM-5® operationalisierte Diagnosekriterien zur Verfügung (➤ ), die neben E. Bleulers Grundsymptomen (➤ ) und
der von Kraepelin betonten Bedeutung des Verlaufs insbesondere die Erst- und Zweitrangsymptome der Schizophrenie nach Kurt Schneider berücksichtigen
(➤ ).

Klassifikation psychotischer Störungen


In den Klassifikationssystemen der ICD-10, des DSM-5® und der ICD-11 werden unterschieden:

• Primäre psychotische Störungen: die in diesem Kapitel dargestellten Schizophrenien und anderen psychotischen Störungen, bei denen eine
organische oder substanzinduzierte Ursache ausgeschlossen sein muss. Die weitere Einteilung der primären psychotischen Störungen erfolgt nach
der Symptomatik, der Krankheitsintensität und dem zeitlichen Symptomverlauf.
• Sekundäre psychotische Störungen: psychotische Syndrome, die im Rahmen von Suchterkrankungen auftreten (➤ ), medikamenteninduziert oder
auf organische Erkrankungen zurückzuführen sind (➤ ).

➤ gibt einen Überblick über die Klassifikation der Schizophrenien und anderer psychotischer Störungen in der ICD-10, im DSM-5® und in der ICD-11.
Tab. 5.1 Schizophrenien und andere psychotische Störungen in den verschiedenen Klassifikationssystemen
ICD-10 ICD-11 DSM-5®

Primäre psychotische Störungen

F20.X Schizophrenien Schizophrenie Schizophrenie


F20.0 Paranoide Schizophrenie Keine Unterscheidung von Subtypen, aber von Verlaufsaspekten: Keine Unterscheidung von
F20.1 Hebephrene Schizophrenie • erste Episode Subtypen, aber von
F20.2 Katatone Schizophrenie • multiple Episoden Verlaufsaspekten:
F20.3 Undifferenzierte • kontinuierlich • erste Episode
Schizophrenie Alle primär psychotischen Störungen werden weiter beschrieben nach • multiple Episoden
F20.4 Postschizophrene Depression führender Symptomatik: positive, negative, depressive, manische, • kontinuierlich
F20.5 Schizophrenes Residuum psychomotorische oder kognitive Symptomatik Jeweils weitere Untergliederung
F20.6 Schizophrenia simplex in:
F20.8 Sonstige Schizophrenien • ggw. akut
• ggw. teilremittiert
• ggw. vollremittiert und
Einschätzung des Schweregrads

Katatonie Katatonie

F21 Schizotype Störung Schizotype Störung [Schizotype


Persönlichkeitsstörung]

F22 Anhaltende wahnhafte Wahnhafte Störung Wahnhafte Störung


Störung Unterscheidung nach Krankheitsintensität (gegenwärtig symptomatisch, Codierung des Wahntyps (z. B.
F22.0 Wahnhafte Störung teilremittiert, remittiert) und nach führender Symptomatik (s. Liebeswahn) und ob der Wahn
Schizophrenien) bizarr ist

F23.X Akute vorübergehende Akute und vorübergehende psychotische Störungen Kurze psychotische Störung
psychotische Störungen Unterscheidung von Verlaufsaspekten (erste Episode, mehrere Episoden) und Unterscheidung, ob mit / ohne
F 23.0 Akute polymorphe nach führender Symptomatik (s. Schizophrenien) deutliche Belastungsfaktoren,
psychotische Störung ohne postpartalem Beginn
Symptome einer Schizophrenie Schizophreniforme Störung (mit / 
F23.1 Akute polymorphe ohne günstigen prognostischen
psychotische Störung mit Merkmalen)
Symptomen einer
Schizophrenie
F23.2 Akute schizophreniforme
psychotische Störung
F23.3 Sonstige akute vorwiegend
wahnhafte psychotische Störung

F24 Induzierte wahnhafte - [codiert unter den unspezifizierten


Störung wahnhaften Störungen]

F25.X Schizoaffektive Störungen Schizoaffektive Störungen Schizoaffektive Störung


F25.0 Schizomanische Störung Unterscheidung von Verlaufsaspekten (erste Episode, mehrere Episoden, Unterscheidung:
F25.1 Schizodepressive Störung chronisch) und nach führender Symptomatik (s. Schizophrenien) • bipolarer Typ
F25.2 Gemischte schizoaffektive • depressiver Typ
Störung

Sekundäre psychotische Störungen

[F1X.5 Substanzinduzierte [Substanzinduzierte psychotische Störungen [Substanz- / 


psychotische Störungen Sekundäres psychotisches Syndrom mit medikamenteninduzierte
F06.0 Organische Halluzinose; • Halluzinationen psychotische Störung
F06.1 Organische katatone Störung • Wahn Psychotische Störung aufgrund
F06.2 Organische wahnhafte • Halluzinationen und Wahn eines medizinischen
(schizophreniforme) Störung] • unspezifischen Symptomen] Krankheitsfaktors mit
• Halluzinationen
• Wahn]

Seit der 1992 publizierten ICD-10 hat sich die Klassifikation psychotischer Störungen weiterentwickelt, was sich in einigen Veränderungen in den
Klassifikationssystemen des DSM-5® und der ICD-11 ausdrückt. Wesentliche Aspekte dieser Weiterentwicklung sind:

• Im DSM-5®, dem seit 2013 geltenden amerikanischen Klassifikationssystem, sowie in der ICD-11 werden keine Subtypen wie z. B. die „paranoide
Schizophrenie“ mehr unterschieden, weil die Symptomatik bei psychotischen Störungen im Verlauf häufig wechselt und die in der ICD-10
beschriebenen Subtypen wahrscheinlich keine eigenen Krankheitsentitäten darstellen. Dafür werden in der ICD-11 die primären psychotischen
Störungen weiter beschrieben nach ihrer in der jeweiligen Phase führenden Symptomatik: positive, negative, depressive, manische,
psychomotorische oder kognitive Symptomatik.
• Im DSM-5® und in der ICD-11 wird der Beschreibung von Verlaufsaspekten (z. B. erste Episode, multiple Episoden) und der Beschreibung der
Krankheitsintensität (z. B. gegenwärtig akut, gegenwärtig vollremittiert) und dem Schweregrad der Symptomatik mehr Platz eingeräumt.
• Im DSM-5® und in der ICD-11 ist die Katatonie als eigene Störung aufgenommen worden (➤ ), die induzierte wahnhafte Störung ist nicht mehr
aufgeführt.

In diesem Kapitel werden wie auch in den anderen Kapiteln dieses Buches die genauen Diagnosen nach ICD-10 vorgestellt. Weitere gegenüber der ICD-10
zu erwartende Änderungen in den Diagnosekriterien der ICD-11 sind in ➤ und ➤ (Katatonie) dargestellt.

5.2. Schizophrenien
5.2. Schizophrenien
5.2.1. Epidemiologie und Komorbidität
Epidemiologie
Die Schizophrenien kommen in allen bisher untersuchten Ländern, Kulturen und Klimazonen etwa gleich häufig vor. Sie zählen neben den unipolaren
Depressionen und den Alkoholerkrankungen zu den drei weltweit am häufigsten zu Behinderungen führenden Erkrankungen (➤ ). Neben den
Suchterkrankungen sind sie die teuersten psychischen Erkrankungen überhaupt. Auch unter optimaler Therapie sind ca. 10  % der Erkrankten dauerhaft
behindert; mehr als 80 % sind krankheitsbedingt nicht oder nicht vollzeitig beschäftigt und auf öffentliche Unterstützung angewiesen.
➤ gibt einen Überblick über die wichtigsten epidemiologischen Daten zum Auftreten der Schizophrenien.

Box 5.1
Epidemiologische Daten für das Auftreten der Schizophrenien

• Erkrankungsrisiko / Lebenszeitprävalenz (Wahrscheinlichkeit, mindestens einmal im Leben an einer Schizophrenie zu erkranken): 0,5–1 %.
• Punktprävalenz (Häufigkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt): 0,46 %.
• Alter bei Erstmanifestation:
– vor dem 14. Lj.: 2 %.
– zwischen Pubertät und 30. Lj.: 50 %.
– zwischen 30. und 40. Lj.: 25 %.
– d. h. vor dem 40. Lj. über 75 %.
– Es wird diskutiert, dass bis zu ein Drittel als Spätmanifestation auftritt.
• Männer und Frauen erkranken etwa gleich häufig; neuere Studien gehen davon aus, dass Männer etwas häufiger erkranken (Verhältnis 1,4 : 1).
• Männer erkranken im Durchschnitt früher als Frauen:
– Manifestationsgipfel Männer: 15. – 25. Lj.
– Manifestationsgipfel Frauen: 25. – 35. Lj. sowie peri- / postmenopausal
• Frauen haben i. Allg. eine bessere Langzeitprognose.

Komorbiditäten
Schizophrenien treten häufig gemeinsam mit anderen psychischen Störungen auf, wobei die höchsten Komorbiditätsraten für Suchterkrankungen (50–80 %)
bestehen. Zu nennen sind insbesondere Missbrauch oder Abhängigkeit von Alkohol, Cannabis, Kokain, Benzodiazepinen, Halluzinogenen, Antiparkinson-
Mitteln, Kaffee und Nikotin. Weitere wichtige Komorbiditäten sind Depressionen, Zwangsstörungen, PTBS, Angst- und Schlafstörungen.
Auch körperliche Erkrankungen treten bei schizophren Erkrankten relativ häufig auf. So war bei 50–80  % der stationär behandelten schizophrenen
Patienten eine relevante somatische Erkrankung nachweisbar. Schizophrene haben im Vergleich zur gesunden Bevölkerung eine um das ca. 2,6-fach erhöhte
Mortalitätsrate, die neben der erhöhten Suizidrate und Unfällen mit Todesfolge auch auf häufige körperliche Begleiterkrankungen wie z. B. Diabetes mellitus
und Adipositas sowie ungesunde Lebensgewohnheiten wie Nikotin-, Alkohol- und Drogenkonsum zurückzuführen ist. Bei schizophrenen Patienten sind
kardiovaskuläre und Krebserkrankungen insgesamt häufiger als in der Normalbevölkerung. Dies ist wahrscheinlich mit bedingt durch eine verminderte
Inanspruchnahme medizinischer Leistungen. Insgesamt ist die Lebenserwartung um ca. 15–20 Jahre verringert.

5.2.2. Symptomatik
Die Diagnose einer Schizophrenie gründet sich im Wesentlichen auf den psychopathologischen Befund, die Verlaufsbeobachtung und den Ausschluss einer
organischen Ursache. Es gibt jedoch keinen klinischen oder neurobiologischen Parameter, der spezifisch für die Diagnose einer Schizophrenie wäre.
Ebenso existiert kein psychopathologisches Symptom, das allein bei der Schizophrenie vorkäme und für diese Erkrankung spezifisch wäre. Trotzdem
unterscheidet sich das psychopathologische Bild der Schizophrenie mehr oder weniger deutlich von der Symptomatik anderer psychischer Störungen, sodass
die Diagnosestellung bei der Vollausprägung der Symptomatik i. d. R. nicht schwierig ist (zur Diagnostik und Differenzialdiagnostik ➤ ).

Traditionelle Symptombeschreibungen
Die für die psychopathologische Erforschung der Schizophrenie bedeutendsten Psychiater waren Eugen Bleuler (1857–1939) und Kurt Schneider (1887–1967).
E. Bleuler unterteilte die schizophrene Psychopathologie in Grundsymptome und akzessorische Symptome (➤ ) , wobei er allein die Grundsymptome als
charakteristisch für die Schizophrenie ansah, während er den akzessorischen Symptomen eine geringere Bedeutung zumaß, da diese gehäuft auch bei anderen
Psychosen vorkommen.

Box 5.2
Symptome der Schizophrenie nach E. Bleuler
Grundsymptome (die 4 großen A):

• A ssoziationslockerung (formale Denkstörung, Denkzerfahrenheit)


• A ffektstörung (z. B. Parathymie)
• A utismus (Störung der Umweltwahrnehmung und der Interaktion)
• A mbivalenz

Akzessorische Symptome:

• Wahrnehmungsstörungen (Halluzinationen)
• Inhaltliche Denkstörungen (Wahn)
• Katatone Symptome
• Funktionelle Gedächtnisstörungen
• Störungen in Schrift und Sprache

K. Schneider prägte den Begriff der abnormen schizophrenen Erlebnisweisen, zu denen die Erst- und Zweitrangsymptome der Schizophrenie gerechnet
werden (➤ ).
Tab. 5.2 Erst- und Zweitrangsymptome der Schizophrenie nach K. Schneider
Symptome 1. Ranges Symptome 2. Ranges Uncharakteristische
Symptome
Wahrnehmungsstörungen Dialogische, kommentierende, imperative Optische, olfaktorische, gustatorische, taktile Sensorische Störungen
Stimmen Halluzinationen

Gedankenlautwerden Illusionäre
Verkennungen

Leibliche Beeinflussungserlebnisse Zönästhesien


(Leibhalluzinationen)

Ich-Störungen Gedankeneingebung Depersonalisation

Gedankenentzug Derealisation

Gedankenausbreitung

Willensbeeinflussung

Inhaltliche Wahnwahrnehmungen Wahneinfall


Denkstörungen

Die Symptomeinteilungen nach E. Bleuler und besonders nach K. Schneider haben noch heute eine wichtige Funktion bei der Diagnosestellung und haben
Eingang in die modernen Klassifikationssysteme ICD-10, ICD-11 und DSM-5® gefunden (➤ ).

Positiv-Negativ-Konzept
T. Crow schlug 1980 eine Unterscheidung in eine Typ-I- und eine Typ-II-Schizophrenie vor:

• Typ-I-Patienten leiden demnach v. a. unter Plussymptomen (positive oder produktiv-psychotische Symptome) und sprechen relativ gut auf
Antipsychotika an.
• Bei Typ-II-Patienten dagegen dominieren Minussymptome (negative Symptome) das klinische Bild, die schlechter durch Antipsychotika
beeinflussbar sind (➤ ).

Merke
Zu den Negativsymptomen bei Schizophrenien gehören u.  a. Aufmerksamkeitsstörungen, Affektverflachung,
Anhedonie, Apathie und sozialer Rückzug. Schizophrene Positivsymptome sind z. B. Halluzinationen, Wahn und Ich-
Störungen.

Tab. 5.3 Negativ- und Positivsymptome bei Schizophrenien


Negativsymptome Positivsymptome
• Affektverflachung • Halluzinationen
• Verarmung von Sprache, Mimik, Gestik • Wahn
• Apathie • Ich-Störungen
• Anhedonie • Bizarres Verhalten
• Aufmerksamkeitsstörungen • Formale Denkstörungen
• Sozialer Rückzug

Auch im Verlauf treten Positiv- und Negativsymptome unterschiedlich auf (➤ ): In akuten Krankheitsphasen dominieren produktiv-psychotische Symptome
wie Wahn, Halluzinationen und Ich-Störungen, während in der chronischen Krankheitsphase Negativsymptome wie sozialer Rückzug, verminderte Aktivitäten,
Verarmung des Sprechens etc. das klinische Bild beherrschen (Einzelheiten s.  u.). Die Unterscheidung in Typ-I- und Typ-II-Schizophrenien hat sich in den
modernen Klassifikationssystemen nicht durchgesetzt, zumal positive und negative Symptome im Verlauf häufig wechseln und oft nebeneinander bestehen.
Eine Unterscheidung von Positiv- und Negativsymptomen wird aber in der ICD-11 zur Beschreibung der symptomatischen Ausprägung einer Schizophrenie
vorgenommen (➤ ).
Tab. 5.4 Häufigkeit von Symptomen der akuten und chronischen Schizophrenie
Symptom Häufigkeit [%]

Akute Schizophrenie

Mangel an Krankheitseinsicht 97

Akustische Halluzinationen 74

Beziehungsideen 70

Misstrauen 66

Affektverflachung 66

Stimmenhören 65

Wahnstimmung 64

Verfolgungswahn 64

Gedankeneingebung 52

Gedankenlautwerden 50

Chronische Schizophrenie

Sozialer Rückzug 74

Verminderte Aktivität 56

Verarmung des Sprechens 54

Verlangsamung 48

Vermehrte Aktivität 41

Seltsame Ideen, Depressivität 34

Vernachlässigung des Äußeren 30

Seltsame Haltungen und Bewegungsabläufe 25

Drohungen oder Gewalttätigkeiten 23

Ungewöhnliches Sexualverhalten 8

Einzelne psychopathologische Symptome

Inhaltliche Denkstörungen (Wahn)


Inhaltliche Denkstörungen äußern sich bei den Schizophrenien insbesondere in Form von Wahnwahrnehmungen und Personenverkennungen (Symptome 1.
Ranges nach K. Schneider) und in Wahneinfällen / Wahnideen (Symptome 2. Ranges).
Wahneinfälle äußern sich bei schizophrenen Patienten vornehmlich als Verfolgungs-, Vergiftungs- oder Beeinträchtigungswahn und als Größen- oder
Abstammungswahn. Oft haben die Wahnideen einen magisch-mystischen Charakter und sind bizarr, z. B. der Wahn, das Wetter kontrollieren zu können oder
mit Außerirdischen in Verbindung zu stehen. Viele Patienten zeigen ausgeprägte Wahnsysteme (➤ ).

Formale Denkstörungen
Während formale Denkstörungen bei K. Schneider eine geringere diagnostische Bedeutung besitzen und von ihm zu den schizophrenen Ausdrucksstörungen
gezählt werden, rechnet E. Bleuler sie zu den Grundsymptomen der Schizophrenie (Assoziationslockerung, Denkzerfahrenheit).

• Typische formale Denkstörungen bei Schizophrenien sind:


– Denkzerfahrenheit oder Inkohärenz des Denkens (Bleulers Grundsymptom), dazu gehören auch: Begriffszerfall, Begriffsverschiebung,
Kontamination und Symboldenken (s. u.)
– Gedankensperrung und Gedankenabreißen
• Weitere, auch anderweitig vorkommende formale Denkstörungen sind:
– Gehemmtes und umständliches Denken
– Vorbeireden / Danebenreden

Beim Begriffszerfall verlieren Begriffe ihre genaue Bedeutung und werden nicht scharf von anderen Begriffen abgegrenzt. Wenn verschiedene zueinander
nicht passende Begriffe verbunden werden, entstehen Begriffsverdichtungen wie „Eisbärenengel“ (E. Bleuler) oder „Zugkarussell“ usw.
Benutzen Schizophrene Begriffe nicht mehr in ihrer übertragenen Bedeutung, sondern nehmen sie wörtlich, liegt eine Begriffsverschiebung vor. Den
Patienten ist es dann z. B. nicht möglich, den Sinngehalt von Sprichwörtern wiederzugeben; stattdessen imponiert dann eine konkretistische Auslegung.
Unsinnige Wortkombinationen wie z. B. „Gott ist die Wirbelsäule“ bezeichnet man als Kontaminationen.
Vo n Symboldenken spricht man, wenn schizophrene Patienten bestimmte Begriffe in symbolischer Weise an die Stelle anderer Begriffe setzen.
Symboldenken ist genau genommen eine Sonderform der Begriffsverschiebung, zu der auch E. Bleuler sie rechnet. Beispiel: Eine Patientin hört in ihrem Leib
einen Storch klappern. Damit will sie ausdrücken, dass sie schwanger ist.
Wiederholt ein schizophrener Patient sinnlos immer wieder bestimmte Worte, spricht man von einer Verbigeration. Dabei werden gelegentlich nicht
unmittelbar verständliche Wortneubildungen (Neologismen) geschaffen.
Formale Denkstörungen sind meist nicht konstant vorhanden, sondern kommen häufig neben oder abwechselnd mit geordnetem Denken vor. Häufig werden
sie erst in einem längeren Gespräch mit dem Patienten deutlich. Oft machen die Patienten andere Personen für ihre Denkstörungen verantwortlich, dann führen
sie z. B. das Gedankenabreißen auf einen von außen bewirkten Gedankenentzug (s. Ich-Störungen) zurück.

Halluzinationen
Bei den Schizophrenien stehen akustische Halluzinationen (am häufigsten) und Leibhalluzinationen bzw. leibliche Beeinflussungserlebnisse im Vordergrund
(Erstrangsymptome nach K. Schneider). Optische, Geruchs- und Geschmackshalluzinationen sowie Zönästhesien sind weniger typisch und werden daher zu
den Symptomen 2. Ranges gerechnet. Einfache Wahrnehmungsveränderungen (sensorische Störungen) und illusionäre Verkennungen sind uncharakteristische
Symptome.
• Akustische Halluzinationen können sich in vier verschiedenen Formen äußern: als dialogische Stimmen (Stimmen in Form von Rede und
Gegenrede), kommentierende Stimmen (welche die eigenen Handlungen mit Bemerkungen begleiten), imperative / befehlende Stimmen sowie
Gedankenlautwerden, das auch zu den Ich-Störungen gerechnet werden kann.
• Treten Halluzinationen kombiniert mit Wahnerlebnissen auf, spricht man von einer paranoid-halluzinatorischen Form der Schizophrenie. Dabei
werden Halluzinationen oft sekundär im Sinne eines Erklärungswahns verarbeitet. Beispiel: Kommentierende Stimmen werden vom Patienten als
von einer Fernsehmikrofonanlage ausgehend erklärt.
• Leibliche Beeinflussungserlebnisse oder Leibhalluzinationen haben im Gegensatz zu den Zönästhesien den „Charakter des von außen Gemachten“
und sind bei ca. 40 % aller Schizophrenen zu beobachten. Besonders häufig werden Leibesmissempfindungen dann als Elektrisierung, Bestrahlung
oder sexuelle Beeinflussung, also als Einflüsse von außen, interpretiert und erlebt. Auch leibliche Beeinflussungserlebnisse stellen ein
schizophrenes Erstrangsymptom nach K. Schneider dar.
• Zönästhesien lassen sich definieren als qualitativ eigenartige Leibesmissempfindungen, die den Charakter des von außen Gemachten vermissen
lassen. Den Patienten ist, „als ob“ sie aus Stein wären oder „als ob“ ihnen Wasser über die Arme liefe o. Ä. Im Gegensatz zu den
Leibhalluzinationen sind Zönästhesien ein schizophrenes Zweitrangsymptom.

Praxistipp
Häufig dissimulieren Patienten, dass sie halluzinieren. Halluzinatorisches Erleben ist jedoch häufig aus der Verhaltensbeobachtung zu erkennen. So drehen
sich die Patienten z.  B. mitten im Gespräch um, weil sie eine Stimme hinter sich vernehmen, auf die sie antworten möchten, oder sie verlieren den
Gesprächsfaden, wenn eine Halluzination den Gedankenablauf unterbricht. Dann „blicken die Patienten in sich“ und bewegen z. B. die Lippen als Antwort
auf die Stimme.

Ich-Störungen
Ich-Störungen oder Störungen der Meinhaftigkeit gehören nach K.  Schneider zu den Erstrangsymptomen. Betreffen sie das Denken, spricht man von
Gedankeneingebung, Gedankenentzug oder Gedankenausbreitung. Erlebt der Schizophrene seine Handlungen als von außen gemacht oder gelenkt, spricht
man von Willensbeeinflussung. Beispiel: Ein schizophrener Patient klagt darüber, dass er ständig hypnotisiert werde, dass er nicht so denken und fühlen
könne, wie er wolle, und Handlungen ausführen müsse, die er nicht wolle. Als Erklärung dafür werden typischerweise Suggestion, Hypnose oder Apparate
genannt (Erklärungswahn).
Dagegen haben Depersonalisations- und Derealisationserleben, die auch zu den Ich-Störungen gerechnet werden, kein diagnostisches Gewicht, da sie auch
bei vielen anderen psychischen Störungen wie Depressionen, Persönlichkeitsstörungen oder auch im Normalzustand (z. B. bei starker Übermüdung) sowie als
führendes Symptom bei der Derealisations- / Depersonalisationsstörung (➤ ) vorkommen.

Störungen von Affektivität und Antrieb

Störungen der Affektivität


Störungen der Affektivität sind bei schizophrenen Erkrankungen ein häufiges Symptom mit unterschiedlichster Ausprägung (➤ ). Sie werden nach E. Bleuler
zu den Grundsymptomen der Schizophrenie gerechnet. In der ICD-10-Klassifikation ist der verflachte und inadäquate Affekt von diagnostischer Relevanz (➤
).

Box 5.3
Störungen der Affektivität bei Schizophrenien

• Anhedonie und depressive Verstimmung


• Maniforme Gereiztheit und „läppische Affektivität“
• Affektverflachung
• Parathymie (inadäquater Affekt)
• Angst
• Ambivalenz

Anhedonie und depressive Verstimmung


Als Anhedonie bezeichnet man die Unfähigkeit, Lust und Freude zu empfinden. So bleiben Vergnügen und Befriedigung in Situationen aus, die
normalerweise mit Lustgefühlen verbunden sind, wie z.  B. Kinobesuch, Musik und Lektüre, die nicht genossen werden können. Die Anhedonie ist ein
Kernsymptom der Negativsymptomatik; sie zeigt sich u. a. in:

• wenigen Freizeitinteressen und Aktivitäten


• geringem sexuellem Interesse und geringer Aktivität
• beeinträchtigter Fähigkeit, Intimität und Nähe zu fühlen
• reduziertem Kontakt zu Freunden und Altersgenossen

Affektverflachung und parathymer Affekt

• Die Affektverflachung bei schizophren erkrankten Patienten zeigt sich in Gefühlsleere und -abstumpfung, Gleichgültigkeit sowie verminderter
emotionaler Ansprechbarkeit.
• Ein charakteristisches Symptom der Schizophrenie ist auch der parathyme Affekt. Hierbei stimmen Gefühlsausdruck und aktuelle Situation oder
Kommunikation nicht überein (➤ ), was von den Patienten häufig auch subjektiv bemerkt wird.

Weitere Störungen der Affektivität

• Eine „läppische Affektivität“ tritt vorwiegend bei der hebephrenen Schizophrenie auf. Die Patienten sind dann laut, enthemmt, ausgelassen und
rücksichtslos.
• Angst ist ein sehr häufiges Symptom bei Schizophrenien. Die Ursache kann z. B. die Angst vor der eigenen Veränderung sein oder vor dem
vermeintlichen Verfolger bei einer paranoiden Schizophrenie. Die Angst des Patienten wird u. U. so groß, dass er entweder erstarrt und es ihm
sozusagen „vor Angst die Sprache verschlägt“ (Stupor und Mutismus), oder aber dass Erregung, Aggressivität und Selbst- bzw. Fremdgefährdung
die Folge sind.
• Als Ambivalenz bezeichnet man das Nebeneinander gegensätzlicher Gefühlsregungen oder widersprüchlicher Bestrebungen. E. Bleuler rechnet sie
zu den Grundstörungen der Schizophrenie. Treten gleichzeitig gegenläufige Willens- und Antriebsimpulse auf, spricht man von Ambitendenz .
Diese stellt das körperliche Äquivalent zur Ambivalenz dar und kann sich bis hin zur völligen Handlungsunfähigkeit steigern (s. a. Katatone
Symptome).
• Nach E. Bleuler zählt auch der „Autismus“ (nicht zu verwechseln mit dem heutigen Begriff des Autismus) zu den Grundsymptomen der
Schizophrenie und wird zur Gruppe der affektiven Grundstörungen gerechnet. Unter „Autismus“ versteht Bleuler eine „allgemeine Absonderung
von der Gemeinschaft und der gemeinsamen Welt-Wirklichkeit mit Rückzug auf das subjektive ‚Binnen-Leben‘, die eigene individuelle
Wirklichkeit“. Gründe für „autistisches“ Verhalten Schizophrener können unterschiedlich sein: das Gefangensein im eigenen Wahn- oder
halluzinatorischem Erleben oder eine Reaktion darauf, dass emotionale Beanspruchung und Kontakt mit Mitmenschen als nachteilig erfahren
werden. Bleuler sprach dann von sekundärem „Autismus“, der Folge von Bewältigungs-, Schutz- und Selbsthilfestrategien sei: Die Patienten
lernen, wie weit sie sich hinsichtlich sozialer Kontakte (und Arbeitsleistung) belasten dürfen, und vermeiden Situationen, welche die Symptome
verschlimmern können. Davon unterschied er den primären „ Autismus“, bei dem es zuerst zu einer Abkehr von der Umwelt und zu einer
Minderung des Kontaktbedürfnisses kommt. Der „autistische“ Patient wirkt abwesend, in sich gekehrt und isoliert; er redet vor sich hin, als ob er
allein wäre, oder stellt eine Frage, ohne eine Antwort zu erwarten. In Extremform zeigt sich der „Autismus“ als Mutismus oder Stupor.

Antriebsstörungen
Der Antrieb kann bei schizophrenen Patienten in akuten und chronischen Stadien vermindert oder gesteigert sein. Eine Antriebsminderung findet sich
typischerweise zusammen mit Störungen der Affektivität und des Denkens im Rahmen chronischer Residualzustände.

Störungen der Psychomotorik (katatone Symptomatik)


Katatone Symptome sind Störungen der Motorik und des Antriebs, die sich in Hyperphänomenen (psychomotorische Hyperkinesen) oder Hypophänomenen
(psychomotorische Hypokinesen) äußern können (➤ ).

Box 5.4
Katatone Symptome bei Schizophrenien

• Psychomotorische Hyperkinesen:
– Psychomotorische Erregung
– Bewegungs- und Sprachstereotypien
– Befehlsautomatie (Echopraxie, Echolalie)
– Manierismen
• Psychomotorische Hypokinesen:
– Sperrung, Stupor und Mutismus
– Negativismus und Ambitendenz
– Katalepsie und Haltungsstereotypien
– Flexibilitas cerea (wächserne Biegsamkeit)

Stehen katatone Symptome im Vordergrund der schizophrenen Symptomatik, spricht man von einer katatonen Schizophrenie. Seit Einführung der
Antipsychotika wird die Katatonie allerdings seltener beobachtet.

Psychomotorische Hyperkinesen

Psychomotorische Erregung und Stereotypien


Die psychomotorische Erregung kann sich psychomotorisch und sprachlich äußern: Die Patienten leiden unter einem starken Bewegungsdrang, sind in
ständiger Unruhe, schreien, heulen, schimpfen, sind selbst- oder fremdaggressiv.
Drückt sich diese Erregung im stereotypen Wiederholen zweckloser Bewegungsabläufe oder Redensarten aus, die ohne äußeren Reiz oder situativen
Auslöser spontan entstehen, spricht man von Bewegungs- und Sprachstereotypien: Die Patienten machen kontinuierlich die gleichen Bewegungen, wippen
mit den Beinen, schaukeln mit dem Rumpf oder öffnen und schließen ständig ihre Hemdknöpfe. Unter Sprachstereotypien versteht man das ununterbrochene
Wiederholen immer derselben Sätze oder das sinnlose Aneinanderreihen von Silben (Verbigeration), wobei oft neue Wörter (Neologismen) gebildet werden.

Praxistipp
Bewegungsstereotypien sind nicht immer leicht von der durch Antipsychotika mit starkem Dopamin-D2-Antagonismus (v.  a. Antipsychotika der 1.
Generation) induzierten Akathisie zu unterscheiden. Darunter versteht man eine Sitzunruhe, die dazu führt, dass die Patienten nicht stillsitzen können,
sondern ständig auf und ab laufen müssen.

Befehlsautomatie
Befehlsautomatien stellen das Gegenstück zum Negativismus dar (s. u.). Bei der Echopraxie ahmen die Patienten ständig Bewegungen und Handlungen der
Umgebung nach, z.  B. die Gesten und Haltungen des Untersuchers. Bei der Echolalie werden gehörte Wörter und Sätze vom Patienten „mechanisch“
nachgesprochen.

Manierismus
Unter Manierismus versteht man eine Ausdrucksform, die sich sprachlich in einer unnatürlichen Sprachtechnik mit übertriebener, gezielter Artikulation,
verschrobener Wortwahl und gespreizter Ausdrucksweise zeigt (auch „Stelzensprache“ genannt), im Verhalten als Attitüden und bizarr-abstruse Haltungen
oder Bewegungsabläufe. Wenn die Mimik betroffen ist, spricht man auch von Grimassieren.

Psychomotorische Hypokinesen

Sperrung, Stupor und Mutismus


Halten Schizophrene mitten in einem Bewegungsablauf inne, spricht man von einer Sperrung des Antriebs. Extremform einer Sperrung ist der Stupor,
währenddessen der Patient bei klarem Bewusstsein vollkommen bewegungs- und regungslos ist. Obwohl er sieht, hört und versteht, was man zu ihm sagt,
kann er sich weder bewegen noch irgendwelche Aufforderungen befolgen. Ist das Sprechen des Patienten gesperrt, spricht man von Mutismus.

Negativismus und Ambitendenz


Darunter versteht man ein Widerstreben gegen jede äußere Einwirkung, z.  B. Aufforderungen oder Befehle (äußerer Negativismus) oder gegenüber den
eigenen Intentionen (innerer Negativismus). Die Patienten tun dann immer das Gegenteil von dem, was man ihnen aufträgt oder was sie eigentlich wollen: Sie
essen z. B. die Suppe mit der Gabel oder bringen einen Teller, wenn sie ein Glas holen sollen. Wenn Antrieb und Gegenantrieb nebeneinander bestehen, spricht
man von Ambitendenz, z. B. Hand reichen und zurückziehen.

Katalepsie und Haltungsstereotypien


Von einer Katalepsie spricht man, wenn passiv vorgegebene, noch so unbequeme Körperhaltungen abnorm lange, d.  h. für Stunden oder gar Tage,
beibehalten werden. Man bezeichnet dies auch als Haltungsstereotypien, d. h., der Patient verharrt lange in bestimmten Haltungen und setzt jedem Versuch
einer Änderung energischen Widerstand entgegen. Beispiel: Ein Patient hebt stundenlang seinen Kopf von der Unterlage ab, ohne dabei zu ermüden
(„psychisches Kopfkissen“).

Flexibilitas cerea (wächserne Biegsamkeit)


Bei der passiven Bewegung der Gliedmaßen des Patienten verspürt der Untersucher einen zähen Widerstand, ähnlich wie beim Formen einer Wachspuppe.

Vegetative Symptome
Vegetative Symptome findet man sehr häufig und in unterschiedlichster Ausprägung. Beispiele: Schlafstörungen, Herzfrequenzänderungen,
Gewichtsschwankungen, Störungen der Speichel- und Schweißdrüsensekretion, Tachypnoe sowie gastrointestinale und urogenitale Symptome.

Eigen- und Fremdgefährdung


Patienten mit Schizophrenie haben ein gegenüber der Allgemeinbevölkerung deutlich erhöhtes Suizidrisiko. Bis zu 50 % aller Betroffenen unternehmen im
Laufe ihrer Erkrankung mindestens einen Suizidversuch; etwa 5  % versterben infolge eines Suizids, wobei Depressivität, männliches Geschlecht, jüngeres
Lebensalter und höhere Intelligenz und Bildung die zentralen Risikofaktoren für suizidale Handlungen darstellen.
Das Risiko für Fremdaggressivität ist v.  a. während unbehandelter psychotischer Episoden sowie während eines Drogenkonsums bei Schizophrenien
erhöht. Etwa 5–20 % aller Tötungsdelikte gehen auf schizophren Erkrankte zurück. Hierbei ist zu beachten, dass > 60 % der Gewaltverbrechen im Rahmen der
ersten psychotischen Episode begangen werden, noch vor einem psychiatrischen Erstkontakt. Nach adäquater Therapie sinkt das Risiko von 1,59 / 1.000 vor
Therapiebeginn auf 0,11 / 1.000, was die Relevanz einer frühzeitigen Diagnosestellung und Behandlung deutlich macht.
Neuere Studien zeigen, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen auch ein erhöhtes Risiko haben, selbst Opfer einer Straftat zu werden. Dies gilt auch
für schizophrene Patienten.

Stigmatisierung
Patienten mit Schizophrenie leiden auch unter der der Krankheit anhaftenden Stigmatisierung und der daraus resultierenden Diskriminierung. Diese
Stigmatisierung wird auch als „zweite Krankheit“ bezeichnet und resultiert in einer verminderten Lebensqualität, einem geringeren Selbstwert und einer
geringeren Selbstwirksamkeitserwartung der Betroffenen. Das Stigma, das nicht nur die Patienten, sondern auch Angehörige und Berufsgruppen, die sich mit
der Erkrankung beschäftigen, betrifft, ist im Vergleich zu anderen psychischen Erkrankungen bei den Schizophrenien am stärksten ausgeprägt und mit
negativen Stereotypen wie Gefährlichkeit, Kriminalität und Unkontrollierbarkeit verbunden.
Die Stigmatisierung der Erkrankung führt häufig zu einer Selbststigmatisierung der Patienten, die dann oft auch weniger bereit sind, Hilfe in Anspruch zu
nehmen oder Therapieempfehlungen umzusetzen. Stigmatisierung ist wahrscheinlich eine wesentliche Ursache dafür, dass sich in Europa bis zu 20  % der
schizophrenen Patienten nicht in medizinischer Behandlung befinden.

5.2.3. Verlauf und Prognose


Verlauf
Der Verlauf schizophrener Erkrankungen kann sehr unterschiedlich sein. Die wohl bekannteste Studie zur Erforschung von Verlaufsformen stammt von M.
Bleuler (1972), der die in ➤ dargestellte Typologie schizophrener Krankheitsverläufe konzipierte. Dieser Langzeitbeobachtung liegen Daten von 208 Patienten
zugrunde.
Abb. 5.1 Verlaufsformen der Schizophrenie und ihre Häufigkeit nach M. Bleuler [G813 / L141]

Für die tägliche klinische Arbeit ist diese komplizierte Verlaufstypologie sicherlich zu umständlich. Als Anhaltspunkt kann folgende Drittelregel des
Langzeitverlaufs schizophrener Störungen gelten (➤ ):

• Rund ein Drittel der Erkrankungen führt nach einer oder mehreren Krankheitsepisoden zur Heilung oder zu leichten Residualzuständen.
• Rund ein Drittel verläuft zu mittelschweren und charakteristischen Residualzuständen mit gelegentlichen Exazerbationen.
• Rund ein Drittel verläuft zu schweren Residualzuständen oder chronischen Schizophrenien.
Abb. 5.2 Verlaufsformen der Schizophrenie [M515]

➤ stellt die Klassifikation des Verlaufs der Schizophrenien in der ICD-10 zusammen.

Tab. 5.5 ICD-10-Klassifikationen des Verlaufs der Schizophrenien


ICD-10-Code Verlaufsform
F20.x0 kontinuierlich

F20.x1 episodisch, mit zunehmendem Residuum

F20.x2 episodisch, mit stabilem Residuum

F20.x3 episodisch remittierend

F20.x4 unvollständige Remission

F20.x5 vollständige Remission

F20.x8 andere

F20.x9 Beobachtungszeitraum weniger als 1 Jahr

Typische Phasen im Krankheitsverlauf


Im Krankheitsverlauf der Schizophrenien kann man klinisch drei Phasen unterscheiden: die Prodromalphase, die aktive (akute) Krankheitsphase und die
Residualphase.

Praxistipp
Für die tägliche klinische Arbeit ist es ausreichend, zwischen Prodromalphase (Monate bis Jahre, Negativsymptomatik; > 50  % der Fälle), aktiver
Krankheitsphase (akute „floride“ Positivsymptomatik) und Residualphase (Negativsymptomatik mit oder ohne Positivsymptome; ca. 60–75 % der Fälle)
zu unterscheiden.

Prodromalphase
Vor Manifestation der akuten schizophrenen Erkrankung beobachtet man häufig eine uncharakteristische Prodromalphase, die für einige Monate bis viele
Jahre bestehen kann. Während dieser Prodromalphase bestehen einerseits uncharakteristische Symptome: Die Patienten sind besonders empfindsam, reizbar
und weniger leistungsfähig. Sie verlieren ihr Interesse an Dingen, für die sie sich früher begeistern konnten, und ziehen sich häufig zurück. Nicht selten kommt
es auch schon zu einer Abnahme des Funktionsniveaus ( Leistungsknick ). In der Prodromalphase können aber auch schon Störungen in Denk- und
Wahrnehmungsprozessen sowie kurzzeitige, abgeschwächte psychotische Symptome auftreten, die allerdings nicht die Zeit- und Schweregradkriterien für eine
Schizophrenie erfüllen.
Da nicht alle Menschen mit solchen Symptomen langfristig eine Schizophrenie entwickeln, spricht man in der prospektiven Betrachtung besser von
Menschen mit einem erhöhten Psychoserisiko und nicht von einem Prodrom. In wissenschaftlichen Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass sich
Patienten mit einem besonders hohen Risiko für einen Übergang in eine Psychose gut identifizieren lassen und dass es wirksame Interventionen gibt, die dieses
Übergangsrisiko deutlich reduzieren können. Menschen mit einem erhöhten Psychoserisiko sollten daher an spezialisierte Früherkennungszentren, die häufig
an Universitätskliniken und anderen großen psychiatrischen Kliniken angesiedelt sind, oder zumindest einen Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie
überwiesen werden. Die Patienten sollten dabei nicht mit einer vorzeitigen Schizophrenie-Diagnose belastet und stigmatisiert werden. Besser ist es, von einem
erhöhten „Risiko einer weiteren Verschlechterung der seelischen Gesundheit“ oder dem „Risiko, eine psychotische Krise zu entwickeln“ zu sprechen.
Menschen mit einem erhöhten Psychoserisiko sollten mit kognitiver Verhaltenstherapie (KVT) behandelt werden. Der Mehrwert einer Therapie mit
Antipsychotika ist derzeit nicht gesichert und erfolgt, wenn überhaupt, „off label“ in niedriger Dosierung. Wichtig ist auch, immer einen Drogenkonsum zu
erfragen und entsprechend zu behandeln.

Aktive Krankheitsphase
Die aktive Krankheitsphase ist i.  d.  R. durch das Auftreten einer positiven bzw. produktiv-psychotischen Symptomatik, häufig in Kombination mit
Negativsymptomen, gekennzeichnet.

Merke
Wichtige Frühwarnsymptome einer akuten schizophrenen Episode sind Nervosität, Schlafstörungen,
Stimmungsschwankungen, Schwierigkeiten bei der Arbeit, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen sowie sozialer
Rückzug.

Langzeitverlauf
Entgegen einer früher weit verbreiteten Meinung ist die Schizophrenie keine prinzipiell unheilbare Erkrankung. Sie verläuft auch nicht überwiegend
ungünstig, und wiederholte Erkrankungsphasen, Chronifizierung und Residualzustände sind nicht die Regel.
Der Verlauf schizophrener Psychosen kann sehr unterschiedlich sein. Der Einfachheit halber lassen sich die in ➤ gezeigten Verlaufsformen unterscheiden.

In der berühmten Langzeituntersuchung von G. Huber (Bonn) wurde der Verlauf von 500 zwischen 1945 und 1959 in der Psychiatrischen
Universitätsklinik Bonn stationär behandelten Patienten über durchschnittlich 22 Jahre untersucht. Dabei zeigten nach der Erstmanifestation im
Langzeitverlauf ca. 22 % der Patienten eine Vollremission, ca. 43 % ein „uncharakteristisches“ Residualsyndrom (im Wesentlichen Negativsymptome) und
35 % ein „charakteristisches“ Residualsyndrom (Negativ- und vereinzelt Positivsymptome). Patienten, die nach Ablauf der akuten Erkrankung wieder auf
früherem beruflichem Niveau oder auch darunter dauerhaft tätig sein konnten, bezeichnete Huber als dauerhaft „sozial geheilt“ oder sozial remittiert. In
diesem Sinne waren ca. zwei Jahrzehnte nach Krankheitsausbruch etwa 60 % der schizophrenen Patienten sozial geheilt, wobei ca. 40 % auf prämorbidem
Niveau und 20 % unter dem früheren Niveau voll arbeitsfähig waren. Im Erwerbsleben begrenzt arbeitsfähig waren ca. 20 %, erwerbsunfähig (jedoch zu
Hause begrenzt arbeitsfähig) ca. 10  % und weitere ca. 10  % völlig arbeitsunfähig. Soziale und psychopathologische Langzeitprognose korrelierten
hochsignifikant, d. h., fast alle Patienten mit psychopathologischen Vollremissionen waren auf früherem Niveau voll erwerbstätig. Die soziale Remission
war bei Frauen i. Allg. besser als bei Männern.

Der Begriff „soziale Heilung“ wird heute durch den ähnlichen Begriff der „Recovery“ ersetzt, den Liberman wie folgt definiert: Für einen Zeitraum von ≥ 2 
Jahren besteht eine weitgehende Symptomkontrolle (definiert als geringgradige Symptomatik in standardisierten Psychopathologieskalen wie BPRS oder
PANSS), der Patient geht mindestens halbtags einer Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt nach, er übt mindestens einmal pro Woche eine Freizeit- oder
soziale Aktivität aus, und er zeigt eine gewisse Autonomie (z. B. kann er Finanzen, Wohnen und Medikamenteneinnahme selbst bewältigen). Legt man diese
Kriterien zugrunde, erreichen bei Betrachtung einschlägiger Studien seit 1941 nur 13,5 % der Patienten im Follow-up eine Recovery, und es zeigten sich keine
Unterschiede vor und nach Einführung der Antipsychotika. Unterschiede zu anderslautenden Befunden sind daher wohl am ehesten auf das Anlegen dieser
strengeren Kriterien zurückzuführen. Für die Symptomkontrolle sind sicher Antipsychotika und für den Langzeitverlauf sozialtherapeutische Maßnahmen
entscheidend. Ob Antipsychotika aber wirklich maßgeblich den Verlauf ändern, wird von einigen Wissenschaftlern bezweifelt.

Verlaufsvorhersage und Prognose


Zu Beginn der Erkrankung ist eine verlässliche prognostische Einschätzung im Einzelfall nicht möglich. Statistisch gesehen lässt sich sagen, dass ca. 60–80 %
der an einer Schizophrenie Erkrankten innerhalb von 2  Jahren nach der ersten Klinikaufnahme ein Rezidiv erleiden und dass durch die Antipsychotika-
Therapie die Rückfallrate gegenüber einer Placebobehandlung um mindestens 50 % reduziert werden kann.
Die Mortalität ist gegenüber der Gesamtbevölkerung mehr als doppelt so hoch; die durchschnittliche Lebensdauer ist um ca. 15 Jahre verkürzt. Etwa 50 %
aller schizophrenen Patienten unternehmen mindestens einmal in ihrem Leben einen Suizidversuch. Risikofaktoren sind v. a. depressive Symptomatik, junges
Alter, persistierende Symptomatik und hoher prämorbider Status (z. B. Student).
Grundsätzlich gibt es keinen Faktor, anhand dessen es möglich wäre, bei der Ersterkrankung den weiteren Verlauf sicher vorherzusagen. Aus
epidemiologischen Studien weiß man jedoch, welche Faktoren für einen eher günstigen und welche für einen eher ungünstigen Krankheitsverlauf sprechen (➤
).

Merke
Ein wichtiger verlaufsbestimmender Faktor ist auch das emotionale Klima in der Familie des schizophren Erkrankten
mit erhöhter Rückfallgefahr bei „high expressed emotions“ (HEE) (➤ ). Dies könnte evtl. auch die vergleichsweise
besseren Verläufe in Entwicklungsländern mit einem geringeren Expressed-Emotion-Index (Großfamilie) als in
westlichen Großstädten mit einem höheren HEE-Risiko in Familien erklären.

Tab. 5.6 Prädiktoren für einen guten und einen schlechten Verlauf schizophrener Psychosen
Gute Prognose Schlechte Prognose
Verheiratet Geschieden, getrennt

Weiblich Männlich

Gute Anpassung im Arbeits- und Freizeitbereich Soziale Isolation

Stress oder akute schwere Lebensereignisse vor Krankheitsausbruch Anpassungsprobleme während der Adoleszenz

Seltene und kurze Krankheitsphasen Lange und häufige Krankheitsphasen

Akuter Krankheitsbeginn Schleichender Krankheitsbeginn

Affektive Auffälligkeiten Negativsymptomatik, akustische Halluzinationen, Wahnideen

Frühzeitige Behandlung einer floriden psychotischen Symptomatik, gutes Lange pharmakologisch unbehandelte produktiv-psychotische Symptomatik
initiales Ansprechen auf Antipsychotika (DUP; „duration of untreated psychosis“)

5.2.4. Diagnostik und Differenzialdiagnostik


Die Diagnose einer Schizophrenie stützt sich im Wesentlichen auf:

• den psychopathologischen Befund,


• den Ausschluss einer anderen psychischen Störung und
• den Ausschluss einer körperlichen Erkrankung.

➤ zeigt einen Entscheidungsbaum für die Diagnosestellung „Schizophrenie“.

Abb. 5.3 Entscheidungsbaum für die Diagnose Schizophrenie (aus: S3-Leitlinie Schizophrenie) [W893 / L231]

ICD-10-Diagnosekriterien der Schizophrenien


Nach der ICD-10 kann die Diagnose einer Schizophrenie dann gestellt werden, wenn die in ➤ aufgeführten Kriterien erfüllt sind und eine organische
Hirnerkrankung oder Intoxikation ausgeschlossen wurde.

Box 5.5
Diagnosekriterien der Schizophrenie nach ICD-10
Die Diagnose einer Schizophrenie kann gestellt werden, wenn mindestens ein eindeutiges Symptom der Gruppe 1–4 oder mindestens zwei Symptome der
Gruppe 5–9 für einen Zeitraum von mindestens 1 Monat bestanden haben.

1. Ich-Störungen Gedankenlautwerden, Gedankeneingebung, Gedankenentzug oder Gedankenausbreitung)


2. Inhaltliche Denkstörungen in Form von Kontrollwahn, Beeinflussungswahn, Gefühl des Gemachten, Wahnwahrnehmungen
3. Akustische Halluzinationen in Form kommentierender, dialogischer oder anderer Stimmen, die aus einem Teil des Körpers kommen
4. Anhaltender, kulturell unangemessener oder völlig unrealistischer (bizarrer) Wahn (z. B. das Wetter kontrollieren zu können oder im Kontakt mit
Außerirdischen zu sein)
5. Anhaltende Halluzinationen jeder Sinnesmodalität
6. Formale Denkstörungen in Form von Gedankenabreißen oder Einschiebungen in den Gedankenfluss, was zu Zerfahrenheit, Danebenreden oder
Wortneubildungen (Neologismen) führt
7. Katatone Symptome wie Erregung, Haltungsstereotypien oder wächserne Biegsamkeit (Flexibilitas cerea), Negativismus, Mutismus und Stupor
8. „Negative“ Symptome wie auffällige Apathie, Sprachverarmung, verflachter oder inadäquater Affekt, zumeist mit sozialem Rückzug und
verminderter sozialer Leistungsfähigkeit
9. Sehr eindeutige und durchgängige Veränderungen bestimmter umfassender Aspekte des Verhaltens, die sich in Ziellosigkeit, Trägheit, einer „in
sich selbst verlorenen Haltung“ und sozialem Rückzug manifestieren

Praxistipp
Bei Aufnahme eines Patienten mit einer schizophrenen Symptomatik ist zunächst oft nicht klar, wie lange die Symptomatik bestand oder ob eine
organische Ursache zugrunde liegt. Es empfiehlt sich daher, zunächst die Verdachtsdiagnose einer akuten vorübergehenden psychotischen Störung (ICD-10
F23) zu stellen und die Diagnose nach genauer Erfassung des Krankheitsverlaufs ggf. anzupassen.

Die amerikanische Klassifikation, das DSM-5 ®, weist im Gegensatz zur ICD-10 eine strengere Operationalisierung, ein strengeres Zeitkriterium (6 Monate
statt 1  Monat in der ICD-10) und die Bedingung auf, dass auch auf sozialer Ebene krankheitsbedingte Beeinträchtigungen bestehen. Die ICD-11 greift
weitgehend die diagnostischen Kriterien einschließlich des Zeitverlaufs (1  Monat) der ICD-10 auf, stellt jedoch mehr als bisher das Abweichen von der
soziokulturellen Norm in den Betrachtungsfokus.

Standardisierte Symptomerfassung (Skalen)


Mehrere Skalen stehen zur Verfügung, um die schizophrene Symptomatik operationalisiert zu erfassen. Dazu gehören:

• SANS (Scale for the Assessment of Negative Symptoms): Mithilfe der SANS können negative Symptome oder Minussymptome der Schizophrenie
erfasst werden. Die SANS gliedert sich in fünf Symptomgruppen:
– Affektverflachung
– Alogie (Sprachverarmung)
– Abulie (Willenlosigkeit) – Apathie
– Anhedonie – sozialer Rückzug
– Aufmerksamkeitsstörungen
• SAPS (Scale for Assessment of Positive Symptoms): Mit der SAPS können positive oder Plussymptome der Schizophrenie erfasst werden. Sie
gliedert sich in vier Symptomgruppen:
– Halluzinationen
– Wahn
– Bizarres Verhalten
– Positive formale Denkstörungen
• In der PANSS (Positive and Negative Syndrome Scale) sind die SANS und SAPS zusammengefasst.
• BPRS (Brief Psychiatric Rating Scale): Die BPRS erfasst das aktuelle psychopathologische Zustandsbild des Patienten, wobei der Schwerpunkt auf
die Erfassung der Positivsymptomatik gelegt wird.
• CDSS (Calgary Depression Scale for Schizophrenia): Die CDSS dient der strukturierten Erhebung und Verlaufsbeobachtung depressiver Symptome
und zeichnet sich dadurch aus, dass sie durch ggf. vorliegende Negativsymptome weniger konfundiert wird als andere Depressionsskalen.

Subtypen in der ICD-10


➤ und ➤ geben einen Überblick über die Art und Häufigkeit der in der ICD-10 unterschiedenen Subtypen der Schizophrenien sowie anderer psychotischer
Störungen.
Abb. 5.4 Unterformen der Schizophrenie und ihre Häufigkeit [G691-002 / L141]

Tab. 5.7 Subtypisierung der Schizophrenien in der ICD-10


Code Subtyp Charakterisierung
F20.0 Paranoide Paranoid-halluzinatorisches Erleben im Vordergrund.
Schizophrenie

F20.1 Hebephrene Affekt-, Antriebs- und formale Denkstörungen im Vordergrund.


Schizophrenie

F20.2 Katatone Psychomotorische (katatone) Symptome im Vordergrund.


Schizophrenie

F20.3 Undifferenzierte Zustandsbilder, welche die Schizophreniekriterien erfüllen, ohne jedoch einer der Unterformen F20.0–20.2 zu entsprechen.
Schizophrenie

F20.4 Postschizophrene Depressive Episode, die innerhalb eines Jahres nach einer schizophrenen Episode auftritt. Schizophrene Symptome müssen
Depression noch vorhanden sein, beherrschen aber nicht mehr das klinische Bild.

F20.5 Schizophrenes Folgezustand einer Schizophrenie mit im Vordergrund stehender Negativsymptomatik.


Residuum

F20.6 Schizophrenia simplex Zurückhaltend zu stellende Ausschlussdiagnose, die sich durch einen langsamen, chronisch progredienten Verlauf mit
(blande Psychose) schizophrener Residualsymptomatik ohne charakteristische psychotische Symptome auszeichnet.

F20.8 Sonstige Hier wird z. B. die zönästhetische Schizophrenie codiert.


Schizophrenien

Paranoide Schizophrenie
Im Vordergrund der psychopathologischen Symptomatik stehen wahnhafte (paranoide) und halluzinatorische Erlebnisweisen sowie Ich-Störungen.

Merke
Leitsymptome einer paranoiden Schizophrenie sind:

• Wahnwahrnehmungen, bizarrer Wahn


• Stimmenhören (dialogisch, kommentierend, imperativ; Gedankenlautwerden)
• Ich-Störungen (Gedankeneingebung, -entzug, -ausbreitung und Willensbeeinflussung) (Symptome 1. Ranges
nach K. Schneider)

Diese Schizophrenieform findet sich in bis zu 75 % der Fälle als initiale Form, sie beginnt jedoch i. d. R. später als andere: Bei > 80 % der Schizophrenien,
die sich nach dem 40. Lj. manifestieren (Spätschizophrenien), finden sich initial paranoid-halluzinatorische Bilder, ca. 50  % aller Schizophrenen haben
mindestens einmal in ihrem Leben eine paranoid-halluzinatorische Episode.
Die Prognose der paranoid-halluzinatorischen Formen ist als eher günstig anzusehen. Meist sprechen sie gut auf Antipsychotika an.

Kasuistik
Ein 25-jähriger Mann kommt in Begleitung seiner Mutter und eines Freundes zur stationären Aufnahme. Der Patient hatte nach erfolgreich bestandenem
Abitur eine Lehre zum Bankkaufmann begonnen, diese dann abgebrochen, anschließend ein Sozialpädagogikstudium angefangen, wobei er bisher keine
ausreichenden Studienleistungen erbringen konnte. Etwa 8 Wochen vor der Klinikvorstellung habe er erstmals das Gefühl gehabt, dass die Mitstudenten
sich über ihn lustig machten. Jedes Mal, wenn er zu einer Gruppe von Kommilitonen dazugekommen sei, hätten sie aufgelacht oder schnell das Thema
gewechselt. Auch habe er bemerkt, dass sie über ihn gesprochen und ihn mit verstärkter Aufmerksamkeit betrachtet hätten. Einige Wochen später habe er
erstmals geheime Botschaften von Mitstudenten erhalten, die ihm zeigten, dass er in Gefahr sei, dass eine Verschwörung gegen ihn im Gange sei, dass man
ihm nach dem Leben trachte. Er habe sich daraufhin immer mehr in sein Zimmer zurückgezogen und sich aus Angst kaum noch auf die Straße getraut.
Damals habe er auch erstmals Stimmen gehört, die ihn beschimpft und jede seiner Handlungen mit Kommentaren begleitet hätten. Er habe geglaubt, in
seinem Zimmer seien Wanzen und Kameras versteckt, durch die er kontrolliert und sein Handeln gesteuert werde. Wenn er ferngesehen habe, seien bald
viele seiner Tätigkeiten vom Ansager kommentiert worden. Dies habe sich so gesteigert, dass er sein Zimmer nicht mehr habe verlassen können und
schließlich daran gedacht habe, sich lieber umzubringen, als diesen Zustand weiter aushalten zu müssen. Als er zu einem verabredeten Termin mit seinem
Freund nicht erschien, suchte dieser ihn auf und brachte ihn in die Klinik.
Die Behandlung erfolgte wegen Suizidalität und der schweren Realitätsstörung auf einer geschützten Station. Der Patient erhielt nach Ausschluss einer
körperlichen Ursache der Erkrankung ein Antipsychotikum zur Behandlung der psychotischen Symptomatik (akustische Halluzinationen, Wahn, Ich-
Störungen) und Benzodiazepine zur Behandlung von Angst und psychomotorischer Unruhe. Nach 5 Wochen war die Produktivsymptomatik remittiert, und
der Patient wurde zur weiteren Rehabilitation auf eine offene Station verlegt.
Diagnose: paranoide Schizophrenie (ICD-10 F20.0)

Hebephrene (desorganisierte) Schizophrenie


Bei der hebephrenen Form (von ῝Hβη, „Hebe“: Göttin der Jugend in der griechischen Mythologie) findet sich psychopathologisch die Trias von Affekt-, Denk-
und Antriebsstörungen in Verbindung mit einer heiter-läppischen Gestimmtheit. Diese äußert sich in einer Enthemmung mit albernem und ungeniert-
distanzlosem Benehmen, in Überschwang sowie Erregungs- und Unruhezuständen, in pathetischem Ausdruck, Geziertheit und Altklugheit. Schizophrene Erst-
und Zweitrangsymptome sowie katatone Störungen fehlen weitgehend.
Diese Form beginnt meist in oder nach der Pubertät und hat besonders bei Frauen eine eher ungünstige Prognose. Wenn der hebephrenen Symptomatik im
weiteren Verlauf andere Schizophreniesymptome folgen, bessert sich die Prognose.

Katatone Schizophrenie
Hier stehen katatone Symptome wie z. B. Erregungszustände, Stupor oder Mutismus im Vordergrund der Symptomatik. Die katatone Form beginnt oft akut,
wird seltener bei Spätschizophrenien beobachtet und zeigt sich selten während der ersten psychotischen Manifestation.
Die Prognose ist außer bei Patienten im jugendlichen Alter als relativ günstig zu bezeichnen.
Eine maximale Steigerung der Katatonie ist die heute fast verschwundene akute perniziöse oder febrile Katatonie . Sie ist gekennzeichnet durch einen
Wechsel von schwer ausgeprägten hypo- und hyperkinetischen katatonen Symptomen (Stupor und Bewegungssturm) sowie hohes Fieber und lang andauernde
Tachykardien. Im Blut ist als Folge einer Muskelschädigung die Kreatinkinase erhöht, durch eine Myoglobinurie kann es zu einem akuten Nierenversagen
kommen. Therapie der Wahl ist die Elektrokonvulsionstherapie (EKT) und die hoch dosierte Therapie mit Lorazepam und Antipsychotika bei gleichzeitiger
intensivmedizinischer Überwachung, Flüssigkeitssubstitution und physikalischer Kühlung.

Praxistipp
Die klinische Unterscheidung einer perniziösen Katatonie von einem antipsychotikainduzierten malignen neuroleptischen Syndrom (MNS) kann sehr
schwierig sein und zu einem therapeutischen Dilemma führen, da bei der perniziösen Katatonie die Medikation fortgesetzt bzw. erhöht, beim MNS (➤ )
jedoch abgesetzt werden muss. Als Richtschnur für die Unterscheidung kann gelten, dass sich die perniziöse Katatonie eher schnell bei fehlender
Besserung des klinischen Zustandsbildes einstellt, während ein MNS eher nach Eintritt einer bereits erfolgten Besserung und unter hohen
Antipsychotikadosen auftritt. Im Zweifelsfall kann eine EKT durchgeführt werden, die bei beiden Syndromen einsetzbar ist.

Undifferenzierte Schizophrenie
Nach ICD-10 ist die Diagnose einer undifferenzierten Schizophrenie zu stellen, wenn die allgemeinen diagnostischen Kriterien der Schizophrenie erfüllt sind,
ohne dass jedoch das klinische Bild einer paranoiden, hebephrenen oder katatonen Schizophrenie entspricht. Die Diagnose kann auch gestellt werden, wenn die
Erkrankung Merkmale von mehr als einer Unterform aufweist, ohne dass bestimmte diagnostische Charakteristika überwiegen.

Postschizophrene Depression
Die Diagnose einer postschizophrenen Depression kann nach ICD-10 gestellt werden, wenn

• innerhalb der letzten 12 Monate die Diagnosekriterien einer Schizophrenie erfüllt waren und
• ein oder einige schizophrene Symptome noch vorhanden sind und
• die depressive Symptomatik die Kriterien einer depressiven Episode mit mindestens 2-wöchiger Dauer erfüllt und
• die depressive Symptomatik das klinische Bild dominiert.

Schizophrenes Residuum
Die Diagnose eines schizophrenen Residuums kann nach ICD-10 gestellt werden, wenn folgende Kriterien vorliegen:

• In der Vorgeschichte trat mindestens ein psychotisches Zustandsbild auf, das die Kriterien einer Schizophrenie erfüllte.
• In den letzten 12 Monaten waren ausgeprägte Negativsymptome vorhanden, während floride Symptome wie z. B. Wahn und Halluzinationen mit
geringer oder wesentlich verminderter Intensität vorlagen.

Merke
Die Diagnose eines schizophrenen Residuums kann gestellt werden, wenn in der Vorgeschichte mindestens eine
schizophrene Episode vorlag und über mindestens 12 Monate Negativsymptome das klinische Bild beherrschen.

Das schizophrene Residuum kann zeitlich begrenzt, z. B. im Übergang von der akuten Krankheitsphase zur vollständigen Remission, oder aber kontinuierlich
über viele Jahre mit und ohne akute Exazerbation auftreten. Auch wenn der Begriff Residualzustand es suggeriert, ist ein Residualzustand nicht zwangsläufig
irreversibel!

Kasuistik
Ein 28-jähriger arbeitsloser Mann stellt sich zur stationären medikamentösen Neueinstellung vor. In der Vorgeschichte hatte der Patient drei Phasen einer
paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie erlitten. Der ersten Episode war eine Phase von ca. 1  Jahr vorausgegangen, während der damals noch zur
Schule gehende Patient in seinen schulischen Leistungen deutlich nachgelassen, sich zurückgezogen, Körperhygiene und Kleidung vernachlässigt und sich
ausschließlich mit esoterischen Schriften befasst hatte. Die ersten beiden Krankheitsphasen waren unter antipsychotischer Medikation vollständig
remittiert, sodass der Patient vor und nach der zweiten Krankheitsepisode eine Ausbildung zum Automechaniker abschließen konnte. Auch die dritte
Episode war weitgehend remittiert. Es bestanden jedoch weiterhin Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen sowie Schwierigkeiten mit sozialen
Kontakten, Anhedonie und Antriebslosigkeit, sodass der Patient beruflich keinen Anschluss mehr fand, seit 9  Monaten arbeitslos ist und sehr
zurückgezogen lebt. Seit der letzten Krankheitsphase war der Patient mit einem Antipsychotikum der 1. Generation (Fluanxol® Depot) behandelt worden.
Bei stationärer Aufnahme wurde die Diagnose eines schizophrenen Residuums mit Negativsymptomatik (ICD-10 F20.5) gestellt und die Umstellung auf
ein Antipsychotikum der 2. Generation (Amisulprid) eingeleitet. Durch die Medikation kam es im Laufe von mehreren Wochen zu einer Besserung der
Negativsymptomatik, sodass der Patient in beschränktem Umfang seine Arbeitstätigkeit wieder aufnehmen und in einer betreuten Wohngruppe sozial
rehabilitiert werden konnte.

Schizophrenia simplex
Als Schizophrenia simplex bezeichnet man einen symptomarmen Verlauf mit langsam progredientem blandem Wesenswandel („blande“ Psychose). Die
Diagnose einfache Schizophrenie ist nach der ICD-10 dann zu stellen, wenn ausgeprägte Negativsymptome bestehen, ohne dass jemals zuvor eine
nennenswerte floride psychotische Symptomatik bestand. Die Differenzialdiagnose gegen Persönlichkeitsstörungen, organische Psychosen oder Folgen von
Drogenkonsum kann oft schwierig sein.
Insgesamt ist die Prognose schlecht, da sie zwar anfangs leicht, jedoch chronisch progredient verläuft. Häufig kommt es zur Ausbildung ausgeprägter
schizophrener Residualzustände.

Sonstige Schizophrenien
Eine klinisch beschriebene Sonderform stellt die zönästhetische Schizophrenie dar, die sich als Diagnose allerdings in den Klassifikationssystemen nicht
wiederfindet. Ganz im Vordergrund der Symptomatik stehen hier zönästhetische Körpermissempfindungen und Leibhalluzinationen. Sie sind mit vegetativen,
motorischen und sensorischen Symptomen verknüpft. Produktiv-psychotische Symptome wie Wahn, Halluzinationen oder Ich-Störungen treten nur passager
auf, sodass die Diagnose häufig nicht oder nur während dieser Phasen gestellt wird.
Diese Form beginnt meist mit langen uncharakteristischen Prodromen und verläuft i. Allg. chronisch progredient zu Residualzuständen. Eine therapeutische
Beeinflussung gestaltet sich oft schwierig.

Psychiatrische Differenzialdiagnosen
Eine Abgrenzung der Schizophrenien muss v. a. gegenüber folgenden psychiatrischen Erkrankungen erfolgen:

• Psychotische Störungen, die im Zusammenhang mit dem Konsum psychotroper Substanzen auftreten („Drogenpsychosen“) und die in der ICD-10
unter F1X.5 codiert werden
• Schizoaffektive Störungen (ICD-10 F25, ➤ )
• Bipolare affektive Störungen, v. a. Manie mit psychotischen Symptomen (➤ )
• Akute vorübergehende psychotische Störungen (ICD-10 F23, ➤ )
• Anhaltende wahnhafte Störung (ICD-10 F22, ➤ )
• Psychotische „wahnhafte“ Depression (➤ )
• Zwangsstörung (➤ )
• Autismus (➤ )
• Schizotype Störung (ICD-10 F21, ➤ )
• Paranoide Persönlichkeitsstörung (➤ ).

Organische Differenzialdiagnosen
Psychotische Zustandsbilder, die substanz- oder medikamenteninduziert sind oder die im Rahmen einer organischen Erkrankung auftreten, bezeichnet man als
sekundäre psychotische Störungen. Die organisch bedingten psychotischen Störungen werden in der ICD-10 als organische Halluzinose (ICD-10 F06.0),
organische katatone Störung (ICD-10 F06.1) oder organische wahnhafte (schizophreniforme) Störungen (ICD-10 F 06.2) codiert (➤ ).
➤ gibt einen Überblick über mögliche organische Ursachen einer psychotischen Symptomatik.

Praxistipp
Häufiges ist häufig und Seltenes ist selten! Häufige Ursachen für psychotische Zustandsbilder sind Drogenintoxikationen und Medikamentengabe / -entzug.
Eine Herpes-Enzephalitis und eine Autoimmunenzephalitis dürfen nicht übersehen werden!
Tab. 5.8 Beispiele für organische Ursachen psychotischer Syndrome
Zerebrale Erkrankungen Immunologische / entzündliche Erkrankungen
Tumoren v. a. des Frontal- und Temporallappens, Epilepsien (v. a. Systemischer Lupus erythematodes, immunvermittelte Enzephalitiden / 
Temporallappenepilepsie), zerebrovaskuläre Erkrankungen, alkoholtoxische Autoimmunenzephalitiden (z. B. NMDA-Rezeptor-Enzephalitis),
Enzephalopathien, Schädel-Hirn-Trauma, Morbus Parkinson, Demenzen, Chorea multiple Sklerose (MS)
Huntington
Zerebrale Infektionskrankheiten Speichererkrankungen / angeborene Stoffwechselerkrankungen
Neurosyphilis, AIDS, Herpes-Enzephalitis und Infektion mit anderen neurotropen Morbus Niemann-Pick Typ C (Spätmanifestation), Morbus Gaucher,
Viren, Toxoplasmose, Neuroborreliose, Morbus Whipple Morbus Tay-Sachs, Morbus Wilson, Homocysteinämie,
Harnstoffzykluserkrankung, zerebrale Xanthomatose, Porphyrie
Endokrine Erkrankungen Medikamente
z. B. Hypothyreose, Hyperthyreose, Morbus Cushing, Morbus Addison, Steroide, L-Dopa, Anticholinergika, Entzugssyndrome bei Alkohol,
adrenogenitales Syndrom Benzodiazepinen, Barbituraten
Metabolische Störungen Drogen
Hypo- und Hypernatriämie, Hypo- und Hyperkaliämie, Hypo- und Cannabis, Psychostimulanzien (v. a. Kokain und Amphetamine),
Hyperglykämie, Vitamin-B 12 - oder Folsäuremangel Halluzinogene (v. a. LSD und PCP), Alkohol (z. B.
Alkoholhalluzinose), neue psychoaktive Stoffe (NPS), Opioide,
organische Lösungsmittel

Organische Ausschlussdiagnostik
Folgende Untersuchungen sind obligat:

• Komplette körperliche Untersuchung (inkl. Größe und Gewicht, Temperatur, Blutdruck und Puls)
• (Fremd-)Anamnese zu körperlichen Vorerkrankungen oder Beschwerden: Darauf und auf den Vorbefunden basierend, erfolgt ggf. eine
erweiterte Diagnostik.
• Labordiagnostik: Differenzialblutbild, Nieren- und Leberwerte, Elektrolyte, CK, Nüchternblutzucker, Schilddrüsenhormonwerte (TSH) und
Entzündungsparameter (BSG / CRP); Glukose im Urin
• Drogenscreening in Urin oder Blut: z. A. einer Substanzeinnahme als Ursache der psychotischen Symptomatik
• Eine zerebrale Bildgebung (MRT, falls nicht verfügbar cCT) wird sofort durchgeführt, wenn neurologische Symptome vorliegen; bei unauffälligem
Körperstatus in den darauf folgenden Tagen. Sollte für eine spezielle Fragestellung (z. B. entzündliches Geschehen) eine bessere Auflösung
erforderlich sein, ist immer ein MRT vorzuziehen.

Folgende Untersuchungen werden fakultativ durchgeführt:

• Liquorpunktion: Liegen aus klinischer, operativer oder laborchemischer Sicht Hinweise für eine organische Ursache vor, ist eine Liquorpunktion
durchzuführen. Zunächst werden die Basisparameter wie Eiweiß und Zellzahl bestimmt, dann bei Auffälligkeiten weitere Parameter wie z. B.
antineuronale Autoantikörper, Virustiter oder oligoklonale Banden.
• Testpsychologische Untersuchung: in den Bereichen Aufmerksamkeit, Lernen und Gedächtnis, Exekutivfunktionen und soziale Kognition.
• EEG: bei Hinweisen auf ein epileptisches Geschehen.

Merke
Eine psychotische Symptomatik mit Wahn, Ich-Störungen und Halluzinationen kann durch zahlreiche organische
Erkrankungen verursacht sein. Daher müssen eine gründliche körperliche Untersuchung und eine organische
Zusatzdiagnostik erfolgen, bevor die Diagnose einer Schizophrenie gestellt werden kann.

Da die notwendige Diagnostik nicht immer durchgeführt wird, muss bei jedem Rezidiv nachgefragt werden, ob diese bereits erfolgt ist, und ggf. ergänzende
Untersuchungen durchgeführt werden.

Autoimmunenzephalitiden
Seit der Erstbeschreibung der NMDA-Rezeptor-Enzephalitis im Jahr 2007 hat die Bedeutung von Autoimmunenzephalitiden als Differenzialdiagnose
psychotischer Zustandsbilder zugenommen. Inzwischen sind eine Vielzahl von Autoantikörpern als Ursache für Autoimmunenzephalitiden beschrieben, wobei
für die Psychiatrie folgende Autoantikörper besonders relevant sind: NMDA-Rezeptor-, CASPR2-, LGI1-, AMPA-Rezeptor- und DPPX-Antikörper. Da
Autoantikörper im Serum und Liquor auch bei gesunden Menschen sowie Patienten mit anderen psychischen und neurologischen Störungen auftreten, wird
kein allgemeines Screening nach Autoantikörpern empfohlen, sondern ein nach klinischen Symptomen orientiertes risikostratifiziertes Vorgehen. Demzufolge
sollte bei folgenden Konstellationen an eine Autoimmunenzephalitis gedacht werden:

1. Schnelle Progression (< 3 Monate) von Merkfähigkeitsstörungen, qualitativen oder quantitativen Bewusstseinsstörungen, Lethargie,
Wesensänderungen oder anderen psychischen / psychotischen Symptomen
2. Mindestens eines der folgenden Symptome:
– Neu aufgetretene fokale neurologische Defizite
– Neu aufgetretene epileptische Anfälle
– Lymphozytäre Pleozytose im Liquor (> 5 Zellen / μl)
– MRT-Zeichen, die auf eine Enzephalitis hinweisen
3. Ausschluss anderer organischer Ursachen (➤ )

Da diese Erkrankungen immunmodulatorisch (z.  B. Kortikosteroide, i.  v. Immunglobuline, Plasmapherese) behandelt werden müssen, ist eine schnelle
Diagnosestellung wichtig.

5.2.5. Ätiologie
Die Ätiologie der Schizophrenien ist bis heute weitgehend ungeklärt. Man geht davon aus, dass den Schizophrenien eine multifaktorielle Genese zugrunde
liegt, wobei wahrscheinlich zu ca. 60–80  % genetische und zu ca. 20–40  % nichtgenetische Faktoren zur Krankheitsentstehung beitragen. Auch muss man
annehmen, dass Subtypen der Schizophrenien durch unterschiedliche pathogenetische Faktoren bedingt sind. Die Neurobiologie der Schizophrenie gibt es also
sicherlich nicht.
Ein integratives Modell zur Konzeptionalisierung der Ätiologie der Schizophrenien stellt das Vulnerabilitäts-Stress-Modell dar, das ursprünglich von
Zubin und Spring entwickelt wurde und Folgendes postuliert: Durch verschiedene genetische  /  entwicklungsbiologische Faktoren kommt es zu
neuropathologischen und / oder biochemischen Veränderungen im Gehirn, die schon lange vor Ausbruch der Erkrankung bestehen. Diese stellen eine „erhöhte
Anfälligkeit“ (Vulnerabilität) für die Entstehung einer Schizophrenie dar, reichen für die Auslösung der manifesten Erkrankung aber nicht aus. Zusätzlich
müssen noch Umweltfaktoren (Stress) wirksam werden, die zum Ausbruch der Erkrankung führen, wenn die Kompensationsmechanismen des schon
vorgeschädigten Gehirns nicht mehr ausreichen, um die Erkrankung zu verhindern.
Im Folgenden werden neurobiologische (genetische, biochemische und neuropathologische) Befunde und psychosoziale Faktoren vorgestellt, die mit der
Ätiologie der Schizophrenien in Verbindung gebracht werden.

Neurobiologische Befunde

Genetische Faktoren
Als wichtigster Beleg für die Bedeutung genetischer Faktoren wird die offensichtliche familiäre Häufung der Schizophrenien angesehen. Man geht davon aus,
dass genetische Faktoren bis zu 80 % des Krankheitsverlaufs bestimmen (➤ ).
Viele Studien bestätigen, dass das Erkrankungsrisiko mit der Zahl an Genen zunimmt, die man mit einer Person teilt, bei der die Erkrankung ausgebrochen
ist. Im Gegensatz zu einem Lebenszeiterkrankungsrisiko in der Normalbevölkerung von ca. 1  % beträgt das Risiko, ebenfalls an einer Schizophrenie zu
erkranken, bei Tanten, Onkeln und Vettern von Patienten mit Schizophrenie ca. 2  %, bei Geschwistern ca. 10  %, bei Kindern mit zwei an Schizophrenie
erkrankten Elternteilen ca. 40 %, bei zweieiigen Zwillingen ca. 18 % und bei eineiigen ca. 46 % (➤ ). Dass nicht alle eineiigen Zwillinge gleichzeitig an einer
Schizophrenie erkranken, weist aber auch darauf hin, dass in der Krankheitsgenese noch andere als genetische Faktoren eine wichtige Rolle spielen.

Abb. 5.5 Erkrankungsrisiko für Schizophrenie nach verschiedenen europäischen Familien- und Zwillingsstudien (nach Gottesmann 1993)
[L141]

In Adoptionsstudien konnte die These widerlegt werden, dass Familienmitglieder mit zunehmender Blutsverwandtschaft nur deshalb häufiger erkranken,
weil das Umfeld zunehmend ähnlicher wird. So wurde gezeigt, dass unmittelbar nach der Geburt in fremde Familien adoptierte Kinder aus Familien mit einem
schizophrenen Elternteil genauso häufig an einer Schizophrenie erkrankten wie Kinder Schizophrener, die in ihren biologischen Familien blieben. Umgekehrt
erkrankten Kinder nichtschizophrener Eltern, die von Schizophrenen adoptiert wurden, nicht häufiger an einer Schizophrenie.
Inzwischen konnten mehr als 100  Risikogene identifiziert werden. Der Beitrag der einzelnen Gene ist aber sehr gering. Vielmehr tragen diese in
interindividuell unterschiedlicher Kombination zu einem erhöhten Risiko, an einer Schizophrenie zu erkranken, bei. Daher gehören Gentests bisher nicht zur
Routinediagnostik. Wichtige Kandidatengene sind Gene, die in Neurotransmittersystemen bzw. in der Hirnentwicklung und synaptischen Neuroplastizität
sowie bei immunologischen Prozessen eine Rolle spielen. Dazu gehören z. B. das für die neuronale Signaltransduktion relevante Gen Dysbindin, das in der
Hirnentwicklung bzw. neuronalen Migration und bei der Myelinisierung wichtige Gen Neuregulin-1, das Gen für ein wichtiges Enzym des Dopamin- und
Noradrenalin-Metabolismus Catechol- ortho -methyltransferase (COMT) und das Gen DISC1  / 2 (Disrupted-in-Schizophrenia-Gen), das in der Reifung von
Neuronen und in der Anlage dendritischer Verschaltungen eine Rolle spielt. Darüber hinaus wurde ein Zusammenhang mit Komplement C4A aufgezeigt, der
erklären könnte, weshalb es im Laufe der Erkrankung zum Verlust an grauer Hirnsubstanz kommt.

Veränderungen von Neurotransmittersystemen


Pathogenetisch werden mit der Schizophrenie Veränderungen v. a. in drei Neurotransmittersystemen in Verbindung gebracht:
• im dopaminergen System,
• im glutamatergen System und
• im serotonergen System.

Dopamin-Hypothese der Schizophrenie


Die Dopamin-Hypothese der Schizophrenie wurde von Snyder bzw. Carlsson Anfang der 1970er-Jahre formuliert. Sie postuliert prä- oder postsynaptische
Regulationsstörungen des Dopaminstoffwechsels, die in einer dopaminergen Überaktivität in limbischen Hirnregionen einschließlich dem Striatum
(Verursachung produktiv-psychotischer Symptome) und in einer dopaminergen Unteraktivität im Frontalhirn (Verursachung negativer Symptome) resultiert.
Die Dopamin-Hypothese beruht im Wesentlichen auf folgenden Beobachtungen:

• Wirksame Antipsychotika führen zu einer Blockade von Dopamin-Rezeptoren, v. a. vom D 2 -Typ. Dabei korreliert die durchschnittliche klinisch
antipsychotische Dosis der verschiedenen Substanzen invers mit ihrer Affinität zum Dopamin-Rezeptor.
• Die chronische und hoch dosierte Einnahme von Amphetamin kann Psychosen induzieren, die sich nur schwer von Schizophrenien unterscheiden
lassen. Amphetamin fördert die synaptische Freisetzung von Dopamin und hemmt dessen Inaktivierung durch präsynaptische
Wiederaufnahmehemmung.

Folgende Befunde sind weniger gut mit der Dopamin-Hypothese vereinbar, sodass deren Alleingültigkeit zu Recht infrage gestellt wurde:

• Die Dopamin-D 2 -Rezeptorblockade setzt innerhalb von Minuten bis Stunden ein, während sich die antipsychotische Wirkung der Antipsychotika
erst über Tage bis Wochen einstellt.
• Schizophrene Negativsymptome sprechen weniger gut auf D 2 -Antagonisten an.

Die glutamaterge Hypothese der Schizophrenie


In Ergänzung zur Dopamin-Hypothese der Schizophrenie wird seit Anfang der 1980er-Jahre auch die Glutamat-Hypothese der Schizophrenie diskutiert, die
eine glutamaterge Unteraktivität annimmt. Der beste Hinweis dafür ist, dass das als nonkompetitiver Glutamat-Rezeptor-Antagonist wirkende Phencyclidin
(PCP, ➤ ) psychotrope Effekte hat, die einer schizophrenen Symptomatik sehr ähneln. Interessanterweise löst PCP nicht nur Positiv-, sondern auch
Negativsymptome aus, sodass die PCP-Psychose derzeit als bestes Modell für schizophrene Erkrankungen gilt. 2007 wurde erstmals in einer Studie gezeigt,
dass ein Glutamat-Agonist vergleichbare antipsychotische Effekte hat wie ein antidopaminerges Antipsychotikum. Andere, ebenfalls das glutamaterge System
modulierende Substanzen sind derzeit in der klinischen Prüfung.

Das serotonerge System bei der Schizophrenie


Folgende Beobachtungen sprechen dafür, dass auch Serotonin eine wichtige Rolle bei der Pathogenese der Schizophrenien spielt:

• „Atypische“ Antipsychotika wie Clozapin und Risperidon blockieren auch serotonerge (5-HT 2 -)Rezeptoren.
• Postmortal wurden Veränderungen von 5-HT 2 -Rezeptoren bei schizophrenen Patienten gefunden.

Neuropathologische Befunde
Die morphologische und neuropathologische Erforschung der Schizophrenie hat in den drei letzten Jahrzehnten durch die verbesserten neuroradiologischen
Methoden wie CT, MRT, PET und fMRT eine Renaissance erlebt. Mithilfe bildgebender Verfahren konnte z.  B. belegt werden, dass die Gruppe der
schizophren Erkrankten gegenüber Gesunden erweiterte Seitenventrikel mit Linksbetonung sowie erweiterte III. Ventrikel und Hirnfurchen aufweist.
Neuropathologische Untersuchungen haben Volumenminderungen der grauen Substanz um ca. 5–10 % im Hippokampus, Thalamus und in den Arealen
des frontalen und temporalen Assoziationskortex gefunden, die funktionell besonders eng mit dem limbischen System gekoppelt sind. Im Gegensatz zu
neurodegenerativen Erkrankungen sind diese Volumenminderungen allerdings nicht auf einen Nervenzelluntergang oder eine reaktive Gliose zurückzuführen,
sondern beruhen auf einer Schrumpfung des Neuropils, das aus dem neuronalen Verschaltungsapparat (Synapsen, Axone, Dendriten) sowie aus Gliazellen
besteht. Auf mikrostruktureller Ebene besteht die Neuropathologie damit in einer „Synaptopathie“ mit Veränderungen synaptischer Proteine, dendritischer
Spines und der Dendritenkonfiguration, für die in Form einer Aktivierung des Komplementsystems (v.  a. C4) erstmals ein plausibler, integrativer
Erklärungsansatz gefunden wurde (vgl. genetische Faktoren).
Mittels funktioneller bildgebender Verfahren konnte insbesondere eine Hypofrontalität nachgewiesen werden, die unter neuropsychologischen
Testaufgaben (z. B. beim Wisconsin Card Sorting Test, WCST), welche mit einer Aktivierung des dorsolateralen Frontalkortex verbundene planende Strategien
verlangen, besonders deutlich wird. Mittels magnetresonanzspektroskopischer Untersuchungen wurde eine Minderung von N-Acetylaspartat, einem
neurochemischen Marker neuronaler Integrität, im Temporal- und Frontalkortex nachgewiesen.

Schizophrenie als Netzwerkstörung


Die Untersuchungen mittels bildgebender Verfahren sowie die neuropathologischen Untersuchungen weisen darauf hin, dass eine Dysfunktion des limbischen
Systems (Hippokampus, Regio entorhinalis, Gyrus temporalis superior, Amygdala) als zentrales morphologisches Korrelat der Schizophrenien angesehen
werden kann. Damit in Verbindung stehen Veränderungen im Bereich des Frontallappens (dorsolateraler präfrontaler Kortex) sowie des Thalamus, der
Basalganglien und des Kleinhirns. Man nimmt heute an, dass die Schizophrenie als neuronale Netzwerkstörung angesehen werden kann, bei der eine
Funktionsstörung im koordinierten Zusammenwirken dieser Gehirnstrukturen zur Manifestation sowohl kognitiver Störungen als auch der produktiv-
psychotischen Symptomatik führt. Störungen der myelinisierten axonalen Verbindungen zwischen Hirnregionen lassen sich mittels moderner
Bildgebungsverfahren (Diffusion Tensor Imaging, DTI) nachweisen.

Schizophrenie als Hirnentwicklungsstörung


Neuere Hypothesen sehen die Ursache der Schizophrenie in einer gestörten Hirnentwicklung, die genetisch oder durch Umweltfaktoren (z.  B. pränatale
Virusinfekte) verursacht sein kann und zu den o. g. Netzwerkstörungen führt. Entgegen früheren Annahmen kommt es aber auch nach Erstmanifestation der
Erkrankung zumindest in den ersten Jahren zu einer Progression der neuropathologischen Veränderungen. Daher nimmt man eine Kombination aus
Hirnentwicklungsstörung und mit dem Krankheitsausbruch fortschreitenden Prozessen an.
Für die Hypothese einer frühen Hirnentwicklungsstörung sprechen folgende Befunde:

• Typische neurodegenerative Zeichen wie z. B. eine Zunahme von Gliazellen (= Gliose) fehlen bei der Schizophrenie, was gegen eine
Neurodegeneration und für eine Hirnentwicklungsstörung als Ursache der neuropathologischen Auffälligkeiten spricht.
• Aufgehobene Strukturasymmetrie und eine abnorme Konfiguration zerebraler Gyri und Sulci.
• Kinder, die später an einer Schizophrenie erkranken, zeigen verzögerte Entwicklungsmeilensteine wie einen späteren Spracherwerb, verzögertes
Erlernen des Laufens usw.

Weitere Befunde
Zu den weiteren bei Schizophrenien gefundenen neurobiologischen Auffälligkeiten gehören:

• Immunologische und inflammatorische Auffälligkeiten, z. B. die Expression spezifischer HLA-Haplotypen (ähnlich wie bei
Autoimmunerkrankungen), die Aktivierung von Akute-Phase-Proteinen wie CRP, die Veränderung von Zytokinen (verminderte IL-2- und erhöhte
IL-6-Synthese), erhöhtes Psychoserisiko durch Infektionen während der Schwangerschaft.
• Störungen der Glukoseutilisation können je nach Krankheitsstadium zu einem Hypo- oder Hypermetabolismus in Hirnregionen führen, die für die
Pathogenese der Schizophrenien wichtig sind.

Psychosoziale und Umweltfaktoren


Psychosoziale Faktoren haben eine wichtige Bedeutung als Auslösefaktoren für die Erkrankung bzw. das Auftreten von Rezidiven.
Gut belegt ist der rückfallfördernde Effekt einer ungünstigen Familienatmosphäre mit High Expressed Emotions (HEE). Diese bestehen entweder in
häufigen kritischen Kommentaren und allgemeiner Feindseligkeit gegenüber dem Patienten oder in einer (entmündigenden) Überbehütung. Relativ typisch
sollen auch Double-Bind-Situationen sein. Darunter versteht man, dass verbal und nonverbal widersprüchliche Zeichen gegeben werden. So wird z.  B. ein
bestimmtes Vorgehen vorgeschlagen und gleichzeitig bei Ausführung nonverbal mitgeteilt, dass das Vorgehen nicht erwünscht ist oder Sanktionen darauf
folgen. Egal wie vorgegangen wird, kann sich der Patient also nur falsch verhalten.
Zu den Umweltfaktoren, die pathogenetisch mit den Schizophrenien in Verbindung gebracht werden, zählen Schwangerschafts- und
Geburtskomplikationen, Winter- und Frühjahrsgeburten, das Aufwachsen in einer städtischen Umgebung, ein Migrationshintergrund und eine verminderte
Stresstoleranz. Das Überwiegen von Winter- und Frühjahrsgeburten wird als Hinweis dafür angesehen, dass gehäuft Virusinfektionen in utero während des 2.
Trimenons stattfanden. Passend dazu konnte auch eine Häufung von Erkrankungen bei Geburten von Patienten während Influenzaepidemien beobachtet
werden. Möglicherweise können Virusinfekte während der Gehirnentwicklung spezifische neuropathologische Veränderungen induzieren, die eine
Vulnerabilität für eine Schizophrenie verursachen. Auch ist an eine Interaktion von Viruseffekten mit Geneffekten während der Entwicklung zu denken.
Wichtige Risikofaktoren für Schizophrenien sind auch ein Cannabis- und Amphetaminkonsum . Ein zentraler Faktor scheint hierbei das Alter bei
Erstkonsum zu sein: Je jünger der Konsument ist, desto vulnerabler ist das noch nicht ausgereifte Hirn für schädliche Einflüsse, sodass bereits ein einmaliger
Gebrauch psychoaktiver Substanzen das spätere Auftreten schizophrener Psychosen begünstigen kann.

5.2.6. Therapie
Sowohl in der Akutphase als auch in der Langzeittherapie der Schizophrenien hat die Therapie mit Antipsychotika einen hohen Stellenwert. Es gibt Hinweise
dafür, dass Patienten, deren Psychose über längere Zeit unbehandelt ist, schlechter auf eine Therapie ansprechen und einen schlechteren Langzeitverlauf
zeigen. Daher gilt grundsätzlich, dass bei gesicherter Diagnose eine spezifische Behandlung so früh wie möglich begonnen werden sollte.
Jede Psychopharmakotherapie muss jedoch in einen Gesamtbehandlungsplan eingebettet sein, in den neben dem Patienten die Angehörigen und andere
Vertrauenspersonen, die professionellen Behandlungsinstitutionen und auch das nichtprofessionelle Hilfe- und Selbsthilfesystem einbezogen werden müssen.
Neben Medikamenten spielen daher Psychotherapie und psychosoziale Therapien eine sehr große Rolle im Gesamtbehandlungsplan. In einzelnen Fällen
kann eine Elektrokonvulsionstherapie indiziert sein.
Wesentliche Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie und einen guten Langzeitverlauf ist die vertrauensvolle Zusammenarbeit aller beteiligten Akteure.
Diese kann durch eine trialogische Zusammenarbeit befördert werden, bei der Betroffene, Angehörige oder andere Vertrauenspersonen und die
professionellen Hilfesysteme interaktiv und auf Augenhöhe zusammenarbeiten. Werden die Patienten in alle Entscheidungen im Sinne einer partizipativen
Entscheidungsfindung aktiv einbezogen, lassen sich die Compliance-Raten langfristig deutlich steigern.
➤ gibt einen Überblick über Therapieverfahren zur Behandlung von Schizophrenien, die in den folgenden Kapiteln diskutiert werden.

Box 5.6
Therapieverfahren zur Behandlung von Schizophrenien

• Psychopharmakotherapie mit Antipsychotika:


– Akuttherapie
– Rezidivprophylaxe
• Psychosoziale Therapien und Psychotherapie:
– Psychoedukation
– Kognitive Verhaltenstherapie und andere Psychotherapien
– Familieninterventionen und Angehörigenarbeit
– Training sozialer Fertigkeiten
– Neuropsychologische Therapie und Training kognitiver Fähigkeiten
– Ergotherapie
– Physiotherapie
– Sporttherapie und Körpertherapie
– Künstlerische Therapien
• Elektrokonvulsionstherapie (EKT) und repetitive transkranielle Magnetstimulation (rTMS)
• Medizinische Versorgung: regelmäßige Gesundheitschecks, Motivation zu körperlicher Aktivität, gesunder Ernährung, Rauchstopp etc.

Folgende Differenzialindikationen der Therapieverfahren sind zu nennen:

• Therapie mit Antipsychotika: Einsatz in der Akuttherapie sowie zur Erhaltungstherapie und Rezidivprophylaxe
• Psychoedukation: So früh wie möglich müssen Patienten und ihre Angehörigen über Entstehung, Symptomatik, Therapie und Rückfallschutz
informiert und so weit wie möglich in die Therapieentscheidungen einbezogen werden.
• Psychosoziale Therapien: Da Schizophrenien häufig zu schweren Einschränkungen der sozialen und beruflichen Leistungsfähigkeit führen und viele
Patienten nicht ausreichend auf eine medikamentöse Therapie ansprechen, muss möglichst früh mit psychosozialen Therapien (➤ ) begonnen
werden.
• Psychotherapie: Einsatz v. a. in Fällen, deren Symptomatik nicht ausreichend auf Antipsychotika anspricht und zur Rezidivprophylaxe (z. B. KVT
bzw. metakognitives Training von chronischem Wahn und Halluzinationen oder Verhaltenstherapie bei Negativsymptomatik, Problemlösetraining
und soziales Kompetenztraining, Familientherapie).
• Elektrokonvulsionstherapie (EKT): Einsatz bei schweren therapieresistenten Verläufen, bei perniziöser Katatonie auch als Akuttherapie.

Akute Episoden von Schizophrenien müssen häufig stationär behandelt werden. Die wichtigsten Indikationen für eine stationäre Aufnahme sind:

• Durchführung der (erweiterten) Diagnostik


• Medikamentöse Ein- bzw. Neueinstellung
• Spezialisierte Behandlung bei therapieresistenten Verläufen
• Schutz des Patienten bzw. der Umwelt bei Eigen- oder Fremdgefährdung durch Suizidalität bzw. Fremdaggressivität. Auch durch eine ausgeprägte
Realitätsstörung und dadurch bedingtes desorganisiertes Verhalten kann eine Gefährdung bestehen. In solchen Fällen muss u. U. eine
Unterbringung auch gegen den Willen des Patienten erfolgen (➤ ).

Psychopharmakotherapie

Allgemeines
Seit der Entdeckung von Chlorpromazin (Markteinführung 1955) als erstem Antipsychotikum haben sich die Behandlungsmöglichkeiten für schizophrene
Patienten erheblich verbessert. So gingen seit der Einführung der Antipsychotika in den 1950er-Jahren (aber auch der deutlich verbesserten Möglichkeiten der
ambulanten psychosozialen Therapien) die Hospitalisierungsraten schizophrener Patienten merklich zurück. Die meisten schizophrenen Patienten müssen heute
nicht mehr dauerhaft in Einrichtungen leben.
Bei gesicherter Diagnose einer Schizophrenie ist der Einsatz eines Antipsychotikums indiziert. Heute steht eine Vielzahl von Antipsychotika der 1. und 2.
Generation zur Verfügung, deren Wirkmechanismen und Charakteristika in ➤ und ➤ ausführlich beschrieben sind.
Die mittlere Effektstärke einer Akutbehandlung mit Antipsychotika liegt bei 0,5, was einem mittleren und klinisch bedeutsamen Effekt entspricht (➤ ).
Durch die Antipsychotika kommt es insgesamt bei ca. 50 % der Patienten zu einer mindestens 20-prozentigen Besserung der Symptomatik (unter Placebo bei
30 %) und bei ca. 25 % der Patienten zu einer mindestens 50-prozentigen Besserung (unter Placebo bei ca. 15 %). Bei Ersterkrankten liegen die Ansprechraten
mit ca. 80 % bzw. 50 % höher als bei mehrfach Erkrankten.
Wie unten ausgeführt, zeigen die einzelnen Substanzen in placebokontrollierten randomisierten Studien nicht unwesentliche Effektstärkenunterschiede. Noch
größer sind allerdings die Unterschiede in den Nebenwirkungsprofilen.

Dosierung und therapeutischer Plasmakonzentrationsbereich


➤ gibt eine Übersicht über die wichtigsten Antipsychotika der 1. und 2. Generation sowie deren mittlere Tagesdosis und den therapeutischen
Plasmakonzentrationsbereich. Grundsätzlich empfiehlt es sich, Antipsychotika innerhalb des empfohlenen Dosierungsbereichs so niedrig wie möglich und so
hoch wie nötig (niedrigstmögliche Dosierung) anzubieten. Insbesondere bei Ersterkrankungen ist es sinnvoll, eine niedrige Dosierung zu wählen, da eine
besondere Empfindlichkeit gegenüber Nebenwirkungen besteht und für niedrige Dosen insgesamt ein besseres Ansprechen gezeigt wurde.

Klinik
Antipsychotika der 1. Generation wie z.  B. Haloperidol wurden früher in sehr hohen Dosen (bis 100  mg) gegeben, was zu schweren
extrapyramidalmotorischen Nebenwirkungen führte. Heute weiß man, dass mit 3–10  mg Haloperidol alle Dopamin-D 2 -Rezeptoren besetzt sind und
höhere Dosen keinen Vorteil bringen. In den niedrigen Dosen sind sie auch besser verträglich. In der Akuttherapie wird Haloperidol wegen seiner guten
Wirksamkeit und seines wahrscheinlich schnelleren Wirkungseintritts immer noch häufig eingesetzt.

Tab. 5.9 Klassen von Antipsychotika, deren wichtigste Vertreter, mittlere Tagesdosis und therapeutischer
Plasmakonzentrationsbereich. Letzterer bezieht sich, wenn nicht anders angegeben, auf Talspiegel (also i. d. R. am Morgen vor
der nächsten Einnahme). Mit Steady State ist der Zeitpunkt angegeben, nach der eine Konzentrationsbestimmung bei stabiler
Dosis frühestens Sinn macht (Hefner et al. 2018)
Substanz Startdosis / mittlere Dosis Empfohlene / zugelassene Therapeutischer Plasmakonzentrationsbereich Steady State [Tage]
[mg] Höchstdosis [mg] [ng / ml]

Antipsychotika der 1. Generation (Auswahl)

Haloperidol 3 / 2–10 10 / 20 1–10 4

Fluphenazin 3 / 5–15 20 / 40 1–10 4 (3 Wochen für


Depot)

Perphenazin 8 / 8–12 24 / 24 0,6–2,4 3 (30 für Depot)

Flupentixol 3 / 5–12 18 / 60 0,5–5 7 (4 Wochen für


Depot)

Benperidol 1–2 (1–6) 6 / 40 1–10 3

Antipsychotika der 2. Generation

Amisulprid 100 / 1.000 / 1.200 100–320 4


200–800

Aripiprazol 5–10 / 7,5–30 30 / 30 100–350 12

Cariprazin 1,5 / 1,5–6 6 / 6 10–20 10

Clozapin 12,5 / 150–500 800 / 900 350–600 3

Olanzapin 5 / 5–20 20 / 20 20–80 8

Quetiapin 100 / 150–750 750 / 750 100–500 3

Risperidon 2 / 2–6 8 / 16 20–60 (inkl. 9-OH-Risperidon) 5

Sertindol 4 / 12–20 20 / 24 50–100 14

Ziprasidon 40 / 120–160 160 / 160 50–200 2


Therapeutisches Drug-Monitoring sehr empfehlenswert (➤ )
Bei Einnahme der retardierten Form am Abend vor der Blutentnahme sind die Werte doppelt so hoch wie die Talspiegel vor abendlicher Einnahme.

Auswahlkriterien
Zwischen den einzelnen Substanzen gibt es in der Wirksamkeit und in der Verträglichkeit bzw. dem jeweiligen Nebenwirkungsprofil Unterschiede. So liegt die
Spannbreite der Effektstärken in der Kontrolle der psychotischen Positivsymptomatik bei den acht am häufigsten eingesetzten Antipsychotika zwischen 0,39
(Ziprasidon) und 0,88 (Clozapin). Clozapin ist wirksamer als alle anderen in ➤ genannten Antipsychotika, und Amisulprid, Olanzapin und Risperidon sind
wirksamer als die Substanzen Haloperidol, Quetiapin, Aripiprazol und Ziprasidon.
Tab. 5.10 Ranglisten zur Wirksamkeit und Verträglichkeit der wichtigsten Antipsychotika
Medikament Effektstärke Rang
Allgemeine Akzeptabilität EPMS Gewicht QT-Zeit-Verlängerung
Clozapin 0,88 3 1 7 ?

Amisulprid 0,66 1 5 4 7

Olanzapin 0,59 2 2 8 4

Risperidon 0,56 4 7 5 5

Haloperidol 0,45 8 8 1 2

Quetiapin 0,44 6 3 6 3

Aripiprazol 0,43 5 4 3 1

Ziprasidon 0,39 7 6 2 6
Maß aus allgemeiner Effektivität und Verträglichkeit
Rang 1 = geringste Rate an extrapyramidalmotorischen Nebenwirkungen (EPMS) bzw. geringste Gewichtszunahme und geringste QT-Zeit-Verlängerung

Auch bei den Nebenwirkungen gibt es deutliche Unterschiede: Olanzapin, Clozapin, Quetiapin und Risperidon führen zu deutlich mehr Gewichtszunahme
als die anderen in ➤ genannten Substanzen. Bei Haloperidol und Ziprasidon ist die Gewichtszunahme dagegen nicht höher als unter Placebo. Eine Sedierung
ist insbesondere bei Clozapin, Quetiapin und Olanzapin ausgeprägt. Bei der QT-Zeit-Verlängerung ist Aripiprazol besonders sicher, während bei allen anderen
in ➤ genannten Substanzen mit deutlicheren QT-Zeit-Verlängerungen zu rechnen ist. Bezüglich extrapyramidalmotorischer Nebenwirkungen sind insbesondere
Clozapin, Olanzapin, Quetiapin, Aripiprazol und Amisulprid günstig zu bewerten. Aktuelle Leitlinien empfehlen daher, die Auswahl eines Antipsychotikums
primär am Nebenwirkungsprofil auszurichten.
Die in ➤ gegebenen Informationen und Ranglisten bzgl. Wirksamkeit und Verträglichkeit können so bei der Therapieentscheidung für den individuellen
Patienten eine gute Entscheidungshilfe sein. Aufgrund der geringeren extrapyramidalmotorischen Nebenwirkungen haben sich die Antipsychotika der 2.
Generation inzwischen als Mittel der 1. Wahl durchgesetzt, auch wenn sie nicht selten zu dramatischen Gewichtszunahmen (v. a. bei Olanzapin, Clozapin und
Quetiapin) führen können.

Merke
In der Akuttherapie schizophrener Psychosen sind Amisulprid und Risperidon Mittel der 1. Wahl. Wegen
metabolischer Risiken (häufige Gewichtszunahme) sollte Olanzapin trotz guter Wirksamkeit und der meist
erwünschten Sedierung nicht Mittel der 1. Wahl sein. Antipsychotika sollten grundsätzlich immer so niedrig wie
möglich und so hoch wie nötig dosiert werden.

10–40  % der mit Clozapin und Olanzapin behandelten Patienten entwickeln eine relevante Gewichtszunahme von > 10  % ihres Ausgangsgewichts. Bei
Langzeitbehandlung haben mehr als 50 % der Patienten einen BMI > 30. Während sich nach 1 Jahr ein Plateau in der Gewichtsentwicklung einstellt, ist die
frühe Gewichtszunahme prädiktiv: Patienten, die unter Olanzapin in den ersten Wochen der Therapie deutlich Gewicht zunehmen, werden auch weiterhin
Gewicht zunehmen. Gewichtszunahmen von bis zu 30 kg sind keine Ausnahme!

Merke
Patienten, die unter einer stärkeren Gewichtszunahme (> 7  % ihres Ausgangsgewichts) leiden, sollen  –  sofern die
Medikation nicht umgestellt oder abgesetzt werden kann  –  psychotherapeutische und psychosoziale Interventionen
(Psychoedukation, Ernährungsberatung, Bewegungsprogramme) erhalten, um eine Gewichtsabnahme zu fördern. Falls
dies wirkungslos ist, kann ein Therapieversuch mit Metformin oder Topiramat (off-label) erfolgen.

Weitere pragmatische Kriterien für die Auswahl des geeigneten Antipsychotikums sind:

• Früheres Ansprechen auf ein Antipsychotikum: Hat ein Patient in einer früheren Episode gut auf eine Substanz angesprochen, sollte diese erneut
verabreicht werden, sofern nichts anderes dagegen spricht.
• Präferenz des Patienten für ein bestimmtes Medikament.
• Verfügbarkeit als parenterale Applikation: Parenteral einsetzbare Antipsychotika sind z. B. Benperidol und Haloperidol sowie Aripiprazol,
Olanzapin und Ziprasidon.
• Langfristig geplante Darreichungsform als orale oder Depotgabe: Zeichnet sich früh ab, dass das Medikament auch als Depot zur Langzeittherapie
gegeben werden soll (z. B. bei schlechter Compliance für eine orale Therapie), empfiehlt sich die Gabe eines Antipsychotikums, das auch als Depot
zur Verfügung steht (➤ und ➤ ).

Tab. 5.11 Depot- und Langzeit-Antipsychotika


Generikum Handelsname Applikationsintervall Dosierung [mg]
Zuclopenthixol-Decanoat Ciatyl-Z Depot® 2–4 Wochen i. m. 100–400

Flupentixol-Decanoat Fluanxol-Depot® 2–4 Wochen i. m. 10–60

Fluphenazin-Decanoat Lyogen-Depot® 2–4 Wochen i. m. 12,5–100

Haloperidol-Decanoat Haldol-Decanoat® 4 Wochen i. m. 50–300

Risperidon Risperdal® Consta® 2 Wochen i. m. 25–50

Olanzapinpamoat ZypAdhera® 2 Wochen i. m. 150–210300–405


4 Wochen i. m.

Paliperidonpalmitat Xeplion® 1 Monat i. m. 25–150

Paliperidonpalmitat Trevicta® 3 Monate i. m. 175–525

Aripiprazol Abilify Maintena® 1 Monat i. m. 300–400


Vor Beginn einer Therapie mit Antipsychotika sollte, wann immer möglich (oft in der Akutsituation allerdings nicht möglich), eine Labordiagnostik (➤ )
durchgeführt und ein EKG abgeleitet werden. Bei Frauen im gebärfähigen Alter sollte eine Schwangerschaft ausgeschlossen werden. Bei Kinderwunsch gelten
Haloperidol und Olanzapin als Präparate mit dem niedrigsten teratogenen Potenzial.

Noncompliance
Die Noncompliance-Raten nach 1 Monat Behandlung liegen bei Mehrfacherkrankten zwischen 50 und 70 %, wobei zwischen den Antipsychotika der 1. und
2. Generation keine klaren Unterschiede bestehen. Gründe für Noncompliance können außer unangenehmen Nebenwirkungen der Medikation fehlende
Krankheitseinsicht, Erinnerungen an die Erkrankung sowie das Vergessen der Medikation bei komplizierten Behandlungsschemata sein.
Bereits partielle Noncompliance führt zu einer erhöhten Rückfallrate und Suizidgefahr. Daher ist immer wichtig, die Patienten und möglichst auch deren
Angehörige stets in die Therapieplanung einzubeziehen und über Vorbehalte gegenüber der Medikation frühzeitig offen zu sprechen. Nicht alle Patienten
brauchen in der Langzeittherapie hohe Medikamentendosen. Viele Patienten können auch langfristig mit niedrigeren Dosen und entsprechend weniger
Nebenwirkungen gut stabilisiert werden.

Sequenzieller Einsatz von Antipsychotika


Es liegen keine zuverlässigen Daten vor, in welcher Reihenfolge Antipsychotika bei ungenügendem Ansprechen auf eine Initialtherapie eingesetzt werden
sollten oder wann ein Antipsychotikum der 1. Generation zum Einsatz kommen sollte. In der Akutphase mit ausgeprägter Positivsymptomatik empfiehlt sich
daher aus pragmatischen Gründen folgendes Vorgehen:

• Stufe 1: Behandlung bevorzugt mit einem Antipsychotikum der 2. Generation nach individueller Risiko-Nutzen-Abwägung in suffizienter
Dosierung (ggf. Plasmaspiegelkontrolle) für mindestens 2–4 Wochen.
• Stufe 2: bei ungenügendem Ansprechen und Ausschluss anderer Ursachen für ein Nichtansprechen Behandlungsversuch mit einem
Antipsychotikum der 2. Generation mit abweichendem Rezeptorbindungsprofil bzw. besserem Nebenwirkungsprofil (➤ ) für mindestens 2–4 
Wochen, ggf. auch mit einem klassischen Antipsychotikum. Hier liegen insbesondere für Haloperidol, Flupentixol, Fluphenazin und Perazin
Wirksamkeitsnachweise aus hochwertigen Studien vor.
• Stufe 3: Clozapin-Monotherapie und ggf. in Kombination mit anderen Antipsychotika (s. Vorgehen bei Therapieresistenz).

Grundsätzlich empfiehlt es sich, die Antipsychotikatherapie als Monotherapie durchzuführen. Eine Kombination aus zwei Antipsychotika sollte erst dann
zum Einsatz kommen, wenn eine Monotherapie mit drei verschiedenen Antipsychotika inkl. Clozapin nicht zur erwünschten Wirkung geführt hat. Hier ist
besonders auf Nebenwirkungen und Interaktionen zu achten. Bei weiterer Wirkungslosigkeit sollte die Kombinationstherapie aufgrund der besseren
Verträglichkeit wieder auf eine Monotherapie umgestellt werden.
Eine relativ häufig praktizierte Kombinationstherapie eines Antipsychotikums mit Stimmungsstabilisierern wie Valproinsäure, Lamotrigin oder Topiramat
zeigt keine eindeutige Überlegenheit gegenüber einer Monotherapie mit einem Antipsychotikum, weshalb diese Kombination auf Ausnahmen beschränkt
bleiben sollte.

Pharmakotherapie bei besonderen Situationen und Symptomkonstellationen

Vorgehen bei akut erregten psychotischen Patienten


Akut angespannte psychotische Patienten werden  –  insbesondere bei akuter Eigen- oder Fremdgefährdung  –  meist mit einer Kombination aus einem
Antipsychotikum (v. a. Haloperidol, Risperidon, Olanzapin) und einem Benzodiazepin (z. B. Lorazepam) behandelt (➤ ). Ziel der Kombinationsbehandlung ist
ein schneller Effekt auf die psychotische Symptomatik bzw. Erregung.
Die Therapie sollte, wenn immer möglich, oral erfolgen. Ist eine parenterale Applikation notwendig, haben Haloperidol und Diazepam den Vorteil, dass sie
i. m. appliziert werden können und dadurch ein schnelles Anfluten der Medikamente erreichbar ist. Haloperidol ist allerdings neuerdings als Injektionslösung
nur noch bei psychomotorischer Erregung (auch im Rahmen einer Psychose) zulässig, aber nicht mehr zur Behandlung der schizophrenen Primärsymptomatik.
Die i.  v. Gabe von Haloperidol ist wegen aufgetretener schwerer kardialer Nebenwirkungen nur noch unter EKG-Monitoring erlaubt. Daher setzen einige
Kliniken stattdessen Benperidol i. m. oder i. v. ein, was aber wegen der extrem starken neuroleptischen Potenz kritisch zu sehen ist. In jedem Fall sind hohe
Dosen von Haloperidol und Benperidol wegen der Gefahr extrapyramidalmotorischer Nebenwirkungen zu vermeiden; i. d. R. reicht z. B. eine Dosis von bis zu
10  mg Haloperidol auch in der Akutphase aus. Wurde Haloperidol oder Benperidol zur Initialtherapie eingesetzt, empfiehlt sich nach Abklingen der
Akutsymptomatik die Umstellung auf ein Antipsychotikum der 2. Generation.
Auch einige Antipsychotika der 2. Generation (z. B. Aripiprazol, Olanzapin, Ziprasidon) stehen zur parenteralen Gabe zur Verfügung, sodass sie alternativ
auch in der Behandlung akut erregter Patienten in Kombination mit einem Benzodiazepin zum Einsatz kommen können. Bei leichteren Erregungszuständen
kann zunächst auch eine alleinige Therapie mit einem Benzodiazepin (bevorzugt Lorazepam) erfolgen, da neuere Studien gezeigt haben, dass Lorazepam und
Antipsychotika in der Akutbehandlung von psychomotorischer Erregung und Aggression vergleichbar wirksam sind und das Benzodiazepin insgesamt besser
verträglich ist.

Klinik
Vor Therapiebeginn müssen Kontraindikationen ausgeschlossen und Routineuntersuchungen (➤ ) durchgeführt werden, falls es die Situation zulässt. In
Notfallsituationen ist aufgrund der relativ hohen Sicherheit der Antipsychotika der 1. Generation und der Benzodiazepine jedoch eine Gabe auch ohne
vorherige körperliche und laborchemische Untersuchung möglich.

Zwangsmaßnahmen (z.  B. medikamentöse Behandlung oder Fixierung  /  Isolierung gegen den Willen der Patienten) lassen sich bei akut erregten
psychotischen Patienten, insbesondere wenn Eigen- oder Fremdgefährdung besteht, häufig nicht vermeiden. Man muss sich jedoch klarmachen, dass
Zwangsbehandlungen immer einen schweren Eingriff in die Persönlichkeitsrechte eines Patienten darstellen. Sie sind daher kurzfristig nur zur akuten
Gefahrenabwehr und ansonsten nur nach richterlicher Genehmigung möglich (➤ ).
Nicht zuletzt weil Zwangsmaßnahmen die langfristige Compliance der Patienten und das Vertrauensverhältnis zum Therapeuten empfindlich beeinträchtigen
können, sind daher immer deeskalierende Maßnahmen anzuwenden, um Zwangsmaßnahmen so weit wie möglich zu vermeiden (zum Vorgehen ➤ ). Ist es zu
Zwangsmaßnahmen gekommen, sollten diese mit den Patienten nachbesprochen werden. Die Behandlungsteams müssen regelmäßig in eskalierenden
Strategien trainiert werden und sollten Supervision erhalten.

Katatone Symptomatik
Katatone Symptome wie z. B. ein schizophrener Stupor oder Mutismus werden mit Benzodiazepinen (v. a. Lorazepam, u. U. hoch dosiert) in Kombination mit
Antipsychotika, die ein vergleichsweise geringeres Risiko für ein malignes neuroleptisches Syndrom aufweisen, behandelt. Bei lebensbedrohlichen perniziösen
Katatonien kann eine Elektrokonvulsionstherapie lebensrettend sein (s. u. und ➤ ).

Negativsymptomatik
Im Rahmen der Akutbehandlung mit Antipsychotika ist häufig auch eine Besserung der Negativsymptomatik zu beobachten, wobei Antipsychotika
grundsätzlich besser auf die Positivsymptomatik einwirken. Antipsychotika der 1. Generation sollten bei prominenter Negativsymptomatik vermieden werden.
Bevorzugt einzusetzen sind Amisulprid in niedriger Dosierung, Olanzapin und bei Therapieresistenz Clozapin. Gegebenenfalls stellt auch Cariprazin eine
Alternative dar. Bei persistierender Negativsymptomatik ist auch eine Kombinationsbehandlung mit einem Antidepressivum (z. B. SSRI, Bupropion) sinnvoll,
wobei bevorzugt nebenwirkungs- und interaktionsarme Antidepressiva zum Einsatz kommen sollten.
Depressive Symptomatik
Bei signifikanten depressiven Symptomen im Rahmen schizophrener Erkrankungen oder bei einer postschizophrenen Depression sollte zunächst die
antipsychotische Medikation auf das Vorliegen suffizienter Serumspiegel bzw. signifikanter Nebenwirkungen (z. B. Sedierung, EPMS) überprüft werden; ggf.
kann eine Umstellung sinnvoll sein, wobei die frühere Annahme, dass Antipsychotika mit starkem D2-Antagonismus regelhaft depressive Symptome
induzieren, inzwischen nicht mehr unangefochten gilt. Persistieren die depressiven Symptome und sind die Kriterien für eine depressive Episode erfüllt, ist
eine KVT oder die zusätzliche Gabe von Antidepressiva zu empfehlen. Eine Exazerbation der psychotischen Symptomatik ist bei Kombination von
Antipsychotika mit Antidepressiva nach neuesten Studien weniger wahrscheinlich als früher angenommen. Häufig ist eine sedierende Begleitmedikation (insb.
bei Suizidalität) notwendig. Für Lithium, Valproinsäure oder Carbamazepin gibt es bei depressiven Symptomen keine ausreichenden Wirksamkeitsnachweise.

Kognitive Störungen
Etwa 80  % der Patienten leiden an kognitiven Beeinträchtigungen, für deren Behandlung es keine spezifischen Präparate gibt. Ob Antipsychotika direkt
kognitive Störungen verbessern oder ob entsprechende Verbesserungen nur sekundäre Effekte der Wirkung auf die Positiv- bzw. Negativsymptomatik
darstellen, ist umstritten. Grundsätzlich sind eher Antipsychotika der 2. Generation mit geringer D2-Rezeptorblockade zu bevorzugen. Olanzapin und
Quetiapin scheinen eine gewisse Überlegenheit gegenüber anderen Substanzen aufzuweisen, die Effektstärken sind aber klein (0,27 bzw. 0,21). Substanzen mit
anticholinergem Wirkprofil (insb. Biperiden) und Benzodiazepine sind möglichst zu vermeiden, weil sie kognitive Störungen verschlechtern.

Vorgehen bei Therapieresistenz


Medikamentöse Therapieresistenz ist definiert als das Nichtansprechen auf zwei adäquate Behandlungsversuche (ausreichende Dosis, ausreichende
Plasmaspiegel und Dauer von jeweils 4–6 Wochen) mit zwei unterschiedlichen Antipsychotika.
Bei Therapieresistenz bietet sich insbesondere eine Umstellung auf Clozapin (➤ ) an, für das eine überlegene Wirksamkeit bei Therapieresistenz auf andere
Antipsychotika nachgewiesen wurde. Clozapin ist nach einer Testdosis von 12,5 mg langsam um höchstens 25 mg / d auf eine Dosis von 100–400 (max. 600 
mg) aufzudosieren (➤ ). Wirksame Plasmaspiegel sind wahrscheinlich individuell unterschiedlich. Soweit verträglich, sollten bei Therapieresistenz
Plasmaspiegel von mindestens 350 ng / ml erreicht werden. Werden keine ausreichenden Plasmaspiegel aufgebaut, können durch eine Inhibition der Clozapin-
Metabolisierung über CYP1A2 durch zusätzliche Fluvoxamin-Gabe (vorsichtiger Beginn mit 12,5–25  mg) die Plasmaspiegel ggf. in den Zielbereich
angehoben werden (➤ ). Kommt es nach 6  Monaten Behandlung mit Clozapin zu keiner deutlichen Symptomverbesserung, sollte (insb. bei schlechter
Verträglichkeit) erwogen werden, wieder auf ein anderes Antipsychotikum umzustellen. Alternative Substanzen bei Therapieresistenz sind Olanzapin und
Risperidon.

Merke
Clozapin ist Mittel der 1. Wahl bei Therapieresistenz auf andere Antipsychotika. Wegen der Gefahr einer
Agranulozytose darf es nur bei Unwirksamkeit oder Unverträglichkeit von zwei anderen Antipsychotika und nur nach
schriftlicher Einwilligung gegeben werden. Regelmäßige Kontrollen des Differenzialblutbildes sind vorgeschrieben
(➤ ). Um eine durch Clozapin induzierte Myokarditis, die in 0,1–0,2  % der behandelten Patienten auftritt, nicht zu
übersehen, sollten in den ersten Wochen auch wöchentliche CRP- und Troponin-Bestimmungen erfolgen.

Eine Alternative bei geringem Ansprechen auf Clozapin ist eine Kombinationsbehandlung von Clozapin mit einem D 2 -Rezeptor-Antagonisten wie z. B.
Risperidon, Haloperidol, Fluphenazin oder Amisulprid. Die Verbesserungsraten sind allerdings häufig gering, und es besteht das erhöhte Risiko von
Nebenwirkungen (Agranulozytose, Herzrhythmusstörungen!).
Sinnvoll ist immer, bei Therapieresistenz die Plasmaspiegel des Medikaments (➤ ) zu überprüfen, um einerseits die Compliance sicherzustellen und
andererseits Ultrarapid-Metabolizer, die aufgrund genetischer Polymorphismen des Cytochrom-P450-Systems der Leber Medikamente sehr schnell
verstoffwechseln, oder einen verstärkten Medikamentenmetabolismus durch Enzyminduktion durch Rauchen oder andere Induktoren von CYP450-Isoenzymen
(➤ ) nicht zu übersehen.
Darüber hinaus sollten bei Therapieresistenz immer eine kognitive Verhaltenstherapie angeboten und die psychosozialen Therapien intensiviert werden.
Einige Leitlinien empfehlen schon beim ersten Rezidiv die Aufnahme einer Psychotherapie und familientherapeutische Interventionen. Falls eine eindeutige
Behandlungsresistenz auf Antipsychotika vorliegt, können auch Stimulationsverfahren (EKT und rTMS, s. u.) angeboten werden.

Erhaltungstherapie und Rezidivprophylaxe

Behandlungsdauer
Ohne Weiterbehandlung ist nach einer Erkrankungsepisode das Risiko für ein Rezidiv deutlich erhöht. Nach Abklingen einer akuten schizophrenen Episode
dürfen daher die Antipsychotika nicht abrupt abgesetzt werden. Insbesondere das abrupte Absetzen erhöht die Rückfallgefahr besonders stark: Die Effektstärke
für eine fortgesetzte Antipsychotikatherapie gegenüber einem abrupten Umstellen auf Placebo ist groß; sie liegt bei 0,92 (➤ ).
Es empfiehlt sich, die Patienten darüber aufzuklären, dass sich bei einem Absetzen der Medikation das Risiko, innerhalb von 1  Jahr ein Rezidiv zu
erleiden, verdoppelt. Studien haben gezeigt, dass das Rezidivrisiko innerhalb eines Jahres unter Weiterbehandlung bei 27  % und unter Absetzen bei 65  %
liegt. Auch müssen sie darüber aufgeklärt werden, dass das Rezidivrisiko auch im weiteren Verlauf von 3–6  Jahren erhöht bleibt (ca. 20  % bei
Weiterbehandlung und ca. 60  % bei Absetzen) und dass dies wahrscheinlich auch für längere Zeiträume gilt, obwohl hierfür keine Studiendaten vorliegen.
Diese Risikozahlen gelten für rezidivierende Krankheitsverläufe. Bei Ersterkrankungen kann eine langfristige Therapie nicht Mittel der Wahl sein, da bis zu 40 
% der Patienten nur eine Episode entwickeln und anschließend nie wieder erkranken.
Folgende Zeitintervalle für die Erhaltungstherapie bzw. Rezidivprophylaxe können der Orientierung dienen (die aktuelle S3-Leitlinie spricht allerdings keine
Empfehlung mehr zu Zeitintervallen aus):

• Therapie nach schizophrener Ersterkrankung und vollständiger Remission: Erhaltungsdosis für mindestens 1 Jahr und langsames Absetzen über 3–
6 Monate
• Therapie nach einem ersten Rezidiv und vollständiger Remission: Langzeitmedikation über mindestens 2–5 Jahre (bei weiteren Episoden mindestens
5 Jahre) und sehr langsames Absetzen (Dosisreduktion von ca. 20 % alle 6 Monate)
• Therapie bei chronischen Schizophrenien: oft lebenslange Medikation

Grundsätzlich empfiehlt es sich, die Erhaltungs- bzw. rezidivprophylaktische Therapie als kontinuierliche Antipsychotikatherapie durchzuführen. Studien
haben gezeigt, dass eine intermittierende Behandlung, bei der Antipsychotika kontrolliert langsam abgesetzt und bei ersten Anzeichen eines Rezidivs wieder
angesetzt werden, insgesamt mit einem schlechteren Verlauf einhergeht.
Die Empfehlungen zur Fortsetzung der Antipsychotikatherapie in der vollen Dosis, die zur Remission der Symptomatik geführt hatte, beruhen auf Studien,
bei denen eine fortgesetzte Antipsychotikatherapie in voller Dosis mit einem abrupten Umstellen auf Placebo verglichen wurde. Studien, die geringere Dosen
oder ein sehr langsames Absetzen im Langzeitverlauf überprüft haben, fehlen dagegen weitgehend. Erste solche Langzeitstudien weisen darauf hin, dass
Patienten möglicherweise auch auf deutlich niedrigeren und besser verträglichen Dosen als bisher angenommen oder sogar ohne Medikamente stabilisiert
werden können. Daher gilt auch in der Erhaltungs- und Rezidivprophylaxe, dass Patienten mit der niedrigstmöglichen Dosis behandelt werden sollten. Dazu
passt auch, dass eine Langzeittherapie mit Antipsychotika zu einer Supersensitivität von D2-Rezeptoren führen kann. Wenn diese dann abgesetzt werden,
können die besonders sensitiven Rezeptoren zu einem schnellen Aufflammen der psychotischen Symptomatik führen.
Viele Patienten, die weitgehend stabil sind, sind nicht bereit, die Medikamente für die empfohlenen Zeiträume einzunehmen. Dies liegt häufig an den nicht
akzeptablen Nebenwirkungen. Hier kommt es insbesondere darauf an, ein abruptes Absetzen zu verhindern. Unter Einbezug einer Vertrauensperson kann die
Medikation dann in kleinsten Dosisschritten alle 6–12  Wochen reduziert und eine intermittierende Behandlung versucht werden. Dazu gehören gezielte
Frühinterventionen bei ersten Zeichen eines drohenden Rezidivs. Mittel der Wahl bleibt aber die kontinuierliche Antipsychotikatherapie in der
niedrigstmöglichen Dosierung.
Behandlung mit einem Depotpräparat
Grundsätzlich lässt sich eine rezidivprophylaktische Langzeittherapie oral durchführen. Aus folgenden Gründen wird jedoch oft eine Therapie mit i.  m.
injizierbaren Depotpräparaten (➤ ), die eine Wirkungsdauer von 2 Wochen bis 3 Monaten haben, favorisiert:

• Wesentliche Verbesserung der Compliance des Patienten


• Günstige Pharmakokinetik:
– Geringe Schwankungen der Plasmakonzentration
– Geringe Wirkstoffbelastung des Organismus durch geringere Dosen pro Tag als bei täglicher oraler Applikation

Praxistipp
Es ist prinzipiell sinnvoll, zur Langzeittherapie dasselbe Präparat in Depotform anzuwenden, auf das der Patient während der akuten Krankheitsphase in
oraler Form gut angesprochen hat.

Ein erster Absetzversuch darf immer nur als langsames Ausschleichen, nie abrupt, erfolgen. Er sollte frühestens nach einem 12-monatigen symptomlosen
Intervall durchgeführt werden, jedoch umso später, je mehr Rezidive vorher aufgetreten sind. Die wichtigsten Gründe für zahlreiche Rezidive sind
unregelmäßige Medikamenteneinnahme bzw. abruptes Absetzen der Therapie.

Stimulationsverfahren
Eine primäre Indikation für eine Elektrokonvulsionstherapie (EKT) stellt heute nur noch die seltene lebensbedrohliche (perniziöse) Katatonie dar. Ansonsten
sollte eine EKT auch bei schweren, therapieresistenten Schizophrenien angeboten werden. Bei persistierenden akustischen Halluzinationen kann auch eine
niederfrequente repetitive transkranielle Magnetstimulation (rTMS) mit 1 Hz, appliziert über dem linken Temporallappen, und zur Behandlung persistierender
Negativsymptome eine hochfrequente rTMS mit 10 / 20 Hz, appliziert über dem linken dorsolateralen präfrontalen Kortex, eingesetzt werden. Die Patienten
sind über die hohen Raten des Nichtansprechens auf rTMS aufzuklären.

Psychosoziale Therapien und Psychotherapie


Neben der Pharmakotherapie haben psychosoziale und psychotherapeutische Interventionen einen hohen Stellenwert in der Therapie der Schizophrenien (➤ ).

Therapeutische Beziehung und Psychoedukation


Entscheidend ist bei Behandlungsbeginn der Aufbau einer tragfähigen Beziehung zwischen Patient und Therapeut, denn nur dann wird der Patient zu den
notwendigen Behandlungsschritten zu motivieren sein.
Psychoedukation ist ein integraler Bestandteil jeder Therapie schizophrener Patienten. Sie wird – v. a. stationär – oft in Gruppen angeboten und informiert
den Patienten und ggf. Angehörige über Entstehung, Symptomatik, Therapie und die Notwendigkeit eines Rückfallschutzes. Psychoedukation bleibt aber nicht
nur bei der Informationsvermittlung, sondern hat einen psychotherapeutischen Anspruch, indem sie das Krankheitsverständnis und den selbstverantwortlichen
Umgang mit der Erkrankung fördert und den Patienten in der Krankheitsbewältigung unterstützt. Wesentliche Therapieinhalte sind auch die individuelle
Erkennung und Bewältigung von Frühsymptomen sowie die Unterstützung beim Stressmanagement, insbesondere dem Umgang mit täglichen Belastungen.
Wichtig ist die Erarbeitung eines individuellen Krisenplans, um bei Wiederauftreten von Symptomen schnell therapeutische Maßnahmen einleiten zu können.

Praxistipp
Frühwarnsymptome müssen mit allen Patienten individuell besprochen werden, damit sie ein drohendes Rezidiv frühzeitig erkennen und entsprechend
reagieren können (z. B. Arzt aufsuchen, Schlafmedikation erhöhen etc.). Noncompliance für die antipsychotische Therapie stellt den größten Risikofaktor
für ein Rezidiv dar.

Bei manchen Patienten ist es auch sinnvoll, eine Behandlungsvereinbarung abzuschließen. Diese legt zwischen Behandlern, Patienten und ggf.
Angehörigen und anderen Vertrauenspersonen das konkrete Vorgehen (etwa bzgl. Kontaktaufnahme, Medikation, Zwangsmaßnahmen) bei einem Rezidiv fest.
Solche Behandlungsvereinbarungen sind nicht mit Patientenverfügungen oder Vorsorgevollmachten zu verwechseln, die bei Einwilligungsunfähigkeit wirksam
werden.

Kognitive Verhaltenstherapie
In der KVT lernen die Patienten, ihre Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen in Bezug auf ihre psychotischen Symptome zu beobachten; sie werden zur
Entwicklung alternativer Interpretationen und Möglichkeiten der Symptombewältigung angeleitet, lernen mit belastenden Situationen umzugehen und
Copingstrategien zu entwickeln und ihre Lebensqualität zu verbessern. Spezifische Programme wurden für persistierende Wahnphänomene und
Halluzinationen entwickelt. Eine Variante ist das metakognitive Training, bei dem Patienten sich psychosetypische kognitive Denkverzerrungen (z.  B.
voreiliges Schlussfolgern, unflexibles Denken, Überkonfidenz) bewusst machen und Strategien zur adäquaten Urteilsfindung und Schlussfolgerungen erlernen
(➤ ).
In der Akuttherapie schizophrener Psychosen ist eine Pharmakotherapie zwar einer Psychotherapie bzgl. der Effektstärken deutlich überlegen. Dennoch
empfiehlt es sich, schizophrenen Patienten bereits bei Ersterkrankung eine KVT anzubieten und zwar auch dann, wenn sie eine medikamentöse Behandlung
ablehnen. In jedem Fall sollte sie zum Einsatz kommen, wenn die psychotische Symptomatik auf die Pharmakotherapie nicht ausreichend anspricht. Studien
weisen darauf hin, dass eine Kombinationstherapie aus Medikamenten und KVT einer alleinigen Pharmakotherapie überlegen ist. Die zusätzliche
Psychotherapie führt immerhin zu einer zusätzlichen Effektstärke von 0,33, wobei die Wirksamkeit auf die Gesamt- und Positivsymptomatik besser ist als auf
die Negativsymptomatik. Möglicherweise werden die Effekte aufgrund der fehlenden Verblindung in den Studien jedoch überschätzt (➤ ). Berücksichtigt man
diese methodische Einschränkung, sollte zumindest bei rezidivierendem Krankheitsverlauf eine KVT zusätzlich zu einer Pharmakotherapie empfohlen werden.
Die Sitzungsanzahl sollte i. d. R. bei mindestens 16 h liegen, bei komplizierteren Verläufen bei mindestens 24 h.

Familieninterventionen und Angehörigenarbeit


Unter dem Begriff der Familieninterventionen werden verschiedene Ansätze zusammengefasst, die auf der Erkenntnis basieren, dass die Familie einerseits eine
wichtige Ressource zur Verbesserung des Erkrankungsverlaufs und der sozialen Rehabilitation darstellt, andererseits Familienangehörige großen emotionalen
Belastungen ausgesetzt sind und daher auch als Mitbetroffene angesehen werden müssen. Familieninterventionen unterstützen mittels Psychoedukation und
psychotherapeutischer Techniken die Bewältigung der Erkrankung und ihrer Folgen und geben Unterstützung bei der Bewältigung von Krisen. Bei
Gruppeninterventionen ist auch die Vernetzung der teilnehmenden Familien, die sich dadurch gegenseitig unterstützen können, ein wichtiger Aspekt.
Familieninterventionen sollten möglichst früh im Krankheitsverlauf zum Einsatz kommen, zwischen 3  Monaten und 1  Jahr andauern und mindestens 10 
Sitzungen im Ein- bzw. Mehrfamilienformat umfassen.

Merke
Angehörige und andere enge Vertrauenspersonen schizophrener Patienten sind vielen emotionalen Belastungen
ausgesetzt. Sie können daher als Mitbetroffene angesehen werden. Sie sind unbedingt in den Gesamtbehandlungsplan
einzubeziehen, und ihre Ängste und Nöte müssen wahrgenommen und adäquat adressiert werden.

Manche Patienten lehnen den Einbezug von Angehörigen ab, die unter Berücksichtigung der Schweigepflicht dann nicht vollständig in den
Gesamtbehandlungsplan einbezogen werden können. Aber auch in diesem Fall sollte den Angehörigen angeboten werden, fremdanamnestisch über die
Erkrankung und deren Auswirkungen zu berichten, und sie sollten im Sinne einer Psychoedukation allgemeine Informationen über die Erkrankung erhalten.

Training sozialer Fertigkeiten


Die meisten psychosozialen Therapien für schizophrene Patienten beinhalten differenzierte Interventionen zum Training sozialer Wahrnehmung und
sozialer Fertigkeiten (z.  B. zur Reduktion sozialer Kontaktängste) und Kommunikation von Problemlösefertigkeiten. Das Training sozialer Fertigkeiten ist
Teil des integrierten psychologischen Therapieprogramms (IPT). Die Effektstärke von Trainings kognitiver Fertigkeiten auf die schizophrene
Negativsymptomatik liegt bei 0,2–0,4. Liegen bei schizophrenen Patienten relevante Einschränkungen der sozialen Kompetenz vor oder besteht eine
anhaltende Negativsymptomatik, empfiehlt es sich daher, ein Training sozialer Fertigkeiten durchzuführen. Insbesondere aufgrund der schwachen Effekte
anderer Therapien auf die Negativsymptomatik scheint hier eine wirksame Alternative vorzuliegen.

Neuropsychologische Therapie und Training kognitiver Fähigkeiten


85 % der schizophrenen Patienten zeigen Beeinträchtigungen in verschiedenen kognitiven Funktionsbereichen, die im Hinblick auf die berufliche und soziale
Integration sowie das Ansprechen auf psychosoziale Interventionen von erheblicher Bedeutung sind. Zum Training kognitiver Funktionen werden im Rahmen
der psychosozialen Rehabilitation spezifische Wahrnehmungs- und Fertigkeitentrainings zur Verbesserung exekutiver Funktionen, des verbalen
Langzeitgedächtnisses, der Daueraufmerksamkeit und der verbalen Merkfähigkeit durchgeführt.
Eine besondere Therapieform stellt die kognitive Remediation dar, bei der Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Exekutivfunktionen, soziale Kognitionen oder
Metakognitionen trainiert werden. Die Effektstärken liegen zwischen 0,1 und 1,2 für verschiedene kognitive und psychosoziale Funktionsbereiche, sodass die
kognitive Remediation bei Patienten mit kognitiven Funktionseinschränkungen eine wirksame Therapieform darstellt.

Andere Therapien
Ergotherapeutische Maßnahmen machen die Arbeit zum Mittel der Therapie und sind ein Grundpfeiler der gerade für Schizophrenie-Patienten besonders
wichtigen Strukturierung des Tagesablaufs. In der Beschäftigungstherapie sollen durch eine sinnvolle Aufgabe die Kreativität und Fantasie angeregt sowie
Eigeninitiative und Selbstbewusstsein gestärkt werden. Die Arbeitstherapie ist zusätzlich produktzentriert, d.  h., in Vorbereitung auf den zukünftigen
Arbeitsprozess – nach der Entlassung aus der stationären Behandlung – sollen Selbstständigkeit und Eigenverantwortung in der Herstellung nützlicher Produkte
gefördert werden.
Die Wirksamkeit von Ergotherapie, aber auch anderen Therapieformen wie Musik- oder Kunsttherapie ist nur unzureichend wissenschaftlich untersucht.
Diese Therapieformen werden aber dennoch innerhalb eines Gesamtbehandlungsplans mit großem Gewinn für die Patienten angeboten.
Alle Patienten sollten außerdem zur Intensivierung ihrer körperlichen Aktivität motiviert werden. Nicht nur der Fitnesszustand lässt sich durch körperliches
Training steigern, sondern es gibt auch Hinweise auf einen affekt- und kognitionsfördernden Effekt.

Versorgung im Gemeindepsychiatrischen Verbund


Im Sinne einer gemeindenahen Versorgung werden schizophrene Patienten idealerweise heimatnah durch ein enges Netz von Hilfesystemen versorgt, um ihnen
ein weitgehend selbstständiges, aber ausreichend betreutes Leben und damit Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen. In den meisten Städten existieren
solche Netzwerke (➤ ), bestehend aus ambulanten therapeutischen Diensten, Einrichtungen wie Wohnheimen, betreuten Wohngemeinschaften, Tagesstätten,
Patientenclubs, beschützten Arbeitsplätzen, Umschulungseinrichtungen und beschützenden Rehabilitationseinrichtungen, durch welche die Patienten beruflich
und sozial reintegriert werden sollen (➤ ). Die Interventionen werden dabei individuell auf den Patienten und seine Bedürfnisse abgestimmt.

Abb. 5.6 Versorgung im Gemeindepsychiatrischen Verbund [L141]

Rehabilitationseinrichtungen
Im Rahmen der Rehabilitation besonders schwer erkrankter Patienten sind für eine gewisse Zeit zwischen stationärer und ambulanter Behandlung
Übergangseinrichtungen erforderlich. Darin werden vor der vollständigen Reintegration die Anforderungen an den Patienten allmählich gesteigert. Die Art
der gewählten Übergangseinrichtung hat sich nach den speziellen Beeinträchtigungen des Patienten zu richten.
Aufsuchende Hilfesysteme
Da sich schizophrene Patienten häufig einer Behandlung entziehen, ist die Etablierung aufsuchender Hilfesysteme sehr sinnvoll. In Deutschland sind sie anders
als in den angelsächsischen Ländern jedoch noch weniger gut etabliert. Innerhalb der Psychiatrischen Institutsambulanzen (PIAs), im Rahmen der Ambulanten
Psychiatrischen Pflege (APP) und der Stationsäquivalenten psychiatrischen Behandlung (STäB) ist es heute aber möglich, Patienten regelmäßig zu Hause
aufzusuchen, individuelle Hilfestellung bei der Alltags- und Krankheitsbewältigung zu leisten und somit ihr Herausfallen aus dem Hilfesystem zu verhindern.

Medizinische Versorgung
Schizophrene Patienten weisen gegenüber der Normalbevölkerung eine mindestens 2-fach erhöhte Mortalität auf. Neuere Studien zeigen, dass es in den
letzten 15 Jahren in der Allgemeinbevölkerung zu einer Absenkung der Sterblichkeit kam, die bei schizophrenen Patienten nicht zu beobachten ist. Mit anderen
Worten: Die Patienten profitieren nicht von der insgesamt verbesserten medizinischen Versorgung. Die Gründe für die gleichbleibend hohe Mortalität sind
vielfältig und lassen sich u. a. auf folgende Aspekte zurückführen:

• Die Suizidrate ist gegenüber der Normalbevölkerung um das mindestens 10-Fache erhöht.
• Viele Antipsychotika der 2. Generation haben erhebliche metabolische Risiken, v. a. Gewichtszunahme.
• Antipsychotika können zu lebensgefährlichen Komplikationen führen (z. B. malignes neuroleptisches Syndrom, Agranulozytose,
Herzrhythmusstörungen, metabolische Komplikationen, Myokarditis, Thrombose und Lungenembolie).
• Schizophrene Patienten leben häufig sehr ungesund und erhöhen dadurch das Risiko kardiovaskulärer Komplikationen.
• Die Patienten sind zu einem gesunden Lebensstil häufig nur schwer zu motivieren.

Eine adäquate medizinische Versorgung ist daher auch bei schizophrenen Patienten sehr wichtig. Dazu gehören eine mindestens einmal pro Jahr
stattfindende körperliche Untersuchung, die regelmäßige Motivation zu Lebensstilveränderungen (gesunde Ernährung, Bewegung, Beendigung oder Reduktion
von Alkohol-, Nikotin- und Drogenkonsum etc.) sowie die konsequente Behandlung körperlicher Erkrankungen wie z.  B. Bluthochdruck und Diabetes.
Nebenwirkungen der Antipsychotika sind regelmäßig gegenüber ihrem Nutzen abzuwägen. Insbesondere eine übermäßige Gewichtszunahme muss verhindert
werden.

5.3. Andere psychotische Störungen


In der ICD-10 werden die schizotype Störung, die anhaltenden wahnhaften Störungen, die akuten vorübergehenden psychotischen Störungen, die induzierte
wahnhafte Störung und die schizoaffektiven Störungen zu den „anderen psychotischen Störungen“ gezählt (➤ ). Aufgrund der im Vergleich zu den
Schizophrenien niedrigeren Prävalenz dieser Erkrankungen liegen über diese Störungen, insbesondere was evidenzbasierte Therapiestrategien anbelangt, leider
nur relativ spärliche Erkenntnisse vor.

5.3.1. Schizotype Störung


Bei der schizotypen Störung (ICD-10: F21) handelt es sich um eine Störung mit exzentrischem Verhalten und Anomalien des Denkens und der Stimmung, die
schizophren wirken, obwohl nie eindeutige und charakteristische schizophrene Symptome aufgetreten sind. Anders als im DSM-5®, wo die Schizotypie den
Persönlichkeitsstörungen (schizotype PS) zugerechnet wird, zählt sie in der ICD-10 zum Kreis der psychotischen Erkrankungen und kann im Verlauf in eine
schizophrene Psychose übergehen.
Um die Diagnose einer schizotypen Störung stellen zu können, sollen nach der ICD-10 mindestens drei der folgenden Symptome mindestens 2 Jahre lang
ständig oder episodisch vorhanden gewesen sein:

1. Inadäquater oder eingeschränkter Affekt (Patient erscheint kalt und unnahbar).


2. Seltsames, exzentrisches oder eigentümliches Verhalten und eine ebensolche Erscheinung.
3. Wenig soziale Bezüge und Tendenz zu sozialem Rückzug.
4. Seltsame Glaubensinhalte und magisches Denken, die das Verhalten beeinflussen und im Widerspruch zu kulturellen Normen stehen.
5. Misstrauen oder paranoide Ideen.
6. Zwanghaftes Grübeln ohne inneren Widerstand, oft mit dysmorphophoben, sexuellen oder aggressiven Inhalten.
7. Ungewöhnliche Wahrnehmungserlebnisse mit Körpergefühlsstörungen oder anderen Illusionen, Depersonalisations- oder Derealisationserleben.
8. Denken und Sprache vage, umständlich, metaphorisch, gekünstelt, stereotyp oder anders seltsam, ohne ausgeprägte Zerfahrenheit.
9. Gelegentliche vorübergehende quasipsychotische Episoden mit intensiven Illusionen, akustischen oder anderen Halluzinationen und wahnähnlichen
Ideen; diese Episoden treten i. Allg. ohne äußere Veranlassung auf.

In der ICD-11 wird die Diagnose grundsätzlich beibehalten und zwischen einer schizotypen Störung mit Vorwiegen von Negativ- oder von
Positivsymptomatik unterschieden.
Die schizotype Störung gehört mit der paranoiden und schizoiden Persönlichkeitsstörung zu den Schizophrenie-Spektrumstörungen, die gehäuft in der
Verwandtschaft von Patienten mit schizophrenen Psychosen vorkommen. Neurobiologische Untersuchungen zeigen, dass das Ausmaß der Auffälligkeiten
häufig zwischen den Befunden von Kontrollpersonen und denen schizophrener Patienten liegt, was auf die neurobiologische Nähe zur Schizophrenie hinweist.
Da betroffene Patienten selten den therapeutischen Kontakt suchen, gibt es relativ wenige systematische Untersuchungen zu Häufigkeit, Verlauf und
Therapie. Unterstützende Psychotherapie, Training sozialer Fertigkeiten und die niedrig dosierte Gabe von Antipsychotika können therapeutisch hilfreich sein.

5.3.2. Anhaltende wahnhafte Störung


Die anhaltende wahnhafte Störung (Paranoia; ICD-10: F22) ist gekennzeichnet durch einen chronischen Verlauf mit Entwicklung einer einzelnen Wahnidee
oder mehrerer aufeinander bezogener Wahninhalte (systematisierter Wahn). Die häufigsten Wahnthemen sind:

• Verfolgung und Eifersucht (Othello-Syndrom)


• Liebe und Sexualität (Erotomanie)
• Größe / Bedeutung (Megalomanie)
• Hypochondrie
• Querulanz

Auch beim sensitiven Beziehungswahn nach E. Kretschmer handelt es sich um eine Paranoia, bei der die Patienten glauben, man sehe ihnen ihre Laster an,
weshalb sie sich beschämt, belächelt und missachtet fühlen.

Verlauf und Prognose


Das typische Manifestationsalter ist das mittlere und spätere Lebensalter. Insgesamt die Hälfte aller Patienten mit anhaltenden wahnhaften Störungen
remittiert. Je akuter der Beginn und je jünger das Lebensalter zum Zeitpunkt der Erstmanifestation ist, desto günstiger ist die Prognose.

Diagnose und Differenzialdiagnose


Nach ICD-10 muss die Wahnsymptomatik mindestens 3 Monate durchgehend bestehen. Die Diagnosekriterien einer Schizophrenie dürfen nicht erfüllt sein:
kein bizarrer Wahn (die Wahnthemen sind nicht völlig ungewöhnlich und unverständlich, sondern in gewissem Maße sogar nachvollziehbar), Halluzinationen
können kurz (aber nicht anhaltend) bestehen, formale Denkstörungen treten typischerweise nicht auf.
In der ICD-11 sind bzgl. dieser Diagnose keine wesentlichen Änderungen zu erwarten. Als Subklassifizierungen werden aber die Kategorien „ggw.
symptomatisch“, „in partieller Remission“ und „in voller Remission“ sowie eine Restkategorie der unspezifischen wahnhaften Störungen (zu der auch die
induzierte wahnhafte Störung gerechnet wird, ➤ ) eingeführt werden.
Weitere psychiatrische Differenzialdiagnosen sind die vorübergehenden akuten psychotischen Störungen (kürzere Krankheitsdauer) und affektive
Erkrankungen mit psychotischer Symptomatik. Auch verschiedene organische Psychosyndrome wie Epilepsien, degenerative Demenzen, metabolische
Enzephalopathien, extrapyramidale Erkrankungen und traumatische Hirnschädigungen können differenzialdiagnostisch relevant sein. Ebenso müssen ein
alkoholischer Eifersuchtswahn und eine paranoide PS ausgeschlossen werden.

Therapie
Da die Krankheitseinsicht i. d. R. fehlt und damit eine Behandlungsnotwendigkeit nicht anerkannt wird, kann der Patient häufig nur mit viel Geduld zu einem
Therapieversuch motiviert werden. Gegenüber einer Pharmakotherapie mit Antipsychotika sind chronische Wahnerkrankungen jedoch häufig relativ
resistent. Auf der Basis klinischer Einzelfallberichte kann am ehesten Risperidon in niedriger Dosis empfohlen werden. Begleitend können supportive
psychotherapeutische oder kognitiv-behaviorale Verfahren hilfreich sein.

5.3.3. Akute vorübergehende psychotische Störungen


Zu den akuten vorübergehenden psychotischen Störungen (ICD-10: F23) werden drei Störungsbilder gerechnet:

• Akute polymorphe psychotische Störung ohne Symptome einer Schizophrenie (ICD-10: F23.0)
• Akute polymorphe psychotische Störung mit Symptomen einer Schizophrenie (ICD-10: F23.1)
• Akute schizophreniforme psychotische Störung (ICD-10: F23.2)

Charakteristisch für alle drei Störungen sind:

1. ein akuter Beginn (also ohne Prodromalphase) innerhalb von 2 Wochen oder weniger (oft abrupt innerhalb von 48 h),
2. das Vorhandensein typischer Symptome: polymorphes = schnell wechselndes und unterschiedliches Erscheinungsbild ohne (F23.0) oder mit (F23.1)
Symptomen einer Schizophrenie oder relativ stabile schizophrene Symptomatik (F23.2),
3. das mögliche Vorliegen einer akuten Belastung im Vorfeld und
4. der gutartige Verlauf, also i. d. R. vollständige Remission innerhalb von 1 Monat (F23.1 und 23.2) oder von 3 Monaten (F23.0), oft innerhalb von
wenigen Wochen oder Tagen.

Diagnostik und Therapie


Für die diagnostische Einordnung sind klinisches Bild und Zeitdauer entscheidend:

• Klinisches Bild:
– Bei der akuten polymorphen psychotischen Störung ohne Symptome einer Schizophrenie ist ein vielgestaltiges wechselndes Bild
typisch. Emotionale Aufgewühltheit mit intensiven vorübergehenden Glücksgefühlen und Ekstase oder Angst und Reizbarkeit sind
häufig (daher früher auch als Angst-Glücks-Psychose oder Bouffée délirante bezeichnet). Halluzinationen und Wahn können vorhanden
sein, sind aber sehr unterschiedlich ausgeprägt und wechseln von Tag zu Tag oder sogar von Stunde zu Stunde.
– Bei der akuten polymorphen psychotischen Störung mit Symptomen einer Schizophrenie ist das Bild ähnlich, die psychotischen
Symptome sind aber ständig vorhanden, sodass in der überwiegenden Zeit die Kriterien einer Schizophrenie erfüllt sind.
– Bei der akuten schizophreniformen psychotischen Störung schließlich sind die klinischen Kriterien für eine akute polymorphe
psychotische Störung nicht erfüllt. Die psychotischen Symptome sind stabil, und es sind durchgehend die Kriterien einer Schizophrenie
erfüllt.
• Dauer:
– Wenn die schizophrenen Symptome der akuten polymorphen psychotischen Störung mit Symptomen einer Schizophrenie und der
akuten schizophreniformen psychotischen Störung länger als 1 Monat anhalten, ist die Diagnose einer Schizophrenie zu stellen.
– Halten die Symptome einer akuten polymorphen psychotischen Störung ohne Symptome einer Schizophrenie länger als 3 Monate an,
ist die Diagnose am ehesten in eine anhaltende wahnhafte Störung (F22) oder eine andere nichtorganische psychotische Störung (F28)
zu ändern.
• Ausschlussdiagnosen: Die Kriterien für eine manische oder depressive Episode dürfen bei allen Subgruppen nicht erfüllt sein, organische Ursachen
oder (Drogen-)Intoxikationen müssen ausgeschlossen sein.

Zur Therapie liegen keine kontrollierten Studien vor. In der Regel werden kurzzeitig Antipsychotika, kombiniert mit Benzodiazepinen, gegeben. Die
Symptomatik soll aber auch ohne Antipsychotikagabe häufig spontan remittieren.
In der ICD-11 wird die Diagnose grundsätzlich beibehalten, es wird aber voraussichtlich nicht mehr zwischen den drei Unterformen unterschieden, sondern
nur noch von akuten vorübergehenden psychotischen Störungen gesprochen, wobei eine erste Manifestation und wiederholte Episoden sowie andere
vorübergehende psychotische Störungen als Restkategorie unterschieden werden.

5.3.4. Induzierte wahnhafte Störung


Bei der induzierten wahnhaften Störung (Folie à deux; ICD-10: F24; in der ICD-11 nicht mehr enthalten) handelt es sich um die Übernahme wahnhafter
Überzeugungen eines psychisch Kranken durch eine ansonsten gesunde Person, die mit dem primär Wahnkranken in einer engen emotionalen Beziehung lebt
(am häufigsten Geschwister, Ehepartner oder Mütter mit Kindern). Häufig leben diese Menschen von anderen Menschen isoliert, wobei die soziale Isolation
und der Verlust der Realitätskontrolle sowohl Folge als auch aufrechterhaltender Faktor des induzierten Wahns sind. Bei der induzierten wahnhaften Störung
leidet zunächst nur der zumeist schizophrene, primär Wahnkranke unter einer psychotischen Störung. Beim sekundär Wahnkranken sind die
Wahnvorstellungen induziert. Gelegentlich betrifft die Störung auch mehr als zwei Personen. Man spricht dann nicht mehr von einer Folie à deux, sondern von
einer Folie à trois usw.
Die häufigsten Wahnideen sind Verfolgungs- und  /  oder Größenwahn sowie religiöse Wahninhalte und Querulantenwahn. Nach der Trennung gibt der
induzierte Wahnkranke den Wahn meist spontan auf.
Wahrscheinlich ist diese Störung nicht selten, sie kann aber nur bei genauer psychiatrischer Untersuchung des Umfelds psychisch kranker Patienten eruiert
werden.
In der ICD-11 wird die Störung unter der Restkategorie der unspezifizierten wahnhaften Störungen zu codieren sein.

5.3.5. Schizoaffektive Störungen


Von einer schizoaffektiven Störung (ICD-10: F25) spricht man, wenn innerhalb einer Krankheitsphase eindeutig affektive und eindeutig schizophrene
Symptome auftreten, die meist gleichzeitig bestehen oder nur durch wenige Tage getrennt sind. Die Krankheitsepisode erfüllt also sowohl die Kriterien für eine
Schizophrenie als auch für eine depressive, manische oder gemischte Episode.
In der ICD-10 werden drei Subtypen schizoaffektiver Störungen unterschieden:

• Schizoaffektive Störung, ggw. manisch (ICD-10: F25.0): Hier sind die Diagnosekriterien einer Manie erfüllt, und es liegen gleichzeitig mindestens
ein, besser zwei typische schizophrene Symptome der Kategorie 1–4 vor.
• Schizoaffektive Störung, ggw. depressiv (ICD-10: F25.1): Hier sind die Diagnosekriterien einer Depression erfüllt, und es liegen gleichzeitig
mindestens ein, besser zwei typische schizophrene Symptome der Kategorie 1–4 vor.
• Gemischte schizoaffektive Störung (ICD-10: F25.2): Hier bestehen gleichzeitig Symptome einer gemischten bipolaren affektiven Störung und
einer Schizophrenie.
Differenzialdiagnosen

• Schizophrenien: Affektive Symptome nach einer schizophrenen Episode werden als postschizophrene Depression codiert (ICD-10: F20.4; ➤ ).
• Affektive Störungen: Wenn einzelne schizoaffektive Phasen zwischen typischen manischen oder depressiven Episoden bestehen, wird die Diagnose
einer bipolaren oder rezidivierenden depressiven Störung nicht infrage gestellt, wenn das klinische Bild ansonsten typisch ist.
• Manie mit psychotischen Symptomen (➤ ): Hier können Größen- oder Verfolgungswahn, akustische Halluzinationen (z. B. Hören der Stimme
Gottes) oder inkohärentes Denken auftreten. Wenn Ich-Störungen, bizarrer Wahn oder dialogisierende Stimmen (zusätzlich) vorhanden sind, liegt
eine schizomanische Episode vor. Die Diagnose soll aber nur vergeben werden, wenn die erste Episode vorliegt oder die Mehrzahl der Episoden
durch dieses Bild charakterisiert ist.
• Wahnhafte Depression (➤ ): Hier bestehen synthyme Wahnideen und einzelne Halluzinationen (die z. B. den Patienten schlecht machen). Treten
während einer depressiven Episode Ich-Störungen, bizarrer Wahn oder Stimmen, die dem Patienten androhen, ihn zu töten, oder dialogisierende
Stimmen auf, liegt eine schizodepressive Störung vor. Die Diagnose soll aber nur vergeben werden, wenn die erste Episode vorliegt oder die
Mehrzahl der Episoden durch dieses Bild charakterisiert ist.

Im DSM-5 ® sind schizoaffektive Störungen ebenfalls durch das Nebeneinander einer manischen oder depressiven Episode mit schizophrenen Symptomen
definiert. Während der Lebensdauer der Erkrankung müssen Episoden mit affektiver Symptomatik die meiste Zeit bestehen, es müssen aber auch für
mindestens 2 Wochen Wahnphänomene und Halluzinationen bei gleichzeitiger Abwesenheit einer depressiven oder manischen Episode bestanden haben. In der
ICD-11 wird die Definition der schizoaffektiven Störungen grundsätzlich beibehalten und diese, wie in ➤ und ➤ beschrieben, bzgl. ihrer symptomatischen
Ausprägung und ihres Verlaufs in weitere Subkategorien unterteilt.

Verlauf und Prognose


Die Prognose ist insgesamt besser als bei den schizophrenen und schlechter als bei den affektiven Störungen. Generell gilt: je ausgeprägter die schizophrene
Symptomatik, desto schlechter die Langzeitprognose. Etwa 20 % der Patienten haben einen chronischen Verlauf, bei den übrigen kommt es zu wiederholten
Krankheitsepisoden, wobei über einen Langzeitverlauf von 25 Jahren durchschnittlich sechs Rezidive beobachtet wurden.
Die lebenslange Prävalenz liegt mit 0,5–0,8 % etwas unter der Prävalenz der Schizophrenien. Die Erstmanifestation liegt typischerweise im späten Jugend-
und frühen Erwachsenenalter. Frauen sollen geringfügig häufiger erkranken.

Therapie
Die Akuttherapie schizoaffektiver Störungen ist mittels kontrollierter Studien bislang nur unzureichend untersucht. Zur Therapie schizomanischer Episoden
werden Antipsychotika der 1. Generation wie Haloperidol oder Zweitgenerations-Antipsychotika wie Olanzapin, Risperidon, Aripiprazol oder Ziprasidon, ggf.
in Kombination mit Stimmungsstabilisierern (Lithium, Valproinsäure), eingesetzt. Zur Therapie schizodepressiver Syndrome kann die Kombination aus
einem Antipsychotikum und einem Antidepressivum empfohlen werden.
Z u r Rezidivprophylaxe schizoaffektiver Störungen gibt es ebenfalls nur wenige Therapiestudien. Klinisch kommen meist Kombinationen aus
Stimmungsstabilisierern (Lithium, Valproinsäure und Carbamazepin), Antipsychotika oder Antidepressiva zur Anwendung.

5.3.6. Katatonie
Die Katatonie wird im DSM-5® und auch in der ICD-11 als eigenständige Diagnose codiert, was der Tatsache Rechnung trägt, dass katatone Symptome (➤ )
bei psychischen Erkrankungen führend sein und nicht nur bei Schizophrenien und anderen psychotischen Störungen, sondern auch bei affektiven Störungen,
Entwicklungsstörungen wie Autismus, substanz- inkl. medikamenteninduziert (z.  B. durch Antipsychotika, Amphetamine oder PCP) sowie sekundär im
Rahmen körperlicher Erkrankungen (z.  B. diabetische Ketoazidose, hepatische Enzephalopathie, Tumoren, Schädel-Hirn-Traumata, zerebrovaskulären
Erkrankungen und Enzephalitiden) auftreten können. Eine Katatonie kann somit in Verbindung mit einer Schizophrenie oder einer anderen psychischen
Störung separat codiert werden.
Katatone Symptome wie z.  B. ein schizophrener Stupor und Mutismus werden neben Antipsychotika mit Benzodiazepinen (v.  a. Lorazepam, u.  U. hoch
dosiert) behandelt. Bei lebensbedrohlichen perniziösen Katatonien kann eine Elektrokonvulsionstherapie lebensrettend sein. Sekundäre Katatonien erfordern
ein Absetzen der auslösenden Substanz bzw. eine Behandlung der zugrunde liegenden körperlichen Erkrankung.

Literatur
Benkert O, Hippius H (2017). Kompendium der psychiatrischen Pharmakotherapie. 11. A. Berlin, Heidelberg: Springer.
Bleuler M (1983). Lehrbuch der Psychiatrie. 15. A. Heidelberg: Springer.
Gottesmann II (1993). Schizophrenie. Heidelberg: Springer Spektrum.
Hefner G, Laux G, Baumann P et al. (2018). Konsensusleitlinien für therapeutisches Drug-Monitoring in der Neuropsychopharmakologie: Update 2017.
Psychopharmakotherapie 25: 92–140.
Helfer B, Samara MT, Huhn M, et al. (2016). Efficacy and safety of antidepressants added to antipsychotics for schizophrenia: a systematic review and meta-analysis. Am J
Psychiatry 173: 876–886.
Leucht S, Cipriani A, Spineli L, et al. (2013). Comparative efficacy and tolerability of 15 antipsychotic drugs in schizophrenia: a multiple-treatments meta-analysis. Lancet
382(9896): 951–962.
Leucht S, Hasan A, Jäger M, Vauth R (2019). Schizophrenien und andere psychotische Störungen. In: Berger M (Hrsg.). Psychische Erkrankungen. 6. A. München: Elsevier
Urban & Fischer, S.301–362.
Scharfetter C (2010). Allgemeine Psychopathologie. 6. A. Stuttgart: Thieme.
Schatzberg AF, Nemeroff CB (2004). Textbook of Psychopharmacology. New York: American Psychiatric Publishing.
S3-Leitlinie Schizophrenie (Konsultationsfassung); (letzter Zugriff: 13.2.2019).
55,136,182,175,105,33,219,102,229,16,51,24:WtvrayTue2Brj2oPdwfL4Vr3Awh81lXJFKUa7jWUkmBcgv9Gf9AZ87Oua9Yo/MuVhf7C5tSylVkNlpzmABFWYd0Rz5C0nLihQGMUCi7aF12//XedzfXFSflagFxV7veU8kfqD88Enk
KAPITEL 7

Angststörungen
Sabine Frauenknecht

7.1. Einführung
Die Angststörungen wurden in früheren psychiatrischen Klassifikationssystemen (ICD-9, DSM-III) der Gruppe der Neurosen oder neurotischen Störungen
zugeordnet. Darunter wurden neben den Angststörungen auch die Zwangserkrankungen, die somatoformen und dissoziativen Störungen sowie die trauma- und
belastungsbezogenen Störungen verstanden. Dem Begriff der Neurose liegt das psychoanalytische Verständnis über die Entstehung der Störung zugrunde:
Aus tiefenpsychologischer Sicht beruhen neurotische Störungen auf ungelösten (unbewussten) Konflikten. Unerträgliche Wünsche, Vorstellungen oder
Impulse werden durch intrapsychische Prozesse abgewehrt (➤ ). Diese Perspektive hat das Verständnis der neurotischen Störungen und ihre Behandlung über
lange Zeit entscheidend geprägt.
In der zweiten Hälfte des 20. Jh. konnte das Wissen über die neurotischen Störungen durch die Ergebnisse intensiver biologischer und psychiatrischer
Forschung sowie durch empirische Untersuchungen zur Verhaltenstherapie erheblich erweitert werden. Für einige der neurotischen Störungen wurde eine
Beteiligung genetischer Faktoren nachgewiesen. Auch die Bedeutung von Lernprozessen für die Entstehung neurotischer Störungen wie die individuelle
Lerngeschichte oder die klassische und operante Konditionierung ist inzwischen gut belegt. Ebenso wurden psychodynamische Modelle neu- oder
weiterentwickelt. Für viele der Störungen liegen zwischenzeitlich Modelle vor, die psychologische, biologische und soziokulturelle Faktoren integrieren.
In der ICD-10 schlug sich dies in Form deskriptiver operationalisierter Diagnosekriterien nieder, die weitgehend auf ätiologische Modelle verzichteten.
Das seit 2013 vorliegende DSM-5® geht noch einen Schritt weiter: Der Begriff der „Neurose“ wird überhaupt nicht mehr verwendet. Angsterkrankungen,
Zwangsstörungen, trauma- und belastungsbezogene Störungen, dissoziative und somatoforme Störungen werden in separaten Kapiteln als jeweils
eigenständige diagnostische Kategorien geführt. Auch die ICD-11 wird diese Einteilung übernehmen. Eine Übersicht über die Einteilung der Angststörungen
im DSM-5®, in der ICD-10 und in der ICD-11 gibt ➤ in ➤ .

Tab. 7.1 Einteilung der wichtigsten Angststörungen


Angstneurosen Angststörungen
(nach Freud) nach ICD-10 nach ICD-11 nach DSM-5®
Angsthysterie F40 Phobische Störungen:
(Phobien)
F40.0 Agoraphobie mit und ohne Agoraphobie Agoraphobie
Panikstörung

F40.1Soziale Phobie Soziale Angststörung Soziale Angststörung

F40.2 Spezifische (isolierte) Phobie Spezifische Phobie Spezifische Phobie

Frei F41 Andere Angststörungen:


flottierende
Ängste F41.0 Panikstörung Panikstörung Panikstörung

F41.1 Generalisierte Angststörung Generalisierte Angststörung Generalisierte Angststörung

F93.0 Emotionale Störung mit Trennungsangst-Störung (im Kindes- und Erwachsenenalter!) Störung mit Trennungsangst
Trennungsangst des Kindesalters (im Kindes- und
Erwachsenenalter!)

F94.0 Elektiver Mutismus Selektiver Mutismus Selektiver Mutismus

F1x.8 Sonstige psychische oder Substanzinduzierte Angststörung (unter Störungen durch Substanz- / 
Verhaltensstörungen durch Substanzmissbrauch oder -abhängigkeit) medikamenteninduzierte
psychotrope Substanzen Angststörung

F06.4 Organische Angststörung Sekundäres Angstsyndrom (unter sekundären psychischen oder Angst aufgrund eines
Verhaltensstörungen durch anderweitig klassifizierte anderen medizinischen
Erkrankungen / Störungen) Krankheitsfaktors

7.2. Allgemeine Aspekte von Angststörungen


Das Phänomen Angst ist jedem aus eigenem Erleben bekannt. Angst bzw. Furcht gehört zu den existenziellen Grunderfahrungen des Menschen. Sie tritt dann
auf, wenn eine tatsächliche Gefahr oder Bedrohung besteht ( Realangst ); der Betreffende fühlt sich „in die Enge getrieben“ (Angst von lat. „angustiae“, Enge).
Neben der emotionalen Komponente zeigt sich das Phänomen Angst auch auf vegetativer, kognitiver und motorischer Ebene (die sog. „vier Ebenen der
Angst“): Eine über den Sympathikus vermittelte Erregung führt zu Schweißausbrüchen, Herzklopfen, schnellem, flachem Atem oder Mundtrockenheit. Bei
höchster Erregung ist die Aufmerksamkeit auf die Gefahrensituation eingeengt, die kognitive Leistungsfähigkeit ist entsprechend verändert. Es kommt zu einer
Erhöhung des Muskeltonus, der auf „Kampf oder Flucht“ vorbereitet, aber manchmal auch zur Inhibition motorischer Reaktionen führt („vor Angst wie erstarrt
sein“).
Pathologische Angst unterscheidet sich von der Realangst nicht in der Qualität der mit ihr verbundenen Empfindungen oder körperlichen Reaktionen. Sie
tritt jedoch in Situationen auf, die real keine Gefahr oder Bedrohung darstellen. Sie kann sich auf äußere Objekte oder bestimmte Situationen beziehen oder
durch als bedrohlich eingeschätzte körperliche Sensationen und Gedanken ausgelöst werden. Den an einer Angststörung leidenden Patienten ist der irrationale
oder übersteigerte Charakter ihrer Ängste häufig bewusst. Gleichzeitig fühlen sie sich ihren Ängsten ausgeliefert und scheitern oft bei ihren Versuchen, die
Angst in den Griff zu bekommen. Angststörungen gehören zu den häufigsten psychischen Erkrankungen in der Allgemeinbevölkerung. Sie verursachen bei
schwererem Verlauf eine erhebliche Beeinträchtigung sozialer und beruflicher Aktivitäten und eine Einschränkung der Lebensqualität. Neuere Studien deuten
darauf hin, dass Angststörungen das Risiko für eine spätere Erkrankung an depressiven Episoden erhöhen.

Klassifikation
Sigmund Freud prägte 1895 den Begriff der Angstneurosen, unter denen er die frei flottierenden Ängste und die Phobien (Angsthysterie) voneinander
abgrenzte. Phobien beschrieb er als durch bestimmte Objekte oder Situationen verursachte Ängste, während die frei flottierenden Ängste als ängstliche
Erregung ohne äußere Auslöser auftreten.
In den neueren Diagnosemanualen ist diese Typisierung in Angststörungen mit und ohne situative Auslöser noch nachvollziehbar. Eine Auflistung der
wichtigsten Angststörungen nach ICD-10, ICD-11 und DSM-5® findet sich in ➤ . Unter den Angststörungen im engeren Sinne werden die primären
Angsterkrankungen verstanden, d. h. eine Angstsymptomatik, die nicht durch eine körperliche oder psychische Grunderkrankung zu erklären ist. Im DSM-5®
und in der ICD-11 werden allerdings auch die durch Substanzgebrauch oder körperliche Erkrankungen verursachten Angstsyndrome bei den Angststörungen
eingereiht. Als Neuerung werden im DSM-5® wie auch in der ICD-11 die früher nur für Kinder und Jugendliche beschriebene Störung mit Trennungsangst und
der selektive Mutismus bei den Angststörungen aufgeführt. Damit wird zum einen der ätiologischen Nähe der beiden Syndrome zu den Angststörungen
Rechnung getragen; zum anderen deuten neuere Studien darauf hin, dass die Trennungsangst-Störung im Erwachsenalter sehr viel häufiger auftritt, als bisher
angenommen (vgl. ➤ ). Der elektive Mutismus wird im Kapitel Kinder- und Jugendpsychiatrie abgehandelt (➤ ).

Epidemiologie und Verlauf


Die Lebenszeitprävalenz der Angststörungen in der Allgemeinbevölkerung wird mit etwa 10–15 % angegeben; in Deutschland betrug in einer jüngeren Studie
die 12-Monats-Prävalenz bei den 18- bis 79-Jährigen 15,3  %. Angststörungen sind damit vor den unipolaren Depressionen die größte Gruppe psychischer
Erkrankungen. Die Häufigkeiten der wichtigsten Angststörungen finden sich in ➤ .

Tab. 7.2 Mittlere Lebenszeitprävalenzen der wichtigsten Angststörungen


Diagnose Mittlere Lebenszeitprävalenzen der Allgemeinbevölkerung [%]
Soziale Phobie 6

Spezifische Phobien 8

Panikstörung / Agoraphobie 6

Generalisierte Angststörung 6

Trennungsangst-Störung 5–6

Die Komorbidität mit anderen psychischen Erkrankungen ist hoch. Insbesondere die Assoziation mit weiteren Angststörungen, depressiven Episoden,
Suchterkrankungen und Substanzmissbrauch (Benzodiazepin-Präparate, Alkohol) gilt als gesichert.
Der Verlauf unbehandelter Angststörungen ist ungünstig. Spontanheilungen sind lediglich in etwa 20  % der Fälle zu beobachten, während 40–50  % der
Erkrankten unter einer chronischen Symptomatik leiden. Bedauerlicherweise vergehen vom Zeitpunkt der Erstmanifestation bis zur Diagnosestellung je nach
Störungstyp oft mehrere Jahre. Dies führt zu erheblichem Leiden und begünstigt eine Chronifizierung der Angstsymptomatik.

Folgen und Komplikationen


Während spezifische Phobien die persönliche Lebensführung i.  d.  R. nur in geringem Maße beeinträchtigen, haben v.  a. die Agoraphobie und die
Panikstörung, aber auch die soziale Phobie, die generalisierte Angststörung und die Trennungsangst-Störung erhebliche negative Konsequenzen für die
Alltagsbewältigung und die Beziehungsgestaltung der Betroffenen: Allein die körperlichen und psychischen Symptome belasten in hohem Maße das
subjektive Befinden der Betroffenen. Die Vermeidung angstauslösender Situationen führt häufig dazu, dass sich der persönliche Aktionsradius einengt,
genussvolle Unternehmungen aufgegeben werden und Alltagsaktivitäten nicht mehr oder nur mit fremder Hilfe bewältigt werden können. Das
Selbstwerterleben der Betroffenen ist reduziert; ihre Beziehungen zu Angehörigen und Freunden werden durch Hilfsbedürftigkeit, schwere Vermittelbarkeit der
Symptomatik und sozialen Rückzug belastet. Die berufliche Leistungsfähigkeit ist ebenfalls oft beeinträchtigt oder auf Dauer gefährdet.
Die multiplen somatischen Symptome bei Angsterkrankungen führen  –  insbesondere bei der Panikstörung  –  zu wiederholten Konsultationen auf
verschiedensten medizinischen Fachgebieten. Die den Körpersymptomen zugrunde liegende Störung wird dabei nicht immer diagnostiziert. Bei längerem
Verlauf entstehen nicht selten finanzielle Einbußen für den Betroffenen sowie erhebliche sozialmedizinische Probleme und Folgekosten durch
Arbeitsunfähigkeit und Berentung.
Die Entwicklung zusätzlicher psychischer Erkrankungen wie Depression, Sucht oder Substanzmissbrauch wird als prognostisch ungünstig eingeschätzt.
Lebensbedrohliche Situationen können durch Suizidalität, Intoxikationen oder Entzugssyndrome entstehen.

Ätiologie
Nach heutiger Auffassung sind Angststörungen multifaktoriell bedingte Erkrankungen. Prädisponierend wirkt eine erhöhte Angstbereitschaft, die sowohl durch
biologische als auch durch psychosoziale Faktoren bedingt sein kann. Durch entsprechende Lebensereignisse oder -bedingungen wird auf dem Boden dieser
Disposition eine überschießende Angstreaktion getriggert. Ungünstige Bewältigungsstrategien oder Reaktionen der Umwelt führen dann häufig zur
Eskalation oder Aufrechterhaltung der Beschwerden. Eine Zusammenfassung prädisponierender, auslösender und aufrechterhaltender Faktoren im
Sinne eines Vulnerabilitäts-Stress-Modells findet sich in ➤ .
Tab. 7.3 Pathogenetische Faktoren bei komplexen Angststörungen (erweitert nach Angenendt et al. 2015)
Prädisponierende • Erhöhte Vulnerabilität (z. B. [epi-]genetische Faktoren für allgemein erhöhte Ängstlichkeit oder verringerte Fähigkeit zur
Bedingungen physiologischen Habituation; [epi-]genetische Disposition für psychische und emotionale Probleme)
• Biological Preparedness für bestimmte Angststimuli
• Lern- und Erziehungseinflüsse (Bindungsstörungen, „überbehütender“ Erziehungsstil, angstinduzierender Erziehungsstil, instabile
familiäre Verhältnisse, Modelllernen, stellvertretendes Lernen)
• Persönlichkeitsfaktoren (vermeidend-selbstunsicher, dependent, externale Kontrollüberzeugung, instabile Ich-Struktur, unsicher-
ängstlicher oder unsicher-vermeidender Bindungsstil etc.)

Auslösende • Traumatische Lernerfahrungen mit Angststimuli (klassisches Konditionieren)


Faktoren • Akute oder chronische Überforderungen / Stress, Trennungen, Verluste
• Körperliche Erkrankungen (hormonelle Schwankungen), gesundheitliche Bedrohungen (bevorstehende medizinische Eingriffe)
• Konflikt-, Entscheidungs-, Ambivalenzsituationen
• Drogeneinflüsse (Koffein, Alkohol, Nikotin, Cannabis, andere stimulierende Drogen)

Aufrechterhaltende • Vermeidungsverhalten (operantes Konditionieren)


Faktoren • Ungünstiger Umgang mit Angstreaktionen (forcierte Selbstbeobachtung, Erwartungsängste, kognitive Verzerrungen etc.)
• Entmutigung durch fehlende Angstkontrolle
• Intrapsychische Funktionen (Abwehrmechanismen, Aggressionshemmung, Ausdruck von Ambivalenzen etc.)
• Interaktionelle Funktionen („Gewinn“ von Aufmerksamkeit, Kontrolle, Krankheitsstatus; systemische Funktionen, z. B. Patient als
„Symptomträger“)
• Eigendynamik der (chronischen) Symptomatik

Biologische Faktoren
Zwillingsstudien und Familienuntersuchungen belegen, dass – je nach Art der Störung – genetische Faktoren mit 20–48 % zu deren Entstehung beitragen.

Bestimmte Genloci, die z. B. für Cholezystokinin-B, die für die Catechol-O-Methyltransferase oder den Serotonintransporter (5-HTT) codieren,
könnten hier eine Rolle spielen und bilden vielversprechende Ansätze für weitere Untersuchungen.
Neuroanatomische und neurophysiologische Untersuchungen deuten auf eine Beteiligung bestimmter Hirnregionen an der Entstehung pathologischer
Angst hin: Eine zentrale Rolle spielen hier möglicherweise die noradrenerge Aktivität des Locus coeruleus und eine erhöhte Aktivierung der Amygdalae. An
der Verarbeitung der Angstreaktion sowie der Generierung von Reaktionen sind aber auch kortikale, hippokampale und limbische Strukturen beteiligt. Die
komplexe Interaktion der genannten Strukturen wird auch als „Angstnetzwerk“ bezeichnet.

Psychische Faktoren

Psychodynamische Erklärungsansätze
Freud erklärte die Genese der Angststörungen mit einem durch Abwehrmechanismen nur unzureichend „gelösten“ inneren Konflikt. Psychodynamische
Modelle beziehen entwicklungsbezogene Aspekte der Ich-Psychologie und bindungstheoretische Überlegungen mit ein. Zusammenfassend wird die
Entstehung symptomatischer Ängste als Ausdruck einer Konfliktkonstellation betrachtet, die auf dem Boden unsicherer Bindungserfahrungen im Kindesalter
und einer Ambivalenz zwischen Wünschen nach Autonomie und Abhängigkeit beruht. Die spezifischen Angstinhalte, das Ausmaß der beklagten Symptome
und die Art der verwendeten Bewältigungsstrategien geben Auskunft über die Reife der Persönlichkeit bzw. die Ich-Struktur.

Lerntheoretische und kognitive Modelle


Lerntheoretische Ansätze beziehen sich v.  a. auf die Beteiligung klassischer und operanter Konditionierungsprozesse a n der Entstehung pathologischer
Angst (Zwei-Faktoren-Modell der Angst nach Mowrer, s.  a. ➤ ). Ursprünglich neutrale Reize werden im Rahmen einer besonders belastenden
Schlüsselsituation mit einer Angstreaktion gekoppelt (klassische Konditionierung). Das daraus resultierende Vermeidungsverhalten wird durch den damit
verbundenen Angstabfall weiter aufrechterhalten (operante Konditionierung). Dass bestimmte neutrale Stimuli im Rahmen dieser Konditionierung
angstauslösend werden können (z. B. enge Räume, Gewitter, Tiere), andere aber nicht (z. B. Stuhl), wird mit der Biological-Preparedness -Hypothese erklärt.
Das bedeutet, dass v.  a. diejenigen Reize pathologische Angst auslösen können, die evolutionsgeschichtlich eine Bedrohung für das Überleben darstellten.
Darüber hinaus werden kognitive Verarbeitungsprozesse für die Entstehung pathologischer Ängste verantwortlich gemacht: Bei Panikattacken wird v. a. eine
erhöhte interozeptive Selbstbeobachtung und Wahrnehmung beobachtet, wie z.  B. die Bewertung von eigentlich ungefährlichen Körpersensationen (z.  B.
vermehrtes Zittern durch Koffeingenuss) als bedrohlich („Ich zittere ja; gleich kippe ich um!“). Katastrophisierendes Denken oder eine selektive Wahrnehmung
und Verarbeitung von potenziell bedrohlichen Reizen spielen in der Entstehung der Agoraphobie und der generalisierten Angststörung eine Rolle. Überdies
wird auch dem Modelllernen für die Pathogenese von Angststörungen eine wichtige Rolle zugeschrieben (z.  B. Umgang wichtiger Bezugspersonen mit
Ängsten). Letztlich haben auch biografische Lernerfahrungen (Erziehungsstil, Umgebungsbedingungen) eine wesentliche Bedeutung für die Entstehung von
Angsterkrankungen.

Diagnostik
Angst bildet die zentrale Symptomatik der Angststörungen, ist für diese aber nicht spezifisch und kann bei vielen psychischen oder körperlichen Erkrankungen
auftreten.

Anamneseerhebung
Für die Diagnosestellung ist eine gründliche Exploration der Angstsymptome vonnöten. Es sollte geklärt werden, ob die Angst vorwiegend spontan oder
situationsbedingt auftritt oder ob sie anhaltend besteht.

Praxistipp
Exploration von Angstsymptomen

• Zeit
• Ort
• Situation des Auftretens
• Dauer
• Episodisch / persistierend
• Die vier Ebenen der Angst: emotionale Reaktionen, vegetative Reaktionen, Kognitionen, Motorik / Verhalten
• Umstände, die verschlimmern / bessern
• Bisherige Bewältigungsversuche

Eingenommene Medikamente oder Drogen, insbesondere die zur Selbstmedikation oft benutzten Substanzen (Benzodiazepin-Präparate, Alkohol,
pflanzliche Präparate, Betablocker), sollten unbedingt erfragt werden. Zudem müssen körperliche Erkrankungen und aufgrund der Angstsymptomatik bereits
erfolgte diagnostische Maßnahmen erfasst werden.

Befunderhebung
Der psychopathologische Befund kann Aufschluss über eine die Angstsymptomatik verursachende psychische Grunderkrankung oder eine komorbide Störung
geben: Panikattacken oder diffuse Ängste treten z. B. häufig im Rahmen einer depressiven Störung auf; Patienten mit Panikstörung wiederum entwickeln im
Laufe ihrer Erkrankung oft eine depressive Episode. Eine gründliche körperliche Untersuchung ist unerlässlich.

Zusatzuntersuchungen
Die Zusatzuntersuchungen umfassen i.  d.  R. eine laborchemische Basisdiagnostik sowie die obligaten apparativen Untersuchungen (➤ ). Falls sich der
Verdacht auf eine körperliche Erkrankung ergibt, sollten die entsprechenden Fachärzte konsultiert werden.
Darüber hinaus ist es günstig, wenn die weitere Psychodiagnostik sowie die Beurteilung des Therapieverlaufs und -erfolgs durch standardisierte
Testverfahren und das Führen von vorstrukturierten Angsttagebüchern unterstützt werden.

Wichtige Differenzialdiagnosen

Organische Erkrankungen
Viele körperliche Erkrankungen können Angstsymptome verursachen. Eine Übersicht über wichtige organische Differenzialdiagnosen der Angststörungen gibt
➤ . Pharmaka, die zum Auftreten einer Angstsymptomatik führen können, sind in ➤ aufgeführt.

Tab. 7.4 Körperliche Erkrankungen, die zu Angstsymptomen führen können (nach Lieb und Heßlinger 2016)
Endokrine Störungen Hyperthyreose, Hypothyreose, Hyperparathyreoidismus, Phäochromozytom, Karzinoid-Syndrom, Cushing-Syndrom

Metabolische Hypoglykämie, Hypokalzämie


Störungen

Kardiale Koronare Herzkrankheit, Herzinsuffizienz, Herzrhythmusstörungen, Myokardinfarkt


Erkrankungen

Zerebrale Zerebrale Anfallsleiden, Encephalomyelitis disseminata, zerebrale Vaskulitiden, demenzielle Erkrankungen, Morbus Parkinson,
Erkrankungen Chorea Huntington, neurogener Schwindel, zerebrale Tumoren

Pulmonale Asthma bronchiale, chronisch-obstruktive Lungenerkrankung, Lungenembolie


Erkrankungen

Erkrankungen des Autoimmunerkrankungen, Allergien


Immunsystems

Box 7.1
Pharmakologisch wirksame Substanzen, die eine Angstsymptomatik induzieren können

• Schilddrüsenhormone
• Sympathomimetisch wirksame Substanzen (Koffein, Nikotin, Bronchodilatatoren, hochdosierte Kortikosteroide, Appetitzügler)
• Natriumglutamat
• Alkohol, Drogen (v. a. Benzodiazepine, Kokain, Amphetamine, sog. Legal Highs, LSD) bei Einnahme oder im Entzug
• Sedativa und Hypnotika (v. a. im Entzug)

Psychische Erkrankungen
Angst ist ein Symptom, das im Rahmen vieler psychischer Erkrankungen auftreten kann, und bedarf daher einer eingehenden differenzialdiagnostischen
Abklärung (➤ ).

Box 7.2
Psychische Erkrankungen als Ursache für Angstsymptome

• Affektive Störungen, insbesondere depressive Episoden


• Schizophrenie (auch als Prodromi der psychotischen Symptomatik)
• Zwangsstörungen
• Anpassungsstörungen
• Posttraumatische Belastungsstörung
• Persönlichkeitsstörungen (insb. ängstlich-vermeidend, dependent)
• Essstörungen
• Somatoforme Störungen
• Substanzgebrauch / -abhängigkeit (Gebrauch, Intoxikation, Entzug)

Depression
Für den klinischen Alltag ist die Abgrenzung der Angststörungen von den Depressionen wichtig. Depressionen, insbesondere die depressive Episode, gehen
regelmäßig mit Ängsten einher, die sich z. B. in ständigem Sorgen um Alltägliches oder in anfallsartig auftretenden Panikzuständen äußern können. Wenn die
Angstsymptomatik ausschließlich gemeinsam mit der affektiven Symptomatik auftritt und mit deren Remission abklingt, ist sie als Symptom der Depression zu
betrachten. Andererseits entwickeln viele Patienten mit Angststörung im Verlauf ihrer Erkrankung zusätzlich eine Depression. Wesentlich ist, dass die
Angstsymptomatik dann unabhängig vom Beginn oder Ende des depressiven Syndroms besteht. Dies kann häufig erst nach Abklingen der affektiven
Symptomatik zuverlässig beurteilt werden.

Somatoforme Störungen
Sowohl bei den somatoformen Störungen als auch bei den Angsterkrankungen können erhöhte Ängstlichkeit und körperliche Symptome vorliegen, für die
keine organische Ursache festgestellt werden kann. Angstpatienten, v. a. mit Panikstörung, wie auch Patienten mit somatoformer Störung äußern die Sorge,
dass ihren Beschwerden eine körperliche Erkrankung zugrunde liege.
Das zentrale Merkmal der Angststörungen ist jedoch das Erleben intensiver Angst, die episodisch oder anhaltend besteht und in Situationen auftritt, die
keine reale Gefahr oder Bedrohung darstellen. Die betreffenden Patienten empfinden ihre Ängste i. d. R. als übertrieben und irrational. Bei einer somatoformen
Störung dagegen beklagt der Patient in erster Linie körperliche Beschwerden wie Schmerzen oder vegetative Symptome, von deren organischer Verursachung
er überzeugt ist. Ängstlichkeit und Sorgen beziehen sich vorwiegend auf körperliche Symptome, eine befürchtete Erkrankung (bei der hypochondrischen
Störung) und deren antizipierte negative Folgen. Bei der generalisierten Angststörung bestehen zwar häufig auch somatische Symptome; das übermäßige
Sich-Sorgen bezieht sich jedoch auf ein breiteres Spektrum alltäglicher Themen und nicht ausschließlich auf die Körpersymptome. Daher sollte bei einer
ausgeprägten Angstsymptomatik die Angsterkrankung und nicht die somatoforme Störung diagnostiziert werden. Eine Komorbidität von Angsterkrankungen
und somatoformen Störungen ist natürlich möglich.

Andere psychische Erkrankungen


Patienten mit Schizophrenie können über zahlreiche Ängste berichten, die v.  a. im Prodromalstadium einer psychotischen Dekompensation diagnostisch
schwer einzuschätzen sind. Bei der akuten Schizophrenie beziehen sich die geäußerten Ängste meistens auf Themen wie Verfolgung, Beeinträchtigung und
Beeinflussung und wirken häufig bizarr und fremdartig.
Bei den Zwangsstörungen stehen Ängste vor Kontamination, Verschmutzung, Verletzung oder Unordnung und die zur „Neutralisation“ durchgeführten
Rituale im Vordergrund der Symptomatik. Ein Patient kann aber durchaus gleichzeitig an einer Angst- und einer Zwangsstörung erkrankt sein.
Auch die Anpassungsstörungen äußern sich neben deprimierter Stimmungslage und vegetativen Symptomen oft in Furcht, Ängsten und vermehrter
Besorgnis. Dabei beziehen sich die erlebten Ängste vorwiegend auf das Lebensereignis, das der Erkrankung vorausging (z. B. eine Trennung, vgl. ➤ ).
Patienten mit posttraumatischer Belastungsstörung leiden ebenfalls unter intensiven Angstreaktionen, die bei Konfrontation mit Situationen oder Objekten
auftreten, die sie an das auslösende Trauma erinnern. Wesentliche Unterscheidungskriterien zu den Phobien und übrigen Angststörungen sind das der Störung
vorausgehende schwere Trauma und das anhaltende Erinnern oder Wiedererleben des traumatischen Ereignisses in Albträumen oder Flashbacks (➤ ).
Auch Patienten mit Bulimia oder Anorexia nervosa berichten über Ängste. Typisch ist die intensive, oft panikartig auftretende Angst, zu dick zu sein oder
zu werden, auch wenn objektiv ein normales Körpergewicht oder sogar Untergewicht besteht. Zu beachten ist die hohe Komorbidität von Essstörungen mit
Angsterkrankungen (vgl. ➤ ).
Überdies sollte bei chronisch bestehenden Ängsten auch an das Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung, insbesondere des Clusters C (ängstlicher Typus)
gedacht werden (➤ ). Selbstverständlich ist die Komorbidität einer Persönlichkeitsstörung mit einer Angststörung ebenfalls möglich.

Medikamente und Drogen


Zahlreiche Medikamente und Drogen können bei Einnahme, Missbrauch oder Abhängigkeit Angst auslösen (➤ ). Daher sollte auf zeitliche Zusammenhänge
zwischen der Einnahme von Medikamenten und Drogen und dem Auftreten einer Angstsymptomatik geachtet werden.

Therapie
Allgemein ist für die Behandlung der Angststörungen – abhängig vom Schweregrad der geschilderten Symptomatik – ein gestuftes Vorgehen (engl. „stepped
care“) zu empfehlen.

1. Bei leicht ausgeprägter Symptomatik kann ein stützendes, beratendes und validierendes Vorgehen bereits ausreichend sein. Der Patient sollte alle
gewünschten Informationen über seine Symptomatik erhalten. Im Idealfall sollten Familienangehörige einbezogen und erste Strategien zur
Selbsthilfe vermittelt werden. Dazu gehören auch allgemeine Ratschläge zur Lebensführung wie ausreichender Schlaf, regelmäßige, gesunde
Mahlzeiten und ausreichende Trinkmenge, Reduktion von psychotropen Substanzen wie Koffein, Alkohol, Nikotin bzw. Drogenabstinenz und
Ermutigung zu regelmäßiger Bewegung im Ausdauerbereich. Auch Möglichkeiten zur Stressreduktion sollten erörtert werden.
2. In einem nächsten Schritt könnten Selbsthilferatgeber, Selbsthilfegruppen oder – sofern vorhanden – hochwertige internetbasierte
Therapieprogramme empfohlen werden.
3. Wenn damit keine Besserung erreicht wird, sollte der Patient ausführlich über die weiteren Therapieoptionen beraten werden (s. u.).
4. Bei schweren komorbiden Störungen (z. B. schwerer depressiver Episode, Alkoholabhängigkeit) oder einer trotz intensiver ambulanter Behandlung
nicht kontrollierbaren Symptomatik sollte eine stationäre Behandlung eingeleitet werden.

Bei der Behandlung von Angststörungen kommen sowohl psychotherapeutische als auch pharmakologische Verfahren zur Anwendung. Abhängig von
der Präferenz der Betroffenen und der vor Ort verfügbaren Behandlung werden die Verfahren isoliert oder in Kombination angewandt.

Vergleichende Effektstärken
Die Effektstärken (➤ ) der Behandlungen werden bei den einzelnen Angststörungen (➤ , ➤ und ➤ ) im Detail dargestellt. Insgesamt liegen die Effektstärken
von Psycho- und Pharmakotherapie bei Angststörungen im mittleren bis hohen Bereich, wobei im Direktvergleich bei Kurzzeittherapie ein leichter Vorteil für
die Pharmakotherapie besteht. Da inzwischen mehrere Medikamente zur Behandlung von Angststörungen zugelassen wurden, sind die Medikamenteneffekte
(v.  a. SSRIs und SSNRIs) auch entsprechend gut untersucht. Hier zeigen sich Effektstärken von 0,3–0,5 in der Kurzzeitbehandlung. Die alleinige
pharmakologische Behandlung birgt allerdings wahrscheinlich ein höheres Risiko dafür, dass die Symptomatik bei Absetzen der Medikamente wieder auftritt.
Dies spiegelt sich in großen Effektstärken für die Rückfallprophylaxe bei Medikamenten wider.
Die erste Wahl für die psychopharmakologische Behandlung der Angststörungen stellen Antidepressiva aus den Gruppen der SSRIs und der SSNRIs dar.
Bei den psychotherapeutischen Verfahren s i n d verhaltenstherapeutische Ansätze am besten untersucht. Sie sind besser wirksam, wenn
Expositionsverfahren angewandt werden. Der Vorteil gegenüber einer medikamentösen Therapie liegt darin, dass die Patienten Strategien erlernen, die sie auch
langfristig in die Lage versetzen, mit Angstsymptomen umzugehen. Weniger deutlich als bei den affektiven Störungen ist die Kombination von Psycho- und
Pharmakotherapie bei einzelnen (nicht allen!) Angststörungen der jeweiligen Monotherapie überlegen. Erste ermutigende Ergebnisse liegen auch für
störungsorientierte psychodynamische Therapien bei einigen Angststörungen vor (siehe die jeweiligen Störungen).
Für weitere Informationen wird hier auch auf die deutschsprachigen S3-Leitlinien zur Behandlung von Angststörungen verwiesen (S3-Leitlinien
Angststörungen, ).

7.3. Panikstörung und Agoraphobie

Kasuistik
Eine 25-jährige Jurastudentin stellt sich in der verhaltenstherapeutischen Ambulanz vor. Sie berichtet: „Vor etwa ½ Jahr hat es angefangen: Ich hatte
ziemlich viel Stress mit dem Studium und meinem Kneipenjob, und dann gab es noch eine Menge Auseinandersetzungen mit meinem Freund. An einem
Morgen haben wir uns heftig gestritten, und er hat wutentbrannt unsere gemeinsame Wohnung verlassen. Ich hatte in der Nacht schlecht geschlafen und
deshalb zum Frühstück ordentlich Kaffee getrunken. Ich war ziemlich aufgewühlt. Um mich abzulenken, ging ich in die Stadt. In einem Kaufhaus wurde
mir die Wärme unangenehm, und plötzlich wurde mir schwummrig, und ich bekam irrsinniges Herzklopfen. Ich bin schnell rausgerannt und habe mich auf
eine Bank gesetzt. Ich bekam aber immer mehr Angst, dass etwas mit mir nicht stimmt, dass mein Herz aussetzen und ich umkippen könnte und auf der
Straße sterben müsste. Dabei habe ich immer mehr gezittert und geschwitzt, mein Kopf hat sich angefühlt wie voller Watte. Die Fußgängerzone und die
Leute um mich herum kamen mir absolut unwirklich und weit entfernt vor. Da habe ich schnell meinen Freund übers Handy angerufen. Er war sehr
besorgt und hat mich in die Notfallambulanz der Uniklinik gebracht. Dort wurde ich durchgecheckt. Organisch war alles in Ordnung. In den Tagen danach
habe ich aber immer wieder plötzlich Angst und Herzrasen, Schwindel, Schwitzen und Zittern bekommen, wenn ich zu den Vorlesungen gehen wollte. Ich
habe richtig Angst gekriegt, allein rauszugehen und dann von diesen Anfällen übermannt zu werden. Ich hatte das Gefühl, ich würde verrückt.
Mir geht es besser, wenn mich mein Freund begleitet, wenn ich mein Fahrrad zum Schieben und Festhalten mitnehme oder die Betablocker in der Tasche
habe, die mir der Hausarzt verschrieben hat. Aber in der Zwischenzeit habe ich vor immer mehr Dingen Angst bekommen: Ich kann nicht mehr mit der
Straßenbahn fahren, mein Freund muss meist die Einkäufe machen, und mittlerweile habe ich auch immer mehr Probleme, zu den Vorlesungen zu gehen.
Ich kann dort nur noch auf einem Randplatz sitzen und habe ständig Angst, wieder Panik zu bekommen. Mit mir stimmt etwas nicht, und mit dem Studium
kann es so nicht weitergehen. Außerdem ist mein Freund mittlerweile oft genervt, wenn er mich begleiten soll, und sagt, ich würde mich anstellen. Deshalb
hat mir der Hausarzt vorgeschlagen, zu Ihnen zu kommen.“

7.3.1. Symptomatik und Klassifikation


Die Panikstörung ist durch das wiederholte Auftreten anfallartiger Angstzustände (Panikattacken) charakterisiert, die sich nicht auf spezifische Situationen,
Gegenstände oder Tiere beziehen und die für den Betreffenden oft völlig unerwartet auftreten. Während einer Panikattacke erlebt der Patient ein intensives
Angstgefühl, das von zahlreichen körperlichen Symptomen und Befürchtungen begleitet ist.
Unter einer Agoraphobie (wörtlich: Angst vor dem Marktplatz) versteht man die Angst vor öffentlichen Situationen mit eingeschränkter Möglichkeit zur
Flucht, wie z. B. weiten Plätzen, geschlossenen Räumen oder Menschenansammlungen. Für die Störung typisch ist das phobische Vermeidungsverhalten: Die
angstauslösenden Situationen werden nach Möglichkeit fluchtartig verlassen oder gar nicht erst aufgesucht.

Symptomatik

Panikattacken
Charakteristisch für die Panikattacke ist eine episodisch auftretende, meist als überwältigend empfundene Angstreaktion. Der Patient entwickelt im
Panikanfall innerhalb von Minuten eine subjektiv dramatische körperliche Symptomatik. Typisch sind Zittern, Schweißausbrüche, Herzrasen, Schwindel,
Schwächegefühl, Atemnot und Globusgefühl. Die körperlichen Symptome können sich bis zur Hyperventilationstetanie steigern (➤ ). Viele Patienten berichten
zudem, ihre Umgebung während der Panikattacke als fremd und unwirklich zu erleben (Derealisationserleben). Neben der panikartigen, intensiven Angst sind
kognitive Symptome charakteristisch, die sich auf einen befürchteten Kontrollverlust oder angenommene katastrophale Konsequenzen der Körpersensationen
beziehen (z. B. „Jetzt flippe ich gleich aus!“, „Gleich fange ich an, herumzuschreien und zu toben!“, „Gleich bekomme ich einen Schlaganfall und sterbe!“).

Tab. 7.5 Diagnosekriterien der Panikstörung nach ICD-10 (F41.0)


A. Wiederholte Panikattacken, die nicht auf eine spezifische Situation oder ein spezifisches Objekt bezogen sind und oft spontan auftreten (d. h., die
Attacken sind nicht vorhersagbar). Die Panikattacken sind nicht mit besonderer Anstrengung, gefährlichen oder lebensbedrohlichen Situationen
verbunden.

B. Eine Panikattacke hat alle folgenden Charakteristika:

a. Sie ist eine einzelne Episode von intensiver Angst oder Unbehagen.

b. Sie beginnt abrupt.

c. Sie erreicht innerhalb weniger Minuten ein Maximum und dauert mindestens einige Minuten.

d. Mindestens 4 Symptome der unten angegebenen Liste müssen vorliegen, davon eines der Symptome 1 bis 4.

Vegetative Symptome:

1. Palpitationen, Herzklopfen oder erhöhte Herzfrequenz

2. Schweißausbrüche

3. Fein- oder grobschlägiger Tremor

4. Mundtrockenheit (nicht infolge von Medikation oder Exsikkose)

Symptome, die Thorax und Abdomen betreffen:

5. Atembeschwerden

6. Beklemmungsgefühl

7. Thoraxschmerzen und -missempfindungen

8. Nausea oder abdominale Missempfindungen (z. B. Unruhegefühl im Magen)

Psychische Symptome:

9. Gefühl von Schwindel, Unsicherheit, Schwäche oder Benommenheit

10. Gefühl, die Objekte sind unwirklich (Derealisation) oder man selbst ist weit entfernt oder „nicht wirklich hier“ (Depersonalisation)

11. Angst vor Kontrollverlust, verrückt zu werden oder „auszuflippen“

12. Angst zu sterben

Allgemeine Symptome:

13. Hitzegefühle oder Kälteschauer

14. Gefühllosigkeit oder Kribbelgefühle

C. Häufigstes Ausschlusskriterium: Die Panikattacken sind nicht Folge einer körperlichen Störung, einer organischen psychischen Störung (F0) oder einer
anderen psychischen Störung wie Schizophrenie und verwandter Störungen (F2), einer affektiven Störung (F3) oder einer somatoformen Störung (F45).
Die somatische Symptomatik führt häufig dazu, dass wiederholt Notdienste oder Klinikambulanzen in Anspruch genommen werden, ohne dass bei der
körperlichen Diagnostik ein pathologischer Befund erhoben werden kann. Abhängig vom Profil der körperlichen Symptomatik werden häufig Diagnosen wie
hyperkinetisches Herzsyndrom oder chronisches Hyperventilationssyndrom gestellt.
Panikattacken dauern unterschiedlich lange (durchschnittlich 30  min), wobei das Angstmaximum meist innerhalb weniger Minuten erreicht ist, die
Symptomatik aber auch 1–2 h anhalten kann.

Panikstörung
Eine Panikstörung liegt dann vor, wenn die Angstanfälle wiederholt auftreten und zu Veränderungen im Verhalten und in der Einstellung des Betreffenden
führen. Dazu gehören z.  B. die ständige Sorge, erneut eine Panikattacke zu erleiden, oder die Furcht vor negativen Konsequenzen der Anfälle (z.  B. die
Kontrolle zu verlieren oder an einem Herzinfarkt zu sterben; ➤ ). Die Panikattacken beginnen für den Betreffenden meist überraschend. Da keine organische
Ursache für die Symptomatik festgestellt werden kann, werden die Patienten mit ihren subjektiv als lebensbedrohlich und quälend empfundenen Beschwerden
häufig nicht ernst genommen. Nach mehrfachen Panikanfällen ist das Auftreten eines agoraphobischen Vermeidungsverhaltens sehr häufig. Dies entspricht
nach ICD-10 der Diagnose einer Agoraphobie mit Panikstörung. Gemieden werden entweder öffentliche Situationen wie Kaufhäuser, Straßenbahnen,
Busse, Kinos oder Wartesituationen, aber auch interozeptive Reize, die mit Panik assoziiert werden, wie z.  B. durch körperliche Aktivität ausgelöstes
Herzklopfen. Letzteres kann dazu führen, dass sich die Patienten über die Maßen schonen und infolgedessen erst recht auf körperliche Belastung mit
Herzklopfen oder Kurzatmigkeit reagieren.

Agoraphobie
Hauptsymptome der Agoraphobie sind zum einen die übergroße Furcht vor Situationen wie Menschenmengen, öffentlichen Plätzen oder Reisen und zum
anderen deren Meidung. Die Angst bezieht sich v.  a. auf öffentliche Situationen, aus denen eine Flucht nur unter erschwerten Bedingungen möglich ist.
Typische Aktivitäten, die nicht mehr oder nur mit größtem Unbehagen ausgeführt werden, sind z.  B.: in einer Warteschlange stehen, Bus, Zug oder Auto
fahren, ins Kino gehen oder allein das Haus verlassen. Bis zu 50  % der Patienten erleiden in einer oder mehreren der genannten Situationen zunächst
Panikattacken, bevor sich das agoraphobische Vermeidungsverhalten einstellt. Im späteren Verlauf können im klinischen Bild Panikattacken völlig fehlen, da
alle angstauslösenden Situationen erfolgreich gemieden werden (➤ ).

Tab. 7.6 Diagnosekriterien für die Agoraphobie nach ICD-10 (F40.0)


A. Deutliche und anhaltende Furcht vor oder Vermeidung von mindestens zwei der folgenden Situationen:

1. Menschenmengen

2. Öffentliche Plätze

3. Alleinreisen

4. Reisen mit weiter Entfernung von zu Hause

B. Wenigstens einmal nach Auftreten der Störung müssen in den gefürchteten Situationen mindestens zwei Angstsymptome aus der unten angegebenen
Liste (ein Symptom muss eines der Items 1 bis 4 sein) wenigstens zu einem Zeitpunkt gemeinsam vorhanden gewesen sein:

Vegetative Symptome:

1. Palpitationen, Herzklopfen oder erhöhte Herzfrequenz

2. Schweißausbrüche

3. Fein- oder grobschlägiger Tremor

4. Mundtrockenheit (nicht infolge von Medikation oder Exsikkose)

Symptome, die Thorax und Abdomen betreffen:

5. Atembeschwerden

6. Beklemmungsgefühl

7. Thoraxschmerzen oder -missempfindungen

8. Nausea oder abdominale Missempfindungen (z. B. Unruhegefühl im Magen)

Psychische Symptome:

9. Gefühl von Schwindel, Unsicherheit, Schwäche oder Benommenheit

10. Gefühl, die Objekte sind unwirklich (Derealisation) oder man selbst ist weit entfernt oder „nicht wirklich hier“ (Depersonalisation)

11. Angst vor Kontrollverlust, verrückt zu werden oder „auszuflippen“

12. Angst zu sterben

Allgemeine Symptome:

13. Hitzewallungen oder Kälteschauer

14. Gefühllosigkeit oder Kribbelgefühle

C. Deutliche emotionale Belastung durch das Vermeidungsverhalten oder die Angstsymptome; die Betroffenen haben die Einsicht, dass diese übertrieben
oder unvernünftig sind.

D. Die Symptome beschränken sich ausschließlich oder vornehmlich auf die gefürchteten Situationen oder Gedanken daran.

E. Häufigstes Ausschlusskriterium: Die Symptome des Kriteriums A sind nicht bedingt durch Wahn, Halluzinationen oder andere Symptome der
Störungsgruppen organische psychische Störungen (F0), Schizophrenie und verwandte Störungen (F2), affektive Störungen (F3) oder eine
Zwangsstörung (F42) oder sind nicht Folge einer kulturell akzeptierten Anschauung.

Ein zentrales Phänomen der Agoraphobie ist die Angst vor der Angst ( Erwartungsangst oder Phobophobie ). Die meisten Patienten klagen über ängstliche
Anspannung bereits vor der Konfrontation mit einer potenziell angstauslösenden Situation und erwarten von vornherein das Auftreten eines Angstanfalls
(„Gleich geht’s wieder los!“). Die Befürchtungen der Patienten richten sich dabei auch häufig auf den Aspekt, sich zu weit von „sicheren“ Orten oder Personen
zu entfernen oder keine „Fluchtmöglichkeit“ zu haben. Aus dieser Angst entwickelt sich häufig ein Sicherheitsverhalten: Durch „Hilfsmittel“ erleichtern sie
sich das Aufsuchen der entsprechenden Situationen. Sie führen z. B. ständig ein Medikament mit sich, schieben ein Fahrrad oder tragen draußen immer eine
Sonnenbrille.
Neben dem situativen Vermeidungsverhalten ist auch fast immer eine kognitive Meidung zu explorieren: Die Angst beim Straßenbahnfahren kann z.  B.
dadurch gemildert werden, dass sich der Patient die Möglichkeit eines früheren Aussteigens oder „sichere“ Haltestellen (z. B. in der Nähe der Hausarztpraxis)
gedanklich vor Augen führt oder sich ablenkt (z. B. durch Lesen, Handynutzung).

Merke
Charakteristisch für die Panikstörung mit Agoraphobie sind folgende Verhaltensmerkmale:

• Agoraphobisches Vermeidungsverhalten: Meiden von Situationen, in denen keine Möglichkeit zur schnellen
Flucht besteht oder keine schnelle Hilfe verfügbar wäre
• Interozeptive Vermeidung: Vermeidung von Situationen, die gefürchtete körperliche Reaktionen auslösen (z. 
B. Sport, Koffeingenuss)
• Kognitive Meidung: Wechsel des Aufmerksamkeitsfokus von Angstsymptomen oder angstauslösenden Stimuli
auf entlastende Inhalte
• Sicherheitsverhalten: Selbstberuhigung und -versicherung bzw. Vermeidung von Angstsymptomen durch
ständiges Mitführen von Hilfsmitteln

Obwohl den Patienten bewusst ist, wie irrational und übertrieben ihre Ängste sind, können sie infolge der Symptomatik oft viele wichtige Alltagsaktivitäten
nicht mehr oder nur in Begleitung ausführen. Die agoraphobische Angst kann so intensiv werden, dass der Betreffende das Haus nicht mehr allein verlassen
kann.

Klassifikation
Die reine Panikstörung äußert sich ausschließlich in Form von Panikanfällen (Panikstörung F41.0); in bis zu 50  % der Fälle wird sie jedoch durch ein
agoraphobisches Vermeidungsverhalten kompliziert (ICD-10: Agoraphobie mit Panikstörung F40.01; DSM-5®, ICD-11: beide Diagnosen). Eine isolierte
Agoraphobie ohne zumindest initial aufgetretene Panikattacken ist dagegen selten. Bei der Agoraphobie ohne Panikstörung (F40.00) soll sich die Hauptangst
nicht auf das Auftreten von Panik, sondern mehr auf körperlich bedrohliche Zustände beziehen, wie z. B. eine Ohnmacht oder einen Herzinfarkt.

Die unterschiedliche Terminologie in den Diagnosesystemen ist etwas verwirrend. Sie war durch divergierende ätiologische Überlegungen
bedingt, die den diagnostischen Systemen zugrunde lagen. Das DSM-IV postulierte, dass der Entwicklung einer Agoraphobie i.  d.  R. Panikattacken
vorausgehen, und verwendete deshalb die Diagnosen Panikstörung mit und ohne Agoraphobie. Die ICD-10 bezieht sich auf Freuds Einteilung der
Angstneurosen in Angsthysterien / Phobien (dazu wird die Agoraphobie gerechnet) und die frei flottierenden Ängste (denen die Panikstörung zugeordnet
wird). Sie stellt die phobische Angst in den Vordergrund der Diagnose, unabhängig davon, ob panikartige Ängste bestehen oder nicht. Im DSM-5® wurde
diese Problematik gelöst, indem Panikstörung und Agoraphobie als zwei getrennte Diagnosen geführt werden, die auch gemeinsam diagnostiziert werden
können. Diese Lösung wird auch in der ICD-11 gewählt werden.

7.3.2. Epidemiologie und Ätiologie


Epidemiologie
Isolierte Panikanfälle sind relativ häufig: Sie sollen bei etwa 15–30 % der Allgemeinbevölkerung mindestens einmal im Leben auftreten.
Die Lebenszeitprävalenz der Panikstörung liegt bei 2 %, die der Agoraphobie bei etwa 5 %. An einer Panikstörung leiden etwa doppelt so viele Frauen
wie Männer; für die Agoraphobie wird ein Geschlechterverhältnis von etwa 3–4  : 1 angegeben. Panikstörung und Agoraphobie beginnen meist im jungen
Erwachsenenalter (Median: 24 Jahre); eine Erstmanifestation vor der Pubertät oder nach dem 40. Lj. ist selten.
Die Komorbidität mit anderen psychischen Störungen ist hoch: Etwa 90  % der Panikpatienten und 75  % der von einer Agoraphobie Betroffenen leiden
unter mindestens einer weiteren Angststörung. Sehr häufig sind außerdem depressive Syndrome, gefolgt von Suchterkrankungen und Substanzmissbrauch.

Ätiologie
Ätiologische Modellvorstellungen für die Angststörungen i. Allg. wurden bereits dargestellt (➤ , ➤ ). Auf biologischer Seite besteht eine zumindest teilweise
bedingte genetische Vulnerabilität für die Entwicklung von bestimmten Angstreaktionen (z.  B. Panikattacken). Traumatische Ereignisse in der Kindheit
können diese „Anfälligkeit“ noch weiter verstärken. Schließlich kann es dann im Erwachsenenalter im Rahmen einer belastenden Lebenssituation zum
Ausbruch der Panikstörung bzw. Agoraphobie kommen. Als Initialzündung dient oft eine von verschiedenen Faktoren gespeiste vegetative „Überreaktion“ (z. 
B. durch chronische Konflikte in Kombination mit Schlafmangel und zu hohem Koffeingenuss). Diese wird über eine Hyperaktivität der Amygdala oder
anderer noradrenerger Systeme vermittelt. Die Überreaktion wird durch eine kognitive Bewertung der Körpersensationen als „gefährlich“ oder
„lebensbedrohlich“ weiter verstärkt. Auch akute Ereignisse wie körperliche Probleme (z.  B. orthostatische Dysregulation nach einem Infekt), die
lebensbedrohliche Erkrankung eines Angehörigen oder ein Unfall können am Beginn der Erkrankung stehen und die vegetative Entgleisung auslösen. In der
Folge nimmt die Dynamik der Angstsymptomatik durch das Zusammenspiel von vegetativem Hyperarousal, ängstlichen Gedanken und vermehrter
Selbstbeobachtung immer weiter zu.

Kasuistik
Fortsetzung
Bei der Jurastudentin führt die Kombination aus einer Überlastung durch Job und Studium, dem akuten Beziehungskonflikt, Schlafmangel und
Koffeingenuss im warmen Kaufhaus zu einer vegetativen Reaktion, die auf dem Boden einer entsprechenden Vulnerabilität in mehrfachen Panikattacken
eskaliert. In der Folge entwickeln sich die Angst vor der Angst (bzw. den körperlichen Reaktionen) und ein zunehmendes agoraphobisches
Vermeidungsverhalten.

Der Teufelskreis der Angst


Panikattacken lassen sich sehr gut als Teufelskreis sich aufschaukelnder Angst verstehen (➤ ) : Sie beginnen sehr häufig mit der Wahrnehmung (1)
körperlicher Reize (5) wie z. B. Herzklopfen oder leichtem Schwitzen. Das Auftreten der Körpersymptome seinerseits wird durch Stress oder Erwartungsangst
provoziert. In der Folge werden die eigentlich harmlosen Körpersensationen gedanklich als Gefahr bewertet (2) („Mit meinem Herzen stimmt etwas nicht!“
„Gleich kippe ich um!“). Das Auftreten der als „gefährlich“ beurteilten Situation führt auf emotionaler Ebene (3) z u Angst, die ihrerseits über die
entsprechenden physiologischen Mechanismen (4) (Stressreaktion!) zu typischen körperlichen Empfindungen (5) führt (Beschleunigung der Atemfrequenz,
Tachykardie, Erhöhung des Muskeltonus, Zittern etc.). Die Körpersensationen (5) werden wiederum wahrgenommen (1) und entsprechend kognitiv verarbeitet
(2) („Jetzt bekomme ich einen Herzinfarkt!“, „Ich werde ersticken!“). Auf diese Weise können sich Angst und die damit verbundenen körperlichen und
kognitiven Reaktionen zu einem dramatischen Ereignis aufschaukeln. Die Betroffenen entwickeln verschiedene Strategien, um die bedrohliche Angst zu
lindern: Sie verlassen die Situation, in der die Panik aufgetreten ist, suchen ärztliche Hilfe oder nehmen ein Medikament ein.

Abb. 7.1 Negativspirale der Angst bei Panikanfällen und Agoraphobie (Margraf und Schneider 2013) [G786 / L141]

Häufig können körperliche Störungen im Vorfeld der ersten Panikattacke exploriert werden, z. B. eine orthostatische Dysregulation nach grippalem Infekt
beim Stehen in einem warmen Bus. Einige Panikpatienten berichten auch über die schwere Erkrankung oder den Tod eines nahestehenden Menschen in den
Monaten vor der Erstmanifestation ihrer Angstanfälle. Während einer Panikattacke befürchten manche dieser Patienten, an der gleichen körperlichen
Erkrankung zu leiden wie der betreffende Angehörige.

Das Zwei-Faktoren-Modell der Angst nach Mowrer


Lerntheoretische Aspekte, insbesondere das Zwei-Faktoren-Modell nach Mowrer, tragen ebenfalls zum ätiologischen Verständnis bei. Das Modell beschreibt,
wie klassische und operante Konditionierungsprozesse bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Panikattacken und Agoraphobie zusammenwirken (vgl.
➤ und ➤ ).
Ein eigentlich neutraler Reiz (z. B. Kaufhaus) wird durch das gleichzeitige Auftreten einer objektiv bedrohlichen Situation (z. B. orthostatische Synkope in
der Warteschlange) zum konditionierten Stimulus, der dann später – ohne dass tatsächlich eine Gefahr besteht – Angst auslösen kann ( 1. Faktor: klassische
Konditionierung, ➤ ). Dass bestimmte Reiz-Reaktions-Verbindungen (Angst im Kaufhaus) leichter gelernt werden als andere, wird auf die bereits erläuterte
„biological preparedness“ zurückgeführt. Neben dieser exterozeptiven Konditionierung gibt es auch die interozeptive Konditionierung: Dabei werden
unterschiedliche körperliche Symptome miteinander gekoppelt, z. B. bekommt eine Panikpatientin bei Herzklopfen immer Angst.
Abb. 7.2 Klassische Konditionierung bei der Entstehung der Agoraphobie [M516 / L141]

Insbesondere die Aufrechterhaltung des agoraphobischen Vermeidungsverhaltens lässt sich durch operante Konditionierungsprozesse (2. Faktor)
erklären, d. h. durch das Lernen aus den Konsequenzen des eigenen Verhaltens: Wird der angstauslösende konditionierte Stimulus (z. B. Kaufhaus) fluchtartig
verlassen oder gemieden, lässt die Angst zunächst meist nach. Der Wegfall der negativen Konsequenz „Angst“ führt jedoch dazu, dass das Auftreten des
Flucht- und Meidungsverhaltens verstärkt wird. Der Betreffende erlebt dadurch zwar eine kurzfristige Linderung der für ihn so bedrohlichen
Angstsymptomatik. Aber unglücklicherweise verhindert gerade diese Meidung eine Angstbewältigung und bewirkt mittelfristig oft eine Ausweitung der als
angstauslösend erlebten Stimuli (= Reizgeneralisierung), d.  h., neben dem Kaufhausbesuch verursachen schließlich immer mehr verschiedene Situationen
Panikanfälle (Besuch der Vorlesung, das unbegleitete Verlassen des Hauses usw.). Ein zunehmendes Vermeidungsverhalten bewirkt seinerseits wachsende
Einschränkungen der persönlichen Mobilität.

7.3.3. Diagnostik und Differenzialdiagnostik


Der diagnostische Prozess erfolgt in den für die Angststörungen allgemein genannten Schritten. Zu beachten ist, dass schwer agoraphobische Patienten
zunächst oft keine Angstanfälle schildern können, wenn sie alle potenziell angstauslösenden Situationen vermeiden. Vielen Patienten fällt es außerdem schwer,
sich im Gespräch, mit Angstfragebogen oder in einem Tagebuch näher mit ihrer Symptomatik auseinanderzusetzen, weil allein die gedankliche Beschäftigung
mit dem Thema Angst oder bestimmten Körpersymptomen Panik auslösen kann und daher gern gemieden wird (kognitive Meidung!).
Patient und Therapeut können i.  d.  R. ein sehr viel besseres Verständnis von der Störung entwickeln, sobald im Rahmen einer Verhaltenstherapie die
Problemanalyse anhand des SORK-Modells erarbeitet ist. In ➤ (➤ ) wird gezeigt, wie die funktionale Analyse für die eingangs vorgestellte Jurastudentin
aussehen könnte.
Eine ausführliche Darstellung der psychischen und körperlichen Erkrankungen, die bei Panikstörung und Agoraphobie differenzialdiagnostisch infrage
kommen, findet sich in ➤ .

7.3.4. Therapie und Prognose


Therapie
Patienten mit einer Agoraphobie / Panikstörung sollte zunächst Psychotherapie oder Pharmakotherapie als Monotherapie angeboten werden, da sie beide
gut wirksam sind. Die Entscheidung für eines der Verfahren wird in unkomplizierten Fällen von der Präferenz des informierten Patienten und den vor Ort zur
Verfügung stehenden Behandlungsmöglichkeiten abhängen. Bei längerem Verlauf, Komorbiditäten und Versagen der Monotherapie wird eine Kombination
aus Psychotherapie und Pharmakotherapie empfohlen. In der klinischen Praxis wird angesichts langer Wartezeiten für eine Psychotherapie als Erstes häufig
eine medikamentöse Behandlung begonnen, um eine Linderung der Symptomatik zu erzielen. Eine später eingeleitete additive Psychotherapie führt meistens
zu zusätzlicher Stabilisierung und erleichtert durch die vermittelten Bewältigungsstrategien das spätere Ausschleichen des Medikaments.

Vergleichende Effektstärken
Die Effektstärke (➤ ) einer psychotherapeutischen Behandlung der Panikstörung  /  Agoraphobie wird auf 0,35 geschätzt; sie liegt damit knapp im mittleren
Bereich. Die Schätzung ist aber aufgrund der vergleichsweise kleinen Studien ungenau (Konfidenzbereich 0,04–0,65). Die meisten Daten liegen für die
kognitive Verhaltenstherapie vor. Die Effektstärke einer medikamentösen Therapie der Panikstörung beträgt 0,38. Die Schätzung ist aufgrund der hohen
Patientenzahlen (> 7.000 in Studien behandelte Patienten) sehr genau (Konfidenzintervall 0,31–0,45). Zusammengefasst sind also Medikamente und
Psychotherapie bei Panikstörung wahrscheinlich gleich wirksam. Kleinere Studien legen nahe, dass Patienten, die eine Pharmakotherapie erhalten haben, von
einer additiv angebotenen Psychotherapie mit einer zusätzlichen Effektstärke von 0,24 profitieren. Patienten, die eine Psychotherapie erhalten haben, ziehen
dagegen aus einer zusätzlich angebotenen Pharmakotherapie vergleichsweise weniger Gewinn.

Psychotherapie
Die solidesten Wirksamkeitsnachweise in der psychotherapeutischen Behandlung der Panikstörung oder Agoraphobie gibt es für die störungsorientierte
kognitive Verhaltenstherapie (KVT), deren zentrale Elemente eine Exposition in sensu und in vivo mit Reaktionsmanagement (➤ ) sowie die Modifikation
dysfunktionaler Kognitionen bilden. Mit einer therapeutenbegleiteten Reizkonfrontation wird höchstwahrscheinlich kurz- und mittelfristig ein deutlich
besseres Outcome erzielt als mit einer Exposition in Eigenregie.

Reizkonfrontation/Expositionsbehandlung

• Voraussetzungen: Die Wirksamkeit von Expositionsverfahren bei der Agoraphobie ist sehr gut dokumentiert. Die Durchführung setzt jedoch
voraus, dass Beziehungsaufbau, Diagnostik und Psychoedukation gründlich erfolgt sind. Die erfolgreiche Behandlung der Angst ist nur möglich,
wenn überdies auch die aufrechterhaltenden Bedingungen (Funktionalität) der Störung berücksichtigt werden. Dass die Jurastudentin im
Fallbeispiel durch ihre Angsterkrankung von Belastungen in Studium und Partnerschaft zunächst entlastet wird, stellt für die Therapie eine wichtige
Tatsache dar.
• Ziel der Behandlung ist letztlich, das phobietypische Vermeidungsverhalten durch sinnvollere und mittelfristig erfolgreichere Strategien der
Angstbewältigung zu ersetzen.
• Durchführung der Expositionsbehandlung: Die Konfrontationsbehandlung (graduierte Exposition in vivo) am Beispiel der Jurastudentin wird in
➤ beschrieben.

Angstanfälle, die vorwiegend durch interozeptive Reize ausgelöst werden ( spontane Panikattacken ), sprechen gut auf eine Behandlung mit kognitiven
Verfahren an. Der Patient erarbeitet sich dabei seine persönliche Negativspirale der Angst und lernt, angstverstärkende, unrealistische Bewertungen
körperlicher Symptome zu identifizieren (z. B. „Mein Herz rast, es setzt gleich aus!“) und durch angemessenere Gedanken zu ersetzen (z. B. „Dass mein Herz
jetzt schneller schlägt, ist eine ganz normale Reaktion meines Körpers; mein Herz ist in Ordnung“). Gefürchtete Körpersensationen, z. B. Herzklopfen, können
zu Übungszwecken gezielt provoziert werden (forciertes Treppensteigen, Kniebeugen).
Wenn eine KVT nicht zur Verfügung steht, vom Patienten nicht gewünscht wird oder sich trotz Kombination mit Pharmakotherapie nicht als wirksam
erweist, soll eine psychodynamische Psychotherapie empfohlen werden. Erste Wirksamkeitsnachweise liegen für die manualgeleitete panikfokussierte
psychodynamische Psychotherapie (PFPP) nach Milrod vor.

Medikamentöse Therapie
Eine medikamentöse Behandlung der Panikstörung  /  Agoraphobie ist sinnvoll, wenn ein Patient keine Psychotherapie wünscht oder eine solche akut nicht
verfügbar ist. Eine Pharmakotherapie sollte auch begonnen werden, wenn eine chronifizierte Symptomatik vorliegt, die auf eine psychotherapeutische
Maßnahme nur unzureichend anspricht, oder wenn zusätzlich ein anhaltendes depressives Syndrom besteht.
Als Mittel der 1. Wahl für die Pharmakotherapie der Panikstörung / Agoraphobie gelten heute SSRIs und SSNRIs. Alle in Deutschland erhältlichen SSRIs
sind wirksam. Zugelassen für diese Indikation sind aber nur Citalopram, Escitalopram, Paroxetin und Sertralin. Alternativ kommt auch der in Deutschland
für diese Indikation zugelassene SSNRI Venlafaxin in Betracht.
Als 2. Wahl können bei Versagen oder Unverträglichkeit von SSRIs  /  SSNRIs auch serotonerg wirksame Trizyklika wie Imipramin und Clomipramin
eingesetzt werden, wobei nur für Letzteres eine Zulassung besteht.

Praxistipp
Es ist empfehlenswert, die medikamentöse Behandlung mit sehr niedrigen Dosen zu beginnen und behutsam aufzudosieren, da viele Patienten sensitiv auf
die initial bestehenden, aber meist vorübergehenden unerwünschten Wirkungen reagieren (z.  B. vermehrte Unruhe, Schlafstörungen). Ein sorgfältiger
Informationsaustausch darüber wie auch über die erst nach 2–6  Wochen einsetzende Wirkung der Medikation kann das Risiko für einen
Behandlungsabbruch deutlich reduzieren. Die empfohlenen Zieldosen der SSRIs / SSNRIs entsprechen zwar den in der Depressionsbehandlung üblichen
Mengen, manche Patienten sprechen aber schon auf niedrigere Dosen an. Nach Remission der Symptome sollte das Medikament in der aktuellen
Dosierung weitere 6–12 Monate eingenommen werden. Wenn die medikamentöse Behandlung beendet werden soll, ist ein langsames Ausschleichen über
Wochen anzuraten.
Die pharmakologische Behandlung sollte im Rahmen von stützenden psychiatrischen Gesprächen erfolgen, die Zuwendung, Unterstützung und
Ermutigung des Patienten, einen ausführlichen Informationsaustausch zur Entstehung der Erkrankung und der Wirkung der Medikation sowie einfache
Strategien zum Selbstmanagement körperlicher Angstsymptome und Vermeidungsverhalten beinhalten sollten.

Benzodiazepine können als Akutmedikation bei schwersten, durch Gespräch und Beruhigung nicht beeinflussbaren Panikattacken angewandt werden.
Bewährt hat sich hier z. B. die orale Gabe von Lorazepam 1–2,5 mg (das aber für diese Indikation eigentlich nicht zugelassen ist). Als einziges Benzodiazepin-
Präparat hat Alprazolam eine Zulassung für die Behandlung der Panikstörung/Agoraphobie (Dosierung: 0,5–2 mg). Eine gute Wirksamkeit konnte bei längerer
Anwendung von Alprazolam, Clonazepam, Diazepam und Lorazepam zwar gezeigt werden; es besteht jedoch die Gefahr der Abhängigkeitsentwicklung.
Auch die Verschlechterung kognitiver Fähigkeiten und die daraus resultierenden Konsequenzen (z.  B. beeinträchtigte Fahrtauglichkeit) müssen bedacht
werden. Daher sollten Benzodiazepine als Dauerbehandlung nur zur Anwendung kommen, wenn alle anderen Therapieverfahren erfolglos waren oder
kontraindiziert sind.
Nachteil einer reinen Pharmakotherapie ist, dass die Patienten keine aktiven Strategien zur Angstbewältigung erlernen und das Rückfallrisiko nach Absetzen
des Medikaments wahrscheinlich höher ist als bei einer alleinigen Behandlung mit KVT.
Zu erwähnen ist, dass auch sportliches Ausdauertraining eine günstige Wirkung auf die Symptomatik aufweist.

Merke
Therapie der Panikstörung und Agoraphobie:

• 1. Wahl: Monotherapie: KVT oder SSRI / SSNRI


• 2. Wahl: KVT kombiniert mit SSRI / SSNRI
• 3. Wahl: Clomipramin, psychodynamische Psychotherapie

Verlauf und Prognose


Unbehandelt verlaufen Panikstörung und Agoraphobie meist chronisch, wobei längere symptomfreie Intervalle und Phasen massiver Angst abwechselnd
auftreten können. Spontanheilungen sind eher ungewöhnlich (etwa 10–15 %). Für die verhaltenstherapeutische Behandlung der Agoraphobie und Panikstörung
werden gute, auch langfristig wirksame Effekte beschrieben (hohe Stabilität des Therapieerfolgs, niedrige Rückfallquoten).
7.4. Soziale Phobie
7.4.1. Symptomatik und Klassifikation
Unter der sozialen Phobie versteht man eine Störung, bei der die Angst vor und die Vermeidung von Situationen mit relativ wenigen Menschen wie z. B. Essen
in Gesellschaft von Kollegen, Teilnahme an einer Besprechung oder der Einkauf in einem kleinen Geschäft im Mittelpunkt der Symptomatik stehen. Die
Betreffenden wirken im Kontakt zunächst unauffällig, kommen aber bei Konfrontation mit Menschen in kleinen Gruppen unter Druck, da sie die prüfende
Betrachtung durch den „Blick der anderen“ fürchten. Dabei haben sie Schwierigkeiten, mit anderen Menschen unbefangen Blickkontakt aufzunehmen oder zu
halten. Während sie Situationen in größeren Menschenmengen häufig ohne größere Probleme bewältigen, fühlen sie sich z. B. in einem wenig besuchten Café
sehr unwohl und von anderen Gästen beobachtet und bewertet. Diese Angst führt zu einer zunehmenden Vermeidung sozialer Situationen oder dazu, dass diese
nur unter großer Angst durchgestanden werden.
Die betreffende Person befürchtet insbesondere, durch ungeschicktes oder peinliches Verhalten oder durch sichtbare Körpersymptome Aufmerksamkeit auf
sich zu ziehen, sich zu blamieren und negativ bewertet zu werden. Neben allgemeinen Angstsymptomen, die sich im Extremfall bis zur Panikattacke
steigern können, treten häufig weitere Symptome auf wie Erröten, Zittern, Angst zu erbrechen oder Angst, die Kontrolle über Ausscheidungsfunktionen zu
verlieren. Die Angstreaktion beginnt, sobald die entsprechende Situation aufgesucht wird. Sie kann nicht verhindert werden, obwohl sie dem Betreffenden
unsinnig und übertrieben erscheint. Je nach Schweregrad der Störung sind berufliches und schulisches Leistungsvermögen, Beziehungsgestaltung und
Freizeitaktivitäten in unterschiedlichem Maße beeinträchtigt.
Knapp die Hälfte der Betroffenen leidet unter einer generalisierten sozialen Phobie, bei der zahlreiche soziale Aktivitäten gefürchtet und gemieden werden.
Die isolierte soziale Phobie manifestiert sich meist als Redeangst (d. h. als Angst, vor Gruppen zu sprechen). Im DSM-5® wie auch im Entwurf der ICD-11
wird mittlerweile der Begriff der sozialen Angststörung (SAS) verwendet.

7.4.2. Epidemiologie und Ätiologie


Epidemiologie
Die soziale Phobie ist relativ häufig. Die mittlere Lebenszeitprävalenz in der Allgemeinbevölkerung liegt bei etwa 6 %. Frauen sind etwas häufiger
betroffen als Männer (1,4 : 1), wobei mehr Männer aufgrund der Störung behandelt werden (was wahrscheinlich auf geschlechtsspezifische Rollenerwartungen
und gesellschaftliche Normen zurückgeführt werden kann). Die Störung beginnt meistens in der Adoleszenz (Median 13 Jahre) und selten nach dem 25. Lj. Die
psychiatrische Komorbidität bei der sozialen Phobie ist hoch: Die Lebenszeitprävalenz für mindestens eine weitere psychische Erkrankung beträgt ca. 80 %!
Am häufigsten treten eine weitere Angststörung (in knapp 60 % der Fälle), affektive Störungen (um 40 %) oder Substanzmissbrauch bzw. -abhängigkeit (ca. 40 
%) auf. Häufig werden Alkohol oder Benzodiazepine zur Selbstbehandlung eingesetzt, da diese Substanzen kurzfristig anxiolytisch wirken. Aufgrund ihrer
Neigung, soziale Situationen zu vermeiden, stellen sich viele Patienten erst dann beim Arzt vor, wenn zusätzliche Probleme wie z. B. eine depressive Episode
eine Beratung unumgänglich machen.

Ätiologie
Auch der Entstehung der sozialen Phobie liegt nach heutigem Wissensstand ein multifaktorielles Geschehen mit biologischen, psychologischen und sozialen
Elementen zugrunde.
Zwillingsstudien erbrachten Konkordanzraten zwischen 24 und 51 %, was einen moderaten genetischen Einfluss widerspiegelt. Es wird vermutet, dass
bei der sozialen Phobie eine Dysfunktion serotonerger Projektionen vom Hirnstamm zu den Amygdalae und zum frontalen Kortex vorliegt. Bildgebende
Verfahren zeigten eine erhöhte Erregbarkeit der Amygdala, wenn unbehandelten Patienten Fotos von Gesichtern mit ärgerlichem Gesichtsausdruck gezeigt
wurden. Nach erfolgreicher Therapie war diese Überaktivität rückläufig.

Möglicherweise bildet eine herabgesetzte Reizschwelle bestimmter neuronaler Angstsysteme (u.  a. der Amygdalae) einen Vulnerabilitätsfaktor,
der bei Konfrontation mit sozialen Stimuli zu einer raschen und überschießenden Angstreaktion führt. Die Bereitschaft, auf ärgerliche oder kritische
Gesichtsausdrücke ängstlich zu reagieren, könnte darüber hinaus im evolutionsbiologischen Sinne als „biological preparedness“ interpretiert werden,
welche die Überlebenswahrscheinlichkeit einer Spezies erhöht. Diese spezifische Angstbereitschaft könnte körperlich unterlegenen Mitgliedern einer
Gruppe den Vorteil bieten, sich wechselnden „Hackordnungen“ besser anzupassen und dadurch die eigene Überlebenswahrscheinlichkeit zu verbessern.

Auch Temperamentsfaktoren wie Konzepte der behavioral inhibition (Verhaltenshemmung) mit bereits im Kleinkindalter beobachtbaren überschießenden
Reaktionen in neuartigen (sozialen) Situationen können zu den Vulnerabilitätsfaktoren für die spätere Entwicklung einer sozialen Phobie gerechnet werden.
Frühe Erfahrungen ablehnender, abwertender, beschämender oder überprotektiver Beziehungsgestaltung durch die primären Bezugspersonen können ebenfalls
zu einer erhöhten Vulnerabilität für spätere soziale Ängste beitragen.
Umschriebene Auslöser für den Beginn einer sozialphobischen Symptomatik stellen manchmal beschämende soziale Erfahrungen dar wie z.  B. eine
abwertende Bemerkung des Lehrers auf ein Referat vor versammelter Klasse. Aber auch Lebensveränderungen wie der Eintritt in die Pubertät mit
entsprechenden körperlichen Veränderungen und den erforderlichen sozialen Adaptationsprozessen können für die soziale Phobie eine Art Initialzündung
darstellen. Zu den auslösenden und aufrechterhaltenden Faktoren wird gerechnet, dass sozialphobische Menschen häufig an ausgeprägten Selbstzweifeln
leiden und perfektionistische Ansprüche an sich und ihr soziales Auftreten stellen. Menschen mit sozialer Phobie sind in sozialen Situationen mehr mit ihrem
eigenen Auftreten und befürchteten Angstsymptomen beschäftigt als mit den tatsächlichen Reaktionen des Gegenübers (Konzept der erhöhten
Selbstaufmerksamkeit ). Durch „vorbereitende Maßnahmen“ wie z.  B. das Tragen eines weiten Kleidungsstücks, in dem ein befürchtetes Schwitzen
unsichtbar bleiben soll, versuchen sie, ihre Erwartungsangst in den Griff zu bekommen ( Sicherheitsverhalten ). Allerdings zeigt sich deutlich, dass sowohl
erhöhte Selbstaufmerksamkeit als auch Sicherheitsverhalten wiederum zur Verstärkung der Angst beitragen. Das gilt auch für das von den Patienten zur
Angstbewältigung praktizierte Vermeidungsverhalten. Kognitive Verzerrungen, die durch die oben erwähnten perfektionistischen Grundüberzeugungen
gespeist werden, tragen darüber hinaus zu einer Eskalation der Ängste bei (z. B. „Beim Smalltalk fällt mir nie etwas ein. Alle anderen sind viel schlagfertiger
und spritziger als ich“). Katastrophisierendes Denken ist ebenfalls ein häufiges Phänomen („Ich werde rot anlaufen und dastehen wie ein begossener Pudel, und
alle starren mich an“).
Psychodynamische Modelle erklären die Entwicklung der sozialen Phobie über eine Konfliktpathologie des Betreffenden aus dem Wunsch nach Akzeptanz
und Wertschätzung einerseits und befürchteter Erniedrigung oder Beschämung durch das Gegenüber andererseits. Als maßgeblich für die Entwicklung dieser
Struktur werden u.  a. aversive Beziehungserfahrungen (mit Erleben von Zurückweisung, Entwertung oder Beschämung), das Fehlen von positiven,
anerkennenden Introjekten oder unsichere Bindungsstile betrachtet.

7.4.3. Diagnostik und Differenzialdiagnostik


Soziale Phobien werden nicht immer auf Anhieb erkannt. Zum einen verschweigen die Patienten aus Scham oft das tatsächliche Ausmaß ihrer Probleme. Zum
anderen kann der Betreffende im entsprechenden Umfeld (zu Hause, in großen Menschenmengen) durchaus unauffälliges Verhalten und Selbstbewusstsein
zeigen. Zudem stellen sich viele Patienten primär nicht aufgrund der sozialen Ängste, sondern wegen einer anderen psychischen Problematik (z. B. Depression)
vor.
Charakteristisch für die soziale Phobie ist die Angst, sich in der Öffentlichkeit auf extreme Weise zu blamieren bzw. für sein Aussehen oder Verhalten
negativ bewertet zu werden. In Abgrenzung dazu ist die Agoraphobie v. a. von der Angst geprägt, eine starke Körperreaktion zu entwickeln, die mit einem
massiven Gefühl vitaler Bedrohung, mit Hilflosigkeit und Kontrollverlust einhergeht. An das alternative oder komorbide Vorliegen einer ängstlich-
vermeidenden Persönlichkeitsstörung sollte differenzialdiagnostisch gedacht werden (➤ ). Hier bestehen nicht nur Ängste vor dem Blick der anderen, sondern
auch eine Vielzahl weiterer Ängste und Sorgen, ein deutlich herabgesetztes Selbstwerterleben und Vermeidungsverhalten für eine Vielzahl von
Alltagssituationen. Auch andere psychische Störungen wie z. B. depressive Syndrome oder eine Suchterkrankung können Ursache sozialer Ängste sein.
Nach der ICD-10 müssen für die Diagnose der sozialen Phobie die in ➤ genannten Kriterien erfüllt sein.
Tab. 7.7 Diagnostische Kriterien für die soziale Phobie nach ICD-10 (F40.1)
A. Entweder 1 oder 2:

1. Deutliche Furcht, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen oder sich peinlich oder erniedrigend zu verhalten

2. Deutliche Vermeidung, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen oder von Situationen, in denen die Angst besteht, sich peinlich oder
erniedrigend zu verhalten

Diese Ängste treten in sozialen Situationen auf wie Essen oder Sprechen in der Öffentlichkeit, Hinzukommen zu oder Teilnahme an kleinen Gruppen,
z. B. bei Partys, Konferenzen oder in Klassenräumen.

B. Mindestens zwei Angstsymptome in den gefürchteten Situationen mindestens einmal seit Auftreten der Störung, wie in F40.0, Kriterium B., definiert,
sowie zusätzlich mindestens eines der folgenden Symptome:

a. Erröten oder Zittern

b. Angst zu erbrechen

c. Miktions- oder Defäkationsdrang bzw. Angst davor

C. Deutliche emotionale Belastung durch die Angstsymptome oder das Vermeidungsverhalten. Einsicht, dass die Symptome oder das
Vermeidungsverhalten übertrieben und unvernünftig sind.

D. Die Symptome beschränken sich ausschließlich oder vornehmlich auf die gefürchteten Situationen oder auf Gedanken an diese.

E. Häufigstes Ausschlusskriterium: Die Symptome des Kriteriums A sind nicht bedingt durch Wahn, Halluzinationen oder andere Symptome der
Störungsgruppen organische psychische Störungen (F0), Schizophrenie und verwandte Störungen (F2), affektive Störungen (F3) oder eine
Zwangsstörung (F42) oder sind nicht Folge einer kulturell akzeptierten Anschauung.

7.4.4. Therapie und Prognose


Therapie
Auch bei der sozialen Phobie sollte den Patienten sowohl eine psychotherapeutische als auch eine medikamentöse Behandlung angeboten werden.

Vergleichende Effektstärken
Die Effektstärke (➤ ) einer psychotherapeutischen Behandlung (v. a. kognitive Verhaltenstherapie) der sozialen Phobie liegt bei 0,62 und damit im mittleren bis
hohen Bereich (Konfidenzbereich 0,39–0,86). Die Effekte einer medikamentösen Therapie werden auf 0,55 geschätzt. Die Schätzung ist aufgrund der hohen
Patientenzahlen (> 7.000 in Studien behandelte Patienten) sehr genau (Konfidenzintervall 0,49–0,60). Zusammengefasst sind Medikamente und
Psychotherapie bei sozialer Phobie also wahrscheinlich gleich wirksam, mit leichter Überlegenheit für die Psychotherapie. Im Gegensatz zur Panikstörung
weisen Studien darauf hin, dass Patienten mit sozialer Phobie, die eine Psychotherapie erhalten haben, von einer additiv angebotenen Pharmakotherapie mit
einer zusätzlichen Effektstärke von 0,42 profitieren. Patienten, die eine Pharmakotherapie erhalten haben, ziehen dagegen aus einer zusätzlich angebotenen
Psychotherapie vergleichsweise weniger Gewinn.

Psychotherapie
Eine gute Wirksamkeit konnte für kognitiv-behaviorale Therapieprogramme nachgewiesen werden, insbesondere wenn sie eine Expositionsbehandlung
beinhalten. Weitere Bestandteile sind die Bearbeitung erhöhter Selbstaufmerksamkeit, die Reduktion von Sicherheitsverhalten und Interventionen zur
Überprüfung und Veränderung dysfunktionaler Kognitionen. Letztere beinhalten meistens die unangemessene Wahrnehmung der eigenen Person als
inkompetent und die Erwartung, dass andere Menschen sich stets extrem kritisch äußern oder entsprechend denken. Ziel ist somit auch eine Veränderung der
negativen Selbstwahrnehmung.
Eine manualisierte, störungsorientierte psychodynamische Kurzzeittherapie zur Behandlung der sozialen Phobie nach Leichsenring erbrachte in einer
randomisierten, kontrollierten Studie (RCT) vergleichbare Ergebnisse wie ein kognitiv-behaviorales Therapieprogramm. Sie bezieht sich auf die supportiv-
expressive Therapie nach Luborsky und setzt zwei Schwerpunkte: Zum einen werden unterstützende und validierende Interventionen eingesetzt, um Funktionen
der Ich-Struktur zu unterstützen. Zum anderen wird ein zentrales Konfliktthema erarbeitet und in verschiedenen Beziehungen sowie durch Selbstexposition
bearbeitet. Emotional wird der Affekt „Scham“ fokussiert, kognitiv werden überhöhte Leistungsansprüche an die eigene Person erarbeitet und benannt. Die
Therapie ist klar strukturiert und zielorientiert; sie berücksichtigt die Einschränkungen des Patienten und die damit verbundenen Übertragungsprozesse. Das
Therapeutenverhalten ist aktiv.

Medikamentöse Therapie
Als Mittel der 1. Wahl für die medikamentöse Therapie der sozialen Phobie gelten heute die SSRIs. In Deutschland sind für diese Indikation die Substanzen
Escitalopram, Paroxetin und Sertralin zugelassen. Auch der SSNRI Venlafaxin ist bei nachweislich guter Wirksamkeit für die Behandlung der Störung
zugelassen. Es werden die bei der Depressionsbehandlung üblichen Dosierungen eingesetzt (➤ , ➤ ).
Moclobemid (ein reversibler MAO-Hemmer) ist für die Indikation soziale Phobie zugelassen und kann gegeben werden, wenn SSRIs / SSNRIs unwirksam
waren oder nicht vertragen wurden. Tranylcypromin als irreversibler MAO-Hemmer soll ebenfalls wirksam sein, ist jedoch aufgrund der einzuhaltenden Diät
und des höheren Risikos für unerwünschte Nebenwirkungen nicht unbedingt zu empfehlen (Off-Label-Use).
Das für die Behandlung der generalisierten Angststörung zugelassene Antikonvulsivum Pregabalin ist möglicherweise auch bei der sozialen Phobie wirksam,
ebenso Gabapentin (Off-Label-Use).
Das Benzodiazepin-Präparat Clonazepam ist bei der sozialen Phobie wirksam und in Deutschland dafür zugelassen. Aufgrund der Gefahr einer Toleranz-
und Suchtentwicklung sollten aber besser andere Alternativen ausgeschöpft werden.
Für die oft bei sozialen Ängsten verschriebenen Betablocker konnte bislang kein Wirksamkeitsnachweis erbracht werden. Eine günstige Wirkung von
Betablockern wurde bislang nur für bestimmte isolierte vegetative Reaktionen bei „Lampenfieber“ von Musikern oder Schauspielern beschrieben.

Verlauf und Prognose


Die soziale Phobie verläuft i. d. R. chronisch mit einer durchschnittlichen Dauer von 20 Jahren. Spontanremissionen sind sehr selten. Am häufigsten findet sich
ein wellenförmiger Verlauf. Als prognostisch günstig gelten eine minder stark ausgeprägte Symptomatik, ein später Beginn der Störung (> 11 Jahre), höherer
Bildungsgrad und fehlende Komorbidität.

7.5. Spezifische (isolierte) Phobien


7.5.1. Symptomatik und Klassifikation
Bei der spezifischen Phobie leidet der Betreffende an einer umschriebenen Angst vor einem bestimmten Objekt oder einer klar umschriebenen Situation.
Häufig beziehen sich die Ängste auf Tiere (z. B. Spinnen, Schlangen, Insekten, Hunde), Naturelemente (Gewitter, Wasser), räumliche Gegebenheiten (Höhe,
enge, geschlossene Räume wie Aufzüge, Autos) oder Verletzungen, Blut und medizinische Interventionen (Spritzen, Zahnarztbesuche). Im DSM-5® wird
daher eine vom phobischen Stimulus abhängige Unterteilung angeboten: in Stimuli vom Tier-, Umwelt-, Blut-Spritzen-Verletzungs-, situativen Typ (z. B.
Fahrstühle) oder eines anderen Typs (z. B. Situationen, die zu Ersticken oder Erbrechen führen; bei Kindern: laute Geräusche, kostümierte Figuren).
Die Konfrontation mit dem entsprechenden Lebewesen oder der gefürchteten Situation führt zu einer Angstreaktion, die sich bis zum Panikanfall steigern
kann. Der Betreffende vermag die Angstreaktion nicht zu unterdrücken, obwohl sie ihm selbst irrational und unangemessen vorkommt. Die Angst tritt am
stärksten auf, wenn eine direkte Konfrontation mit dem gefürchteten Objekt stattfindet. Weniger ausgeprägt kann sie durch die Erwartung der gefürchteten
Situation oder durch entsprechende Inhalte in Medien ausgelöst werden. Die Konfrontation mit den angstauslösenden Reizen wird nach Möglichkeit gemieden
(Vermeidungsverhalten).

Die Blut-, Injektions- und Verletzungsphobien nehmen in dieser Gruppe eine gewisse Sonderstellung ein: Bei ihnen führt die Konfrontation mit
der angstauslösenden Situation im Gegensatz zu den anderen spezifischen Phobien relativ häufig zu einer vegetativen Dysregulation mit nachfolgender
orthostatischer Synkope. Die Vermeidung der entsprechenden Situationen (z. B. Zahn- / Arztbesuch) kann für den Betreffenden erhebliche negative Folgen
haben.

Bei einem Großteil der spezifischen Phobien ist der subjektive Leidensdruck nicht sehr hoch, da sie die persönliche Lebensführung nur in geringem Maße
beeinträchtigen. Daher sollte die Symptomatik entsprechend den neueren Klassifikationen (nicht jedoch der ICD-10) nur dann als Diagnose codiert werden,
wenn Angst und Vermeidung über 6 Monate anhalten (DSM-5®) und zu erheblichem Leiden und deutlichen Beeinträchtigungen in persönlichen, familiären,
schulischen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen führen (ICD-11).
Betroffene Personen fürchten meistens mehrere verschiedene Situationen oder Objekte (durchschnittlich drei). Bei mittlerer Beeinträchtigung werden
zunächst meist Beratungsstellen, Haus- oder Kinder- und Jugendärzte in Anspruch genommen. Ernsthafte Schwierigkeiten ergeben sich, wenn die gefürchteten
Situationen im Alltag oder Berufsleben nicht vermieden werden können und die Alltagsbewältigung oder das berufliche Fortkommen behindern (z.  B.
Flugangst bei Geschäftsreisenden). Zu einem schwerwiegenden Problem kann eine isolierte Blut-, Spritzen- oder Arztphobie durch akute körperliche
Erkrankungen oder Zahnschmerzen werden. Patienten mit Zahnarztphobie werden gelegentlich beim Facharzt für Psychiatrie vorstellig, wenn ein Attest für die
Durchführung einer Zahnsanierung unter Vollnarkose bei der Krankenversicherung vorgelegt werden soll.

Gebräuchliche Bezeichnungen für einzelne spezifische Phobien:

• Akrophobie = Höhenangst

• Arachnophobie = Angst vor Spinnen

• Aviophobie = Flugangst

• Dentalphobie = Angst vor zahnärztlichen Interventionen

• Klaustrophobie = Angst vor engen, geschlossenen Räumen

• Zoophobie = Angst vor Tieren

7.5.2. Epidemiologie und Ätiologie


Spezifische Phobien sind sehr häufig. Ihre Lebenszeitprävalenz in der Allgemeinbevölkerung liegt bei etwa 8 %. Am häufigsten sollen Tierphobien und
Höhenängste sein. Die 12-Monats-Prävalenzraten schwanken altersabhängig zwischen 3 und 16  %. Bei Kindern werden sie mit ca. 5  % angegeben, in der
Adoleszenz zwischen dem 13. und 17. Lj. mit 16 %, im höheren Lebensalter mit 3 %.
Die spezifische Phobie entwickelt sich typischerweise in der frühen Kindheit vor dem 10. Lj. Gelegentlich beginnt sie nach einem umschriebenen
bedrohlichen Ereignis. In der überwiegenden Zahl der Fälle kann ein spezifischer Auslöser für den Beginn der Phobie jedoch nicht benannt werden. Frauen
sind im Verhältnis von 2 : 1 häufiger betroffen. Eine Ausnahme stellen die Blut-, Injektions- und Verletzungsphobien dar: Hier soll das Geschlechterverhältnis
in etwa ausgeglichen sein. Die spezifischen Phobien verlaufen im Kindesalter stark fluktuierend und zeigen bis zum Eintritt in die Adoleszenz eine hohe
Tendenz zur Spontanremission. Spezifische Phobien, die bis ins Erwachsenenalter persistieren, nehmen meist einen chronischen Verlauf.
Die Furcht vor bestimmten Tieren (Schlangen, Spinnen) oder Situationen (Höhe, enge, geschlossene Räume) sicherte in der stammesgeschichtlichen
Entwicklung das Überleben der menschlichen Spezies und ist damit aus evolutionsbiologischer Sicht eine sinnvolle Reaktion (vgl. „biological preparedness“).
Die Entstehung einer phobischen Angst mit Vermeidungsverhalten als Extrem der phylogenetisch angelegten Furchtreaktion kann auf das Zusammenwirken
biologisch-genetischer, psychischer und sozialer Faktoren zurückgeführt werden (➤ ).

7.5.3. Diagnostik und Differenzialdiagnostik


Für das diagnostische Vorgehen und differenzialdiagnostische Überlegungen gelten die bereits allgemein zu den Angststörungen gemachten Angaben.
Bei der Exploration sollte die spezifische Angst klar von phobischen Ängsten bei anderen psychischen Störungen abgegrenzt werden: Das ängstliche
Vermeiden von Fahrten mit dem Aufzug kann z. B. auch bei einer posttraumatischen Belastungsstörung auftreten. Phobische Ängste vor Verunreinigung oder
Infektion können auf eine Zwangsstörung hinweisen.

7.5.4. Therapie und Prognose


Therapie
Da in den meisten Fällen nur ein geringer Leidensdruck besteht, kommen nur wenige Menschen mit einer spezifischen Phobie in ärztliche oder
psychotherapeutische Behandlung.

Psychotherapie
Besteht die Indikation zur Therapie (z. B. durch subjektives Leiden und Beeinträchtigung der persönlichen Lebensführung, ist ein verhaltenstherapeutisches
Vorgehen mit einem Konfrontationsverfahren in vivo (Reizexposition) Mittel der 1. Wahl. Die Konfrontation mit den angstauslösenden Situationen kann
graduiert oder massiert, in Eigenregie oder zusammen mit einem Therapeuten durchgeführt werden.
Bei einer Spinnenphobie hat sich z. B. die stufenweise Annäherung des Patienten an lebende Spinnen bewährt; sie wird zusammen mit einem Therapeuten
durchgeführt. Bei der Blut- und Verletzungsphobie wird vor der Konfrontation mit angstauslösenden Reizen ein Verfahren vermittelt, mit dem eine vasovagale
Synkope verhindert werden kann („applied tension“: abwechselnde gezielte Anspannung und Entspannung der Skelettmuskulatur). Auch hypnotherapeutische
Techniken haben sich bei der Behandlung von Zahnarztphobien gut bewährt.
Für die isolierte Flugangst hat sich die Behandlung in einem einmaligen Seminar mit einer massierten Reizexposition als sehr wirksam und praktikabel
erwiesen.

Medikamentöse Therapie
Eine Pharmakotherapie wird nicht als Standardtherapie empfohlen. Bei schweren Verlaufsformen kann jedoch die Gabe eines SSRI hilfreich sein. Größere
Untersuchungen zur Wirksamkeit von Medikamenten bei den isolierten Phobien stehen noch aus.
Verlauf und Prognose
Unbehandelt nehmen die spezifischen Phobien des Erwachsenenalters zumeist einen chronischen Verlauf. Bei Anwendung verhaltenstherapeutischer
Verfahren zeigt sich in 77–95  % der Fälle eine Besserung der Symptomatik. Bei den spezifischen Phobien treten psychische Folgeerkrankungen sehr viel
seltener auf als bei anderen Angststörungen. Dennoch haben betroffene Personen ein erhöhtes Risiko, im Laufe ihres Lebens eine weitere Angststörung, eine
affektive Störung oder einen Substanzmissbrauch bzw. eine Substanzabhängigkeit zu entwickeln. Auch das Suizidrisiko soll – höchstwahrscheinlich aufgrund
der komorbiden psychischen Erkrankungen – erhöht sein.

7.6. Generalisierte Angststörung


7.6.1. Symptomatik und Klassifikation
Patienten mit einer generalisierten Angststörung (GAS) machen sich viele Gedanken über alltägliche Angelegenheiten und leiden unter einer anhaltenden
Ängstlichkeit. Typische Situationen, die ein exzessives Sorgen auslösen können, sind alltägliche Situationen, z. B. wenn sich das Kind auf dem Nachhauseweg
um 10  min verspätet, das Kochen mit einem Dampfkochtopf, anstehende Urlaubsreisen ins Ausland oder Zeitungsberichte über Verkehrsunfälle. Das Sich-
Sorgen-Machen bezieht sich wie bei gesunden Menschen inhaltlich auf Alltagsthemen und zukünftige Ereignisse. Quantitativ sorgen sich Menschen mit GAS
jedoch um eine größere Anzahl von Themen als Gesunde. Das Sorgen tritt häufiger auf und hält länger an als bei Gesunden. Charakteristisch ist eine hohe
Assoziationsgeschwindigkeit für sog. Sorgenketten oder Katastrophenszenarien, die subjektiv als nicht kontrollierbar oder abstellbar erlebt werden. Das
Sorgen wird von den Betreffenden einerseits als berechtigt (ich-synton) empfunden. Andererseits räumen sie gelegentlich ein, dass es ihnen besser ginge, wenn
sie sich nicht über alles so viele Gedanken machen würden. Menschen mit GAS neigen im Sinne eines Aufmerksamkeitsbias dazu, ihre Umwelt schneller als
andere Menschen auf mögliche Gefahren zu scannen. Auch eine Neigung, ihr Leben auf die antizipatorische Vermeidung von Gefahren auszurichten, wird
beschrieben. Um Sorgen zu vermeiden, entwickeln sie oft ein Rückversicherungsverhalten, z.  B. erkundigen sie sich mit „Kontrollanrufen“ nach dem
Befinden von Familienmitgliedern. Da das Sich-Sorgen eine Art „vorauseilenden Problemlöseversuch“ darstellt, führt es kurzfristig zu einer teilweisen
Abnahme von Angst oder anderen unangenehmen Gefühlen. Im Sinne einer negativen Verstärkung erhöht es dadurch jedoch wiederum das Auftreten von
Sorgen.
Die Betreffenden fühlen sich dauerhaft angespannt, aufgeregt, unkonzentriert, reizbar oder ermüdbar. Sie klagen häufig über körperliche Symptome wie
Unruhe, Schlafstörungen, Beklemmungsgefühle, Schmerzen und eine verstärkte vegetative Erregbarkeit. Besonders die erhöhte Muskelspannung konnte durch
Studien belegt werden. Die Beschwerden bestehen (mit kleineren Fluktuationen) über einen längeren Zeitraum hinweg (nach ICD-10 und DSM-5® über
mindestens 6 Monate) (➤ ) . Extrem selten begeben sich die Patienten primär aufgrund der Ängstlichkeit in psychiatrische oder psychotherapeutische
Behandlung. Fast immer sind es die körperlichen Beschwerden, die zu vielfachen Konsultationen des Hausarztes oder anderer Fachärzte führen, ohne dass die
zugrunde liegende Störung diagnostiziert wird. Die GAS wird in den Diagnosemanualen erst seit Ende der 1990er-Jahre als eigenständige Störung geführt.
Tab. 7.8 Diagnostische Kriterien für die generalisierte Angststörung nach ICD-10 (F41.1)
A. Ein Zeitraum von mindestens 6 Monaten mit vorherrschender Anspannung, Besorgnis und Befürchtungen in Bezug auf alltägliche Ereignisse und
Probleme

B. Mindestens vier Symptome der unten angegebenen Liste müssen vorliegen, davon eines der Symptome 1 bis 4:

Vegetative Symptome:

1. Palpitationen, Herzklopfen oder erhöhte Herzfrequenz

2. Schweißausbrüche

3. Fein- oder grobschlägiger Tremor

4. Mundtrockenheit (nicht infolge von Medikation oder Exsikkose)

Symptome, die Thorax und Abdomen betreffen:

5. Atembeschwerden

6. Beklemmungsgefühl

7. Thoraxschmerzen oder -missempfindungen

8. Nausea oder abdominale Missempfindungen (z. B. Kribbeln im Magen)

Psychische Symptome:

9. Gefühl von Schwindel, Unsicherheit, Schwäche und Benommenheit

10. Gefühl, die Objekte sind unwirklich (Derealisation) oder man selbst ist weit entfernt oder „nicht wirklich hier“ (Depersonalisation)

11. Angst vor Kontrollverlust, verrückt zu werden oder „auszuflippen“

12. Angst zu sterben

Allgemeine Symptome:

13. Hitzewallungen oder Kälteschauer

14. Gefühllosigkeit oder Kribbelgefühle

Symptome der Anspannung:

15. Muskelverspannung, akute und chronische Schmerzen

16. Ruhelosigkeit und Unfähigkeit zum Entspannen

17. Gefühle von Aufgedrehtsein, Nervosität und psychischer Anspannung

18. Kloßgefühl im Hals oder Schluckbeschwerden

Andere unspezifische Symptome:

19. Übertriebene Reaktion auf kleine Überraschungen oder Erschrecktwerden

20. Konzentrationsschwierigkeiten, Leeregefühl im Kopf wegen Sorgen und Angst

21. Anhaltende Reizbarkeit

22. Einschlafstörungen wegen der Besorgnis

C. Die Störung erfüllt nicht die Kriterien für eine Panikstörung (F41.0), eine phobische Störung (F40), eine Zwangsstörung (F42) oder eine
hypochondrische Störung (F45.2).

D. Häufigstes Ausschlusskriterium: Die Störung ist nicht zurückzuführen auf eine organische Krankheit wie eine Hyperthyreose, eine organische
psychische Störung (F0) oder auf eine durch psychotrope Substanzen bedingte Störung (F1), z. B. auf den exzessiven Genuss von amphetaminähnlichen
Substanzen oder auf einen Benzodiazepinentzug.

7.6.2. Epidemiologie und Ätiologie


Die Angaben zur Häufigkeit der GAS sind noch sehr schwankend. Untersuchungen sprechen für eine Lebenszeitprävalenz von etwa 6  % in der
Allgemeinbevölkerung. Frauen sind doppelt so häufig betroffen wie Männer.
Die Erkrankung nimmt häufig einen schleichenden, chronischen Verlauf mit relativ weit gestreutem Beginn um das 30. Lj. Ein Beginn vor der Adoleszenz
ist selten. Die Komorbidität m i t depressiven Syndromen, weiteren Angsterkrankungen und der ängstlich-vermeidenden u n d anderen
Persönlichkeitsstörungen ist hoch, insbesondere bei frühem Beginn der GAS. Ein später Beginn der Störung steht häufig mit dem Auftreten belastender
Lebensereignisse in Verbindung.
Auch für die Ätiologie der GAS gelten die allgemeinen Angaben aus ➤ . Etwa 30 % des Risikos für eine GAS soll genetisch bedingt sein.
Temperamentsfaktoren wie Verhaltenshemmung („behavioral inhibition“), negative Affektivität („Neurotizismus“) und Schadensvermeidung („harm
avoidance“) scheinen mit der GAS assoziiert zu sein. Als unspezifische psychosoziale Risikofaktoren werden negative Kindheitserlebnisse und rigides oder
überbehütendes Verhalten primärer Bezugspersonen genannt. Pathognomonisch für die Störung ist ein übertriebenes Sich-Sorgen-Machen (engl. „worrying“),
das als dysfunktionaler Bewältigungsversuch im Umgang mit belastenden Themen verstanden werden kann. Exzessives Sorgen kann einerseits die bei der
Konfrontation mit belastenden Themen auftretenden Vorstellungen, negativen Affekte und das physiologische Arousal abschwächen. Gleichzeitig verhindert
es jedoch zumeist die Entwicklung adäquater, sachlicher Lösungsstrategien, da die Konfrontation mit dem eigentlichen Problem letztlich umgangen wird.
Darüber hinaus kommt es zu einem Sich-Sorgen wegen der Sorgen, dem die Betreffenden mit Unterdrückungsversuchen und Ablenkungsstrategien begegnen.
Paradoxerweise wird dadurch die Auftretenswahrscheinlichkeit sorgenvoller Gedanken erhöht und eine Distanzierung erschwert. Als weiteres
Sorgenverhalten, d.  h. Verhaltensweisen, die zu einer Vermeidung von Sorgen und damit zur Abnahme von Angst führen sollen, sind wiederholte
Rückversicherungen z. B. per Telefon über das Wohlergehen von Angehörigen zu nennen.
7.6.3. Diagnostik und Differenzialdiagnostik
Die allgemeine Diagnostik wird wie für Angststörungen allgemein in ➤ beschrieben durchgeführt. Die Diagnosestellung nach den in ➤ genannten
diagnostischen Kriterien ist oft schwierig, da sich in der Symptomatik Überschneidungen mit anderen psychischen Störungen ergeben (depressive Episode,
Dysthymia, somatoforme Störungen). Andere psychische Erkrankungen als Ursache einer anhaltenden Ängstlichkeit müssen also unbedingt ausgeschlossen
werden.
In Abgrenzung zu den Phobien beziehen sich die Sorgen und Ängste der Betreffenden mit GAS auf eine Vielzahl von Lebensbereichen und nicht auf
spezifische Situationen oder Objekte. Im Vergleich zur Panikstörung, die akut und episodisch auftritt, äußert sich die GAS in einer fluktuierenden,
chronischen Ängstlichkeit. Auch bei der Zwangsstörung richten sich ängstliche Gedanken oder Handlungen auf spezifische Inhalte wie z. B. Verunreinigung
oder Ansteckung. Berichten Patienten über herabgesetzte Stimmungslage und Antriebshemmung, sollte an ein depressives Syndrom als Grunderkrankung
gedacht werden. Methoden zur Selbstbehandlung (Medikamente, Alkohol!) sollten unbedingt erfragt werden.

Praxistipp
Erst wenn andere psychische Störungen und körperliche Ursachen für chronische Ängstlichkeit, Besorgtheit und Anspannung ausgeschlossen wurden und
das charakteristische ich-syntone Sorgenverhalten vorliegt, sollte die Diagnose einer GAS gestellt werden.

7.6.4. Therapie und Prognose


Therapie
Sowohl pharmakologische als auch bestimmte psychotherapeutische Behandlungsformen haben sich in der Therapie der GAS als wirksam erwiesen.
Eingebettet in ein gestuftes Vorgehen (➤ ) sollen Patienten mit GAS beide Therapieoptionen unter Berücksichtigung von Wirkungen, Nebenwirkungen,
Nachhaltigkeit, unerwünschten Wirkungen und Verfügbarkeit angeboten werden. Psychotherapeutisch soll eine störungsorientierte kognitive
Verhaltenstherapie (KVT) empfohlen werden. Wenn eine KVT nicht verfügbar ist, sich als nicht wirksam erweist oder vom Patienten nicht erwünscht ist, sollte
eine psychodynamische Psychotherapie angeboten werden. Wenn Psychopharmakotherapie oder Psychotherapie nicht wirksam sind, soll das jeweils andere
Verfahren vorgeschlagen werden. Bei akuter komorbider Depression ist eine frühzeitige pharmakologische Behandlung mit einem SSRI oder SSNRI zu
empfehlen (vgl. unten: medikamentöse Therapie).

Vergleichende Effektstärken
Die Effektstärke (➤ ) einer psychotherapeutischen Behandlung der GAS wird auf 0,51 geschätzt und liegt damit im mittleren Bereich. Die Schätzung ist aber
wegen der vergleichsweise kleinen Studien ungenau (Konfidenzbereich 0,05–0,97). Die Effekte einer medikamentösen Therapie der GAS liegen – fasst man
die > 11.000 in Studien behandelten Patienten zusammen – bei 0,31 (schmales Konfidenzintervall von 0,26–0,36). Zusammengefasst ist Psychotherapie also
einer medikamentösen Behandlung wahrscheinlich überlegen.

Psychotherapie
Als wirksamstes psychotherapeutisches Verfahren zur Behandlung der GAS gilt heute eine auf die Störung zugeschnittene Form der kognitiven
Verhaltenstherapie (KVT). Sie konzentriert sich insbesondere auf ein „Sorgenmanagement“. Sie beinhaltet die Identifikation unangemessenen Sorgens und
eine Sorgen- oder Grübelexposition. Auch das oben beschriebene Sorgenverhalten, d.  h. die Vermeidung sorgenauslösender Stimuli oder wiederholte
Rückversicherungen sollen erkannt und durch adäquatere Verhaltensweisen ersetzt werden. Ergänzt werden diese Strategien durch andere Bausteine der
kognitiven Therapie wie z.  B. ein Problemlösetraining, Entspannungsverfahren, die Verbesserung kommunikativer Fähigkeiten sowie die Unterstützung im
Zeitmanagement (➤ ). Elemente der metakognitiven Therapie (➤ ) könnten eine hilfreiche Ergänzung sein; RCTs dazu stehen jedoch noch aus.

Tab. 7.9 Symptome der generalisierten Angststörung und entsprechende kognitiv-verhaltenstherapeutische Interventionen
Symptom Intervention
Kognitive Verzerrungen, „Sorgen“ Selbstbeobachtungsaufgaben, nicht hilfreiche Gedanken erfassen und neu bewerten, hilfreiche Kognitionen
formulieren (kognitive Umstrukturierung)

Gefühl des Kontrollverlusts, Strategien zur Angstbewältigung entwickeln (Selbstberuhigung, Aufmerksamkeitslenkung, Achtsamkeitsübungen,
Hilflosigkeit angesichts der Atemübungen, Gedankenstopp, Aufschieben von Grübeln, Emotionswahrnehmung und -regulation)
Angstsymptome

Kognitive Vermeidung Konfrontation in sensu (sog. Grübelkonfrontation) mit Reaktionsmanagement

Schwierigkeiten bei der Bewältigung Problemlösetraining


von Problemen

Einengung der Aufmerksamkeit auf Aufbau von (genussvollen) Aktivitäten, die mit Angst inkompatibel sind (Besuch eines Cafés, Sport,
negative Inhalte Spazierengehen, ein Vollbad nehmen etc.)

Vegetative Übererregbarkeit Entspannungsverfahren erlernen und durchführen, Methoden der Achtsamkeit, Motivation zum Besuch von
Meditations-, Yoga-, Tai-Chi-Kursen, regelmäßige Bewegung im Ausdauerbereich

Angelehnt an die supportiv-expressive Therapie nach Luborsky wurde von Leichsenring ein psychodynamisches Behandlungskonzept für die GAS
entwickelt. Erste kleinere Studien deuten darauf hin, dass es kurz- und mittelfristig ebenso effektiv sein könnte wie eine KVT. Weiterführende
Vergleichsstudien stehen jedoch noch aus.

Medikamentöse Therapie
Wirksame und in Deutschland für die medikamentöse Behandlung der GAS zugelassene Mittel der 1. Wahl sind die SSRIs Escitalopram und Paroxetin
sowie die SSNRIs Venlafaxin und Duloxetin. Insbesondere bei Patienten, die gleichzeitig unter einer Depression leiden, sollte die Behandlung mit einem
dieser Medikamente eingeleitet werden. Die Dosierung erfolgt wie bei der Depressionsbehandlung. Als wirksam hat sich auch das ebenfalls für die GAS
zugelassene Antikonvulsivum Pregabalin (➤ ) erwiesen. Es handelt sich dabei um ein strukturelles Analogon von γ-Aminobuttersäure (GABA). Durch die
Bindung an bestimmte Untereinheiten spannungsabhängiger Kalziumkanäle verringert es die Ausschüttung exzitatorischer Neurotransmitter wie z.  B.
Glutamat, Substanz P und Noradrenalin. Die Tagesdosis für Erwachsene liegt zwischen 150 und 600  mg. Bei der Einnahme von Pregabalin kommt es
gelegentlich zu Sedierung und Schwindel; in einigen Fällen hat sich beim Absetzen eine Entzugssymptomatik entwickelt. Ein Missbrauchspotenzial ist für
Pregabalin beschrieben (insb. bei Männern mit Polytoxikomanie). Eine vergleichsweise schwächere Wirksamkeit ist für die bei GAS ebenfalls zugelassenen
Präparate Buspiron (15–60 mg / d), einige Benzodiazepin-Präparate (z. B. Diazepam 5–15 mg / d) und Opipramol (50–150 mg/d) belegt (➤ ). Sie können als
Mittel der 2. Wahl eingesetzt werden, wenn SSRIs oder SSNRIs nicht wirksam waren oder nicht vertragen wurden. Noch nicht ausreichend belegt bzw. in
experimentellem Einsatz bei der GAS befinden sich die Präparate Quetiapin (ein Antipsychotikum der 2. Generation), Hydroxyzin (ein Antihistaminikum),
Agomelatin (ein melanotonerges Antidepressivum) und Silexan (eine aus Lavendelöl gewonnene GABAerg wirksame Substanz). Über die Effektivität einer
Kombinationsbehandlung lässt sich derzeit noch keine sichere Aussage treffen.

Für eine störungsspezifische, auf das exzessive Sich-Sorgen ausgerichtete kognitive Verhaltenstherapie ist eine gute Wirksamkeit belegt. Ebenso
hat sich der Einsatz von bestimmten SSRIs, SSNRIs und Pregabalin bewährt.

Verlauf und Prognose


Der Verlauf der GAS ist wahrscheinlich ungünstiger als bei der Panikstörung. Unter Behandlung sind die Beschwerden nach 2  Jahren bei etwa 25  % der
Patienten remittiert. Eine klinische Besserung soll nach 5 Jahren bei 40–70 % der Behandelten eintreten. Komorbide psychische Erkrankungen verschlechtern
die Prognose.

7.7. Trennungsangst-Störung
Leitsymptom der Erkrankung ist eine dem Alter bzw. Entwicklungsstand nicht angemessene massive Angst vor der Trennung von wichtigen
Bezugspersonen. Im Kindesalter handelt es sich dabei meistens um Eltern oder andere Familienmitglieder, im Erwachsenenalter typischerweise um den
Lebenspartner oder die Kinder. Die Betroffenen äußern wiederholt Unwohlsein und Angst, wenn das Verlassen des Zuhauses oder eine anderweitige Trennung
von der Bezugsperson ansteht. Sie wirken sehr „anhänglich“ und weigern sich, allein zu Hause zu bleiben oder sich ohne die Bezugsperson in einer fremden
Umgebung aufzuhalten. Der Gedanke auszugehen, die Schule zu besuchen oder zu arbeiten erfüllt sie mit großer Angst und mit Widerwillen, wenn damit eine
Trennung verbunden ist. Sie machen sich in Abwesenheit der geliebten Person exzessive Sorgen, dass ihr ein Unglück zustoßen könnte, oder sie äußern die
Sorge, dass ihnen selbst etwas zustoßen und dadurch ein Wiedersehen mit der Bezugsperson verhindert werden könnte. Häufig werden auch wiederholte
Albträume berichtet, in denen die Betreffenden katastrophale Trennungserfahrungen machen. Bei Kindern ist die Störung sehr häufig von körperlichen
Symptomen wie Bauch- und Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen und Schwindel dominiert (vgl. ➤ ); bei Jugendlichen und Erwachsenen treten häufiger
Schwindel, Herzklopfen und Schwächegefühle auf. Er werden auch Stimmungsinstabilität mit Traurigkeit, Weinen, Verzweiflung und Reizbarkeit beschrieben.
Im DSM-5® wird eine Dauer der Störung von mindestens 4 Wochen bei Kindern und von mindestens 6 Monaten bei Erwachsenen gefordert. Die Störung
ist mit einer geschätzten 12-Monats-Prävalenz von 4 % die häufigste Angststörung bei Kindern unter 12 Jahren. Die 12-Monats-Prävalenz bei Erwachsenen in
den USA wird mit 0,9–1,9  % angegeben. Neuere Daten deuten auf eine Lebenszeitprävalenz von ca. 5–6 % bei Erwachsenen hin, d. h., die Erkrankung
wurde in ihrer Relevanz bislang wahrscheinlich unterschätzt und häufig unter anderen Angststörungen (insb. Panikstörung  /  Agoraphobie) codiert.
Epidemiologische Daten der WHO zeigen, dass mehr als 40  % aller Ersterkrankungen im Alter über 18  Jahren auftreten. Deshalb wurde im DSM-5® die
Beschränkung der Diagnose auf das Kindesalter aufgegeben. Dieser Schritt wird auch in der ICD-11 erfolgen.
Frauen sind häufiger betroffen und erkranken früher als Männer. Eine Häufung von Ersterkrankungen findet sich um das 20. Lj.; bei etwa 80 % aller
Erwachsenen mit Trennungsangst-Störung hat sich die Erkrankung bis zum 30. Lj. manifestiert. Eine familiäre Häufung der Störung wird beschrieben.
Als Risikofaktoren für die Entwicklung einer Trennungsangst-Störung werden weibliches Geschlecht, negative Kindheitserfahrungen und traumatische
Lebensereignisse genannt. Erwachsene mit einem frühen Beginn der Trennungsangst-Störung leben häufiger allein, weisen einen geringeren Bildungsabschluss
auf und haben ein höheres Risiko für Arbeitslosigkeit als die Allgemeinbevölkerung. Die Komorbidität mit anderen psychischen Erkrankungen ist sehr hoch,
insbesondere mit weiteren Angststörungen (Panikstörung / Agoraphobie, GAS), affektiven Störungen (v. a. depressive Episoden) und Substanzkonsum bzw. -
abhängigkeit.
Differenzialdiagnostisch muss die Trennungsangst-Störung von den Angsterkrankungen, insbesondere von der Panikstörung  /  Agoraphobie abgegrenzt
werden, aber auch von den affektiven Störungen. Erschwerend kommt die hohe Komorbidität mit den genannten Störungen hinzu.
Aufgrund der Tatsache, dass die Erkrankung noch nicht sehr lange als für das Erwachsenenalter relevant betrachtet wird, existieren noch keine validen
Therapieempfehlungen. Analog zu anderen Angststörungen wird eine KVT mit Expositionstraining oder die Einnahme eines SSRI/SSNRI als Monotherapie
oder in Kombination vorgeschlagen. Über die Validität der Diagnose wird noch kontrovers diskutiert. Entsprechend sind weitere Studien zu Klinik, Ätiologie,
Komorbidität und Therapieoptionen notwendig.

Literatur
Angenendt J, Frommberger U, Berger M, Domschke K (2019). Angststörungen. In: Berger M (Hrsg.). Psychische Erkrankungen. Klinik und Therapie. 6. A. München:
Elsevier Urban & Fischer, S. 445–481.
Bandelow B, Lichte T, Rudolf S, Wiltink J; Beutel M (Hrsg.) (2014). S3-Leitlinie Angststörungen. Berlin: Springer.
Lieb K, Heßlinger B, Jacobs GB (2016). 50 Fälle Psychiatrie und Psychotherapie. 5. A. München: Elsevier Urban & Fischer.
Margraf J, Schneider S (2013). Panik. Angstanfälle und ihre Behandlung. E-book. 2. überarb. A. Berlin, Heidelberg: Springer.
Mathews A, Gelder M, Johnston D (2004). Platzangst. Ein Übungsprogramm für Betroffene und Angehörige (dt. Bearbeitung von I. Hand und C. Fisser-Wilke). 4. A.
Stuttgart: Karger.
Schneider S, Margraf J (2017). Agoraphobie und Panikstörung. 2., überarb. A. Fortschritte der Psychotherapie Band 3. Göttingen: Hogrefe.
Stangier U, Subic-Wrana C, Beutel ME (2017). Angststörungen. In: Herpertz S, Caspar F, Lieb K (Hrsg.). Psychotherapie. Funktions- und störungsorientiertes Vorgehen.
München: Elsevier Urban & Fischer, S. 259–282.
S3-Leitlinie Angststörungen: (letzter Zugriff: 12.12.2018).
KAPITEL 8

Zwangsstörung und Zwangsspektrumsstörungen


Sabine Frauenknecht

8.1. Einführung
Charakteristisch für die Zwangsstörung ist das Auftreten von Zwangshandlungen oder Zwangsgedanken (oder beidem). Unter Zwangshandlungen versteht
man sich aufdrängende, schwer unterdrückbare Handlungsimpulse, die sich als beobachtbares oder mentales Verhalten zeigen, zumeist in den Bereichen
Ordnung, Reinigung oder Symmetrie. Die betreffende Person erlebt die Handlungsimpulse als intrusiv und ungewollt und fühlt sich dazu gezwungen, sie
wiederholt auszuführen. Als Zwangsgedanken werden sich aufdrängende Gedanken oder innere Bilder bezeichnet, die vom Betreffenden als „verboten“,
beschämend, ekelhaft oder als „Tabu“ erlebt werden.
Eine neue Entwicklung zeigt sich darin, dass im DSM-5® (und auch in der ICD-11) im Kapitel der Zwangsstörung weitere Diagnosen aufgeführt werden, die
im klinischen Bild Überschneidungen mit der Zwangsstörung aufweisen. Sie werden als Zwangsspektrumsstörungen bezeichnet. Die
Zwangsspektrumsstörungen zeigen gewisse Ähnlichkeiten mit der Symptomatik der Zwangsstörung: Sie sind mit sich aufdrängenden, als negativ erlebten
Gedanken, Befürchtungen oder Impulsen verbunden. Sie gehen mit unangenehmen Gefühlen wie Ängstlichkeit, Unruhe, Nervosität, Ekel oder Anspannung
einher. Die aversiven Gedanken und Gefühle werden durch wiederholte, teilweise ritualisierte, überwiegend nicht als lustvoll erlebte Handlungen
„neutralisiert“. Die Gedanken oder Handlungen werden überwiegend als unsinnig oder übertrieben (ich-dyston) empfunden. Die Betreffenden versuchen
wiederholt, sie zu unterdrücken oder zu beenden.
Eine Übersicht über die Einteilung von Zwangsstörung und Zwangsspektrumsstörungen in den verschiedenen Diagnosemanualen findet sich in ➤ . In der
ICD-10 wurden die heute als Zwangsspektrumserkrankungen bezeichneten Störungen entweder in verschiedenen anderen Kapiteln wie den somatoformen
Störungen oder den Verhaltensstörungen abgehandelt, oder sie waren noch gar nicht beschrieben. Das DSM-5® und auch die ICD-11 fassen die Störungen nun
aufgrund der verwandten Symptomatik unter dem Begriff „Zwangsstörung und verwandte Störungen“ bzw. „Zwangsstörung und Zwangsspektrumsstörungen“
zusammen.

Tab. 8.1 Zwangsstörung und Zwangsspektrumsstörungen in den verschiedenen Diagnosemanualen


ICD-10 ICD-11 DSM-5®
Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störung Zwangsstörung und Zwangsstörung und verwandte Störungen
(F4) Zwangsspektrumsstörungen
F42 Zwangsstörung Zwangsstörung Zwangsstörung

(Dysmorphophobe Störung [F45.2], somatoforme Körperdysmorphe Störung Körperdysmorphe Störung


Störungen)

– Olfaktorisches Referenzsyndrom Sonstige n. n. bez. Zwangsstörung

(Hypochondrische Störung [F45.2], somatoforme Hypochondrie Krankheitsangststörung; (unter: somatische


Störungen) Belastungsstörung und verwandte Störungen)

– Pathologisches Horten und Sammeln Pathologisches Horten

(Trichotillomanie [F63.3],Verhaltensstörungen) Körperbezogene Wiederholungszwänge (z. B. Trichotillomanie


Trichotillomanie, pathologisches Hautzupfen) Dermatillomanie

Sonstige Zwangsstörungen Andere spezifische Zwangsstörung bzw. Andere näher bezeichnete Zwangsstörung und
Zwangsspektrumsstörung verwandte Störungen

(Sonstige psychische oder Verhaltensstörung durch (Störungen aufgrund von Substanzgebrauch Substanz- oder medikamenteninduzierte
psychotrope Substanzen [F1X.8]) oder -abhängigkeit) Zwangsstörung und verwandte Störungen

(Sonstige psychische Störung aufgrund einer Schädigung (Sekundäre psychische oder Zwangsstörung aufgrund eines anderen
des Gehirns oder einer körperlichen Krankheit [F06.8]) Verhaltensstörungen aufgrund anderer medizinischen Krankheitsfaktors
Krankheiten)

Nicht näher bezeichnete Zwangsstörungen Unspezifizierte Zwangsstörung bzw. Nicht näher bezeichnete Zwangsstörung und
Zwangsspektrumsstörung verwandte Störungen
Olfaktorisches Referenzsyndrom

In diesem Kapitel werden folgende Störungen besprochen:

• Zwangsstörung (➤ )
• Olfaktorisches Referenzsyndrom (➤ )
• Hypochondrie (➤ )
• Körperdysmorphe Störung (ICD-10: dysmorphophobe Störung) (➤ )
• Zwanghaftes Horten (➤ )
• Trichotillomanie (= pathologisches Haareausreißen) und Dermatillomanie (= pathologisches Hautzupfen / -quetschen) (➤ )
• Substanzinduzierte Zwangsstörung (Amphetamine, Kokain) (➤ )
• Sekundäre Zwangsstörung / Zwangsspektrumsstörung aufgrund einer anderen Erkrankung (➤ )
8.2. Zwangsstörung

Kasuistik
Eine 21-jährige Patientin stellt sich in Begleitung ihrer Mutter in der psychiatrischen Ambulanz vor. Der Patientin ist es offensichtlich sehr unangenehm,
über ihre Beschwerden zu berichten. Zögerlich, mit leiser Stimme und den Blick auf den Boden gerichtet äußert sie schließlich, dass sie seit etwa 6
Monaten kaum noch außer Haus gehe, weil sie befürchte, sich mit dem HI-Virus zu infizieren bzw. infiziert zu haben.
Aus Angst vor AIDS könne sie auch niemanden in die Wohnung hereinlassen und müsse mehrmals täglich duschen, um sich zu reinigen. Sie wisse aber
andererseits genau, dass diese Angst unbegründet sei, und ihre Handlungen erscheinen ihr unsinnig. Sogar die Mutter müsse, wenn sie von draußen komme,
duschen und sich umziehen. Wenn sie selbst außerhalb der Wohnung gewesen sei, müsse sie sich gründlich von Kopf bis Fuß desinfizieren, was bis zu 2 h
in Anspruch nehme. Auch Gegenstände, die andere berührt haben, müsse sie genauestens reinigen. In den letzten 2 Monaten habe sie praktisch nur noch ihr
eigenes Zimmer benutzt (auch zum Essen), weil sie dieses für einigermaßen sauber halte. In der Wohnung trage sie eine spezielle „reine“ Bekleidung. Ihre
Mutter habe sie so weit gebracht, ihr praktisch alles abzunehmen.
Das Ganze habe vor 3 Jahren begonnen, zunächst mit Ängsten, sich zu infizieren. Vor 2 Jahren habe sie angefangen, sich zu waschen, seit 1 Jahr sei es
ganz schlimm. Kurz vor Beginn der ersten Symptome habe sie erfahren, dass sich ein ehemaliger Mitschüler mit HIV infiziert habe.
Da sie seit 3 Monaten zunehmend lust- und kraftloser geworden sei, habe ihr die Hausärztin 75 mg Amitriptylin (trizyklisches Antidepressivum)
verordnet, was jedoch kaum Besserung gebracht habe. Das Studium der Architektur habe sie aufgeben müssen. Auch ihre anschließend begonnene Lehre als
Einzelhandelskauffrau habe sie vor 1 Jahr abgebrochen. Zurzeit sei sie arbeitslos. Sie stelle sich jetzt auf Empfehlung einer mit der Familie befreundeten
Ärztin vor. Über das, was sie geschildert habe, habe sie bisher in diesem Umfang mit keinem Arzt gesprochen.
Die Mutter bestätigt im Wesentlichen das Gesagte und ergänzt, dass ihre Tochter täglich mindestens 6 h mit Reinigungen verbringe. Zur Vorgeschichte
befragt, berichtet die Mutter, die Tochter sei schon immer eher ängstlich und besorgt gewesen und habe sich wenig zugetraut. Sie habe immer Angst,
kritisiert oder von anderen nicht gemocht zu werden (nach Lieb und Heßlinger 2016).

8.2.1. Definition, Symptomatik und Klassifikation


Definition
Unter Zwangshandlungen (engl.: „compulsions“) werden Verhaltensweisen verstanden, die in bestimmten Situationen sinnvoll sind (z.  B. Händewaschen,
Kontrollieren von Elektrogeräten), vom Betreffenden aber unzählige Male in ritualisierter Weise durchgeführt werden müssen, obwohl er dies selbst als
unsinnig, quälend oder unnötig erlebt. Versucht er, die Handlung zu unterdrücken, empfindet er ein äußerst unangenehmes Gefühl innerer Anspannung,
Ängstlichkeit oder Unruhe, das nachlässt, wenn das Ritual durchgeführt wird.
Zwangsgedanken (engl.: „obsessions“) sind Vorstellungen oder Ideen, deren Inhalt als negativ empfunden wird (z. B. aggressive Gedanken, Befürchtung
von Verunreinigung) und die sich immer wieder aufdrängen und wiederholen.
Bei den Zwangsstörungen (engl.: „Obsessive compulsive disorders“, OCD) bilden Zwangsgedanken oder -handlungen das zentrale Merkmal der
Erkrankung.

Zu den Begriffen Zwang und Zwangsstörung


Gelegentlich auftretende Zwangsgedanken wie z. B. das wiederholte Erinnern einer kurzen Musikpassage („Ohrwurm“) oder Zwangsrituale (mehrfaches
Kontrollieren des Türschlosses oder eines Elektrogeräts beim Verlassen der Wohnung) werden von vielen Menschen geschildert und sind ohne
Krankheitswert. In der kindlichen Entwicklung um das 2. und 3. Lj. spielen ritualisierte Handlungsweisen (z. B. beim Einschlafen) oder der Glaube an die
„Macht der Gedanken“ eine wichtige Rolle. Kinder dieses Alters sind davon überzeugt, dass z. B. aggressive Vorstellungen das entsprechende Geschehen
verursachen können („magisches Denken“). Auch in der Pubertät können transitorische Zwangsphänomene auftreten. Bestimmte Rituale werden von
Kindern – wie auch von Erwachsenen in der religiösen Praxis vieler Kulturen – genutzt, um Angst zu verringern und negative Ereignisse abzuwehren. Eine
krankhafte Störung liegt erst dann vor, wenn die Zwangssymptome in ihrer Häufigkeit, Dauer und Intensität ein solches Ausmaß annehmen, dass der
Betreffende darunter leidet und in seinem sozialen oder individuellen Erleben, seiner Leistungs- und Gestaltungsfähigkeit beeinträchtigt ist.

Während Zwangssymptome bis in die Neuzeit hinein als „Besessenheit“ interpretiert wurden, verstand man sie im 19. Jh. als Symptom der Depression. Erst
seit Beginn des 20. Jh. wurden Zwänge als eigenständiges Syndrom mit ungünstigem Verlauf betrachtet. Bis in die 1960er-Jahre hinein war das Verständnis
über die Erkrankung von psychoanalytischen Konzepten zur Ätiologie und Therapie dominiert. Die Entwicklung wirksamer therapeutischer Interventionen auf
kognitiver und behavioraler Grundlage seit den 1970er-Jahren und die Beobachtung günstiger Effekte von serotonerg wirksamen Antidepressiva haben die
Einschätzung von Prognose und Therapierbarkeit der Störung zum Positiven verändert.

Symptomatik

Zwangsgedanken
Zwangsgedanken beinhalten zumeist Ideen aggressiven Inhalts oder Befürchtungen, die sich auf Verschmutzung, Verunreinigung oder Ansteckung
beziehen. Patienten mit aggressiven Zwangsgedanken berichten z. B. über Vorstellungen, ihr eigenes Kind zu verletzen oder es fallen zu lassen, ohne dass eine
solche Handlung je erfolgt. Oder sie sind von der Angst gequält, beim Autofahren unbemerkt eine Person überfahren zu haben. Andere befürchten, an einer
schweren Erkrankung (AIDS, Krebs) zu leiden und Familienangehörige über direkte Berührung oder gemeinsam benutzte Gegenstände anzustecken. Auch
Bilder oder Befürchtungen, als abnorm oder ekelhaft eingestufte sexuelle Neigungen oder Praktiken auszuleben, kommen vor. Die betreffenden Personen
erleben die Gedanken als äußerst beängstigend, moralisch verwerflich oder quälend. Daher versuchen sie, die Zwangsgedanken wegzuschieben oder sich
dagegen zu wehren, was aber meist nicht gelingt. Viele Patienten entwickeln daraufhin gedankliche Rituale (Verinnerlichen bestimmter Gebete, Zählen, leises
Wiederholen einzelner Worte) oder stereotyp ablaufende Handlungen (siehe Zwangshandlungen), um die angstauslösenden Ideen und Impulse zu
neutralisieren (➤ ).

Tab. 8.2 Typische Inhalte von Zwangsgedanken und Zwangshandlungen


Zwangsgedanken Zwangshandlungen
• Aggressive Vorstellungen oder Impulse • Kontrollieren
• Kontamination (Angst vor Schmutz, Keimen) • Waschen / Reinigen
• Symmetrie, Ordnung • Wiederholen
• Religiöse Vorstellungen • Zählen
• Sexuelle Impulse oder Gedanken • Ordnen
• Pathologische Zweifel an korrekt ausgeführten Handlungen • Sammeln / Aufbewahren
• Berühren

Zwangshandlungen
Als Zwangshandlungen werden am häufigsten Verhaltensweisen beobachtet, die sich auf das Kontrollieren oder Waschen und Reinigen beziehen. So werden
z. B. Elektrogeräte oder Türschlösser vor dem Verlassen der Wohnung immer wieder kontrolliert, was mehrere Stunden in Anspruch nehmen kann. Häufig sind
auch das wiederholte Händewaschen, das auf stereotype Weise abläuft und zigmal im Verlauf des Tages wiederholt wird, oder die Reinigung der Wohnung
und der Wäsche, die in einer bestimmten, ritualisierten Abfolge durchgeführt wird und bei Störungen oder erneuter „Kontamination“ von vorn begonnen
werden muss. Patienten beschreiben häufig auch ein quälendes „Unvollständigkeitsgefühl“, das sie zwinge, die Handlungen so lange durchzuführen, bis
subjektiv ein Erleben von „Vollständigkeit“ erreicht ist. Oft entwickeln Patienten mit Wasch- und Reinigungszwängen durch die ständige Exposition mit
Wasser, Reinigungs- und Desinfektionsmitteln erhebliche Hautläsionen.
Häufig werden Familienangehörige in die Zwangshandlungen einbezogen: Kinder müssen, wenn ein Elternteil unter einem Reinigungszwang leidet, z. B.
beim Betreten der Wohnung alle Kleider ablegen und sofort unter der Dusche gesäubert werden. Danach darf nur eine vorbereitete, saubere
Wohnungsbekleidung getragen werden. Auch Bad und Dusche müssen anschließend geputzt und desinfiziert werden.

Zwangsstörung
Bei der Zwangsstörung treten als Leitsymptome Zwangsgedanken oder -handlungen  –  zumeist gemeinsam  –  auf. Charakteristisch ist auch die Entwicklung
eines ausgeprägten Vermeidungsverhaltens für die Angst und Anspannung auslösenden Reize (Schmutz, Unordnung etc.) und die zunehmende Ausweitung
der Situationen und Objekte, auf die mit neutralisierenden Vorstellungen oder Verhaltensweisen reagiert werden muss ( = Generalisierung ). In den meisten
Fällen empfinden die Betroffenen ihre Verhaltensweisen als sinnlos, irrational und daher äußerst beschämend ( = ich-dyston ). Sie versuchen deshalb meist, die
Erkrankung zu verheimlichen. Dies erfordert neben den alltäglichen Verpflichtungen einen ungeheuren Energieaufwand, da die Zwangssymptomatik u.  U.
viele Stunden des Tages in Anspruch nehmen kann. Im weiteren Verlauf der Störung entwickeln viele Patienten  –  neben dem subjektiven Leiden an der
Symptomatik  – Schwierigkeiten in ihren Beziehungen, a m Arbeitsplatz, in der Schule oder in der Freizeitgestaltung. Viele Patienten ziehen sich aus
Kontakten zurück oder können ihren beruflichen oder häuslichen Anforderungen nicht mehr gerecht werden. Dies ist insbesondere deshalb von großer
Bedeutung, weil die Zwangsstörung in mehr als der Hälfte der Fälle chronisch-fluktuierend verläuft und aufgrund der Verheimlichungstendenz meist sehr viel
Zeit vergeht, bis ambulante oder stationäre psychiatrische Hilfe in Anspruch genommen wird. Suizidgedanken sind bei Patienten mit Zwangsstörung aufgrund
des hohen Leidensdrucks nicht selten: Bis zu 25 % aller Menschen mit Zwangsstörung sollen Suizidversuche unternehmen. Das Risiko für einen Suizidversuch
ist höchstwahrscheinlich höher, wenn gleichzeitig eine depressive Episode vorliegt.
Viele Patienten leiden zusätzlich unter einer weiteren psychischen Erkrankung: Am häufigsten sind depressive Syndrome (Lebenszeitprävalenz > 50 %),
Angststörungen (v. a. soziale Phobie, generalisierte Angststörung), Essstörungen (v. a. Anorexia nervosa), eine sekundäre Alkoholproblematik, schizophrene
Psychosen oder eine Ticstörung zu beobachten. Häufig kann auch die zusätzliche Diagnose einer Persönlichkeitsstörung gestellt werden; insbesondere die
Persönlichkeitsstörungen des Clusters C (v. a. dependente und selbstunsichere PS) sind vertreten. Da bei Kindern mit einer Zwangsstörung die Komorbidität
mit ADS / ADHS relativ häufig ist, sollte auch bei Erwachsenen mit Zwängen nach den Symptomen eines Aufmerksamkeitsdefizits gefragt werden.

Klassifikation
Die ICD-10 sieht vor, die Zwangsstörung in Formen zu differenzieren, die sich einerseits vorwiegend in Zwangsgedanken, andererseits hauptsächlich in
Zwangshandlungen äußern oder bei denen beide Aspekte vorliegen (➤ ) . Bei den meisten Betroffenen liegen sowohl Zwangsgedanken als auch
Zwangshandlungen vor.

Tab. 8.3 Diagnostische Kriterien der Zwangsstörung nach ICD-10 (F42)


A. Entweder Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen (oder beides) an den meisten Tagen über einen Zeitraum von mindestens 2 Wochen

B. Die Zwangsgedanken (Ideen oder Vorstellungen) und Zwangshandlungen zeigen sämtliche der folgenden Merkmale:

1. Sie werden als eigene Gedanken / Handlungen von den Betroffenen angesehen und nicht als von anderen Personen oder Einflüssen eingegeben.

2. Sie wiederholen sich dauernd und werden als unangenehm empfunden, und mindestens ein Zwangsgedanke oder eine Zwangshandlung wird als
übertrieben und unsinnig anerkannt.

3. Die Betroffenen versuchen, Widerstand zu leisten (bei lange bestehenden Zwangsgedanken und Zwangshandlungen kann der Widerstand allerdings
sehr gering sein). Gegen mindestens einen Zwangsgedanken oder eine Zwangshandlung wird gegenwärtig erfolglos Widerstand geleistet.

4. Die Ausführung eines Zwangsgedankens oder einer Zwangshandlung ist für sich genommen nicht angenehm (dies sollte von einer vorübergehenden
Erleichterung von Spannung und Angst unterschieden werden).

C. Die Betroffenen leiden unter den Zwangsgedanken und Zwangshandlungen oder werden in ihrer sozialen oder individuellen Leistungsfähigkeit
behindert, meist durch den besonderen Zeitaufwand.

D. Häufigstes Ausschlusskriterium: Die Störung ist nicht bedingt durch eine andere psychische Störung wie Schizophrenie und verwandte Störungen (F2)
oder affektive Störungen (F3).

In der ICD-11 wird die Beschreibung der Zwangsstörung um einige Aspekte ergänzt: Es wird betont, dass Zwangsgedanken gewöhnlich mit dem Auftreten
von Angst verbunden sind, womit die Nähe zu den Angsterkrankungen hergestellt wird. Darüber hinaus wird der „Zwangsaspekt“ von Zwangshandlungen
etwas stärker hervorgehoben: Die Handlungen müssen häufig nach einem ritualisierten Plan durchgeführt werden oder dienen dazu, ein Gefühl von
„Vollständigkeit“ zu erreichen. Eine krankhafte Störung liegt dann vor, wenn die Zwangssymptomatik zeitaufwendig ist (mehr als 1 h pro Tag) und zu
erheblichem Leiden und deutlichen Beeinträchtigungen wichtiger Fähigkeiten bzw. Funktionsbereiche führt.
Im DSM-5 ® kann zusätzlich eingeschätzt werden, wie stark die betreffende Person die Zwangssymptomatik als „ich-dyston“ erlebt oder nicht. Hier ist eine
dreistufige Zuordnung von „guter bzw. angemessener Einsicht“ bis zu „fehlender Einsicht bzw. wahnhaften Überzeugungen“ möglich. Das heißt, dass eine
Zwangsstörung auch dann diagnostiziert werden kann, wenn keine Einsicht in die Irrationalität des Handelns vorliegt. Dies ist insofern von Bedeutung,
als die fehlende Krankheitseinsicht höchstwahrscheinlich mit einer schlechteren Prognose der Erkrankung einhergeht. Überdies kann bestimmt werden, ob bei
der Person aktuell oder in der Vorgeschichte eine Ticstörung vorliegt.

8.2.2. Epidemiologie und Ätiologie


Epidemiologie
Zwangsstörungen sind nicht selten. Ihre Lebenszeitprävalenz für die Allgemeinbevölkerung in Deutschland liegt bei 2–3 %. Mit einer 12-Monats-Prävalenz
von 3,8 % in Deutschland sind sie damit häufiger als früher angenommen. Interessanterweise zeigen transkulturelle Untersuchungen, dass die Häufigkeit von
Zwangsstörungen in verschiedenen Ländern und Kulturkreisen ähnlich hoch ist. Inhalte und Themen der Störung können jedoch  –  abhängig von den
soziokulturellen Bedingungen – sehr verschieden sein.
Das Geschlechterverhältnis bei Erwachsenen ist ausgeglichen, während im Kindesalter mehr Jungen als Mädchen betroffen sind. Allerdings erkranken
Jungen i. d. R. auch früher als Mädchen. Die Störung beginnt zumeist in der Adoleszenz oder im jungen Erwachsenenalter (mit einem Gipfel zwischen dem 20.
und dem 25. Lj.). Nur 5  % der Erkrankungen manifestieren sich nach dem 40. Lj.; Ersterkrankungen bei über 50-Jährigen sind extrem selten. Bei einem
Großteil der Betroffenen treten erste Symptome vor dem 18. Lj. auf. Zwangsstörungen beginnen häufig schleichend (v.  a. Kontrollzwänge), aber auch eine
akut einsetzende Symptomatik ist (z. B. beim überwiegenden Teil der Waschzwänge) möglich. Die Erkrankung zeigt im Kindes- und Jugendalter häufig einen
fluktuierenden Verlauf. Überwiegend müssen sich die Betroffenen ein Leben lang mit der Erkrankung auseinandersetzen. Spontanremissionen sind bei
Erwachsenen relativ selten. Jeder zweite Zwangspatient lebt unverheiratet oder ohne festen Partner, was auf den frühen Erkrankungsbeginn, die hohe
Beeinträchtigung zwischenmenschlicher Beziehungen und dadurch eingeschränkte soziale Kompetenzen zurückgeführt wird.

Ätiologie
Um die Ätiologie der Zwangsstörung zu erklären, werden Erkenntnisse verschiedener Erklärungs- und Forschungsansätze zu einem Modell multifaktorieller
Genese der Störung (im Sinne eines Diathese-Stress-Modells) zusammengefasst (➤ ).

Box 8.1
Faktoren bei der Entstehung von Zwangsstörungen

• Vulnerabilität
– Biologische / genetische Disposition, immunologische Faktoren?
– Intrapsychische Faktoren (unbewusste Konflikte, Perfektionismus)
– Entwicklungsgeschichtliche Aspekte (rigider, überstrenger Erziehungsstil)
• Stress
– Kritische Lebensereignisse (z. B. Todesfall, Pubertät, Trennung, Heirat, Eintritt ins Berufsleben)
• Aufrechterhaltende Faktoren
– Vermeidungsverhalten
– Intrapsychische Funktion (Abwehr von Angst und Anspannung = primärer Krankheitsgewinn)
– Interpersonelle Funktion (sekundärer Krankheitsgewinn)
– Eigendynamik (Hilflosigkeit, Kontrollverlust)

Vulnerabilitätsfaktoren
Es ist davon auszugehen, dass die Vulnerabilität für eine Zwangsstörung von genetisch-biologischen und entwicklungspsychologischen Komponenten
beeinflusst wird:

• Neurobiologische Modelle, die sich auf bildgebende Verfahren, neurochirurgische Untersuchungen und Erkenntnisse über neurologische Störungen
mit Zwangssymptomen beziehen, sprechen für eine Dysfunktion im Regelkreis zwischen Basalganglien (insb. von Nucleus caudatus, Striatum
und Globus pallidus), limbischem System und präfrontalem Kortex. Höchstwahrscheinlich besteht eine frontoorbitale dopaminerge
Hyperaktivität, die mit einer vermehrten „Produktion“ automatisierter Gedanken oder Handlungsimpulse verbunden sein soll. Durch die
Überaktivität werden sekundär vermehrt exzitatorische (frontostriatale) Regelschleifen aktiviert, wodurch sekundär die „Filterfunktion“ der
Basalganglien für kortikale Informationen herabgesetzt wird. Auf funktioneller Ebene werden damit das verstärkte Wahrnehmen von
automatisierten Verhaltensmustern und Kognitionen wie auch die Schwierigkeit erklärt, dieses Verhalten bzw. die Gedanken situationsadäquat zu
beenden. Dies wiederum erschwert ein flexibles Denken, Reagieren und Handeln. Die affektive Komponente bei Zwangssymptomen, d. h. Angst,
Anspannung, Ekel, sowie die damit verbundenen Konditionierungsprozesse werden wahrscheinlich über die Amygdalae vermittelt, die ihrerseits
enge Verbindungen zum präfrontalen Kortex, zu den Basalganglien und zum Thalamus aufweisen. Organisches Korrelat könnte die vermutete
Dysbalance serotonerger Systeme sein, die angesichts der Wirksamkeit von Serotonin-Wiederaufnahmehemmern in der Behandlung von
Zwangserkrankungen angenommen wird. Die erbliche Komponente bei einer Zwangsstörung wird mit etwa 40 % veranschlagt. Angehörige eines
Menschen mit einer Zwangsstörung haben ein bis zu 6-fach erhöhtes Risiko, ebenfalls an einer Zwangsstörung zu erkranken.
• Psychodynamische Erklärungsmodelle betrachten die Zwangsstörung als Abwehr bzw. „Bewältigung“ eines Abhängigkeits-Autonomie-
Konflikts und der mit dem Konflikt verbundenen unangenehmen Gefühle (Angst, Ekel, Ärger). Der die Störung bedingende Konflikt entsteht im
Kleinkindalter, wenn das Kind selbstständiger wird und sich seine Umgebung immer aktiver erschließt. Dabei kommt es in Konflikt mit den Eltern,
die seinen Autonomiebestrebungen Grenzen setzen. Ein sehr unnachgiebiges, strenges Reagieren der Eltern und die Bestrafung mit Liebesentzug
werden als Faktoren angesehen, die zur Ausbildung der Konfliktstruktur beitragen. Im Sinne eines intrapsychischen Bewältigungsversuchs werden
der Konflikt und die damit verbundenen Ängste durch bestimmte Abwehrmechanismen (➤ , ➤ ) zwar nicht beseitigt, aber in einer für das
Bewusstsein tolerablen Weise bearbeitet. Im weiteren Leben wird die Konfliktstruktur in entsprechenden Triggersituationen reaktiviert (z. B.
Verlassen des Elternhauses).
• Das lerntheoretische Verständnis für die Entstehung der Zwangsstörung bezieht sich in erster Linie auf das Zwei-Faktoren-Modell (nach
Mowrer). Die Zwangssymptomatik wird durch klassische und operante Konditionierungsprozesse mit ausgelöst und aufrechterhalten (➤ ), analog
dem für die Agoraphobie beschriebenen Modell (➤ ). Eine belastende, bedrohliche Konfliktsituation (UCS) führt zu einer aversiven Reaktion (z. B.
Angst, Unruhe, Anspannung, UCR). Ein an sich neutraler Reiz (z. B. Unordnung, Schmutz, CS), der im Zusammenhang mit der belastenden
Konfliktsituation auftritt, wird mit der Situation verknüpft. In Zukunft genügt dann allein der konditionierte Reiz (CS), um die Angstreaktion (CR)
auszulösen, ohne dass tatsächlich eine aktuelle Bedrohung besteht. In einem weiteren Schritt wird beim Auftreten des konditionierten Reizes die
aversive Reaktion (CR) antizipiert. Um die befürchtete Reaktion zu vermeiden, werden Zwangshandlungen eingesetzt (z. B. Reinigen, Aufräumen).
Durch den damit verbundenen Abfall der ängstlichen Erwartung bzw. Unruhe wird das Wiederholen der Zwangshandlungen (negativ) verstärkt, d. 
h. „belohnt“, und ihre Auftretenswahrscheinlichkeit damit erhöht. Wie bei den Angststörungen trägt das sich dabei entwickelnde
Vermeidungsverhalten damit in besonderem Maße zur Aufrechterhaltung der Symptomatik bei.
Abb. 8.1 Das Zwei-Faktoren-Modell in der Genese der Zwangsstörung [M516 / L141]

• Kognitiv-behaviorale Erklärungsmodelle können die Genese von Zwangsgedanken veranschaulichen: Im Bewusstseinsstrom des Menschen
tauchen gelegentlich aufdringliche oder absurd anmutende Bilder, Gedanken oder Impulse auf. Sie werden als normalpsychologische Phänomene
betrachtet. Gesunden Menschen fällt es offenbar leicht, diesen Inhalten keine besondere Bedeutung zuzumessen. Erst die subjektive Bewertung
solcher Gedanken als inakzeptabel, unmoralisch, verboten oder höchst verwerflich führt zu unangenehmen Sensationen (Unruhe, Anspannung,
Angst). Den Inhalten wird damit einerseits vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt, andererseits scheinen Zwangserkrankte dazu zu neigen, die
Gedanken stärker mit „Gefahr und Risiken“ in Verbindung zu bringen als Gesunde. Beispielsweise überschätzen Zwangserkrankte das Risiko dafür,
dass sie das Gedachte in die Tat umsetzen könnten. Typisch sind kognitive Verzerrungen der folgenden Art: „Wenn ich daran denke, dass ich mich
anstecken könnte, wird es auch passieren“ (Gedanken-Ereignis-Fusion, „magisches Denken“) oder „Wenn ich darüber nachdenke, dass ich meinen
Mann mit einem Küchenmesser verletzen könnte, werde ich es auch tun“ (Gedanken-Handlungs-Fusion). Es wird nachvollziehbar, dass der
Betreffende bestrebt ist, die für ihn unangenehmen Inhalte zu kontrollieren oder durch neutralisierende Gedanken oder Handlungen abzumildern.
Alle genannten „Bewältigungsversuche“ im Umgang mit den aversiven Inhalten haben aber zur Folge, dass die entsprechenden Vorstellungen oder
Impulse leichter und häufiger in sein Bewusstsein drängen (zur Veranschaulichung: Denken Sie jetzt nicht an einen rosa Elefanten!). Dadurch
kommt es zu einer wechselseitigen Verstärkung von dysfunktionalen Bewältigungsstrategien und Symptomen.
Biografischen Erfahrungen, die zur lerngeschichtlichen Entwicklung bestimmter subjektiver Regeln oder Grundannahmen führen, wird bei der
Entwicklung der oben geschilderten „Bewältigungsstrategien“ ebenfalls eine wichtige Rolle zugeschrieben (z. B. hat ein erwachsener
Zwangspatient als Kind immer wieder die folgende, mit den entsprechenden Affekten verbundene Lernerfahrung gemacht: „Wenn ich nicht das tue,
was Mama will, dann liebt sie mich nicht mehr und lässt mich allein“). Auch eine biografische Situation, in der der Betreffende viel zu früh
Verantwortung übernehmen musste oder erhebliche, intolerable Unsicherheit erlebte, kann dazu beitragen.

Auslösende und aufrechterhaltende Bedingungen


Belastende Lebensereignisse wie der Tod einer wichtigen Bezugsperson oder die eigene körperliche Erkrankung, aber auch chronische Stresssituationen und
andere Lebensveränderungen (Heirat, Geburt eines Kindes) werden von vielen Patienten für den Zeitraum vor Beginn ihrer Störung angegeben. Sie können als
unspezifische Faktoren betrachtet werden, die ein vulnerables System „zum Kippen“ bringen und damit einen Auslöser für die Entstehung der Symptomatik
darstellen.
Als aufrechterhaltender Faktor wurde bereits das Vermeidungsverhalten genannt. Es verhindert die Erfahrung, dass Zwangsgedanken nicht mit einer
tatsächlichen Bedrohung verbunden sind und dass Anspannung und Unruhe wieder abnehmen, wenn der Betreffende nur lange genug in der auslösenden
Situation verbleibt. Er erreicht über seine Neutralisierungsrituale ein Gefühl vermeintlicher Sicherheit und damit verbundener intrapsychischer Entlastung. Von
wesentlicher Bedeutung ist auch die Funktionalität der Symptomatik für die psychosoziale Situation des Patienten: So können Zwänge dem Betreffenden z. 
B. helfen, seine Machtposition in einem Partnerschaftskonflikt zu untermauern, oder ihn durch Arbeitsunfähigkeit von einer beruflichen Überlastung befreien.
Ein Gefühl von zunehmendem Kontrollverlust und Hilflosigkeit sowie sekundäre soziale, schulische oder berufliche Probleme tragen häufig zur
Chronifizierung der Symptomatik bei.

8.2.3. Diagnostik und Differenzialdiagnostik


Diagnostik

Anamneseerhebung

Praxistipp
Bei allen Patienten, die sich mit einer Angsterkrankung, einer Depression, einer Alkoholproblematik oder einer anderen psychischen Erkrankung erstmals
zur Diagnostik vorstellen, sollte die gezielte Frage nach Zwangssymptomen nicht vergessen werden (hohe Komorbidität der Zwangsstörungen mit anderen
psychischen Erkrankungen!).

Die Zwangssymptomatik wird selten spontan berichtet, sodass sie nur durch genaue Exploration erfasst werden kann. Zum Screening werden in den S3-
Leitlinien die folgenden kurzen Fragen vorgeschlagen:

• Waschen oder Putzen Sie sehr viel?


• Kontrollieren Sie sehr viel?
• Haben Sie quälende Gedanken, die Sie loswerden möchten, aber nicht können?
• Brauchen Sie für Alltagstätigkeiten sehr lange?
• Machen Sie sich Gedanken um Ordnung und Symmetrie?

Viele Patienten stellen sich auf Drängen ihrer Angehörigen in einer Behandlungseinrichtung vor, sodass die Therapiemotivation oft erst aufgebaut werden
muss. Bestimmte interaktionelle Verhaltensweisen von Patienten mit Zwängen, wie z.  B. distanziertes, kontrollierendes, perfektionistisches, ambivalentes,
resigniertes oder rigides Verhalten, machen Diagnostik und Therapie oft zu einer Herausforderung und verlangen vom Therapeuten ein hohes Maß an
Toleranz, Ruhe und Empathie. Einen Leitfaden zur detaillierten Anamneseerhebung bei Zwangspatienten gibt ➤ .

Box 8.2
Fragen zur Anamneseerhebung bei Zwangsstörungen (nach dem DIPS-Interviewleitfaden von Margraf et al. 1994 [G790])

• Passiert es gelegentlich, dass Ihnen unangenehme oder beängstigende Gedanken durch den Kopf gehen und es Ihnen schwerfällt, diese wieder
loszuwerden, obwohl sie Ihnen unsinnig oder irrational vorkommen?
• Denken Sie dabei immer wieder daran, dass Ihnen oder einem Ihrer Angehörigen etwas Schreckliches passieren könnte, z. B. dass Sie einen
Angehörigen angreifen und verletzen könnten? Oder dass Ihre Familie einen schweren Verkehrsunfall erleiden könnte? Oder dass Ihre Angehörigen
anderweitig zu Schaden kommen könnten (durch Ansteckung, Erkrankung)?
• Versuchen Sie, diese Gedanken loszuwerden oder zu neutralisieren? Wie machen Sie das?
• Spüren Sie oft den Drang, eine bestimmte Handlung immer wieder durchzuführen, obwohl Sie Ihnen nutzlos und unsinnig vorkommt (z. B. etwas
immer wieder zu zählen oder zu waschen oder zu überprüfen)? Beschreiben Sie die Handlung genau.
• Versuchen Sie, sich gegen das Zählen / Waschen etc. zu wehren? Was geschieht, wenn es Ihnen gelingt, dem Zählen etc. zu widerstehen?
• Was würde Ihrer Auffassung nach geschehen, wenn Sie diese Handlungen nicht ausführen würden?
• Vermeiden Sie bestimmte Situationen oder Gegenstände, weil Sie befürchten, dass der Kontakt damit wieder die unangenehmen Gedanken oder
Handlungen auslösen könnte? Lassen Sie sich deshalb von anderen Menschen bestimmte Aufgaben abnehmen?
• Wie oft am Tag treten unangenehme Gedanken und / oder wiederholte Handlungen auf? Wie viel Zeit des Tages verbringen Sie damit? Wann haben
diese Probleme begonnen?

Befunderhebung
Die übrige Diagnostik folgt dem für die Angststörungen angegebenen Prozedere (➤ ). Neben der laborchemischen und apparativen Basisdiagnostik sollte eine
erweiterte Diagnostik zum Ausschluss einer organischen Grunderkrankung erfolgen (Liquor, Drogen- und Medikamentenscreening im Urin, evtl. Lues-
Serologie, ggf. Antistreptolysin-O-Titer, Folsäure, Vitamin B 12 , Schädel-MRT, ➤ ).
Psychometrische Verfahren, die im diagnostischen und therapeutischen Prozess sowie zu Forschungszwecken häufig eingesetzt werden, sind die Yale-
Brown Obsessive Compulsive Scale (Y-BOCS) und das Hamburger Zwangsinventar (HZI).

Differenzialdiagnostik
Zwangssymptome sind nicht spezifisch für die Zwangsstörung, sondern können bei einer Vielzahl psychischer, neuropsychiatrischer und organischer
Erkrankungen sowie unter Einnahme pharmakologisch wirksamer Substanzen auftreten (vgl. auch ➤ ). Erschwerend kommt die hohe psychiatrische
Komorbidität der Zwangsstörungen hinzu. Die differenzialdiagnostische Abgrenzung ist daher nicht immer einfach.
Eine Übersicht über psychische Erkrankungen, die mit einer Zwangssymptomatik einhergehen können oder die differenzialdiagnostisch von den
Zwangsstörungen abgegrenzt werden müssen, gibt ➤

Box 8.3
Psychische Erkrankungen, die mit Zwangssymptomen verbunden sein können

• Depression
• Psychosen des schizophrenen Formenkreises
• Angststörungen
• Zwanghafte Persönlichkeitsstörung
• Körperdysmorphe Störung
• Andere Zwangsspektrumsstörungen
• Suchterkrankungen (➤ )
• Impulskontrollstörungen
• Gilles-de-la-Tourette-Syndrom / Tics
• Autismus-Spektrum-Störungen
• ADS / ADHS

Depressive Episode
Zwangssymptome innerhalb einer depressiven Episode sind nicht selten (ca. 5 % bei schweren depressiven Episoden). Sie treten dabei erst nach Beginn der
Depression in Erscheinung und bessern sich bei Remission der Grunderkrankung. Andererseits entwickeln etwa zwei Drittel aller Zwangspatienten im Verlauf
ihrer Erkrankung eine depressive Symptomatik. Dabei besteht die Zwangssymptomatik häufig bereits über längere Zeit vor Beginn des depressiven Syndroms.

Angststörungen
Ängstlichkeit bis zur Panik und Anspannung sowie das Vermeidungsverhalten für auslösende Stimuli (z. B. Berührung von Türklinken) lassen bei Zwängen
manchmal zunächst an das Bestehen einer Angststörung denken. Die Zwangshandlungen selbst und die Art der angstauslösenden Objekte und Situationen
können hier als gute Unterscheidungskriterien dienen. Allerdings kommen Zwangsstörungen häufig auch komorbide mit Angststörungen vor.

Zwangsassoziierte Störungen
Auf die Symptomatik der zwangsassoziierten Störungen (körperdysmorphe Störung, zwanghaftes Horten, Trichotillomanie etc.) wird in ➤ eingegangen.

Zwanghafte (= anankastische) Persönlichkeitsstörung


Diese Persönlichkeitsstörung ist durch ein überdauerndes Muster rigider, perfektionistischer Verhaltensweisen, übermäßiger Gewissenhaftigkeit, Pedanterie,
Vorsicht und sozialer Angepasstheit charakterisiert. Dabei können Perfektionismus und Skrupelhaftigkeit die Durchführung bestimmter Tätigkeiten behindern.
Im Unterschied zu den meisten Menschen mit Zwangsstörung bewerten Menschen mit anankastischer PS ihre Verhaltensweisen als richtig, rational und
gerechtfertigt (= Ich- Syntonie ). Während sich Zwangspatienten erheblich durch ihre Symptomatik gequält fühlen, sind bei der zwanghaften PS meist
Angehörige oder sonstige Kontaktpersonen die Leidtragenden (➤ ).

Psychosen des schizophrenen Formenkreises


Zwangssymptome können als Prodromi oder Akutsymptome einer Psychose des schizophrenen Formenkreises auftreten. Bei einer akuten Schizophrenie kann
sich der Betreffende in vielen Fällen nicht mehr von den Inhalten seiner Zwänge distanzieren. Wegweisend sind hier weitere psychotische Kernsymptome wie
Wahrnehmungsstörungen und Ich-Störungen oder die eher bizarre Ausgestaltung einer Wahnsymptomatik. Bei einer besonders schwer verlaufenden
Zwangsstörung kann umgekehrt die Abgrenzung zu einer schizophrenen Psychose schwierig sein, wenn die Zwangsstörung mit bizarr anmutenden
Verhaltensweisen einhergeht oder wenn sich der Betreffende nicht mehr vom offensichtlich irrationalen Inhalt seiner Zwangsvorstellungen distanzieren kann.
Ich-Störungen oder Halluzinationen treten bei der reinen Zwangsstörung im Vergleich zur schizophrenen Psychose jedoch nicht auf.

Impulskontrollstörungen
Bei diesen Erkrankungen besteht ein Drang, bestimmte Verhaltensweisen exzessiv und wiederholt durchzuführen (z. B. Glücksspiel, Stehlen). Auch sie sind für
den Betreffenden schwer zu unterdrücken und abzubrechen, und gelegentlich besteht eine Neigung zu magischem Denken. Im Gegensatz zur Zwangsstörung
sind die Handlungen jedoch ich-synton, stark lustbetont und werden wegen des erwünschten „Kicks“ durchgeführt (➤ ).

Essstörungen
Bei den Essstörungen können zwanghaft anmutende Verhaltensweisen auftreten. Zentrale Ängste beziehen sich jedoch auf ein „Zu-dick-Werden“ oder „-Sein“,
Gefühle von Unattraktivsein oder Minderwertigkeit bei zu hohem Körpergewicht (➤ ).

Ticstörungen
Ticstörungen, insbesondere das Gilles-de-la-Tourette-Syndrom, sind in etwa der Hälfte der Fälle mit zwangsähnlichen Gedanken oder Handlungsimpulsen
assoziiert. Im Vordergrund stehen aber die für die Störung typischen multiplen vokalen und motorischen Tics, die über längere Zeit viele Male am Tag auftreten
und in mehr oder weniger stereotyper Form ablaufen (➤ ).

Autismus-Spektrum-Störungen
Diese Entwicklungsstörungen beginnen typischerweise bereits im Kindesalter. Neben den charakteristischen Beeinträchtigungen der sozialen Interaktion sowie
Schwierigkeiten in der Wahrnehmung und Verarbeitung von Emotionen treten auch repetitive, stereotype Verhaltensweisen auf, die an eine Zwangsstörung
erinnern können. Wegweisend sind die Kernsymptome der Autismus-Spektrum-Störung (➤ ), wobei die differenzialdiagnostische Abgrenzung bei
hochfunktionalem Autismus durchaus schwierig sein kann.

ADS / ADHS
Patienten mit ADS / ADHS beschreiben nicht selten ein „Unvollständigkeitserleben“, verzetteln sich deshalb und bringen begonnene Aktivitäten nicht zu Ende.
Bei entsprechenden Reizen (z.  B. bei spannenden Computerspielen) sind sie zur „Hyperfokussierung“ in der Lage, d.  h. einer derartigen
Aufmerksamkeitsbündelung, dass die durchgeführte Handlung nur unter großen Schwierigkeiten beendet werden kann. Zur Regulation erhöhter innerer
Anspannung werden nicht selten repetitive Handlungen eingesetzt (z.  B. Haareausreißen, Nägelkauen), die jedoch meistens nicht das Ausmaß einer
Zwangsspektrumsstörung aufweisen. Kernsymptome des ADS bzw. der ADHS sind jedoch die spezifischen Störungen der Aufmerksamkeit und Konzentration
sowie eine ggf. bestehende Hyperaktivität (➤ ). ADS / ADHS kann aber durchaus komorbide mit einer Zwangsstörung vorliegen.

8.2.4. Therapie und Prognose


Therapie
Bei der Behandlung der Zwangsstörungen kommen sowohl psychotherapeutische als auch pharmakologische Verfahren zur Anwendung. Mittel der 1.
Wahl ist nach aktueller Datenlage eine kognitive Verhaltenstherapie (KVT) mit Exposition und Reaktionsmanagement. Abhängig von der Symptomatik,
der Komorbidität, der Präferenz der Betreffenden und der vor Ort verfügbaren Behandlungsoptionen wird zusätzlich noch eine Pharmakotherapie,
vorzugsweise mit bestimmten Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRIs), angewandt.
Wenn möglich, sollte die Behandlung ambulant durchgeführt werden, damit der Patient in seinem alltäglichen Umfeld verbleiben kann. Die Indikation zur
stationären Therapie ist dann gegeben, wenn

• die Schwere der Störung eine ambulante Behandlung unmöglich macht,


• zusätzlich eine schwere depressive Symptomatik besteht,
• ein massiver familiärer oder Partnerschaftskonflikt vorliegt,
• vorherige ambulante Therapieversuche keinen ausreichenden Erfolg hatten oder
• in der näheren Umgebung des Patienten kein adäquates ambulantes Therapieangebot existiert.

Vergleichende Effektstärken
Die Effektstärke (➤ ) einer psychotherapeutischen Behandlung der Zwangsstörung wird auf 1–1,5 geschätzt und liegt damit im hohen bis sehr hohen Bereich.
Die Schätzung ist aber aufgrund der vergleichsweise kleinen Studien ungenau (Konfidenzbereich 0,64–2,24). Die meisten Daten liegen für die KVT vor; ob
psychodynamische Verfahren wirken, ist unklar. Allerdings wird nur ein Fünftel bis ein Viertel aller behandelten Patienten völlig symptomfrei. Die Effekte
einer medikamentösen Therapie der Zwangsstörung mit SSRIs liegt – fasst man alle Medikamentenstudien von über 3.000 behandelten Patienten zusammen – 
bei 0,4. Dies entspricht einem mittleren Effekt. Zusammengefasst ist Psychotherapie in Form der störungsorientierten KVT einer medikamentösen Behandlung
höchstwahrscheinlich überlegen. Dies betrifft insbesondere Zwangsstörungen, bei denen Zwangshandlungen dominieren. Psychotherapie ist daher das Mittel
der 1. Wahl bei der Zwangsstörung.

Psychotherapeutische Behandlung
Methode der 1. Wahl für die Behandlung der Zwangsstörungen ist die störungsorientierte multimodale Verhaltenstherapie. Als Goldstandard gelten
Therapieprogramme, die eine intensive, therapeutenbegleitete Reizkonfrontation mit Reaktionsmanagement enthalten. Etwa zwei Drittel der behandelten
Patienten erreichen damit eine deutliche Besserung ihrer Beschwerden. Für tiefenpsychologische Verfahren oder die Gesprächspsychotherapie liegen in der
Behandlung der reinen Zwangsstörung keine RCTs vor.

Reizkonfrontation mit Reaktionsmanagement


Mit diesen Verfahren (➤ ) lernt der Patient, sich den von ihm gefürchteten Situationen (z. B. Berühren einer Türklinke mit der bloßen Hand) auszusetzen und
die dabei auftretenden Gefühle von Angst und Anspannung bis zu deren Abklingen auszuhalten. Ziel ist es, das bislang praktizierte Vermeidungsverhalten
(z. B. neutralisierende Handlungen wie das Händewaschen) zu verhindern ( Reaktionsmanagement ). Die Behandlung basiert auf der Erkenntnis, dass sich
Angst, Anspannung und Unruhe bei Konfrontation mit dem auslösenden Reiz ohne neutralisierendes Ritual nicht  –  wie vom Patienten befürchtet  –  bis ins
Unermessliche steigern, sondern nach einer gewissen Zeit ein Plateau erreichen und dann sogar abfallen. Der Patient macht dabei die Erfahrung, dass die
unangenehmen Gefühle und Körperreaktionen auch ohne Durchführung eines Rituals im Rahmen einer physiologischen Reaktion nachlassen und die von ihm
befürchtete Katastrophe (z. B. Erkrankung an AIDS) nicht eintritt (Korrektur verzerrter Kognitionen). Obwohl eine massierte Konfrontation (d. h., dass der
Patient als extrem schwierig erachtete Situationen hintereinander wiederholt aufsucht) wahrscheinlich zu besseren Therapieergebnissen führt, wird aufgrund
der höheren Praktikabilität, Akzeptanz und der Möglichkeit, die Exposition im Selbstmanagement durchzuführen, i. d. R. ein graduiertes Vorgehen gewählt.
Die auslösenden Reize müssen dafür präzise identifiziert werden (also z. B. Berühren des Türgriffs an der eigenen Haustür mit der ganzen, bloßen Hand für
mindestens 1 min) und werden vom Patienten beim graduierten Vorgehen in eine Hierarchie von wenig bis stark Anspannung auslösenden Situationen
gebracht. Die entsprechenden Situationen werden, beginnend mit einem mäßige Anspannung auslösenden Reiz, mehrfach aufgesucht, bis Intensität und Dauer
der unangenehmen Gefühle für den Patienten subjektiv deutlich nachlassen. Dann wird die Konfrontation mit einer schwierigeren Situation fortgesetzt.
Dadurch erfährt der Patient eine Symptomreduktion, die ihn zu weiteren Therapieschritten motivieren kann.
Bei Zwangshandlungen, die nicht durch konkrete Gegenstände, sondern durch bestimmte Gedanken ausgelöst werden, erfolgt eine Reizkonfrontation in
sensu: Der Patient stellt sich die angstauslösenden Gedanken so lange vor oder schildert sie detailliert, bis er Anspannung und den Drang zu neutralisierenden
Handlungen verspürt. Da diese Verfahren für den Patienten durchaus mit Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten verbunden sind, müssen die vorbereitenden
Schritte gründlich erfolgt sein. Wesentlich für den Therapieerfolg ist, dass die Expositionsbehandlung in den zwangsauslösenden Situationen zu Hause bzw.
außerhalb der therapeutischen Einrichtung erfolgt.
In den ersten Expositionssitzungen werden ein bis zwei, oft aber auch mehr Stunden benötigt, um einen Anspannungsabfall zu erreichen. Sie werden,
wenn möglich, zunächst täglich oder jeden zweiten Tag durchgeführt, später in größeren Zeitabständen (wöchentlich). Die Begleitung durch den Therapeuten
ist in den ersten Sitzungen unumgänglich, um die vom Patienten entwickelten Vermeidungsstrategien erfolgreich zu verhindern. Zwischen den
Therapiesitzungen und im weiteren Verlauf der Behandlung wird der Patient zum Üben in Eigenregie angeleitet. Trotz der hohen Wirksamkeit wird das
beschriebene Verfahren leider in der Praxis nur bei maximal der Hälfte aller Patienten angewandt, was mit Vorbehalten der Therapeuten bzw. dem relativ
hohen Zeitaufwand in Verbindung gebracht wird.

Kasuistik
Forts.
Die Patientin beginnt die Reizkonfrontation damit, dass sie nach dem Einkaufen die zuvor benutzte Payback-Karte in die bloße Hand nimmt, daran reibt
und sie mehrere Minuten in der Hand behält. Dem begleitenden Therapeuten schildert sie innere Anspannung und Unruhe von 80  % und den starken
Drang, sofort nach Hause zu gehen, um sich die Hände zu waschen und zu duschen bzw. sich zu desinfizieren. Sie äußert ihre Gedanken: „Wenn ich
meine Hände nicht sofort wasche, infiziere ich mich mit HIV. Ich muss nach Hause. Ich halte das nicht aus.“ Der Therapeut ermutigt sie, nochmals
darüber nachzudenken, für wie wahrscheinlich sie eine Ansteckung mit HIV über die Karte halte. „Ich weiß, eigentlich kann man sich nur über Blut und
Geschlechtsverkehr anstecken. Ich möchte aber gern sicher sein …“ Nach etwa 1 h äußert die Patientin, die Anspannung habe auf etwa 60 % nachgelassen.
Nach weiteren 20 min liegt die Anspannung bei 20 %, und sie hält die Wahrscheinlichkeit, sich angesteckt zu haben, für gering (10 %). Nach einer kurzen
Pause ist sie bereit, die Übung zu wiederholen.

Reizkonfrontation bei Zwangsgedanken


Zwangsgedanken lassen sich durch den Einsatz von Konfrontationsverfahren und kognitiven Techniken wesentlich besser behandeln als früher; dennoch
stellen sie Therapeuten und Patienten vor größere Probleme: Einerseits sollen Angst und Anspannung auslösende Gedanken (= gedankliche Zwänge mit
Stimuluscharakter ) identifiziert und besprochen werden. Andererseits sollen sie nicht mehr in dem Maße beachtet und bewertet werden, dass anschließend
eine gedankliche Neutralisierung erforderlich wird. Bei der Reizkonfrontation in sensu wird der Patient gebeten, detailliert die Gedanken zu schildern, die bei
ihm ängstliche Unruhe verursachen, ohne die emotionale Komponente durch gedankliche Rituale (= gedankliche Zwänge mit Reaktionscharakter ) wie z. B.
Beten oder durch das stereotype Wiederholen bestimmter Phrasen abzubrechen oder zu vermeiden. Neben der aktiven Schilderung angsterzeugender Stimuli
können diese zu Expositionszwecken aufgenommen und wiederholt abgehört werden. Auch das Aufsuchen bestimmter Situationen, die spezifische
Zwangsgedanken auslösen, kann hier zielgerichtet eingesetzt werden.

Kognitive Verfahren
Sowohl bei der Behandlung von Zwangsgedanken als auch bei Zwangshandlungen spielen kognitive Techniken eine wichtige Rolle. Durch die Erfahrungen bei
der Konfrontationsbehandlung überprüft der Patient seine dysfunktionalen Überzeugungen (wie z. B. die Erwartung, sich durch Berühren einer Türklinke
mit HIV zu infizieren und einen qualvollen Tod zu erleiden). Der Patient kann dazu angeleitet werden, verzerrte Kognitionen und die damit verbundenen
emotionalen Reaktionen in einem Tagebuch zu erfassen und sie zunächst gemeinsam mit dem Therapeuten, später im Selbstmanagement auf die
Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens bzw. ihren Realitätsgehalt zu überprüfen. Hilfreich kann auch die Aufklärung des Patienten über die mit verursachenden
neurobiologischen Faktoren sein, um ihm eine emotionale Distanzierung von den Zwangssymptomen zu ermöglichen: Der Betreffende kann die Zwänge
dabei u. a. als Symptome einer neurobiologischen Dysfunktion begreifen, auf die er selbst mit bestimmten Strategien aktiv und wirksam reagieren kann („It’s
not me, it’s my OCD!“).

Angehörigenarbeit
Der Arbeit mit den Bezugspersonen des Patienten kommt eine große Bedeutung zu, da viele Angehörige in die „Abwicklung“ von Zwangshandlungen
eingebunden und durch die Störung in hohem Maß belastet sind. Psychoedukative Maßnahmen wie die ausführliche Aufklärung über die Erkrankung und ihre
Entstehungsbedingungen sowie die therapeutischen Möglichkeiten erbringen i. d. R. schon eine deutliche Entlastung für alle Beteiligten. Allerdings kann es bei
jahrelangem Verlauf der Störung und dadurch bedingter zunehmender Distanzierung von Angehörigen schwierig sein, diese zur aktiven Unterstützung des
Patienten zu motivieren. Erschwerend können bereits vor Erkrankungsbeginn bestehende familiäre Konflikte hinzukommen.
Ansätze der sog. dritten Welle der Verhaltenstherapie (ACT, MBCT) stellen nach heutigem Wissenstand keinesfalls eine gleichwertige Alternative zur
störungsspezifischen KVT bei Zwangsstörungen dar. Sie könnten diese aber evtl. im Hinblick auf die Rückfallprophylaxe sinnvoll ergänzen.

Pharmakotherapie
Die Pharmakotherapie wird entsprechend den aktuellen Leitlinien nicht mehr als Mittel der 1. Wahl in der Behandlung der Zwangsstörung betrachtet. Als
wirksam haben sich in erster Linie SSRIs und das serotonerg wirksame trizyklische Antidepressivum Clomipramin erwiesen. Diese Medikamente sind
dann indiziert, wenn

• eine schwere komorbide depressive Symptomatik vorliegt,


• keine (ausreichende) Besserung auf eine störungsorientierte KVT eingetreten ist,
• wenn Zwangsgedanken im Vordergrund der klinischen Symptomatik stehen (und diese sich auf KVT nicht deutlich bessern),
• der Patient eine Psychotherapie ablehnt oder eine solche nicht zur Verfügung steht
• oder wenn eine so schwere Zwangssymptomatik vorliegt, dass eine KVT nur unter großen Schwierigkeiten oder gar nicht möglich ist.

Zur Behandlung der Zwangsstörung sind in Deutschland (neben Clomipramin ) die Substanzen Citalopram, Escitalopram, Fluvoxamin, Fluoxetin,
Paroxetin und Sertralin zugelassen. Venlafaxin ist nicht für die Indikation Zwangsstörung zugelassen und hat sich in der Zwischenzeit im Vergleich zu den
genannten SSRIs als weniger wirksam erwiesen. Zu beachten ist, dass die verwendeten Substanzen bei der Therapie von Zwängen höher dosiert werden
müssen (➤ ) und ihre therapeutische Wirkung deutlich später entfalten (nach etwa 6–12 Wochen) als bei der Behandlung von Depressionen. In manchen
Studien wurde die maximale Dosis auch deutlich überschritten. Hier handelt es sich um einen Off-Label-Use, der ein entsprechend engmaschiges und
sorgfältiges klinisches Monitoring erforderlich macht. Darüber hinaus sind die Tageshöchstdosen von Citalopram und Escitalopram seit einigen Jahren
aufgrund der seltenen Gefahr von QT©-Zeit-Verlängerungen auf 40 mg bzw. 20 mg beschränkt.

Tab. 8.4 Medikamente zur Behandlung von Zwangsstörungen


Stoffklasse Medikament Dosierung [mg]
SSRIs Escitalopram 20

Fluvoxamin 250–300

Fluoxetin 60–80

Paroxetin 40–60

Sertralin 150–200

Citalopram 40

Trizyklische Antidepressiva Clomipramin 225–300

Antipsychotika (nur zur Augmentierung) Risperidon 1–3

Aripiprazol 2,5–10

Die medikamentöse Behandlung führt bei ca. 40–60  % der Patienten zu einer klinisch relevanten Symptomreduktion (um mindestens 30  %). Eine
Vollremission unter alleiniger medikamentöser Behandlung wird selten erreicht, und die Rückfallquote nach dem Absetzen ist mit einer Verschlechterung auf
das Ausgangsniveau bei 80–90  % der Patienten sehr hoch. Das Rückfallrisiko nach Absetzen der Medikation soll sich verringern, wenn vorher eine
fachgerechte KVT erfolgt ist.
Die medikamentöse Erhaltungstherapie mit einem SSRI bzw. Clomipramin sollte nach Besserung der Symptomatik über mindestens 1–2 Jahre fortgesetzt
werden. Ein Absetzversuch ist in Form einer sehr langsamen, stufenweisen Dosisreduktion zu empfehlen (10–25 % der Dosis pro 1–2 Monate).
Eine schwere, chronifizierte und therapierefraktäre Zwangsstörung und Zwangsstörungen, bei denen sich der Patient schlecht oder gar nicht von seinen
ängstlichen Überzeugungen distanzieren kann, können durch die zusätzliche niedrig dosierte Gabe eines Antipsychotikums der 2. Generation (z. B.
Risperidon, Aripiprazol, evtl. auch Amisulprid) günstig beeinflusst werden. Es handelt sich hierbei allerdings um einen Off-Label-Einsatz der genannten
Präparate. Auch bei komorbid bestehender Ticstörung ist ein solcher Behandlungsversuch sinnvoll. Bei Unwirksamkeit über einen Zeitraum von 6 Wochen
sollte das Antipsychotikum aber wieder abgesetzt werden.
Mit der tiefen Hirnstimulation (➤ ) liegt wahrscheinlich ein wirksames Therapieverfahren für Patienten mit multitherapieresistenter Zwangsstörung vor. Sie
könnte die früher angewandten irreversiblen stereotaktischen neurochirurgischen Interventionen ablösen. Derzeit geht man von einer klinisch relevanten
Response bei etwa der Hälfte bis zwei Drittel der behandelten Patienten aus. Eine empirische Absicherung durch weitere kontrollierte und randomisierte
Studien steht jedoch noch aus.

Prognose und Verlauf


Zwangsstörungen verlaufen unbehandelt fast immer chronisch, Spontanremissionen sind selten. Durch eine multimodale störungsorientierte
Verhaltenstherapie mit Reizkonfrontation und Reaktionsmanagement erreichen in der klinischen Praxis etwa 60–80 % der Behandelten eine deutliche
Besserung der Zwangssymptome. Dieser Effekt lässt sich auch im längerfristigen Verlauf (nach 2–6 Jahren) noch bei der Hälfte bis drei Viertel der Patienten
nachweisen.
Die alleinige pharmakologische Behandlung mit Clomipramin oder einem SSRI führt bei ebenfalls 20–40  % der Patienten zu einem Rückgang ihrer
Beschwerden. Das Rückfallrisiko nach Absetzen des Medikaments ist allerdings mit 80–90 % sehr hoch.

8.3. Zwangsspektrumstörungen
Wie bereits ausgeführt, bestehen zwischen den Zwangsspektrumsstörungen und der Zwangsstörung klinisch Überschneidungen (➤ ). In der ICD-11 werden
neben den nachfolgend beschriebenen Krankheitsbildern auch die Diagnosen des olfaktorischen Referenzsyndroms und der Hypochondrie integriert werden.
Deshalb soll an dieser Stelle zunächst kurz auf diese beiden Diagnosen eingegangen werden.

8.3.1. Olfaktorisches Referenzsyndrom


Die betreffende Person ist bei dieser Störung in außergewöhnlichem Maße mit der Überzeugung beschäftigt, dass sie einen unangenehmen, übelriechenden
Körper- oder Mundgeruch aufweist, ohne dass dieser tatsächlich von anderen Menschen in dieser Weise wahrgenommen wird. Sie entwickeln z.  B. die
Befürchtung, dass andere den Geruch bemerken, negativ beurteilen oder darüber sprechen. In der Folge entwickeln sie exzessive, sich wiederholende
Handlungen, um mögliche Quellen des Geruchs zu kontrollieren, zu beseitigen oder zu verhindern. Rückversicherndes Verhalten, Vermeidung auslösender
Stimuli oder sozialer Situationen führen zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betreffenden Person in vielen Lebensbereichen.

8.3.2. Hypochondrie
Als Neuerung wird in der ICD-11 die in der ICD-10 unter den somatoformen Störungen codierte hypochondrische Störung als Hypochondrie den
Zwangsspektrumsstörungen zugeordnet werden. Bei der hypochondrischen Störung ist der Betreffende davon überzeugt, an einer schweren körperlichen
Erkrankung wie z.  B. AIDS oder einem bösartigen Tumor zu leiden. Der Patient kann die Krankheit genau benennen und schildert auch körperliche
Beschwerden, die mit dieser Diagnose in Einklang zu bringen sind. Somatische Missempfindungen oder Symptome jeder Art werden ängstlich beobachtet und
als Bestätigung der vermuteten Erkrankung bewertet. Es werden wiederholt medizinische Institutionen und Fachpersonal konsultiert und eingehende
diagnostische Maßnahmen verlangt. Obwohl die Diagnostik immer wieder unauffällige Befunde erbringt, lässt sich der Betreffende dadurch nicht oder nur
kurzzeitig beruhigen. Das wiederholte und exzessive Rückversichern v. a. innerhalb des medizinischen Versorgungssystems, aber auch in Form medizinischer
Recherchen im Internet rücken das klinische Bild in die Nähe der Zwangsspektrumsstörungen. Gesundheitsbezogene, katastrophisierende Ängste und
Vermeidungs- oder Schonverhalten sind ebenfalls zu beobachten. Bei der Hypochondrie haben sich kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlungsprogramme,
die sich an das Vorgehen bei Angsterkrankungen anlehnen, als wirksam erwiesen. Pharmakologisch kann ein Behandlungsversuch mit einem SSRI
unternommen werden.
Von der hypochondrischen Störung abzugrenzen ist ein Phänomen von „Gesundheitsangst“, das unter dem Begriff der „medical student’s disease“ bekannt
ist: Viele Medizinstudenten berichten, v.  a. während des klinischen Teils ihres Studiums, über Phasen vorübergehender hypochondrischer Ängste. Dabei
werden vermehrt körperliche Beschwerden wahrgenommen und vom Betreffenden auf eine vermutete organische Erkrankung zurückgeführt. Typischerweise
werden diejenigen Krankheiten befürchtet, die auch gerade Gegenstand des Studiums sind. Das Phänomen kommt wahrscheinlich durch eine selektive
Aufmerksamkeitsfokussierung auf den eigenen Körper und eine spezifische kognitive Bewertung der Körperempfindungen zustande, die durch die
Auseinandersetzung mit neuem medizinischem Wissen ausgelöst wird.

8.3.3. Körperdysmorphe Störung


Bei der körperdysmorphen Störung (dysmorphophobe Störung, ICD-10) erlebt sich die betreffende Person als durch eine vermeintliche körperliche Anomalie
entstellt oder missgebildet. Dysmorphophobe Ängste beziehen sich häufig auf bestimmte Gesichtspartien (z.  B. bei der Überzeugung, ein über die Maßen
vorspringendes und damit entstellendes Kinn oder eine extrem verunstaltende Nase zu haben). Für die Umgebung sind die Befürchtungen des Betreffenden
unverständlich und nicht nachvollziehbar. Nicht selten entwickeln die Patienten entgegen allen Überzeugungsversuchen den drängenden Wunsch, die
vermeintliche Fehlbildung durch eine kosmetische Operation beseitigen zu lassen. Die betreffende Person beschäftigt sich in exzessivem Maße mit der
vermeintlichen Entstellung, deren Aussehen oder Ausmaß und versucht, diese zu verstecken oder zu verändern.
Typisch für die Störung ist eine übermäßige Selbstbetrachtung und -kontrolle im Spiegel. Erhöhte Selbstbeobachtung und das Gefühl, aufgrund des
vermeintlichen Handicaps von anderen beobachtet, abgewertet oder negativ beurteilt zu werden, führen zu einer zunehmenden Vermeidung sozialer
Situationen und einer erheblichen Beeinträchtigung wichtiger Lebensbereiche. Im klinischen Alltag kann ein fließender Übergang zwischen körperdysmorphen
Ängsten im Sinne einer überwertigen Idee und einem manifesten Wahn mit der unverrückbaren Überzeugung der körperlichen Fehlbildung beobachtet werden.
Die Punktprävalenz für Deutschland wird mit 1,7–1,8 % angegeben; Frauen sollen etwas häufiger betroffen sein als Männer. Unter Patienten, die sich einer
Schönheitsoperation unterziehen, soll der Anteil bei 7–8 % liegen.
In der ICD-10 wurde die Störung noch in die Gruppe der somatoformen Störungen eingeordnet (➤ ). In der ICD-11 ist sie aber zusammen mit der
Hypochondrie Teil der Zwangsspektrumsstörungen, was mit dem typischen Bild des repetitiven, zwanghaften Überprüfens des Aussehens begründet wird.

8.3.4. Zwanghaftes Horten


Symptomatik
Das zwanghafte Horten wird als Unterform der Zwangsstörung betrachtet. Darunter wird die Unfähigkeit verstanden, Besitztümer wegzugeben, zu
verschenken, auszusortieren oder zu entsorgen – unabhängig von ihrem objektiven Wert. In geringerem Maße leiden die Betreffenden auch an einem Drang,
Besitztümer durch Kauf oder Sammeln anzuhäufen. Die Folge davon ist eine derartige Ansammlung von Dingen, dass der eigene Wohnraum überfüllt ist und
nicht mehr angemessen genutzt werden kann. In Extremfällen kann dies zur „Vermüllung“ einer ganzen Wohnung oder eines Hauses führen. Die Personen
sammeln die Gegenstände absichtlich und erleben starkes Unbehagen, wenn sie die diese entsorgen sollen. Als Grund für das Behalten werden oft die
Nützlichkeit, ästhetische Aspekte, Gefühle innerer Verbundenheit, Verantwortung und Angst vor Verschwendung angeführt. Gesammelt werden am häufigsten
Post, Zeitungen, alte Kleidungsstücke, Tüten und Taschen, Bücher und Papiere, aber auch alle erdenklichen Arten von Gegenständen. Den betreffenden
Personen entstehen dadurch Beeinträchtigungen in vielen Lebensbereichen. Im Vergleich zur Zwangsstörung im engeren Sinne erleben die Betroffenen das
Sammeln jedoch eher als ich-synton und suchen deshalb seltener professionelle Hilfe.

Epidemiologie, Therapie und Verlauf


Die Punktprävalenz in Europa und den USA wird mit 2–6 % angegeben. Die Störung ist bei älteren Menschen (55–94 Jahre) dreimal häufiger als bei Jüngeren.
Der Verlauf wird als chronisch mit Tendenz zur Verschlechterung beschrieben. Die genetische Komponente wird derzeit auf 50 % geschätzt. Therapeutisch
wird als Mittel der 1. Wahl wie bei der Zwangsstörung eine KVT mit begleiteter Exposition (Aussortieren, Wegwerfen) und Reaktionsmanagement empfohlen.
Auch eine Pharmakotherapie mit einem SSRI kann versucht werden. Die Behandlungserfolge sind insgesamt deutlich geringer als bei der Zwangsstörung.

8.3.5. Trichotillomanie (pathologisches Haareausreißen) und Dermatillomanie (pathologisches


Hautzupfen / -quetschen)
Trichotillomanie, zwanghaftes Haareausreißen, Hautzupfen oder -quetschen, Lippenbeißen oder ähnliche Verhaltensweisen werden in der ICD-11 unter dem
Begriff der körperbezogenen repetitiven Verhaltensstörungen und damit als Teil der Zwangsspektrumsstörungen zusammengefasst.

Trichotillomanie

Symptomatik
Bei der Trichotillomanie können die Betreffenden nicht dem Verlangen widerstehen, sich Haare auszureißen, was zu einem sichtbaren Haarverlust führt. Sie
entwickeln eine starke Anspannung vor dem Ausreißen und erleben ein Gefühl der Lust oder Erleichterung, wenn sie dem Impuls nachgeben. Typischerweise
werden bevorzugt Kopfhaare ausgerissen; es können aber auch Haare anderer Körperpartien (Augenbrauen, Lider, Bart, Schambehaarung) betroffen sein. In
der Regel besteht die Tendenz, das Verhalten zu verheimlichen, z.  B. durch das Vorgeben einer dermatologischen Erkrankung oder das Tragen einer
Kopfbedeckung. Die Trichotillomanie ist häufig mit anderen Verhaltensstörungen wie z.  B. dem Haareausreißen bei Puppen, Aufessen der Haare
(Trichophagie), Nägelkauen oder Kratzen assoziiert.

Komorbidität, Epidemiologie und Verlauf


Haareausreißen kann bei Kindern als vorübergehende Gewohnheit auftreten, die dem Abbau von Anspannung dient. Die 12-Monats-Prävalenz der
krankhaften Trichotillomanie bei Erwachsenen und Jugendlichen wird mit 1–2 % angegeben, wobei die Geschlechterverteilung im Kindesalter wahrscheinlich
ausgeglichen ist. Im Erwachsenenalter sind Frauen im Verhältnis von ca. 10 : 1 häufiger betroffen. Die Erkrankung beginnt mit durchschnittlich 10 Jahren
und kann episodisch, fluktuierend oder chronisch-kontinuierlich verlaufen. Sie ist überzufällig häufig mit affektiven Störungen, Angsterkrankungen,
Substanzmissbrauch und Zwangsstörungen assoziiert.

Dermatillomanie
Unter Dermatillomanie versteht man das wiederkehrende Zupfen oder Quetschen der Haut, was zu erheblichen Verletzungen führen kann. Der Betreffende
kann das Verhalten nicht unterdrücken und leidet erheblich darunter. Besonders häufig sind die Hautpartien im Gesicht sowie an Händen und Armen betroffen.
In der Regel werden dazu die Fingernägel benutzt, aber auch Pinzetten, Nadeln oder andere Gegenstände. Das Verhalten kann viel Zeit in Anspruch nehmen – 
bis zu mehrere Stunden am Tag. Die Lebenszeitprävalenz in der Allgemeinbevölkerung wird mit 1,4 % angegeben. Frauen sind mit ca. 75 % deutlich häufiger
betroffen als Männer.

8.3.6. Substanzinduzierte Zwangsstörung, sekundäre Zwangsstörungen und verwandte


Störungen aufgrund einer anderen Erkrankung
Grundsätzlich können alle organischen Erkrankungen des Gehirns, die das limbische System, die Basalganglien, den frontoorbitalen Kortex, aber auch
Temporallappen und Hippokampus betreffen, eine Zwangssymptomatik verursachen (➤ ). Auch psychoaktive Substanzen und Medikamente können zu
einer solchen Symptomatik führen.

Box 8.4
Organische Ursachen für Zwänge
• Chorea minor (Sydenham)
• Epilepsie
• Enzephalitis
• Schädel-Hirn-Trauma
• Tumoren des ZNS
• Hirnabszess
• Ischämische Hirnläsionen
• Medikamente, Drogen
• Z. n. Vergiftungen (Kohlenmonoxid, Mangan)

Unter der Kategorie „ Substanzinduzierte Zwangsstörung und verwandte Störungen“ können im DSM-5® Erkrankungsbilder codiert werden, die durch
Amphetamine, Kokain oder andere (psychoaktive) Substanzen (z. B. L-Dopa) ausgelöst werden. Die Symptomatik kann unter der Einnahme der Substanzen,
bei Intoxikation oder im Rahmen eines Entzugs auftreten. Clozapin oder Bupropion können vorbestehende Zwangssymptome verschlechtern.
Insbesondere bei Erstmanifestation der Zwänge nach dem 40. Lj. sollte an eine organische Grunderkrankung gedacht werden (Tumor, Ischämie,
Abszess). Intoxikationen, die zu einer Schädigung der Basalganglien führen, können ebenfalls Zwänge auslösen. Diese können im DSM-5® unter der Rubrik
Zwangsstörung und verwandte Störungen aufgrund eines anderen medizinischen Krankheitsfaktors verschlüsselt werden.

Im Kindesalter kann eine Infektion mit β-hämolysierenden Streptokokken der Gruppe A über eine Autoimmunreaktion ein neuropsychiatrisches
Syndrom auslösen, das als PANDAS bekannt ist („pediatric autoimmune neuropsychiatric disorders associated with streptococcal infections“). Es werden
Verhaltensstörungen, emotionale Labilität und Störungen der Motorik beschrieben, insbesondere auch Zwangssymptome. Derselbe Pathomechanismus soll
für die Entstehung der Chorea minor (Sydenham) verantwortlich sein. Betroffene Kinder entwickeln Wochen bis Monate nach der Infektion eine typische
neurologische Symptomatik mit ausfahrenden, überschießenden Bewegungen oder Grimassieren und Muskelhypotonie. Eine frühzeitige Kontrolle des
Antistreptolysin-O-Titers bei entsprechender Klinik sowie die konsequente antibiotische Behandlung werden empfohlen. In schweren Fällen kann eine
symptomatische Therapie mit Antipsychotika oder sedierend wirkenden Medikamenten (Diazepam) indiziert sein.

Auch stereotyp durchgeführte Bewegungen bei komplex-fokalen Krampfanfällen können gelegentlich an Zwangssymptome erinnern.

Literatur
Förstner U, Külz A-K, Voderholzer U (2011). Störungsspezifische Behandlungen der Zwangsstörungen. Ein Therapiemanual. Stuttgart: Kohlhammer.
Fricke S (2016). Therapie-Tools Zwangsstörungen. Weinheim, Basel: Beltz.
Susanne Fricke and Hand,(2018) Susanne Fricke S, Hand I (2018). Zwangsstörungen verstehen und bewältigen. Hilfe zur Selbsthilfe. 8. A. Köln: Balance / Psychiatrie-
Verlag.
Lakatos A, Reinecker H (2016). Kognitive Verhaltenstherapie bei Zwangsstörungen. Ein Therapiemanual. 4. überarb. A. Göttingen: Hogrefe.
S3-Leitlinie Zwangsstörungen (Stand: 2013, zurzeit in Überarbeitung); .
Voderholzer U, Hohagen F (2019). Zwangsstörungen (ICD-10 F4). In: Voderholzer U, Hohagen F (Hrsg.). Therapie psychischer Erkrankungen. State of the Art. 14. A.
München: Elsevier Urban & Fischer, S. 295–311.
KAPITEL 9

Stressassoziierte Erkrankungen
Sabine Frauenknecht

9.1. Einführung
Die Reaktion eines Menschen auf belastende Lebensereignisse kann sich auf vielfältige Weise äußern. Sie zeigt jedoch meist einige grundlegende Phänomene.
Emotional imponieren Angst, Schrecken, Traurigkeit, Verzweiflung, innere Leere, „Betäubung“, Verwirrung, Anspannung oder Hilflosigkeit. Somatisch
treten Schlafstörungen, Appetitverlust, Herzklopfen, Schwitzen, muskuläre Anspannung oder Zittern auf. Die kognitive Bewertung eines belastenden
Lebensereignisses kann – unabhängig vom Ausmaß der Belastung – ganz unterschiedlich ausfallen: Sie kann als bedrohlich und überwältigend oder aber als
Herausforderung und Chance beurteilt werden. Die Reaktion auf Verhaltensebene kann Rückzug, erhöhte Aktivität oder problemorientierte Strategien
aufweisen.
Diese Reaktionsweisen auf belastende Lebensereignisse können als Mechanismus betrachtet werden, der einen Menschen in die Lage versetzt, das
Geschehene zu verarbeiten und sich an eine veränderte Situation anzupassen. Diese Anpassungsleistung gelingt bei den meisten Menschen ohne anhaltende
Beeinträchtigung. Bei manchen Menschen führen sie jedoch zu Beschwerden, die sich nachhaltig auf die Alltagsgestaltung, das Berufsleben und die
Beziehungen des Betreffenden auswirken. Dies hängt teilweise vom Ausmaß des Ereignisses ab, aber auch von der individuellen Belastungsgrenze. Diese
wiederum wird von Faktoren wie der Persönlichkeitsstruktur und der Vulnerabilität, von entwicklungsgeschichtlichen Aspekten und vom verfügbaren sozialen
Netz beeinflusst.
Aus wissenschaftlicher Perspektive können psychosoziale Belastungen nach ihrem Schweregrad i n Traumata, kritische Lebensereignisse und sog.
Übergänge eingeteilt werden:

• Ein Trauma ist ein Ereignis, das von jedem Menschen als extrem bedrohlich oder katastrophal erlebt werden würde. Der Betreffende erfährt eine
oder mehrere Situationen, in denen er lebensbedrohlichen Ereignissen oder Handlungen ausgesetzt ist, durch die er selbst körperlich schwer verletzt
wird oder die seine psychische Integrität bedrohen. Ebenso wird darunter das Miterleben der genannten Situationen als Zeuge verstanden, wenn
primär andere Personen betroffen sind. Als traumatische Situationen werden z. B. Naturereignisse, von Menschen verursachte Katastrophen,
Kampfhandlungen, schwere Unfälle oder die Beobachtung eines gewaltsamen Todes anderer und das Erleben von Folter, Terrorismus,
Vergewaltigung oder anderen Verbrechen betrachtet. Im DSM-5® wird der Begriff „Trauma“ auch auf schwere medizinische Zwischenfälle (z. B.
anaphylaktischer Schock, Erwachen während einer Operation) oder das Miterleben von lebensbedrohlichen medizinischen Zuständen oder
gewaltsamen Erfahrungen bei Angehörigen (z. B. lebensbedrohliche Blutung bei einem Kind, Suizid) ausgedehnt.
• Als kritische Lebensereignisse („life events“) werden schwere Belastungen bezeichnet, die den bestehenden Lebensentwurf eines Menschen
bedrohen und einschneidende Veränderungen in der alltäglichen Lebensführung mit sich bringen. Typische Situationen sind z. B. der plötzliche
Verlust des Arbeitsplatzes, ein schwerer Unfall, der frühe, unerwartete Tod eines Partners oder Flucht und Migration. Auch anhaltende
Stresssituationen wie z. B. schweres Mobbing am Arbeitsplatz, Armut oder Leben in einer bedrohlichen Umgebung werden darunter gefasst.
• Lebensveränderungen („life changes“), die vorhersehbar sind oder sich über einen längeren Zeitraum entwickeln, werden auch biografische
Übergänge genannt. Darunter fallen Ereignisse wie z. B. das Verlassen des Elternhauses, Heirat, der Antritt der ersten Arbeitsstelle, die Geburt des
ersten Kindes, ein Umzug oder körperliche Einschränkungen im hohen Alter.

Anhand der Dauer lassen sich akute von chronischen Belastungen unterscheiden (➤ ).
Tab. 9.1 Einteilung von Belastungen (nach Basisdokumentation Kompetenznetz Depression)
Akute Ereignisse Länger dauernde Lebensumstände
1: keine 1: keine

Keine akuten Ereignisse, die im Zusammenhang mit der Störung stehen Keine länger andauernden belastenden Lebensumstände, die im
Zusammenhang mit der Störung stehen

2: leicht 2: leicht

Auseinanderbrechen der Freundschaft mit Freund oder Freundin, Familiäre Streitigkeiten, Unzufriedenheit mit der Arbeit, Leben in einer
Schulbeginn oder Schulabschluss, Kind verlässt Elternhaus Wohngegend mit hoher Kriminalitätsrate

3: mittel 3: mittel

Heirat, Trennung der Ehepartner, Arbeitsplatzverlust, Pensionierung, Eheprobleme, schwerwiegende finanzielle Probleme, Ärger mit den
Misserfolge Vorgesetzten, alleinerziehender Elternteil

4: schwer 4: schwer

Scheidung, Geburt des ersten Kindes Arbeitslosigkeit, Armut

5: sehr schwer (extrem) 5: sehr schwer (extrem)

Tod eines nahen Verwandten, Diagnose einer schweren körperlichen Eigene schwere chronische Erkrankung oder des Kindes; fortwährende
Erkrankung, Opfer einer Vergewaltigung körperliche Misshandlungen oder sexueller Missbrauch

6: katastrophal 6: katastrophal

Tod eines Kindes; Suizid eines nahen Angehörigen; verheerende Gefangennahme als Geisel; Erfahrungen im Konzentrationslager
Naturkatastrophe

0: ungenügende Information 0: ungenügende Information

Punktzahl: Punktzahl:

Akuter Stress oder kritische Lebensereignisse gehen der Entwicklung vieler psychischer Störungen voraus oder tragen zu deren Auslösung bei (zur Ätiologie
affektiver Störungen und von Schizophrenien ➤ bzw. ➤ ). Dabei ist ein kausaler Zusammenhang zwischen der Belastung und der psychischen Erkrankung
fraglich und das Auftreten der Symptomatik von vielen Faktoren abhängig (z. B. von individuellen biografischen, persönlichen Gegebenheiten, biologischer
Vulnerabilität). Äußere Belastungen sind in diesen Fällen jedenfalls für das Auftreten der psychischen Erkrankung weder notwendig noch ausreichend. Anders
verhält es sich bei den stressassoziierten Störungen: Für diese Gruppe von Erkrankungen wird das Einwirken eines äußeren Faktors als notwendige und
ursächliche Bedingung für das Auftreten der Symptomatik betrachtet. In der ICD-10 werden sie als Reaktionen auf schwere Belastungen und
Anpassungsstörungen zusammengefasst (➤ ) . Die Störungsgruppe bildet daher einen Sonderfall in der ICD-10, da sie im Vergleich zu allen anderen
Diagnosegruppen über ein ätiologisches Konzept definiert wird. Sie stellt somit, was das klinische Bild anbelangt, einerseits eine sehr inhomogene Gruppe von
psychischen Störungen dar; andererseits ist den Störungen jedoch gemeinsam, dass sie ohne das Bestehen der äußeren Belastung nicht entstanden wären.

Box 9.1
Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen nach der ICD-10 (F43)

1. Akute Belastungsreaktion (F43.0)


2. Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) (F43.1)
3. Anpassungsstörung (F43.2)

In der ICD-11 werden diese Diagnosen unter dem Begriff der stressassoziierten Erkrankungen zusammengefasst. Das Kapitel wird wie bisher die
Diagnosen der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) und der Anpassungsstörung enthalten. Im Zuge einer Harmonisierung mit dem DSM-5®
werden folgende weitere Diagnosen integriert werden: die komplexe posttraumatische Belastungsstörung (➤ ), die prolongierte Trauerstörung (➤ ) sowie
andere näher bezeichnete und nicht näher spezifizierte stressassoziierte Erkrankungen. Auch die reaktive Bindungsstörung und die Bindungsstörung mit
Enthemmung im Kindes- bzw. Jugendalter werden hier geführt (➤ ). Die akute Belastungsreaktion der ICD-10 wird in der ICD-11 als akute Stressreaktion
bezeichnet. Sie findet sich dann allerdings – im Gegensatz zum DSM-5® – in dem Kapitel wieder, das Zusatzfaktoren codiert, die den Gesundheitszustand und
die Inanspruchnahme medizinischer Institutionen beeinflussen. Eine Übersicht zu den Diagnosen in ICD-10, ICD-11 und DSM-5® findet sich in ➤ .

Tab. 9.2 Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen in den verschiedenen Diagnosemanualen
ICD-10 ICD-11 DSM-5®
Akute Belastungsreaktion (F43.0) Akute Stressreaktion Akute Belastungsstörung (Achtung: andere Diagnosekriterien als
Unter: Faktoren, die den Belastungsreaktion in der ICD-10 / 11!)
Gesundheitszustand
beeinflussen

Posttraumatische Belastungsstörung (F43.1) Posttraumatische Belastungsstörung Posttraumatische Belastungsstörung

– Komplexe posttraumatische (Symptome der komplexen PTBS können unter PTBS diagnostiziert
Belastungsstörung werden)

– Prolongierte Trauerreaktion vgl. unten

Anpassungsstörung (F43.2) Anpassungsstörung Anpassungsstörung

Sonstige und nicht näher bezeichnete Reaktion Sonstige und nicht näher Andere näher und nicht näher bezeichnete trauma- und
auf schwere Belastung (F43.8 bzw. F43.9) bezeichnete Reaktion auf schwere belastungsbezogene Störungen, z. B. anhaltende komplexe
Belastung Trauerreaktion

9.2. Akute Belastungsreaktion


9.2. Akute Belastungsreaktion

Kasuistik
Ein 22-jähriger Zimmermann wird vom Notarzt und in Begleitung eines Arbeitskollegen in die psychiatrische Ambulanz gebracht. Der Kollege berichtet,
dass der 22-Jährige am Nachmittag „ausgetickt“ sei. Nach einem Telefonat habe er wie versteinert gewirkt und auf Ansprache nur mit einem unwirschen
„Lass mich in Ruhe!“ reagiert. Seine Arbeit habe er zunächst mit abwesendem Gesichtsausdruck fortgesetzt.
Nach der Mittagspause sei er mit starrem Blick aufgestanden, auf der Baustelle das Gerüst hochgestiegen und habe gemurmelt: „Jetzt ist alles vorbei.“ Er
sei dann auf eine Dachgaube geklettert und habe den Eindruck erweckt, als wolle er sich vom Dach stürzen. Ein Kollege und ein herbeigerufener Notarzt
hätten ihn jedoch von seinem Vorhaben abbringen und überreden können, sich in der Klinik vorzustellen.
Der Zimmermann sitzt gebeugt und mit starrem Blick im Untersuchungszimmer. Während er stockend redet, steht er immer wieder auf und geht im
Zimmer umher. Er berichtet, dass er homosexuell sei und vor einem Jahr sein Coming-out gehabt habe, was zu schweren Konflikten in seiner Familie
geführt habe. Vor 6 Monaten habe er sich heftig in einen Mann verliebt und sei bereit gewesen, ihm zuliebe umzuziehen und sein bisheriges Leben komplett
aufzugeben. Seit einigen Tagen habe sich sein Partner seltsam verhalten und sich immer mehr zurückgezogen, ohne dass es zu einer Aussprache gekommen
sei. Heute habe er ihn von der Baustelle aus angerufen. Dabei habe ihm der Partner eröffnet, dass er sich in einen anderen Mann verliebt habe und die
Beziehung mit ihm beenden wolle.
Im ersten Moment sei er völlig überrollt gewesen von dieser Nachricht und habe sich ganz taub gefühlt. Mit dem Gefühl „Jetzt ist alles vorbei!“ sei er in
ein schwarzes Loch gefallen. Er habe keinen klaren Gedanken mehr fassen können. Später sei er sehr verzweifelt geworden und habe gedacht: „Dann bringe
ich mich halt um.“ Wie unter einem inneren Zwang sei er auf die Dachgaube geklettert und sei entschlossen gewesen hinunterzuspringen. Er sei dennoch
oben sitzen geblieben, bis ihn der Notarzt herunterbegleitet habe. Was der Notarzt mit ihm gesprochen habe, daran könne er sich gar nicht mehr so genau
erinnern. „Ich weiß gar nicht, wo mir der Kopf steht“, sagt er, während er die Hände vors Gesicht schlägt.

9.2.1. Definition und Symptomatik


Definition
Unter einer akuten Belastungsreaktion wird eine deutlich ausgeprägte klinische Symptomatik verstanden, die innerhalb von Minuten bis zu 1 h nach einem
außergewöhnlich belastenden oder traumatisierenden Ereignis auftritt und nach 8–48  h wieder abklingt. Sie umfasst Reaktionen wie ein Gefühl der
„Betäubung“ und eine Einengung des Bewusstseins mit verringerter Aufmerksamkeit, kann sich dann aber auch in einer erheblichen motorischen Unruhe bis
zu Fluchttendenzen äußern. Beim Betreffenden bestand zuvor keine manifeste psychische Erkrankung. Das Zustandsbild wird gelegentlich auch als akute
Krisenreaktion, Krisenzustand, psychischer Schock, Nervenzusammenbruch oder Nervenschock bezeichnet.

Symptomatik
Häufig empfindet der Betreffende in der ersten Phase kurze Zeit nach dem traumatischen Ereignis ein Gefühl von „Betäubung“ oder innerer Leere, das von
weiteren körperlichen und psychischen Symptomen begleitet wird (➤ ). Diesem Zustand folgt zumeist eine zweite Phase mit Antriebsminderung, sozialem
Rückzug und Desinteresse. Gelegentlich werden auch motorische Hyperaktivität, Gefühle von Verzweiflung, Angst, Panik, Ärger mit verbal aggressivem
Verhalten oder ein dissoziativer Stupor beobachtet. Nach Abklingen der initialen Symptomatik kommt es nicht selten zu einer dritten Phase mit
herabgesetzter Stimmungslage und anderen Symptomen eines depressiven Syndroms. Auch Suizidgedanken oder -handlungen können auftreten. Für die
dem traumatisierenden Ereignis folgenden Reaktionen kann teilweise eine Amnesie bestehen.

Tab. 9.3 Charakteristika der akuten Belastungsreaktion


Auslösendes Ereignis Akute Symptomatik Später auftretende Symptome
(1) Überwältigende traumatische Geschehen (1) „Betäubung“, Gefühl innerer Leere, Derealisation, Deprimierte Stimmung, Hoffnungslosigkeit,
(Naturkatastrophen, schwere Unfälle, Depersonalisation, körperliche Symptomatik (Zittern, Neigung zum Weinen, Ängstlichkeit,
Gewaltverbrechen, Krieg) mit ernsthafter Schwitzen, Herzklopfen etc.), Bewusstseinseinengung, Schreckhaftigkeit, Grübeln,
Bedrohung für den Betroffenen oder eine verminderte Aufmerksamkeit und Aufnahmefähigkeit Gedankenkreisen, Schlafstörungen,
geliebte Person Appetitverlust, Suizidalität

oder: dann:

(2) Plötzliche, schwerwiegende Veränderungen (2) Desinteresse, Antriebsminderung, sozialer Rückzug,


der psychosozialen Situation (Todesfälle in der gelegentlich dissoziativer Stupor oder
Familie, unerwarteter Arbeitsplatzverlust, (3) Unproduktive motorische Hyperaktivität, Unruhe,
Verlassenwerden in einer Beziehung etc.) Weglauftendenzen (Fugue), Gefühle von
Verzweiflung, Angst, Panik, Ärger / Wut, evtl. mit
verbal-aggressivem Verhalten, Suizidalität

Beispiele für Ereignisse, die eine akute Belastungsreaktion auslösen können, finden sich in ➤ . Die ICD-10-Kriterien der akuten Belastungsreaktion sind ➤
zu entnehmen.
Tab. 9.4 Diagnostische Kriterien der akuten Belastungsreaktion nach ICD-10 (F43.0)
A. Erleben einer außergewöhnlichen psychischen oder physischen Belastung.

B. Dem Kriterium A folgt unmittelbar der Beginn der Symptome (innerhalb von 1 h).

C. Die akute Belastungsreaktion wird unterteilt in:


• leicht (nur Symptome aus Gruppe 1)
• mittelgradig (Symptome aus Gruppe 1 und zwei Symptome aus Gruppe 2)
• schwer (Symptome aus Gruppe 1 und vier Symptome aus Gruppe 2 oder dissoziativer Stupor)
Es gibt zwei Symptomgruppen:
1. Die Kriterien B, C und D der generalisierten Angststörung F41.1 (d. h. vegetative, somatische, psychische und unspezifische Symptome, ➤ )
2.
a. Rückzug von erwarteten sozialen Interaktionen
b. Einengung der Aufmerksamkeit
c. Offensichtliche Desorientierung
d. Ärger oder verbale Aggression
e. Verzweiflung oder Hoffnungslosigkeit
f. Unangemessene oder sinnlose Überaktivität
g. Unkontrollierbare oder außergewöhnliche Trauer (zu beurteilen nach den jeweiligen kulturellen Normen)

D. Wenn die Belastung vorübergehend ist oder gemildert werden kann, beginnen die Symptome nach frühestens 8 h abzuklingen. Hält die Belastung an,
beginnen die Symptome nach höchstens 48 h nachzulassen.

E. Häufigstes Ausschlusskriterium: Derzeitig liegt keine andere psychische oder Verhaltensstörung der ICD-10 vor (außer F41.1 generalisierte
Angststörung oder F60 Persönlichkeitsstörungen). Das Ende einer Krankheitsepisode einer anderen psychischen oder Verhaltensstörung muss mehr als
3 Monate zurückliegen.

9.2.2. Epidemiologie und Ätiologie


Epidemiologie
Da die Symptomatik akut auftritt, stark fluktuieren kann und i.  d.  R. rasch wieder abklingt, erfolgt selten primär die Konsultation einer psychiatrischen
Einrichtung. Daher liegen keine empirisch gesicherten Daten zur Prävalenz vor.

Merke
Die akute Belastungsreaktion ist insofern für die klinische Praxis von großer Bedeutung, da sie in der
Allgemeinbevölkerung wahrscheinlich relativ häufig vorkommt, i. d. R. aber keine psychiatrisch oder psychologisch
ausgebildeten Helfer oder Ärzte als Erste damit konfrontiert werden.

Ätiologie
Wie bereits in der Einleitung ausgeführt, spielen für die Entwicklung der Störung neben dem traumatisierenden Ereignis auch individuelle Aspekte wie
neurobiologische Faktoren (Neigung zu überschießenden vegetativen Reaktionen bei Stress), die Entwicklungs- und Lerngeschichte sowie spezifische
Persönlichkeitszüge eine Rolle.

9.2.3. Diagnostik und Differenzialdiagnostik


Angesichts des kurz zuvor eingetretenen verursachenden Ereignisses sowie der akut auftretenden und schnell abklingenden Symptomatik lässt sich nach
psychiatrischer Anamnese- und Befunderhebung die Diagnose einer akuten Belastungsreaktion meist leicht stellen.
Allerdings können auch andere psychische und organische Erkrankungen gelegentlich mit einem Zustandsbild einhergehen, das der Belastungsreaktion
ähnelt, und die differenzialdiagnostisch abgeklärt werden müssen. Beispiele sind in ➤ aufgeführt.

Tab. 9.5 Erkrankungen, die zu Erregungszuständen führen können und von denen eine akute Belastungsreaktion abgegrenzt
werden muss
Psychische Erkrankungen Organische Erkrankungen
• Angststörungen, v. a. Panikstörung Grundsätzlich alle organischen Erkrankungen, die zu einem Delir / 
• Depressive Episode Verwirrtheitszustand führen können!
• Akute Schizophrenie • Endokrine Störungen (z. B. Hypoglykämie bei Diabetes mellitus, Hyperthyreose)
• Posttraumatische Belastungsstörung • Neurologische Störungen (demenzielle Erkrankungen, Epilepsie [v. a. komplex-
• Borderline-Persönlichkeitsstörung und andere fokale Anfälle], zerebrovaskuläre Erkrankungen [z. B. TIA, Hirninfarkt])
Persönlichkeitsstörungen (narzisstische, histrionische, dissoziale, • Medikamentenintoxikation, Drogeneinnahme, Entzugssyndrom
paranoide PS) • Kardiovaskuläre Erkrankungen (z. B. Herzrhythmusstörungen)
• Intoxikation bei Suchterkrankung oder Entzugssymptome
• Anpassungsstörung
• Dissoziative Störungen
• Zwangsstörungen

9.2.4. Therapie und Prognose


Therapie
In vielen Fällen ist beim Auftreten der akuten Belastungsreaktion keine spezifische Therapie erforderlich. Helfer, die z.  B. an einem Unfallort eintreffen,
sollten bei Beteiligten auf entsprechende Reaktionen achten. Die betreffende Person sollte vom Unfallort weggebracht und nicht allein gelassen werden.
Beruhigende Ansprache oder verständnisvolles Zuhören, das Herbeirufen von Angehörigen und die Abschirmung von Außenreizen können bereits zu einer
Besserung der Symptomatik führen. Dies gilt auch für die bei Naturkatastrophen oder schweren Unfällen und Kampfhandlungen von einer akuten
Stressreaktion betroffenen Ersthelfer. Wenn eine dissoziative Symptomatik anhält oder eine erhebliche motorische Unruhe mit Fluchttendenzen oder
Suizidalität besteht, ist eine stationäre Krisenintervention indiziert. Eine ambulante psychotherapeutische Kurzzeitintervention kann zur Verarbeitung
des belastenden Ereignisses hilfreich sein.
Die stationäre Krisenintervention dient i.  d.  R. dazu, den Betreffenden so weit zu stabilisieren, dass keine akute Gefährdung mehr besteht und ggf. eine
ambulante psychotherapeutische Bearbeitung der aktuellen Belastung möglich ist. Sie sollte zu einer emotionalen Entlastung führen und eine Unterstützung
bei der Entwicklung von ersten Bewältigungsstrategien bieten. Im Vordergrund stehen psychoedukative Elemente, welche die Symptomatik als „normale
Reaktion auf eine unnormale Situation“ verstehbar machen. Der Betreffende wird darin unterstützt, die mit dem Geschehnis verbundenen Emotionen und
Gedanken auszusprechen. Leiden die Betreffenden an stark ausgeprägten psychovegetativen Symptomen (Schlaflosigkeit, Unruhe), kann die kurzzeitige
Gabe eines sedierenden Medikaments sinnvoll sein (z.  B. sedierendes, REM-Schlaf unterdrückendes trizyklisches Antidepressivum; Betablocker zur
Behandlung des vegetativen Arousals). Studienergebnisse liegen hierfür nicht vor. In der klinischen Praxis werden bei akuten Belastungsreaktionen häufig
auch sedierende Medikamente wie Benzodiazepin-Präparate oder Z-Substanzen verordnet.

Praxistipp
Dabei ist zu beachten, dass Benzodiazepine bei früher Gabe möglicherweise die Entwicklung einer PTBS oder depressiver Zustände nach
Traumaexposition begünstigen könnten. Wenn eine Pharmakotherapie erforderlich ist, sollten daher bevorzugt sedierende Antidepressiva oder Betablocker
gegeben werden.

Verlauf und Prognose


Die akuten Beschwerden klingen nach ICD-10 innerhalb von höchstens 2 Tagen deutlich ab. Persistieren depressive, ängstliche oder andere Symptome über
längere Zeit, sollte das Bestehen einer anderen psychischen Störung (z. B. Anpassungsstörung, depressive Episode, PTBS, ➤ ) überprüft und frühzeitig eine
entsprechende Behandlung eingeleitet werden.

9.3. Anpassungsstörung

Kasuistik
Eine 21-jährige Kunststudentin stellt sich in der psychologischen Beratungsstelle der Universität vor. Sie berichtet, dass sie 3 Monate lang mit einem
älteren Mitstudenten zusammen gewesen sei. Sie habe ihn bereits vor 1 Jahr in einem Seminar kennengelernt und sich Hals über Kopf in ihn verliebt.
Lange Zeit habe sie sich nicht getraut, ihn anzusprechen. Bei einer Studentenparty habe es dann auch bei ihm „geschnackelt“. Sie habe ihn sehr bewundert
und ihn als idealen Partner empfunden.
Im Laufe der 3 Monate ihres Zusammenseins habe sie jedoch gelegentlich das Gefühl beschlichen, er verhalte sich ihr gegenüber zu distanziert. Ihre
Wünsche nach gemeinsamen Unternehmungen habe er unverhältnismäßig oft mit der Begründung eines herannahenden Prüfungstermins abgelehnt.
Schließlich habe er ihr vor genau 2 Wochen eröffnet, ihr zwar freundschaftlich sehr verbunden zu sein, sie aber nicht zu lieben.
Seither fühle sie sich schlecht, als ob man ihr den Boden unter den Füßen weggezogen habe. Sie müsse oft weinen und könne einfach nicht glauben, dass
alles vorbei sein solle. Sie erinnere sich immer wieder an ihre gemeinsamen Erlebnisse und verspüre ständig den Drang, Kontakt mit ihm aufzunehmen.
Andererseits gehe es ihr nach jedem Telefonat mit ihm noch schlechter. Sie reagiere jetzt oft gereizt und sei bei ihren Arbeiten fürs Studium leicht
ablenkbar. Gelegentlich empfinde sie einen unbändigen Zorn auf ihren Exfreund. Sie habe an manchen Tagen etwas weniger Appetit als sonst, schlafe aber
gut. An Kleinigkeiten wie einer Tasse Kaffee oder einem Spaziergang könne sie sich schon noch freuen. Auch Ablenkung durch gemeinsame
Unternehmungen mit Freundinnen helfe ein bisschen. Aber sie wisse einfach nicht, wie sie aus diesem Tief jemals wieder herauskommen solle. Wenn der
Schmerz sehr groß sei, wünsche sie sich, einfach einzuschlafen und nicht mehr aufzuwachen.

9.3.1. Definition, Symptomatik und Klassifikation


Definition
Unter einer Anpassungsstörung wird eine vorwiegend emotionale Symptomatik mit Deprimiertheit, Angst, Besorgnis oder Anspannung verstanden, die
nach einem belastenden Lebensereignis psychischer oder physischer Art auftritt. Der Betreffende leidet erheblich unter den Symptomen, und diese wirken
sich negativ auf seinen Alltag aus. Die Symptomatik beginnt innerhalb von 1 Monat nach dem auslösenden Ereignis und dauert länger an als bei der akuten
Belastungsreaktion (i. d. R. max. 6 Monate, außer bei der längeren depressiven Reaktion). Der Stressor wird als ursächlicher Faktor für die Entwicklung der
Störung betrachtet, wobei der individuellen Vulnerabilität bei der Anpassungsstörung eine größere Bedeutung zugeschrieben wird als bei der Entstehung einer
akuten Belastungsreaktion oder einer PTBS.

Symptomatik
Auslösende Ereignisse für eine Anpassungsstörung können akut aufgetreten sein (z. B. die Diagnose einer schweren körperlichen Erkrankung, der Tod eines
Angehörigen oder das Zerbrechen einer Beziehung). Die Belastungen können sich aber auch über einen längeren Zeitraum erstrecken und weniger dramatisch
wirken (Arbeitsplatzprobleme, Eheschwierigkeiten), werden jedoch vom Betreffenden als nicht kontrollierbar und ausweglos erlebt.
Die bei Anpassungsstörungen zu beobachtende Symptomatik ist sehr variabel und reicht von deprimierter Stimmungslage, Angst, Besorgnis oder Gefühlen
von Überforderung und Hilflosigkeit bis zu Reizbarkeit, Anspannung und Aggressivität mit dissozialem Verhalten (z. B. Schulschwänzen bei Jugendlichen).
Oftmals werden vegetative Symptome wie Herzklopfen, Zittern, muskuläre Anspannung oder Schlafstörungen beklagt. Kognitiv bestehen oft intensives Sorgen
und Grübeln über das belastende Ereignis und dessen Folgen mit Schwierigkeiten, sich gedanklich abzulenken oder abzuschalten. Am häufigsten sind
depressive und ängstliche Reaktionsformen. Kinder können im Rahmen einer Anpassungsstörung regressive Phänomen wie Daumenlutschen, Babysprache
oder Einnässen entwickeln. Bei Jugendlichen kann sich die Symptomatik in Verhaltensstörungen zeigen (Schulschwänzen, Drogeneinnahme, Aggressivität,
Diebstähle etc.)
Zu beachten ist, dass bei den Anpassungsstörungen oft Suizidgedanken oder -impulse bestehen und die Störung mit einem erhöhten Risiko für
Suizidversuche einhergeht.
Die Dauer der Beschwerden ist zeitlich begrenzt (höchstens 6 Monate). Eine Ausnahme bildet die längere depressive Reaktion, die als Folge einer
chronischen Belastungssituation auftritt und maximal 2 Jahre anhält.

Merke
Gerade bei akuten Belastungsreaktionen und Anpassungsstörungen sollte man nicht vergessen, Lebensüberdruss und
Suizidalität zu explorieren!

Klassifikation
Die Anpassungsstörungen werden in der ICD-10 abhängig von der im Vordergrund stehenden Symptomatik in verschiedene Untergruppen eingeteilt (➤ ).
Tab. 9.6 Diagnostische Kriterien und Unterteilung der Anpassungsstörungen nach ICD-10 (F43.2)
A. Identifizierbare psychosoziale Belastung von einem nicht außergewöhnlichen oder katastrophalen Ausmaß; Beginn der Symptome innerhalb von 1
Monat.

B. Symptome und Verhaltensstörungen (außer Wahngedanken und Halluzinationen), wie sie bei affektiven Störungen (F3), bei Störungen des
Kapitels F4 (neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen) und bei den Störungen des Sozialverhaltens (F91) vorkommen. Die Kriterien
einer einzelnen Störung werden aber nicht erfüllt. Die Symptome können in Art und Schwere variieren.

F43.20 Kurze depressive Reaktion (nicht länger als 1 Monat)

F43.21 Längere depressive Reaktion (nicht länger als 2 Jahre)

F43.22 Angst und depressive Reaktion gemischt

F43.23 mit vorwiegender Beeinträchtigung von anderen Gefühlen

F43.24 mit vorwiegender Störung des Sozialverhaltens

F43.25 mit gemischter Störung von Gefühlen und Sozialverhalten

F43.28 mit sonstigen vorwiegend genannten Symptomen

Verwandte Begriffe

• Trauerreaktion: Das Leiden eines Menschen infolge des Todes einer ihm nahestehenden Person wird als natürliche, dem normalen menschlichen
Erleben entsprechende Trauer betrachtet (normale, kulturspezifische Trauerreaktion) und nicht als Anpassungsstörung bewertet. Die Reaktion
eines Menschen auf den Tod einer wichtigen Bezugsperson umfasst verschiedene Phasen mit jeweils charakteristischen Emotionen, Gedanken und
Verhaltensweisen (➤ ). Die Trauernden durchlaufen die einzelnen Phasen nicht notwendigerweise nacheinander, sondern erleben oftmals rasche
Wechsel zwischen den unterschiedlichen Zuständen. Die adäquate Verarbeitung des Verlustes stellt die Voraussetzung dafür dar, dass der
Betreffende sich wieder in der Lage fühlen kann, sein Leben der veränderten Situation angemessen und auf befriedigende Weise fortzusetzen.
• Abnorme Trauerreaktion: Von einer abnormen Trauerreaktion spricht man erst, wenn sie in Art, Intensität, Dauer oder Inhalt außergewöhnlich ist
und deutlich von gesellschafts- und kulturspezifischen Normen abweicht. Bestimmte Phasen des Trauerprozesses werden dabei gar nicht
durchlaufen (z. B. emotionale Ausbrüche von Trauer, Wut etc.) oder erscheinen in pathologischer Übersteigerung (z. B. maladaptives
Vermeidungsverhalten als Extremform der Verleugnung: nicht zur Beerdigung gehen, nicht über den Toten sprechen). Der Affekt ist i. d. R.
deprimiert und in der Auslenkbarkeit eingeschränkt. Häufig findet man folgende weitere Symptome: Selbstanklagen, „Versteinerung“, gesteigerte
Gereiztheit, aggressive Regungen, Verbitterung, Kontaktstörungen, soziale Isolation, Schuldgefühle, psychovegetative Störungen oder übertriebene
Geschäftigkeit. Eine abnorme Trauerreaktion kann in der ICD-10 diagnostisch als Anpassungsstörung eingeordnet werden. Dabei sollte nicht
übersehen werden, dass in der Folge eines Trauerfalls auch eine depressive Symptomatik (depressive Episode, Dysthymia) auftreten kann, die
entsprechend medikamentös und psychotherapeutisch behandelt werden sollte. Deshalb muss – auch wenn bei einer abnormen Trauerreaktion
zunächst die Diagnose einer Anpassungsstörung gestellt wird – frühzeitig überprüft werden, ob nicht die Kriterien für eine affektive Störung erfüllt
sind!
• Die ICD-11 sieht die Diagnose der prolongierten Trauerstörung vor, die in einem gesonderten Kapitel codiert werden kann, das verschiedene
allgemeine Belastungsfaktoren auflistet. Sie beschreibt außergewöhnlich lang anhaltende (> 6 Monate) und erheblich beeinträchtigende Reaktionen
auf einen Todesfall: Dazu gehören z. B. eine starke Sehnsucht nach dem Verstorbenen, die andauernde Beschäftigung mit der verstorbenen Person,
ein intensiver emotionaler Schmerz mit starker Trauer, Ärger, Verleugnung, Schuldgefühle oder die Unfähigkeit, positive Gefühle zu erleben oder
auszudrücken. Die Symptomatik führt zu anhaltenden Schwierigkeiten, soziale Beziehungen oder andere Aktivitäten zu pflegen.
Abb. 9.1 Phasen normaler und abnormer Trauer nach Worden und Parkes [G814 / L141]

Im Definitionsentwurf der Anpassungsstörung nach ICD-11 werden als mögliche Auslöser der Erkrankung nicht nur eine psychosoziale Belastung, sondern
auch multiple belastende Ereignisse genannt (z. B. das gleichzeitige Vorliegen von Krankheit, Behinderung, Scheidung, sozioökonomischen Problemen und
Konflikten am Arbeitsplatz). Eine Aufschlüsselung der Anpassungsstörung in Unterformen liegt bislang nicht vor. Betont wird, dass die Symptomatik eine
erhebliche Beeinträchtigung in mehreren Funktionsbereichen des Lebens mit sich bringen muss. Die Symptomatik kann länger als 6 Monate andauern, wenn
die auslösenden Belastungen entsprechend länger anhalten. Pathologische Trauer wird nicht mehr unter den Anpassungsstörungen verschlüsselt werden.

9.3.2. Epidemiologie und Ätiologie


Epidemiologie
Aufgrund der unscharfen Diagnosekriterien ist die Datenlage zur Verbreitung der Anpassungsstörungen dünn. Die angegebenen Punktprävalenzen für
Anpassungsstörungen liegen abhängig von den untersuchten Altersgruppen und verwendeten Diagnosemanualen zwischen 0,3 und 2,3 %. Bei ca. 5 % bis 20 %
aller Patienten in ambulanter psychiatrischer oder psychotherapeutischer Behandlung werden nach dem DSM-5® Anpassungsstörungen als Hauptdiagnosen
verschlüsselt. Im Liaison- und Konsiliardienst wird die Diagnose bei bis zu 50  % der gesehenen Patienten gestellt. Anpassungsstörungen treten bei
vorbestehenden körperlichen Erkrankungen häufiger auf, wie auch umgekehrt der Verlauf der körperlichen Erkrankung durch eine Anpassungsstörung negativ
beeinflusst wird. Das Suizidrisiko ist bei den Anpassungsstörungen erhöht, insbesondere bei gleichzeitig bestehenden Persönlichkeitsstörungen oder
Substanzmissbrauch.

Ätiologie
Die Entstehung einer Anpassungsstörung wird anhand des Vulnerabilitäts-Stress-Modells erklärt. Individuelle lebensgeschichtliche Ereignisse,
Persönlichkeitszüge, verfügbare Bewältigungsstrategien und genetische Faktoren beeinflussen die Vulnerabilität des Betreffenden. Insbesondere bestimmt
aber die subjektive Einschätzung der Belastungssituation und der eigenen Bewältigungsmöglichkeiten, ob das kritische Ereignis adäquat bewältigt werden
kann oder ob es zu einer beeinträchtigenden psychischen Symptomatik kommt. Die individuelle Disposition soll für die Entstehung der Anpassungsstörung eine
größere Rolle spielen als für die akute Belastungsreaktion und die PTBS. Als häufigste kritische Ereignisse gelten familiäre, schulische und berufliche
Probleme. Bei schweren körperlichen Erkrankungen spielen neben psychosozialen Faktoren möglicherweise zudem auch organische Faktoren eine auslösende
Rolle (d. h. die Erkrankung selbst oder ihre somatische Behandlung).

9.3.3. Diagnostik und Differenzialdiagnostik


Die Diagnose wird nach den Kriterien der ICD-10 gestellt, wenn angenommen werden kann, dass die Belastung allein ausreicht, um die Symptomatik einer
Anpassungsstörung zu verursachen. In der klinischen Praxis fällt die diagnostische Unterscheidung jedoch nicht immer leicht.
So sollte bei einer länger als 2 Wochen anhaltenden, durchgehend depressiven Symptomatik unbedingt überprüft werden, ob eine depressive Episode
vorliegt, die vom belastenden Ereignis mit ausgelöst wurde und die zusätzlich zu einer psychotherapeutischen Intervention eine medikamentöse Behandlung
erfordert. Auch die Übergänge der längeren depressiven Reaktion zur Dysthymia sind zu beachten. Die affektiven Störungen (➤ ) bilden bei Erwachsenen
somit die wichtigste Differenzialdiagnose der Anpassungsstörungen.
Die Anpassungsstörung sollte außerdem von der akuten Belastungsreaktion ( ➤ ), der posttraumatischen Belastungsstörung ( ➤ ) und den
Angststörungen (➤ ) abgegrenzt werden.
Auch eine organische Grunderkrankung als direkte somatische Ursache der Symptomatik sollte ausgeschlossen werden. Dies kann insbesondere dann
schwierig sein, wenn die Anpassungsstörung nach Diagnose einer schweren körperlichen Erkrankung auftrat.
Normale Reaktionen auf belastende Lebensereignisse (z. B. Trauer) sollten nicht als Anpassungsstörung diagnostiziert werden, wenn sie nicht an Intensität,
Inhalt oder Dauer die gesellschaftsspezifische Norm überschreiten. Auch sonstige unklare Symptomkonstellationen sollten nicht unkritisch mit der Diagnose
„Anpassungsstörung“ etikettiert werden.
9.3.4. Therapie und Prognose
Therapie
Zur Effektivität spezifischer therapeutischer Interventionen liegen keine gesicherten Daten vor. In der Praxis hat sich ein an die individuellen Bedingungen
angepasstes Vorgehen bewährt. Es kommen psychotherapeutische und medikamentöse Behandlungsansätze zur Anwendung.

Psychotherapeutische Interventionen
Durch die aktuelle Belastung befinden sich die betroffenen Patienten i. d. R. in einem psychischen „Ausnahmezustand“, der ein adäquates Reagieren auf die
veränderte Situation und den Zugriff auf konstruktive Bewältigungsstrategien erschwert oder unmöglich macht.
Neben dem Schutz bei drohender Eigengefährdung durch Suizidalität dient die initiale Krisenintervention einer ersten emotionalen Entlastung, d. h. einer
Linderung von Schuldgefühlen, Ängsten, Depression oder Anspannung. Dies wird durch eine empathische, unterstützende Haltung des Therapeuten erreicht,
der den Betreffenden zum Ausdruck der belastenden Emotionen ermutigt. Im Weiteren wird der Patient dabei begleitet, Bewältigungsmöglichkeiten für die
aktuelle Situation zu entwickeln (Ressourcenaktivierung) und sich nach Möglichkeit von nahestehenden Menschen unterstützen zu lassen (Aktivierung des
sozialen Netzes). Zur Anwendung kommen im Weiteren symptomzentriert eingesetzte therapeutische Interventionen aus den Behandlungskonzepten für
Depressionen und Ängste.
Zumeist kann die Beratung ambulant erfolgen. Ist die Symptomatik schwer ausgeprägt, besteht akute Suizidalität oder fehlt jegliche soziale Unterstützung,
sollte der Betreffende stationär aufgenommen werden (z. B. in einem Kriseninterventionszentrum oder psychiatrischen Fachkrankenhaus).
Die kurzfristigen psychotherapeutischen Interventionen können, ggf. unterstützt durch eine punktuelle medikamentöse Entlastung, bei der Behandlung
leichterer Anpassungsstörungen bereits ausreichend sein. Bei einem erheblichen Schweregrad der belastenden Faktoren, geringen individuellen
Bewältigungsmöglichkeiten und der fehlenden Verfügbarkeit sozialer Unterstützung ist eine weitere ambulante Psychotherapie sinnvoll.

Medikamentöse Behandlung
Für die Pharmakotherapie der Anpassungsstörungen können aufgrund mangelnder empirischer Daten keine spezifischen Empfehlungen gegeben werden.
Eine kurzzeitige medikamentöse Behandlung kann im Akutstadium der Störung zu einer Linderung des „emotionalen Drucks“ und anderer belastender
Symptome (z. B. Schlaflosigkeit, Anspannung) beitragen. Sie sollte jedoch nicht ohne gleichzeitige therapeutische Begleitung durchgeführt werden.
Medikamente, die symptomorientiert zur Anwendung kommen, sind Benzodiazepin-Präparate (z.  B. Lorazepam 0,5–1  mg, Diazepam 5–10  mg), Z-
Substanzen (z.  B. Zopiclon 7,5  mg), sedierend wirkende trizyklische Antidepressiva (z.  B. Trimipramin 10–50  mg z.  N.) oder pflanzliche Präparate (z.  B.
Baldrian- oder Johanniskraut-Präparate), bei älteren Menschen auch sedierend wirkende Antipsychotika (z.  B. Melperon 25–50  mg z.  N.). Bei erhöhter
Ängstlichkeit profitieren manche Patienten auch von der Einnahme von Opipramol oder Silexan (einem Extrakt aus Lavendelöl). Es ist zu erwähnen, dass es in
Deutschland kein zur Anwendung bei Anpassungsstörungen zugelassenes Medikament gibt.

Verlauf und Prognose


Definitionsgemäß dauern die Anpassungsstörungen nicht länger als 6 Monate an (bzw. 2 Jahre bei der längeren depressiven Reaktion). Die Prognose für die
Anpassungsstörungen im Erwachsenenalter ist günstig: Der Großteil der erwachsenen Patienten mit depressiver Reaktion berichtet nach 5  Jahren über eine
deutliche Besserung bzw. Remission der Beschwerden. Etwa 10–20  % entwickeln jedoch chronische Beschwerden bzw. ein depressives Syndrom (z.  B.
depressive Episode, Dysthymia) oder eine Angststörung. Bei Jugendlichen soll die 5-Jahres-Prognose deutlich ungünstiger sein.

9.4. Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)

Kasuistik
Die Bankangestellte Frau G. (26) wendet sich an eine niedergelassene Fachärztin für Psychiatrie. Sie beklagt Schlafstörungen, „Nervosität“ mit der
Neigung zu Schweißausbrüchen und Zittern, allgemeine Ängstlichkeit und schlechte Stimmung. Sie fühle sich sehr erschöpft und wolle endlich wieder
einmal richtig schlafen können. „Das alles“ habe vor 3 Monaten begonnen, kurz nach einem Ereignis, über das sie nur sehr schwer sprechen könne.
Frau G. berichtet knapp, dass sie vor etwa 3½ Monaten nachts auf dem Heimweg nach einem Kneipenbesuch von zwei Männern angegriffen wurde, als
sie allein mit dem Fahrrad an einer größeren Ausfallstraße unterwegs gewesen sei. In einer Parkbucht habe ein Wagen mit einer aufgeklappten Motorhaube
gestanden. Auf den Zuruf einer der beiden Männer habe sie unter der Annahme angehalten, es handele sich um eine Panne. Völlig unerwartet habe sie
einer der beiden gepackt und in ein nahegelegenes Gebüsch gezerrt. Zunächst sei sie wie erstarrt gewesen, dann aber habe sie begonnen, zu schreien und
sich zu wehren. Beide Männer hätten sie jedoch festgehalten und nacheinander vergewaltigt. Anschließend sei sie von ihnen bedroht und gezwungen
worden zu sagen, es habe ihr Spaß gemacht. Aus purer Todesangst habe sie sich dem Willen der Männer gebeugt. Schließlich hätten die Männer sie mit
der Äußerung „sonst machen wir dich kalt“ davor gewarnt, zur Polizei zu gehen. Dann seien sie in ihr Auto gestiegen und abgefahren. Sie wisse nicht
mehr, wie sie nach Hause gekommen sei. Sie habe sich anfangs völlig betäubt und „neben der Spur“ gefühlt.  –  Während ihrer Schilderungen muss sie
immer wieder innehalten, kämpft mit den Tränen, zittert und wirkt sichtlich aufgewühlt.
Zwei Wochen später hätten furchtbare Albträume begonnen, in denen sie das Ereignis immer wieder erlebe, und sie habe deshalb schreckliche Angst vor
dem Einschlafen. Aber auch tagsüber laufe in ihrem Kopf ungewollt immer wieder alles wie ein Film ab. Sie sei sehr ängstlich geworden und könne nach
Anbruch der Dunkelheit nicht mehr allein aus dem Haus gehen. Ihr Fahrrad habe sie nach dem Ereignis in den Keller gestellt und seither nie wieder
benutzt. Sie fühle sich „wie ein einziges Nervenbündel“, völlig überreizt und unfähig, sich zu entspannen. Sie habe ständig Angst, den Tätern auf der
Straße wieder zu begegnen. Ihre Arbeitskollegen habe sie in letzter Zeit oft ohne Grund „angeschnauzt“. Auch mit ihrem Lebenspartner sei es zu
Spannungen gekommen; sie habe sich innerlich von ihm zurückgezogen und könne körperliche Nähe nicht mehr ertragen. Sie fühle sich beschmutzt und
nicht wert, geliebt zu werden. Aus Scham habe sie sich aus vielen Kontakten zurückgezogen. Sie sei ja auch selbst schuld, dass ihr das passiert sei.

9.4.1. Definition und Symptomatik


Definition
Die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) (Posttraumatic Stress Disorder, PTSD) ist eine Erkrankung, die nach schwersten, katastrophalen
Belastungssituationen auftritt und durch ein ständiges Wiedererinnern und -erleben des Traumas, ein phobisches Vermeidungsverhalten, Abflachung der
allgemeinen Reagibilität und Anhedonie sowie durch eine psychophysiologische Übererregbarkeit charakterisiert ist. Die Störung beginnt i. d. R. einige
Wochen bis Monate nach dem traumatisierenden Ereignis.

Symptomatik
Ereignisse, die eine PTBS auslösen können, sind nach ICD-10 extrem traumatische Situationen von außergewöhnlicher Bedrohung oder
katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem Menschen eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würden (➤ ) . Die Situationen beinhalten eine vitale
Bedrohung für den Betroffenen oder andere Menschen, er erfährt selbst eine schwere Verletzung oder eine Bedrohung seiner psychischen Integrität oder
wird Zeuge eines solchen Geschehens.
Tab. 9.7 Diagnostische Kriterien der posttraumatischen Belastungsstörung nach ICD-10 (F43.1)
A. Die Betroffenen sind einem kurz oder lang anhaltenden Ereignis oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophalem Ausmaß
ausgesetzt, das nahezu bei jedem tiefgreifende Verzweiflung auslösen würde.

B. Anhaltende Erinnerungen oder Wiedererleben der Belastung durch aufdringliche Nachhallerinnerungen (Flashbacks), lebendige Erinnerungen, sich
wiederholende Träume oder durch innere Bedrängnis in Situationen, die der Belastung ähneln oder mit ihr in Zusammenhang stehen.

C. Umstände, die der Belastung ähneln oder mit ihr in Zusammenhang stehen, werden tatsächlich oder möglichst vermieden. Dieses Verhalten bestand
nicht vor dem belastenden Erlebnis.

D. Entweder 1 oder 2:

1. Teilweise oder vollständige Unfähigkeit, einige wichtige Aspekte der Belastung zu erinnern

2. Anhaltende Symptome einer erhöhten psychischen Sensitivität und Erregung (nicht vorhanden vor der Belastung) mit zwei der folgenden
Merkmale:
a. Ein- und Durchschlafstörungen
b. Reizbarkeit oder Wutausbrüche
c. Konzentrationsschwierigkeiten
d. Hypervigilanz
e. Erhöhte Schreckhaftigkeit

E. Die Kriterien B, C und D treten innerhalb von 6 Monaten nach dem Belastungsereignis oder nach Ende einer Belastungsperiode auf. (In einigen
speziellen Fällen kann ein späterer Beginn berücksichtigt werden, dies sollte aber gesondert angegeben werden).

Beispiele für Belastungen dieser Art sind Naturkatastrophen, von Menschen ausgelöste Katastrophen, schwere Unfälle, Kampfhandlungen oder Folterung,
Terrorismus, Vergewaltigung und andere schwere Verbrechen. Das DSM-5® schließt zwei weitere Kriterien ein, die geeignet sind, eine PTBS auszulösen:
Zum einen wird die indirekte Konfrontation mit dem Trauma genannt, d. h., eine Person erfährt, dass ein Familienangehöriger oder enger Freund das Opfer
von Gewalt, eines Unfalls oder einer Naturkatastrophe geworden ist. Zum anderen wird erstmals auch die extreme oder wiederholte berufliche
Traumaexposition als Stressorkriterium berücksichtigt, wie sie z.  B. bei Ersthelfern, Polizeibeamten oder Soldaten vorkommt. Überdies wird die PTBS im
DSM-5® erstmals unter einer eigenständigen Störungsgruppe „Trauma- und belastungsbezogene Störungen“ geführt.
Die ICD-10 unterscheidet die drei Symptomkomplexe Wiedererinnern und -erleben des Traumas, Vermeidungsverhalten und Veränderungen des
Erregungsniveaus. Im DSM-5® wird zusätzlich das Symptomcluster negative Veränderungen von Kognitionen und Stimmung aufgeführt, das eine
größere Bandbreite möglicher emotionaler und kognitiver Reaktionen auf ein Trauma umfasst als bisher. Aus didaktischen Gründen werden hier bei der
Beschreibung des klinischen Bildes auch die DSM-5®-Kriterien berücksichtigt.
In der ICD-11 werden die bisherigen Diagnosekriterien in erweiterter Form fortgeführt. Der Traumabegriff wird um eine mögliche Serie von extrem
bedrohlichen und katastrophalen Ereignissen ergänzt. Das Kriterium B (Wiedererinnern traumatischer Inhalte) wird zusätzlich emotionale Reaktionen im
Zusammenhang mit dem Wiedererinnern beschreiben, wie z. B. Angst und Grauen, ein Gefühl des Überwältigtseins oder heftige körperliche Reaktionen. An
das Ereignis erinnernde und daher vermiedene Stimuli (Kriterium C) werden näher spezifiziert: Dies können Gedanken oder Erinnerungen an das Ereignis
(interne Stimuli) oder Aktivitäten, Situationen und Menschen sein, die mit dem Trauma in Verbindung stehen (externe Stimuli).

Charakteristische Symptomkomplexe für die PTBS

• Wiedererinnern und -erleben des Traumas (intrusive Symptome): Der Betreffende wird von wiederkehrenden, sich aufdrängenden
Erinnerungen an das Trauma gequält (Intrusionen). Bilder oder „Filme“ des traumatischen Ereignisses drängen sich wiederholt ungewollt auf und
können durch das gleichzeitige Wiedererleben von Sinneseindrücken (z. B. Schmerz, Geräusche, Gerüche) als sehr real empfunden werden. Dieses
Erleben kann sich im Sinne eines Kontinuums bis zu sog. Flashbacks steigern. Flashbacks werden als eine Unterform dissoziativen Erlebens bei
PTBS verstanden. Dabei fühlen oder handeln die Betreffenden so, als durchlebten sie das traumatische Ereignis tatsächlich noch einmal. Im
Extremfall kann sich die Symptomatik über Derealisations- und Depersonalisationserleben bis zu einem dissoziativen Stupor zuspitzen. Das
Wiedererinnern geht mit starken emotionalen Reaktionen wie Angst, Entsetzen, Hilflosigkeit und Überwältigtsein einher, was sich auch in den
damit verbundenen akuten körperlichen Symptomen widerspiegelt (hohe motorische Anspannung, Zittern, Schwitzen, Schwindel, Schwäche-,
Lähmungsgefühl). Aus diesem Grund beinhalten diese aversiven Zustände auf Verhaltensebene einen starken Handlungsimpuls in Richtung
„Flucht“, wodurch das unten beschriebene Vermeidungsverhalten begünstigt wird. Die intrusiven Symptome können spontan auftreten oder durch
Reize ausgelöst werden, die mit dem Trauma assoziiert sind (z. B. Vorbeifahren am Ort des Geschehens, Witterungsbedingungen, Tageszeit,
Presseberichte, Gedanken an das Trauma). Häufig treten beängstigende nächtliche Albträume auf, in denen Aspekte des Traumas immer wieder
durchlebt werden.
• Vermeidungsverhalten: Da Reize, die mit dem Trauma in Verbindung stehen, bei den Betreffenden extrem aversive Reaktionen verursachen, liegt
es nahe, die Konfrontation mit den genannten Stimuli zu umgehen (= Vermeidungsverhalten). Dieses kann sich zum einen direkt auf die
Vermeidung traumaassoziierter Gedanken, Erinnerungen und Gefühle beziehen (kognitive Meidung). Zum anderen werden aber auch äußere Reize
gemieden, die mit dem Trauma in Verbindung stehen, also bestimmte Orte, Menschen, Gesprächsthemen, Gegenstände oder Aktivitäten (=
phobisches Vermeidungsverhalten). So wird z. B. nach einem Gewaltverbrechen vom Betreffenden der Tatort auf dem Weg zur Arbeit weiträumig
umgangen, selbst wenn dies einen großen Umweg bedeutet. Das Vermeidungsverhalten kann zu einer erheblichen Beeinträchtigung der
persönlichen Mobilität und Autonomie führen.
• Veränderungen des Erregungsniveaus: Charakteristisch ist eine erhöhte psychische Reagibilität, die sich in Reizbarkeit, Anspannung,
Wutausbrüchen, Schreckhaftigkeit, dem Gefühl, ständig „auf der Hut“ sein zu müssen (Hypervigilanz), und Konzentrationsschwierigkeiten äußern
kann. Auch vegetative Zeichen des dauerhaften Arousals werden beschrieben wie die Neigung zu Herzklopfen, Schweißausbrüchen, Zittern,
Schlafstörungen oder die Unfähigkeit zu entspannen. Als Versuch, aversive emotionale Zustände zu regulieren, werden gelegentlich
selbstschädigende Verhaltensweisen eingesetzt (z. B. Alkoholkonsum, Selbstverletzungen).
• Anhaltende negative Veränderungen von Kognitionen und Stimmung: Viele Patienten schildern, sich nach dem traumatischen Ereignis von
ihrem Alltag und von ihren wichtigen Bezugspersonen entfremdet und isoliert zu fühlen. Sie erleben sich als verändert oder unlebendig und sind
oft unfähig, positive Gefühle zu erleben. Anhaltende negative Emotionen wie Scham, Schuldgefühle, Furcht, Entsetzen, aber auch Wut über die
Ereignisse können auftreten. Persistierende Gefühle von Ärger und Wut können besonders bei einer lang andauernden oder ständigen Erinnerung
an das Trauma auftreten (z. B. bei bleibenden körperlichen Einschränkungen oder dem Tod einer geliebten Person). Dies kann zu aggressiven
Handlungen, selten zur Verletzung oder Tötung anderer Personen führen. Daneben sind häufig Rückzugstendenzen und ein Interessenverlust an
wichtigen Aktivitäten zu beobachten. Auf kognitiver Ebene sind die Betreffenden mit anhaltenden negativen oder verzerrten Gedanken
beschäftigt, die sich zum einen auf die Ursache und Folgen des Traumas beziehen: Sie machen sich z. B. zu Unrecht für ihre Traumatisierung oder
die Verletzung anderer Personen verantwortlich. Zum anderen entwickeln sie unangemessen negative Erwartungen oder Überzeugungen
hinsichtlich ihrer eigenen Person, der Zukunft oder ihrer Umgebung (z. B. „Ich bin ein komplettes psychisches Wrack. Das wird sich auch nie mehr
ändern“ oder „Alle Männer sind gefährlich“). Sie quälen sich häufig mit der Frage „Warum ich?“ oder mit hypothetischen Überlegungen „Was wäre
gewesen, wenn … ich in dieser Nacht 10 min früher losgefahren wäre?“ Für einzelne wichtige Aspekte des traumatischen Ereignisses können
Erinnerungslücken im Sinne einer dissoziativen Amnesie bestehen (eine Amnesie aus organischen Gründen muss dabei ausgeschlossen sein).

Folgen
Die Symptomatik einer PTBS ist äußerst quälend und kann zu erheblichen negativen Konsequenzen in allen Lebensbereichen führen. Durch Unverständnis
und ablehnende Reaktionen nahestehender Personen oder konsultierter Therapeuten, durch anhaltende juristische Auseinandersetzungen oder berufliche
Rückschläge werden eine sekundäre Traumatisierung, Chronifizierung und komorbide psychische Störungen begünstigt. Aufgrund von Scham- und
Schuldgefühlen begeben sich die Patienten oft nicht primär in psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlung. Häufig werden zunächst Therapeuten
anderer Fachrichtungen wegen unspezifischer Beschwerden konsultiert, sodass die Störung oft erst nach längerer Zeit erkannt und adäquat behandelt wird.

Weitere Unterformen und verwandte Diagnosen


Im DSM-5® besteht die Möglichkeit, eine PTBS mit oder ohne ausgeprägtes dissoziatives Erleben zu codieren. Außerdem wird die PTBS mit verzögertem
Beginn genannt: Dabei treten bereits nach dem traumatischen Ereignis einzelne Symptome einer PTBS auf; die notwendigen Diagnosekriterien sind aber erst 6 
Monate nach dem Ereignis oder später erfüllt.
Überdies sieht das DSM-5® mit der Diagnose der „akuten Belastungsstörung“ (= Acute Stress Disorder, ASD) die separate Klassifikation einer akuten
posttraumatischen Reaktion vor, die über mindestens 3 Tage, aber höchstens 4 Wochen anhält und innerhalb von 4 Wochen nach dem belastenden Ereignis
auftritt. Im Vergleich zur akuten Belastungsreaktion der ICD-10 (➤ ) sind ein ursächliches katastrophales Trauma, intrusive Symptome oder
Vermeidungsverhalten gefordert sowie andere Zeitkriterien genannt.
Bei der sog. komplexen PTBS imponieren neben den Kernsymptomen der PTBS eine schwere und anhaltende Störung der Affektregulation, tief greifende
Gefühle und Überzeugungen von Wertlosigkeit, Scheitern, Scham und Schuld sowie anhaltende Schwierigkeiten in der Aufrechterhaltung von
Beziehungen und im Erleben von Nähe. In der ICD-11 wird die Kategorie der stressbezogenen Störungen in Zukunft die Diagnose der komplexen PTBS als
Folge extrem schwerer und prolongierter Traumatisierung umfassen. Damit werden v.  a. Situationen beschrieben, aus denen ein Entrinnen schwierig oder
unmöglich ist, wie z.  B. Folter, Sklaverei, Genozid, anhaltende häusliche Gewalt oder wiederholte körperliche oder sexualisierte Gewalterfahrungen im
Kindesalter. Nach den Kriterien der ICD-11 bestehen (neben den drei Kernsymptomen einer PTBS) eine dauerhafte schwere Störung der Affektregulation
sowie tief greifende, anhaltende Beeinträchtigungen des Selbstkonzepts und der Beziehungsfähigkeit. Die Einführung dieser diagnostischen Kategorie in der
ICD-11 wird mit der schlechteren Prognose und dem geringeren Ansprechen auf verschiedene Therapieformen im Vergleich zur einfachen PTBS begründet.
Anhaltende Veränderungen der gesamten Persönlichkeitsstruktur nach schwersten Traumatisierungen können in der ICD-10 als andauernde
Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung (F62.0) verschlüsselt werden (➤ ). Diese Diagnose wird in der ICD-11 aufgegeben, da die damit
verbundene Symptomatik durch Einführung der komplexen PTBS als Diagnose abgedeckt sein wird.

9.4.2. Epidemiologie, Komorbidität und Ätiologie


Epidemiologie

Häufigkeit und Dauer


Obwohl ein Großteil aller Menschen im Laufe ihres Lebens ein Trauma im obigen Sinne erlebt, entwickelt nur ein Bruchteil der Betroffenen eine PTBS:
Derzeit wird für die PTBS von einer Lebenszeitprävalenz von ca. 2 % in der europäischen Allgemeinbevölkerung unter 60 Jahre ausgegangen. Unter den über
60-Jährigen ist die Lebenszeitprävalenz höchstwahrscheinlich aufgrund kriegsbedingter Erlebnisse deutlich höher. Obwohl Männer häufiger ein Trauma
erleben als Frauen, leiden Frauen im Verhältnis von 2 : 1 häufiger an einer PTBS.
Die Häufigkeit, mit der von einem Trauma betroffene Personen eine PTBS entwickeln, hängt von der Art des belastenden Ereignisses ab: Nach einer
Vergewaltigung leiden etwa 55–90  % der Opfer unter einer PTBS, wobei ein erhöhtes Risiko besteht, wenn die Vergewaltigung durch Fremde, mit dem
Einsatz von Waffen oder körperlicher Gewalt und mit einer Verletzung der Betroffenen einherging. Nach Kriegseinsätzen liegt die Häufigkeit der PTBS bei ca.
25–30 %, nach Unfällen bei 8 % und nach Naturkatastrophen bei etwa 5 %.
Ebenso kann die Dauer der Störung sehr stark variieren. Bei den meisten Traumatisierten remittiert die Symptomatik innerhalb weniger Wochen. Bei Frauen
dauert eine PTBS durchschnittlich 48 Monate, bei Männern 12 Monate. Es ist davon auszugehen, dass die Symptomatik bei ca. einem Drittel der von PTBS
betroffenen Patienten über viele Jahre mit wechselndem Verlauf persistiert. Sind die Patienten selbst vom Trauma betroffen gewesen, hält die Symptomatik
i.  d.  R. länger an, als wenn sie Zeuge des Ereignisses waren. Die Dauer der Störung ist auch wieder mit der Art des Traumas assoziiert (Dauer bei
Naturkatastrophen < Kriegserlebnissen < Vergewaltigung).

Komorbidität
Komorbide psychische Erkrankungen sind sehr häufig, v. a. depressive Episoden, der Konsum von Alkohol oder Benzodiazepin-Präparaten (im Sinne eines
Selbstbehandlungsversuchs), Angststörungen, aber auch Somatisierungsstörungen, Essstörungen oder die Borderline-Persönlichkeitsstörung. Auch chronische
Schmerzsyndrome oder Psychosen werden beschrieben. Das Suizidrisiko ist für Personen mit PTBS im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung auf das etwa 8-
Fache erhöht.

Ätiologie

Trauma
Das Trauma selbst stellt eine notwendige Bedingung für die Entstehung der PTBS dar. Traumatische Ereignisse können i n Typ-I- und Typ-II-Traumata
eingeteilt werden. Unter Typ-I-Traumata versteht man kurz dauernde und einmalige Ereignisse (z. B. einen Wirbelsturm). Bei Typ-II-Traumata handelt es sich
um lang anhaltende oder mehrfache Ereignisse (z. B. Geiselhaft, wiederholter sexueller Missbrauch im Kindesalter, wiederholte Traumatisierung im Rahmen
von Kriegshandlungen und Flucht). Zusätzlich kann man intendierte (beabsichtigte) von akzidentellen (zufälligen) Traumata unterscheiden. Es hat sich
gezeigt, dass sowohl Typ-II-Traumata als auch intendierte Traumata jeweils mit einem höheren Risiko für die Entwicklung einer PTBS verbunden sind.

Neurobiologie
Neurobiologisch wird zum einen von einer genetischen Disposition für die Entwicklung einer PTBS ausgegangen. Dabei sind höchstwahrscheinlich
epigenetische Interaktionen zwischen prä-, peri- und postnatalen Faktoren und der genetischen Ausstattung wirksam, insbesondere mit Genorten des
Serotoninsystems. Pränataler Stress, frühe Trennungserfahrungen oder problematische Bindungen an primäre Bezugspersonen werden mit anhaltenden
Veränderungen der HPA-Achse im Sinne einer chronischen Stressreaktion mit erhöhtem Corticotropin-Releasing-Hormon (CRH) und Veränderungen an
Glukokortikoid-Rezeptoren in Verbindung gebracht.
Das Trauma bewirkt eine erhöhte Katecholaminausschüttung mit starker vegetativer Erregung. Erhöhte Katecholaminspiegel werden jedoch auch mit einer
Inhibition von Funktionen des präfrontalen Kortex und einer daraus resultierenden Desinhibition subkortikaler Systeme (z. B. der Amygdalae) in Verbindung
gebracht. Mittels funktioneller Bildgebung ließ sich bei Patienten mit PTBS ein erhöhtes Aktivierungsniveau der Amygdalae bei gleichzeitig erniedrigter
Aktivität frontaler kortikaler Systeme zeigen. Bildgebende Verfahren (MRT) legen überdies Assoziationen zwischen traumatischen Ereignissen und einem
verminderten Volumen hippokampaler Strukturen nahe, wobei hier die kausalen Zusammenhänge noch nicht endgültig geklärt sind.
Ein biologisch orientiertes Modell zur Entstehung der PTBS integriert diese Erkenntnisse folgendermaßen: Eine angstauslösende Situation führt
normalerweise dazu, dass die aufgenommenen Wahrnehmungen vom Thalamus an übergeordnete kortikale Strukturen weitergeleitet, dort bewertet und an die
Amygdalae übermittelt werden. Diese induzieren eine den kortikal bzw. hippokampal durchgeführten Einschätzungen angemessene endokrine, emotionale und
motorische Reaktion auf die angstauslösenden Reize. Anders bei einem Trauma: Die wahrgenommenen sensorischen Reize werden vermutlich direkt in einer
Art neuronalem „Kurzschluss“ als unbewertete, fragmentierte und mit hoher vegetativer Erregung verbundene Gedächtnisinhalte an die Amygdalae
weitergeleitet. Die unverarbeiteten Erinnerungen dieses sog. Traumagedächtnisses können durch mit dem Trauma assoziierte Außenreize später leicht
abgerufen werden und führen nun ihrerseits zu einer massiven Aktivierung noradrenerger Systeme. Dies bewirkt wiederum eine Konsolidierung der
traumatischen Gedächtnisinhalte und -strukturen, indem die (noradrenerg vermittelte) Hemmung kortikaler und hippokampaler Funktionen eine mit
Vorerfahrungen abgleichende Bewertung und Einordnung verhindert.

Psychologische Modelle
Aus kognitiv-verhaltenstherapeutischer Sicht wurde wie bei den Angst- oder Zwangsstörungen das Zwei-Faktoren-Modell nach Mowrer (1960; ➤ ) als
Konzept für die Entstehung einer PTBS herangezogen: Ein unkonditionierter Reiz ( schwere Bedrohung im Rahmen einer Vergewaltigung) löst eine
unkonditionierte Reaktion (Panik, Todesangst) aus. Weitere Stimuli, die in dieser Situation wahrgenommen werden (Körpergerüche, äußere Merkmale des
Täters, z. B. Vollbart), werden durch ihre Kopplung an die Gefahrensituation zu konditionierten Stimuli. Diese lösen später eine massive Angstreaktion aus,
ohne dass eine objektive Bedrohung besteht (Angst bei der Begegnung mit Männern, die einen Vollbart tragen). Operante Konditionierungsprozesse führen
dazu, dass auslösende Stimuli (z.  B. Ort des Traumas) künftig vermieden werden oder die rasche Flucht erfolgt. Das Abklingen der Angstreaktion beim
Verlassen der auslösenden Situation fördert den Einsatz von „Flucht“ oder „Vermeidung“ als Bewältigungsstrategien. Die konditionierte Angstreaktion wird
somit auch nicht gelöscht (abgebaut). Mit dieser Theorie können insbesondere ein erhöhtes Arousal und Vermeidungsverhalten bei PTBS gut erklärt werden.
Dass viele Traumatisierte keine PTBS entwickeln, legt jedoch nahe, dass Konditionierungsprozesse nicht allein für die Entstehung der Störung
verantwortlich sein können. Eine große Bedeutung wird individuellen kognitiven Verarbeitungsprozessen zugeschrieben, d. h. der Art, wie die traumatische
Situation interpretiert und bewertet wird. Je intensiver subjektiv Qualitäten wie Hilflosigkeit, Kontrollverlust oder Bedrohung erlebt werden, umso eher
entwickelt sich anschließend eine PTBS. Nicht angemessene Kognitionen, die sich auf die wahrgenommene Bedrohung, die Person des Täters, die
Vorhersehbarkeit des Ereignisses oder die Kontrollierbarkeit beziehen, können zur Aufrechterhaltung der Störung beitragen (Beispiel: „Ich allein bin schuld
daran, dass ich vergewaltigt wurde“, „Ich hätte verhindern können, dass sie stirbt“). Auch dysfunktionale Bewertungen der eigenen Person oder der Umwelt
nach dem Trauma spielen eine wichtige Rolle („Autofahren ist an sich lebensgefährlich“, „Männern kann man grundsätzlich nicht trauen“).
In psychodynamischen Ansätzen wird die Reaktion eines Individuums auf die traumatische Situation durch verschiedene Prozesse erklärt:

• durch den Einfluss des Traumas auf das Selbstkonzept der betreffenden Person sowie auf ihre Sichtweise anderer Menschen,
• über durch das Ereignis aktivierte Selbst- und Objektrepräsentanzen, die dem bisherigen „Weltbild“ widersprechen, und
• durch die Mobilisierung bestimmter Abwehrmechanismen (Dissoziation, Spaltung) zur Bewältigung der durch das Trauma ausgelösten
Widersprüche und schmerzlichen Empfindungen.

Diese Prozesse werden durch die Reizüberflutung im Rahmen des Traumas ausgelöst. Die Abwehrmechanismen führen zur Vermeidung vieler mit dem
Trauma verbundenen Gegenstände, Situationen und Gedanken und zu einer Regression mit Wiederholung unangemessener, unreifer oder konflikthafter
Beziehungsmuster.
Weitere Risikofaktoren für eine PTBS stellen nach Studienlage psychosoziale Faktoren wie weibliches Geschlecht, mangelnde soziale Unterstützung,
psychische und somatische Vorerkrankungen, belastende Erlebnisse in der Kindheit, sozioökonomische Probleme sowie ein geringerer Bildungsstand dar.
Als protektive Faktoren gelten eine prämorbide gut entwickelte Frustrationstoleranz, die Überzeugung, trotz allem Kontrolle über die eigene Person zu
haben, sowie eine stabile Lebensphilosophie oder Religiosität, in die sich das Geschehene einordnen lässt (Kohärenzerleben). Von großer Bedeutung ist aber
auch die frühe Wertschätzung des Erlebten und die Anerkennung der Betroffenen als Traumaopfer durch wichtige Bezugspersonen, medizinisch-
therapeutisches Personal und ggf. Persönlichkeiten des politischen Lebens.

Merke
Die Pathogenese der PTBS ist durch ein wechselseitiges Zusammenwirken verschiedener Faktoren bedingt:

• Eintreten eines nach objektiven Kriterien definierten Traumas


• Spezifische subjektive Interpretation des Traumas
• Erhöhte (epi-)genetische oder neurobiologische Vulnerabilität
• Vorbestehen anderer psychosozialer oder somatischer Risikofaktoren

9.4.3. Diagnostik und Differenzialdiagnostik


Diagnostik
Patienten mit PTBS stellen sich oft erst nach längerer Dauer der Störung und aufgrund psychovegetativer Symptome vor (z.  B. Schlafstörungen,
Schreckhaftigkeit, Erschöpfung). Primär konsultieren sie häufig ihren Hausarzt. Erschwerend kommt hinzu, dass sich viele Patienten angesichts ihrer
Beschwerden schämen und selten spontan die wegweisenden Symptome nennen. Außerdem haben sie vielleicht bereits die Erfahrung gemacht, in ihrem
Leiden nicht ernst genommen und als Simulanten abgewertet zu werden.
Dies macht deutlich, dass die Kardinalsymptome einer PTBS gezielt exploriert werden müssen. Eine empathische Grundhaltung des Therapeuten und der
Aufbau eines vertrauensvollen Arbeitsbündnisses sind dafür unerlässlich. Das Trauma sollte jedoch auf keinen Fall vor Beginn der Psychotherapie im Detail
erfragt werden, da dies zu einer Retraumatisierung mit erheblicher Zuspitzung der Symptomatik führen kann.
Über die Anamneseerhebung und den psychischen Befund sollte man sich Klarheit darüber verschaffen, ob Komorbiditäten bestehen (depressive Episode,
Substanzmissbrauch etc.). Auch Überschneidungen mit Symptomen nach körperlichen Verletzungen (z.  B. Amnesie, Konzentrationsschwierigkeiten oder
Irritabilität nach Schädel-Hirn-Trauma) oder eine anhaltende körperliche Beeinträchtigung durch die Traumafolgen sollten erfasst werden.

Differenzialdiagnose
Angesichts der charakteristischen Symptomkonstellation nach dem auslösenden Trauma dürfte es i.  d.  R. nicht schwerfallen, die Diagnose zu stellen.
Diagnostische Unklarheiten ergeben sich bei Überschneidungen mit den Folgen einer organischen Verletzung oder komorbide bestehenden psychischen
Störungen (Alkohol-, Drogenkonsum, Persönlichkeitsstörungen, depressive Syndrome, ➤ ).

Box 9.2
Differenzialdiagnose der PTBS: psychische Erkrankungen

• Agoraphobie mit Panikstörung


• Panikstörung
• Generalisierte Angststörung
• Borderline-Persönlichkeitsstörung
• Dissoziative Störungen

Abzugrenzen ist die PTBS von der Agoraphobie mit Panikstörung, für die ein traumatisches Ereignis nicht notwendig ist und bei der keine
Wiedererinnerungen auftreten. Eine allgemeine erhöhte Ängstlichkeit mit Reizbarkeit und Irritabilität kann an eine generalisierte Angststörung denken
lassen; aber auch hier fehlen die charakteristischen Intrusionen oder Flashbacks. Dissoziative Störungen können dagegen durchaus mit Amnesien oder einer
verminderten allgemeinen Reagibilität einhergehen; Intrusionen, Vermeidungsverhalten oder vegetative Übererregbarkeit sind jedoch nicht immer vorhanden.
Eine Überlappung von PTBS mit dissoziativen Phänomenen ist andererseits durchaus nicht selten. Schwierigkeiten können sich auch in der Abgrenzung zur
Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) ergeben, da nicht wenige der Patienten mit BPS in ihrer Kindheit schwere Traumata erfahren haben (➤ ). Bei bis
zu 50 % dieser Patienten können auch beide Störungen gleichzeitig vorliegen.

9.4.4. Prävention, Therapie und Prognose


Die PTBS kann zum einen mit psychologisch-psychotherapeutischen Interventionen und zum anderen mit einer medikamentösen Therapie behandelt
werden. Dabei ist zu unterscheiden, ob die Symptomatik Ausdruck eines kurz zurückliegenden Traumas darstellt (im Sinne einer akuten Stress- oder
Belastungsreaktion ) oder bereits seit Längerem besteht (PTBS).
Prävention

Prävention einer PTBS nach Trauma


Die Interventionen, die bei einer akuten Stressstörung (DSM-5®) bzw. einer akuten Belastungsreaktion (ICD-10) wirksam sind, wurden bereits im Abschnitt
zur akuten Belastungsreaktion (➤ ) erläutert. Ob Frühinterventionen zur Prophylaxe einer PTBS wirksam sind, wird kontrovers diskutiert. Traumaspezifische
kognitiv-verhaltenstherapeutische individuelle Frühinterventionen von 3–6 h Dauer bei akuter Stressreaktion oder subsyndromaler PTBS innerhalb der ersten 3 
Monate nach dem Trauma führen bei den Betroffenen wahrscheinlich zu einer Symptomreduktion. Von einer generellen prophylaktischen Intervention nach
Trauma bei symptomfreien Personen wird aus Expertensicht jedoch abgeraten.
Unter Debriefing -Verfahren (engl. „debriefing“, Einsatzbesprechung) versteht man Interventionen für Einsatzkräfte bei Katastrophen und Unfällen, die
einer Traumatisierung vorbeugen sollen. Üblicherweise wird dazu kurz nach dem Ereignis mit den beteiligten Rettungskräften ein Gruppengespräch geführt, in
dem die Beteiligten ihre Erfahrungen verbalisieren können. Außerdem erhalten die Helfer Informationen zu möglichen Symptomen und zu
Bewältigungsstrategien. Die aktuelle Datenlage spricht dafür, dass solche Verfahren eher das Risiko für die Entwicklung einer PTBS erhöhen, wahrscheinlich
durch die Aktivierung traumabezogener Emotionen und Kognitionen, ohne dass anschließend eine adäquate Hilfe angeboten wird. Zu empfehlen ist stattdessen
die Beobachtung und Nachuntersuchung traumaexponierter Personen im Sinne eines „watchful waiting“. Bei den Personen, die bereits sehr früh über
Symptome einer Traumareaktion berichten, kann dann eine rasche kognitiv-verhaltenstherapeutische Frühintervention zum Einsatz kommen.
Medikamentös können nach Traumatisierung gegebene Betablocker wie Propranolol (2–3 × 10–14 mg) oder der zentrale α 2 -Agonist Clonidin (0,0375–
0,15 mg) durch die Dämpfung vegetativer Erregung möglicherweise präventiv wirken.

Therapie

Vergleichende Effektstärken
Die Effektstärke (➤ ) einer medikamentösen Therapie der PTBS liegt  –  fasst man alle Medikamentenstudien von über 2.500 behandelten Patienten
zusammen  –  im Mittel bei ca. 0,2–0,3. Dies entspricht einem kleinen Effekt. Zwischen den verschiedenen Medikamenten gibt es praktisch keine
Wirksamkeitsunterschiede; Antipsychotika wirken aber eher schwächer als SSRIs. Die Effektstärken einer psychotherapeutischen Behandlung bewegen sich
mit 0,97–1,30 im hohen Bereich, wobei Effektunterschiede zwischen den Therapieverfahren unsicher sind. Die besten Wirksamkeitsnachweise liegen für die
traumaadaptierte KVT (1,26) und die EMDR-Therapie (1,04) vor (s. u.). Eine Einzelbehandlung ist effektiver als Gruppenprogramme. Möglicherweise sind die
Psychotherapieeffekte aber durch fehlende Verblindung, kleine Studien, hohe Abbrecherquoten und ungeeignete Kontrollgruppen überschätzt.
Zusammengefasst ist Psychotherapie einer medikamentösen Behandlung bei PTBS höchstwahrscheinlich überlegen. Medikamente sollten nicht ohne
Psychotherapie eingesetzt werden.

Praxistipp
Traumaspezifische Psychotherapie ist in der Akutbehandlung der PTBS wahrscheinlich der Pharmakotherapie überlegen. Im Langzeitverlauf ist die
störungsorientierte KVT der alleinigen Pharmakotherapie wahrscheinlich ebenfalls überlegen. Eine Kombination aus Pharmakotherapie und
Psychotherapie hat sich gegenüber den Monotherapien bislang als nicht sicher überlegen erwiesen. Langfristig könnte eine Kombinationsbehandlung v. a.
bei therapieresistenten Verläufen und psychiatrischer Komorbidität sinnvoll sein. In Einzelfällen kann eine pharmakologische Therapie den Beginn einer
Psychotherapie erleichtern.

Psychotherapie
Nach Studienlage zeigen von den untersuchten psychotherapeutischen Verfahren störungsorientierte, d.  h. Trauma- adaptierte kognitiv-behaviorale
Therapieprogramme sowie das Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR) die größte Wirksamkeit. Weniger gut empirisch untermauert sind
bestimmte psychodynamische und hypnotherapeutische Verfahren.

Traumafokussierte kognitiv-behaviorale Psychotherapie


Eine Übersicht über Therapiebausteine einer traumaorientierten KVT gibt ➤ . Einen zentralen Bestandteil der Behandlung bildet die Reizkonfrontation
(Exposition).

• Die Psychotherapie wird, soweit möglich, im ambulanten Setting durchgeführt und fokussiert die Bearbeitung des traumatischen Ereignisses. Eine
stationäre Behandlung wird dann erforderlich, wenn die PTBS schwer ausgeprägt ist oder komorbide Störungen wie eine depressive Episode,
Substanzmissbrauch, eine Abhängigkeitsproblematik oder akute Suizidalität bestehen.
• Als für den Therapieerfolg wesentlicher Bestandteil wird heute die Reizkonfrontation betrachtet. Vorausgesetzt wird, dass eine vertrauensvolle
therapeutische Beziehung besteht und der Patient ein ausreichendes Verständnis über die Erkrankung sowie ihre Behandlung gewonnen hat.
Beispiele für die Anwendung der Reizkonfrontationsverfahren finden sich in ➤ . Die Konfrontationsverfahren reaktivieren die Erinnerung an das
Trauma sowie die damit verbundenen Emotionen, Kognitionen und Körperreaktionen unter kontrollierten Bedingungen. Sie bieten neue
Informationen wie z. B. die Abnahme von Angst und Erregung durch Habituation oder die kognitive Neubewertung bestimmter Aspekte des
Ereignisses („Das Ereignis war so nicht vorhersehbar, eine Verkettung unglücklicher Umstände und die Verantwortung trägt der Täter“ statt „Ich
allein bin schuld daran, dass ich vergewaltigt wurde“). Auch die wiederholte Diskrimination zwischen dem vergangenen traumatischen Erlebnis
und der aktuellen, geschützten und kontrollierbaren Therapiesituation erleichtert das Abklingen der Furchtreaktion und ermöglicht eine Benennung
und Neuordnung von Erinnerungen. Die Aktivierung der „Furchtstruktur“ und die Vermittlung neuer Information mit kognitiven und affektiven
Inhalten gelten als Bedingungen dafür, dass eine Veränderung stattfinden kann. Diese Art der sekundären Traumaverarbeitung kann als Mittel
verstanden werden, die Erinnerungen des „im Kurzschluss“ gebildeten Traumagedächtnisses in „normale“, komplexe
Gedächtnisverarbeitungsprozesse zu überführen (→ Ätiologie).
Tab. 9.8 Bausteine der störungsorientierten kognitiv-behavioralen Psychotherapie bei PTBS
Intervention Inhalt Ziel
Psychoedukation Informationen über Symptome, Ätiologie, Häufigkeit, Entlastung, Einordnen der Symptomatik als
Behandlungsmöglichkeiten der Störung verständliche / gut erklärbare / häufig vorkommende
Reaktion auf ein schweres Trauma, Vermitteln von
Hoffnung und Grundlagen der Reizkonfrontation

Selbstbeobachtung Erfassen von Symptomen (Flashbacks, Albträume, vegetative Erregung Wiedergewinnen von Kontrolle durch vermehrte
(Symptomtagebuch) etc.), auslösenden Situationen bzw. Gedanken oder Einsicht in die Symptomatik, Entstehung und
Körperwahrnehmungen, Reaktionen (Vermeidungsverhalten, Einnahme Aufrechterhaltung der Störung; Informationsgewinn
von Alkohol etc.) und begleitenden Emotionen und Kognitionen zur Vorbereitung des Konfrontationsverfahrens

Techniken zur Angstbewältigung

Entspannungstraining Erlernen der progressiven Muskelrelaxation nach Jacobson oder anderer Verringern muskulärer Anspannung und vegetativer
Entspannungsmethoden, Erlernen von achtsamkeitsbasierten Methoden Erregung, Verbesserung der Selbstwahrnehmung und
oder imaginativen Techniken (z. B. „sicherer Ort“) Akzeptanz körperlicher, kognitiver und emotionaler
Prozesse, Selbstberuhigung

Stressimpfungstraining Analyse der mit einer spezifischen Stresssituation verbundenen Bewältigung von Stresssituationen, Abbau von Angst
Probleme, Erarbeitung von Bewältigungsstrategien und vegetativer Erregung
(Entspannungsverfahren, kognitive Verfahren) und wiederholte
Erprobung (Übungs- und Anwendungsphase)

Atemtraining Erlernen von ruhiger Bauchatmung mit verlängerter Exspirationszeit (z.  Entspannung, Abnahme des vegetativen Arousals und
B. langsames Ausatmen auf das Wort „Ruhe“) der Angst, Verhindern einer Hyperventilation

Kognitive Erfassen, Hinterfragen und Korrigieren automatischer, irrationaler Abbau von Angst und unrealistischen,
Umstrukturierung Kognitionen, die sich zumeist auf Vorhersehbarkeit, Verursachung und pessimistischen Einstellungen, Wiedergewinnen von
Verantwortlichkeit für das Trauma beziehen Kontrolle und Zuversicht

Training sozialer (Wieder-)Erlernen angemessener sozialer Fertigkeiten (z. B. nach Abbau von Angst, sozialem Rückzug und Isolation,
Kompetenz Vergewaltigung) Verringerung von Vermeidungsverhalten in
ungefährlichen sozialen Situationen

Reizkonfrontationstechniken

Exposition in sensu Wiederholtes detailliertes Schildern des traumatischen Ereignisses in der Reduktion von Angst, Schmerz und Erregung bei
„Ich-Form“ mit damit verbundenen Gefühlen, Sinneswahrnehmungen Erinnerung an das Trauma, Wiedergewinnen von
und Gedanken; alternativ auch in der 3. Person als sog. Kontrolle, Abbau von Vermeidungsverhalten,
Bildschirmtechnik, Einsatz von emotionsregulierenden Strategien Selbstberuhigung

Exposition in vivo Graduierte Exposition: eigenständiges oder begleitetes Aufsuchen Abbau von Vermeidungsverhalten in ungefährlichen
angstauslösender Situationen (z. B. Ort des Traumas) Situationen, Reduktion von Angst und anderen
emotionalen Reaktionen, Wiedergewinnen von
Kontrolle

Die Traumakonfrontation ist allerdings nur dann indiziert, wenn eine ausreichende affektive Stabilität und sichere Umgebungsbedingungen bestehen. Bei
erheblicher Instabilität (z. B. durch hohen Substanzkonsum, Affektregulationsstörungen, Dissoziationen) soll eine Phase symptomspezifischer stabilisierender
Interventionen vorgeschaltet werden.

Psychodynamische Verfahren
Für die psychodynamischen Verfahren ist die Datenlage durch RCTs noch unzureichend. Die traumaorientierte dynamische Kurzzeittherapie basiert auf dem
Modell, dass die Verarbeitung eines traumatischen Ereignisses wie bei einer Trauerreaktion (➤ ) in verschiedenen Phasen abläuft. Die PTBS ist durch eine
pathologische Übersteigerung der einzelnen Phasen gekennzeichnet (z.  B. extremes Vermeidungsverhalten statt einfacher Verleugnung). Die
psychodynamische Therapie hat zum Ziel, die pathologischen Symptome zu lindern und eine Verarbeitung des Traumas zu ermöglichen. Sie enthält folgende
Elemente:

• Rascher Aufbau einer stabilen, vertrauensvollen therapeutischen Beziehung


• Mehrfache Schilderung des traumatischen Ereignisses in Anwesenheit eines ruhigen, empathischen, mitfühlenden, nicht wertenden Therapeuten
• Bearbeitung unangemessener, unreifer oder konflikthafter Beziehungsmuster, die durch das Trauma reaktiviert oder verstärkt wurden
• Erarbeiten der Bedeutung, die das Trauma für das Selbstkonzept des Betreffenden hat
• Aufzeigen unreifer Abwehrmechanismen
• Herstellung der Beziehung zu früheren traumatischen Erlebnissen und / oder unbewussten Konflikten

Zusätzliche Verfahren
Das Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR) wird im Rahmen einer psychotherapeutischen Behandlung kognitiv-behavioraler oder
psychodynamischer Ausrichtung eingesetzt. Während sich der Patient durch die Schilderung des Traumas mit den damit verbundenen Emotionen,
Körperreaktionen und Kognitionen konfrontiert, fixiert er einen Finger des Therapeuten. Dieser wird vor dem Gesicht des Patienten so lange hin- und
herbewegt, bis der Patient ein Nachlassen der schmerzhaften Empfindungen angibt. Als wesentlich für die Wirksamkeit der Methode wird eine bilaterale
zerebrale Stimulation durch den sensorischen Reiz betrachtet. Alternativ kann auch mit bilateralen akustischen Signalen oder Berührungsreizen gearbeitet
werden.
Weitere Therapieformen, die sich möglicherweise in der Zukunft etablieren werden, sind die Imagery Rescripting and Reprocessing Therapy und die
narrative Expositionstherapie. Beide beinhalten auch Methoden der Reizkonfrontation durch angeleitetes sprachliches bzw. schriftliches Aufarbeiten
traumatischer Erfahrungen. Auch internetbasierte kognitive Verfahren könnten in Zukunft eine neue Perspektive eröffnen.

Pharmakotherapie
Die Pharmakotherapie der PTBS spielt aufgrund ihrer geringen Wirksamkeit nur eine untergeordnete Rolle. Die Entscheidung, ob ein Medikament im
Einzelfall angewandt wird, sollte nach individuellen Gesichtspunkten erfolgen (spezifische Symptomatik, Dauer und Schweregrad der Störung, psychische
Komorbidität, Verfügbarkeit einer psychotherapeutischen Behandlung). Grundsätzlich sollte die pharmakologische Behandlung in eine
psychotherapeutische Intervention eingebettet werden.
Wie bereits ausgeführt, haben sich verschiedene antidepressiv wirksame Substanzen als schwach effektiv erwiesen (s. o., auch ➤ , ➤ ). Es sollte zunächst ein
SSRI eingesetzt werden, bevorzugt das für die Indikation PTBS zugelassene Sertralin oder Paroxetin. Medikamente der 2. Wahl sind Fluoxetin und Venlafaxin.
Auch trizyklische Antidepressiva sollen einen schwachen Effekt auf PTBS-typische Symptome haben. In der klinischen Praxis werden sie häufig zur REM-
Schlaf-Unterdrückung und damit zur Linderung quälender Albträume angewandt. Ihr Einsatz ist jedoch durch eine im Vergleich zu den SSRIs höhere
Nebenwirkungsrate limitiert. Dabei ist zu beachten, dass die SSRIs wie auch trizyklische Antidepressiva initial sehr vorsichtig dosiert werden sollten, da sich
die Patienten u.  U. durch etwaige Nebenwirkungen noch zusätzlich verunsichert fühlen. Die Wirkung des Medikaments setzt oft später ein als bei der
Depressionsbehandlung, daher sollte in einer therapeutisch wirksamen Dosierung über 8–12 Wochen behandelt werden, bevor der Therapieerfolg beurteilt wird.
Für die Erhaltungstherapie werden derzeit je nach Ausprägung der Symptomatik 1–2 Jahre empfohlen.
Bei psychotischen Symptomen oder therapieresistenter PTBS kann sich möglicherweise die zusätzliche Gabe eines Antipsychotikums der 2. Generation wie
z.  B. Risperidon, Olanzapin oder Quetiapin günstig auswirken. Vegetative Symptome sprechen manchmal gut auf die Gabe des zentralen α 2 -Agonisten
Clonidin an. Neuere Studien weisen darauf hin, dass der Einsatz von Prazosin (2–6 mg z. N.) oder Doxazosin (1–8 mg) als postsynaptische α 1 -Adrenalin-
Rezeptorblocker eine günstige Wirkung auf traumabedingte REM-Schlafstörungen, Albträume und Flashbacks hat. Zu beachten ist eine initiale orthostatische
Hypotonie.
Da die frühe Gabe von Benzodiazepinen mit einer erhöhten Rate von PTBS und Depression im weiteren Verlauf in Verbindung gebracht wird, sollte auf
Präparate dieser Substanzgruppe nach Möglichkeit ganz verzichtet werden.

Verlauf und Prognose


Epidemiologische Daten deuten darauf hin, dass viele der von einer PTBS betroffenen Menschen über längere Zeit an ihrer Symptomatik leiden (→
Epidemiologie). Die Spontanremissionsrate liegt bei ca. einem Drittel. Bei einem weiteren Drittel der Patienten ist die Symptomatik noch nach 10  Jahren
nachweisbar. Dauert die Symptomatik länger als 3  Monate an, ist dies als prognostisch ungünstiger Faktor einzuschätzen. Spezifische psychotherapeutische
und ggf. zusätzliche pharmakologische Interventionen können eine deutliche Besserung der Symptomatik erbringen.
Insgesamt zeigt sich, dass traumatisierte Patienten in vielfacher Hinsicht in ihrem Gesundheitszustand beeinträchtigt sind. So hat die Mehrzahl der Patienten
mit PTBS drei oder mehr psychische Erkrankungen. Insbesondere in der Kindheit schwer traumatisierte Menschen haben darüber hinaus ein höheres Risiko für
spätere somatische Erkrankungen, z. B. Herz-Kreislauf-, Lungen- oder Tumorerkrankungen. Auch ein erhöhtes gesundheitliches Risikoverhalten wie Rauchen,
Bewegungsmangel oder Übergewicht wird beschrieben.

9.5. Andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung


Extrem schwere, insbesondere lang anhaltende oder wiederholte Traumata können zu überdauernden Beeinträchtigungen führen. Beispiele für solche
Traumata sind die Internierung in einem Konzentrationslager, Folterung, andauernde massive Gewalt im häuslichen Bereich, in Krisenregionen oder
Kriegsgebieten sowie anderweitige Katastrophensituationen. Im Verlauf oder nach Ende der Traumatisierung können sich neben den für eine PTBS typischen
Symptomen auch anhaltende Persönlichkeitsveränderungen zeigen, die mit unflexiblem und fehlangepasstem Verhalten verbunden sind. In der ICD-10 wurde
für eine solche Störung die Diagnose der andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung (F62.0) geschaffen. Für die Diagnose ist eine
mindestens 2-jährige Persistenz der Veränderungen gefordert. Die Betroffenen fürchten – auch wenn die Gefahrensituation objektiv beendet ist – nichts mehr,
als dass sich die schrecklichen Ereignisse wiederholen könnten. Sie neigen deshalb zu größtem Misstrauen und dazu, ihre Umwelt generell als feindlich zu
betrachten. Sie leiden unter einer intensiven, anhaltenden Angst und leben mit dem Gefühl, „immer auf der Hut“ sein zu müssen. Alle Anzeichen
antizipierter oder realer Gefahr (z. B. der Anblick vergitterter Fenster, Begegnung mit einer uniformierten Person) lösen massive Furchtreaktionen mit einer
erheblichen Zunahme des ohnehin ständig bestehenden vegetativen Arousals aus. Infolge dieser Unfähigkeit, sich zu entspannen, entwickeln sich oft
Schlaflosigkeit und vielfältige körperliche Beschwerden .
Vermeidungs- und Rückzugsstrategien können ein solches Ausmaß erreichen, dass sich die Betreffenden nicht nur räumlich aus allen gesellschaftlichen
Bezügen entfernen, sondern sich auch innerlich von jeder Beschäftigung mit der Vergangenheit, angenehmen Erinnerungen, Beziehungen, Gefühlen und
Wahrnehmungen zurückziehen. Viele Traumatisierte sprechen nie über ihre Erfahrungen, selbst gegenüber späteren Ehepartnern oder Familienangehörigen
nicht.
Bisherige Wertvorstellungen, Ideale, Ziele, aber auch die Wahrnehmung des eigenen Körpers können anhaltend verändert oder zerstört sein. Betroffene
Personen schildern, „nicht mehr der- oder dieselbe“ zu sein, in besonders gravierenden Fällen auch, sich „nicht mehr als Mensch“ zu fühlen. Sie werden von
massiven Schuld- und Schamgefühlen gepeinigt. Häufig wird das eigene Überleben angesichts des Todes anderer nahestehender Menschen als schuldhaft
beurteilt („Überlebensschuld“). Lang anhaltende depressive Zustände können die Situation weiter zuspitzen.
Die konzeptionellen Überschneidungen der Diagnose mit der PTBS und insbesondere mit der komplexen PTBS ( ➤ ) sind augenfällig. Daher wird
diskutiert, ob die Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung in Zukunft als Variante der komplexen PTBS verstanden werden sollte. Diese Überlegungen
werden sich in der ICD-11 in der Aufgabe der Diagnose „andauernde Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung“ zugunsten der komplexen PTBS
niederschlagen.

Literatur
Herman JL (2018). Die Narben der Gewalt. Traumatische Erfahrungen verstehen und überwinden. 5. A. Paderborn: Junfermann.
Horowitz M, Field NM, Classen CC (1993). Stress response syndromes and their treatment. In: Goldberger L, Breznitz S (eds.). Handbook of Stress: Theoretical and clinical
aspects. 2 nd ed. New York: The Free Press, pp. 757–773.
Hoffmann N, Hoffmann B (2017). Anpassungsstörung und Lebenskrise. Material für Therapie, Beratung und Selbsthilfe. 2. aktual. A. Weinheim: Beltz PVU.
Maercker A (Hrsg.) (2013). Posttraumatische Belastungsstörungen. 4. A. Berlin: Springer.
Parkes CM, Weiss R (1983). Recovery from Bereavement. New York: Basic Books.
Worden W (2017). Beratung und Therapie in Trauerfällen. Ein Handbuch. 5. A. Göttingen: Hogrefe.
KAPITEL 10

Dissoziative Störungen
Sabine Frauenknecht

10.1. Definition und Klassifikation


Definition
Als dissoziative Störungen werden Krankheitsbilder bezeichnet, die auf einem teilweisen oder völligen Verlust der integrierenden Funktion des
Gedächtnisses oder des Bewusstseins beruhen. Der selektive Abruf von Erinnerungen an die Vergangenheit, das Identitätserleben sowie die Wahrnehmung
von Empfindungen oder Körperbewegungen werden normalerweise in hohem Maße bewusst von der betreffenden Person beeinflusst und kontrolliert.
Dissoziation bedeutet, dass diese Fähigkeit zur bewussten Beeinflussung und Kontrolle für bestimmte psychische oder körperliche Bereiche gestört ist:
Bestimmte Gedächtnisinhalte, Körperwahrnehmungen oder -bewegungen sind vom „normalen“ Bewusstsein abgespalten und können nicht mehr in das
eigene Erleben oder die aktuellen Erfahrungen integriert werden.
Kommt es zur Abspaltung der bewussten Kontrolle über körperliche Funktionen, stellt sich dies oft in Form pseudoneurologischer Symptome dar, z. B.
dissoziative Lähmungen, dissoziative Krampfanfälle. Diese heterogene Gruppe von Störungsbildern mit körperlicher Symptomatik wurde und wird auch
unter den Begriffen Konversionsstörung, Konversionsneurose, Konversionsreaktion, Hysterie o d e r hysterische Neurose zusammengefasst. Eine
Desintegration bestimmter mentaler Prozesse kann sich z. B. als Verlust von Gedächtnisinhalten wie bei der dissoziativen Amnesie äußern.
Die dissoziativen Störungen auf mentaler Ebene und die Konversionsstörungen wurden in der psychiatrischen Tradition lange den neurotischen Störungen
oder Neurosen zugeordnet (➤ ). Sowohl Dissoziation als auch Konversion sind eng mit der Geschichte der „Hysterie“ verbunden.

Hintergrundwissen
Zum Begriff „Hysterie“ und seiner Weiterentwicklung
Mit dem Begriff „Hysterie“ wurde über viele Jahrhunderte eine Krankheit bezeichnet, die ausschließlich Frauen betraf und mit unklaren, unverständlichen
und wechselnden Symptomen einherging. Mit Bezug auf das griechische Wort für Gebärmutter („hystéra“) wurden die vielfältigen Beschwerden ohne
organisches Korrelat seit der ägyptischen Hochkultur mit einem krankhaften Umherwandern des Uterus im Körper der Betroffenen erklärt. Das
Spektrum, in dem die Symptomatik eingeordnet und beurteilt wurde, reichte von der „Simulation“ einerseits bis zur „Besessenheit“ oder „Hexerei“
andererseits mit allen Folgen von Ignoranz bis zur Folterung und zum qualvollen Tod der betroffenen Frauen. Ein Historiker bezeichnete die Hysterie als
„anschauliche medizinische Metapher für alles, was Männern am anderen Geschlecht rätselhaft und unkontrollierbar erschien“ (zit. bei Herman 2003).
Im Zuge der Aufklärung und dem damit verbundenen Aufblühen der wissenschaftlichen Arbeits- und Denkweise wurde die Hysterie im 19. Jh.
Gegenstand systematischer Beobachtung. Als erster Arzt und Wissenschaftler, der sich mit der Erforschung des Phänomens beschäftigte, gilt Jean-Martin
Charcot (1825–1893). In seiner Klinik, der Salpêtrière in Paris, die neben „Geisteskranken“ auch Armen und Prostituierten Zuflucht bot, erfasste er
systematisch vorwiegend neurologisch anmutende Symptomkonstellationen und erregte durch die „Vorführung“ von Patientinnen in seinen Vorlesungen
großes Aufsehen. Er postulierte, die Hysterie werde durch die autoregulative Abspaltung bestimmter Erlebnisanteile aus dem Bewusstsein verursacht.
Zu seinen Schülern gehörte auch der junge Sigmund Freud, der sich in der Folge intensiv mit „hysterischen Frauen“ beschäftigte und dabei seinen
Schwerpunkt auf das „Innenleben“ der Betreffenden legte. Viele der Frauen, mit denen Freud sprach, berichteten über schwerwiegende traumatische
Ereignisse in der Kindheit (nicht selten ein sexueller Missbrauch) und belastende Erfahrungen kurz vor Beginn der hysterischen Symptomatik. Daraus
schloss Freud, dass die Hysterie durch psychische Traumata verursacht sei: Für das Bewusstsein unerträgliche Gefühlsreaktionen auf ein Trauma bewirken
eine Bewusstseinsänderung, die zur Entwicklung der hysterischen Symptome führt. Dieser veränderte Bewusstseinszustand wurde als „doppeltes
Bewusstsein“ (Freud) oder „Dissoziation“ (Janet) bezeichnet. Freud betrachtete die Fähigkeit zur Dissoziation zunächst nicht wie viele seiner Kollegen als
Zeichen psychischer Schwäche. Mit seinen Beobachtungen zu sexuellen Traumata brach er allerdings ein gesellschaftliches Tabu, was entsprechend
negativ sanktioniert wurde und schließlich zum Widerruf eines Teils seiner Theorien führte: Zu einem späteren Zeitpunkt äußerte Freud die Meinung, dass
die Berichte der Frauen über sexuelle Traumatisierungen als Fantasien und nicht als reale Erlebnisse zu bewerten seien. Er schloss, dass intolerable
psychische Konflikte psychosexuellen Inhalts durch aktive Verdrängungs- und Abwehrprozesse zur Entwicklung der Konversionssymptome führen. Die
Konversion bewirkt nach Freud einerseits eine Reduktion intrapsychischer Spannung (primärer Krankheitsgewinn), andererseits aber auch
Veränderungen im Umfeld der Patientin, wie z. B. vermehrte Zuwendung oder Entlastung von Verpflichtungen (sekundärer Krankheitsgewinn).
In der Folgezeit geriet der für die Störungsgruppe zentrale Begriff der Dissoziation zunächst in Vergessenheit. Hysterie und Konversionsneurose wurden
in verschiedenste Unterformen aufgespalten (z.  B. hysterische Störung, funktionelle Syndrome, psychogene Störung, psychovegetative Reaktion). Die
Hysterie bildete eine uneinheitliche, unscharfe diagnostische Bezeichnung für eine Vielzahl von Störungsbildern. Erst in der 2. Hälfte des 20. Jh. kam
erneut ein Interesse an der Erforschung dieser Störungsbilder auf. Bis heute impliziert der Begriff „Hysterie“ oder „Konversionsneurose“ ein klares
ätiopathogenetisches Konzept. Überdies sind die Begriffe „Hysterie“ oder „hysterisch“ im alltäglichen Sprachgebrauch fast immer mit einer erheblichen
Abwertung und Diskriminierung verbunden.

In den Konzeptionen des DSM-IV und der ICD-10 wurde der Hysteriebegriff aufgegeben. Stattdessen entwickelten sich, abhängig von der jeweils im
Vordergrund stehenden Symptomatik, im Wesentlichen vier diagnostische Kategorien:

• Dissoziative Störungen (mit dissoziativen Phänomenen auf psychischer / mentaler Ebene)


• Konversionsstörungen (mit dissoziativen neurologischen Symptomen oder Ausfällen)
• Somatisierungsstörung (mit multiplen, wiederholt auftretenden und häufig wechselnden körperlichen Symptomen) (➤ )
• Histrionische Persönlichkeitsstörung (➤ )

Klassifikation
In der ICD-10 werden die Begriffe der dissoziativen Störung und der Konversionsstörungen synonym verwendet. Für diese Art der Klassifikation spricht, dass
einige Studien für dissoziative Symptome auf mentaler oder körperlicher Ebene das Vorliegen eines „Dissoziationsfaktors“ als gemeinsamen pathogenetischen
Mechanismus belegen. Außerdem können bei betroffenen Patienten häufig gleichzeitig mentale und pseudoneurologische dissoziative Phänomene beobachtet
werden. In Abgrenzung zu den somatoformen Störungen soll also bei den Konversionsstörungen eine Dissoziation die Grundlage der körperlichen
Symptomatik bilden. Diesen Überlegungen wird auch die ICD-11 folgen: Sie beschreibt
• zum einen die dissoziativen Störungen auf körperlicher Ebene unter dem Begriff der dissoziativen Bewegungs-, Sensibilitäts- oder
Bewusstseinsstörungen,
• zum anderen verschiedene dissoziative Störungen auf mentaler Ebene, z. B. die dissoziative Amnesie, Trance- oder Besessenheitszustände, die
dissoziative Identitätsstörung oder die Depersonalisations- / Derealisationsstörung.

Andererseits gehen Patienten mit einer Konversionsstörung oft von einer organischen Verursachung ihrer Beschwerden aus und äußern (wie für die
somatoformen Störungen beschrieben) wiederholt den Wunsch nach einer umfassenden körperlichen Abklärung. Daher werden die Konversionsstörungen im
DSM-5® den somatoformen Störungen zugerechnet. Einen Überblick über die etwas verwirrenden Unterschiede der Klassifikationssysteme gibt ➤ .

Tab. 10.1 Übersicht über die dissoziativen Störungen nach ICD-10, ICD-11 und DSM-5®
ICD-10: F44 Dissoziative Störungen ICD-11: Dissoziative Störungen DSM-5®
(Konversionsstörungen)
Dissoziative Störungen auf Dissoziative Amnesie (F44.0) Dissoziative Amnesie (mit Dissoziative Amnesie (mit dissoziativer Fugue)
psychischer Ebene dissoziativer Fugue)

Dissoziative Fugue (F44.1)

Dissoziativer Stupor (F44.2) Stupor Stupor


Unter: dissoziative Unter: andere näher bezeichnete dissoziative Störungen
Bewegungsstörungen

Trance- und • Trancestörung


Besessenheitszustände • Besessenheitsstörung
(F44.3)

Multiple • Dissoziative Identitätsstörung Unter:


Persönlichkeitsstörung • Partielle dissoziative Andere näher bezeichnete dissoziative Störungen
(F44.81) Identitätsstörung • Dissoziative Identitätsstörung

vgl. unten: Weitere, den Depersonalisations- /  Unter:


dissoziativen Störungen Derealisationsstörung Andere näher bezeichnete dissoziative Störungen
zuzuordnende Diagnosen • Depersonalisations- / Derealisationsstörung

Dissoziative Störungen auf • Dissoziative Dissoziative Bewegungs-, Konversionsstörung (unter: Somatische


körperlicher Ebene = Bewegungsstörungen Sensibilitäts- oder Belastungsstörung und verwandte Störungen)
Konversionsstörungen (F44.4) Bewusstseinsstörungen
• Dissoziative Krampfanfälle (weitere Unterteilung in
(F44.5) verschiedene
• Dissoziative Sensibilitäts- Symptomgruppen
und Empfindungsstörungen vorgesehen)
(F44.6)
• Dissoziative Störungen
(Konversionsstörungen)
gemischt (F44.7)

Weitere, den dissoziativen Sonstige dissoziative Andere näher bezeichnete und Andere näher bezeichnete und nicht näher bezeichnete
Störungen zuzuordnende Störungen (F44.8): nicht näher bezeichnete dissoziative Störungen (z. B. partielle dissoziative
Diagnosen • Ganser-Syndrom (F44.80) dissoziative Störungen (n. n.) Identitätsstörung, Stupor, Trance)
• Depersonalisations- / 
Derealisationsstörung
(F48.1)

In diesem Kapitel werden nur die primären dissoziativen Störungen beschrieben, also diejenigen dissoziativen Syndrome, die nicht durch eine andere
psychische oder körperliche Grunderkrankung ausgelöst werden. Dies ist insofern von Bedeutung, als einerseits dissoziative Symptome im Rahmen anderer
psychischer Erkrankungen wahrscheinlich sehr viel häufiger vorkommen als bislang angenommen, andererseits zwischen den dissoziativen Störungen und
bestimmten anderen psychischen Erkrankungen eine hohe Komorbidität besteht (z. B. PTBS, Borderline-Persönlichkeitsstörung, vgl. dazu auch ➤ und ➤ ).
Die primären dissoziativen Störungen treten zwar insgesamt selten auf. Aufgrund ihrer Symptomatik, welche die Betroffenen selbst oft als „verrückt“
erleben und verschweigen, wird die Diagnose häufig übersehen und erst nach längerer Erkrankungsdauer gestellt. Zudem werden die Patienten häufig als
körperlich krank betrachtet und teilweise über Jahre hinweg verschiedensten diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen der somatischen Medizin
unterzogen. Dies führt neben erheblichem subjektivem Leiden häufig zu Beziehungskonflikten, Einbußen der beruflichen Leistungsfähigkeit, finanziellen
Schwierigkeiten, erheblichen Krankheitskosten und sekundären psychischen Problemen. Patienten mit dissoziativer Störung stellen sich daher häufig nicht
wegen der Störung selbst, sondern erst aufgrund von Folgeproblemen in psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlungseinrichtungen vor.

10.2. Symptomatik
10.2.1. Dissoziative Störungen auf psychischer Ebene
Leitsymptom der dissoziativen Störungen auf mentaler Ebene ist ein Verlust der Kontinuität des subjektiven Erlebens. Die integrative Verarbeitung und
Kontrolle von Gedächtnisinhalten, des Identitätserlebens, von Gefühlen oder des Verhaltens sind gestört, d.  h., bestimmte Erlebnisanteile werden vom
„normalen“ Erleben abgetrennt und sind der willentlichen Kontrolle oder Beeinflussung zeitweise nicht mehr zugänglich.

Dissoziative Amnesie
Typisch sind Gedächtnislücken, die in ihrem Ausmaß und ihrer Vollständigkeit variieren und sich auf für die Person wesentliche Erinnerungen oder
Lebensabschnitte oder ein aktuelles traumatisierendes Ereignis beziehen. Die Gedächtnislücken sind so schwerwiegend, dass sie nicht durch normale
Vergesslichkeit oder Müdigkeit erklärt werden können. Demgegenüber sind die sonstige kognitive Leistungsfähigkeit und die übrigen Gedächtnisfunktionen
ungestört.

Dissoziative Fugue
Charakteristisch für die dissoziative Fugue ist, dass der Betreffende plötzlich, aber geordnet sein gewohntes Umfeld verlässt und sich für Tage oder längere
Zeitspannen an einen neuen Aufenthaltsort begibt. Bisherige Beziehungen oder Verbindungen werden dabei abgebrochen. Gelegentlich reist der Betreffende an
einen Ort, der für ihn mit einer bestimmten emotionalen Bedeutung verknüpft ist. Für die Zeit der Reise wird eine veränderte oder völlig neue Identität
angenommen. Äußerlich wirkt der Betreffende meist unauffällig und kann die für die Alltagsbewältigung erforderlichen Handlungen organisiert ausführen
(Versorgung mit Nahrung und Flüssigkeit, Körperhygiene, Kauf von Fahrkarten etc.). Für den Fuguezustand besteht fast immer eine mehr oder weniger
vollständige (dissoziative) Amnesie.

Dissoziativer Stupor
Im dissoziativen Stupor sind willkürliche Bewegungen und normale Reaktionen auf äußere Reize wie z. B. Geräusche, Berührung oder Licht in erheblichem
Maße eingeschränkt oder fehlen ganz. Der Betreffende steht, sitzt oder liegt da und reagiert weder auf Ansprache noch auf Berührung. Das Bewusstsein des
Patienten wirkt eingeengt und nach innen gerichtet. Zumeist ergeben sich Anhaltspunkte für ein kurz zuvor aufgetretenes belastendes Ereignis oder erhebliche
zwischenmenschliche Konflikte. Nicht selten geht dem Stupor ein Zustand extremer innerer Anspannung mit überwältigenden emotionalen Regungen oder ein
Gefühl innerer Leere und Betäubung voraus. Ein dissoziativer Stupor kann isoliert auftreten; er ist aber auch im Rahmen einer PTBS oder bei der Borderline-
Persönlichkeitsstörung zu beobachten.

Trance- und Besessenheitszustände


Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass die betreffende Person das Gefühl für ihre Identität vorübergehend verliert (d. h. die Gewissheit, die Person zu sein, die
man auch bisher immer war). Auch die bewusste Wahrnehmung der Umgebung ist erheblich eingeschränkt und konzentriert sich u.  U. auf ein oder zwei
Aspekte.
Gelegentlich verhält sich ein Mensch in Trance so, als sei er „besessen“ oder von einer höheren Macht beherrscht. Mimik, Gestik und Sprache wirken
monoton oder von der vielfachen Wiederholung einzelner Elemente geprägt. Die Diagnose sollte allerdings nur für tranceartige Zustandsbilder verwendet
werden, die unkontrolliert und ohne bewusste Entscheidung eintreten und nicht im Rahmen kulturspezifischer Ereignisse (z. B. religiöser Rituale) willentlich
herbeigeführt werden.

Dissoziative Identitätsstörung (multiple Persönlichkeitsstörung)


Dieses Störungsbild wird kontrovers diskutiert, Häufigkeit und mögliche Kulturspezifität sind unklar. In der ICD-10 wird sie daher als multiple
Persönlichkeitsstörung noch unter den sonstigen dissoziativen Störungen (F44.8) geführt; in der ICD-11 ist eine separate diagnostische Entität als dissoziative
Identitätsstörung vorgesehen. Hauptmerkmal ist die Aufspaltung des Ichs der betreffenden Person in zwei oder mehr unterscheidbare, dissoziierte
„Identitäten“, die in sich schlüssig und abgeschlossen wirken. Der Betreffende äußert, mehrere Personen in sich zu haben, die unterschiedlich dächten und
fühlten, aber auch miteinander kommunizieren könnten. Die jeweils anwesende oder bestimmende Person beeinflusse dann das Denken, Handeln und Fühlen
in der jeweiligen Situation. Die verschiedenen Persönlichkeitsmuster können aber auch als völlig voneinander getrennt und ohne Wissen um die Existenz der
anderen erlebt werden.
Für die Entstehung der Störung sollen schwere Traumata in der Kindheit verantwortlich sein, die von extremem Sadismus und massivster Brutalität
gekennzeichnet sind (Traumamodell). Die verschiedenen „Identitäten“ werden demnach als „personifizierter“ Bewältigungsversuch für extreme
psychomotorische Erlebenszustände betrachtet. Die Integration der Erlebnisse misslingt aufgrund ihres extremen Charakters, aber auch wegen dysfunktionaler
Bindungserfahrungen mit den primären Bezugspersonen. Zur Aufrechterhaltung dieses Verarbeitungsmusters tragen Umgebungsfaktoren bei. Diskutiert
werden auch iatrogene und soziokulturelle Mechanismen, die bei dafür vulnerablen Personen zu einer Abspaltung von verschiedenen Rollen führen können
(soziokognitives Modell). Tatsächlich ist durch Studien aber eine hohe Rate für anhaltende und schwere frühkindliche Traumatisierungen bei Patienten mit
dissoziativer Identitätsstörung belegt.

Depersonalisations- / Derealisationssyndrom
Aufgrund der durch wissenschaftliche Untersuchungen gesicherten Zusammenhänge zwischen Dissoziation und Derealisations- bzw.
Depersonalisationserleben wird im DSM-5® (und auch in der ICD-11, ➤ ) die Derealisations-  /  Depersonalisationsstörung den dissoziativen Störungen
zugeordnet, während sie in der ICD-10 unter den sonstigen neurotischen Störungen (ICD-10 F48.1) subsumiert wird.
Bei dieser Störung beklagen Patienten v.  a., dass ihre Umgebung phasenweise fremd und entfernt wirke oder dass sich ihr Körper und das Erleben ihrer
geistigen Aktivität verändern würden. Sie können das Gefühl entwickeln, dass das Leben um sie herum ohne Farbe, künstlich oder wie auf einer Bühne abläuft
(„Ich fühle mich wie unter einer Glasglocke“, „Gegenstände erscheinen größer oder kleiner“). Sie können ihren Körper als leblos, losgelöst oder anormal
empfinden oder den Eindruck haben, nicht länger ihr eigenes Denken, ihre Vorstellungen oder Erinnerungen zu erleben. Manchmal fühlen sie sich, als ob sie
sich aus ihrem Körper entfernten und sich mit Abstand selbst beobachteten. Die Realitätskontrolle ist dabei vollständig erhalten.
Vorübergehendes Depersonalisations- und Derealisationserleben ist auch bei psychisch Gesunden häufig zu beobachten, z. B. im Zustand starker Müdigkeit,
beim Erwachen und Einschlafen oder bei sensorischer Deprivation, und ebenfalls im Rahmen zahlreicher psychischer oder hirnorganischer Erkrankungen. Die
Diagnose einer Derealisations- / Depersonalisationsstörung ist jedoch nur dann erfüllt, wenn sie andauert oder sich häufig wiederholt und wenn dadurch eine
erhebliche Beeinträchtigung in persönlichen und sozialen Lebensbereichen bedingt ist.

10.2.2. Dissoziative Störungen auf körperlicher Ebene


Dissoziative Störungen der Bewegung oder der Sinnesempfindung (Konversionsstörungen) äußern sich in verschiedenen körperlichen, oft scheinbar
neurologischen Störungen, ohne dass eine organische Ursache zur Erklärung der Beschwerden nachweisbar ist.

Dissoziative Bewegungsstörung
Bei der dissoziativen Bewegungsstörung leidet der Betreffende unter einer Schwäche oder Lähmung bestimmter Körperpartien. Sie kann sich jedoch auch
in Form einer Koordinationsstörung (Ataxie), der Unfähigkeit, ohne fremde Hilfe zu gehen (Abasie) oder zu stehen (Astasie), äußern. Auch übertriebenes
Schütteln oder Zittern von Körperteilen und andere unspezifische Symptome wie Aphonien oder Dysarthrien können auftreten. Die Symptome folgen oft den
subjektiven Vorstellungen des Patienten von einer körperlichen Krankheit, die von anatomischen oder physiologischen Gegebenheiten abweichen können.
Nicht selten finden sich jedoch auch Symptomkonstellationen, die neurologische Erkrankungen nahezu perfekt imitieren (z.  B. eine Encephalomyelitis
disseminata). Manchmal ist den Betreffenden die Erkrankung aus ihrem näheren Umfeld bekannt. Die früher als typisch für die Konversionsstörungen
beschriebene belle indifférence (d.  h. das scheinbar gleichmütige Annehmen einer schweren körperlichen Beeinträchtigung) kann dabei auffallen, ist jedoch
nicht die Regel und kann auch bei ernsten körperlichen Erkrankungen zu beobachten sein.

Dissoziative Empfindungs- und Sensibilitätsstörungen


Sie sind in erster Linie durch Dysästhesien, Hypästhesien oder Anästhesien bestimmter Hautareale gekennzeichnet, wobei die betroffenen Partien mehr den
Vorstellungen des Patienten über die Körperfunktionen entsprechen als neurologischem Wissen. So werden Sensibilitätsstörungen z. B. als handschuh- oder
strumpfförmig oder scharf in der Mittellinie des Körpers begrenzt empfunden. Störungen des Sensoriums können das Sehvermögen (Tunnelsehen, Verlust der
Sehschärfe, Blindheit), seltener das Gehör (Taubheit) oder den Geruchssinn (Anosmie) betreffen. Treten motorische und sensorische Phänomene gleichzeitig
auf (z. B. als Bild einer sensomotorischen Hemiparese), sollte eine gemischte dissoziative Störung diagnostiziert werden.

Dissoziative Krampfanfälle
Diese können in ihrem Erscheinungsbild einen epileptischen Anfall imitieren, sich aber auch in Form von Synkopen („Ohnmachtsanfälle“) äußern. Im
Vergleich zum epileptischen Anfallsgeschehen sind die Patienten bei den sog. psychogenen Anfällen nicht bewusstlos. Es fehlen i.  d.  R. Phänomene wie
Zungenbiss, Einnässen, Einkoten, Zyanose, Hypersalivation, Sturzverletzungen und postiktale Prolaktinerhöhung.

10.2.3. Sonstige dissoziative Störungen


Unter dieser Kategorie wird in der ICD-10 neben der multiplen Persönlichkeitsstörung (= dissoziative Identitätsstörung, ➤ ) das Ganser-Syndrom genannt.
Darunter wird eine Störung verstanden, die durch demonstrativ wirkendes Vorbeiantworten und systematisch erscheinende Fehlhandlungen charakterisiert ist.
Der Betreffende antwortet auf die Frage, was 3 + 4 ergebe, z. B. mit „11“ oder versucht, seine Kleider zu kämmen statt seiner Haare. Insgesamt entsteht das
Bild, als ob der Betreffende sich bewusst als „psychotisch“ oder „verrückt“ darstellen wolle. Gleichzeitig treten mehrere dissoziative Symptome auf, wie etwa
eine psychogene Amnesie für die Ereignisse und sein eigenes Verhalten. Diese Reaktionsform ist sehr selten und soll v. a. in belastenden Situationen (wie z. B.
bei einer Verhaftung) zu beobachten sein.
Im DSM-5® werden noch einige weitere Diagnosen genannt. Es besteht z. B. die Möglichkeit, eine Identitätsstörung infolge anhaltender und intensiver
Manipulation unter Zwangsbedingungen zu diagnostizieren. Damit ist eine anhaltende Veränderung des Identitätserlebens oder ein ständiges Infragestellen
der eigenen Identität gemeint, die durch intensive manipulative oder gewalttätige Prozesse ausgelöst wurden (z.  B. „Gehirnwäsche“ in sektenähnlichen
Lebensgemeinschaften, Folter, langer politischer Haft, Indoktrination in Gefangenschaft oder durch terroristische Organisationen). Es ergeben sich hier
Überschneidungen mit der in ➤ beschriebenen „andauernden Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung“ (ICD-10). A u c h akute dissoziative
Reaktionen auf belastende Ereignisse, die nicht länger als 1 Monat andauern, können hier verschlüsselt werden.

10.3. Epidemiologie und Ätiologie


Epidemiologie
Angaben zur Häufigkeit dissoziativer Störungen sind aufgrund der uneinheitlichen Datenlage und Klassifikationssysteme nur begrenzt möglich. Die
Punktprävalenz für alle dissoziativen Störungen in der Allgemeinbevölkerung dürfte zwischen 1 und 5 % liegen. Vergleicht man die bislang vorhandenen
Punktprävalenzen einzelner Diagnosen, so dürfte die dissoziative Amnesie am häufigsten auftreten (1,8–5  %), gefolgt vom Derealisations-  / 
Depersonalisationssyndrom (1,2–2,4 %) und von der dissoziativen Identitätsstörung (um 1 %). Für die Konversionsstörungen bzw. dissoziativen Störungen auf
körperlicher Ebene werden Prävalenzraten zwischen 2  / 100.000 und 0,3  % angegeben. Etwas anders stellt sich die Situation bei stationär behandelten
Patienten dar: Dissoziative Störungen sollen etwa 8–9 % aller stationären neurologischen und ca. 5 % aller stationären psychiatrischen Patienten
betreffen. Frauen sind in einem Verhältnis von etwa 3 : 1 häufiger betroffen als Männer. Drei Viertel der Patienten erkranken zwischen dem 17. und 32. Lj.
H o h e Komorbiditäten mit dissoziativen Symptomen oder dissoziativen Störungen werden insbesondere für die P T B S , d i e Borderline-
Persönlichkeitsstörung, die Konversionsstörungen, die somatoformen Störungen, aber auch für Angst- und Essstörungen beschrieben. Das Vorliegen einer
dissoziativen Störung oder dissoziativer Symptome wird dabei mit einer höheren Krankheitslast und einer schlechteren Prognose der psychischen Erkrankung
in Verbindung gebracht. Daher ist es angebracht, bei jedem psychisch Erkrankten aktiv nach dissoziativen Symptomen zu fragen.

Ätiologie
Für die dissoziativen Störungen wird eine multifaktorielle Genese angenommen, bei der genetische, neurobiologische, psychologische und soziokulturelle
Faktoren zusammenwirken.
Dissoziation k a n n nicht per se a l s pathologisch betrachtet werden. Im Sinne eines Kontinuums kann sie als Extrem auf einem Spektrum von
normalpsychologischen Phänomenen bis hin zu pathologischen Symptomen gesehen werden: Meditation oder künstlerische Betätigung können z.  B. bei
Gesunden vorübergehend zu einer gewollten „Abspaltung“ von bestimmten Wahrnehmungsebenen führen. Die Fähigkeit, in extremsten Stresssituationen „zu
dissoziieren“, d.  h. mit einem „Totstellreflex“ („Freezing“) zu reagieren, kann als physiologischer und evolutionsbiologisch sinnvoller Mechanismus zum
Schutz vor zu starker emotionaler oder körperlicher Belastung verstanden werden. Ob es sich dabei um ein primär vorhandenes Verhaltensmuster oder eine erst
sekundär durch Traumatisierung induzierte adaptive Reaktion handelt, wird kontrovers diskutiert.

Vulnerabilität für Dissoziation


Zwillingsstudien belegen eine deutliche genetische Disposition (um 50 %) für die Entwicklung dissoziativer Symptome. Neurobehaviorale Modelle
postulieren, dass zentrale Opioid- und Serotoninsysteme in extremen Gefahrensituationen aktiviert werden und zu einem „Herunterfahren“ afferenter
neuronaler Systeme mit den entsprechenden Veränderungen (z.  B. Einengung des Bewusstseins, Analgesie) führen. In bildgebenden Verfahren zeigt sich
während dissoziativer Zustände eine Überaktivität des anterioren Zingulums bei gleichzeitiger Hemmung der Amygdalae. Bestimmte
Persönlichkeitseigenschaften wie z.  B. erhöhte Suggestibilität, lebhafte Fantasie oder die Fähigkeit zur mentalen Absorption werden mit einer erhöhten
Dissoziationsbereitschaft in Verbindung gebracht. Schwierigkeiten im Umgang mit aversiven Emotionen bzw. emotionale Anspannungszustände scheinen
dissoziative Symptome ebenfalls zu begünstigen. In der tiefenpsychologischen Tradition bezeichnet der Begriff Alexithymie (= Gefühlsblindheit,
„Gefühlslegasthenie“) die Unfähigkeit, eigene Emotionen wahrzunehmen, zu identifizieren und zu regulieren, und wird als Risikofaktor für die Entstehung
einer dissoziativen Störung genannt. Auch ein schlechter körperlicher Allgemeinzustand kann zum Auftreten dissoziativer Zustände beitragen, insbesondere
eine zu geringe Flüssigkeitszufuhr, Schlafmangel oder Fehlernährung.
Ein Zusammenhang zwischen Dissoziation und Gewalterfahrungen und Traumata, aber auch Erfahrungen von Vernachlässigung oder emotionalem
Missbrauch im Kindesalter ist gut belegt, insbesondere für die dissoziative Identitätsstörung. Allerdings wäre es verkürzt, allein aus der Diagnose einer
dissoziativen Symptomatik auf das Vorliegen traumatischer Erfahrungen zu schließen.

Psychologische Faktoren

Psychodynamische Modellvorstellungen
Psychodynamische Konzepte verstehen den Vorgang der Dissoziation als Abwehrmechanismus. Er stellt den Versuch dar, ein traumatisches Erlebnis, einen
unerträglichen intrapsychischen Konflikt oder nicht tolerable Wünsche und Impulse durch Abspaltung aus der bewussten Wahrnehmung und Kontrolle zu
„bewältigen“. Während eines schweren akuten Traumas (z. B. Vergewaltigung, Folter) kann die Dissoziation als adaptiver Mechanismus verstanden werden,
das extreme Ereignis psychisch und körperlich zu überstehen. Dissoziative Phänomene können sich jedoch auch zum stereotypen Reaktionsmuster auf kleinere
äußere Belastungen oder Konfliktsituationen entwickeln und damit zu einer dysfunktionalen dissoziativen Symptomatik führen.

Kognitiv-behaviorale Modellvorstellungen
Auf dem Boden einer erhöhten Vulnerabilität für dissoziative Reaktionen (s.  o.) kann sich das dissoziative Verhaltensmuster im Laufe der Entwicklung
verselbstständigen. Entsprechend ungünstige Lebensumstände (weitere traumatische Erlebnisse, fortgesetzte, andauernde Gewalt oder Missbrauch, chronische
Konflikte, ungünstige intrapsychische Faktoren) können als Stressfaktoren zu einem Wiederauftreten dissoziativer Phänomene beitragen.
Operante Konditionierungsprozesse tragen zur Aufrechterhaltung der Dissoziation bei: Das subjektive Erleben, dass mit der Dissoziation ein extrem
schmerzhafter oder emotional unerträglicher Zustand gelindert oder beendet werden kann, wirkt als negativer Verstärker und macht damit das Wiederauftreten
der Dissoziation wahrscheinlicher (➤ ). Dadurch entsteht die Tendenz, im Sinne einer Reizgeneralisierung auf eine zunehmende Anzahl von Belastungen und
durch immer leichtere Stimuli erneut zu dissoziieren. Zudem tragen auch andere Konsequenzen der dissoziativen Störung zur Aufrechterhaltung der
Symptomatik bei, z. B. die vermehrte Fürsorge des Partners in einer konflikthaften Ehesituation oder die Entlastung von alltäglichen Verpflichtungen. Darüber
hinaus konnte nachgewiesen werden, dass dissoziative Zustände während ihres Auftretens zu einer Blockade von Lernvorgängen führen und dadurch eine
alternative Beurteilung und Bewältigung der Situation verhindern. Letzteres ist auch für die psychotherapeutische Behandlung von besonderer Bedeutung.

Soziokulturelle Faktoren
Für die Genese und Aufrechterhaltung der dissoziativen Störungen spielen Umgebungsbedingungen wie z. B. der Bekanntheitsgrad bestimmter körperlicher
Erkrankungen, die Bewertung von körperlichen (vs. psychischen) Erkrankungen und der Umgang mit ihnen im medizinischen Versorgungssystem eine nicht
unerhebliche Rolle. Die Tatsache, dass dissoziative Störungen mit körperlicher Symptomatik oft über lange Zeit nicht erkannt und wiederholt organisch
abgeklärt werden, trägt häufig zu einer Chronifizierung der Beschwerden bei. Es ist außerdem davon auszugehen, dass selbst im psychiatrisch-
psychotherapeutischen Umfeld dissoziative Phänomen noch zu selten erkannt und behandelt werden. Welche Bedeutung sozioökonomische Faktoren und
Bildungsstand für die Entstehung dissoziativer Störungen haben, ist bislang nicht ausreichend geklärt.

10.4. Diagnostik und Differenzialdiagnostik


Die Diagnose einer dissoziativen Störung sollte nur dann in Erwägung gezogen werden, wenn neben der für die jeweilige Erkrankung typischen
Symptomkonstellation

• körperliche Erkrankungen, welche die klinische Symptomatik verursachen könnten, ausgeschlossen wurden und
• ein überzeugender zeitlicher Zusammenhang zwischen dem Auftreten der dissoziativen Symptome und belastenden Ereignissen, Problemen oder
Bedürfnissen besteht.
Die Diagnosestellung gestaltet sich oftmals schwierig. Dafür kann es mehrere Gründe geben:

• Die Symptomatik wirkt auf den Untersucher oftmals „unscharf“ und schwer zu erfassen. Daher müssen die Beschwerden des Patienten sehr genau
exploriert werden, d. h. auf ihre Qualität, Häufigkeit, Dauer, Intensität, ggf. Lokalisation und auf Bedingungen, unter denen sich die Symptome
bessern oder verschlechtern.
• Überdies sind dissoziative Syndrome nicht nur isoliert, sondern auch oft im Rahmen einer anderen psychischen Erkrankung zu beobachten, die
bei der Diagnosestellung berücksichtigt werden muss (z. B. PTBS, Borderline-Persönlichkeitsstörung).
• Belastende Ereignisse, die mit dem Beginn der Störung in Zusammenhang stehen, werden vom Patienten oft nicht erinnert oder nicht als
auslösende Faktoren wahrgenommen.
• Nicht selten leiden Patienten mit einer dissoziativen Störung auf körperlicher Ebene gleichzeitig an einer somatischen Erkrankung, die aber nicht
das Ausmaß der vom Patienten beklagten Beschwerden erklärt.
• Häufig treten interaktionelle Probleme hinzu: Der Patient, der u. U. schon seit Jahren an seinen Beschwerden leidet und zahlreiche diagnostische
und therapeutische Maßnahmen unter dem Verdacht einer körperlichen Erkrankung über sich hat ergehen lassen, spürt sehr deutlich, ob der
Untersucher seine Störung ernst nimmt oder nicht. Entwickelt der Patient den Eindruck, der Untersucher betrachte ihn (wie vielleicht einige Ärzte
vor ihm) aufgrund der fehlenden organischen Ursache als „nicht wirklich krank“, kann dies zum raschen Abbruch der therapeutischen Beziehung
führen.

Bei der Anamneseerhebung kommt der Fremdanamnese eine wichtige Rolle zu, da häufig nur die Kontaktpersonen, nicht aber der Patient selbst über einen
Zusammenhang der Erkrankung mit äußeren Ereignissen oder Konfliktsituationen Auskunft geben können.
Neben Anamnese, psychiatrischer und körperlicher Befunderhebung und der Routine-Zusatzdiagnostik sollte genau abgeklärt werden, welche organischen
Erkrankungen noch ausgeschlossen werden müssen. Befunde bereits durchgeführter Untersuchungen sollten unbedingt beschafft werden, um schon erfolgte
diagnostische Maßnahmen nicht nochmals einzuleiten und somit der iatrogenen Fixierung des Patienten auf eine organische Genese entgegenzuwirken.
Sehr hilfreich ist bei der Diagnostik der dissoziativen Störungen die zusätzliche Anwendung standardisierter Verfahren, z. B. eines strukturierten Interviews
(nach den Kriterien der ICD-10 oder des DSM) oder eines Fragebogens zur Selbstbeurteilung (z.  B. Fragebogen zu dissoziativen Symptomen [FDS],
Dissoziations-Spannungs-Skala [DSS]).
Entsprechend der oft wechselnden Symptomatik und dem heterogenen Bild der dissoziativen Störungen gibt es zahlreiche Erkrankungen, die
differenzialdiagnostisch abgegrenzt werden sollten.

• Organische Erkrankungen, die für die dissoziative Symptomatik verantwortlich sein könnten, müssen durch Zusatzuntersuchungen in den
entsprechenden medizinischen Fachgebieten ausgeschlossen werden (z. B. neurologische Diagnostik bei V. a. Encephalomyelitis disseminata).
• Auch zahlreiche psychische Erkrankungen können zu dissoziativen Symptomen führen. Insbesondere sollte an Suchterkrankungen und
Drogenmissbrauch, Schizophrenien, affektive Störungen (v. a. depressive Episoden), Angststörungen, PTBS, die Borderline-
Persönlichkeitsstörung und die akute Belastungsreaktion gedacht werden. Stehen multiple, wiederkehrende und wechselnde körperliche
Beschwerden im Vordergrund der Symptomatik, sollte auch eine Somatisierungsstörung erwogen werden.

➤ gibt einen Überblick über die wichtigsten Differenzialdiagnosen der einzelnen dissoziativen Störungen. Richtungweisend sind die detailliert explorierte
Symptomatik (z.  B. lückenhafte, im Ausmaß wechselnde psychogene Amnesie im Gegensatz zu einer klar umschriebenen retrograden und anterograden
Amnesie), anamnestische Angaben, psychischer und körperlicher Befund und die Ergebnisse von Zusatzuntersuchungen (z. B. Anfallsäquivalente im EEG und
postiktale Prolaktinerhöhung im Serum bei Epilepsie).

Merke
Außer bei den oben beschriebenen dissoziativen Störungen können dissoziative Symptome bei einer Vielzahl anderer
psychischer Erkrankungen auftreten!
Tab. 10.2 Differenzialdiagnose der dissoziativen Störungen (Auswahl)
Diagnose Differenzialdiagnose
Dissoziative Amnesie • Dissoziative Symptome bei PTBS oder akuter
Belastungsreaktion
• Amnesie nach Schädel-Hirn-Trauma
• Postiktale Amnesie bei Epilepsie
• Drogen- / Medikamenten- oder sonstige Intoxikation
• Zerebrovaskuläre Erkrankungen (z. B. TIA)
• Transiente globale Amnesie
• Simulation

Dissoziative Fugue Allgemein: Fuguezustände, z. B. bei


• Epilepsie
• Alkohol- / Drogenintoxikation
• Schizophrenie
• Demenz
• bipolarer affektiver Störung

Dissoziativer Stupor • Katatone Schizophrenie


• Borderline-Persönlichkeitsstörung
• PTBS
• Akute Belastungsreaktion
• Affektive Störungen (schwere Depression oder Manie)
• Drogen- / Medikamentenintoxikation
• Epilepsie

Trance- und Besessenheitszustände • Intoxikation


• Delirantes Syndrom jeglicher Ursache

Dissoziative Persönlichkeitsstörung • Borderline-Persönlichkeitsstörung


• Schizophrenie

Dissoziative Störungen der Bewegung oder der Sinnesempfindung (= • Somatoforme Störung


Konversionsstörungen) • Epilepsien
• Zerebrovaskuläre Erkrankungen
• Encephalomyelitis disseminata
• Multisystematrophien
• Vorgetäuschte Störung / Simulation

Depersonalisations - / Derealisationssyndrom • Starke Ermüdung


• Drogen- / Medikamentenintoxikation
• Schizophrenie
• Affektive Störung
• Angststörungen
• Persönlichkeitsstörungen
Transiente globale Amnesie (TGA): seltene, klar umschriebene, anterograde Amnesie bei Menschen zwischen 50–70 Jahren ohne andere psychische Symptome,
gelegentlich Übelkeit, Schwindel oder Kopfschmerz, Dauer meist 6–8 h; Assoziation mit Migräne und Valsalva-ähnlichen Manövern im Vorfeld, multifunktionelle Ätiologie,
Minderperfusion der Hippocampi im SPECT, gelegentlich temporale Dysrhythmie im EEG.

10.5. Therapie und Prognose


Therapie
Mangels kontrollierter Studien sind evidenzbasierte Aussagen zur Behandlung der dissoziativen Störungen nicht möglich. Eine Psychotherapie gilt als
Methode der Wahl. Bei den dissoziativen Störungen mit körperlichen Symptomen kann zumindest initial die begleitende somatische Behandlung z. B. in Form
einer Physio- oder Ergotherapie hilfreich sein.

Psychotherapie
Die Schwierigkeiten, die sich in der Kontaktaufnahme, Diagnosestellung und im Beziehungsaufbau mit Patienten ergeben können, die an einer dissoziativen
Störung leiden, wurden bereits im Abschnitt „Differenzialdiagnose“ (➤ ) erläutert.
Die Vorstellung des Patienten an einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Einrichtung oder im Rahmen des psychiatrisch-psychosomatischen
Konsiliardienstes erfolgt insbesondere bei den dissoziativen Störungen auf Körperebene häufig erst dann, wenn die Symptomatik über mehrere Jahre hinweg
besteht und eine umfangreiche Organdiagnostik sowie therapeutische Maßnahmen ohne Erfolg durchgeführt wurden.

Praxistipp
Im klinischen Alltag gebräuchliche Bezeichnungen wie „psychisch überlagert“, „psychogen“, „funktionell“, „neurotisch“, „Aggravation“ oder
„Simulation“ enthalten Wertungen, auf die der Patient verständlicherweise mit großem Misstrauen, Enttäuschung, Ärger, Rückzug und Beziehungsabbruch
reagieren kann.

Der initialen Kontaktaufnahme und dem Beziehungsaufbau zwischen Patienten und dem (oft im Konsiliardienst konsultierten) Therapeuten kommt daher
große Bedeutung zu. Eine wertschätzende und empathische Grundhaltung ist unabdingbar. Das Leiden des Betreffenden und die Konsequenzen der
Erkrankung für sein Leben sollten validiert werden. Ziel ist letztlich die Vermittlung eines multifaktoriellen psychosomatischen Störungsmodells. Keinesfalls
sollte der Therapeut den Patienten mit der Annahme eines rein psychogenen Krankheitskonzepts konfrontieren. Es kann notwendig sein, den Patienten
zunächst über längere Zeit im Rahmen eines Konsiliardienstes psychotherapeutisch zu betreuen (z.  B. während eines stationären Aufenthalts in einer
neurologischen Rehabilitationsklinik), bis der Betreffende bereit ist, zur Linderung seiner Beschwerden auch mittelfristig ein Psychotherapieangebot
anzunehmen (Motivationsaufbau).
Wenn möglich, sollte die Behandlung im ambulanten Setting stattfinden. Der Schweregrad einer dissoziativen Störung (z. B. dissoziative Lähmung mit
Paraparese), Komplikationen (Suizidalität) oder komorbide Störungen (Persönlichkeitsstörungen, Angsterkrankungen) können eine stationäre Therapie
erforderlich machen.

Merke
Eine hohe Bedeutung kommt der Unterbrechung bzw. Beendigung dissoziativer Zustände, insbesondere während oder
nach den Therapiesitzungen zu, um neue Lernerfahrungen zu ermöglichen.

Es wird ein therapeutisches Vorgehen in zwei bzw. drei Phasen empfohlen:

1. Diagnostik und Beziehungsaufbau:


– Genaues Erfassen der Symptomatik und Analyse prädisponierender, auslösender und aufrechterhaltender Faktoren
– Exploration des Krankheitskonzepts (subjektive Krankheitstheorie) des Patienten und Abklären der Introspektionsfähigkeit und der
Behandlungsmotivation, Motivationsaufbau
– Psychoedukation mit Benennung der Symptome, Validieren, Entkatastrophisieren
– Beratung von Familienmitgliedern und anderen Bezugspersonen zur Unterbrechung ungewollter Verstärkung der Symptome
2. Symptomorientierte Behandlung und Stabilisierung:
– Symptomorientierte Behandlungsstrategien (z. B. Physiotherapie, Ergotherapie, kognitives Training)
– Reduktion emotionaler Verwundbarkeit durch verbesserte Selbstfürsorge (z. B. Schlafhygiene, ausreichende Trinkmenge, Bewegung,
Ernährung)
– Erarbeitung von Frühwarnzeichen für dissoziative Zustände und von Strategien zur Beendigung und Bewältigung der dissoziativen
Zustände (in Anlehnung an Skills aus der DBT nach Linehan, ➤ )
– Interventionen zur Verbesserung der Emotionswahrnehmung, -bewältigung und Spannungsregulation, Diskriminationslernen,
Bearbeitung dysfunktionaler Kognitionen und Schemata, Erwerb von Problemlösefertigkeiten; Identifikation überdauernder
Konfliktpathologie in interpersonellen Beziehungen, auch in Form von Übertragungsprozessen in der therapeutischen Beziehung
3. Ggf. traumafokussierendes Behandlungsprogramm: störungsorientierte KVT wie für die PTBS beschrieben oder psychodynamisch orientierte
Traumabehandlung mit dem Ziel der Reintegration abgespaltener Bewusstseinsinhalte

Pharmakotherapie
Für die medikamentöse Therapie existieren bislang keine validierten Behandlungsempfehlungen. In Einzelfällen kann eine medikamentöse Behandlung
punktuell und symptomorientiert eingesetzt werden, z.  B. sedierende Antidepressiva zur Behandlung von Schlafstörungen und Ängstlichkeit oder Opioid-
Antagonisten (z. B. Naltrexon) zur Beendigung schwerer dissoziativer Zustände bei Borderline-Persönlichkeitsstörung. Auch die Behandlung mit einem SSRI
kann erwogen werden (positive Effekte in einigen offenen und kontrollierten Studien). Benzodiazepin-Präparate können dissoziative Phänomene verstärken
und sollten daher nicht angewandt werden.

Verlauf und Prognose


Die Symptomatik kann akut oder schleichend beginnen und einen stark fluktuierenden Verlauf nehmen. Eine ohne Begleiterkrankungen aufgetretene
dissoziative Amnesie und die Depersonalisationsstörung sollen häufiger in Episoden verlaufen. Im Gegensatz dazu ist bei der dissoziativen Fugue, den
dissoziativen Störungen auf körperlicher Ebene und der dissoziativen Identitätsstörung eher mit einem chronischen Verlauf zu rechnen. Es ist davon
auszugehen, dass ein hohes Maß an Desintegration mit einem chronischen Verlauf einhergeht. Als prognostisch ungünstige Faktoren gelten die späte
Diagnosestellung bzw. lange Erkrankungsdauer und eine hohe Komorbidität.

Literatur
Fiedler P (2013). Dissoziative Störungen. 2. überarb. A. Göttingen: Hogrefe.
Gast U, Wabnitz P (2017). Dissoziative Störungen erkennen und behandeln. 2. aktual. A. Stuttgart: Kohlhammer.
Priebe K, Stiglmayr C, Schmahl C (2019). Dissoziative Störungen (ICD-10 F44). In: Voderholzer U, Hohagen F (Hrsg.). Therapie psychischer Erkrankungen. State of the
Art. 14. A. München: Elsevier Urban & Fischer, S. 325–338.
168,153,254,94,0,137,225,134,45,53,99,214:1sSA74HoQqjtaZqk5iN07shYvNtycwidMKBumQK1Bv51jThNVuJPwUWL3IaKMg3PcJSU/GIj2uPC802spP/adlZhbr7NHwuVuda2QDJYrD4OSIJ+yAnpiylUfjecXRtwtiZAm9SZCMv
KAPITEL 12

Somatoforme Störungen/somatische
Belastungsstörungen und artifizielle Störungen
Ulrich Förstner

Sabine Frauenknecht

12.1. Einführung
12.1.1. Symptomatik und Klassifikation
Körperliche Symptome wie z. B. Schmerzen unterschiedlicher Lokalisation, Schwindel, Verdauungsbeschwerden oder auch diffuse Symptome wie Müdigkeit
oder reduzierte Leistungsfähigkeit sind die häufigsten Gründe, warum Patienten einen Arzt aufsuchen. Trotz einer z. T. intensiven Abklärung wird häufig keine
organische Ursache für die Symptomatik gefunden. Das Ausmaß der Symptomatik ist unterschiedlich. Die Beschwerden können passager oder in milder Form
auftreten, sich aber auch als schwere und chronifizierte Verlaufsform mit stark verminderter Lebensqualität und massiven Einschränkungen im Alltag, im
Beruf, in der Freizeitgestaltung und in zwischenmenschlichen Beziehungen darstellen. Als gemeinsames Merkmal einer Gruppe von Störungsbildern, die in der
ICD-10 als somatoforme Störungen bezeichnet werden, werden anhaltende Körperbeschwerden beschrieben, die subjektiv als beeinträchtigend und
belastend erlebt werden und für die in der somatischen Abklärung keine ausreichende organische Erklärung gefunden wurde. Die Patienten selbst gehen
häufig primär von einer organischen Ursache für die Beschwerden aus und befinden sich zumindest im Anfangsstadium meist in der somatomedizinischen
Versorgung, viel seltener in psychiatrisch-psychotherapeutischer Behandlung. Ängste und Sorgen über die Ernsthaftigkeit der Beschwerden, trotz der ärztlichen
Versicherung, dass die Untersuchungen keinen Hinweis für eine ernsthafte Erkrankung erbracht haben, und eine vermehrte Inanspruchnahme des
Gesundheitssystems sind typisch für die Störung.

Hintergrundwissen
Neben der Einteilung der somatoformen Störungen unter dem veralteten Begriff der „neurotischen Störungen“ in der ICD-10 werden die aufgeführten
Unterformen und ihre Beschreibung kritisiert: Die Vorstellung, dass anhaltende Symptome, die durch keine diagnostizierbare Erkrankung erklärbar sind,
das Kernkriterium somatoformer Störungen ist, führe, so die Kritik, zu einer Aufrechterhaltung eines Leib-Seele-Dualismus in entweder rein organisch
erklärbare oder ausschließlich psychogene Körperbeschwerden. Dies erschwere die Akzeptanz der Diagnose. Patienten mit organisch nicht hinreichend
erklärbaren Körperbeschwerden fühlten sich häufig nicht ernstgenommen, nicht richtig diagnostiziert oder als psychisch krank stigmatisiert, was erst recht
das Bemühen, als „wirklich krank“ angesehen zu werden, begründe. Zudem erscheint die Entscheidung, ob somatische Symptome organisch erklärbar sind,
sehr subjektiv und wenig reliabel. Darüber hinaus wird in der ICD-10 zusätzlich eine Vielzahl organisch nicht ausreichend erklärbarer Körperbeschwerden
als „funktionelle Störungen“ verschlüsselt, wie z. B. das Reizdarmsyndrom unter den gastroenterologischen Erkrankungen oder die Fibromyalgie unter den
rheumatischen Erkrankungen. Dies ist für Forschung und Klink problematisch und unübersichtlich. Hinzu kommt, dass auch Entstehung und Verlauf „rein
somatischer“ Erkrankungen von psychologischen Prozessen erheblich beeinflusst werden können. Unter Umständen fühlen sich Patienten durch Letzteres
sogar noch mehr belastet und beeinträchtigt als durch die eigentlichen körperlichen Symptome.
Die somatoformen Störungen wurden daher für die ICD-11 und im DSM-5® vollständig neu konzipiert: Die Erkrankungen werden nicht mehr als
somatoforme Störungen, sondern entweder als Bodily Distress Disorder (ICD-11) bzw. als somatische Belastungsstörungen (DSM-5®) bezeichnet. Sie
verzichten damit auf eine Unterscheidung in entweder organisch begründbare oder „psychogene“ somatoforme Störungen bzw. „funktionelle“
Störungen.

Trotz der Neukonzeption der somatoformen Störungen in der ICD-11 und im DSM-5® bleiben anhaltende körperliche Symptome, die als belastend oder
beunruhigend erlebt werden, als gemeinsames Kriterium erhalten. Im Gegensatz zur ICD-10 werden die Bodily Distress Disorder (BDD) bzw. die somatische
Belastungsstörung nicht aufgrund der Abwesenheit eines Merkmals (einer physischen oder medizinischen Ursache) diagnostiziert, sondern aufgrund der
Belastung und Beeinträchtigung durch eine körperliche Symptomatik und das Vorhandensein affektiver, kognitiver oder behavioraler psychologischer
Kriterien. Beispiele dafür sind eine vermehrte Aufmerksamkeit auf körperliche Symptome, ausgeprägte Sorgen und Ängste, dass die Symptome auf eine noch
nicht erkannte ernste körperliche Erkrankung hindeuten könnten, das ständige Überprüfen des Körpers auf mögliche Krankheitszeichen, die Einengung der
Interessen auf eine Auseinandersetzung mit den Beschwerden und ein hoher zeitlicher Aufwand, z. B. durch häufige ärztliche Konsultationen.
Als zentraler Unterschied zu den somatoformen Störungen kann eine somatische Belastungsstörung (DSM-5®) bzw. eine BDD (ICD-11) auch bei
organisch erklärbaren Beschwerden diagnostiziert werden, wenn die Symptomatik von den psychologischen Merkmalen dominiert wird. Ein Beispiel hierfür
wäre ein Patient, der durch einen chronischen Tinnitus massiv belastet ist, sich sozial zurückgezogen hat, katastrophale Befürchtungen bzgl. der Zukunft
entwickelt hat und jede kleinste Änderung des Ohrgeräuschs besorgt registriert.

Kasuistik
Eine Grundschullehrerin (35) wird von ihrem Hausarzt erstmalig in eine Ambulanz für Essstörungen überwiesen. Sie leide seit der Geburt ihres jetzt 4-
jährigen Sohnes unter verschiedenen Nahrungsmittelunverträglichkeiten, Blähungen, Bauchschmerzen und ständigen Durchfällen. In den letzten 2 Jahren
habe sie bei einer Körpergröße von 170 cm über 12 kg bis auf 49 kg (BMI 17) abgenommen. Sie fühle sich selbst viel zu dünn, körperlich geschwächt,
habe im letzten Jahr verzweifelt versucht zuzunehmen, habe aber aufgrund der gastroenterologischen Symptomatik und der Ängste vor Unverträglichkeiten
selten ausreichend essen können. Sie habe viele Ärzte, teilweise auch Heilpraktiker konsultiert, diese häufig auch selbst bezahlt. Es seien verschiedenste
Diagnosen (Glutenintoleranz, Laktoseintoleranz, Pilzbefall des Darms, Reizdarmsyndrom, Anorexia nervosa, Depression u. a.) gestellt worden. Wiederholt
seien Diäten verordnet worden, ohne dass eine Besserung eingetreten sei. Eine Kontrolluntersuchung an einer internistischen Klinik habe nun sämtliche
Vordiagnosen infrage gestellt. Für die Gewichtsabnahme und die gastroenterologischen Beschwerden gäbe es keine organische Erklärung. Außer einer
laktosearmen Kost bei subjektiver Laktoseunverträglichkeit sei ihr von weiteren Diäten abgeraten worden. Die Störung habe bereits ihr gesamtes Leben
verändert. Außer der starken zeitlichen Beanspruchung durch ärztliche Untersuchungen sei sie ständig damit beschäftigt, sich nach dem Essen auf Zeichen
einer Unverträglichkeit („checking behavior“) zu überprüfen. Teilweise recherchiere sie bis spät in die Nacht im Internet, um sich über Symptome und
Krankheiten zu informieren. Meist sei sie dann derart beunruhigt, dass sie kaum schlafen könne. Eine Rückkehr in den Beruf sei unmöglich gewesen, da
sie aufgrund der Ängste vor plötzlich auftretenden Durchfällen, Koliken oder Blähungen kaum mehr das Haus verlasse. Obwohl die gastroenterologischen
Beschwerden im Vordergrund stehen, können auch andere Symptome (ausgeprägtes Erschöpfungsgefühl, unerklärliche Muskelschmerzen, urogenitale
Symptome) erhoben werden. Ohne ihre Mutter wäre es ihr derzeit nicht möglich, ihren Sohn zu versorgen. Nachdem sie über mehrere Jahre ausschließlich
von einer körperlichen Erkrankung ausgegangen sei, habe sie in den letzten Monaten vermehrt über psychische Belastungen nachgedacht. Die Beziehung
zum Partner sei schon vor der Schwangerschaft problematisch gewesen. Bereits während der Schwangerschaft habe er sie erstmals betrogen. Die
außereheliche Beziehung sei über 1 Jahr gegangen; trotzdem habe sie die Beziehung „ihrem Sohn zuliebe“ bis vor 1 Jahr aufrechterhalten, ihren Frust
heruntergeschluckt. Zudem sei ihr Vater vor 2½ Jahren plötzlich verstorben. Aufgrund des ständigen Kreisens um die eigene Erkrankung habe sie sich mit
dem Verlust kaum beschäftigt und aufgrund von Durchfällen auch nicht zur Beerdigung gehen können.
Eine Essstörung im Sinne einer Anorexia nervosa oder Bulimie kann ausgeschlossen werden. Nach ICD-10 lassen sich eine Somatisierungsstörung oder
somatoforme autonome Funktionsstörung (F45.0 oder F45.32), aber auch ein Reizdarmsyndrom (K58.0) und eine fragliche Laktoseintoleranz (E73.9) sowie
komorbid eine leichte depressive Episode diagnostizieren. Aufgrund der starken Belastung durch psychologische Faktoren würde nach ICD-11 eine Bodily
Distress Disorder, nach DSM-5® eine somatische Belastungsstörung diagnostiziert werden, unabhängig davon, ob ein organischer Befund oder eine
Laktoseintoleranz ursächlich für die Beschwerden ist.

Begriff und historische Konzeption der somatoformen Störungen


Das Konzept der somatoformen Störungen leitet sich von dem im Kapitel über dissoziative Störungen (➤ ) erläuterten Begriff der Hysterie ab. Als Begründer
der systematischen Erfassung und Abgrenzung der Somatisierung wird Paul Briquet betrachtet, der Mitte des 19. Jahrhunderts bei seinen Studien zur Hysterie
diese polysymptomatische Unterform abgrenzte.
In der Weiterentwicklung durch Freud und in der psychosomatischen und psychiatrischen Tradition mit Wurzeln in der Psychoanalyse wurden die
somatoformen Störungen gemeinsam mit den Angststörungen, den Zwangsstörungen und den dissoziativen Störungen zu den neurotischen Störungen (Kap.
F4 in der ICD-10) gerechnet. Kurz zusammengefasst wurde als Gemeinsamkeit dieser Störungen angesehen, dass eine psychische oder körperliche
Symptomatik besteht, ohne dass primär eine organische Ursache oder eine „endogene“ psychische Störung (z.  B. Schizophrenie oder schwere Depression)
vorliegt. Die Behandlung dieser somit „rein psychogenen Störungen“ wurde ausschließlich als eine Domäne der Psychotherapie gesehen. Diese
Unterscheidung ging auch in die triadische Systematik der Psychiatrie ein und begründete die Zuordnung der somatoformen Störungen zu den sog.
neurotischen Störungen. Als Ursache dieser Störungen wurden ungelöste Konflikte in den jeweiligen Entwicklungsphasen, nach psychoanalytischer Tradition
in der oralen, analen oder ödipalen Phase, gesehen. Somit wurde auch angenommen, dass eine Vielzahl somatischer Erkrankungen oder Symptome durch
Klärung, Durcharbeiten und Lösung der meist unbewussten intrapsychischen Konflikte behandelt werden könnte.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts konnte das Wissen über die sog. neurotischen Störungen, über die komplexen Zusammenhänge beim chronischen
Schmerz und über die Entstehung und Aufrechterhaltung stressassoziierter körperlicher Symptome erheblich erweitert werden. Für einige „neurotische
Störungen“ wurde eine Beteiligung genetischer Faktoren nachgewiesen (z.  B. Zwangsstörungen). Die Bedeutung der individuellen Lerngeschichte oder die
klassische und operante Konditionierung spezifischer Reaktionen (z. B. bei Agoraphobie oder Zwangsstörungen) konnte durch die biologisch-psychiatrische
Forschung oder empirische Untersuchungen der Verhaltenstherapie nachgewiesen werden. Die Forschungen zur Chronifizierung von Schmerzen zeigten, dass
die Annahmen der klassischen psychosomatischen oder somatomechanischen Medizin der Komplexität der Entstehung und Aufrechterhaltung von Schmerzen
nicht gerecht werden.

Praxistipp
Unklare oder medizinisch nicht ausreichend erklärbare Körperbeschwerden werden immer noch mit Begriffen wie „psychovegetatives Syndrom“ oder gar
„psychische Überlagerung“ belegt. Da diese Bezeichnungen uneindeutig sind, teilweise auch eine stark wertende Komponente enthalten und die
betreffenden Patienten zu Unrecht immer wieder als „Simulanten“ angesehen werden, sollten sie nicht mehr verwendet werden.

Psychiatrische Klassifikation
Im psychiatrischen Teil der ICD-10 werden somatoforme Störungen zusammen mit den Angst-, Zwangs- und dissoziativen Störungen im Kapitel F4 (sog.
neurotische Störungen) zusammengefasst. Darüber hinaus werden sie in Abhängigkeit von der vorherrschenden Symptomatik in mehrere Unterformen
eingeteilt (➤ und ➤ ). In der ICD-11 und im DSM-5® werden die entsprechenden Störungen als Bodily Distress Disorder (ICD-11) bzw. somatische
Belastungsstörung (DSM-5) bezeichnet. Sie werden nicht mehr unter den sog. neurotischen Störungen geführt, und die Unterformen entfallen. Stattdessen
erfolgt eine Beschreibung des Schweregrades bzw. der Chronizität (➤ ). Die hypochondrische Störung und die körperdysmorphe Störung, die in der ICD-
10 noch unter die somatoformen Störungen fallen, werden in diesem Buch entsprechend der Klassifizierung in der ICD-11 bei den Zwangsstörungen
beschrieben (➤ bzw. ➤ ).

Tab. 12.1 Somatoforme Störungen, Bodily Distress Disorder bzw. somatische Belastungsstörungen in ICD-10, ICD-11 und
DSM-5®
ICD-10 ICD-11 DSM-5®
Sog. neurotische (Angst-, Zwangs-, Disorders of bodily distress or Somatische Belastungsstörung und verwandte Störungen
dissoziative und somatoforme) Störungen: bodily experience
F45 Somatoforme Störungen mit den Bodily Distress Disorder Somatische Belastungsstörung oder somatische Belastungsstörung
Unterformen: (Differenzierung aufgrund der mit überwiegendem Schmerz (Differenzierung in weitere
• F45.0 Somatisierungsstörung (➤ ) Symptomatik entfällt) Unterformen entfällt)
• F45.1 Undifferenzierte somatoforme Zusätzliche Kennzeichnung nach Kennzeichnung von Schweregrad und Chronizität
Störung (➤ ) Schweregrad:
• F45.3 Somatoforme autonome • Mild Bodily Distress Disorder
Funktionsstörung (➤ ) • Moderate Bodily Distress Disorder
• F45.4 Anhaltende somatoforme • Severe Bodily Distress Disorder
Schmerzstörung (➤ ) Body Integrity Dysphoria (➤ )
• F45.41 Chronische Schmerzstörung mit
somatischen und psychischen Faktoren
(neu: seit 2009)

(F45.2 [Hypochondrische Störung], ➤ ) Hypochondrie (Einteilung unter Krankheitsangststörung (Einteilung unter den somatischen
Zwangsspektrumsstörungen, ➤ ) Belastungsstörungen)

(F45.5 [Körperdysmorphe Störung], ➤ ) Körperdysmorphe Störung Körperdysmorphe Störung (Einteilung unter den Zwangsstörungen)
(Einteilung unter den
Zwangsspektrumsstörungen, ➤ )

Im Folgenden werden allgemeine Aspekte der somatoformen Störungen besprochen, deren Unterformen große Überlappungen aufweisen. Die Beschreibung
der Unterformen der somatoformen Störungen in ➤ richtet sich nach der ICD-10. Vereinfachend wurde aus klinischer Perspektive vorgeschlagen, die
somatoformen Störungen abhängig von der Symptomatik in drei Hauptgruppen einzuteilen (➤ ).

Abb. 12.1 Diagnostischer Entscheidungsbaum bei somatoformen Störungen nach der ICD-10 (Rief und Hiller 1999) [R326 / L141]

12.1.2. Epidemiologie und Verlauf


Angaben zur Häufigkeit sind aufgrund der bisherigen Klassifikation in somatoforme und verschiedenste funktionelle Störungen nur schwer zu treffen. Mit
einer Punktprävalenz, die mit 6–11 % angegeben wird, und einer Lebenszeitprävalenz von in einigen Studien deutlich über 12 % (bis 22 %), gehören die
somatoformen Störungen neben den Suchterkrankungen und Angststörungen zu den drei häufigsten psychischen Störungen. Einzelne körperliche Symptome,
wie gastrointestinale, kardiovaskuläre Symptome oder körperlich nicht vollständig erklärbare Schmerzsymptome, treten noch häufiger auf und können
ebenfalls lang anhaltend sein bzw. erhebliche Beeinträchtigungen und Leidensdruck verursachen. Noch wesentlich häufiger kommen somatoforme Störungen
in der medizinischen Versorgung vor. Es wird davon ausgegangen, dass etwa 20 % der Arztbesuche darauf zurückzuführen sind. In Allgemeinkrankenhäusern
leiden danach etwa 17–30 %, in neurologischen Abteilungen etwa ein Drittel der Patienten an einer somatoformen Störung. Die Erkrankung beginnt oft schon
in der Adoleszenz oder im frühen Erwachsenenalter. Am häufigsten ist eine anhaltende Schmerzsymptomatik (insb. Rücken- oder Kopfschmerzen), multiple
körperliche Beschwerden (v. a. gastrointestinale oder kardiovaskuläre Symptome) sowie diffuse Symptome (Erschöpfung, Müdigkeit, geringe Belastbarkeit).
Das Vollbild einer Somatisierungsstörung kann viel seltener diagnostiziert werden.
Die Komorbidität mit anderen psychischen Erkrankungen, v. a. Depressionen und Angststörungen ist hoch. Sie liegt bei der Somatisierungsstörung, je
nach Studie, für Depressionen bei bis zu 70 %, für Angststörungen etwas niedriger. Auch komorbide Persönlichkeitsstörungen werden häufig diagnostiziert.
Der Verlauf ist i.  d.  R. chronisch mit fluktuierender Symptomatik. Spontanremissionen sind selten. Als prognostisch ungünstig werden angesehen:
schwerer Verlauf, sekundärer Krankheitsgewinn, Unabhängigkeit der Symptomatik von belastenden Lebensereignissen oder emotionalen Belastungen,
anhaltende Überzeugung einer ausschließlich organischen Genese, komorbide psychische Störungen und eine lange Vorgeschichte invasiver Diagnostik und
Therapien.

Ätiologie
Die Entstehung und Aufrechterhaltung somatoformer Störungen ist wie bei den meisten psychischen Störungen multifaktoriell zu verstehen. Angenommen
werden komplexe Wechselwirkungen psychosozialer, kultureller, biologischer, sozialpolitischer und iatrogener Einflussfaktoren. Immigration, geringe
Bildung, sozioökonomische Benachteiligung, geringe Arbeitszufriedenheit, höheres Alter oder weibliches Geschlecht gelten wie für viele andere psychische
Störungen als Risikofaktor. Noch häufiger als bei vielen anderen psychischen Störungen besteht eine Vorgeschichte von körperlicher Misshandlung, sexuellem
Missbrauch und Bindungstraumata. Biologische Einflussfaktoren könnten körperliche Vorerkrankungen, z. B. Viruserkrankungen, oder Unfälle sein, die einen
Einfluss auf die Schmerzwahrnehmung haben. Unterschiedliche kulturelle Gegebenheiten oder die gesellschaftliche Stigmatisierung psychischer Störungen
können die Wahrnehmung und Äußerung von Emotionen, Stress oder Missempfindungen beeinflussen. Auch iatrogene Faktoren, wie z. B. ein einseitiges
somatomedizinisches Vorgehen mit invasiver Mehrfachdiagnostik, eine ängstigende Befundmitteilung ohne Aufklärung über biopsychosoziale
Einflussfaktoren, die Verordnung suchtfördernder Medikamente und eine beschwerdegesteuerte Terminplanung können Entstehung und Verlauf der Störung
entscheidend prägen.
Individuelle Störungsmodelle sollten wissenschaftliche Erkenntnisse über Vulnerabilität, Entstehung und Aufrechterhaltung der somatoformen
Störungen integrieren, können jedoch häufig nur einen Teil der bekannten oder vermuteten ätiologischen Faktoren abbilden.

Vulnerabilität
Genetische Faktoren werden trotz einer gewissen familiären Häufung und Konkordanz in Zwillingsstudien als eher untergeordnet angesehen . Interpersonell-
psychodynamische Erklärungsmodelle betonen die Auswirkungen von ungünstigen Kindheitserlebnissen und Traumatisierung in Kindheit und Jugend
und beziehen sich auf erhöhte Raten eines unsicheren und vermeidenden Bindungsstils sowie auf Misshandlung, Missbrauch und Vernachlässigung bei
Patienten mit somatoformen Störungen. Beobachtungen, dass viele dieser Patienten körperliche Auswirkungen emotionaler Spannungszustände nicht von
primär körperlichen Empfindungen unterscheiden können und zudem über weniger Fähigkeiten verfügen, sich selbst oder mit Unterstützung anderer zu
beruhigen, werden als Folge der ungünstigen Kindheitserlebnisse, aber auch als Folge von Erfahrungen von Krankheit, Schmerz oder Unfällen betrachtet.
Neurobiologische und psychophysiologische Modelle betonen, dass psychologische Prozesse auch mit neurobiologisch und physiologisch nachweisbaren
Veränderungen einhergehen können. Danach können verschiedene Faktoren zu einer Verstärkung von Körpersignalen, zu einer Reduktion der Filteraktivität
oder zu Einflüssen auf die kortikale Perzeption von Missempfindungen führen. Auch ungünstige Kindheitserlebnisse und chronisches Stresserleben könnten
veränderte physiologische Parameter (veränderte Aktivierungsmuster, reduzierte Fähigkeit zur Habituation, Hypokortisolismus, Disinhibition
immunologischer Prozesse) bedingen. Auch wenn bei vielen der Befunde unklar ist, ob diese Ursache oder Folge der erlebten Beschwerden sind, sind diese
Modelle hilfreich, um mit den Patienten akzeptable Krankheitsmodelle zu entwickeln, die sowohl psychologische als auch organische / biologische
Erklärungen für die Symptomatik enthalten.

Hintergrundwissen
Ein aus der psychodynamischen Tradition stammendes Konzept, das zur Erklärung für die Entwicklung der Störungen angesehen wurde, ist unter der
Bezeichnung Alexithymie bekannt geworden. Der Begriff bezeichnet das Unvermögen einer Person, Gefühle auszudrücken, zu differenzieren (zu lesen)
oder näher zu benennen. Zudem wurden Zusammenhänge mit einem rationalen, konkretistischen Denkstil und einer verminderten imaginativen Fähigkeit
der Fantasie beschrieben. Ob ein kausaler Zusammenhang mit den somatoformen Störungen besteht, ist unklar.

Auslöser
Kognitive Modelle postulieren (➤ ), dass vorübergehende körperliche Erkrankungen, aber auch kritische Lebensereignisse (Trennungen, Verluste, Verlust
der Arbeit, Mobbing am Arbeitsplatz) (1) bei jedem Gesunden zu einer Ausnahmesituation führen können. Dies geht mit einer individuell unterschiedlich stark
ausgeprägten emotionalen, kognitiven und körperlichen (2) Reaktion einher. Verfügt der Betreffende über einen günstigen Bewertungsstil und ein
ausreichendes Maß an Bewältigungsstrategien, klingen die Beschwerden wieder ab. Werden die Beschwerden jedoch als gefährlich und bedrohlich eingestuft
(4), nimmt die physiologische Erregung zu und die Aufmerksamkeit engt sich auf die körperliche Symptomatik ein (5).

Abb. 12.2 Modell für die Entstehung und Aufrechterhaltung somatoformer Störungen, Erläuterungen im Text [G790 / L141]

Aufrechterhaltende Bedingungen
Dies wiederum wird als sich aufschaukelnder Prozess (6) aus vermehrter Fokussierung auf körperliche Vorgänge, verstärkter Wahrnehmung und
katastrophisierender Bewertung von Missempfindungen sowie zunehmenden kognitiv-emotionalen (Sorgen um die Ernsthaftigkeit der Beschwerden, Ängste
krank zu sein) und behavioralen (vermehrte Selbstbeobachtung, Schonung, Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten) Problemen verstanden
(somatosensorische Verstärkung).
Ein Grund für die vermehrte Selbstbeobachtung und Hypervigilanz könnte auch ein restriktiver Begriff von Gesundheit sein, in dem körperliche
Gesundheit mit vollständiger Abwesenheit von Missempfindungen gleichgesetzt wird oder ein negatives Selbstkonzept von „anfällig für Krankheiten“ oder
„wenig belastbar“ besteht. Auch familiäre Modelle können den individuell unterschiedlichen Umgang mit körperlichen Beschwerden (z.  B. Ignorieren,
Abwarten, erhöhte Wachsamkeit, sofort zum Arzt gehen, sich schonen) modulieren.

12.1.3. Therapeutische Prinzipien in Diagnostik und Versorgung


Diagnostik
Patienten, die aufgrund ihrer anhaltenden Körperbeschwerden belastet oder beunruhigt sind, stellen sich meist beim Hausarzt oder bei Fachärzten vor.
Primärversorger, Fachärzte und Psychotherapeuten erleben Patienten mit somatoformen Störungen häufig als „schwierige Patienten“. Patienten berichten von
Unzufriedenheit mit der Diagnose, fühlen sich häufig nicht ernst genommen und misstrauen einem biopsychosozialen Behandlungsansatz.
Praxistipp
Grundsätzlich gilt es, die Symptomatik der Patienten ernst zu nehmen, die Glaubhaftigkeit der Beschwerden anzuerkennen. Eine wertschätzende und
ermutigende Grundhaltung ist für den Aufbau einer tragfähigen therapeutischen Beziehung unabdingbar.

Organische Ursachen für die beklagte somatische Symptomatik sind durch eine angemessene Diagnostik auszuschließen, Mehrfachuntersuchungen sind
möglichst zu vermeiden.
Da viele Patienten primär von einer rein körperlichen Symptomatik ausgehen, kann sich das psychotherapeutische Erstgespräch besonders schwierig
gestalten („Jetzt schickt mich mein Arzt zu Ihnen, weil er denkt, ich bin verrückt und bilde mir das alles nur ein“). Somatische Symptome (Qualität,
Lokalisation, Häufigkeit, Dauer), bereits durchgeführte Untersuchungen und Behandlungsversuche, Funktionseinschränkungen, Einfluss von Stressoren,
Belastungen durch Sorgen, Ängste, Gedanken, Krankheitsverhalten sowie Konsequenzen der Erkrankung sollten sorgfältig exploriert, psychologische
Faktoren nicht konfrontativ angesprochen werden.
Die Diagnostik kann durch psychometrische Instrumente oder strukturierte Anamnesefragebögen (z.  B. Schmerzfragebögen ) ergänzt werden.
Symptomtagebücher (z. B. Schmerztagebuch) können die Diagnostik ergänzen und für die Erläuterung, wie psychische Faktoren und körperliche Symptome
zusammenhängen, genutzt werden. Organische Erkrankungen, psychische Komorbiditäten oder psychische Erkrankungen, die differenzialdiagnostisch für die
Symptomatik verantwortlich sein können, müssen erkannt und behandelt werden.

Differenzialdiagnostik
Unklare oder wechselnde körperliche Beschwerden können bei vielen körperlichen (z. B. multiple Sklerose, AIDS oder SLE) oder psychischen Störungen (z. 
B. Depressionen, Angststörungen, Schizophrenien, dissoziative Störungen, artifizielle Störungen) auftreten. Nicht selten werden bei Patienten mit einer
diagnostizierten somatoformen Störung später hinzukommende körperliche Erkrankungen übersehen. Änderungen des Beschwerdebildes und akute, neu
auftretende Symptome sollten nicht vorschnell als „psychogen“ eingeordnet, sondern angemessen diagnostisch abgeklärt werden. Beim erstmaligen
Auftreten von medizinisch nicht erklärbaren Körperbeschwerden nach dem 40. Lj. sollte verstärkt an eine noch nicht erkannte organische Genese der
Symptomatik gedacht werden. Wenn die Beschwerden ausschließlich im Rahmen einer Depression oder Panikstörung auftreten, hat die entsprechende
Diagnose Vorrang.

Grundlegende therapeutische Prinzipien


Die meisten Patienten werden zuerst vom Hausarzt oder somatischen Facharzt gesehen. Therapeutische Prinzipien berücksichtigen daher die Kommunikation
und Zusammenarbeit in der Primärversorgung und die Frage, wann interdisziplinäre multimodale Ansätze hinzugezogen werden sollten. Die Leitlinien ( )
empfehlen eine gestufte Versorgung („stepped care“) nach dem Schweregrad, wobei der Primärbehandler eine zentrale Rolle einnimmt.
In der initialen grundlegenden Versorgung diagnostiziert der Primärversorger neu aufgetretene Beschwerden und entscheidet über den weiteren
Handlungsbedarf. Der erste Kontakt kann hierbei in manchen Fällen mit wenigen Maßnahmen einen günstigen Verlauf unterstützen, in anderen Fällen auch zu
einer Chronifizierung beitragen. Die Grundhaltung sollte wie in allen weiteren Stufen empathisch und bewältigungsorientiert sein.
Weitere Maßnahmen unter der Koordination des Primärversorgers sind indiziert, wenn die Beschwerden nach wenigen Wochen weiterhin bestehen und mit
einer Beeinträchtigung von Lebensqualität und Leistungsfähigkeit verbunden sind. Eine Einbeziehung von Psychiater oder Psychotherapeut sollte erwogen
werden. Ein vorläufiges Abschließen der Diagnostik, um den Patienten vor Mehrfachuntersuchungen zu schützen, die Entwicklung eines
nachvollziehbaren und für den Patienten akzeptablen Erklärungsmodells sowie die Vereinbarung von Terminen mit festen Zeitabständen werden für
diese Phase empfohlen.
B e i Merkmalen eines schweren Verlaufs (polysymptomatische Verlaufsform; anhaltende Beschwerden; dysfunktionale Krankheitsannahmen oder
Verhaltensweisen; deutlich reduzierte Funktionsfähigkeit und ausgeprägte psychosoziale Belastung; psychische Komorbidität; wiederkehrende Störung der
Arzt  /  Therapeut-Patient-Beziehung) sollten weitere Behandler und Therapieformen einbezogen (multimodale Behandlung und Psychotherapie) und die
Behandlungsplanung interdisziplinär gestaltet werden..

12.1.4. Spezielles psychotherapeutisches Vorgehen


Im Vergleich mit anderen Störungsbildern wie Depressionen, Angst- oder Zwangsstörungen ist die Psychotherapiewirksamkeit bei somatoformen  / 
funktionellen Störungen bislang weit weniger beforscht, und die Effektstärken sind geringer als bei anderen Störungsbildern. Es gibt zu vielen
unterschiedlichen Störungsbildern (polysymptomatische Somatisierungsstörung, chronische Rückenschmerzen, Fibromyalgie, Reizdarm, Chronik-Fatigue-
Syndrom) einzelne Studien mit begrenzter Vergleichbarkeit und geringer Aussagekraft für die Gesamtheit somatoformer Störungen. Verantwortlich dafür ist
auch die heterogene Klassifikation in der ICD-10. Meist wurden Kurzzeittherapien untersucht, deren Effekte bei diesen Patienten mit initial häufig sehr
geringer oder ambivalenter Psychotherapiemotivation, wiederkehrendem Wunsch nach somatischer Diagnostik und Therapie, häufig ausgeprägten
psychosozialen Folgeproblemen und ebenso häufig ungünstigen Lebensereignissen in der Biografie, eingeschränkter sein dürften als auf längere Zeit angelegte
Therapien, die individuelle Problembereiche einschließen.
Trotz der eingeschränkten Evidenzbasis ist aufgrund der Befundlage eindeutig Psychotherapie zu empfehlen. Am besten belegt ist die Wirkung der
kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) in Einzel- und Gruppentherapie auf verschiedene Symptombereiche somatoformer Störungen (z.  B. bei
Somatisierungsstörungen, Reizdarmsyndrom, chronischen Rückenschmerzen). Für die psychodynamisch-interpersonelle Psychotherapie liegen weit weniger
Untersuchungen vor. Trotz der spärlicheren Evidenz kann diese bei der Somatisierungsstörung (eingeschränkt) und beim Reizdarmsyndrom empfohlen werden.
Körperorientierte nonverbale Verfahren (z.  B. Biofeedback, progressive Muskelrelaxation, Tai-Chi, Qigong, Achtsamkeitstraining, Meditation,
Musiktherapie) können als Zusatzmaßnahmen, jedoch nicht als Monotherapien empfohlen werden.

Phasen der psychotherapeutischen Behandlung


Die psychotherapeutische Behandlung kann in drei Phasen aufgeteilt werden. Nach dem Aufbau einer tragfähigen therapeutischen Beziehung sollte
gemeinsam mit dem Patienten ein akzeptables Störungsmodell erarbeitet werden, das subjektive Erklärungen einbezieht und dem Patienten keine Schuld an
seiner Symptomatik gibt. Damit soll eine „ Sowohl-als-auch“-Haltung etabliert werden, die neben den somatischen auch psychosoziale Einflussfaktoren
integriert. Damit sollen der Aufbau von Behandlungsmotivation, die Erarbeitung realistischer Therapieziele und die Erläuterung geplanter therapeutischer
Maßnahmen ermöglicht werden. Erst dann werden Bewältigungsstrategien vermittelt; einen Überblick über das kognitiv-verhaltenstherapeutische Vorgehen
gibt ➤
Tab. 12.2 Spezielles kognitiv-verhaltenstherapeutisches Vorgehen (Ziele und Maßnahmen) bei somatoformen Störungen
(mod. nach Hiller und Rief 2019) [R282-6]
Ziele Maßnahmen
Vertrauensvolle Beziehung Den Patienten seine körperlichen Beschwerden ausführlich darstellen lassen, Verständnis zeigen, Akzeptanz
herstellen, signalisieren. Anhand eines plausiblen Störungsmodells Ziele und Teilziele der Therapie erarbeiten, unrealistische
Behandlungsmotivation aufbauen Ziele (Abwesenheit von Missempfindungen, Heilung) relativieren, psychotherapeutische Möglichkeiten
(Stressreduktion, Entspannung, Problemlösung, interpersonelle Kommunikation) aufzeigen

Psychosomatisches Zusammenhänge zwischen körperlichen und psychischen Prozessen erarbeiten (biopsychosoziales Störungsmodell,
Krankheitsverständnis entwickeln Psychoedukation) und demonstrieren (z. B. Symptomtagebücher, Verhaltensexperimente, Biofeedback)

Realisierung einer adäquaten Zeitkontingente ärztliche Versorgung vereinbaren, Medikamentenkonsum auf medizinisch notwendige und indizierte
Inanspruchnahme des Mittel reduzieren, ärztliche Rückversicherungen vermeiden oder auf adäquates Ausmaß reduzieren
Gesundheitssystems

Inadäquates Schon- und Problemverhalten mit dem Patienten identifizieren, Vor- und Nachteile des Verhaltens erarbeiten, unter Beachtung
Vermeidungsverhalten abbauen, von Vorerfahrungen und Neigungen körperliche, sportliche, kulturelle oder soziale Aktivitäten („Tango statt Fango“)
positive Verstärker aufbauen aufbauen, sinnvolle Kräfteökonomie erarbeiten; Verantwortung in Familie und Beruf übernehmen

Dysfunktionale Gedanken Krankheitsängste und -überzeugungen offen ansprechen, im sokratischen Dialog alternative Erklärungen erarbeiten
(Resignation, Hilflosigkeit, und überprüfen, Selbstwirksamkeit verbessern
Katastrophisierung) reduzieren
bzw. umattribuieren

Partnerschaftliche / familiäre Erarbeiten / offenes Ansprechen / Verändern von problematischen Kommunikationsmustern und ihren Folgen
Kommunikationsmuster, die das (Verstärkung von Schon- / Vermeidungsverhalten bis hin zur „Entmündigung“, Auswirkungen von Rückzug der
Krankheitsgeschehen verstärken, Angehörigen / Betroffenen oder von unausgesprochenen Konflikten auf Stimmung und Symptomatik; Verbesserung
identifizieren und verändern sozialer Kompetenzen)

Lebensqualität verbessern Soziale Kontakte, Unternehmungen in der Freizeit, Hobbys, Interessen usw., „Genusstraining“ fördern

Verständlicherweise geben die meisten Patienten an, wieder komplett schmerz- oder beschwerdefrei werden zu wollen. Dieser Wunsch sollte vorsichtig
relativiert werden, da eine vollständige Remission der Symptomatik nur selten zu erreichen ist. Vielmehr sollten realistische Ziele oder Teilziele vereinbart
werden (z. B. tägliches Entspannungstraining, angenehme körperliche Aktivitäten einplanen, Verbesserung der Stimmungslage, Abnahme der Schmerzen um
20 %).
Neben den Entspannungsverfahren kommt der gezielten Aufmerksamkeitslenkung eine große Bedeutung zu. Patienten können durch den Einsatz von
Ablenkungsstrategien (z.  B. Telefonat mit Freundin, Spazierengehen) die Beobachtung machen, dass die Beschwerden weniger intensiv wahrgenommen
werden, und dadurch Möglichkeiten entwickeln, die Befindlichkeit selbstwirksam positiv zu beeinflussen.
Viele Patienten mit somatoformen Störungen vernachlässigen aufgrund ihrer Erkrankung soziale Kontakte und genussvolle Aktivitäten, sodass ihr
Lebensalltag eintönig, freudlos und beziehungsarm wird. Damit wird der vermehrten Beschäftigung mit den körperlichen Beschwerden Vorschub geleistet. Das
geplante, regelmäßige Durchführen von angenehmen Aktivitäten, gerade trotz der körperlichen Symptomatik, erbringt häufig eine deutliche Besserung der
Stimmung, der Lebenszufriedenheit und schließlich auch der Körpersymptome. Auch die körperliche Aktivierung mit einem dem Trainingszustand
angemessenen Ausdauertraining kann zur Linderung der Beschwerden beitragen.
Untersuchungen zu kognitiven Bewertungsprozessen bei Patienten mit Somatisierungsstörung haben gezeigt, dass die Patienten dazu neigen,
Körpermissempfindungen schnell als bedrohlich oder gefährlich einzuschätzen (Katastrophisieren) oder sich selbst als extrem wenig belastbar und kränklich
zu beurteilen. Diese kognitiven Verzerrungen lassen sich im Rahmen der Therapie z. B. mit Verhaltensprotokollen erfassen (➤ ). Sie werden dann in den
Therapiesitzungen besprochen, um dem Patienten das Erarbeiten realistischerer oder sinnvollerer Kognitionen zu ermöglichen.

Abb. 12.3 Beispiel für ein Verhaltensprotokoll bei der Behandlung der anhaltenden somatoformen Schmerzstörung [M516 / L141]

Unter den Patienten mit somatoformen Störungen gibt es große individuelle Unterschiede in Bezug auf die Symptomatik und subjektive Erklärungsmodelle.
Einige Patienten sind offen und interessiert an psychosozialen Erklärungen, andere führen sogar bereits in den ersten Gesprächen kritische Lebensereignisse
(z. B. Trennungen, Verlustereignisse, interpersonelle Probleme am Arbeitsplatz), biografische Belastungen und Traumata als vermutete Gründe ihrer Störung
an. Individuelle Problembereiche (z.  B. komorbide Depressionen, Angst- oder Persönlichkeitsstörungen, Traumafolgestörungen) oder als existenziell
bedrohlich erlebte berufliche (z. B. Arbeitsplatzverlust) und zwischenmenschliche Probleme (sozialer Rückzug, Verlustereignisse, Vereinsamung, drohende
Trennungen) sollten berücksichtigt werden.

12.1.5. Kombination von Psycho- und Pharmakotherapie


Zur psychopharmakologischen Behandlung somatoformer Störungen liegt mit Ausnahme der schmerzdominanten Störungen (➤ ) nur eine geringe Anzahl von
Studien niedriger Qualität vor. Der Einsatz von Antidepressiva kann aktuell bei der Gruppe der Somatisierungsstörungen nicht eindeutig empfohlen werden.
Aufgrund des Abhängigkeitspotenzials und der Nebenwirkungen ist von Benzodiazepinen bzw. Antipsychotika abzuraten. Bei komorbiden Depressionen
und Angststörungen ist eine psychopharmakologische bzw. psychotherapeutische Behandlung entsprechend den Richtlinien zu erwägen.

Merke
Keine längere psychopharmakologische Behandlung somatoformer Störungen ohne begleitende Psychotherapie!
12.2. Einzelne somatoforme Störungen und verwandte Störungsbilder
Im Folgenden werden die in der ICD-10 unterschiedenen Unterformen genauer beschrieben:

• Somatisierungsstörung (➤ )
• Somatoforme autonome Funktionsstörung (➤ )
• Anhaltende somatoforme Schmerzstörung bzw. chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren (➤ )

Darüber hinaus wird in ➤ kurz auf verwandte Störungen wie z. B. die Fibromyalgie, eingegangen. In ➤ wird die „Body Integrity Dysphoria “ beschrieben,
die in die ICD-11 erstmals aufgenommen wird.

12.2.1. Somatisierungsstörung
Bei der Somatisierungsstörung (diagnostische Kriterien, ➤ ) treten über längere Zeit (mindestens 2 Jahre) immer wieder verschiedene körperliche Symptome
in wechselnder Intensität auf, für die keine als Erklärung ausreichende organische Ursache gefunden wurde. Ständige Sorge aufgrund der Symptome und
intensive Inanspruchnahme des Gesundheitssystems sowie die hartnäckige Weigerung, die medizinische Feststellung, dass keine körperliche Ursache vorliegt,
zu akzeptieren, sind weitere Kriterien.

Kasuistik
Eine verheiratete Fachverkäuferin (32) wird von ihrer Hausärztin an die psychiatrische Ambulanz überwiesen. Die Ärztin schreibt in ihrem
Überweisungsbericht, die Patientin klage schon seit mehr als 2 Jahren über wechselnde körperliche Beschwerden, ohne dass jemals ein richtungweisender
somatischer Befund festgestellt worden sei. Zuletzt habe die Abklärung von Magen-Darm-Beschwerden mehr als 6 Monate in Anspruch genommen. Es
seien eine Gastroskopie, eine Koloskopie, eine Stuhluntersuchung auf pathogene Keime und eine Magen-Darm-Passage durchgeführt worden, ohne dass
sich ein pathologischer Befund erheben ließ.
Beim Erstkontakt berichtet die Patientin sehr ausführlich und detailliert von ihren unterschiedlichen Beschwerden, die vor mehr als 2 Jahren begonnen
hätten. Damals habe sie an einer schweren Bronchitis gelitten, die erst auf eine Antibiotikagabe nachgelassen habe. Überhaupt habe sie damals viel Stress
gehabt, mit ihrem Mann habe sie sich häufig gestritten. Direkt im Anschluss an die Bronchitis habe sie über mehrere Monate an Brustschmerzen und
Kurzatmigkeit gelitten. Später hätten sich Gelenkschmerzen sowie Taubheits- und Kribbelgefühle eingestellt. Vor 1 Jahr sei es dann ganz schlimm
geworden: Sie habe starke Schmerzen beim Wasserlassen gehabt; dies habe sich auch durch eine mehrmalige Antibiotikabehandlung nicht gebessert. Seit
ungefähr 6 Monaten habe sie ständig einen schlechten Geschmack im Mund, leide häufig unter dünnem Stuhlgang und empfinde ihren Bauch als
aufgebläht.
Sie glaube, dass hinter den Beschwerden eine körperliche Erkrankung stecke. Sie taste sich daher häufig den Bauch ab, um Verhärtungen aufzuspüren.
Wenn die Hausärztin keine körperliche Ursache habe finden können, sei sie zwar für kurze Zeit beruhigt. Sobald die Beschwerden aber wiederkämen,
mache sie sich erneut große Sorgen und grüble über die Ursache nach. Inzwischen könne sie ihrem Beruf nicht mehr richtig nachgehen; sie sei häufig
krankgeschrieben gewesen, insgesamt 50 Tage im letzten Jahr. Bei der Arbeit müsse sie immer wieder Pausen machen, und sie lege sich oft hin, um
auszuruhen. Das ewige Hin und Her mit den Symptomen und den Arztbesuchen mache sie „ganz fertig“. Dass sie einmal bei einem Psychiater und
Psychotherapeuten landen würde, hätte sie nie gedacht (nach Lieb und Heßlinger 2016).

Tab. 12.3 Diagnosekriterien für die Somatisierungsstörung nach ICD-10 (F45.0)


A. Eine Vorgeschichte von mindestens 2 Jahren mit anhaltenden Klagen über multiple und wechselnde körperliche Symptome, die durch keine
diagnostizierbare körperliche Krankheit erklärt werden können. Eine evtl. vorliegende bekannte körperliche Krankheit erklärt nicht die Schwere, das
Ausmaß, die Vielfalt und die Dauer der körperlichen Beschwerden oder die damit verbundene soziale Behinderung. Wenn einige vegetative Symptome
vorliegen, bilden sie nicht das Hauptmerkmal der Störung, d. h., sie sind nicht besonders anhaltend oder belastend.

B. Die ständige Sorge um die Symptome führt zu andauerndem Leiden und dazu, dass die Patienten mehrfach (dreimal oder öfter) um Konsultationen
oder Zusatzuntersuchungen in der Primärversorgung oder beim Spezialisten nachsuchen. Wenn aus finanziellen oder geografischen Gründen
medizinische Einrichtungen nicht erreichbar sind, kommt es zu andauernder Selbstmedikation oder mehrfachen Konsultationen bei örtlichen
Laienheilern.

C. Hartnäckige Weigerung, die medizinische Feststellung zu akzeptieren, dass keine ausreichende körperliche Ursache für die körperlichen Symptome
vorliegt. Akzeptanz der ärztlichen Mitteilung allenfalls für kurze Zeiträume bis zu einigen Wochen oder unmittelbar nach einer medizinischen
Untersuchung.

D. Insgesamt 6 oder mehr Symptome aus der folgenden Liste, mit Symptomen aus mindestens zwei verschiedenen Gruppen:•
Gastrointestinale Symptome: 1. Bauchschmerzen, 2. Übelkeit, 3. Gefühl von Überblähung, 4. schlechter Geschmack im Mund oder extrem belegte
Zunge, 5. Klagen über Erbrechen oder Regurgitation von Speisen, 6. Klagen über häufigen Durchfall oder Austreten von Flüssigkeit aus dem Anus
• Kardiovaskuläre Symptome: 7. Atemlosigkeit ohne Anstrengung, 8. Brustschmerzen
• Urogenitale Symptome: 9. Dysurie oder Klagen über die Miktionshäufigkeit, 10. unangenehme Empfindungen im oder um den Genitalbereich, 11.
Klagen über ungewöhnlichen oder verstärkten vaginalen Ausfluss
• Haut- und Schmerzsymptome: 12. Klagen über Fleckigkeit oder Farbveränderungen der Haut, 13. Schmerzen in den Gliedern, Extremitäten oder
Gelenken, 14. unangenehme Taubheit oder Kribbelgefühl

E. Häufigstes Ausschlusskriterium: Die Störung tritt nicht ausschließlich während einer Schizophrenie oder einer verwandten Störung (F2), einer
affektiven Störung (F3) oder einer Panikstörung (F41.0) auf.

Für die undifferenzierte Somatisierungsstörung (F45.1) werden weniger restriktive Kriterien gefordert (kürzere Zeitdauer von mindestens 6 Monaten und
deutlich geringere Anzahl von Symptomen), sodass diese im klinischen Alltag deutlich häufiger diagnostiziert werden kann. Die Angaben zur Häufigkeit der
Somatisierungsstörungen sind unterschiedlich. Bei restriktiver Auslegung der D-Kriterien wurde eine Lebenszeitprävalenz < 0,4  %, bei weniger restriktiver
Auslegung (mindestens vier Symptome bei Männern bzw. mindestens sechs Symptome bei Frauen) von 5–12 % gefunden.

12.2.2. Somatoforme autonome Funktionsstörung


Die beklagten Beschwerden sind hier in erster Linie Symptome einer erhöhten vegetativen Erregung wie z. B. Herzsensationen (Herzklopfen, Herzrasen),
erhöhter Harndrang oder Hitzewallungen, für die sich kein organisches Korrelat finden lässt. In der Literatur wird auch vielfach vom „psychovegetativen
Syndrom“ oder „vegetativer Dystonie“ gesprochen. Begriffe, die Störungen bestimmter Organsysteme bezeichnen, sind z.  B. das DaCosta-Syndrom für
kardiale Beschwerden oder das psychogene Colon irritabile.
Tab. 12.4 Diagnosekriterien für die somatoforme autonome Funktionsstörung nach ICD-10 (F45.3)
A. Symptome der autonomen (vegetativen) Erregung, die von den Patienten einer körperlichen Krankheit in einem oder mehreren der folgenden Systeme
oder Organe zugeordnet werden:
1. Herz und kardiovaskuläres System; 2. oberer Gastrointestinaltrakt; 3. unterer Gastrointestinaltrakt; 4. respiratorisches System; 5. Urogenitalsystem

B. Zwei oder mehr der folgenden vegetativen Symptome:


1. Palpitationen; 2. Schweißausbrüche (heiß oder kalt); 3. Mundtrockenheit; 4. Hitzewallungen oder Erröten; 5. Druckgefühl im Epigastrium, Kribbeln
oder Unruhe im Bauch

C. Eines oder mehrere der folgenden Symptome:


1. Brustschmerzen oder Druckgefühl in der Herzgegend; 2. Dyspnoe oder Hyperventilation; 3. außergewöhnliche Ermüdbarkeit bei leichter
Anstrengung; 4. Aerophagie, Singultus oder brennendes Gefühl im Brustkorb oder Epigastrium; 5. Bericht über häufigen Stuhlgang; 6. erhöhte
Miktionsfrequenz oder Dysurie; 7. Gefühl der Überblähung oder Völlegefühl

D. Kein Nachweis einer Störung von Struktur oder Funktion der Organe oder Systeme, über die die Patienten klagen

E. Häufigstes Ausschlusskriterium: Die Symptome treten nicht ausschließlich im Zusammenhang mit einer phobischen (F40.0 – F40.3) oder einer
Panikstörung (F41.0) auf.

12.2.3. Anhaltende somatoforme Schmerzstörung und chronisches Schmerzsyndrom mit


somatischen und psychischen Faktoren
Von chronischen Schmerzen wird dann gesprochen, wenn der Schmerz länger als 3 Monate andauert und mit einer bedeutsamen Beeinträchtigung des
alltäglichen Lebens einhergeht. Bei der Chronifizierung von Schmerzen sind biologische, psychologische und soziale Komponenten involviert, deren
Zusammenspiel in ihrer Komplexität noch nicht vollständig verstanden wird. Chronische Schmerzen unterscheiden sich vom akuten Schmerz neben der Dauer
v. a. darin, dass der Schmerz in vielen Fällen seine Warnfunktion verliert, dass die Ursachen häufig unbekannt, vielschichtig oder nicht therapierbar sind und
dass er bei den Betroffenen häufig psychosoziale Folgen hat.

Merke
Ein wesentliches Missverständnis in der Betrachtung des chronischen Schmerzes liegt häufig darin, dass er als
anhaltender akuter Schmerz gesehen wird. Somit wird weiter nach der Ursache gesucht; häufig werden
fälschlicherweise dieselben Interventionen wie beim akuten Schmerz (Schonung, analgetische Behandlung mit NSAR
oder Opioiden) angewendet. Das chronische Schmersyndrom bekommt jedoch einen eigenständigen Krankheitswert
und geht mit kognitiven, emotionalen und behavioralen Folgen einher.

Schmerzen können auf der Ebene der Nozizeption, beim Vorgang der Übertragung aus der Peripherie ins Gehirn und auch im Gehirn selbst entstehen und
aufrechterhalten werden. Schmerzen können somit auch ohne eine Reizung der Nozizeptoren entstehen und sind immer eine subjektive Erfahrung, die auch
durch Vorerfahrungen sowie emotionale, kognitive und verhaltensbezogene Faktoren beeinflusst wird. Eine Unterscheidung von „objektiven“ und
„subjektiven“ Schmerzen ist daher kaum möglich. Nach ICD-10 kann eine somatoforme Schmerzstörung bei Vorliegen der in ➤ aufgeführten Kriterien
diagnostiziert werden.

Tab. 12.5 Diagnostische Kriterien der anhaltenden somatoformen Schmerzstörung nach ICD-10 (F45.4)
A. Mindestens 6 Monate kontinuierlicher, an den meisten Tagen anhaltender, schwerer und belastender Schmerz in einem Körperteil, der nicht adäquat
durch den Nachweis eines physiologischen Prozesses oder einer körperlichen Störung erklärt werden kann und der anhaltend der Hauptfokus für die
Aufmerksamkeit der Patienten ist.

B. Häufigstes Ausschlusskriterium: Die Störung tritt nicht während einer Schizophrenie oder einer verwandten Störung (F20 – F29) auf oder ausschließlich
während einer affektiven Störung (F30 – F39), einer Somatisierungsstörung (F45.0), einer undifferenzierten somatoformen Störung (F45.1) oder einer
hypochondrischen Störung (F45.2).

Dabei wird bei der somatoformen Schmerzstörung eine Verbindung zu emotionalen oder psychosozialen Konflikten zugrunde gelegt, die schwerwiegend
genug sein sollten, um als entscheidend ursächliche Einflüsse zu gelten. In der klinischen Realität ist es allerdings häufig nur schwer möglich, einen Schmerz
als organisch adäquat erklärbar einzuordnen bzw. emotionale Konflikte oder psychosoziale Ursachen als eindeutige ursächliche Einflüsse geltend zu machen.
In vielen Fällen kann sich aus einem akuten Schmerz, z.  B. nach einem Bandscheibenvorfall, ein chronischer Schmerz entwickeln, der sich durch die
Schädigung nicht mehr vollständig erklären lässt. 2009 wurde daher die chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren (ICD-10:
F45.41) in die ICD-10 eingeführt. Im Unterschied zur somatoformen Schmerzstörung sollen hier psychologische Faktoren die Schmerzen nicht ursächlich
bedingen, sondern den Verlauf beeinflussen. Die ICD-11 und das DSM-5® haben die Diagnose einer somatoformen Schmerzstörung aufgegeben. In der ICD-
11 ist eine eigene Kategorie für chronische Schmerzen (MG30) vorgesehen, in der chronische Schmerzen verschlüsselt werden, unabhängig davon, ob diese
organisch adäquat erklärbar sind oder nicht (also z. B. auch die Fibromyalgie). Wenn die Schmerzstörung durch die Belastung und die Beeinträchtigung sowie
die psychologischen Kriterien (➤ ) dominiert wird, sollte in Zukunft die somatische Belastungsstörung mit vorwiegendem Schmerz (DSM-5®) bzw. die Bodily
Distress Disorder (ICD-11) (zusätzlich zur Diagnose einer Schmerzstörung) verschlüsselt werden (➤ ).

Kasuistik
Der 42-jährige Techniker kommt mit der Überweisungsdiagnose einer somatoformen Schmerzstörung (ICD-10: F45.4) zu einem ambulanten Termin in
eine psychiatrisch-psychosomatische Klinik. Er leide bereits seit seiner Jugend unter Migräne, die Symptomatik habe sich jedoch in den letzten 3 Jahren
massiv verschlechtert. Inzwischen habe er mindestens sechs Migräneanfälle im Monat, fast an jedem Tag Kopfschmerzen, die an 10–14 Tagen pro Monat
heftig seien. Er zeige niemanden, wie schlecht es ihm gehe. Außer an 5–6 Tagen im Jahr beiße er sich durch und gehe trotz der Kopfschmerzen zur Arbeit.
Er sei in den letzten 2 Jahren immer häufiger bei seinem Hausarzt gewesen. Verschiedene Untersuchungen seien initiiert und unterschiedliche
medikamentöse Behandlungsversuche unternommen worden. Auch sein Arzt wirke inzwischen hilflos. Er habe gesagt, aus seiner Sicht könne es nur noch
psychisch sein, deswegen habe er die Überweisung veranlasst. Alle sagen, es sei der Stress, er habe jedoch nicht den Eindruck, dass er wegen der Arbeit
unter Stress leide. Seine Arbeit mache ihm Spaß, er habe eine verantwortungsvolle Position, auch im Team fühle er sich wohl. Dagegen habe er häufig die
schlimmsten Kopfschmerzen am Wochenende oder im Urlaub. Auch privat habe er keine größeren Probleme. Die Herkunftsfamilie sei sehr
leistungsorientiert, trotzdem habe er zu beiden Eltern und seinem Bruder guten Kontakt. Partnerin und Kinder würden auch darunter leiden, wenn es ihm
schlecht gehe. Er sei oft erschöpft, habe weniger Interesse und Geduld, gemeinsame Unternehmungen hätten abgenommen, er ziehe sich häufiger zurück.
Trotzdem stehe seine Frau hinter ihm, nehme ihm zu Hause ab, was sie könne. Er hätte gern mehr Zeit für seine zwei kleinen Söhne, das gehe aber vielen
seiner Kollegen nicht anders. Seit sein Arzt gesagt habe, die Kopfschmerzen könnten nur psychisch sein, grüble er, was er falsch gemacht habe. Eigentlich
sei er verzweifelt über die Aussage, sie gebe ihm den Eindruck, im Leben versagt zu haben. Nachdem die Migräne gemeinsam mit dem Patienten als
neurologische Erkrankung bewertet wurde, bei der psychologische Faktoren nicht ursächlich, aber beim Verlauf eine Rolle spielen, ist der Patient entlastet
und auch zur Aufnahme einer Psychotherapie motiviert.
Therapie
Bei der medikamentösen Behandlung und Psychotherapie chronischer Schmerzen ist es zentral, die Unterschiede zum akuten Schmerz zu beachten und mit
dem Patienten zu erarbeiten.
Opioidhaltige Analgetika haben zwar auch bei chronischen Schmerzen einen kurzfristig schmerzlindernden Effekt, bringen jedoch langfristig keine
Besserung und führen nicht selten zu einer Abhängigkeitsentwicklung. Die unkritische Behandlung mit Analgetika ist aufgrund der Nebenwirkungen bei
chronischem Missbrauch (analgetikainduzierter Dauerkopfschmerz, Nierenschädigungen) zu vermeiden. Cannabinoide können nur bei ausgewählten Patienten
bei nicht ausreichendem Effekt von Erst- und Zweitlinientherapien in Betracht gezogen werden. Beim Leitsymptom Kopfschmerz sollte auf die entsprechenden
Behandlungsrichtlinien in der Neurologie zurückgegriffen werden.
Zur medikamentösen Behandlung der somatoformen Schmerzstörung gibt es nur wenige abgesicherte Ergebnisse. Vorliegende Studien wurden meist
mit umschriebenen Patientengruppen (z.  B. Fibromyalgie, diabetische Polyneuropathie, prämenstruelles Syndrom) durchgeführt, die Übertragbarkeit auf
andere chronische Schmerzsyndrome ist somit unsicher. Ein antidepressiver Behandlungsversuch über einen begrenzten Zeitraum in niedriger Dosierung
kann empfohlen werden. Hierbei liegt die beste Evidenz für Amitriptylin (75 mg / d) vor, aber auch Duloxetin kann verabreicht werden. Auch Antiepileptika
wie Pregabalin und Gabapentin werden als Therapieversuch empfohlen. Hier sind insbesondere bei Pregabalin das Abhängigkeitspotenzial und die vielfältigen
Nebenwirkungen zu beachten.
Die kognitive Verhaltenstherapie (KVT) hat keine eindeutigen Effekte auf die Schmerzintensität selbst, aber kleine bis moderate Effekte auf die
Stimmung und schmerzbezogene Beeinträchtigungen und kann gemeinsam mit selbstregulatorischen Verfahren (Biofeedback, Entspannung) empfohlen
werden. Bausteine der KVT beim chronischen Schmerz sind:

• Aufbau einer therapeutischen Beziehung und Erarbeitung eines Erklärungsmodells der Schmerzchronifizierung, z. B. anhand eines
Schmerztagebuchs (evtl. auch unter Einbeziehung von Biofeedback), das den Patienten nicht zum Schuldigen macht
• Abbau von Schmerzverhalten (Schonverhalten, Rückzug, Fehlbelastung) und Aufbau von positivem Alternativverhalten (evtl. unter Einbezug von
Angehörigen)
• Verbesserung positiver Erwartungen und Erfahrungen, Verbesserung von Lebensqualität und nicht Schmerzreduktion per se

12.2.4. Verwandte Störungen


Neurasthenie
Die Neurasthenie (F48.0) wird in der ICD-10 neben dem Depersonalisations- / Derealisationssyndrom unter den sonstigen neurotischen Störungen aufgeführt.
Aufgrund der Symptome

• anhaltender oder quälender Erschöpfung nach geringer geistiger Anstrengung oder


• andauernder Müdigkeit und Schwäche nach leichten körperlichen Anstrengungen

kann sie zu den somatoformen Störungen gerechnet werden. Zusätzlich zur leichten Ermüd- und Erschöpfbarkeit treten weitere körperliche Symptome wie
z. B. Kopf- und Muskelschmerzen, Schlafstörungen und Reizbarkeit auf. Überschneidungen mit der Symptomatik des Fibromyalgie- und des Chronic-Fatigue-
Syndroms werden dabei deutlich (s.  u.). In der ICD-11 und im DSM-5®wird die Neurasthenie aufgrund der unspezifischen Symptomatik nicht mehr als
Krankheitsentität aufgeführt.

Fibromyalgie (ICD10: M79.70 oder F45.41)


Die Fibromyalgie ist ein chronisches Schmerzsyndrom und bedeutet wörtlich übersetzt Faser-Muskel-Schmerz. Betroffene Patienten beklagen chronische
Schmerzen in mehreren Körperregionen, Schlafstörungen und vermehrte Erschöpfung, häufig auch Konzentrationsstörungen, Steifigkeitsgefühle und eine
generelle Überempfindlichkeit für Schmerzreize. Der Verlauf ist schleichend, häufig werden Phasen mit heftigen Schmerzen von weitgehend schmerzfreien
Intervallen abgelöst. Die Diagnose wird aufgrund der Kernsymptome gestellt; das früher empfohlene diagnostische Kriterium der schmerzhaften Druckpunkte
(Tenderpoints) wird heute nicht mehr für die Diagnosestellung gefordert. Frauen sind wesentlich häufiger betroffen als Männer. Die Erkrankung beginnt
zumeist zwischen dem 40. und 60. Lj. Die Ätiologie der Erkrankung ist nicht bekannt. Eine Störung der Schmerzverarbeitung im Gehirn wird vermutet; viele
Betroffene leiden unter einer messbaren Hyperalgesie. Wie bei den somatoformen Störungen bestehen eine erhöhte Anzahl von Kindheitstraumata bei den
Betroffenen, eine hohe Komorbidität (bis zu 80 %) mit psychischen Störungen (v. a. Depressionen und Angststörungen) sowie Zusammenhänge mit aktuellen
Stressoren am Arbeitsplatz oder im sozialen Umfeld. Gesichert ist, dass es sich nicht um eine rheumatische Erkrankung oder eine Erkrankung der Muskeln und
Sehnen handelt. Eine kausale Behandlung ist nicht bekannt. Empfohlen werden KVT sowie für kurzfristige Effekte Biofeedback und Hypnotherapie, für einen
begrenzten Zeitraum auch Antidepressiva bzw. Antiepileptika wie Pregabalin / Gabapentin.

Chronic-Fatigue-Syndrom (ICD10: G93.3)


Im Vordergrund des CFS stehen eine deutlich schnellere Erschöpfbarkeit als vor der Erkrankung und eine längere Erholungsphase nach Belastung. Die
Erschöpfung kann hierbei schon nach leichten körperlichen, intellektuellen und psychosozialen Belastungen auftreten und somit den Alltag der Betroffenen
stark einschränken. Trotz der Erschöpfung bestehen häufig Ein- und Durchschlafstörungen, als weitere Symptome werden neurokognitive Beeinträchtigungen,
eine gestörte Orthostasereaktion sowie eine Vielzahl von Symptomen wie Schmerzen, eine Fehlregulation des Immunsystems oder des Hormonsystems
genannt. Die Ätiologie ist unklar, teilweise soll den Symptomen eine körperliche Erkrankung vorausgehen. Möglicherweise spielen immunologische Prozesse
nach abgeklungenen Virusinfektionen eine Rolle, aber auch eine Beziehung zu affektiven Störungen wird diskutiert. Eine spezifische Therapie besteht nicht;
trotz geringer Effektstärke wird neben einer KVT ein moderates angepasstes Ausdauertraining empfohlen. Die Häufigkeit wird mit 0,7–2 % angegeben. Das
CFS wird in der Öffentlichkeit sehr kontrovers diskutiert. Wie bei den somatoformen Störungen wird von betroffenen Patienten das ärztliche Verhalten im
Umgang mit der Störung kritisiert.

Multiple Chemical Sensitivity (MCS) (ICD10: T78.4 oder F45.9)


Bei der MCS werden multiple körperliche Beschwerden geäußert, z.  B. eine verstärkte Geruchsempfindlichkeit oder veränderte Geruchswahrnehmung,
Nahrungsmittelunverträglichkeiten sowie neurologische Beschwerden (z.  B. Kopfschmerzen, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, Schwindel). Die
Patienten selbst gehen von einer Verursachung durch Umweltfaktoren, z. B. einer Belastung durch Umweltgifte oder Elektrosmog, aus. Die Ätiologie dieses
Syndroms ist ungeklärt. Ein komplexes Zusammenwirken verschiedener Faktoren wird angenommen, bei denen eine initiale Intoxikation möglicherweise ein
„Puzzleteil“ darstellt. Eine ähnliche Symptomatik tritt beim Sick-Building-Syndrom (SBS) auf, das auf den Einfluss eines schlechten Raumklimas von
Gebäuden zurückgeführt wird. Wie beim CFS ist die Diagnose unter Fachleuten sehr umstritten.

12.2.5. Body Integrity Dysphoria


Die Body Integrity Dysphoria (in der Literatur meist als „Body Integrity Identity Disorder“ bezeichnet) ist eine seltene Störung. Die Betroffenen erleben ein
starkes Bedürfnis, Gliedmaßen amputieren zu lassen, das Rückenmark zu durchtrennen oder andere Funktionen zu beeinträchtigen (Hören, Sehen). Damit soll
eine Annäherung an den als „richtig“ erlebten Zustand erfolgen, der von anderen als Behinderung gesehen wird (Amputation, Querschnittlähmung,
Gehörlosigkeit, Erblindung). Manche Betroffene nutzen Hilfsmittel (Rollstühle, Prothesen, Blindenstöcke) oder binden sich den Arm auf den Rücken, um ein
Erleben der körperlichen Beeinträchtigung zu erzeugen. In seltenen Fällen suchen sie, z.  B. unter Verweis auf die gesellschaftliche Akzeptanz der „Gender
Dysphoria“, auch Ärzte auf, um diese für den erwünschten operativen Eingriff zu gewinnen. Es kann durch teilweise lebensgefährliche „Selbsthilfe“ auch zu
schweren Verletzungen (z.  B. Selbstamputation, inszenierte Unfälle, Unterkühlungen) kommen. Die Störung soll sich meist im Kindes- oder Jugendalter
manifestieren, die Ätiologie ist unbekannt. Ob es sich bei der seltenen Körperintegritätsidentitätsstörung um eine Krankheit handelt, ist umstritten. Eine
Aufnahme der Störung in das DSM-5® wurde abgelehnt, in die ICD-11 wurde sie aufgenommen. Formale diagnostische Kriterien wurden bislang nicht
veröffentlicht. Die Störung sollte jedoch nur diagnostiziert werden, wenn die Diskrepanz zwischen mentalem Selbstbild (z.  B. starkes Bedürfnis nach
Amputation) und körperlich gesundem Aussehen lang anhaltend ist und Betroffene das Bedürfnis als „unnormal“ und von der Umwelt nicht toleriert erkennen.
Eine psychotische Störung sollte ausgeschlossen werden. In einigen Fällen ist mit dem Wunsch nach Amputation auch eine erotische Komponente verbunden.
Spezifische therapeutische Ansätze liegen bisher nicht vor.
12.3. Artifizielle Störung
Die artifizielle Störung wird in der ICD-10 unter den sonstigen Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen klassifiziert (F 68.1), aber aufgrund der im
Vordergrund stehenden körperlichen Beschwerdesymptomatik hier unter den somatoformen Störungen abgehandelt. Andere Begriffe, mit denen diese
Störungen bezeichnet werden, sind die vorgetäuschte Störung (im DSM-5® unter der Kategorie der somatischen Belastungs- und verwandten Störungen
aufgeführt), das Münchhausen-Syndrom (veraltet), oder die Factitious Disease (ICD-11). Auch bei dieser seltenen Gruppe von Erkrankungen ist der Besuch
zahlreicher Ärzte und Krankenhäuser mit wechselnden, häufig ausgeprägten Symptomen und einer hohen Frequenz oft aufwendiger Untersuchungen typisch.
Die Betreffenden stellen sich fälschlicherweise als krank dar, simulieren Symptome oder fügen sich heimlich durch Selbstverletzungen oder andere
Manipulationen körperliche Symptome zu, mit dem Ziel, als organisch erkrankt zu gelten und entsprechend behandelt zu werden. Beispiele für solche
Verhaltensweisen sind das Schildern erfundener Krankheitssymptome oder die wiederholte Injektion pyogenen Materials (mit der Folge von rezidivierenden
Abszessen oder Fieber). Auch psychische Beschwerden können erfunden oder vorgetäuscht werden, z.  B. durch Anwendung von psychotrop wirksamen
Substanzen. Typischerweise werden die Symptome heimlich und wenigstens teilweise in einem Zustand qualitativer Bewusstseinsänderung
(Anspannungszustand, Dissoziation) erzeugt. Motive für das selbstschädigende Verhalten sind häufig der Wunsch nach Zuwendung und Mitgefühl durch
Professionelle im Gesundheitsdienst, wobei eine Erforschung dieser Patientengruppe schon deshalb erschwert ist, da sich die Patienten meist einer
psychiatrischen Behandlung entziehen.
Bei der vorgetäuschten Störung, anderen zugefügt (ICD-11 und DSM-5®; früher Münchhausen-by-proxy-Syndrom) kann es sich um kriminelles
Verhalten handeln. Hier werden die Symptome pflegenden Personen oder Kindern zugefügt, um diese scheinbar aufopferungsvoll zu betreuen und
gesellschaftliche Anerkennung zu erhalten.
Diagnostische Kriterien der artifiziellen Störung nach ICD-10:

• Anhaltende Verhaltensweisen, mit denen Symptome erzeugt oder vorgetäuscht werden, und / oder Selbstverletzungen, um Symptome
herbeizuführen.
• Es kann keine äußere Motivation gefunden werden (z. B. finanzielle Entschädigung, Flucht vor Gefahr, mehr medizinische Versorgung etc.). Wenn
ein solcher Hinweis vorliegt, sollte die Kategorie Z76.5 (Simulation) verwendet werden.
• Häufigstes Ausschlusskriterium: Fehlen einer gesicherten körperlichen oder psychischen Störung, welche die Symptome erklären könnte.

Die Ätiologie der Störung ist unklar. Viele Patienten waren als Kinder häufig erkrankt und in langwieriger medizinischer Behandlung, haben anderweitig
engeren Kontakt zu medizinischen Institutionen und Berufen oder weisen komplexe Traumatisierungen in der Kindheit auf. Die Störung beginnt oft im
Jugendalter und verläuft i. d. R. chronisch; die Prognose wird als ungünstig eingeschätzt. Die Komorbidität mit anderen psychischen Erkrankungen (affektive
Störungen, Suchterkrankungen, Essstörungen, Persönlichkeitsstörungen) ist hoch.

Literatur
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Stuttgart: Schattauer, S. 486–490.
26,45,235,84,40,64,159,49,222,57,18,131:WZ24wQd9D1ZgkzeocOuOZglha69sm2kj5BQtzDBiFEDJsUkKhhQkW623feBwViNG0xUhNZPCV4FuMKuo29nq/YEdDm7EgvXtbTFdyodZHVDI0q9TrrLAwTFqjZDW3lxenf0aG0Fp
KAPITEL 14

Impulskontrollstörungen
Oliver Tüscher

Sabine Frauenknecht

14.1. Einführung
Unter den Störungen der Impulskontrolle werden Verhaltensauffälligkeiten zusammengefasst, die wiederholt auftreten und deren Gemeinsamkeit
unkontrollierbare Impulse und Handlungen sind. Der Betreffende empfindet einen intensiven, unwiderstehlichen Drang, die entsprechende Handlung
auszuführen, und erlebt während der Tat ein Gefühl der Euphorie, der Lust oder Erleichterung. Dabei verfolgt er kein „vernünftiges“ Motiv im Sinne eines
längerfristigen Zieles, d.  h., die Episoden erbringen dem Betreffenden (außer einer kurzfristigen Bedürfnisbefriedigung) keinen persönlichen Nutzen oder
Gewinn, sondern fügen ihm selbst oder anderen Menschen Schaden zu.

14.1.1. Klassifikation
Die oben beschriebene allgemeine diagnostische Definition der ICD-10 birgt das grundlegende konzeptuelle Problem der bisherigen ICD-10-Kategorie F63.
Die ICD-10-Störungen der Impulskontrolle sind eine Sammlung von Verhaltensstörungen, denen zwar die oben beschriebenen impulsiven, kurzfristigen
Handlungs- und Emotionsmuster gemein sind, die sich aber in ihrer langfristigen syndromalen Ausprägung deutlich unterscheiden. So wird aus heutiger Sicht
in der ICD-10 nicht ausreichend zwischen heterogenen Krankheitsbildern  –  von den nicht stoffgebundenen Abhängigkeitserkrankungen (Syn.:
Verhaltensabhängigkeiten ➤ ; z.  B. pathologisches Glücksspielen F63.0) über die Impulskontrollstörungen im engeren Sinne (z.  B. intermittierende
explosible Störung F63.81) bis hin zu den Zwangsspektrumsstörungen (➤ ; z. B. Trichotillomanie, F63.3) – differenziert.
Dieser Widerspruch wird im DSM-5® und in der ICD-11 aufgelöst (➤ ) . Dort finden sich im Kapitel Impulskontrollstörungen nur die
Impulskontrollstörungen im engeren Sinne wie die pathologische Brandstiftung, das pathologische Stehlen, die intermittierende explosible Störung sowie
zusätzlich das nur in der ICD-11 beschriebene pathologische Sexualverhalten / Hypersexualität. Im DSM-5® sind die Impulskontrollstörungen Teil der neu
geschaffenen Kategorie der disruptiven, Impulskontroll- und Sozialverhaltensstörungen zusammen mit den Störungen des Sozialverhaltens (F91; Kapitel
„Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend“) und der antisozialen Persönlichkeitsstörung (F63.1; Kapitel
„Persönlichkeitsstörungen“). Dies folgt der Idee, dass den genannten Erkrankungen Störungen der Selbstregulation (also der Verhaltens- und  /  oder
Emotionskontrolle) zugrunde liegen, die sich bereits im Kindesalter entwickeln. Die Einteilung berücksichtigt dadurch auch neuere ätiologische Modelle, die
davon ausgehen, dass die Impulskontrollstörungen im engeren Sinne mit einem als ich-synton erlebten Empfinden vor, während und nach der impulsiven
Handlung einhergehen.

Tab. 14.1 Impulskontrollstörungen in den verschiedenen Diagnosemanualen


ICD-10 ICD-11 DSM-5®
F63.0 Pathologisches Spielen neu klassifiziert unter den nicht neu klassifiziert unter den nicht
stoffgebundenen Abhängigkeitserkrankungen stoffgebundenen Abhängigkeitserkrankungen
(➤ ) (➤ )

F63.1 Pathologische Brandstiftung Pyromanie Pyromanie

F63.2 Pathologisches Stehlen Kleptomanie Kleptomanie

F63.3 Trichotillomanie (zwanghaftes pathologisches neu klassifiziert unter den neu klassifiziert unter den
Haareausreißen) Zwangsspektrumsstörungen (➤ ) Zwangsspektrumsstörungen (➤ )

F63.81 Intermittierend explosibles Verhalten Intermittierende explosible Störung Intermittierende explosible Störung

F63.9 Pathologisches Kaufen Zwanghaftes Kaufen („compulsive buying- nicht aufgeführt


shopping disorder“)
Kategorisiert, aber nicht aufgeführt
Besprochen bei den nicht stoffgebundenen
Abhängigkeiten (➤ )

F63.9 / F52.7 Pathologisches Sexualverhalten Zwanghaftes Sexualverhalten („compulsive nicht aufgeführt


(Hypersexualität / gesteigertes sexuelles Verlangen) sexual behaviour disorder“)

Im Folgenden werden zunächst allgemeine Aspekte der Impulskontrollstörungen gemäß der ICD-11-Klassifikation vorgestellt, bevor auf die folgenden
Störungsbilder mit den noch gebräuchlichen ICD-10-Diagnosekriterien eingegangen wird:

• Pathologische Brandstiftung (Pyromanie)


• Pathologisches Stehlen (Kleptomanie)
• Pathologisches Sexualverhalten / Hypersexualität
• Intermittierende explosible Störung
• Substanzinduzierte Impulskontrollstörung

Entsprechend der neuen Zuordnung in der ICD-11 wird das in der ICD-10 noch den Impulskontrollstörungen zugeordnete pathologische Spielen bei den
nicht stoffgebundenen Süchten behandelt (➤ ) und die Trichotillomanie bei den Zwangsspektrumsstörungen (➤ ). Das pathologische Kaufen wird trotz anderer
Zuordnung bei insgesamt fehlender Aufnahme in die neuen Klassifikationssysteme bei den nicht stoffgebundenen Abhängigkeiten behandelt (➤ ).

14.1.2. Ätiologie
Die Ätiologie der Impulskontrollstörungen ist nicht geklärt. Faktoren, die bei der Entstehung wahrscheinlich eine Rolle spielen, sind:

• Lernprozesse: Aufrechterhaltung des Verhaltens durch positiv empfundene Gefühle wie Euphorie, Lust, Erleichterung, Spannungsabbau,
Beruhigung
• Persönlichkeitsfaktoren, z. B. die Neigung, neue Reize / Erregung zu suchen, um Langeweile zu verhindern
• Neurobiologische Faktoren: veränderte Aktivität des zerebralen Serotonin- und Dopaminsystems, Funktionsstörung der frontalen kortikostriatalen
Schleifensysteme, Komorbidität mit ADHS im Kindesalter

14.1.3. Diagnose und Differenzialdiagnose


Charakteristisch für die Impulskontrollstörungen sind das Fehlen eines Motivs (im Sinne eines langfristig zielgerichteten Verhaltens) sowie der typische
Spannungsaufbau und -abfall im Verlauf der durchgeführten Handlung.
Davon müssen Verhaltensweisen abgegrenzt werden, die mit Vorsatz, z.  B. mit dem Ziel der persönlichen Bereicherung (Glücksspiel, Stehlen), als
Mutprobe (Stehlen) oder aus Rache (Legen eines Feuers) ausgeführt werden. Ebenso muss ausgeschlossen werden, dass die beobachteten Verhaltensweisen
ausschließlich während der Episode einer anderen psychischen Erkrankung (z.  B. Brandstiftung bei paranoider Schizophrenie, exzessives Spielen im
Rahmen einer Manie) oder durch organische Faktoren (z. B. dopaminerge Medikation, Drogeneinnahme) aufgetreten sind (➤ ).

14.1.4. Therapie
Zur Behandlung von impulsivem Verhalten kommen psychotherapeutische und pharmakologische Interventionen infrage.
Als effektiv haben sich bei einzelnen Störungen verhaltenstherapeutische Techniken erwiesen, die sich an suchtspezifischen Methoden orientieren und
Elemente wie z. B. Strategien zur Verbesserung von Affektregulation und Selbstwahrnehmung, Strategien zur Identifikation automatisierter Handlungsabläufe
und dysfunktionaler Kognitionen sowie Entspannungsverfahren beinhalten.
Zur Pharmakotherapie können vorrangig Antidepressiva aus der Gruppe der selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRIs) empfohlen werden.
Diese Empfehlungen basieren allerdings auf i. d. R. nur kleinen RCTs. Zuverlässige Effektstärken (➤ ) können nicht angegeben werden.

14.2. Formen der Impulskontrollstörungen


14.2.1. Pathologische Brandstiftung (Pyromanie)
Symptomatik
Bei der Pyromanie empfinden die Betreffenden den unwiderstehlichen Drang, Feuer zu legen. Es kommt wiederholt zur versuchten oder vollendeten
Brandstiftung. Typischerweise beschäftigen sich die Betreffenden ständig mit den Themen Feuer, Feuerlegen oder Brand (z. B. auch mit Feuerwehrautos,
Brandbekämpfung, Rufen der Feuerwehr). Nicht selten sind sie Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr und u. U. sogar an Löscharbeiten bei von ihnen gelegten
Feuern beteiligt. Vor der Brandstiftung empfinden sie eine starke Spannung und Unruhe, die auch von Euphorie begleitet sein kann. Während der Tat erleben
die Betreffenden zumeist Lustgefühle oder einen Abfall der Anspannung. In der Regel können die Brandstifter kein Motiv für ihre Taten angeben und zeigen
sich angesichts der entstehenden Schäden emotional unbeteiligt.

Diagnostik und Differenzialdiagnostik


Pyromanie ist durch versuchte oder vollzogene Brandstiftungen ohne zielführendes Motiv (z. B. als politischer Akt, als Versicherungsbetrug, um Geld zu
beschaffen) gekennzeichnet, was sie von der viel häufigeren landläufigen Brandstiftung unterscheidet. Auch wenn die Handlungsimpulse spontan auftreten, so
sind die Handlungsausführungen häufig geplant und die Betroffenen zeigen sich emotional indifferent gegenüber den von ihnen verursachten Personen- oder
Sachschäden. Die diagnostischen Kriterien sind ➤ zu entnehmen.

Tab. 14.2 Diagnostische Kriterien für die pathologische Brandstiftung nach ICD-10 (F63.1)
A. Zwei oder mehrere vollzogene Brandstiftungen ohne erkennbares Motiv.

B. Die Betroffenen beschreiben einen intensiven Drang, Feuer zu legen, mit einem Gefühl von Spannung vorher und Erleichterung nachher.

C. Die Betroffenen sind ständig mit Gedanken oder Vorstellungen des Feuerlegens oder den Umständen des Feuerlegens beschäftigt (z. B. mit
übertriebenem Interesse an Löschfahrzeugen oder damit, die Feuerwehr zu rufen).

Epidemiologie, Verlauf und Komorbidität


Die Pyromanie ist sehr selten und betrifft sehr viel häufiger Männer (Männer / Frauen = 8 : 1); oft handelt es sich um sozial unterprivilegierte Personen
(niedrigere Gesellschaftsschicht, niedrigeres Bildungsniveau). Die Störung beginnt im Kindesalter und nimmt einen episodischen Verlauf mit längeren
symptomfreien Intervallen; überdies ist die Pyromanie häufig mit Störungen des Sozialverhaltens, Lernschwierigkeiten, ADHS, anderen
Impulskontrollstörungen, Intelligenzminderung und körperlichen Defiziten assoziiert.

Therapie
Für die seltene pathologische Brandstiftung liegen weder für die Psycho- noch für die Pharmakotherapie Daten zur Wirksamkeit spezifischer
Behandlungsverfahren vor. Aus Einzelfallberichten erscheinen Verhaltenstherapie in der Gruppe, grafische Interviewtechnik („line-graphing technique“) sowie
Psychoedukationsprogramme hilfreich.

14.2.2. Pathologisches Stehlen (Kleptomanie)


Symptomatik
Die Betroffenen erleben wiederholt den Drang, Diebstähle zu begehen, obwohl ihnen daraus weder ein persönlicher Nutzen noch eine Bereicherung
entsteht. Auch beim pathologischen Stehlen ist der typische Spannungsverlauf mit Erregung vor, Lustempfinden bei und Erleichterung nach der Tat zu
beobachten. Die Diebstähle werden von den Betreffenden als ich-dyston erlebt, d. h., sie sind sich darüber im Klaren, dass sie etwas Verbotenes oder Sinnloses
tun (➤ ).

Tab. 14.3 Diagnostische Kriterien für das pathologische Stehlen nach ICD-10 (F63.2)
A. Zwei oder mehr Diebstähle ohne das erkennbare Motiv, sich selbst oder andere zu bereichern.

B. Die Betroffenen umschreiben einen intensiven Drang zum Stehlen mit einem Gefühl von Spannung vor dem Diebstahl und Erleichterung nachher.

Diagnostik und Differenzialdiagnostik


Kleptomane Patienten berichten von spontanen, ungeplanten, unwiderstehlichen Impulsen zu stehlen. Wichtig in der Unterscheidung gegenüber
Ladendiebstahl und Taten von Patienten mit antisozialer Persönlichkeitsstörung ist die Tatsache, dass die Betroffenen für die Diebstähle kein Motiv (die
Objekte sind von geringem Wert oder für die Patienten finanziell erschwinglich) und auch keinen Nutzen haben; vielmehr werden die gestohlenen Gegenstände
ungenutzt gehortet. Im Laufe der Störung zeigen sich ein zunehmendes Verlangen, Toleranz und Entzugssymptome, sodass diese Störung eine gewisse Nähe
zu Verhaltensabhängigkeiten zeigt.

Epidemiologie, Verlauf und Komorbidität


Das pathologische Stehlen ist mit einer Lebenszeitprävalenz von 0,6 % sehr selten und beginnt häufig in der späten Adoleszenz. Obwohl Ladendiebstahl sehr
häufig vorkommt, ist nur ein geringer Teil der Diebstähle (4–24  %) durch eine Impulskontrollstörung bedingt. Frauen sind im Verhältnis von ca. 3 : 1
häufiger betroffen als Männer. Es kommen episodische und chronische Verläufe vor. Die Störung ist sehr häufig mit affektiven Störungen, Angststörungen,
Essstörungen, ADHS oder Persönlichkeitsstörungen assoziiert.

Therapie
Für das pathologische Stehlen liegen bezüglich psychotherapeutischer Methoden nur Einzelfallstudien vor, in denen spezielle Behandlungsmethoden wie die
imaginative Desensibilisierung und verdeckte Aversionstechniken erfolgreich angewandt wurden. Für die medikamentöse Behandlung der Kleptomanie besteht
Evidenz der Klasse Ib für die Wirksamkeit von Naltrexon. Für SSRIs konnte trotz positiver Einzelfallberichte keine Überlegenheit gegenüber Placebo
nachgewiesen werden.

14.2.3. Pathologisches Sexualverhalten (Hypersexualität)


Symptomatik
Pathologisches Sexualverhalten (Hypersexualität) zeichnet sich durch unkontrollierbare sexuelle Gedanken, Handlungen u n d Verhaltensweisen wie
zwanghafte Masturbation, impulsives promiskuitives Verhalten oder die zwanghafte Nutzung von Telefonsex und pornografischen Internetseiten aus. Die
sexuellen Impulse werden primär als ich-synton erlebt. Die Betroffenen können dem Verhalten trotz negativer interpersoneller Konsequenzen nicht
widerstehen. Negative (depressive, traurige), aber auch positive Stimmungslagen (Freude) oder Einsamkeitsgefühle können Auslöser der Impulse sein.

Diagnostik und Differenzialdiagnostik


Pathologisches Sexualverhalten hängt nicht mit Störungen der sexuellen Präferenz zusammen. Ähnlich wie pathologisches Spielen kommt pathologisches
Sexualverhalten gehäuft bei Morbus Parkinson vor, insbesondere unter dopaminerger Therapie. In der ICD-10 wurde die Störung nicht spezifisch definiert und
beschrieben (F63.9). In die ICD-11 wurde sie aber als „zwanghaftes Sexualverhalten“ („compulsive sexual behaviour disorder“) aufgenommen (➤ ). Da die
operationalisierten Diagnosekriterien der ICD-11 noch nicht vorliegen, sind in ➤ die 2013 erschienenen DSM-5®-Forschungskriterien für die Störung
aufgeführt.

Tab. 14.4 Forschungskriterien für das pathologische Sexualverhalten (Hypersexualität) nach DSM-5® (vorgeschlagene
Kriterien, Diagnose aber nicht aufgenommen)
A. Über mindestens 6 Monate wiederkehrende, intensive sexuelle Fantasien, sexuelle Impulse oder sexuelles Verhalten, das mit mindestens drei oder
mehr der folgenden Kriterien assoziiert ist:
A1. Der Zeitbedarf für sexuelle Fantasien, sexuelles Verlangen und die Durchführung sexueller Handlungen beeinträchtigt wiederholt andere,
nichtsexuelle Ziele, Aktivitäten und Verpflichtungen.
A2. Dysphorische Stimmungslagen (Angst, Depression, Langeweile, Reizbarkeit) führen zu wiederholter Beschäftigung mit sexuellen Fantasien,
Impulsen und Verhalten als Reaktion auf belastende Lebensereignisse.
A3. Wiederholte Beschäftigung mit sexuellen Fantasien, Impulsen und Verhalten in Reaktion auf belastende Lebensereignisse.
A4. Wiederholte, aber erfolglose Versuche, sexuelle Fantasien, Impulse und Verhalten zu kontrollieren oder signifikant zu reduzieren.
A5. Wiederholte Beschäftigung / Ausführung sexuellen Verhaltens, während derer möglicher körperlicher oder emotionaler Schaden für sich selbst oder
andere ignoriert wird.

B. Das klinisch wesentliche Leiden oder die Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen und anderen wichtigen Funktionsbereichen sind mit der
Häufigkeit und Intensität der sexuellen Fantasien, Impulse und Verhaltensweisen assoziiert.

C. Die sexuellen Fantasien, Impulse und Verhaltensweisen sind nicht substanz- (drogen- oder medikamenten-)bedingt.

D. Mindestalter von 18 Jahren.

In der ICD-10 wurde die Störung nicht spezifisch definiert und beschrieben (F63.9). Daher werden in ➤ die 2013 erschienenen DSM-5®-Forschungskriterien
für die Störung aufgeführt.

Epidemiologie, Verlauf und Komorbidität


Die Störung ist mit einer Lebenszeitprävalenz von 5–6 % häufig. Gesicherte Daten zu Beginn und Verlauf liegen nicht vor. Männer sind häufiger betroffen.
Das pathologische Sexualverhalten ist sehr häufig mit affektiven Störungen, Angststörungen, Substanzabhängigkeiten, ADHS oder Persönlichkeitsstörungen
assoziiert.

Therapie
Für das pathologische Sexualverhalten können keine auf Studienevidenz basierten Therapien empfohlen werden. Die angewandten Verfahren sind klinisch und
traditionell aus der Behandlung der Paraphilien, Sexualdelinquenzen und der Suchttherapie abgeleitet. Die K V T und verwandte Verfahren wie die
emotionsfokussierte Therapie werden häufig mit einer Pharmakotherapie kombiniert. Pharmakologisch kommen SSRIs oder Stimmungsstabilisierer zur
Anwendung, aber auch Antiandrogene (v. a. bei signifikanter Fremdgefährdung durch pathologisches Sexualverhalten).

14.2.4. Intermittierende explosible Störung


Symptomatik
Die Betroffenen zeigen wiederkehrende Episoden von verbaler und / oder körperlicher Gewalt, die nicht unterdrückt werden können. Die aggressiven
Impulse richten sich in der Regel gegen Dritte oder Gegenstände und sind hinsichtlich Heftigkeit und Ausmaß unverhältnismäßig zum auslösenden Anlass.
Vor einem aggressiven Ausbruch baut sich bei den Betroffenen starke innere Unruhe und Anspannung auf, denen während des Ausbruchs Gefühle der
Erleichterung oder sogar Lust folgen. Das impulsive Verhalten sowie die damit verbundenen finanziellen und rechtlichen Konsequenzen werden von den
Patienten als sehr belastend empfunden.

Diagnostik und Differenzialdiagnostik


Die aggressiven Episoden werden nicht ausschließlich durch eine andere psychische Störung, einen allgemeinen medizinischen Zustand oder Substanzgebrauch
verursacht. In der ICD-10 wurde die Störung nicht spezifisch definiert und beschrieben (Restkategorie F63.8). In die ICD-11 wurde die Störung aber
aufgenommen (➤ ). Da die operationalisierten Diagnosekriterien der ICD-11 noch nicht vorliegen, sind in ➤ die 2013 erschienenen DSM-5®-
Forschungskriterien für die Störung aufgeführt.
Tab. 14.5 Diagnostische Kriterien für das intermittierend explosible Verhalten nach DSM-5® („intermittent explosive
disorder“, IED) (F63.81)
A. Wiederkehrende Ausbrüche, in denen sich das Unvermögen, aggressive Impulse zu kontrollieren, ausdrückt durch entweder:
A1. verbale Aggression (z. B. Wutanfälle, verbale Auseinandersetzungen) oder körperliche Aggression, die im Mittel zweimal wöchentlich für
mindestens 3 Monate auftritt und nicht zur Zerstörung von Gegenständen und zur Verletzung von Personen führt
A2. drei Ausbrüche von Aggression gegen Gegenstände, Tiere oder Menschen innerhalb von 12 Monaten, bei denen es zu Beschädigung oder
Zerstörung bzw. zu Verletzungen kommt

B. Das aggressive Verhalten ist weit überproportional verglichen zur Größe / Bedeutung des auslösenden psychosozialen Stressors.

C. Die wiederkehrenden Verhaltensausbrüche sind nicht geplant und dienen keinem Zweck oder (längerfristigem) Ziel (z. B. Machtdemonstration, Geld,
Einschüchterung).

D. Die wiederkehrenden Verhaltensausbrüche führen zu deutlichem Leid oder Beeinträchtigungen in der sozialen Funktionsfähigkeit oder zu finanziellen
oder rechtlichen Konsequenzen.

E. Der Betroffene muss mindestens 6 Jahre alt sein (chronologisch oder entwicklungspsychologisch).

F. Die wiederkehrenden Verhaltensausbrüche können nicht besser durch eine andere psychische Störung erklärt werden, z. B. organisch-psychische
Störungen wie Demenzen (v. a. FTD oder frontales SHT), affektive Störungen (v. a. bipolare Störung), Persönlichkeitsstörungen (v. a. Borderline- oder
antisoziale PS) oder durch ein ADHS oder andere Impulskontrollstörungen. Beachte: Die Diagnose IED kann zusätzlich vergeben werden, wenn das
Ausmaß der wiederkehrenden aggressiven Verhaltensausbrüche die im Rahmen der führenden Diagnose zu erwartende Impulsivität übersteigt.

Epidemiologie, Verlauf und Komorbidität


Die intermittierend explosible Störung ist mit einer Lebenszeitprävalenz von 3 % häufig und betrifft häufiger Männer (Männer  /  Frauen = 2 : 1). Der
Verlauf der Störung ist episodisch oder chronisch-persistierend und beginnt in der Adoleszenz. Die intermittierend explosible Störung ist sehr häufig mit
affektiven Störungen, Angststörungen, Substanzabhängigkeiten, ADHS oder Persönlichkeitsstörungen assoziiert.

Therapie
Für das intermittierend explosible Verhalten ist die KVT als Kombination aus Einzel- und Gruppentherapie evidenzbasiert wirksam. Pharmakologisch
können – ebenfalls evidenzbasiert – SSRIs und Stimmungsstabilisierer eingesetzt werden.

14.2.5. Substanzinduzierte Impulskontrollstörung


Die substanzinduzierte Impulskontrollstörung ist, ebenso wie die anderen Impulskontrollstörungen, durch die Unfähigkeit des Patienten gekennzeichnet, für
sich oder andere schädliche Verhaltensimpulse zu unterdrücken. Es besteht allerdings der große Unterschied, dass die Verhaltensimpulse während oder kurz
nach der Intoxikation mit Substanzen wie Kokain oder Amphetaminen oder während des Entzugs von diesen Substanzen auftreten.
Zu den Substanzgruppen, bei denen substanzinduzierte Impulskontrollstörungen beschrieben sind, gehören:

• Kokain
• Stimulanzien wie Amphetamine, Methamphetamin oder Methcathinon
• Andere spezifische psychoaktive Substanzen (z. B. dopaminerge Substanzen wie L-Dopa)
• Andere unbekannte oder unspezifizierte psychoaktive Substanzen

Die Intensität oder die Dauer der Symptome ist wesentlich größer bzw. länger als die impulsiven Verhaltensweisen, die üblicherweise im Rahmen einer
Substanzintoxikation oder eines Substanzentzugs auftreten. Die eingenommene Substanzmenge und die Dauer des Substanzkonsums müssen ausreichend sein,
um Störungen der Impulskontrolle hervorrufen zu können.

14.3. Exkurs: Stalking


Verhaltensweisen, die mit dem Begriff Stalking bezeichnet werden, sind häufig und für den psychiatrisch Tätigen relevant. Psychiater und Psychotherapeuten
haben ein erhöhtes Risiko, Opfer von Stalking zu werden; umgekehrt werden sie in ihrer Tätigkeit häufiger mit Stalkingopfern und -tätern konfrontiert.
Stalking ist von engl. „to stalk somebody“ abgeleitet, was so viel bedeutet wie „sich an jemanden anschleichen oder anpirschen“. Damit wird ein Verhalten
bezeichnet, bei dem sich eine Person einem anderen Menschen gegen dessen Willen immer wieder nähert, ihn anspricht, ausspioniert, belästigt, verfolgt,
beschimpft oder bedroht. Die Kontaktaufnahme kann auch durch Telefonanrufe, Briefe oder E-Mails erfolgen. Der vom Stalking betroffene Mensch erlebt
dabei ein erhebliches Maß an Anspannung und Angst. In manchen Fällen mündet das Verhalten auch in gewalttätigen Übergriffen bis hin zur Tötung.
Die Angaben zur Häufigkeit von Stalking schwanken stark. In Deutschland sollen etwa 12 % der Bevölkerung einmal im Leben betroffen sein, darunter mit
ca. 87 % wesentlich mehr Frauen als Männer. 80 % aller Stalker sollen Männer sein, typischerweise im Alter zwischen 30 und 40 Jahren. Sie sollen häufiger
arbeitslos sein und als Single leben.
Eine kleine Gruppe von Stalkern entwickelt das auffällige Verhalten im Rahmen einer manifesten psychischen Erkrankung. Besonders häufig sollen dabei
die Diagnosen einer Suchterkrankung, affektiver und wahnhafter Störungen sowie sexueller Deviationen sein. Überdies sollen etwa drei Viertel aller Stalker
unter einer Persönlichkeitsstörung des Clusters B leiden. Ein hohes Risiko für gewalttätiges Verhalten besteht dann, wenn es sich bei dem Stalker um einen
früheren Partner des Opfers handelt oder wenn er sich gezielt aus sexuellen Motiven ein Zufallsopfer ausspäht.
Aufgrund der chronischen Belastung, die durch Stalking entsteht, entwickeln viele Opfer unspezifische Befindlichkeitsstörungen wie z.  B. ängstliche
Anspannung, Schlaf- und Appetitstörungen oder Schmerzsyndrome. Auch Depressionen u n d Angststörungen kommen gehäuft vor. Ein gewalttätiger
Übergriff kann zur Entwicklung einer posttraumatischen Belastungsstörung (➤ ) führen.

Praxistipp
Verhaltensratschläge für Stalking-Betroffene nach Dreßing (2019):

• Nur eine, dafür aber unmissverständliche Erklärung, dass kein Kontakt gewünscht wird
• Absolutes Ignorieren weiterer Kontaktangebote; nicht auf weitere Diskussionen einlassen (auch nicht bei Drohung mit Suizid u. Ä.)
• Briefe, Pakete, Geschenke u. Ä. nicht an den Stalker zurückschicken; Stalker im Unklaren darüber belassen, ob und wie seine Aktionen ankommen
• Herstellen von Öffentlichkeit, d. h. Nachbarn, Kollegen und Freunde informieren
• Dokumentation aller Vorkommnisse
• Bei Telefonterror: Telefon wortlos auflegen; alte Telefonnummer nicht abmelden, sondern die Stalking-Anrufe mit einem Anrufbeantworter
aufzeichnen; Anrufbeantworter nicht selbst besprechen; Entgegennahme erwünschter Gespräche unter einer Geheimnummer
• Frühzeitige Anzeige bei der Polizei
Literatur
Dreßing H (2019). Stalking. In: Berger M (Hrsg.). Psychische Erkrankungen. Klinik und Therapie. Online-Kapitel O5. 6. A. München: Elsevier Urban & Fischer.
Grant JE, Potenza MN (eds.) (2012). The Oxford Handbook of Impulse Control Disorders. Oxford, New York: Oxford University Press.
Tüscher O, Lieb K (2017). Impulskontrollstörungen. In: Möller H-J, Laux G, Kapfhammer H-P (Hrsg.). Psychiatrie, Psychosomatik, Psychotherapie. Heidelberg, New
York: Springer, S. 2345–2359.
Voderholzer U (2019). Abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle (ICD-10 F63). In: Voderholzer U, Hohagen F (Hrsg.). Therapie psychischer
Erkrankungen. State of the Art. 14. A. München: Elsevier Urban & Fischer, S. 425–435.
248,28,152,72,73,125,25,175,157,228,178,92:n/DVuAqS2z2Oxbvlx92JBq8T7dtMlIG0XzSG8dqy7eKEcYcxb0vPNbmex5ubhFDqJ3tCDvpFu96JogFV5SRtOu9Uar1jWIhp+9XuAMjEHbYu094OeV7Luc/iB8ZL/gAgyVzHVycXvU
KAPITEL 16

Sexuelle Funktionsstörungen,
Geschlechtsinkongruenz und Störungen der
Sexualpräferenz
Daniel Turner

Stefan Brunnhuber

16.1. Einführung
Die menschliche Sexualität ist ein komplexes Geschehen und kann daher auf unterschiedlichste Weise verändert oder gestört sein. Aktuelle repräsentative
Studien legen nahe, dass in der westlichen Welt ca. 40–45  % aller erwachsenen Frauen sowie ca. 20–30  % aller erwachsenen Männer zumindest einmal in
ihrem Leben über sexuelle Probleme klagen. Trotz dieser eindrücklichen Prävalenzzahlen nimmt die Versorgung sexueller Probleme in der psychiatrischen
Praxis nur eine untergeordnete Rolle ein.
Die menschliche Sexualität ist in besonderer Weise in den sozialen und kulturellen Kontext eingebunden und dadurch einem ständigen Wandel unterworfen.
In den letzten Jahren hat eine zunehmende Liberalisierung der Sexualität auch Einfluss auf die diagnostischen Kriterien in den gängigen Diagnosemanualen
(ICD und DSM) genommen.
Sowohl in der ICD-10 als auch in der ICD-11 und im DSM-5® umfassen die sexuellen Störungen folgende übergeordnete Syndromkategorien:

• Sexuelle Funktionsstörungen
• Störungen der Geschlechtsidentität / Geschlechtsinkongruenz
• Störungen der Sexualpräferenz / paraphile Störungen

Wichtigste Neuerung der ICD-11 gegenüber ihrer Vorgängerversion sind die Herausnahme der Sexualstörungen aus dem Kapitel 6 („Mental, behavioural or
neurodevelopmental disorders“) und die Schaffung eines eigenständigen Kapitels 17 mit dem Titel „Conditions related to sexual health“. Die paraphilen
Störungen verbleiben jedoch im Kapitel der psychischen Störungen. Weitere spezifischere Änderungen in der ICD-11 gegenüber der ICD-10 werden bei den
einzelnen Störungsbildern besprochen.

16.2. „Normale“ Sexualität und ihre Störungen


Physiologische Grundlagen der Sexualität
Die „normale“ sexuelle Reaktion verläuft in vier Phasen:

• Erregungsphase mit zunehmendem Lustgefühl und lokaler Vasokonstriktion,


• Plateauphase, wenn ein Erregungsgrad erreicht ist, bei dem es zum Orgasmus kommen kann,
• Orgasmusphase mit rhythmischer Kontraktion der Beckenmuskulatur und Ejakulation sowie
• Entspannungs- und Rückbildungsphase mit dem Gefühl der Befriedigung und einem Erregungsabfall.

Einen typischen Reaktionszyklus bei Mann und Frau zeigt ➤ . In neueren Modellen wird häufig vor der Erregungsphase noch eine Appetenzphase
angenommen, die das der Erregung vorausgehende sexuelle Verlangen beschreibt. Obwohl der sexuelle Reaktionszyklus bei Mann und Frau gleichermaßen
verläuft, findet man bei Frauen doch eine höhere Variabilität in der Ausprägung der einzelnen Phasen.
Abb. 16.1 Reaktionszyklus der Erregung: a) Weiblicher Reaktionszyklus mit Orgasmusmanschette b) Männlicher Reaktionszyklus (R =
Refraktärzeit) [M1010]

Die einzelnen Phasen des sexuellen Reaktionszyklus werden u. a. durch hormonelle Regulationsmechanismen bedingt und beeinflusst. Höhere Testosteron-
und Oxytocinspiegel führen bei Männern und bei Frauen zu einer Steigerung der sexuellen Appetenz und der sexuellen Erregung. Höhere Progesteron-,
Prolaktin- und Kortisol-Serumkonzentrationen gehen eher mit einer Abnahme sexueller Appetenz und Erregung einher. Daneben entfalten die
Neurotransmitter Dopamin und Serotonin einen wechselseitigen Einfluss auf die sexuelle Erregung. Dopamin hat i. Allg. eine erregungssteigernde Wirkung,
während Serotonin die sexuelle Erregung und auch die Erektions- und Ejakulationsfähigkeit überwiegend hemmt.

Sexuelle Orientierung
Die sexuelle Orientierung beschreibt die Anziehung durch das Geschlecht des Sexualpartners. Allgemein unterscheidet man zwischen heterosexueller
(gegengeschlechtliche Anziehung), homosexueller (gleichgeschlechtliche Anziehung) und bisexueller (auf beide Geschlechter gerichtet) Orientierung.
Mittlerweile ist jedoch allgemein akzeptiert, dass ein fließender Übergang zwischen diesen drei Kategorien besteht. Daher wird im wissenschaftlichen und
klinischen Kontext zur Erhebung der sexuellen Orientierung häufig die Kinsey-Skala eingesetzt (➤ ) . Die sexuelle Orientierung kann sich im Laufe des
Lebens immer wieder ändern, wobei ein Wechsel der sexuellen Orientierung bei Frauen häufiger beobachtet wird als bei Männern.

Abb. 16.2 Kinsey-Skala zur Erhebung der sexuellen Orientierung [T1027 / L231]

Repräsentative Angaben über die Verteilung und Häufigkeit der sexuellen Orientierungen in Deutschland liegen bislang nicht vor. Zahlen aus dem
angloamerikanischen Raum zeigen, dass mehr als 90 % der Männer und Frauen sich selbst als heterosexuell einschätzen. Etwa 5 % der Männer und 1 % der
Frauen schätzen sich selbst als homosexuell ein, 3–5 % als bisexuell und 1–2 % als keiner dieser drei Kategorien zugehörig.
Homo- und bisexuelle Menschen haben ein 2- bis 3-fach erhöhtes Risiko, an einer psychischen Erkrankung zu leiden. Dies gilt insbesondere für
Depressionen, Angststörungen, Abhängigkeitserkrankungen und Suizidversuche. Die Patienten leiden v. a. an der (vermeintlichen) Reaktion der Umwelt. Der
Leidensdruck entsteht in den allermeisten Fällen nicht primär aus der homo- oder bisexuellen Orientierung, sondern indirekt aus der gesellschaftlichen
Intoleranz und Stigmatisierung, die in den letzten Jahren jedoch erheblich nachgelassen hat. Dennoch bleibt zu berücksichtigen, dass die Homosexualität erst
1992 mit Einführung der ICD-10 von der Weltgesundheitsorganisation als Diagnose gestrichen wurde.

Störungen der Sexualität


Sexuelles Erleben und Verhalten sind störanfällig und sensibel. Während der psychosexuellen Entwicklung wie auch im Rahmen der Phasen des sexuellen
Reaktionszyklus können sich unterschiedliche Störungsbilder entwickeln. Störungen und Abweichungen der Sexualität sind in starkem Maße kultur- und
kontextabhängig und unterliegen zudem dem biopsychologischen Entwicklungsstand des Individuums (Pubertät, Senium).

Diagnostik sexueller Störungen


Die Diagnostik sexueller Störungen birgt viele Probleme und Schwierigkeiten. Da die eigene Sexualität für viele Menschen weiterhin ein mit Scham besetztes
Thema darstellt, wird man in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Praxis häufig mit sozial erwünschtem Antwortverhalten konfrontiert. Gleichermaßen
bestehen bei vielen klinisch tätigen Personen ein Schamgefühl und Unerfahrenheit in der Erhebung von und im Umgang mit sexuellen Problemen, was eine
strukturierte und zielführende Exploration zusätzlich erschwert. Diese Defizite bzw. Vorbehalte scheinen besonders ausgeprägt bei der Versorgung von
Patienten des anderen Geschlechts, bei Patienten unter 18 oder über 65 Jahren sowie bei nicht heterosexuellen Patienten.
Die Erhebung einer ausführlichen Sexualanamnese ist der erste und wichtigste Schritt in der Diagnostik sexueller Störungen. Diese sollte u.  a. folgende
Punkte beinhalten:

• Psychosexuelle Entwicklung und sexuelle Biografie (z. B. bisherige sexuelle Erfahrungen, sexuelle Aufklärung, sexuelle Traumatisierungen)
• Aktuelles Sexualverhalten und aktuelle Partnerbeziehungen
• Sexuelle Vorlieben / Abneigungen und Masturbationsfantasien
• Störungsspezifische Auffälligkeiten (z. B. Dauer der sexuellen Problematik, situativ vs. generalisiert, schleichender Verlauf vs. akutes Auftreten)
• Leidensdruck und / oder interpersonelle Probleme
• Subjektive Störungstheorie
Daneben sollte die initiale Exploration des Patienten auch Fragen nach Suchtmittelkonsum, chronischen körperlichen Erkrankungen, genitalen Erkrankungen
und Fehlbildungen, Schmerzsyndromen und regelmäßiger Medikamenteneinnahme einschließen. Laborchemisch sollten insbesondere Blutzuckerwerte, Lipide
und Hormon-Serumkonzentrationen berücksichtigt werden, um beispielsweise Stoffwechselstörungen (z.  B. Diabetes mellitus) und endokrinologische
Störungen (z.  B. Hypogonadismus, Prolaktinom) auszuschließen bzw. frühzeitig zu erkennen. In Einzelfällen kann die diagnostische Abklärung zum
Ausschluss somatischer Ursachen der sexuellen Problematik durch weitere organspezifische diagnostische Maßnahmen komplettiert werden (z.  B.
hirnbildgebende Methoden zur Sicherung eines Parkinson-Syndroms, einer Epilepsie oder eines Hirntumors).

16.3. Sexuelle Funktionsstörungen


Klassifikation
Sexuelle Funktionsstörungen verhindern die von der betroffenen Person gewünschte sexuelle Beziehung. Dies führt zu interpersonellen Problemen sowie
Leidensdruck. Grundsätzlich können dabei alle Funktionen ausfallen, geschwächt, krankhaft gesteigert oder verändert sein. Die sexuelle Funktionsstörung muss
hierbei mindestens 6 Monate andauern, um eine Diagnose nach ICD-10 oder DSM-5® stellen zu können. In Anlehnung an die Phasen der sexuellen Reaktion
lassen sich hier einzelne Störungsbilder zuordnen (➤ ).

Tab. 16.1 Einteilung der sexuellen Funktionsstörungen


ICD-10 ICD-11 DSM-5®

Appetenz

• Mangel oder Verlust von sexuellem Verlangen • Vermindertes sexuelles Verlangen • Störungen des sexuellen Interesses bzw. der Erregung
(F52.0) bei der Frau
• Sexuelle Aversion und mangelnde sexuelle • Störung mit verminderter sexueller Appetenz beim
Befriedigung (F52.1) Mann
• Gesteigertes sexuelles Verlangen (F52.7)

Erregung

• Versagen genitaler Reaktionen (F52.2): • Störung der sexuellen Erregung: • Störungen des sexuellen Interesses bzw. der Erregung
– Lubrikationsstörung bei der Frau – Störung der sexuellen Erregung bei bei der Frau
– Erektionsstörung beim Mann der Frau • Erektionsstörung
– Erektionsstörung beim Mann • Substanz- / medikamenteninduzierte sexuelle
Funktionsstörung

Orgasmus

• Orgasmusstörung (F52.3) • Orgasmusstörung • Verzögerte Ejakulation


• Ejaculatio praecox (F52.4) • Ejakulationsstörung • Weibliche Orgasmusstörung
• Vorzeitige Ejakulation
• Substanz- / medikamenteninduzierte sexuelle
Funktionsstörung

Sexuelle Schmerzstörungen

• Nichtorganischer Vaginismus (F52.5) • Sexuelle Schmerzstörung, bedingt • Genito-pelvine Schmerz-Penetrationsstörung


• Nichtorganische Dyspareunie (F52.6) durch Penetration (Dyspareunie / Vaginismus)

Epidemiologie
Sexuelle Funktionsstörungen gehören zu den häufigsten Beschwerden innerhalb der sexuellen Störungen. Epidemiologische Daten hängen stark von den
gewählten Stichproben und der Definition der sexuellen Funktionsstörungen ab. In der Allgemeinbevölkerung geben bis zu 22 % beider Geschlechter sexuelle
Funktionsstörungen an. Es gibt jedoch eindeutige Geschlechtsunterschiede bei den einzelnen Funktionsstörungen. Die Prävalenz in klinischen Populationen ist
deutlich höher als in der Allgemeinbevölkerung. Bei Frauen stehen Appetenz- sowie Orgasmusstörungen im Vordergrund, bei Männern hingegen dominieren
Erektionsstörungen und vorzeitiger Samenerguss.

Ätiologie
In den meisten Fällen spielen sowohl körperliche als auch psychosoziale Ursachen eine Rolle; beide können sich gegenseitig verstärken. Zu den häufigsten
somatischen Ursachen gehören vaskuläre Erkrankungen (z.  B. Hypertonus). Hinzu kommen endokrinologische Störungen (z.  B. Diabetes mellitus,
Akromegalie, Morbus Addison, Hypothyreose), neurologische Ursachen (z. B. Nervenschädigungen, Morbus Parkinson), Operationen im Urogenitalbereich,
Drogen- und Nikotinmissbrauch sowie Nebenwirkungen von Medikamenten (v. a. Psychopharmaka).
Daneben spielen psychische Faktoren eine wichtige Rolle. Meist sind es nicht isolierte und einmalige Erlebnisse, sondern die Kumulation mehrerer
Aspekte. Hierzu zählen: Selbstverunsicherung, kognitive Einstellungen, selbstverstärkende Versagensängste („performance anxiety“), Partnerschaftsprobleme,
hohe Leistungsanforderungen und mangelnde Lernerfahrungen. Weiterhin sind psychosexuelle Traumatisierungen (Missbrauch) und berufliche und
persönliche Stresssituationen zu nennen. Eine Ursachenspezifität lässt sich nicht ausmachen. Häufig ist das Störungsbild multifaktorieller Genese, die
schließlich durch Persönlichkeitsvariablen vermittelt wird.

Merke
Bei jüngeren Patienten sind als Ursache für die Entstehung sexueller Funktionsstörungen häufiger psychische Faktoren
zu finden; bei älteren Patienten werden diese dann durch organische Ursachen überlagert.

16.3.1. Sexuelle Appetenzstörungen


Im Vordergrund steht eine anhaltende Verminderung des sexuellen Verlangens mit daraus resultierender herabgesetzter oder vollständig fehlender sexueller
Fantasietätigkeit, sexueller Aktivität oder einer Gleichgültigkeit gegenüber der Sexualität. Die Appetenzstörung kann sich auch in Ekel, Angst, Sich-belästigt-
Fühlen und passivem Widerstand (sexuelle Aversion) äußern. Möglich ist auch, dass die sexuelle Reaktion normal verläuft und ein Orgasmus erlebt wird, eine
subjektiv empfundene sexuelle Befriedigung jedoch ausbleibt (mangelnde sexuelle Befriedigung). Appetenzstörungen sind bei Männern selten, stellen aber
gleichzeitig immer noch ein weitestgehend tabuisiertes Störungsbild dar, was wahrscheinlich zu einer Unterschätzung der tatsächlichen Prävalenz führt. Bei
Frauen stellt ein vermindertes sexuelles Verlangen die häufigste sexuelle Funktionsstörung dar. Bei beiden Geschlechtern findet sich mit steigendem
Alter eine Zunahme der sexuellen Appetenzstörungen, bei gleichzeitig abnehmendem Leidensdruck.
Im Gegensatz zu einer verminderten oder fehlenden Appetenz kann auch ein gesteigertes sexuelles Verlangen (Hypersexualität, Nymphomanie, Satyriasis)
als Problem geäußert werden (➤ ).
16.3.2. Erregungsstörungen
Man spricht beim Mann auch von erektiler Dysfunktion: Beim Versuch der Kohabitation liegt eine für den Geschlechtsverkehr in Dauer und Stärke nicht
ausreichende Erektion vor. Die erektile Dysfunktion ist die häufigste sexuelle Funktionsstörung des Mannes. Die Prävalenz der erektilen Dysfunktion in der
deutschen Allgemeinbevölkerung wird auf 15–20  % geschätzt. Mit zunehmendem Alter steigt die Prävalenz an. Man unterscheidet eine situative und eine
generalisierte Form:

• Bei der situativen Form zeigen sich die Erektionsprobleme primär beim partnerschaftlichen Geschlechtsverkehr, während bei der Masturbation i. d. 
R. eine ausreichende Erektion erreicht werden kann. Außerdem werden weiterhin morgendliche Erektionen erlebt. Bei dieser Form stehen
psychische Ursachen im Vordergrund.
• Bei der generalisierten Form erreichen die Betroffenen weder bei der partnerschaftlichen Sexualität noch während der Masturbation eine
ausreichende Erektion. Auch treten keine spontanen morgendlichen oder nächtlichen Erektionen mehr auf. Als primärer Grund können i. d. R.
körperliche Ursachen ausgemacht werden.

Bei der Frau entwickelt sich die Schwellkörper- und Lubrikationsreaktion nicht ausreichend. Häufig ist eine ausbleibende Lubrikation mit Schmerzen
während des Geschlechtsverkehrs verbunden. Die Prävalenz der weiblichen Erregungsstörungen liegt zwischen 3 und 7 %, wobei auch hier mit zunehmendem
Alter ein Anstieg der Prävalenz beobachtet werden kann.
Differenzialdiagnostisch ist immer auch an eine depressive Entwicklung, an Erkrankungen der Schilddrüse, gynäkologische oder urologische Störungen, an
Medikamentennebenwirkungen sowie an die Postmenopause zu denken.

Merke
Das Gegenteil der Erektionsstörung ist der Priapismus. Hierbei kommt es zu einer schmerzhaften, lang andauernden
Erektion. Ätiologisch kommen Medikamenteneinnahme, Leukämien (Thrombenbildung im Penisschwellkörper durch
erhöhte Zellzahl) sowie Komplikationen bei einer Schwellkörper-Autoinjektionstherapie infrage.

16.3.3. Orgasmusstörungen
Weibliche Orgasmusstörungen
Von einer Orgasmusstörung spricht man, wenn in über 50 % der sexuellen Kontakte der Orgasmus ausbleibt oder in seiner Intensität deutlich
herabgesetzt ist. Auch bei der Orgasmusstörung unterscheidet man ähnlich den Erregungsstörungen einen generalisierten und einen situativen Typ. Der
generalisierte Typ, bei dem auch während der Masturbation kein Orgasmus erreicht wird, ist jedoch eher selten und sollte an körperliche Ursachen (z.  B.
genitale Fehlbildungen, Chromosomenaberrationen) denken lassen. Die Orgasmusfähigkeit der Frau ist stärker als beim Mann von emotionalen und situativen
Einflüssen abhängig. Nur etwa 25 % der Frauen erreichen während des Geschlechtsverkehrs regelmäßig einen Orgasmus. Es besteht jedoch kein eindeutiger
Zusammenhang zwischen dem Orgasmus und einem erfüllten und befriedigenden Sexualleben. Emotionale Intimität, Nähe, tief erlebte Gefühle und
Zärtlichkeiten sind für ein glückliches Sexualleben mindestens genauso wichtig. So wird die Prävalenz der Orgasmusstörung, die mit einem persönlichen
Leidensdruck verbunden ist, auf 3–6 % geschätzt. Bei Orgasmusstörungen ist immer auch an Medikamentennebenwirkungen (➤Kap. 16.2.6) zu denken.

Männliche Orgasmusstörungen

Vorzeitiger Samenerguss: Ejaculatio praecox


Der Samenerguss erfolgt zu früh, d.  h., er tritt vor oder unmittelbar nach dem Einführen des Penis in das weibliche Genitale auf. In der ICD-10 wird ein
Zeitkriterium von 15  Sekunden angegeben. Außerdem sind Betroffene nicht in der Lage, die eigene Ejakulation zu kontrollieren. Um die Diagnose einer
Ejaculatio praecox stellen zu können, muss der vorzeitige Samenerguss bei den Betroffenen zu ausgeprägtem Leidensdruck und  /  oder interpersonellen
Problemen führen. Betroffene Männer beklagen häufig die Befürchtung, auch bei zukünftigen sexuellen Begegnungen die Ejakulation nicht ausreichend
verzögern zu können. Die Störung ist in den allermeisten Fällen psychisch bedingt. Häufig ist sie auch mit einer mangelnden Erektion und einer geringeren
Orgasmusfähigkeit verbunden.
Die Ejaculatio praecox gehört zu den häufigsten sexuellen Funktionsstörungen des Mannes. Repräsentative epidemiologische Studien zur Prävalenz der
Ejaculatio praecox liegen bislang nicht vor, sie wird aber auf 5–30 % geschätzt.

Verzögerter Samenerguss: Ejaculatio retarda


Die Ejaculatio retarda oder verzögerte Ejakulation ist eine weitaus seltenere Störung als die Ejaculatio praecox. Das entscheidende Merkmal ist eine deutliche
Verzögerung oder das komplette Unvermögen, trotz adäquater sexueller Stimulation eine Ejakulation zu erreichen. Bei betroffenen Männern findet man häufig
ausgeprägtes Vermeidungsverhalten. Die Prävalenz der Störung steigt mit zunehmendem Lebensalter an.

16.3.4. Sexuelle Schmerzstörungen


Vaginismus (Scheidenkrampf)
Es kommt beim Versuch, den Penis in die Scheide einzuführen, zu einer reflektorischen Anspannung der Scheide und der Beckenbodenmuskulatur.
Betroffene Frauen zeigen häufig ein ausgeprägtes Vermeidungsverhalten bzgl. sexueller Situationen, aber auch bzgl. gynäkologischer Untersuchungen.
Wichtig ist die Unterscheidung zwischen primärem (lebenslanges Auftreten) und sekundärem Vaginismus (erworben, z. B. nach der Geburt eines Kindes). Die
Einstellung des Partners ist bei der Entwicklung des Vaginismus von entscheidender Bedeutung: Ablehnendes und abwertendes Verhalten des Partners kann
die Störung mit beeinflussen. Die Orgasmusfähigkeit ist meist erhalten. Depression und Angststörungen finden sich häufig als komorbide psychische
Erkrankungen.

Dyspareunie
Man spricht auch von Algopareunie. Der sexuelle Verkehr ist mit Schmerzen, Brennen, Jucken verbunden und wird so oft unmöglich. Ausgeprägtes
Vermeidungsverhalten ist häufig. Ursächlich stehen Infekte und hormonelle Störungen im Vordergrund, aber auch Narben, Strikturen und postoperative
Zustände sind mögliche Ursachen. Die Dyspareunie kommt bei beiden Geschlechtern vor, ist jedoch bei Frauen viel häufiger und kann durch
Schmerzerwartungen chronifizieren.

16.3.5. Therapie
Bei sexuellen Funktionsstörungen ist nicht immer eine Therapie indiziert. Manchmal reicht auch ein aufklärendes und beratendes Gespräch aus. Sollten
jedoch ein relevanter Leidensdruck und / oder ausgeprägte interpersonelle Probleme vorliegen, kann der in ➤ dargestellte diagnostische und therapeutische
Algorithmus angewendet werden. Nach einer ausführlichen Diagnostik (Sexualanamnese, somatische Abklärung) sollte mit den Patienten ein
Behandlungsplan erstellt werden, in dem das therapeutische Setting (Einzel- und  /  oder Paartherapie) und die präferierte Behandlungsform
(psychotherapeutisch, pharmakologisch, Kombination) festgelegt werden.
Abb. 16.3 Diagnostischer und therapeutischer Algorithmus bei sexuellen Funktionsstörungen (nach Höhn und Berner 2013) [E1021 / L231]

Psychotherapie
Psychotherapeutisch stehen störungsspezifische Interventionen mit „übenden“ Verfahren in Verbindung mit interaktionellen und partnerschaftsorientierten
Maßnahmen im Vordergrund. Im Sensualitätstraining wird der Austausch von Zärtlichkeiten eingeübt. Insbesondere bei den sexuellen Erregungsstörungen
soll hierbei zunächst bearbeitet werden, welche sexuellen Stimuli die Patienten in ihrer Fantasie oder auch während der Masturbation als sexuell erregend
erleben. In einem zweiten Schritt kann in einem paartherapeutischen Setting überlegt werden, in welcher Form diese identifizierten Stimuli oder sexuellen
Praktiken in den partnerschaftlichen Geschlechtsverkehr eingebaut werden könnten.
Bei den Orgasmusstörungen sollte zunächst eine ausführliche psychoedukative Aufklärung stattfinden. Dies hilft, sowohl bei Männern als auch bei Frauen
unrealistische Erwartungen an die eigene sexuelle Leistung (z. B. bei Männern besonders ausdauernd zu sein; bei Frauen immer einen Orgasmus während des
Geschlechtsverkehrs erleben zu müssen) abzubauen. Daneben zeigen Masturbationsübungen die besten Effekte. Zunächst soll der eigene Körper besser
kennengelernt werden, um herauszufinden, welche Art der Stimulation während der Masturbation als sexuell erregend erlebt wird. Bei der Ejaculatio praecox
wird eine hohe Erfolgsquote mit der Start-und-Stopp-Technik nach Kaplan erreicht. Hierbei soll sich der betroffene Mann zunächst während der
Masturbation so lange stimulieren, bis er kurz vor der Ejakulation steht (Start), um dann die Stimulation zu beenden (Stopp), bis die Erregung abgebaut ist.
Dieser Vorgang wird mehrmals wiederholt, sodass der Mann lernt, den Punkt, an dem der Ejakulationsreflex ausgelöst wird, besser wahrzunehmen und zu
kontrollieren. Dabei soll die Stimulation stufenweise gesteigert werden: zunächst nur Masturbation, in der Folge Masturbation unter Einbezug der Partnerin / 
des Partners und im letzten Schritt Geschlechtsverkehr. Bei der Squeeze-Technik, einer Weiterentwicklung der Start-Stopp-Technik, wird der Penis kurz vor
der Ejakulation unterhalb der Eichel über mehrere Sekunden zusammengedrückt, um so einen schnelleren Erregungsabbau zu erreichen.
Bei Frauen mit sexuellen Schmerzstörungen zeigen Masturbationsübungen ebenfalls die besten Effekte. Hierbei kann auch auf sexuelle Hilfsmittel (z. B.
Vaginaldilatatoren) zurückgegriffen werden (→ Kasuistik).

Kasuistik
Eine 30-jährige Frau kommt erstmals zu Ihnen in die Sprechstunde. Sie berichtet, dass sie seit der Geburt ihres ersten Kindes vor etwa 2 Jahren keinen
Geschlechtsverkehr mehr mit ihrem Ehemann habe. Etwa 3  Monate nach der Geburt habe sie erstmals wieder Geschlechtsverkehr mit ihrem Ehemann
haben wollen, beim Eindringen seines Penis in ihre Vagina aber Krämpfe in der Beckenbodenmuskulatur bekommen, die mit starken Schmerzen verbunden
gewesen seien. Dies habe ein weiteres Eindringen unmöglich gemacht und so den Geschlechtsverkehr verhindert. Zunächst habe ihr Partner Verständnis
gezeigt, mittlerweile setze er sie aber zunehmend unter Druck, da er nicht nachvollziehen könne, wieso der Geschlechtsverkehr für sie auf einmal mit
Schmerzen verbunden und somit unmöglich sei. Die Patientin habe sich aufgrund dieser Problematik bereits bei ihrer Gynäkologin vorgestellt, die jedoch
keine körperliche Ursache für die Beschwerden feststellen konnte.
Sie erläutern der Patientin, dass es sich bei der reflektorischen Anspannung und Verkrampfung ihrer Beckenbodenmuskulatur während des
Geschlechtsverkehrs um einen Vaginismus (ICD-10 F52.5) handelt und dass dieser u.  a. nach der Geburt eines Kindes auftreten kann. Sie bitten die
Patientin, zum nächsten Termin ihren Ehemann mitzubringen. Auch dem Ehemann erklären Sie das Krankheitsbild und die möglichen Therapieoptionen
und bitten das Ehepaar am Ende des zweiten Termins, zunächst für einige Zeit auf Geschlechtsverkehr zu verzichten. Hierdurch fühlt sich die Patientin
bereits deutlich entlastet. In den folgenden Sitzungen erarbeiten Sie mit ihrer Patientin die Prinzipien der progressiven Muskelrelaxation nach Jacobsen. Im
nächsten Schritt bitten Sie die Patientin, zu Hause im Rahmen von Masturbationsübungen sexuelle Hilfsmittel (z. B. Vaginaldilatatoren) oder ihren Finger
in ihre Vagina einzuführen und dabei gleichzeitig die erlernte Entspannungstechnik anzuwenden. Nach und nach soll die Patientin die Größe des
eingeführten Dilatators steigern. Nachdem die Patientin während dieser Masturbationsstörungen keine Schmerzen mehr empfindet, empfehlen Sie dem
Ehepaar in einem erneuten paartherapeutischen Gespräch, wieder Geschlechtsverkehr zu praktizieren. Nach einigen Wochen berichtet Ihre Patientin, dass
sie mit ihrem Ehepartner nun wieder komplett schmerzfrei Sex haben könne und auch die Beziehung wieder deutlich harmonischer sei.

Von den genannten Behandlungsverfahren profitieren Frauen mit Vaginismus und Anorgasmie sowie Männer mit Ejaculatio praecox und Erektionsstörung
am meisten. Am wenigsten erfolgreich sind sie bei Appetenzstörungen. Insgesamt liegen die Erfolgsquoten bei 50–70  %. Hinweise zu Effektstärken der
genannten Verfahren sind uns nicht bekannt.

Pharmakotherapie
Pharmakologisch gelten PDE-5-Inhibitoren (z.  B. Sildenafil, Vardenafil, Tadalafil) als Mittel der 1. Wahl bei organisch bedingten Erektionsstörungen und
führen in 50–80  % der Fälle zum Erfolg (sehr große Effektstärke im Vergleich zu Placebo: 2,5). Ein weiteres Medikament ist der α 2 -Rezeptoren-Blocker
Yohimbin, der allerdings eine schwächere Wirksamkeit aufweist (niedrige Effektstärke gegenüber Placebo: 0,4). Schwellkörperinjektionen, Vakuumpumpe
sowie Penisimplantate können im Einzelfall bei erektiler Dysfunktion ebenfalls zum Einsatz kommen. Der Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI)
Dapoxetin ist zur Behandlung der Ejaculatio praecox zugelassen (sehr große Effektstärke im Vergleich zu Placebo: 1,5). Topische Anästhetika werden
ebenfalls im Off-Label-Bereich empfohlen. Weitere Ausführungen zu den genannten Medikamenten finden sich in ➤ . Für Therapieversuche mit Bupropion,
Testosteronsubstitution, DHEA und Flibanserin bei verminderter sexueller Appetenz liegen keine Daten vor, die eine Zulassung rechtfertigen würden.

16.3.6. Substanz- / medikamenteninduzierte sexuelle Funktionsstörungen


Im DSM-5® existiert eine eigene diagnostische Kategorie für sexuelle Funktionsstörungen, die am ehesten auf einen Substanz- oder Medikamentenkonsum
zurückzuführen sind. Die ICD-10 verlangt für eine solche Diagnose das gleichzeitige Vorliegen einer Substanzkonsumstörung. In der ICD-11 wird es, ähnlich
wie im DSM-5®, die Diagnose einer durch Substanz- oder Medikamentenkonsum verursachten sexuellen Funktionsstörung geben.
Alle Psychopharmaka können in unterschiedlicher Form und Schwere Auswirkungen auf die sexuelle Funktionsfähigkeit haben. Es besteht jedoch
keine eindeutige Dosis-Wirkungs-Beziehung. Sinnvoll ist die Unterscheidung zwischen Akut- und Dauerbehandlung. Während in der Akutbehandlung
sexuelle Funktionsstörungen durch die Gabe von Psychopharmaka eher gebessert werden (durch die Therapie der Grunderkrankung wie z. B. einer Depression,
die häufig mit sexuellen Funktionsstörungen einhergeht), kommt es bei der Dauerbehandlung zu einem Wechselspiel von Grunderkrankung und
Medikamentengabe. SSRIs und SSNRIs haben dabei die höchsten Nebenwirkungsraten (➤ ). Substanzen, die auch den postsynaptischen 5-HT 2 -Rezeptor
blockieren, wie z. B. Amitriptylin, die NaSSA (etwa Mirtazapin), Agomelatin oder Trazodon zeigen hierbei ein besseres Risikoprofil als SSRIs (➤ ). Unter
Trazodon wird sogar ein Priapismus als Nebenwirkung beschrieben. Am wenigsten sexuelle Funktionsstörungen zeigen Substanzen, die nicht über eine
Blockade der Serotonin-Wiederaufnahme wirken, wie z.  B. MAO-Hemmer, Bupropion und Agomelatin. Bei den Antipsychotika der 1. Generation geben
ebenfalls bis zu 50 % der Patienten sexuelle Funktionsstörungen an, wobei diese insbesondere auf eine Hyperprolaktinämie infolge der D 2 -Rezeptor-Blockade
zurückzuführen sind (➤ ). Antipsychotika der 2. Generation sind deutlich nebenwirkungsärmer. Am verträglichsten bzgl. der Sexualität erweisen sich hier v. a.
Quetiapin und Aripiprazol. Bei Stimmungsstabilisatoren werden v.  a. bei Carbamazepin und Lithium sexuelle Probleme berichtet. Valproat scheint ein
günstigeres Profil zu haben. Unter Benzodiazepinen sind ebenfalls sexuelle Funktionsstörungen von bis zu 50  % beschrieben worden. Neben den
Psychopharmaka lassen sich Veränderungen der Sexualität insbesondere unter einer Therapie mit Betablockern, Antidiabetika, Antithrombotika und Dopamin-
Agonisten beobachten. Suchtmittel mit einem Einfluss auf die Sexualität sind Alkohol, Opioide, Amphetamine und Kokain.
Tab. 16.2 Häufigkeit sexueller Dysfunktionen bei Psychopharmaka (nach Serretti und Chiesa 2009, 2011)
Medikamentenklasse Medikament Von sexuellen Dysfunktionen betroffene Patienten

Antidepressiva

SSRIs Sertralin 80 %

Citalopram 79 %

Paroxetin 71 %

Fluoxetin 70 %

Escitalopram 37 %

Fluvoxamin 26 %

SSNRIs Venlafaxin 80 %

Duloxetin 42 %

Trizyklika Imipramin 44 %

Clomipramin 41 %

NaSSA Mirtazapin 24 %

NDRI Bupropion 10 %

Andere Agomelatin 4 %

Antipsychotika

Thioridazin 60 %

Clozapin 52 %

Haloperidol 46 %

Risperidon 44 %

Olanzapin 40 %

Aripiprazol 28 %

Perphenazin 26 %

Ziprasidon 19 %

Quetiapin 17 %

Der Umgang mit substanz- oder medikamenteninduzierten sexuellen Funktionsstörungen erfordert ein individuelles Vorgehen. Neben einer „Wait and see“-
Strategie, insbesondere zu Beginn der Behandlung, können das vollständige Absetzen der Medikation (sog. „drug holiday“), eine Dosisreduktion oder auch
eine Umstellung auf Präparate mit geringerem Risikoprofil (Mirtazapin, Quetiapin, Bupropion) sinnvoll sein. In Einzelfällen hat sich auch eine Augmentation
(etwa mit Bupropion, Mirtazapin, Buspiron, Cyproheptadin) bewährt.

Merke
Alle Psychopharmaka können als potenzielle Nebenwirkung sexuelle Funktionsstörungen verursachen, was häufig zu
einem selbstständigen Absetzen der Medikation führt. Daher sollten Patienten vor Beginn der Therapie über diese
potenzielle Nebenwirkung aufgeklärt und während der Behandlung regelmäßig nach sexuellen Funktionsstörungen
gefragt werden. Beim Auftreten sexueller Funktionsstörungen unter der Behandlung mit Psychopharmaka kann eine
Dosisreduktion, eine Medikamentenumstellung oder das vollständige Absetzen der Medikation für einen bestimmten
Zeitraum („drug holiday“) erwogen werden.

16.4. Geschlechtsinkongruenz
Klassifikation
In der ICD-10 spricht man von Transsexualität, im DSM-5® von Geschlechtsdysphorie und in der ICD-11 von Geschlechtsinkongruenz (➤ ). Die ICD-10
fordert für die Diagnose Transsexualität, dass bei einer Person der Wunsch, im anderen Geschlecht zu leben, ein Gefühl des Unbehagens oder der
Nichtzugehörigkeit zum eigenen Geschlecht und der Wunsch nach hormoneller und chirurgischer Therapie vorliegen. In den letzten Jahren gab es vielfach
Kritik an den in der ICD-10 beschriebenen Diagnosekriterien und die Forderung nach der Entpathologisierung von Menschen, deren aktuelles
Geschlechtsempfinden nicht mit dem biologischen, bei Geburt zugewiesenen Geschlecht (auch Zuweisungsgeschlecht genannt) übereinstimmt. Im
Vordergrund der Kritik steht zum einen, dass die Formulierung „im anderen Geschlecht zu leben“ den Behandlungssuchenden nicht gerecht wird und ihre
Erlebensrealität nicht adäquat oder ausreichend beschreibt. Mittlerweile ist allgemein akzeptiert, dass es eine Vielfalt geschlechtlicher Identitäten gibt, die weit
über die zwei traditionellen Geschlechtsidentitäten (Mann und Frau) hinausgehen. Zum anderen richtet sich die Kritik an die Verschränkung der
Diagnosestellung mit geschlechtsangleichender hormoneller und  /  oder chirurgischer Behandlung. So kann zum derzeitigen Stand bei Personen, die eine
geschlechtsumwandelnde Operation ablehnen, aber dennoch eine deutliche und anhaltende Diskrepanz zwischen dem Zuweisungsgeschlecht und der psychisch
erlebten Geschlechtsidentität erleben, die Diagnose der Transsexualität nach ICD-10 nicht gestellt werden.
Tab. 16.3 Einteilung der Störungen der Geschlechtsidentität (ICD-10) / Geschlechtsinkongruenz (ICD-11) / 
Geschlechtsdysphorie (DSM-5®)
ICD-10 ICD-11 DSM-5®
• Transsexualismus (F64.0) • Geschlechtsinkongruenz • Geschlechtsdysphorie:
• Transvestitismus unter Beibehaltung beider Geschlechtsrollen (F64.1) – des Jugend- und Erwachsenenalters – bei Kindern
• Störung der Geschlechtsidentität des Kindesalters (F64.2) – in der Kindheit – bei Jugendlichen und Erwachsenen
• Sonstige Störungen der Geschlechtsidentität (F64.8) – nicht näher bezeichnet

In den diagnostischen Kriterien des DSM-5® wurde das Vorliegen eines Behandlungswunsches als obligates Diagnosekriterium entfernt. Die
Beschreibung „Geschlechtsinkongruenz“ stellt keine psychiatrische Diagnose dar. Erst wenn das persönliche Erleben mit einem klinisch relevanten
Leidensdruck einhergeht, kann nach DSM-5® die Diagnose einer Geschlechtsdysphorie vergeben werden, was zu einer weiteren Entpathologisierung beitragen
soll. In der ICD-11 ist geplant, noch einen Schritt weiter zu gehen und auch das Kriterium des Leidensdrucks nicht als obligates Diagnosekriterium
aufzunehmen. Dadurch könnte die Diagnose auch bei antizipiertem Leidensdruck oder zu dessen Prävention vergeben werden.
Besteht bei einem Betroffenen nur zeitweilig der Wunsch nach Zugehörigkeit zum anderen Geschlecht, z. B. durch Tragen gegengeschlechtlicher Kleidung,
ohne den gleichzeitigen Wunsch nach dauerhafter Geschlechtsumwandlung, wird in der ICD-10 ein Transvestitismus unter Beibehaltung beider
Geschlechterrollen (ICD-10: F64.1) diagnostiziert. Die sonstigen Störungen der Geschlechtsidentität (ICD-10: F64.8) umfassen alle Störungen, bei denen
sich die Betroffenen weder als Mann noch als Frau bzw. bei denen sie sich sowohl als Mann als auch als Frau erleben oder außerhalb der sozial etablierten
Geschlechterrollen von Mann und Frau leben möchten.

Ätiologie und Pathogenese


Die genaue Ätiologie ist weiterhin nicht bekannt. Es wird von einem multifaktoriellen Erklärungsansatz ausgegangen, bei dem psychologische (z. B. Körper-
und Beziehungserfahrungen), soziologische und biologische Faktoren (z. B. Veränderungen im Hormonprofil) eine Rolle spielen. Es besteht keine Beziehung
zur Intersexualität (Vorliegen biologischer Geschlechtsmerkmale beider Geschlechter).

Epidemiologie
In einer aktuellen Metaanalyse fand sich eine Prävalenz von 6,8 : 100.000 für die Mann-zu-Frau-Transsexualität und eine Prävalenz von 2,6 : 100.00 für die
Frau-zu-Mann-Transsexualität. Die Unterschiede werden durch die geringere Flexibilität der männlichen Rolle in unserer Gesellschaft erklärt, die eher den
Wunsch nach einem Geschlechtswechsel provoziert. Prävalenzstudien in Stichproben von Menschen mit einer Geschlechtsinkongruenz, in denen die selbst
wahrgenommene geschlechtliche Identität erhoben wurde, zeigen, dass sich etwa ein Drittel der Befragten als nicht einem der beiden klassischen Geschlechter
zugehörig empfinden. Dies unterstreicht die Vielfalt der geschlechtlichen Identitäten und die Dringlichkeit einer Überarbeitung der ICD-10-Kriterien.

Merke
Das Zuweisungsgeschlecht beschreibt das nach der Geburt zugewiesene Geschlecht. Die Zuweisung basiert i. d. R.
auf der Bestimmung der primären Geschlechtsmerkmale.
D i e Geschlechtsidentität bezeichnet die individuelle und subjektive Identifikation einer Person als männlich,
weiblich oder einer alternativen Kategorie zugehörig.
D i e Geschlechtsinkongruenz beschreibt die Diskrepanz zwischen dem Zuweisungsgeschlecht und der
Geschlechtsidentität. Ist die Geschlechtsinkongruenz mit signifikantem Leidensdruck verbunden, spricht man von
Geschlechtsdysphorie.

Symptomatik
Bei Erwachsenen mit Geschlechtsinkongruenz werden in unterschiedlichem Ausmaß Verhaltensweisen, Angewohnheiten und der Kleidungsstil übernommen,
die zur eigenen Geschlechtsidentität passen. Sollte ein Wunsch nach Geschlechtsangleichung bestehen, so lässt sich beobachten, dass Personen mit
männlichem Zuweisungsgeschlecht meist im Jugendalter mit der Rasur der Gesichts- und Beinbehaarung beginnen. Auch binden einige Personen ihren Penis
zurück. Personen mit weiblichem Zuweisungsgeschlecht bevorzugen weite Kleidung, damit die weibliche Brust nicht sichtbar wird, oder binden die Brust ab.
Personen, die sich einer alternativen Geschlechtsidentität zugehörig fühlen, d.  h. sich weder in einer stereotypen männlichen oder weiblichen
Geschlechtsidentität sehen, streben i. d. R. weniger Maßnahmen zur körperlichen Geschlechtsangleichung an.

Merke
Bei der Geschlechtsinkongruenz dient das mögliche Tragen von Kleidern des Gegengeschlechts nicht der sexuellen
Erregung.
Der Fetischismus ist eine Paraphilie. Hier dienen Gegenstände (z. B. Frauenschuhe, Latex) der sexuellen Erregung
(➤Kap. 16.4.4).
D e r Transvestitismus gilt ebenfalls als Paraphilie. Hier wird sexuelle Erregung durch das Tragen
gegengeschlechtlicher Kleidung erreicht. Es besteht dabei aber kein dauerhaftes Verlangen nach Zugehörigkeit zum
anderen Geschlecht (➤Kap. 16.4.4).

Differenzialdiagnose und komorbide psychische Erkrankungen


Differenzialdiagnostischen Überlegungen kommt aufgrund der juristischen, psychischen und biologischen Konsequenzen eine große Bedeutung zu. Zu denken
ist v. a. an transsexuelle Symptome bei Psychosen, fetischistischem Transvestitismus, Persönlichkeitsstörungen (v. a. Borderline-Störung). Abgegrenzt werden
muss das transsexuelle Syndrom von Hypogenitalismus und Intersexualität. Die Intersexualität beschreibt Personen, bei denen aufgrund der genetischen,
anatomischen und hormonellen Konstitution keine eindeutige Zuordnung zum männlichen oder weiblichen Geschlecht möglich ist.
Im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung zeigen Menschen mit einer Geschlechtsinkongruenz eine höhere Prävalenz an psychischen Erkrankungen. Im
Vordergrund stehen hierbei affektive Störungen, Angststörungen, Substanzmissbrauch und Suizidalität. Nach dem Minderheiten-Stress-Modell spielen bei
der Entstehung komorbider psychischer Erkrankungen insbesondere Diskriminierungs- und Ausgrenzungsprozesse eine Rolle.

Therapie
Die Behandlung der Geschlechtsinkongruenz bedarf i.  d.  R. einer multidisziplinären Therapie (u.  a. psycho- und psychopharmakotherapeutisch,
endokrinologisch, chirurgisch, dermatologisch). Psychotherapeuten sollten sich zunächst bewusst machen, dass „Heilung“ im eigentlichen Sinne kein primäres
Ziel der Behandlung von Menschen mit Geschlechtsinkongruenz ist. Vielmehr ist die Begleitung einer gelungenen Transition bzw. der Abbau der individuell
erlebten Geschlechtsinkongruenz und des daraus möglicherweise erwachsenden Leidensdrucks oberstes Ziel der Behandlung. Der Therapeut sollte die Vielfalt
geschlechtlicher Identitäten anerkennen und die Integration der individuellen Geschlechtsidentität in einer durch zwei normative Geschlechter dominierten
sozialen Umgebung fördern. Des Weiteren ist die Bearbeitung von Diskriminierungserfahrungen und daraus erwachsender psychischer Probleme und
Erkrankungen von großer Bedeutung. Empirische Untersuchungen bzgl. der Wirksamkeit unterschiedlicher Psychotherapieformen liegen bislang nicht vor.
Die Entscheidung über mögliche somatische, geschlechtsangleichende Behandlungen sollte von der Frage geleitet werden, welche Veränderungen des
Körpers die individuell erlebte Geschlechtsinkongruenz reduzieren können. Zur Verfügung stehen folgende somatische, geschlechtsangleichende
Behandlungen:

• Ausgehend von einem männlichen Zuweisungsgeschlecht: u. a. Androgensuppression und Östrogensubstitution, Entfernung der Hoden, Neubildung
weiblicher Geschlechtsorgane (z. B. Mamma-, Vulva- und Vaginalplastik), logopädische Modifikation der Stimmhöhe, Epilation der Gesichts- und
Körperbehaarung
• Ausgehend von einem weiblichen Zuweisungsgeschlecht: Testosteronsubstitution und Östrogensuppression, Mastektomie und Plastik des
männlichen Brustprofils, Tubektomie, Ovarektomie und Hysterektomie und die Neubildung männlicher Geschlechtsorgane (z. B. Phallusplastik,
Schwellkörper- und Hodenprothesen)

Hintergrundwissen
Transsexuellen-Gesetz (TSG) (1980)
Für eine Namenstandsänderung (§ 1) ist erforderlich, dass sich der Patient mindestens seit 3 Jahren nicht mehr dem ursprünglichen Geschlecht angehörig
fühlt und sich diese Zugehörigkeit nicht mehr ändern wird. Dem Gericht dienen hierbei zwei unabhängige Sachverständigengutachten als
Entscheidungshilfe. Für eine Personenstandsänderung (§ 8) war ursprünglich außerdem gefordert, dass sich der Patient einer geschlechtsumwandelnden
Operation unterzogen hat, dauerhaft fortpflanzungsunfähig und nicht verheiratet ist. Durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 2011
wurden die Forderungen nach Ehelosigkeit, Infertilität und geschlechtsumwandelnder Operation als verfassungswidrig erklärt, sodass für die
Personenstandsänderung seitdem die gleichen Voraussetzungen gelten wie für die Namen-standsänderung.
Insgesamt herrscht jedoch Einigkeit darüber, dass das TSG nicht mehr zeitgemäß ist. Insbesondere der hohe Verwaltungsaufwand, die langen
Wartezeiten und die Forderung nach zwei unabhängigen Sachverständigengutachten wurden vielfach kritisiert. In mehreren europäischen Ländern wird
bereits keine psychologische Begutachtung als Voraussetzung für eine Personenstands- oder Namensänderung mehr gefordert.

16.5. Störungen der Sexualpräferenz / paraphile Störungen


Klassifikation
Die große Bandbreite menschlicher Sexualität betrifft auch den Grenzbereich „normaler Sexualität“ und seine Abweichungen. Es muss jedoch berücksichtigt
werden, dass die Bewertung einer sexuellen Verhaltensweise als von der Norm abweichend einem dauerhaften gesellschaftlichen Wandel unterworfen ist und
nicht jedes von der Norm abweichende sexuelle Verhalten zwangsläufig Krankheitswert erlangt. Diesem Umstand Rechnung tragend, wurde mit der
Einführung des DSM-5® eine Unterscheidung zwischen Paraphilie und paraphiler Störung festgelegt, die auch in der ICD-11 übernommen werden soll. Nach
dem DSM-5® ist eine Paraphilie (griech.: „pará“ = abseits oder neben; „philía“ = Freundschaft und Liebe) gekennzeichnet durch ein intensives und
anhaltendes sexuelles Interesse, das kein sexuelles Interesse an genitaler Stimulation oder am Vorspiel für sexuelle Handlungen mit phänotypisch normalen,
körperlich erwachsenen, einwilligenden menschlichen Partnern ist. Um eine paraphile Störung diagnostizieren zu können, wird zusätzlich gefordert, dass das
sexuelle Verhalten

• gegenwärtig zu Leiden oder Beeinträchtigungen des Betroffenen führt oder


• mit einem persönlichen Schaden oder
• mit einem Risiko der Schädigung anderer verbunden ist.

Einen Überblick über die wichtigsten und häufigsten Paraphilien bzw. paraphilen Störungen, die auch gleichzeitig Berücksichtigung in der ICD und im DSM
finden, gibt ➤ . Anders als in der ICD-10 werden in der ICD-11 der Fetischismus, der fetischistische Transvestitismus (➤Kap. 16.4.4) und der sexuelle
Masochismus (➤Kap. 16.4.3) nicht mehr als eigenständige Diagnosen vertreten sein. Dies ergibt sich aus der Tatsache, dass diese Störungen nicht durch sich
selbst bereits zu Leidensdruck oder dysfunktionalem Verhalten führen (Fetischismus, fetischistischer Transvestitismus) bzw. sexuelle Verhaltensweisen
beschreiben, die i. d. R. von zwei einwilligenden Sexualpartnern ausgeführt werden (sexueller Masochismus). Sollten diese drei Paraphilien bei einer Person
dennoch zu Leidensdruck führen bzw. nicht einwilligende Personen umfassen, soll in der ICD-11 die Diagnose einer „anderen paraphilen Störung“ gestellt
werden. Des Weiteren fordert das DSM-5®, dass das paraphile Verhalten mindestens 6 Monate vorhanden gewesen sein muss, bevor eine Diagnose gestellt
werden kann. Dieses Zeitkriterium existiert in der ICD-10 bzw. ICD-11 nicht.

Tab. 16.4 Störungen der Sexualpräferenz / paraphile Störungen


ICD-10 ICD-11 DSM-5®
F65.0 Fetischismus Fetischistische Störung

F65.1 Fetischistischer Transvestitismus Transvestitische Störung

F65.2 Exhibitionismus Exhibitionistische Störung Exhibitionistische Störung

F65.3 Voyeurismus Voyeuristische Störung Voyeuristische Störung

F65.4 Pädophilie Pädophile Störung Pädophile Störung

F65.5 Sadomasochismus Sexuell sadistische Störung Sexuell sadistische Störung


Sexuell masochistische Störung

F65.8 Frotteurismus Frotteuristische Störung Frotteuristische Störung

F65.6 Multiple Störungen der Andere paraphile Störungen, die nicht zustimmende Personen Andere näher bezeichnete paraphile
Sexualpräferenz einschließen Störung
F65.8 Sonstige Störungen der Paraphile Störungen ohne andere Personen oder mit einwilligenden
Sexualpräferenz anderen

Ätiologie und Pathogenese


Bisher existiert keine übergeordnete Theorie zur Erklärung paraphiler Fantasien und Verhaltensweisen. Aus biologischer Sicht wurde insbesondere der
Einfluss von Testosteron und Serotonin diskutiert. Jedoch konnte keine direkte Beziehung zwischen veränderten Hormon- bzw.
Neurotransmitterkonzentrationen und der Entstehung einer paraphilen Störung nachgewiesen werden. Aktuelle Bildgebungsstudien deuten insbesondere auf
strukturelle und funktionelle Veränderungen im Frontal- und Temporallappenbereich bei Patienten mit einer paraphilen Störung hin, jedoch ließen sich auch
hier nur unspezifische und teilweise widersprüchliche Änderungen nachweisen.
Aus lerntheoretischer Perspektive werden entsprechend der klassischen Lerntheorie nach Bandura v. a. drei Prozesse unterschieden:

• Teilnehmendes Modelllernen (z. B. eigene, sexuelle Viktimisierung)


• Nicht teilnehmendes Modelllernen (z. B. durch Betrachtung paraphiler sexueller Verhaltensweisen bei anderen)
• Symbolisches Modelllernen (z. B. imaginative Ausgestaltung paraphiler Impulse).

Die Aufrechterhaltung paraphiler Verhaltensweisen wird zum einen durch positive Verstärkung erreicht (z. B. durch Ausleben paraphiler sexueller Interessen
oder durch Masturbation bis zum Orgasmus zu paraphilen sexuellen Fantasien), zum anderen aber auch durch negative Verstärkung, indem das Ausleben
paraphiler sexueller Interessen im Sinne eines Copingmechanismus mit einem Abbau von Depressivität oder Ängstlichkeit verbunden ist.

Epidemiologie, Komorbidität und Differenzialdiagnosen


Paraphile Störungen werden fast ausschließlich bei Männern gefunden. Die Störungen beginnen meist in der Pubertät oder im frühen Erwachsenenalter.
Verlässliche Zahlen über Häufigkeiten liegen nicht vor. Es wird jedoch geschätzt, dass paraphile sexuelle Interessen bei etwa 1–7  % der männlichen
Allgemeinbevölkerung vorliegen, wobei in diesen Untersuchungen das Kriterium des individuellen Leidensdrucks keine Berücksichtigung gefunden hat, sodass
nicht von paraphilen Störungen gesprochen werden darf. In forensischen Stichproben (z.  B. bei Sexualstraftätern) findet man Prävalenzraten für paraphile
Störungen zwischen 45 und 75  %, wobei pädophile und exhibitionistische Störungen am häufigsten vorkommen. Auch existieren bei Betroffenen häufig
mehrere paraphile Störungen nebeneinander.
Als komorbide psychiatrische Störungen finden sich am häufigsten Persönlichkeitsstörungen (v. a. antisoziale PS oder Borderline-Persönlichkeitsstörung),
affektive Störungen, Abhängigkeitserkrankungen oder eine Intelligenzminderung.
Differenzialdiagnostisch muss immer an paraphiles Verhalten im Rahmen von organischen Störungen gedacht werden. Wichtig sind hier v.  a.
frontotemporale Hirnläsionen einschließlich Morbus Pick oder auch die verschiedenen Parkinson-Syndrome. Auch psychotische Residualzustände können
Ursache paraphilen Verhaltens sein. Darüber hinaus existieren mittlerweile zahlreiche Fallbeschreibungen der Entstehung paraphilen Verhaltens unter
dopaminerger Therapie.

16.5.1. Exhibitionismus
Exhibitionistisch veranlagte Personen erreichen sexuelle Befriedigung durch anonyme Demonstration der eigenen Genitalien vor meist gegengeschlechtlichen
Fremden in der Öffentlichkeit. Das Zeigen der Genitalien wird meist von sexueller Erregung begleitet, und i. Allg. kommt es zu nachfolgender Masturbation.
Der innere Drang wird oft als schwer kontrollierbar und persönlichkeitsfremd empfunden. Exhibitionisten bleiben i.  d.  R. in ausreichender Entfernung von
ihrem Opfer und werden nicht handgreiflich. Eine komorbide antisoziale Persönlichkeitsstörung oder Alkoholkonsum erhöhen das Risiko von Straffälligkeit.
Meist entstehen nach der Tat quälende Schuldgefühle. Bestraft werden können exhibitionistische Handlungen nach § 183 StGB (Erregung öffentlichen
Ärgernisses).

16.5.2. Voyeurismus
Sexuelle Befriedigung wird dadurch erreicht, dass anderen Menschen bei sexuellen Aktivitäten oder intimen Tätigkeiten (z.  B. beim Entkleiden) zugesehen
wird, ohne dass die beobachtete Person sich dessen bewusst ist. Der Akt des Beobachtens ist meist mit sexueller Erregung und Masturbation verbunden. Die
Betroffenen entdecken ihr sexuelles Interesse am Beobachten anderer Personen meist im späten Jugendalter, wobei die Diagnose erst nach Erreichen der
Volljährigkeit gestellt werden sollte, um eine klare Abgrenzung von pubertätsbezogener sexueller Neugier zu schaffen. Häufig findet man exhibitionistische
und voyeuristische Tendenzen gemeinsam bei betroffenen Personen.

16.5.3. Sadomasochismus
Der Sadomasochismus umfasst zwei getrennte Störungsentitäten. Beim sexuellen Sadismus (Quälsucht) wird sexuelle Befriedigung und Erregung dadurch
erreicht, dass einer anderen Person Schmerzen zugefügt werden oder die andere Person während des sexuellen Aktes erniedrigt wird. Demgegenüber werden
beim sexuellen Masochismus (Lust am Leiden) die vom anderen zugefügten Schmerzen als sexuell erregend und befriedigend erlebt. Sadismus und
Masochismus gehören eng zusammen, und häufig werden beide Störungsbilder bei einer Person gefunden. Werden die sadomasochistischen sexuellen
Verhaltensweisen zwischen zwei einwilligenden Sexualpartnern ausgeübt und fehlt bei den Betroffenen der Leidensdruck, so sollte keine psychische Störung
diagnostiziert werden.
Als Extremvariante des sexuellen Sadismus gilt das sexuelle Tötungsdelikt. Insgesamt macht die Gruppe der sexuell motivierten Tötungen etwa 3–5 % aller
Morddelikte aus. Davon fällt der größte Teil jedoch auf Tötungen im Zusammenhang mit Impulsdurchbrüchen und Vergewaltigungen. Nur ein sehr kleiner Teil
der sexuell motivierten Tötungsdelikte betrifft die sexuell sadistischen Tötungen.
Der Sadismus ist beim Mann deutlich häufiger. Als einzige paraphile Störung lässt sich der sexuelle Masochismus bei Frauen häufiger finden als bei
Männern.

16.5.4. Fetischismus und Transvestitismus


Von Fetischismus spricht man, wenn leblose Objekte (v. a. Kleidung und Schuhwerk) zu sexueller Erregung führen. Weitere häufig zu findende Gegenstände,
die in den Sexualakt eingebaut werden und zu sexueller Erregung führen, sind solche aus Gummi, Plastik oder Leder.
Der fetischistische Transvestitismus gilt als Spezialform hierzu. Hierbei wird sexuelle Erregung durch das Tragen von Kleidung des anderen Geschlechts
(Crossdressing) erreicht.

16.5.5. Pädophilie
Unter Pädophilie versteht man die sexuelle Ansprechbarkeit im Sinne einer Neigung für das kindliche Körperschema; als Hebephilie bezeichnet man ein
sexuelles Ansprechen gegenüber dem jugendlichen Körperschema. Ein pädophiles sexuelles Interesse sollte nicht mit der Begehung von
Kindesmissbrauchsdelikten gleichgesetzt werden (➤ ). Wichtig ist, dass für die Diagnose einer pädophilen Störung die Person mindestens 16  Jahre alt und
mindestens 5 Jahre älter als das kindliche Opfer sein muss.

Box 16.1
Unterschiede: Pädophilie und Kindesmissbrauch
Es gibt Überschneidungen zwischen pädophilen Störungen und Sexualdelikten an Kindern. Der Anteil an Personen, die sich Sexualdelikten an Kindern
schuldig machen und zugleich eine pädophile Störung aufweisen, liegt bei ca. 40–50  %. Dabei kann bei etwa 15  % der Kindesmissbrauchstäter ein
ausschließlicher Typus gefunden werden. Bei den restlichen 60 % kindlichen Missbrauchs kommen die Täter meist aus dem familiären Umfeld des Opfers.
Dennoch stellt eine pädophile Störung den bedeutendsten Risikofaktor für die Begehung eines Kindesmissbrauchsdelikts dar. Weitere Risikofaktoren sind
antisoziale und impulsive Persönlichkeitseigenschaften, Intimitätsdefizite, hypersexuelle Verhaltensweisen, niedrige sozioökonomische Schicht und
Arbeitslosigkeit.
Die Täter sind in mehr als 90 % der Fälle männlich, wobei die Opfer überwiegend weiblich sind. In den deutschen Kriminalstatistiken werden ca. 15.000
Fälle pro Jahr gemeldet. Die Dunkelziffer liegt etwa um den Faktor 5 höher. Man schätzt, dass weltweit ca. 10–14 % aller Mädchen unter 18 Jahren und 5–
9 % aller Frauen über 18 Jahren zumindest einmal in ihrem Leben eine sexuelle Missbrauchserfahrung gemacht haben. Bei männlichen Jugendlichen liegt
die Rate bei 2–5 %.

In der Regel unterscheidet man einen ausschließlichen von einem nicht ausschließlichen Typus. Während beim ausschließlichen Typus sexuelle Erregung
ausschließlich durch Sexualverkehr mit Kindern oder Fantasien über Sexualverkehr mit Kindern erreicht werden kann, erreichen nicht ausschließlich
orientierte pädophile Patienten sexuelle Erregung auch durch sexuelle Kontakte mit erwachsenen Personen.
Des Weiteren sollte das primäre Geschlecht (männlich, weiblich oder beide Geschlechter) der Opfer berücksichtigt werden, da sich hieraus auch
therapeutische und kriminalprognostische Konsequenzen ableiten lassen. Pädophile Patienten mit vorwiegend männlichen Opfern zeigen häufiger einen
ausschließlichen Typus und haben ein höheres Risiko, die pädophilen Interessen in die Tat umzusetzen und somit eine Straftat zu begehen, wodurch auch ein
höherer Therapiebedarf besteht.
Letztlich sollte noch unterschieden werden, ob sich das pädophile sexuelle Interesse auf biologisch verwandte Kinder und Jugendliche bezieht (Inzest) oder
keine biologische Verwandtschaft zwischen Täter und Opfer besteht.
Es sind fast nur Männer betroffen. Die Präferenz manifestiert sich meist im jugendlichen Alter und verbleibt lebenslang, wobei derzeit diskutiert wird, ob die
pädophilen sexuellen Interessen durch therapeutische Prozesse auch verändert werden können. Diagnostisch kommen standardisierte Skalen wie die Screening
Scale for Pedophilic Interests (SSPI), die Penisplethysmografie mit Volumen- und Umfangmessungen bei visuellen und auditiven Stimuli sowie
neurokognitive Verfahren zum Einsatz, bei denen ein Zusammenhang zwischen Aufmerksamkeit und sexuellen Stimuli untersucht wird.
Kasuistik
Ein 25-jähriger Mann kommt erstmals zu Ihnen in die Sprechstunde. Der Patient arbeitet als Erzieher in einer Kindertagesstätte. Verschüchtert berichtet er,
dass er seit einigen Jahren Probleme habe, eine ausreichende Erektion zu erlangen, was ihn sehr belaste und letztlich auch dazu geführt habe, dass seine
Partnerin ihn vor einigen Monaten verlassen habe. Im Hinblick auf seine Sexualanamnese berichtet der Patient, dass Sexualität im Haus seiner Eltern ein
eher mit Scham besetztes und weitestgehend tabuisiertes Thema gewesen sei. Seine Ex-Lebensgefährtin habe er im Alter von 23 Jahren über das Internet
kennengelernt. Sie sei seine erste Beziehung gewesen, und er habe mit ihr auch erstmals Geschlechtsverkehr praktiziert. Während er zu Beginn der
Beziehung noch regelmäßig Sex mit seiner Ex-Lebensgefährtin gehabt habe, hätten sich bereits nach wenigen Monaten Erektionsprobleme eingestellt.
Auch hätte die Zuneigung zu seiner Partnerin schnell nachgelassen, und eigentlich habe er sie nie als wirklich attraktiv und sexuell anziehend empfunden.
Die Frage, ob er auch während der Masturbation Erektionsprobleme habe, verneint der Patient, berichtet aber sichtlich verschüchtert, dass er während der
Masturbation häufig an junge Mädchen aus seiner Kindertagesstätte denken müsse. Auch bei der Arbeit habe er sich schon einige Male dabei erwischt, wie
er eine Erektion bekommen habe, was ihm sehr unangenehm gewesen sei. Er selbst könne sich dieses Verhalten nicht erklären und leide sehr darunter.
Insbesondere habe er große Angst davor, seinen sexuellen Fantasien irgendwann nicht mehr widerstehen zu können.
Sie diagnostizieren bei dem Patienten eine Pädophilie (nicht exklusive, auf Mädchen gerichtete Form, ICD-10 F65.4) und empfehlen ihm, sich beim
nächstgelegenen Standort des „Kein-Täter-werden“-Präventionsnetzwerks vorzustellen (➤ ). Dort wird der Patient in das Therapieprogramm
aufgenommen. In wöchentlichen Gruppensitzungen lernt er zunächst, seine sexuelle Präferenz zu akzeptieren. In den Folgesitzungen wird die
Beziehungsfähigkeit zu gleichaltrigen Männern und Frauen bearbeitet und in der Interaktion mit den anderen Patienten eingeübt. Des Weiteren werden
potenzielle Risikosituationen identifiziert, und es wird schnell deutlich, dass seine derzeitige Arbeitsstelle eine solche darstellt. In den abschließenden
Sitzungen geht es insbesondere um die Stärkung der Motivation, auch in Zukunft deliktfrei zu leben, Risikosituationen zu vermeiden oder erfolgreich
bewältigen zu können und den Aufbau von Zukunftsperspektiven. Der Patient macht in der Folge eine Umschulung zum Informatiker, findet eine neue
Anstellung in einem IT-Unternehmen und lebt weiterhin deliktfrei.

16.5.6. Sonstige Störungen der Sexualpräferenz


Als seltene Ausdrucksform paraphiler menschlicher Sexualität sei noch der Frotteurismus genannt. Beim Frotteurismus erreicht eine Person sexuelle Erregung
durch das Berühren oder Sich-Reiben an einer nicht einwilligenden Person. Noch seltener findet man die Erotophonie (Telefonanrufe mit sexuellen und
anstößigen Inhalten), sexuelle Erregung durch sexuelle Kontakte mit Tieren (Sodomie), Leichen (Nekrophilie), Urin (Urophilie) oder Fäkalien (Koprophilie).

16.5.7. Therapie
Patienten mit paraphilen sexuellen Neigungen bedürfen nicht in allen Fällen therapeutischer Begleitung. Erst wenn eine Paraphilie zu signifikantem
Leidensdruck führt oder von der Paraphilie eine Gefahr für den Betroffenen selbst oder für andere ausgeht, sollten therapeutische Interventionen folgen.
Aufklärung, Information und Beratung können bereits eine hohe Entlastungsfunktion haben.
Die große Mehrzahl der psychotherapeutischen Konzepte beruht auf Erkenntnissen aus der Arbeit mit pädophilen Patienten. Psychotherapie mit paraphilen
Patienten kann häufig im Gruppensetting durchgeführt werden, da dies die Möglichkeit des Beziehungsaufbaus zu Patienten mit ähnlichen Problemen und zum
Lernen in Konfrontationsprozessen bietet. Wichtig ist auch die Einstellung der Therapeuten bzgl. der Veränderbarkeit paraphiler sexueller Interessen. Sowohl
aus klinischer als auch aus wissenschaftlicher Perspektive ist diese Frage noch nicht abschließend geklärt.
Psychotherapeutische Ansätze, bei denen die paraphilen sexuellen Interessen als unveränderbar angesehen werden, zielen eher auf eine Erhöhung der
Verhaltenskontrolle ab und bearbeiten die Inhalte der paraphilen sexuellen Interessen nur am Rande. Durch Stimuluskontrollmethoden soll der Patient für
Trigger und Auslösesituationen des paraphilen Verhaltens (z. B. Kinderspielplätze) sensibilisiert werden und diese dann vermeiden lernen. Des Weiteren ist v. 
a. die Bearbeitung von dysfunktionalen Kognitionen („Der andere will gequält werden“, „Kinder haben immer Spaß beim Sex“) wichtig.
Von Therapeuten, die paraphile sexuelle Interessen als veränderbar ansehen, wird u.  a. die Technik der masturbatorischen Sättigung nach Marshall
eingesetzt. Mit den Patienten wird zunächst die Fähigkeit erarbeitet, während der Masturbation aufkommende paraphile sexuelle Fantasien wegzuschieben und
durch nichtparaphile Fantasien zu ersetzen. Nach dem Orgasmus sollen sich die Patienten ihre paraphilen Fantasien wieder bewusst machen und diese laut
aussprechen, sodass die paraphilen sexuellen Fantasien mit der Refraktärphase assoziiert werden und im optimalen Fall dadurch deren Löschung bewirkt wird.
Die Mehrzahl der psychotherapeutischen Verfahren zur Rückfallprävention bei Sexualstraftätern basiert auf einem dreistufigen Vorgehen:

1. Aufbau einer therapeutischen Beziehung, Entwicklung und Steigerung der Behandlungsmotivation


2. Entschärfung dynamischer Risikofaktoren (z. B. dysfunktionale Kognitionen, Selbstregulationsprobleme, Intimitätsdefizite) und Aufbau von
Ressourcen
3. Entwicklung von Zukunftsplänen und Erarbeitung eines individuellen Rückfallvermeidungsplans

Menschen mit einer pädophilen Störung berichten i.  d.  R. große Angst vor Stigmatisierung, weshalb sich viele Patienten auch keine therapeutische Hilfe
suchen und eine Psychotherapie häufig erst nach der Begehung eines Sexualdelikts gerichtlich auferlegt bekommen. Das deutschlandweite Netzwerk „Kein
Täter werden“ bietet in diesem Zusammenhang Anlaufstellen für Menschen mit einer pädophilen Störung, die bisher noch kein strafrechtlich relevantes
sexuelles Verhalten gezeigt haben (➤ ).

Box 16.2
Deutschlandweites „Kein Täter werden“-Netzwerk
Das Präventionsnetzwerk „Kein Täter werden“ ( ) bietet deutschlandweit an mittlerweile 12 Standorten ein durch die Schweigepflicht geschütztes und
kostenfreies Behandlungsangebot für Menschen, die sich sexuell zu Kindern hingezogen fühlen, aber noch nicht wegen eines sexuellen
Kindesmissbrauchsdelikts oder wegen des Konsums von Missbrauchsabbildungen in den Fokus der Strafverfolgungsbehörden gerückt sind. Ziel des
Programms ist die Verhinderung von zukünftiger sexueller Straffälligkeit.
Das Therapieprogramm wird einmal wöchentlich im gruppentherapeutischen Setting durchgeführt. Zu Beginn des Therapieprogramms sollen die
Akzeptanz und der Umgang mit der sexuellen Präferenz bearbeitet und gefördert und den Teilnehmern in der Folge effektive Strategien zur Kontrolle ihrer
sexuellen Impulse gegenüber Kindern vermittelt werden. Zu den therapeutischen Inhalten zählen die Stärkung von Ressourcen, die Bearbeitung von
Selbstwertproblemen, die Verbesserung der Beziehungsfähigkeit, die Entwicklung von Zukunftsperspektiven, das Erkennen und Bewältigen von
Risikosituationen sowie die Stärkung der Motivation, das eigene Verhalten dauerhaft kontrollieren zu können.
In Einzelfällen kann die Gruppentherapie durch einzel- und / oder paartherapeutische Sitzungen unterstützt werden. Bei besonders ausgeprägter sexueller
Dranghaftigkeit können unterstützend auch pharmakologische Therapien zum Einsatz kommen.

Auch pharmakologische Therapieverfahren kommen in der Behandlung von paraphilen Störungen zum Einsatz (s.  a. ➤ ). Hierbei muss jedoch
berücksichtigt werden, dass die Pharmakotherapie keinen Einfluss auf den Inhalt einer paraphilen Störung hat, sondern lediglich über eine allgemeine
Verringerung der sexuellen Appetenz bzw. der sexuellen Funktionsfähigkeit auch zu einer Abnahme der Dranghaftigkeit paraphiler Vorlieben führt. Aktuelle
Leitlinien orientieren sich bei der Auswahl der geeigneten Therapie insbesondere am individuellen Risiko, eine Sexualstraftat zu begehen. Bei Personen mit
einer paraphilen Störung ohne Risiko für die Begehung einer Sexualstraftat (z.  B. Fetischismus) sollen ausschließlich psychotherapeutische Verfahren zum
Einsatz kommen. Mit steigendem Risiko sollen zunächst SSRIs (in einer für Zwangsstörungen typischen Dosierung) eingesetzt werden, gefolgt von
Cyproteronacetat und zuletzt LHRH-Analoga:

• Cyproteronacetat ist ein synthetischer Testosteron-Antagonist und führt über eine kompetitive Testosteron-Rezeptor-Blockade zu einem deutlichen
Rückgang von sexueller Appetenz, Erregung und Ejakulationsfähigkeit. Die Verträglichkeit ist gut und der Zustand reversibel. Die Applikation
erfolgt oral oder i. m. Die empfohlene Dosierung hängt von dem individuellen Risiko der Patienten ab (oral: 50–300 mg / d; i. m.: 200 mg 1 × / 
Woche oder 400 mg alle 2 Wochen). In zwei RCTs aus den 1980er- und 1990er-Jahren wurde eine überlegene Wirksamkeit von Cyproteronacetat
gegenüber Placebo bzgl. der Reduktion paraphiler sexueller Fantasien und Verhaltensweisen nachgewiesen (Stichprobengröße jedoch in beiden
Studien unter 20 Teilnehmern).
• LHRH-Analoga führen über eine dauerhafte Stimulierung an LHRH-Rezeptoren in der Hypophyse nach etwa 2 Wochen zu einer Herunterregulation
dieser Rezeptoren, wodurch in der Folge in der Peripherie kein Testosteron mehr gebildet und ausgeschüttet wird. LHRH-Analoga sollten der
Behandlung schwerster paraphiler Störungen vorbehalten sein, da sie zu einer vollständigen Aufhebung jeglicher sexueller Funktionsfähigkeit
führen. Die Applikation erfolgt i. m. als 3-Monats-Depot (11,25 mg alle 3 Monate). Wirksamkeitsnachweise aus RCTs liegen nicht vor.

Sowohl Cyproteronacetat als auch LHRH-Analoga weisen zahlreiche Nebenwirkungen auf, u.  a. Gewichtszunahme, Depression, Abnahme der
Knochendichte, Gynäkomastie, thrombembolische Ereignisse, Leberschädigungen, Hypertonus und Hitzewallungen.
Auch verschiedene Antipsychotika der 1. und 2. Generation führen zu einer Abnahme der Libido, werden von aktuellen Leitlinien aber nicht mehr zur
Behandlung von paraphilen Störungen empfohlen.

Literatur
Beier KM, Bosinski HAG, Loewitt K (Hrsg.) (2005). Sexualmedizin. München: Elsevier Urban & Fischer.
Berner M, Briken P (Hrsg.) (2013). Praxisbuch Sexuelle Störungen: Sexuelle Gesundheit, Sexualmedizin, Psychotherapie Sexueller Störungen. Stuttgart: Thieme.
Höhn C, Berner M (2013). Sexuelle Funktionsstörungen. In: Berner M, Briken P (Hrsg.). Praxisbuch Sexuelle Störungen: Sexuelle Gesundheit, Sexualmedizin,
Psychotherapie Sexueller Störungen. Stuttgart: Thieme, S. 101–127.
Masters WH, Johnson VE (1970). Human Sexual Inadequacy. Boston: Little Brown & Co. (dt.: Morgenthaler F (1987). Homosexualität – Heterosexualität – Perversion.
Frankfurt/M.: Fischer).
Masters WH, Johnson VE (1973). Impotenz und Anorgasmie. Stuttgart: Goverts, Krüger & Strahlberg.
Nieder TO, Briken P, Güldenring A (2016). Geschlechtsinkongruenz, -dysphorie und Trans*-Gesundheit. Eine aktuelle Übersicht zur Diagnostik und Behandlung. InFo
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Serretti A, Chiesa A (2009). Treatment-emergent sexual dysfunction related to antidepressants: a meta-analysis. J Clin Psychopharmacol 29(3): 259–266.
Serretti A, Chiesa A (2011). A meta-analysis of sexual dysfunction in psychiatric patients taking antipsychotics. Int Clin Psychopharmacol 26(3): 130–140.
Sigusch V (Hrsg.) (2001). Sexuelle Störungen und ihre Behandlung. Stuttgart: Thieme.
Sigusch V (2005). Praktische Sexualmedizin: Eine Einführung. Köln: Deutscher Ärzteverlag.
Voderholzer U, Hohagen F (2018). Therapie psychischer Erkrankungen: State of the Art. München: Elsevier Urban & Fischer.
KAPITEL 17

Schlafstörungen
Ulrich Voderholzer

Sabine Frauenknecht

17.1. Einführung
17.1.1. Schlaf als biologischer Mechanismus
Der Schlaf als biologischer Mechanismus gehört zu den überlebensnotwendigen Bedürfnissen des Menschen. Er äußert sich als Bewusstseinsminderung, die
jederzeit durch innere oder äußere Reize beendet werden kann. Es treten typische vegetative Veränderungen auf: Herz- und Atemfrequenz sowie
Muskelspannung nehmen ab, Blutdruck und Körpertemperatur sinken, während bestimmte endokrine Systeme nachts eine deutlich höhere Aktivität aufweisen
als im Wachzustand. Auf den ersten Blick scheint der Schlaf ein evolutionsbiologisch ungünstiger Zustand zu sein, da sich ein schlafendes Lebewesen erhöhter
Gefahr aussetzt: So drohen Tod oder Verletzung durch den Angriff von Feinden, durch Hitze oder Kälte bzw. Schäden durch Wahrnehmungs- oder
Verhaltensfehler. Dass sich der Schlaf entwicklungsgeschichtlich dennoch durchgesetzt hat, wird damit erklärt, dass die Vorteile dieser biologischen Funktion
gegenüber ihren Nachteilen überwiegen.
Allerdings sind die vielfältigen Aufgaben des Schlafs bislang nur teilweise erforscht. Neben der Entspannung und „Entmüdung“ des Körpers sind bestimmte
Schlafphasen höchstwahrscheinlich für Lern- und Gedächtnisleistungen, für die Funktion des Immunsystems sowie für regenerative Prozesse des Stoffwechsels
von Bedeutung.

Physiologie des Schlafs

Schlafstadien
Auf biologischer Ebene stellt sich der menschliche Schlaf als zyklische Abfolge bestimmter Schlafstadien dar. Diese werden bei der Untersuchung im
Schlaflabor polysomnografisch erfasst. Die Polysomnografie zeichnet kontinuierlich die Hirnaktivität mithilfe eines Elektroenzephalogramms (EEG), die
Muskelspannung im Elektromyogramm (EMG) und die Augenbewegungen durch ein Elektrookulogramm (EOG) auf. Zusätzlich können weitere Parameter
wie z. B. Herztätigkeit, Atembewegungen, Sauerstoffsättigung und Beinaktivität registriert werden (➤ ).
Man unterscheidet insgesamt fünf Schlafstadien: zum einen die Non-REM-Schlafstadien, d.  h. die Schlafstadien 1 bis 4, zum anderen den REM-Schlaf
(REM: „rapid eye movement“).
Während das EEG eines gesunden Probanden im Wachzustand von α- und β-Aktivität dominiert wird, treten beim Übergang zum Schlafen typischerweise
Deltawellen auf (Stadium 1). Der eigentliche Schlafbeginn (Stadium 2) ist durch das Auftreten von sogenannten Schlafspindeln, Vertexwellen und κ-
Komplexen charakterisiert. Der Leichtschlaf (Stadium 1 und 2) nimmt etwa 55–60  % der Gesamtschlafzeit ein. Stadium 3 und 4 werden auch als
Tiefschlafphasen bezeichnet; auf sie entfallen 15–25 % der Gesamtschlafzeit. Die Weckbarkeit nimmt vom Stadium 1 zum Stadium 4 hin ab.
Die REM-Phase wird auch als paradoxer oder aktiver Schlaf bezeichnet, da hier im Vergleich zu den anderen Schlafstadien Herzaktivität, Atemtätigkeit
und Hirndurchblutung gesteigert sind, die Weckschwelle jedoch so hoch ist wie im Tiefschlaf. Beim Aufwecken aus dem REM-Schlaf werden sehr viel
häufiger Träume erinnert als nach dem Erwachen aus Non-REM-Schlaf-Stadien. Die Trauminhalte sind i. d. R. sehr plastisch und emotional, sie werden gegen
Morgen hin oft bizarr und immer weniger realitätsbezogen. Etwa 20–25 % der Gesamtschlafdauer entfallen auf das REM-Stadium, wobei Anteil und Dauer
des REM-Schlafs in der ersten Nachthälfte noch gering sind, jedoch im Verlauf der Nacht zunehmen (➤ ).
Abb. 17.1 Darstellung der verschiedenen Schlafstadien; P: parietale Ableitung, O: okzipitale Ableitung [R378 / L141]

Ein Schlafzyklus beginnt bei einem gesunden Menschen zunächst mit einem oberflächlichen Schlaf (Stadien 1 und 2), dem eine Tiefschlafperiode folgt
(Stadien 3 und 4). Der daran anschließende REM-Schlaf beendet den Zyklus. Während des Nachtschlafs werden insgesamt 4–6 dieser Zyklen durchlaufen (➤ ).
Abb. 17.2 Schlafprofil eines jungen, gesunden Menschen [T1028]

Entwicklung des Schlafs in Abhängigkeit vom Lebensalter


Die Verteilung von Schlaf- und Wachphasen, die Gesamtschlafzeit pro Tag sowie die Anteile von Non-REM- und REM-Schlaf ändern sich im Laufe des
Lebens: Beim Neugeborenen wiederholen sich Schlaf-Wach-Zyklen alle 3–4 h. Der REM-Schlaf hat an der Gesamtschlafzeit von etwa 16 h mit ca. 50 % einen
hohen Anteil. Bis zum 30. Lj. nimmt die Gesamtschlafdauer kontinuierlich ab und erreicht dann ein für das weitere Leben etwa gleichbleibendes Niveau von
durchschnittlich 7–8 h (wobei große interindividuelle Unterschiede bestehen). Der Anteil des Tiefschlafs erreicht sein Maximum beim jungen Erwachsenen
und nimmt dann – ebenso wie der REM-Schlaf – mit zunehmendem Alter zugunsten des oberflächlichen Schlafs (Stadien 1, 2) ab. Auch die Schlafeffizienz, d. 
h. das Verhältnis zwischen tatsächlich geschlafener Zeit und gesamter Bettzeit, wird im Laufe des Lebens kontinuierlich geringer (➤ ).
Abb. 17.3 Schlaf-Wach-Muster vom Säuglingsalter bis ins hohe Lebensalter (rot unterlegt: Schlafzeiten) (Ehrig und Voderholzer 2014, in
Anlehnung an Roffwarg 1978) [T1028]

Schlafstörungen
Schlafstörungen oder ein nicht erholsamer Schlaf sind ein häufiges Phänomen und in den westlichen Industrienationen ein Problem von hoher
sozialmedizinischer und gesellschaftlicher Relevanz: Die Industrialisierung und der gesellschaftliche Wandel der vergangenen 60 Jahre
(Kommunikationstechnik, Medien, zunehmende Mobilität) haben zu einer wachsenden Beanspruchung der geistigen Leistungsfähigkeit und zu einer Abnahme
der körperlichen Auslastung bei Arbeit und Freizeit geführt. Auch künstliche Beleuchtung, die Licht rund um die Uhr ermöglicht, kann den Schlaf ungünstig
beeinflussen: Das Einsetzen der Dämmerung führt zu einem Anstieg von Melatonin, was den Schlafrhythmus einleitet. Dieser Anstieg kann jedoch durch
künstliches Licht verhindert werden. Ein dauerhaft gestörter oder unerholsamer Schlaf kann neben dem subjektiven Leiden zu erheblichen kognitiven
Störungen, aber auch zu somatischen Symptomen führen. Wahrscheinlich begünstigt ein anhaltend beeinträchtigter Schlaf die Entwicklung eines depressiven
Syndroms, von Substanzmissbrauch, arterieller Hypertonie, kardiovaskulären Erkrankungen, Adipositas sowie weiteren endokrinologischen und
immunologischen Veränderungen.

17.1.2. Klassifikation der Schlafstörungen


Eine Übersicht über die Einteilung der Schlafstörungen nach der ICD-10 gibt ➤ . Als zwei Hauptgruppen werden die nichtorganischen und die organischen
Schlafstörungen voneinander unterschieden. Die nichtorganischen oder auch primären Schlafstörungen umfassen die Dyssomnien und Parasomnien.
Tab. 17.1 Klassifikation der Schlafstörungen nach ICD-10, ICD-11 und DSM-5®
ICD-10 ICD-11 DSM-5®
Nichtorganische Schlafstörungen Insomnien: Primäre Schlafstörungen:
Dyssomnien: • Chronische Insomnie • Insomnische Störung
F51.0 Nichtorganische Insomnie • Vorübergehende Insomnie • Hypersomnische Störung
F51.1 Nichtorganische Hypersomnie Hypersomnien: • Narkolepsie
F51.2 Nichtorganische Störung des Schlaf-Wach- • Narkolepsie • Schlafbezogene Atemstörungen
Rhythmus • Idiopathische Hypersomnie – Obstruktive Schlafapnoe
Parasomnien: • Kleine-Levin-Syndrom – Zentrale Schlafapnoe
F51.3 (Somnambulismus) • Hypersomnie aufgrund eines medizinischen – Schlafbezogene Hyperventilation
F51.4 Pavor nocturnus Krankheitsfaktors • Zirkadiane Störungen des Schlaf-
F51.5 Albträume • Medikamenten- oder substanzinduzierte Hypersomnie Wach-Rhythmus
Organische Schlafstörungen: • Hypersomnie aufgrund einer anderen psychischen – Verzögerte Schlafphase
G25.8 Restless-Legs-Syndrom Störung – Vorverlagerte Schlafphase
G47.0 Organische Insomnie • Ungenügender Schlaf – Irreguläre Schlafphase
G47.1 Organische Hypersomnie Parasomnien: – Non-24-h-Schlafphase
G47.2 Nichtpsychogene Störung mit unangebrachten • Störungen der Erregungen des Non-REM-Schlafs – Schichtarbeit
Schlafenszeiten • Parasomnie in Verbindung mit REM-Schlaf Parasomnien:
G47.3 Schlafapnoe Schlafbewegungsstörungen: • Schlafwandeln
G47.4 Narkolepsie und Kataplexie • Restless-Legs-Syndrom • Pavor nocturnus
G47.8 Kleine-Levin-Syndrom • Periodische Bewegungsstörung der Extremitäten • Nächtliche Albträume
• Schlafbezogene Beinkrämpfe • REM-Schlaf-Verhaltensstörung
• Schlafbezogener Bruxismus Andere Schlafstörungen:
• Schlafbezogene rhythmische Bewegungsstörung • Restless-Legs-Syndrom
• Harmloser Schlafmyoklonus im Säuglingsalter • Substanzinduzierte Schlafstörung
• Propriospinaler Myoklonus bei Schlafbeginn – Insomnie
• Schlafbewegungsstörung aufgrund eines medizinischen – Hypersomnie
Krankheitsfaktors • Parasomnie-Mischtypus
• Medikamenten- oder substanzinduzierte
Schlafbewegungsstörung
• REM-Schlaf-Verhaltensstörung
Schlafbezogene Atmungsstörungen:
• Zentrale Schlafapnoe
• Obstruktive Schlafapnoe
• Schlafbezogene Hypoventilation oder Hypoxämie
• Schlafbezogene Cheynes-Stokes-Atmung
Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus:
• Verzögerter Schlaf-Wach-Rhythmus
• Fortgeschrittene Störung des Schlaf-Wach-Rhythmus
• Irregulärer Schlaf-Wach-Rhythmus
• Non-24-h-Schlaf-Wach-Rhythmus
• Störung des Schlaf-Wach-Rhythmus aufgrund von
Schichtarbeit
• Störung des Schlaf-Wach-Rhythmus aufgrund von
Jetlag

Dyssomnien (➤ ) sind durch das Auftreten von Ein- oder Durchschlafstörungen in Verbindung mit einer verstärkten Tagesmüdigkeit charakterisiert, ohne
dass eine organische Ursache vorliegt.
Unter den Parasomnien (➤ ) werden Störungen zusammengefasst, die beim (partiellen) Erwachen oder beim Wechsel von Schlafstadien auftreten und den
Schlaf unterbrechen. Die Einordnung der Parasomnien unter die nichtorganischen Schlafstörungen ist allerdings etwas irreführend, da sie durchaus einen
organischen Hintergrund (nämlich eine neuronale Reifungsstörung) haben.
Unter den organischen Schlafstörungen (➤ ) versteht man eine heterogene Gruppe von Störungen, die auf dem Boden einer organischen Dysfunktion zu
einem nicht erholsamen Schlaf führen.
Als dritte, in der Einteilung der ICD-10 nicht ausreichend berücksichtigte Gruppe sollten hier die sekundären Schlafstörungen (➤ ) genannt werden, die im
Rahmen einer organischen oder psychischen Grunderkrankung manifest werden.
Im Alltag der Allgemeinpsychiatrie wird man am häufigsten den durch psychische Erkrankungen verursachten Schlafstörungen, den Dyssomnien (➤ ), dem
Restless-Legs-Syndrom (➤ ) und dem obstruktiven Schlafapnoe-Syndrom (➤ ) begegnen.
Die ICD-11 wird im Vergleich zur ICD-10 die Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus sowie die Schlafbewegungsstörungen sehr viel differenzierter
berücksichtigen (➤ ). Die Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus haben durch die zunehmende Flexibilisierung des Arbeitsalltags in den Industrienationen in
den vergangenen Jahren weiter an Bedeutung gewonnen. Ursächlich für die Schlafstörungen ist dabei eine arbeitsbedingte Umstellung des Schlaf-Wach-
Rhythmus entgegen dem natürlichen biologischen Rhythmus. Auch die bisherige Unterteilung in organische und nichtorganische Schlafstörungen wird in der
ICD-11 aufgegeben, da diese grobe Einteilung nicht mehr den heutigen Forschungserkenntnissen entspricht. So zeigen sich z.  B. beim Schlafwandeln
eindeutige, valide neurobiologische Korrelate, die der bisherigen Einstufung als nichtorganische Schlafstörung in der ICD-10 entgegenstehen.
Weitere in der Schlafmedizin gebrauchte Begriffe sind:

• Insomnie: Schlafstörung, die durch Einschlafstörungen, Durchschlafstörungen oder Klagen über einen ungenügend erholsamen Schlaf
charakterisiert ist. Der Begriff wird häufig auch synonym für Schlafstörungen i. Allg. verwendet.
• Asomnie / Agrypnie: (extreme) Schlaflosigkeit
• Hypersomnie: erhöhtes Schlafbedürfnis, zumeist mit verstärkter Tagesmüdigkeit

17.1.3. Diagnostik
Grundlagen der Diagnostik sind eine gründliche Exploration der Störung und die Erhebung eines körperlichen Befunds. Als weitere diagnostische Mittel
kommen ein vom Patienten geführtes Schlaftagebuch (➤ ) und standardisierte Schlaffragebögen zur Anwendung.
Abb. 17.4 Schlaftagebuch (nach Hoffman et al. 1997) [H054-001 / L141]

Anamneseerhebung

• Schlafbezogene Anamnese:
– Genaues Erfassen der Symptomatik: Ein- / Durchschlafstörung, Schlafdauer, Tagesmüdigkeit, Einschlafattacken, Leistungseinbußen,
begleitende körperliche („Brennen / Kribbeln“ in den Beinen, Unruhe in den Extremitäten, Schnarchen) und psychische Symptome
(Grübeln, Anspannung, Wut, Ärger), Dauer, Häufigkeit, Umstände, die zu einer Verbesserung / Verschlechterung führen,
Vorbehandlung
– Umgebungsbedingungen: Lärm, Temperatur, Licht, Schlafgelegenheit, Bettpartner
– Schlafgewohnheiten: Nickerchen, Tag-Nacht-Rhythmus, im Bett verbrachte Zeit, Abendgestaltung
– Probleme des zirkadianen Rhythmus: Schichtarbeit, Jetlag
• Aktuelle und frühere körperliche Beschwerden oder Erkrankungen
• Psychische Erkrankungen oder psychologische Faktoren
• Drogen- und Medikamentenanamnese
• Familienanamnese
• Fremdanamnese

Befunderhebung

• Internistische und neurologische Untersuchung inkl. Labor (z. B. Schilddrüsenhormone)


• Psychischer Befund

Besteht der Verdacht, dass die Schlafstörung durch eine organische oder eine psychische Erkrankung verursacht wird, sollte eine weitere fachmedizinische
Abklärung erfolgen. Kann eine sekundäre Schlafstörung ausgeschlossen werden, sollte eine Untersuchung an einem schlafmedizinischen Zentrum veranlasst
werden (➤ ).

Praxistipp
Erst nach Ausschluss einer organischen oder psychischen Grunderkrankung als Ursache der Schlafstörung sollte der Patient zur weiteren Diagnostik an ein
schlafmedizinisches Zentrum überwiesen werden! Bei Patienten vor dem 40. Lj. treten organische Ursachen der Schlafstörung im Vergleich zu
psychischen Ursachen jedoch eher weniger häufig auf. Ausnahmen sind Schlafstörungen in der Schwangerschaft, die nicht selten durch ein Restless-Legs-
Syndrom infolge eines Eisenmangels auftreten, oder Schlafstörungen bei Schilddrüsenüberfunktionen.
Abb. 17.5 Klinischer Algorithmus: nicht erholsamer Schlaf (Fischer et al. 2002) [W1073 / L141]

17.1.4. Epidemiologie
Schlafstörungen sind sehr häufig. Ein- und Durchschlafstörungen treten als vorübergehende Phänomene bei bis zu 50  % der Bevölkerung auf. Es ist davon
auszugehen, dass in Deutschland ca. 10  % der Bevölkerung von einer schweren Insomnie (Ein- und Durchschlafstörung, starke Beeinträchtigung der
Tagesbefindlichkeit über mindestens 6 Monate) betroffen sind, darunter überproportional viele Frauen und ältere Menschen. Auf die erhöhte Komorbidität mit
bestimmten psychischen und körperlichen Erkrankungen bei anhaltend gestörtem Schlaf wurde bereits hingewiesen. Anhaltende Schlafstörungen sind
möglicherweise auch mit einer erhöhten Mortalität assoziiert

17.2. Dyssomnien
Definition
Bei den Dyssomnien treten Ein- und Durchschlafstörungen im Zusammenhang mit einer erhöhten Tagesmüdigkeit auf. Sie beruhen nicht auf einer organischen
Erkrankung.

17.2.1. Nichtorganische (psychophysiologische bzw. primäre) Insomnie

Kasuistik
Ein bei einem Unternehmen angestellter Abteilungsleiter (50) stellt sich auf Anraten seiner Hausärztin in der Schlafambulanz vor. Er beklagt, dass er seit
etwa 7 Jahren große Schwierigkeiten mit dem Schlafen habe: Er liege vor dem Einschlafen stundenlang grübelnd wach, schlafe dann nur oberflächlich und
mit vielen Unterbrechungen. Tagsüber fühle er sich müde und zerschlagen und könne sich nur mit Mühe auf seine Arbeit konzentrieren. In der
Mittagspause müsse er sich für eine Stunde zum Schlafen hinlegen, sonst überstehe er den Tag nicht. In den vergangenen Monaten seien ihm bei der Arbeit
vermehrt Fehler unterlaufen, und er könne sein gewohntes Pensum nicht mehr leisten; deshalb stelle er sich jetzt vor. Die Einnahme baldrianhaltiger
Präparate sowie auch die kurzzeitige Anwendung eines Benzodiazepin-Präparats hätten nur eine vorübergehende Besserung erbracht. Abends vor dem
Fernseher und beim autogenen Training, das er erlernt habe, schlafe er regelmäßig ein, nicht aber im Bett. Er gehe schon voller Anspannung und mit der
Befürchtung, wieder nicht genug schlafen zu können, zu Bett.
Er habe schon immer einen leichten Schlaf gehabt, was ihn aber bis zu seiner Beförderung vor 7 Jahren nicht sonderlich gestört habe. Damals habe er
aufgrund des neuen Verantwortungsbereichs viel von der Arbeit „gedanklich mit nach Hause genommen“ und im Bett darüber nachgegrübelt. Obwohl er
sich schnell in sein neues Gebiet eingearbeitet habe, seien die Schlafschwierigkeiten irgendwie „hängen geblieben“. Seine Stimmung sei nicht schlecht, er
fühle sich nur oft müde. Er nehme morgens zwei Tassen Kaffee zu sich, trinke keinen Alkohol und sei normalgewichtig. Bei Kopfschmerzen nehme er etwa
einmal im Vierteljahr eine Tablette Paracetamol ein. Es bestünden keine körperlichen Erkrankungen. Seine Mutter habe ebenfalls einen leichten Schlaf
gehabt, ansonsten gebe es in der Familie keine Schlafstörungen. Seine Frau berichtet, er schnarche gelegentlich, aber ohne auffällige Atempausen.

Definition
Typisch für die nichtorganische (psychophysiologische oder primäre) Insomnie sind nach den Kriterien der ICD-10 Einschlafstörungen, Durchschlafstörungen
oder eine schlechte Schlafqualität mindestens dreimal pro Woche während mindestens eines Monats (➤ ) , die zu einer erhöhten Tagesmüdigkeit oder zu
Leistungseinbußen führen.

Tab. 17.2 Diagnosekriterien für die nichtorganische Insomnie (nach ICD-10)


A. Klagen über Einschlafstörungen, Durchschlafstörungen oder eine schlechte Schlafqualität.

B. Die Schlafstörungen treten mindestens dreimal pro Woche während mindestens eines Monats auf.

C. Die Schlafstörungen verursachen entweder einen deutlichen Leidensdruck oder wirken sich störend auf die soziale und berufliche Funktionsfähigkeit
aus.

D. Verursachende organische Faktoren fehlen, wie z. B. neurologische oder andere internistische Krankheitsbilder, Gebrauch psychotroper Substanzen
oder Einnahme einer Medikation.

Symptomatik und Ätiologie


Die Kasuistik beschreibt die für die primäre Insomnie charakteristische Symptomkonstellation aus Ein- und Durchschlafstörungen mit Früherwachen und
Klagen über einen nicht erholsamen Schlaf mit entsprechender Tagesschläfrigkeit u n d kognitiven Einbußen. Anamnese, Befunderhebung und
weiterführende organische Diagnostik ergeben keine Hinweise auf eine organische, psychische oder äußere Ursache der Beschwerden.
Auffällig ist die große Besorgnis der Betroffenen tagsüber, wie und ob sie in der kommenden Nacht schlafen werden. Sie beschäftigen sich gedanklich
immer mehr mit dem Thema Schlaf und den realen oder vermeintlichen gesundheitlichen Problemen, die aus den Schlafstörungen resultieren
(schlafbehindernde Gedanken). Dadurch kommt es zu einem erhöhten Niveau innerer Anspannung und Ängstlichkeit in Bezug auf die Fähigkeit, schlafen oder
nicht schlafen zu können (Aktivierung / Erregung). Dies führt – neben ungünstigen Schlafgewohnheiten – zur Aufrechterhaltung der Symptomatik (➤ ).

Abb. 17.6 Teufelskreis der Entstehung und Aufrechterhaltung von Schlaflosigkeit bei primärer Insomnie [M516 / L141]

Epidemiologie
Ausgehend von Untersuchungen zur Insomnie in den westlichen Industrienationen wird geschätzt, dass 10 % der Bevölkerung über mindestens 6 Monate an
insomnischen Beschwerden leiden, etwa ein Drittel davon an einer primären Insomnie. Frauen und ältere Menschen sind häufiger betroffen.

Diagnostik
Die Abklärung einer primären Insomnie erfolgt wie in ➤ beschrieben. Andere Schlafstörungen sowie organische und psychische Ursachen müssen
ausgeschlossen werden. Als diagnostisches Instrument ist ein Schlaftagebuch zur Aufzeichnung der Schlafgewohnheiten unerlässlich. Es ermöglicht dem
Patienten und dem Therapeuten, das Ausmaß der Schlafstörung objektiv zu beurteilen oder evtl. Zusammenhänge zwischen äußeren Ereignissen oder
katastrophisierenden negativen Bewertungen und den Schlafstörungen herzustellen (z. B. „Wenn ich jetzt wieder nicht schlafe, werde ich morgen zu überhaupt
nichts fähig sein“).
Therapie

Vergleichende Effektstärken
Die Effektstärke (➤ ) einer psychotherapeutischen Behandlung der psychophysiologischen Insomnie wird auf 0,5–0,9 geschätzt und liegt damit im mittleren
bis hohen Bereich. Diese Ergebnisse gelten für störungsorientierte kognitiv-behaviorale Therapieprogramme. Die Verbesserung der Schlafkontinuität hält auch
nach Ende der Behandlung über einen längeren Zeitraum an (bis zu 3 Jahre).
Die Effekte einer medikamentösen Therapie der psychophysiologischen Insomnie mit Benzodiazepin-Präparaten oder Benzodiazepin-Analoga (sog. Z-
Substanzen) liegt im mittleren bis hohen Bereich. Diese Ergebnisse sind allerdings nur in Bezug auf die Einschlafzeit signifikant, weniger stark scheinen die
Präparate hinsichtlich Schlafdauer und Schlafkontinuität zu wirken. Hinsichtlich der langfristigen Effekte der Medikation ist die Studienlage noch
unbefriedigend; fast immer kommt es aber zu einem Rückfall und ggf. zu einem Entzugssyndrom mit einer Rebound-Insomnie, wenn die Medikamente wieder
abgesetzt werden. Unter einer Rebound-Insomnie versteht man eine Verschlechterung des Schlafs auf unter das Niveau vor der Behandlung.
Vergleichende Studien von Pharmako- und Psychotherapie ergaben, dass störungsorientierte kognitive Verhaltenstherapie (KVT) eine deutlich höhere
Effektstärke (d = 1,05) hinsichtlich der Einschlafzeit aufweist als die sogenannten Z-Substanzen (d = 0,45). Effekte der Verhaltenstherapie lassen sich
möglicherweise in der Akutphase durch Zugabe eines Benzodiazepin-Analogons steigern. Für die langfristige Aufrechterhaltung des Therapieerfolgs ist die
KVT der medikamentösen Behandlung überlegen. Daher ist eine störungsorientierte KVT Mittel der 1. Wahl in der Behandlung der psychophysiologischen
Insomnie.

Praktisches Vorgehen
Eine nichtorganische Insomnie sollte in erster Linie durch psychoedukative Maßnahmen angegangen werden. Der Patient erhält ausführliche Informationen
über „normalen Schlaf“ und erlernt spezifische schlaffördernde Strategien. Von essenzieller Bedeutung ist es, den Patienten zur Schlafhygiene ( ➤ ) und
Methoden der Stimuluskontrolle (➤ ) zu beraten und so die Entwicklung günstiger Schlafgewohnheiten zu fördern.

Tab. 17.3 Nichtmedikamentöse Therapieverfahren bei Insomnien


A. Schlafhygienische Maßnahmen und Psychoedukation (➤ )

B. Regelmäßiges Einsetzen von progressiver Muskelrelaxation oder anderen Entspannungsmethoden (Ruhebild, Fantasiereise)

C. Paradoxe Intervention: „Symptomverschreibung“, wobei der Patient angewiesen wird, möglichst lange wach im Bett liegen zu bleiben

D. Stimuluskontrolle: das Bett nur bei ausgeprägter Müdigkeit aufsuchen, keine Aktivitäten im Bett wie Essen, Lesen, Fernsehen; bei längeren
Wachphasen in der Nacht nicht im Bett grübeln, sondern aufstehen und etwas Angenehmes tun, bis Müdigkeit einsetzt; regelmäßig um die gleiche Zeit
aufstehen und die Dauer des Nachtschlafs begrenzen, auch am Wochenende; nicht tagsüber schlafen

E. Schlafrestriktion mit dem Ziel, den Schlafdruck zur Nacht hin zu erhöhen

F. Kognitive Restrukturierung, d. h. Erheben und Überprüfen verzerrter Kognitionen (z. B. „Ich brauche 10 Stunden Schlaf, um fit zu sein“ „Ich muss
jetzt einschlafen, sonst bin ich morgen nicht zu gebrauchen“)

G. Anwendung von Biofeedback-Techniken

Sollten diese Interventionen nicht ausreichen, ist die Therapie der Wahl eine Psychotherapie auf kognitiv- verhaltenstherapeutischer Basis, deren
Wirksamkeit gut belegt ist. Sie leitet zum regelmäßigen Führen eines Schlaftagebuchs an. Überdies erlernen die Patienten ein Entspannungsverfahren (z. B.
progressive Muskelrelaxation nach Jacobson; ➤ ) und Methoden, mit deren Hilfe sie geistige Anspannung reduzieren können, z. B. die Vorstellung einer als
entspannend erlebten Naturszene (Ruhebild), einer Fantasiereise oder anderer subjektiv angenehmer Gedanken. Weitere Techniken sind z.  B. die paradoxe
Intervention (der Patient wird dazu angeleitet, im Bett so lange wie möglich die Augen offen zu halten und wach zu bleiben) und die Umstrukturierung
dysfunktionaler Gedanken (statt „Wenn ich nicht gleich einschlafe, wird der morgige Tag eine komplette Katastrophe“ ein angemessenerer Gedanke: „Ich
werde morgen vielleicht müde sein, kann aber bestimmt trotzdem einige Dinge zu meiner und anderer Zufriedenheit erledigen“). Spezifische
Konfliktsituationen im Alltag des Betroffenen (z.  B. berufliche Überforderung) können, wenn der Patient dies wünscht, im späteren Verlauf der Therapie
gezielt bearbeitet werden.

Box 17.1
Schlafhygienische Maßnahmen und Psychoedukation

1. Regelmäßige nächtliche Schlafzeiten mit Bettzeiten von max. 8 h auch am Wochenende; tagsüber oder abends vor dem Fernseher nicht schlafen,
eine ½-stündige Ruhepause am frühen Nachmittag ist „erlaubt“.
2. Konsequenter Verzicht auf Alkohol und koffeinhaltige Getränke nach dem Mittagessen.
3. Keine schweren Mahlzeiten (spät) am Abend.
4. Regelmäßige körperliche Aktivität, jedoch nicht in den späten Abendstunden.
5. Allmähliche Verringerung geistiger und körperlicher Anstrengung vor dem Zubettgehen.
6. Abendliche Anwendung von (hellen) Lichtquellen mit hohem Blaulichtanteil (Computerbildschirm, eReader, Tageslichtlampe) vermeiden.
7. Persönliches Einschlafritual entwickeln.
8. Nicht im Bett arbeiten oder fernsehen.
9. Dunkle, kühle (ca. 16 °C) und ruhige Schlafumgebung.
10. In der Nacht nicht auf die Uhr schauen.

Bei ausbleibendem Erfolg kann auch eine vorübergehende medikamentöse Therapie erfolgen, nach Möglichkeit aber in eine Psychotherapie eingebettet.
Bei der primären Insomnie hat sich  –  v.  a. wenn pflanzliche Präparate und Antihistaminika nicht ausreichend wirksam waren  –  die kurzfristige Gabe von
Benzodiazepin-Rezeptor-Agonisten als wirksam erwiesen (➤ ). Zur Anwendung kommen v.  a. Substanzen wie Zolpidem oder Zopiclon, die in der
kurzfristigen Anwendung (< 4  Wochen) gute Effekte auf Einschlaflatenz und Schlafeffizienz zeigen. Allerdings können bereits nach 4-wöchiger Gabe oder
sogar noch früher Rebound-Effekte auftreten, d. h. eine Verschlechterung der Beschwerden auf unter das Ausgangsniveau, und Abhängigkeitsentwicklungen
wurden vielfach beschrieben. In noch höherem Maße gilt dies für Benzodiazepin-Präparate: Sehr häufige Probleme bei deren Einnahme sind eine
Verschlechterung der Beschwerden nach Absetzen auf unter das Ausgangsniveau und nach länger dauernder Einnahme immer größere Schwierigkeiten, das
Präparat wieder abzusetzen (Abhängigkeitsentwicklung, ➤ ). Benzodiazepin-Präparate und Benzodiazepin-Analoga sind daher nur für eine Kurzzeittherapie
(2–4 Wochen) zugelassen. Sie sollten immer zeitlich beschränkt und nur unter sorgfältiger Abwägung der Risiken verordnet werden. Bei älteren Menschen (>
60  Jahre) besteht die Gefahr, dass eine erhöhte Rate von Nebenwirkungen (Sedierung, Sturzgefahr, kognitive Einschränkungen) den klinischen Nutzen der
Substanzen überwiegt. Alternative schlaffördernde Substanzen, die kein Abhängigkeitspotenzial aufweisen, aber eine gute Wirkung zeigen, sind sedierende
Antidepressiva (z.  B. Mirtazapin, Doxepin, Trimipramin), die meist in geringerer Dosis als bei der Depressionsbehandlung eingesetzt werden (➤ ). Im
Vergleich mit Benzodiazepinen sind Absetzphänomene deutlich geringer ausgeprägt.
Für andere Substanzen wie z. B. den Orexin-Rezeptor-Antagonisten Suvorexant oder Melatonin ist die Datenlage noch nicht befriedigend. Melatonin ist in
Deutschland zur maximal 3-wöchigen Therapie der primären Insomnie bei Patienten > 55  Jahren zugelassen. Zur Wirksamkeit sedierender niederpotenter
Antipsychotika wie Melperon und Dipiperon, die aufgrund ihres Nebenwirkungsspektrums häufig bei älteren Menschen angewandt werden, liegen keine
Wirksamkeitsnachweise für die primäre Insomnie vor (➤ ).
Merke
Die primäre Insomnie wird in erster Linie mithilfe nichtmedikamentöser Verfahren behandelt. Eine medikamentöse
Therapie sollte Einzelfällen vorbehalten, in nichtmedikamentöse Verfahren eingebettet und nur von kurzer Dauer sein.

Verlauf und Prognose


Die primäre Insomnie nimmt unbehandelt i. d. R. einen chronischen Verlauf. Psychoedukative Maßnahmen und störungsorientierte verhaltenstherapeutische
Programme können die Beschwerden kurz- und langfristig lindern. Medikamentöse Interventionen bewirken bei kurzfristiger Anwendung ebenfalls eine
erhebliche Verbesserung der subjektiven Schlafqualität. Die Effekte sind aber nach Absetzen der Substanzen höchstwahrscheinlich langfristig nicht stabil, bei
Benzodiazepinen können sich die Schlafbeschwerden nach Absetzen u. U. sogar auf unter das Ausgangsniveau verschlechtern.

17.2.2. Nichtorganische Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus


Betroffene schildern dauerhafte Schwierigkeiten, zu den in ihrer Umgebung üblichen Bettzeiten zu schlafen, und fühlen sich tagsüber müde und nicht
leistungsfähig. Betroffen sind davon insbesondere Schichtarbeiter sowie Reisende, die häufig mehrere Zeitzonen überfliegen (Jetlag). Der Störung liegt eine
Desynchronisation zwischen dem Schlaf-Wach-Rhythmus und anderen zirkadian ablaufenden Rhythmen (z.  B. Körpertemperatur, Kortisol-Ausschüttung)
zugrunde. Bei Jetlag wird vielfach die Einnahme von Melatonin empfohlen, dessen Wirksamkeit jedoch noch umstritten ist. Zur Behandlung exzessiver
Tagesmüdigkeit bei Schichtarbeitern ist Modafinil, ein nicht BtM-pflichtiges Stimulans, zugelassen.

Beim Syndrom der verzögerten Schlafphase ist der Schlaf-Wach-Rhythmus der Betreffenden um 3–6 h nach hinten verschoben. Solange die
Patienten ihrem eigenen Rhythmus mit vergleichsweise späten Zubettgeh- und Aufstehzeiten folgen können, entstehen i. d. R. keine Schwierigkeiten. Sie
klagen erst dann über Müdigkeit oder Schlafstörungen, wenn äußere Zeitgeber wie Beruf oder Schule sie zu einem konventionellen Rhythmus zwingen.
Bei Jugendlichen soll die Störung mit etwa 10 % recht häufig sein, bei Erwachsenen liegt die Prävalenz bei ca. 1 %. Die Störung kommt möglicherweise
durch eine genetische Veranlagung zustande. Eine konsequente tägliche Verschiebung der Schlaf-Wach-Zeiten um 3 h nach hinten bis zum Erreichen
„normaler“ Bett- und Aufstehzeiten, die morgendliche Lichttherapie und die Gabe von Melatonin sollen wirksam sein.

17.2.3. Nichtorganische (primäre) Hypersomnie


Die Betroffenen klagen typischerweise trotz langer Schlafdauer über eine ausgeprägte Tagesmüdigkeit und große Schwierigkeiten, „richtig wach“ zu werden,
was zu erheblichen Problemen in der Schule und am Arbeitsplatz führen kann. Die Störung ist mit einer Prävalenz von 2–5 : 10.000 relativ selten und beginnt
meist im Jugendalter. Die Ätiologie ist noch unklar; die Störung ist wahrscheinlich durch genetische Faktoren mit bedingt. Möglicherweise spielt eine
veränderte Schlaf-Wach-Regulation mit einer Dysbalance zwischen Non-REM-Schlaf und aktivierenden Zentren bei der Entstehung der Symptomatik eine
Rolle.
Die Diagnose kann erst nach detaillierter Anamneseerhebung und gründlicher Diagnostik mit Ausschluss organischer und psychiatrischer Ursachen der
Symptomatik gestellt werden (➤ ). Eine Untersuchung im Schlaflabor mit Polysomnografie und Multiple-Schlaflatenz-Test (MSLT: mehrfache Ableitung eines
[Schlaf-]EEG tagsüber in einem abgedunkelten Raum, um eine erhöhte Einschlafneigung zu objektivieren) ist in den meisten Fällen unverzichtbar. Andere
Ursachen für eine erhöhte Einschlafneigung tagsüber wie z. B. Narkolepsie oder Schlafapnoe sollten ebenfalls ausgeschlossen werden.

Tab. 17.4 Diagnosekriterien für die nichtorganische (primäre) Hypersomnie (F51.1, ICD-10)
A. Klagen über übermäßige Schlafneigung während des Tages oder über Schlafanfälle oder über einen verlängerten Übergang zum vollen Wachzustand
(Schlaftrunkenheit) (nicht durch eine inadäquate Schlafdauer erklärbar).

B. Diese Schlafstörung tritt fast täglich über mindestens 1 Monat oder in wiederkehrenden Perioden kürzerer Dauer auf und verursacht entweder einen
deutlichen Leidensdruck oder eine Beeinträchtigung der sozialen und beruflichen Funktionsfähigkeit.

C. Fehlen von zusätzlichen Symptomen einer Narkolepsie (Kataplexie, Wachanfälle, hypnagoge Halluzinationen) oder von klinischen Hinweisen für eine
Schlafapnoe (nächtliche Atempausen, typische intermittierende Schnarchgeräusche etc.).

D. Verursachende organische Faktoren (z. B. neurologische oder internistische Krankheitsbilder, Einnahme psychotroper Substanzen oder eine
Medikation) fehlen.

Die Störung sollte in erster Linie mithilfe nichtmedikamentöser Verfahren behandelt werden (Schlafhygiene, keine sedierenden Substanzen). Zur Besserung
der Vigilanz können bei schwerer Symptomatik versuchsweise auch Stimulanzien angewendet werden.

17.3. Parasomnien
Als Parasomnien bezeichnet man Schlafstörungen, die beim teilweisen Erwachen oder beim Wechsel von Schlafstadien entstehen und den Schlaf unterbrechen.

17.3.1. Albträume
In Albträumen werden Episoden und Situationen „erlebt“, die als lebensbedrohlich, äußerst angsteinflößend oder beschämend empfunden werden. Das
Erleben im Traum ist trotz oft bizarr anmutender Inhalte sehr lebendig und emotional (➤ ). Im Kindes- und Erwachsenenalter treten Albträume gelegentlich
auf, ohne dass ihnen eine pathologische Bedeutung zukommt. Ein gehäuftes Vorkommen ist i.  d.  R. auf eine extreme Belastung durch entsprechende
Lebensereignisse, eine psychische Erkrankung (PTBS) oder das Absetzen von REM-Schlaf-unterdrückenden Substanzen (Alkohol, bestimmte Antidepressiva)
zurückzuführen. Albträume treten im REM-Schlaf und vorzugsweise in den frühen Morgenstunden auf. Nach dem Erwachen ist der Betroffene sofort
orientiert und kann Trauminhalte erinnern.

Tab. 17.5 Diagnosekriterien für Albträume (ICD-10, F51.5)


A. Aufwachen aus dem Nacht- oder Nachmittagsschlaf mit detaillierter und lebhafter Erinnerung an heftige Angstträume, die meistens Bedrohungen des
eigenen Lebens, der Sicherheit oder des Selbstwertgefühls beinhalten. Das Aufwachen erfolgt zu jeder Zeit der Schlafperiode, obgleich die Albträume
typischerweise in der zweiten Nachthälfte auftreten.

B. Nach dem Aufwachen aus erschreckenden Träumen sind die Betroffenen rasch orientiert und wach.

C. Das Traumerleben selbst und die Störung des Schlafs, die durch das Aufwachen zusammen mit den Episoden resultiert, verursachen bei den
Betroffenen einen deutlichen Leidensdruck.

D. Verursachende organische Faktoren (z. B. neurologische und internistische Krankheitsbilder, Einnahme psychotroper Substanzen oder eine Medikation)
fehlen.

Bei gehäuftem Auftreten sollte eine psychotherapeutische Intervention erfolgen. Bei Albträumen im Rahmen einer PTBS haben sich (das mittlerweile nicht
mehr erhältliche) Prazosin sowie Doxazosin als wirksam erwiesen; aber auch Mirtazapin, Trazodon, Quetiapin, Olanzapin oder Clonidin können die
Symptomatik abschwächen.

17.3.2. Pavor nocturnus


Im Vergleich zu den Albträumen ist der Pavor nocturnus vorwiegend an den Tiefschlaf gebunden. Er tritt in der ersten Nachthälfte auf, beginnt oft mit einem
lauten Schrei und geht mit einer hohen vegetativen Erregung und vorübergehender Desorientiertheit beim Erwachen einher. Die Betroffenen – zumeist
Kinder oder Jugendliche – setzen sich im Bett auf oder springen voller Panik auf. Bezugspersonen können die Betroffenen durch gutes Zureden i. d. R. nicht
beruhigen. Für das Ereignis besteht am anderen Morgen typischerweise eine Amnesie (➤ ). Pavor nocturnus und Schlafwandeln treten häufig gemeinsam
auf; bei der Ätiologie der Störung ist eine genetische Komponente wahrscheinlich.

Tab. 17.6 Diagnosekriterien für Pavor nocturnus (ICD-10, F51.4)


A. Wiederholte Episoden (zwei oder mehr) von Erwachen aus dem Schlaf mit einem Panikschrei, heftiger Angst, Körperbewegungen und vegetativer
Übererregbarkeit mit Tachykardie, Herzklopfen, schneller Atmung und Schweißausbruch.

B. Diese Episoden treten im ersten Drittel des Nachtschlafs auf.

C. Die Dauer beträgt weniger als 10 min.

D. Wenn andere Personen versuchen, auf die Patienten während der Episoden beruhigend einzuwirken, hat dies keinen Erfolg. Solchen Bemühungen
folgen Desorientiertheit und perseverierende Bewegungen.

E. Die Erinnerung an das Geschehene ist sehr begrenzt.

F. Verursachende organische Faktoren (z. B. neurologische oder internistische Krankheitsbilder, Einnahme psychotroper Substanzen oder eine
Medikation) fehlen.

Während der Pavor nocturnus bei Erwachsenen selten und meist in Belastungssituationen auftritt, wird bei Kindern und Jugendlichen eine Prävalenz von 3 
% für mindestens eine Episode angenommen. Differenzialdiagnostisch müssen v.  a. Albträume und schlafbezogene epileptische Anfälle ausgeschlossen
werden. In der Mehrheit der Fälle ist bei Kindern und Jugendlichen therapeutisch ausreichend, die Familie über die Harmlosigkeit des Phänomens aufzuklären.

17.3.3. Somnambulismus
Wie der Pavor nocturnus tritt das Schlafwandeln (Somnambulismus) überwiegend in der ersten Nachthälfte im Tiefschlaf auf. Mit geöffneten Augen sitzt der
Betreffende im Bett, nestelt, gestikuliert, spricht oder steht auf und geht im Zimmer umher. Auf Ansprache reagiert er kaum und ist nur unter großen
Schwierigkeiten aufzuwecken. Auch hier ist nach dem Erwachen eine vorübergehende Desorientiertheit und eine Amnesie für die Episode zu beobachten.
Etwa 15  % aller Kinder im Alter von 5–12 Jahren schlafwandeln mindestens einmal. Auch bei der Entstehung des Somnambulismus spielen genetische
Faktoren eine Rolle. Wie beim Pavor nocturnus liegt dem Phänomen eine Reifungsstörung biologischer Mechanismen zugrunde, die den Übergang vom
Tiefschlaf zum Erwachen steuern. Differenzialdiagnostisch sollte unbedingt an ein schlafgebundenes Anfallsleiden gedacht werden (➤ ).

Tab. 17.7 Diagnosekriterien für Somnambulismus (Schlafwandeln; ICD-10, F51.3)


A. Das vorherrschende Symptom sind wiederholte (zwei oder mehr) Episoden, in denen die Betroffenen das Bett während des Schlafs verlassen und
mehrere Minuten bis zu ½ Stunde umhergehen, meist im ersten Drittel des Nachtschlafs.

B. Während einer solchen Episode haben die Betroffenen meist einen leeren, starren Gesichtsausdruck, sie reagieren verhältnismäßig wenig auf die
Bemühungen anderer, den Zustand zu beeinflussen oder mit ihnen in Kontakt zu kommen, und sind nur unter großen Schwierigkeiten aufzuwecken.

C. Nach dem Erwachen (entweder nach dem Schlafwandeln oder am nächsten Morgen) haben die Betroffenen eine Amnesie für die Episode.

D. Innerhalb weniger Minuten nach dem Aufwachen aus der Episode besteht keine Beeinträchtigung der Aktivität oder des Verhaltens, obgleich
anfänglich eine kurze Phase von Verwirrung und Desorientiertheit auftreten kann.

E. Es fehlen Belege für eine organische psychische Störung wie z. B. eine Demenz oder eine körperliche Störung wie die Epilepsie.

17.3.4. Weitere Parasomnien


Auch das Zähneknirschen (Bruxismus), das nächtliche Einnässen (Enuresis nocturna), nächtliche Wadenkrämp fe oder das Sprechen im Schlaf werden zu
den Parasomnien gerechnet. Von klinischer Bedeutung ist gelegentlich auch die REM-Schlaf-Verhaltensstörung.

Bei der REM-Schlaf-Verhaltensstörung bewegen sich die betreffenden Personen im REM-Schlaf vermehrt und führen z.  T. komplexe
motorische Aktivitäten aus. Es kann dabei zu Unfällen, Selbstverletzungen oder Fremdaggressivität kommen. Dabei auftretende ängstigende Trauminhalte
werden nach dem Erwachen zumindest teilweise erinnert. Charakteristischerweise erkranken Männer nach dem 50. Lj. Es scheint eine Assoziation zu
bestimmten neurodegenerativen Erkrankungen zu geben (z.  B. Morbus Parkinson), die offenbar die physiologische Blockade muskulärer Aktivität im
REM-Schlaf aufheben können.

17.4. Organische Schlafstörungen


In dieser Gruppe wird in der ICD-10 eine Anzahl von heterogenen, durch organische Faktoren bedingten Schlafstörungen zusammengefasst. Es handelt sich
dabei zwar nicht um die sekundären Folgen einer körperlichen Grunderkrankung (➤ ), Überschneidungen kommen aber vor, z. B. beim Restless-Legs-Syndrom
im Rahmen einer Eisenmangelanämie.

17.4.1. Schlafapnoe-Syndrom
Definition und Symptomatik
Charakteristisch für das Schlafapnoe-Syndrom (SAS) sind Atempausen während des Schlafs von mindestens 10 bis > 60 s Dauer. Im gleichen Raum
schlafende Personen schildern fremdanamnestisch laute und unregelmäßige, von den beschriebenen Atemstillständen unterbrochene Schnarchgeräusche. Der
Patient selbst klagt meist über eine ausgeprägte Tagesmüdigkeit oder -schläfrigkeit (Hypersomnie), v.  a. bei eintönigen Aktivitäten (Autofahren!). Weitere
Symptome können morgendliche Kopfschmerzen, Aufmerksamkeits- und Gedächtnisstörungen, depressive Verstimmungszustände oder Potenzstörungen sein.
Die Apnoe-Attacken führen neben einer Hypoxie zu zahlreichen Schlafunterbrechungen mit entsprechendem Schlafdefizit und einer Abnahme der
Schlafqualität, v. a. durch Reduktion des Tiefschlafanteils. Zudem gehen sie mit einem erhöhten Risiko für kardiovaskuläre Komplikationen (Sinusarrhythmie,
Verschlechterung einer arteriellen Hypertonie, respiratorische Insuffizienz, Myokardinfarkt, Schlaganfall) und depressiven Syndromen einher.

Epidemiologie
Das SAS tritt bei etwa 0,5–2  % der Allgemeinbevölkerung auf. Das obstruktive SAS ist häufiger bei Männern im Alter von 40–60  Jahren, v.  a. im
Zusammenhang mit Übergewicht, zu beobachten.

Ätiologie und Klassifikation


Das SAS wird in zwei Unterformen eingeteilt, wobei häufig Mischformen vorliegen. In über 90 % handelt es sich dabei um ein vorwiegend obstruktives SAS,
das durch einen Kollaps der Schlundmuskulatur bei nachlassendem Muskeltonus im Schlaf verursacht wird. Begünstigt wird dies durch Erkrankungen des
Hals-Nasen-Rachen-Raums (z.  B. Nasenpolypen), Adipositas, Alkoholgenuss oder die Einnahme von Tranquilizern. Das SAS ohne Obstruktion (zentrales
SAS) ist sehr viel seltener und wird auf eine zentral bedingte Störung der Aktivierung der Atemmuskulatur oder chronische Lungenkrankheiten sowie
muskuloskelettale Erkrankungen zurückgeführt.

Diagnostik
Nach Anamneseerhebung und eingehender körperlicher Untersuchung sollte ein HNO-ärztliches Konsil erfolgen. Bestätigt sich die Verdachtsdiagnose durch
eine ambulante Voruntersuchung, wird die weitere Diagnostik im Schlaflabor durchgeführt (kardiorespiratorische Polysomnografie, d.  h. mit Ableitung von
EKG und Atemtätigkeit).

Differenzialdiagnosen

• Obstruktives Schnarchen ohne Apnoe im Schlaf


• Sekundäre Hypersomnie, z. B. bei Hirntumor, schweren Infektionen, demenziellen Prozessen
• Narkolepsie
• Hypersomnie bei Kleine-Levin-Syndrom: Hypersomnia periodica; Erkrankung unbekannter Ätiologie, die vorwiegend männliche Jugendliche
betrifft und mit periodischer Hypersomnie und Heißhungerattacken einhergeht

Therapie

• Verhaltensmedizinische Maßnahmen wie Gewichtsreduktion, Alkohol- / Nikotinkarenz und Vermeiden apnoeverstärkender Medikamente (z. B.
Benzodiazepin-Präparate), können beim leichten obstruktiven SAS bereits eine Besserung der Symptomatik bewirken. Auch eine intraorale
Unterkiefer-Protrusionsschiene kann sich in leichten bis mittelschweren Fällen günstig auswirken.
• Bei einem schwer ausgeprägten obstruktiven SAS kommt die nächtliche CPAP-Beatmung („continuous positive airway pressure“) zur Anwendung.
Die Wirksamkeit der CPAP ist wissenschaftlich gut belegt. Beim zentralen SAS wird je nach Unterform die intermittierende Beatmung
(„intermittent positive pressure ventilation“, IPPV) oder CPAP angewandt.

Verlauf und Prognose


Bei einer Anzahl von mehr als 20 Atemstillständen pro Stunde besteht beim unbehandelten obstruktiven SAS eine erhöhte Mortalität (etwa 40 % innerhalb von
8 Jahren). Kardiovaskuläre Folgeerkrankungen, Tagesschläfrigkeit, depressive Symptome und die erhöhte Mortalität können durch konsequente Anwendung
von CPAP oder anderen PAP-Verfahren deutlich gebessert werden.

17.4.2. Narkolepsie
Definition und Symptomatik
Eine Narkolepsie beginnt typischerweise mit einem kontinuierlichen Müdigkeitsgefühl u n d Einschlafattacken, die v.  a. bei monotonen Aktivitäten
auftreten. Später hinzukommende charakteristische Symptome sind:

• Kataplexien: anfallartige Erschlaffung von Muskelgruppen bis zum Hinstürzen ohne Bewusstseinsverlust, häufig an bestimmte Affekte gekoppelt.
• Hypnagoge Halluzinationen: lebhafte, häufig als negativ erlebte, meist visuelle Sinneswahrnehmungen beim Einschlafen.
• Schlafparalyse: Unfähigkeit, sich für einige Minuten nach dem Aufwachen zu bewegen oder zu sprechen.
• Automatische Handlungen: Routinetätigkeiten werden bei Ermüdung in einer Art Halbschlaf durchgeführt.

Im weiteren Verlauf klagen Betroffene über häufige Wachzeiten während der Nacht.

Merke
Unter der narkoleptischen Tetrade versteht man Einschlafattacken, Kataplexien, hypnagoge Halluzinationen und
Schlafparalyse.

Epidemiologie
Die Narkolepsie ist eine seltene Erkrankung, die mit einer Prävalenz von ca. 1 : 1.000 in der Allgemeinbevölkerung auftritt. Sie manifestiert sich fast immer
vor dem 35. Lj. Die Diagnose wird wegen der zunächst recht unspezifischen Beschwerden häufig gar nicht oder erst sehr spät gestellt.

Ätiologie und Diagnostik


Für die Entstehung der Erkrankung spielen genetische Faktoren eine Rolle (familiäre Häufung, Kopplung an ein HLA-DR15 -Gen bei Europäern). Entsprechend
lässt sich die Diagnose durch Nachweis eines spezifischen Haplotyps des HLA-DR15 in Kombination mit der klinischen Symptomatik und einer
polysomnografischen Untersuchung mit MSLT bestätigen. Autoimmunprozesse nach Infektionen werden ebenfalls diskutiert. Wahrscheinlich liegt der Störung
eine Dysfunktion des Hypocretinsystems im Thalamus zugrunde.

Differenzialdiagnosen
Eine Hypersomnie wird beim SAS, vielen schweren organischen Erkrankungen und auch bei akuten Depressionen beobachtet. Kataplexien sind von
orthostatischen Synkopen und epileptischen Anfällen (v. a. Petit-Mal) abzugrenzen.

Therapie
Schlafhygienische Maßnahmen (regelmäßiger Schlaf-Wach-Rhythmus, geplante Schlafzeiten tagsüber), Alkohol- und Nikotinkarenz sowie eine
Gewichtsnormalisierung können bereits eine leichte Besserung bewirken.
Zur medikamentösen Behandlung der Tagesmüdigkeit werden vigilanzsteigernde Präparate wie Modafinil (1. Wahl) oder Methylphenidat (2. Wahl)
eingesetzt, die beide für die Behandlung der Narkolepsie zugelassen sind. Ein narrativer Review kommt zu dem Schluss, dass für Modafinil und Amphetamine
ausreichend Evidenz aus kontrollierten Studien vorliegt, um ihren Einsatz bei Narkolepsie zu rechtfertigen. Vigilanzsteigernde Medikamente führen bei
Narkoleptikern allerdings nur zu einer Milderung und i.  d.  R. nicht zur Remission der Tagesschläfrigkeit. Weniger gut untersucht ist jedoch die Frage von
Nebenwirkungen, insbesondere im Hinblick auf die Langzeittherapie. Bei im Vordergrund stehenden Kataplexien sowie gestörtem Nachtschlaf wird
empfohlen, Natriumoxybat als Therapie der ersten Wahl einzusetzen. Eine neue Therapieoption bietet die Zulassung des inversen Histamin-3-Rezeptor-
Agonisten (HA) Pitolisant im Jahr 2015, der nach bisherigen Studien ähnlich wirksam ist wie Modafinil und zusätzlich einen antikataplektischen Effekt hat.
Kataplexien, hypnagoge Halluzinationen und Schlafparalyse sind mit dem REM-Schlaf assoziierte Phänomene und sprechen deshalb auf Medikamente
an, die den REM-Schlaf unterdrücken (➤ ) . Zur Anwendung bei Kataplexien sind in Deutschland nur das Narkotikum Gamma-Hydroxybuttersäure
(Natriumoxybat) und das trizyklische Antidepressivum Clomipramin zugelassen. Für den weit verbreiteten Einsatz von Antidepressiva (z.  B. Clomipramin,
Venlafaxin, Fluoxetin, Citalopram) in der Behandlung der Narkolepsie liegt einem Cochrane-Review zufolge allerdings bisher kaum empirische Evidenz vor.
Tab. 17.8 Medikamente zur Behandlung der Narkolepsie
Substanz Dosierung Wirkprinzip Besonderheiten
[mg / d]

Antidepressiva

Trizyklika REM-Schlaf-Unterdrückung In Deutschland ist nur Clomipramin für die Behandlung der
Narkolepsie zugelassen, anticholinerge Nebenwirkungen
Clomipramin 10–150

Imipramin 25–150
(Off-Label-Use)

SSRIs: Fragliche günstige Effekte auf Kataplexien In Deutschland nicht zur Behandlung der Narkolepsie
(Evidenzklasse 3–4), hypnagoge Halluzinationen zugelassen. QT c -Zeit-Verlängerung und andere unerwünschte
Citalopram 20–40 und Schlaflähmung durch Wirkungen (sexuelle Dysfunktion)
(Off-Label-Use) Wiederaufnahmehemmung von Serotonin am
Venlafaxin 37,5–300 synaptischen Spalt
(Off-Label-Use)

Fluoxetin 20–60
(Off-Label-Use)

Stimulanzien, Amphetamin-Derivate

Methylphenidat 10–60 Vigilanzsteigerung durch zentrale Stimulierung Nebenwirkungen durch sympathische Stimulation
(noradrenerge und dopaminerge Wirkung) (Tachykardie, Blutdruckerhöhung, selten:
Ephedrin 25–75 Erregungszustände, Krampfanfälle), Toleranz- /
(Off-Label-Use) (max.
Abhängigkeitsentwicklung (Medikamentenpausen
250)
erforderlich)
Dextroamphetamin 40–60 Methylphenidat und Modafinil: BtM-pflichtig; nur
(Off-Label-Use) Methylphenidat zugelassen

Andere

Modafinil 100–600 Zentrale Stimulation durch Agonismus an Bislang keine Toleranz- / Abhängigkeitsentwicklung bekannt;
postsynaptischen NA-Rezeptoren, Reduktion der zugelassen und 1. Wahl bei Tagesschläfrigkeit
GABAergen Neurotransmission

Natriumoxybat 2 × 2,25– Wirkung als GABA B -Rezeptor-Agonist, dadurch Hohe Nebenwirkungsrate, initial auch Ängste und depressive
(4-Hydroxybutansäure) 4,50 Modulation der Neurotransmission von ACh, DA, Symptome möglich; kann Atemdepression verursachen!
NA und Serotonin; evtl. noch weitere, Zugelassen. Illegaler Gebrauch mit Abhängigkeit möglich;
unbekannte Mechanismen Wirkungsverstärkung durch zentral dämpfende Substanzen

Selegilin 20–40 Irreversible Hemmung des Enzyms Als Nebenwirkungen gastrointestinale Störungen, Müdigkeit,
(Off-Label-Use) Monoaminoxidase (MAO) B Kopfschmerzen, orthostatische Dysregulation möglich

Reboxetin 4–12 Selektiver Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer Nebenwirkungen u. a. Mundtrockenheit, Obstipation, Schwitzen,


(Off-Label-Use) (NARI) Miktionsbeschwerden

Die medikamentöse Therapie sollte in eine therapeutische Begleitung des Patienten und seiner Angehörigen eingebettet sein, die verhaltenstherapeutische
Elemente, sozialmedizinische Unterstützung und die Vermittlung von Bewältigungsstrategien umfasst.

17.4.3. Restless-Legs-Syndrom (RLS)


Definition und Symptomatik
Das RLS äußert sich in für den Betroffenen schwer beschreibbaren Parästhesien oder Dysästhesien der Beine („Ziehen, Reißen, Kribbeln, Spannungsgefühl,
Schmerzen“), die im Ruhezustand gegen Abend oder nachts im Bett auftreten. Sie sind von einer Unruhe in den Beinen begleitet, die sich bei körperlicher
Aktivität (Bewegen der Beine, Umhergehen) bessert. Durch das Aufstehen und Umhergehen werden Entspannungsphasen und Einschlafversuche
unterbrochen, was zu entsprechenden Schlafstörungen und Tagesmüdigkeit führt.

Epidemiologie
Das RLS soll in der Allgemeinbevölkerung mit einer Prävalenz von 5–10  % auftreten, das schwere, behandlungsbedürftige RLS mit etwa 1  %. Bei älteren
Menschen soll das RLS wesentlich häufiger sein. Nicht selten vergehen viele Jahre, bevor bei den Betroffenen die Störung ernst genommen und diagnostiziert
wird.

Ätiologie und Klassifikation


In rund zwei Drittel aller Fälle handelt es sich um ein idiopathisches RLS. Es tritt in gut der Hälfte der Fälle mit familiärer Häufung auf (autosomal-
dominanter Erbgang). Das andere Drittel bilden sekundäre Formen, die z.  B. bei Niereninsuffizienz, Eisen-, Folsäure-, Vitamin-B 1 2 -Mangel oder in der
Schwangerschaft auftreten. Auch substanzinduzierte Formen von RLS werden beobachtet, z.  B. durch Antidepressiva, Antipsychotika, Metoclopramid,
Lithium, Interferon-α, L-Thyroxin, Alkohol oder H 2 -Rezeptoren-Blocker (➤ ). Etwa 80  % der RLS-Patienten leiden gleichzeitig unter periodischen
nächtlichen Beinbewegungen, die i. d. R. während des Schlafs auftreten und durch Arousal-Effekte zu einer Schlaffragmentierung führen. Als Ursache der
Störung wird die Dysfunktion zentraler (und peripherer) dopaminerger Systeme diskutiert, die mit einer gesteigerten Erregbarkeit mono- und polysynaptischer
Reflexbögen auf Hirnstamm- und Rückenmarksebene einhergehen.

Diagnostik und Therapie


Die Diagnose des idiopathischen (primären) RLS wird nach Ausschluss organischer Ursachen anhand des klinischen Bildes gestellt (➤ ). In unklaren Fällen ist
eine polysomnografische Untersuchung indiziert. Sie erfasst die Anzahl periodischer Beinbewegungen im Schlaf, die zur Störung des Nachtschlafs führen. Das
Auftreten von mehr als fünf dieser nächtlichen Bewegungsserien gilt als pathologisch.

Box 17.2
Kriterien für die Diagnose eines Restless-Legs-Syndroms (Fischer et al. 2002)
Obligate Kriterien

1. Bewegungsdrang der Beine, gewöhnlich begleitet von oder verursacht durch ein unbehagliches und unangenehmes Gefühl in den Beinen
(manchmal besteht der Bewegungsdrang ohne das unangenehme Gefühl, und manchmal sind zusätzlich zu den Beinen auch die Arme oder andere
Körperregionen betroffen).
2. Der Bewegungsdrang oder die unangenehmen Gefühle beginnen oder verschlechtern sich während Ruhezeiten oder bei Inaktivität wie Sitzen oder
Liegen.
3. Der Bewegungsdrang oder die unangenehmen Gefühle bessern sich bei Bewegung wie Laufen oder Dehnen teilweise oder vollständig, zumindest
so lange, wie diese Aktivität andauert.
4. Der Drang, sich zu bewegen, oder die unangenehmen Gefühle sind am Abend oder nachts schlimmer als während des Tages oder treten
ausschließlich am Abend oder nachts auf (wenn die Symptome sehr stark sind, kann es sein, dass die Verschlechterung in der Nacht nicht mehr
bemerkbar ist, aber sie muss früher einmal bestanden haben).

Supportive Kriterien

• Positive Familienanamnese (RLS bei Angehörigen 1. Grades etwa drei- bis fünfmal so hoch wie bei Angehörigen von Personen ohne RLS)
• Ansprechen auf dopaminerge Therapie (L-Dopa oder niedrige Dosen von Dopamin-Agonisten)
• Periodische Beinbewegungen („periodic limb movements in sleep“, PLMS, im Wachzustand oder im Schlaf bei mindestens 85 % der erwachsenen
RLS-Patienten)

Beim primären RLS sind L-Dopa oder lang wirksame Dopamin-Agonisten Mittel der 1. Wahl (➤ ). In Deutschland sind für diese Indikation L-Dopa,
Pramipexol, Rotigotin und Ropinirol zugelassen. Sie werden einschleichend dosiert und abends eingenommen  –  initial in Kombination mit einem
Antiemetikum (Domperidon, z. B. 3 × 10–20 mg / d).

Tab. 17.9 Medikamente zur Behandlung des primären RLS


Substanz Zieldosis Besonderheiten
Magnesium 12–15 mmol Nur bei milder Symptomatik!

Non-Ergot-Dopamin-Agonisten Gastrointestinale (Übelkeit, Erbrechen), kardiovaskuläre (orthostatische Hypotonie, Arrhythmien), zentrale


Nebenwirkungen (Augmentation, Verwirrtheit, psychotische Symptome, seltener: Tagesmüdigkeit mit
• Pramipexol 0,25–0,54  Einschlafattacken) beachten!
mg

• Ropinirol 0,25–4 mg

• Rotigotin Pflaster 1–3 


mg / 24 h

L-Dopa 100–600 mg Nebenwirkungen beachten (s. Dopamin-Agonisten) Wirkungsverlust innerhalb von 2 Jahren, sog. Augmentation
• Levodopa (+ (Auftreten der Symptomatik in den Morgenstunden oder tagsüber, Verstärkung der Symptomatik am Nachmittag, in
peripherer anderen Körperteilen)
Decarboxylase-
Hemmer)

Opioide Bei Versagen der dopaminergen Medikation


Nebenwirkungsspektrum beachten!
• Codein 30–100 mg Nur Oxycodon / Naloxon ist für diese Indikation in Deutschland zugelassen.
• Dextropropoxyphen 150 mg

• Oxycodon / 5 / 2,5 
Naloxon mg – max.
60 / 30 mg

Antiepileptika Bei Versagen oder Unverträglichkeit der dopaminergen Medikation


Schwindel, Müdigkeit, Gleichgewichtsstörungen
• Gabapentin 600–1800 
mg

• Pregabalin 100–450 mg

Die wichtigste Nebenwirkung der Therapie mit dopaminergen Substanzen ist die Augmentation. Darunter ist eine Verstärkung der Symptomatik tagsüber
bzw. eine Verschiebung der ursprünglich spätabends und in der Nacht auftretenden Symptome in den Tag hinein zu verstehen. Wenn eine solche Augmentation
eintritt oder durch dopaminerge Substanzen beim primären RLS keine Besserung erzielt werden kann, sollte sofort auf ein Opioid (Oxycodon / Naloxon) oder
auf Antikonvulsiva (Gabapentin, Pregabalin) umgestellt werden. Die genannten Antikonvulsiva sind allerdings für diese Indikation nicht zugelassen. Bei einer
leicht ausgeprägten Symptomatik kann zunächst ein Therapieversuch mit Magnesium (12–15 mmol) z. N. und schlafhygienischen Maßnahmen unternommen
werden. Eine zusätzliche Eisensubstitution sollte bei niedrigen Ferritinwerten unbedingt erfolgen. Bei allen sekundären Formen muss zunächst die organische
Grunderkrankung therapiert werden. Aber auch hier kann die Gabe dopaminerger Substanzen Linderung bringen. Möglicherweise erschließt sich mit der Gabe
von Alpha-2-delta-Liganden (z. B. Gabapentin-enacarbil) bei schwer ausgeprägtem RLS in Zukunft eine weitere effektive Perspektive.

Vergleichende Effektstärken
Die Effektstärken für Dopaminergika bei der Therapie des RLS liegen im mittleren Bereich. Sie sind damit Mittel der 1. Wahl in der Behandlung des
idiopathischen RLS.

Differenzialdiagnosen
Eine Akathisie (Sitzunruhe), die unter Medikation mit hochpotenten Antipsychotika auftreten kann, äußert sich oft in Form eines Unruhegefühls im gesamten
Körper und ist nicht auf die Abendstunden oder die Nacht beschränkt. Differenzialdiagnostisch ist auch an eine arterielle Verschlusskrankheit der Beine,
Schmerzen bei Varikose, sensible Symptome einer Polyneuropathie oder an nächtliche Wadenkrämpfe anderer Ursache zu denken. Zahlreiche
Psychopharmaka können selbst ein RLS verursachen oder verschlechtern, z. B. SSRIs, SSNRIs oder Antipsychotika (➤ und ➤ ).

Verlauf und Prognose


Die Erkrankung nimmt oft einen progredienten Verlauf, Spontanremissionen sind selten. Während einer Schwangerschaft verschlechtert sich die Symptomatik
häufig. Eine dopaminerge Medikation führt i. d. R. zu einer deutlichen Besserung.

Praxistipp
Bei unklarer abendlicher und nächtlicher Beinunruhe mit schwer beschreibbaren Missempfindungen sollte man immer an ein Restless-Legs-Syndrom
denken!

17.5. Schlafstörungen bei körperlichen und psychischen Erkrankungen


17.5.1. Schlafstörungen bei somatischen Krankheiten
Klagt ein Patient über einen nicht erholsamen Schlaf, kann dem eine Vielzahl organischer Ursachen zugrunde liegen. Bevor im Kontakt mit einem Patienten
an die Diagnose einer primären Insomnie gedacht wird, müssen auf jeden Fall körperliche Grunderkrankungen (im internistischen oder neurologischen
Fachgebiet) oder der Gebrauch von schlafstörenden Pharmaka bzw. Suchtmitteln ausgeschlossen werden. Dies erfordert eine gründliche Anamnese- und
Befunderhebung sowie ggf. eine weitere organische Diagnostik.
Eine Auswahl häufiger internistischer oder neurologischer Grunderkrankungen, die zu Schlafstörungen führen können, findet sich in ➤ . Neben den
körperlichen Beschwerden (wie z. B. Atemnot oder Schmerzen) ist natürlich auch die psychische Belastung durch die Erkrankung von Bedeutung. Überdies ist
zu berücksichtigen, dass auch zahlreiche Pharmaka, die zur Behandlung einer organischen Erkrankung angewandt werden, selbst Schlafstörungen verursachen
können (➤ ).

Box 17.3
Ursachen von Schlafstörungen
Internistische Grunderkrankungen

• Kardiovaskuläre Erkrankungen (z. B. nächtliche Angina pectoris)


• Lungenkrankheiten (z. B. schlafbezogenes Asthma bronchiale)
• Erkrankungen des Gastrointestinaltrakts (z. B. gastroösophagealer Reflux)
• Chronische Nierenkrankheiten
• Endokrinologische Störungen (z. B. Hyperthyreose, Diabetes mellitus)
• Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises
• Malignome
• Chronische Infektionen

Neurologische Grunderkrankungen

• Degenerative Hirnerkrankungen
• Zerebrovaskuläre Erkrankungen (z. B. Schlaganfall)
• Epilepsien mit schlafbezogenen Anfällen
• Extrapyramidalmotorische Erkrankungen (z. B. Morbus Parkinson)
• Schlafbezogene Kopfschmerzen
• Polyneuropathien
• Multiple Sklerose
• Neuromuskuläre Erkrankungen (z. B. Myasthenie, Myopathien)
• Malignome

Pharmaka

• Antihypertensiva (z. B. Betablocker)


• Asthmamedikamente (z. B. Theophyllin-Präparate)
• Parkinson-Medikamente
• Antiepileptika
• Hormonpräparate (z. B. Kortikosteroide, L-Thyroxin)
• Antibiotika (z. B. Gyrasehemmer)
• Nootropika
• Acetylsalicylsäure
• Diuretika
• Antriebssteigernde Antidepressiva (z. B. Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, ➤ )
• Antipsychotika
• Hypnotika (z. B. paradoxe Effekte von Benzodiazepinen)
• Stimulanzien (Amphetamine)
• Genussmittel (Koffein, Nikotin, Alkohol)

Im Vordergrund der Therapie stehen die Aufklärung des Patienten über die Genese der Schlafstörung und die Behandlung der körperlichen
Grunderkrankung. Bei schweren Schlafstörungen kann die kurzzeitige Gabe eines sedierenden Medikaments indiziert sein. Dieses sollte entsprechend der
organischen Erkrankung und dem Nebenwirkungsspektrum ausgewählt werden (➤ ) . Zur Anwendung kommen dabei häufig Benzodiazepin-Präparate, die
jedoch wegen der Gefahr einer Toleranz- und Abhängigkeitsentwicklung nur über einen kurzen Zeitraum gegeben werden sollten. Empfehlenswerter sind
Benzodiazepin-Analoga (Z-Substanzen) und bestimmte trizyklische Antidepressiva in niedriger Dosierung (z. B. Doxepin, Trimipramin, s. a. ➤ ). Bei älteren
und kardial vorgeschädigten Patienten empfiehlt sich die Gabe eines sedierenden niedrigpotenten Antipsychotikums (z. B. Melperon, Pipamperon). Leichtere
Schlafstörungen lassen sich u.  U. bereits mit einem pflanzlichen Präparat oder einem Antihistaminikum günstig beeinflussen. Ungünstige Schlaf- und
Bettgewohnheiten sollten ebenfalls berücksichtigt werden.
Tab. 17.10 Welches Schlafmittel ist wann günstig? (s. a. ➤ )
Substanz Anwendung
Pflanzliche Präparate Leichte Schlafstörungen
(z. B. Baldrian, Hopfen, Melisse)

Antihistaminika Leichte Schlafstörungen, keine kardiale Vorschädigung


(z. B. Diphenhydramin)

Benzodiazepine Kurzzeitige medikamentöse Intervention, mittelgradige oder schwere Schlafstörungen, junger Patient oder Patient
(z. B. Lormetazepam) oder mittleren Alters
Benzodiazepin-Analoga
(z. B. Zopiclon)

Sedierende Antipsychotika Längerfristige Anwendung bei älteren und kardial vorgeschädigten Patienten
(z. B. Melperon, Pipamperon)

Trizyklische Antidepressiva Patienten jüngeren und mittleren Alters, keine wesentliche kardiale Vorschädigung, gleichzeitiges Bestehen
(z. B. Trimipramin, Doxepin, chronischer Schmerzen
Amitriptylin)

Andere Antidepressiva Auch für ältere Patienten geeignet; Mirtazapin nicht geeignet für Patienten mit Übergewicht / Adipositas oder RLS
(z. B. Trazodon, Mirtazapin)

Besteht der Verdacht, dass die Ursache der Schlafstörung ein Medikament ist, sollte dies nach Möglichkeit abgesetzt werden. Schwierig ist die Situation,
wenn ein den Schlaf störendes Medikament für den Patienten überlebensnotwendig ist. Die Aufklärung über den Grund der Schlafstörungen kann hier bereits
eine erhebliche Entlastung erbringen. Darüber hinaus sind auch hier manchmal Interventionen zur Verbesserung der Schlafhygiene (➤ ) oder eine kurzzeitige
medikamentöse Behandlung sinnvoll.

17.5.2. Schlafstörungen bei psychischen Erkrankungen


Wie bereits erwähnt, kann auch der Missbrauch oder die Abhängigkeit von psychotrop wirksamen Substanzen zu erheblichen Schlafstörungen führen.
Dabei kann es sich um die direkte Wirkung der eingenommenen Substanz, um Rebound- oder paradoxe Effekte, eine Toleranzentwicklung oder eine
Entzugssymptomatik handeln. So leiden z. B. fast alle alkoholabhängigen Patienten unter einer erheblichen Reduktion des Tiefschlafs, etwa die Hälfte an einer
Störung der Schlafkontinuität.
Besonders häufig sind Klagen über gestörten oder oberflächlichen Schlaf bei akuten affektiven Störungen, Schizophrenien o d e r demenziellen
Erkrankungen.
Da Schlafstörungen z.  B. während einer schweren depressiven Episode als extrem quälend erlebt werden und Schlafmangel in der Manie zur
Aufrechterhaltung der Symptomatik beiträgt, sollten diese im Akutzustand symptomatisch mit Benzodiazepinen zur Nacht gelindert werden (z. B. Diazepam 5–
10  mg, Lorazepam 0,5–1  mg). Der Patient sollte über das Abhängigkeitspotenzial und die symptomatische Wirkung der Benzodiazepine entsprechend
aufgeklärt werden (➤ ). Unerlässlich ist aber die Therapie der Grunderkrankung.
B e i demenziellen Prozessen können Schlafstörungen  –  neben der symptomatischen Behandlung der Grunderkrankung  –  in leichteren Fällen mit
niedrigpotenten Antipsychotika gebessert werden (z. B. Pipamperon 40–80 mg, Melperon 25–75 mg), die hier bei den zumeist älteren Patienten aufgrund des
Nebenwirkungsprofils (gute sedierende Eigenschaften, keine anticholinergen Effekte) anderen Substanzgruppen vorzuziehen sind.

Merke
Bei sekundären Insomnien, die durch eine akute psychische Erkrankung verursacht sind, sollte neben der Therapie der
Grunderkrankung unbedingt eine symptomatische Behandlung der Schlafstörung erfolgen.

Literatur
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S1-Leitlinie Nichtorganische Schlafstörungen; (letzter Zugriff: 29.1.2019).
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Spiegelhalder K, Backhaus J, Riemann D (2011). Schlafstörungen. 2. A. Göttingen: Hogrefe.
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München: Elsevier Urban & Fischer, S. 367–381.
Vignatelli L, D’Alessandro R, Candelise L (2008). Antidepressant drugs for narcolepsy. Cochrane Database Syst Rev 1: CD003724.
Weeß HG (2015). Update Schlafmedizin. 3. A. Bremen: uni-med.
KAPITEL 18

Psychische Störungen bei Kindern und


Jugendlichen
Michael Huss

18.1. Einführung
18.1.1. Klassifikation
Psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen werden nach dem multiaxialen Klassifikationsschema (MAS) der WHO (➤ ) auf mehreren Achsen
abgebildet (➤ ).

Tab. 18.1 Multiaxiales Klassifikationsschema (MAS)


Achse Klassifikation nach WHO Beispiele (Klassifikation nach ICD-10 in Klammern)
1 Klinisch-psychiatrische Syndrome • Hyperkinetische Störungen (F90)
• Ticstörungen (F95)
• Enuresis (F98)

2 Entwicklungsstörungen • Lese- und Rechtschreibstörung (F81.2)


• Rechenstörung (F82.2)

3 Intelligenzniveau Schwere intellektuelle Behinderung (F70)

4 Körperliche Symptomatik Hashimoto-Thyreoiditis (E06.3)

5 Aktuelle psychosoziale Umstände Institutionelle Erziehung (Z62.2)

6 Globalbeurteilung der psychosozialen Anpassung

In diesem Kapitel werden v. a. die in ➤ genannten psychischen Störungen besprochen, die für das Kindes- und Jugendalter charakteristisch sind. Da viele
psychische Erkrankungen wie z. B. Essstörungen oder ADHS im Kindes- und Jugendalter beginnen und bis ins Erwachsenenalter persistieren, wird für weitere
Details bei diesen Erkrankungen auf die entsprechenden Kapitel im Buch verwiesen. Hier werden bei diesen Störungen v. a. die spezifischen Besonderheiten im
Kindes- und Jugendalter dargelegt (z. B. ➤ zu den Besonderheiten bei Essstörungen und ➤ für ausführliche Erläuterungen zu diesen Krankheitsbildern).
Tab. 18.2 Spezifische ICD-10-Diagnosen im Kindes- und Jugendalter
F7 Intelligenzminderung
F70 Leichte Intelligenzminderung

F71 Mittelgradige Intelligenzminderung

F72 Schwere Intelligenzminderung

F73 Schwerste Intelligenzminderung

F74 Dissoziierte Intelligenzminderung

F78 Sonstige Intelligenzminderung

F79 Nicht näher bezeichnete Intelligenzminderung


F8 Entwicklungsstörungen
F80 Umschriebene Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache
• F80.0 Artikulationsstörung
• F80.1 Expressive Sprachstörung
• F80.2 Rezeptive Sprachstörung
• F80.3 Erworbene Epilepsie mit Aphasie (Landau-Kleffner-Syndrom)

F81 Umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten


• F81.0 Lese- und Rechtschreibstörung
• F81.1 Isolierte Rechtschreibstörung
• F81.2 Rechenstörung
• F81.3 Kombinierte Störungen schulischer Fertigkeiten

F82 Umschriebene Entwicklungsstörungen der motorischen Funktionen


• F82.0 Grobmotorik
• F82.1 Fein- und Graphomotorik
• F82.2 Mundmotorik

F83 Kombinierte umschriebene Entwicklungsstörungen

F84 Tief greifende Entwicklungsstörungen


• F84.0 Frühkindlicher Autismus
• F84.2 Rett-Syndrom
• F84.5 Asperger-Syndrom

F88 Andere Entwicklungsstörungen

F89 Nicht näher bezeichnete Entwicklungsstörung


F9 Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend
F90 Hyperkinetische Störungen
• F90.0 Einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung
• F90.1 Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens

F91 Störungen des Sozialverhaltens

F92 Kombinierte Störungen des Sozialverhaltens und der Emotionen

F93 Emotionale Störungen des Kindesalters


• F93.0 Emotionale Störung mit Trennungsangst des Kindesalters
• F93.1 Phobische Störung des Kindesalters
• F93.2 Störung mit sozialer Ängstlichkeit des Kindesalters
• F93.3 Emotionale Störung mit Geschwisterrivalität
• F93.8 Sonstige emotionale Störungen des Kindesalters

F94 Störungen sozialer Funktionen mit Beginn in der Kindheit und Jugend
• F94.0 Elektiver Mutismus
• F94.1 Reaktive Bindungsstörung des Kindesalters
• F94.2 Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung

F95 Ticstörungen

F98 Sonstige Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend

F99 Psychische Störung ohne nähere Angaben

In der noch nicht gültigen ICD-11 werden psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen im Kapitel 6 (Psychische und Verhaltensstörungen und
Störungen der neuronalen und mentalen Entwicklung) abgehandelt werden. Weitere Details finden sich in ➤ und in ➤ .

18.1.2. Besonderheiten bei Kindern und Jugendlichen


D i e psychische Entwicklung von Kindern und Jugendlichen durchläuft eine Reihe charakteristischer Phasen, zu denen zahlreiche
entwicklungspsychologische Modelle und umfassende Forschungsergebnisse vorliegen (z.  B. das klassische kognitiv-emotionale Entwicklungsmodell nach
Piaget). Dabei ist die Variationsbreite dessen, was noch als normal angesehen werden kann, recht groß. Psychische Störungen liegen immer dann vor, wenn
zum einen die Entwicklung deutlich von der Normalität abweicht (Symptome) und zum anderen dadurch auch Funktionseinschränkungen hinsichtlich der
Teilhabe entstehen (Funktionsbeeinträchtigungen). Meist ist bei psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter auch die Lebensqualität deutlich
beeinträchtigt, wobei hier durchaus auch die Lebensqualität des sozialen Umfelds eines Patienten (z.  B Mitschüler, Familie) als Spiegel des abweichenden
Verhaltens mit in Betracht gezogen werden muss. So muss z.  B. ein Patient mit einer Störung des Sozialverhaltens keineswegs Einsicht in seine sozial
destruktiven Verhaltensweisen haben, mit denen er seine Mitschüler beeinträchtigt. Kurzfristig mag er sogar durch sein Verhalten eine Aufwertung seiner
Lebensqualität empfinden. Die beeinträchtigte Lebensqualität würde sich dann eher in seinem sozialen Umfeld abbilden. Bezüglich der Symptomatik des
Patienten und seiner Funktionsbeeinträchtigung lässt sich die Abweichung von der Normalität aber sehr gut definieren.
Für die Diagnostik und Behandlung von psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter sind daher umfassende Kenntnisse der Normalentwicklung, der
psychosozialen Verankerung eines Kindes in Familie, Schule und gesellschaftlichem Umfeld, aber auch eine Kenntnis der starken biologischen
Entwicklungseinflüsse (z. B im Rahmen der Pubertät) erforderlich.
Die Ätiologie psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter basiert somit auf einer multifaktoriellen Genese, in der biologische, psychologische und
soziale Aspekte eine große Rolle spielen (➤ , s. a. ➤ und ➤ ).

Abb. 18.1 Allgemeine Charakteristik der Entwicklung kinder- und jugendpsychiatrischer Syndrome [L141]

Um diese verschiedenen Aspekte angemessen berücksichtigen zu können, bedarf es auch einer Mehrebenendiagnostik, basierend auf einer multiaxialen
Klassifikation (➤ ). Neben der Erhebung objektiver Angaben im Rahmen der Familien- und Eigenanamnese spielt die Fremdbeurteilung eine sehr wichtige
Rolle. Sie weicht oft von der Einschätzung der Kinder und Jugendlichen ab. In diesem Fall muss eine qualifizierte und begründete Gewichtung der Information
vorgenommen werden (z.  B. suizidale Gedanken eher als Eigenanamnese; soziale Integration im Kindesalter eher aus Sicht der Eltern oder Lehrer). Eine
kindgerechte Exploration und Beobachtung des Kindes oder Jugendlichen sowie eine umfassende somatische und psychodiagnostische Untersuchung ergänzen
diese Diagnostik.
Ein mehrdimensionales, entwicklungsorientiertes Krankheitsverständnis bei Kindern und Jugendlichen führt auch zu einem mehrebenenorientierten,
personen- und umweltzentrierten sowie altersbezogenen Therapieverständnis. Daher sollte auch die Therapie, wann immer möglich, mehrdimensional
angelegt werden; sie umfasst Bereiche wie Psychoedukation, Psychotherapie, Pharmakotherapie sowie die intensive Einbeziehung der Familie und des sozialen
Umfelds. Die Prognose psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen hängt sehr stark von prämorbiden Faktoren, der individuellen
Verlaufscharakteristik der Störung, einer möglichen Komorbidität und der Einflussnahme der sozialen Umgebung ab.

18.2. Intelligenzminderung (Oligophrenie, geistige Behinderung)


Definition
Eine Intelligenzminderung ist definiert als eine von der normalen Entwicklung deutlich abweichende, stehengebliebene oder unvollständige Entwicklung
der geistigen Fähigkeit, die sich im Laufe der Jahre manifestiert; dabei sind insbesondere Fertigkeiten beeinträchtigt, die zum Intelligenzniveau beitragen (z. 
B. Kognition, Sprache, motorische und soziale Fähigkeiten). Synonyme Begriffe für Intelligenzminderung nach ICD-10 sind Oligophrenie und geistige
Behinderung.
Hiervon unterschieden wird die Demenz, bei der es sich um einen umschriebenen Abbauprozess bereits ausgebildeter und entwickelter
Intelligenzfunktionen handelt.
Unter den Intelligenzminderungen ist die leichte Intelligenzminderung mit 80 % am häufigsten vertreten. Es folgen die mittelgradige Intelligenzminderung
mit ca. 12  %, die schwere Intelligenzminderung mit 7  % und die schwerste Intelligenzminderung mit weniger als 1  %. Die Klassifikation der
Intelligenzminderungen nach ICD-10 ist in ➤ wiedergegeben.
Tab. 18.3 Klassifikation nach Intelligenz und Förderungsmöglichkeit gemäß ICD-10
Intelligenz IQ Auswirkung
Niedrige Intelligenz (Lernbehinderung) 85– Die Betroffenen können sich im Leben selbstständig zurechtfinden; Verrichtung einfacher
70 beruflicher Tätigkeiten möglich, Besuch der Hauptschule oder der Schule zur individuellen
Lernförderung

Leichte Intelligenzminderung (leichte geistige 69– Verrichtung einfacher praktischer Tätigkeiten möglich, Besuch der Schule zur individuellen
Behinderung, früher: Debilität) 50 Lernförderung oder individuellen Lebensbewältigung

Mittelgradige Intelligenzminderung 49– Die Betroffenen sind von familiärer oder institutioneller Fürsorge abhängig; einfache Tätigkeiten
(mittelgradige geistige Behinderung, früher: 35 nur in beschützten Werkstätten möglich, Besuch der Schule zur individuellen Lebensbewältigung
Imbezillität)

Schwere Intelligenzminderung (schwere 34– Die Betroffenen sind mehrheitlich in Institutionen untergebracht, Schulbesuch kaum möglich,
geistige Behinderung, früher: ausgeprägte 20 häufig zusätzliche Behinderungen vorhanden, z. B. Lähmungen
Imbezillität)

Schwerste Intelligenzminderung (schwerste 19– überwiegend Pflegefälle mit Mehrfachbehinderungen


geistige Behinderung) 0

Epidemiologie
In epidemiologischen Studien liegt der Anteil der geistig Behinderten in der deutschen Gesamtbevölkerung bei etwa 2–3  % (für Kinder und Jugendliche
differenziert nach Geschlechtern: 5,4  % bei Jungen und 2,9  % bei Mädchen). Zu dem höheren Anteil von Jungen trägt u.  a. eine Reihe X-chromosomal
vermittelter Störungen bei, die mit leichter bis mittelgradiger Intelligenzminderung einhergehen. Bei schwereren Graden der geistigen Behinderung scheint kein
signifikanter Unterschied zwischen den Geschlechtern zu bestehen.

Ätiologie
Trotz des medizinischen Fortschritts ist die Ätiologie bei ca. 50 % der von geistiger Behinderung Betroffenen nicht bekannt. Sicherlich nehmen biologische
Faktoren starken Einfluss auf die Ausbildung von Intelligenzfunktionen. Die biologischen Ursachen lassen sich nach dem Zeitpunkt der Entstehung
unterteilen (➤ ). Doch trotz des hohen Anteils biologischer Faktoren spielt auch bei entsprechend disponierten Patienten in jeder Lebensphase eine möglichst
optimale Förderung der Fertigkeiten eine maßgebliche Rolle. Dabei muss allerdings ein dem Störungsbild adäquates Maß zwischen Förderung und Forderung
gefunden werden, und auch die Bezugspersonen benötigen häufig eine entsprechende psychosoziale Unterstützung, wobei eine gute Kenntnis der Ätiologie
zumindest in der Anfangsphase für die Akzeptanz und den Umgang mit dem Störungsbild eine wichtige Rolle spielt.

Tab. 18.4 Ätiologie der Intelligenzminderung


Pränatal entstandene Formen Genmutationen • Stoffwechselstörungen (z. B.Phenylketonurie)
• Dominant vererbte Genmutationen (z. B. Neurofibromatose)
• X-chromosomal (z. B. Rett-Syndrom)

Fehlbildungs-, Retardierungssyndrome • z. B. Prader-Willi-Syndrom

Chromosomenanomalien • Trisomien (z. B. Down-Syndrom)


• Deletionen (z. B. Katzenschrei-Syndrom)
• Gonosomale Aberrationen (z. B. Klinefelter-Syndrom / XXY-Syndrom)

exogen verursacht • Infektionen (z. B. Röteln)


• Toxisch (z. B. Alkohol oder Strahlen)

Perinatal entstandene Formen Geburtstraumata • z. B. Sauerstoffmangel oder Frühgeburt

Postnatal entstandene Formen Schäden mit funktioneller Beeinträchtigung • Schädel-Hirn-Traumata


• Entzündungen
• Tumoren

Des Weiteren ist die Aufklärung der Ätiologie auch vom Schweregrad der Intelligenzminderung abhängig. Mit zunehmendem Schweregrad sind organische
Schäden, Fehlbildungen, Stoffwechselstörungen und andere körperliche Merkmale sehr viel stärker mit einer Intelligenzminderung assoziiert.

Symptomatik
Folgende Symptome können bei einer Intelligenzminderung auftreten:

• Starke Beeinträchtigung der Anpassungsfähigkeit an neue und geänderte Situationen


• Unfähigkeit zur Differenzierung zwischen Wichtigem und Unwichtigem
• Störungen im Bereich von Antrieb und Affekt
• Ausgeprägter Bewegungsdrang (erethisch) mit Kurzschlusshandlungen
• Bei schwerer geistiger Behinderung häufig Automutilation (Selbstverstümmelung)
• Essen ungenießbarer, nicht zum Essen geeigneter Sub-stanzen und Gegenstände (Pica)
• Psychische Störungen

Bei Kindern und Jugendlichen mit Intelligenzminderung treten psychische Störungen deutlich häufiger auf als bei normal Intelligenten. Geistig behinderte
Kinder und Jugendliche haben ein drei- bis viermal höheres Risiko, an einer psychischen Störung zu erkranken, als normal Begabte. Schwer geistig Behinderte
sind sehr viel häufiger davon betroffen als leicht geistig Behinderte.

Merke
Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung sind häufiger zusätzlich mit psychischen Störungen belastet.

Diagnostik
Diagnostisch bedürfen Kinder und Jugendliche mit einer Intelligenzminderung einer sorgfältigen Anamneseerhebung, einer internistisch-neurologischen
Untersuchung, einer neuropsychologischen Testdiagnostik sowie einer Reihe apparativer und laborgestützter Untersuchungen. Beim Verdacht auf Vorliegen
eines durch eine Genmutation entstandenen Syndroms bedarf es zusätzlich auch psychogenetischer Untersuchungen.
Differenzialdiagnostisch müssen die Intelligenzminderungen zunächst von demenziellen Entwicklungen (z.  B. bei einem Rett-Syndrom, ➤ ) abgegrenzt
werden. Auch der frühkindliche Autismus (➤ ) kann differenzialdiagnostisch wichtig sein. Häufig findet sich bei Intelligenzminderungen auch komorbid ein
zerebrales Anfallsleiden, sodass die Ableitung eines EEG empfohlen wird. Des Weiteren spielen genetische Untersuchungen eine zunehmende Rolle bei der
differenzialdiagnostischen Abklärung von Intelligenzminderungen, wobei die Heterogenität der genetischen Auffälligkeiten sehr hoch ist. Man geht von über
500 Genvarianten aus, die mit Intelligenzminderung assoziiert sein können, und es wird angenommen, dass diese Zahl in den nächsten Jahren noch deutlich
ansteigen wird. Allerdings haben nur wenige genetische Befunde eine direkte Handlungsrelevanz für die Betroffenen, sodass sie häufig eher zur Beratung der
Eltern oder im Sinne einer Antistigmatisierung herangezogen werden.
Eine Bildgebung oder der Einsatz spezifischer apparativer Verfahren zur Differenzialdiagnose von Fehlbildungen; Hydrozephalus oder umschriebenen
Einschränkungen der Sinnesfunktionen erfordern ein interdisziplinäres Vorgehen im Rahmen der Diagnostik, günstigenfalls in darauf spezialisierten Zentren.

Therapie
Die Therapie ist in den meisten Fällen nicht kausal orientiert, sondern erfolgt in erster Linie symptomatisch. Dabei sind funktionelle Übungsbehandlungen
besonders bei Störungen im motorischen Bereich oder bei Einschränkungen der Sinnesfunktionen anzuraten. Verhaltenstherapeutische Maßnahmen haben
sich zur Verbesserung von Verhaltensauffälligkeiten (z.  B. selbstverletzendes Verhalten) bewährt. Sie kommen aber auch bei der Unterstützung der
Verselbstständigung (z. B. selbstständiges Essen oder Anziehen) zum Tragen. Meist wird dabei stark symptomorientiert mit Verstärkerplänen gearbeitet, die es
auf das jeweilige Störungsbild und die individuellen Gegebenheiten und Interessenlagen zu optimieren gilt.
Eine medikamentöse Behandlung kann z. B. nötig sein, um eine Hyperaktivität zu mildern. Hier kommen in erster Linie niedrigpotente Antipsychotika der
1. Generation oder Antipsychotika der 2. Generation (➤ ) wie Risperidon infrage. Allerdings gibt es hierzu praktisch keine gesicherte Evidenz aus klinischen
Studien. Des Weiteren sind z. B. bei deutlich geminderter Aufmerksamkeitsspanne auch Stimulanzien (➤ ) in Betracht zu ziehen, wobei allerdings angesichts
des ungünstigeren Nutzen-Risiko-Verhältnisses bei Intelligenzminderung eine gründliche individuelle Nutzen-Risiko-Abwägung getroffen werden sollte.
Von großer Bedeutung sind die Unterstützung und Beratung der engen Bezugspersonen und des sozialen Umfelds. Dabei spielen in besonderer Weise auch
Selbsthilfegruppen eine große Rolle, die sich für eine Vielzahl spezifischer Störungsbilder, die u.  a. auch mit Intelligenzminderung einhergehen, etabliert
haben. Viele intelligenzgeminderte Kinder werden auf einer Spezialschule zur individuellen Lebensbewältigung betreut, wobei mit zunehmender Umsetzung
von Inklusion auch vermehrt entsprechende Herausforderungen im Regelschulbetrieb adressiert werden müssen. An den Schulbesuch schließt sich meist eine
Werkstufe an, und ein Großteil der stärker eingeschränkten Kinder und Jugendlichen findet Arbeit in betreuten Werkstätten. Grundsätzlich gilt hier, dass die
individuelle Ausprägung der Intelligenzminderung bzw. die verfügbaren Interessen und Stärken bei der Wahl einer institutionellen Förderung einbezogen
werden sollten.

18.3. Umschriebene Entwicklungsstörungen


Entwicklungsstörungen nehmen ihren Beginn meist im Kleinkindalter und sind eng mit der biologischen Reifung des Nervensystems verknüpft.
Definitionskriterien einer umschriebenen Entwicklungsstörung nach ICD-10 (F90) sind:

• Sie beginnt ausnahmslos in der Kindheit.


• Störungen der sprachlichen, motorischen und schulischen Fertigkeiten sind eng mit der biologischen Reife des ZNS verbunden.
• Sie ist nicht Ausdruck einer allgemeinen Intelligenzminderung.
• Sie ist nicht Ausdruck einer mangelhaften Förderung.
• Der Verlauf ist nicht durch spontane Remissionen oder Rezidive charakterisiert.
• Sie ist nicht Folge einer organischen oder primär psychischen Störung.

Von den in diesem Kapitel besprochenen „umschriebenen Entwicklungsstörungen“ (ICD-10 F80, 81 und 82) unterscheidet die ICD-10 die „tief greifenden
Entwicklungsstörungen“ (F84), die in ➤ dargestellt werden.
Innerhalb der umschriebenen Entwicklungsstörungen werden in der ICD-10 die umschriebenen Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache
von umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten und umschriebenen Entwicklungsstörungen der motorischen Funktionen unterschieden
(➤ ). Gemeinsam ist ihnen, dass sie im Kleinkindalter oder in der Kindheit beginnen, die Entwicklungsstörung eng mit der biologischen Reifung des ZNS
verknüpft ist und der Entwicklungsstörung keine Periode normaler Entwicklung im betroffenen Bereich vorausgegangen ist.
Tab. 18.5 Klassifizierung der umschriebenen Entwicklungsstörungen
Entwicklungsstörung Klassifikation Beispiele
Umschriebene Entwicklungsstörungen des Sprechens und Artikulationsstörung (F80.0) • Dyslalie
der Sprache (F80) • Entwicklungsbedingte
Artikulationsstörung
• Funktionelle
Artikulationsstörung
• Lallen
• Phonologische
Entwicklungsstörung

Expressive Sprachstörung (F80.1) • Dysphasie oder Aphasie,


expressiver Typ

Rezeptive Sprachstörung (F80.2) • Dysphasie oder Aphasie,


rezeptiver Typ
• Wernicke-Aphasie
• Worttaubheit

Erworbene Aphasie mit Epilepsie (Landauer-Kleffner-


Syndrom) (F80.3)

Sonstige Entwicklungsstörungen des Sprechens und Lispeln


der Sprache (F80.8)

Umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Lese- und Rechtschreibstörung (F81.0) • Entwicklungsdyslexie


Fertigkeiten (F81) • Umschriebene Lesestörung
• „Leserückstand“

Isolierte Rechtschreibstörung (F81.1)

Rechenstörung (F81.2) • Entwicklungsbedingtes


Gerstmann-Syndrom
• Entwicklungsstörung des
Rechnens
• Entwicklungsakalkulie

Kombinierte Störung schulischer Fertigkeiten (F81.3)

Umschriebene Entwicklungsstörung der motorischen Umschriebene Entwicklungsstörung der


Funktionen (F82) • Grobmotorik (F82.0)
• Fein- und Graphomotorik (F82.1)
• Mundmotorik (F82.2)

18.3.1. Umschriebene Entwicklungsstörung des Sprechens und der Sprache


In der Sprachentwicklung eines Kindes kommt es im Alter von 3–5 Monaten zu ersten Vokalen, Blas- und freudigen Schreilauten. Ab dem 6. Lebensmonat
werden zunehmend häufiger Konsonanten verwendet, und mit 7–8 Monaten setzt die Fähigkeit zur unmittelbaren sprachlichen Nachahmung ein. Dabei ist das
Sprachverständnis (rezeptive Sprache) im Kleinkindalter deutlich früher entwickelt als der sprachliche Ausdruck (expressive Sprache). Die ersten Wörter
treten bei den meisten Kindern zwischen dem 12. und 18. Lebensmonat auf. Ab einem Wortschatz von 20–50 Wörtern kommt es zu ersten Zweiwortsätzen.
Mit dem Eintritt in den Kindergarten ist die Sprache bei den meisten Kindern so weit entwickelt, dass sie beim täglichen Umgang in vollständigen und
grammatikalisch weitgehend korrekten Sätzen sprechen können. Dabei kann die Artikulation noch unvollständig sein.
Störungen in der Sprach- und Sprechentwicklung können durch Logopäden (Sprachheilpädagogen) behandelt werden.

Merke
Im Hinblick auf die Definition ist es wichtig, Sprachstörungen von Sprechstörungen zu unterscheiden. Bei
Sprachstörungen werden Wort- und Satzform sowie Wort- und Satzbedeutung fehlerhaft verstanden oder produziert.
Sprechstörungen sind hingegen Defizite im Redefluss.

Sprachstörungen
Neben der normalen Sprachentfaltung kann es zur Störung der Sprachentwicklung und des Sprachverständnisses kommen, was unterschiedliche Ursachen
haben kann. Es kann sich z. B. um eine Hörstummheit (Audimutitas) handeln, aber auch um eine fehlende oder unzureichende sprachliche Stimulation eines
deprivierenden Umfelds.
Ein Subtyp der Sprachstörung ist die Artikulationsstörung (Synonyme: Stammeln und Dyslalie ). Hier fehlen einzelne Laute oder Lautverbindungen völlig
bzw. werden durch andere ersetzt oder entstellt gebildet. Artikulationsstörungen sind die häufigsten Sprachentwicklungsstörungen und finden sich bei etwa 7 %
der 5-jährigen Jungen und bei 2  % der gleichaltrigen Mädchen. Die Benennung der Art der Lautstörung erfolgt nach der Regel, dass der griechischen
Bezeichnung des fehlerhaft gebildeten Lautes die Endung „-tismus“ oder „-zismus“ angefügt wird, z. B. Sigmatismus, Rhotazismus, Kappazismus.
Agrammatismus u n d Dysgrammatismus sind Sprachstörungen, die auf einer Unfähigkeit beruhen, grammatikalisch korrekt zu sprechen.
Dysgrammatismus kommt etwa bei 3 % der 6-jährigen Jungen und bei 1,5 % der gleichaltrigen Mädchen vor.

Sprechstörungen
Bei den Sprechstörungen handelt es sich um Störungen des Sprechablaufs (Redeflusses).

• Das Stottern ist eine Störung des Sprechflusses (keine Sprachstörung), charakterisiert durch Hemmung (tonisches Stottern) und Unterbrechung
(klonisches Stottern) des Sprechablaufs. Dabei werden Laute, Silben oder Wörter häufig wiederholt oder gedehnt, der rhythmische Sprechfluss ist
durch das Innehalten oder Zögern unterbrochen. 5 % der 5-jährigen Jungen und 2 % der 5-jährigen Mädchen zeigen diese Störung.
• Das Poltern ist eine Störung des Redeflusses (nicht der Sprache). Dabei zeigt sich eine hohe fehlerhafte Sprechgeschwindigkeit, die unrhythmisch
und ruckartig verläuft, ohne dass es zu Wiederholungen oder Verzögerungen wie beim Stottern kommt. Poltern ist wie auch das Stottern im Alter
zwischen 3 und 5 Jahren noch physiologisch. Im Unterschied zum Stottern bessert sich das Sprechverhalten häufig bei Aufmerksamkeitszuwendung
und Sprechen vor fremden Personen.

Ätiologie
Ausschlaggebend für die Entstehung von Sprachstörungen sind wahrscheinlich polygene genetische Faktoren. Zudem spielen sicherlich psychosoziale
Faktoren eine Rolle. So hängt z. B. Sprachanbahnung auch stark von Anregung ab. Intrafamiliäre und institutionelle Mangelanregungen können sich somit
nachteilig auf die Sprachentwicklung auswirken.

Differenzialdiagnosen und Therapie


Differenzialdiagnostisch sind Hörstörungen, geistige Behinderung, frühkindlicher Autismus, sprachliche Deprivation sowie Sprachverlustsyndrome infolge
einer erworbenen Hirnschädigung (z.  B. Aphasien) auszuschließen. Eine weitere Differenzialdiagnose ist der Mutismus, bei dem es sich um eine
Sprechverweigerung bei vorhandenem Sprachvermögen handelt.
Nach ausführlicher Diagnostik bedarf es einer differenzierten logopädischen Behandlung. Dabei stehen Imitationstraining mit spielerisch gestalteter
Übungssituation sowie verhaltenstherapeutisch orientierte Behandlungsprogramme im Vordergrund.

18.3.2. Umschriebene Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten


Zu den umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten gehören die Lese- und Rechtschreibstörung (Legasthenie), d i e Rechenstörung
(Dyskalkulie) sowie die Kombination aus beidem. Diesen Lernschwierigkeiten ist gemeinsam, dass sie trotz hinreichender allgemeiner Intelligenz sowie
umfassender familiärer und schulischer Lernanregung als Teilleistungsstörung vorkommen.
Die Prävalenz von umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten liegt bei ca. 10  % aller Kinder und Jugendlichen. Dabei sind Jungen
deutlich häufiger betroffen.
Für die Lese- und Rechtschreibstörung finden sich Prävalenzraten zwischen 4 und 8 %, für die Rechenstörung werden bis zu 6 % angenommen.

Lese- und Rechtschreibstörung (Legasthenie)

Ätiologie
Im Hinblick auf die Ätiologie der Lese- und Rechtschreibstörung werden genetisch determinierte und nicht genetisch determinierte Besonderheiten der
zerebralen Informationsverarbeitung betrachtet.
Übungen und die Qualität des Unterrichts beeinflussen das Ausmaß der Beeinträchtigung, sie sind jedoch ebenso wie psychosoziale und primär psychische
Erkrankungen nicht als ursächlich anzusehen.

Symptomatik
Die Symptomatik zeigt sich im Auslassen, Ersetzen, Verdrehen oder Hinzufügen von Wortteilen oder Wörtern. Dabei ist wichtig festzustellen, dass es die
typischen „Legastheniefehler“ nicht gibt. Kennzeichnend ist vielmehr die Diskrepanz der Fehlerhaftigkeit zur Altersnorm u n d zur allgemeinen
intellektuellen Begabung.

Diagnostik
Diagnostisch bedarf es zusätzlich zu den allgemeindiagnostischen Maßnahmen der Durchführung standardisierter Lese- und Rechtschreibtests sowie, um
die Diskrepanz festzustellen, eines ausführlichen Intelligenzmessverfahrens.
Differenzialdiagnostisch müssen neurologische Erkrankungen sowie Seh- und Hörstörungen, aber auch der Verlust einer erworbenen Lesefähigkeit
(Dyslexie) oder Rechtschreibfähigkeit (Dysgrafie) aufgrund einer erworbenen zerebralen Schädigung ausgeschlossen werden. Bei mangelnder Förderung und
Unterrichtung muss auch untersucht werden, ob nicht ein Analphabetismus vorliegt.

Therapie
Therapeutisch stehen die Beratung des Kindes und der Eltern sowie eine spezifische Übungsbehandlung des Lesens, Rechtschreibens bzw. Rechnens im
Vordergrund. In Einzelfällen bedarf es zusätzlich psychotherapeutischer Maßnahmen, darüber hinaus sozialrechtlicher Hilfen und der Ausschöpfung
schulrechtlicher Möglichkeiten. Die Lese- und Rechtschreibstörung wie auch die Rechenstörung sind i. d. R. ab der 2. und 3. Grundschulklasse diagnostisch
feststellbar.

Kasuistik
Der 9-jährige Sven war bis zum Schuleintritt ein fröhlicher, unbelasteter, altersentsprechend entwickelter Junge. Mit der Einschulung zeigt sich, dass er
große Schwierigkeiten hat, das Lesen zu erlernen, und trotz intensivsten Übens mit seiner Mutter kaum laut vorlesen kann. Dabei weist er auch massive
Rechtschreibprobleme auf. In den Nachschriften erreicht Sven trotz der ständigen Nachhilfe durch die Mutter immer nur die Note 6. Die Mutter ist
verzweifelt, weil Sven in einem Text die gleichen Wörter ganz verschieden und meistens falsch schreibt. Die Lehrerin teilt Sven mit, dass er im Lesen und
Rechtschreiben einfach mehr üben müsse.
Dabei erbringt er im Rechnen sehr gute Leistungen und liefert auch in anderen Fächern wie Sachunterricht gute und durchdachte Beiträge. Bald mag
Sven mit der Mutter nicht mehr üben; er verweigert alles, was mit Lesen und Rechtschreiben zu tun hat, und immer häufiger klagt er über Kopf- und v. a.
Bauchschmerzen. Diese Bauchschmerzen sind besonders morgens vor der Schule sehr schlimm, und Sven hat immer mehr Fehltage. Schließlich lässt die
Mutter ihn kinderpsychiatrisch untersuchen. Es zeigt sich, dass er ein sehr gut begabter Junge ist, bei dem eine Teilleistungsstörung in Form einer Lese-
und Rechtschreibstörung (ICD-10 F81.0) vorliegt.

Rechenstörung (Dyskalkulie)

Ätiologie
Man nimmt an, dass hier Defizite bei der Sprachinformationsverarbeitung aufgrund von Defiziten bei der visuell-räumlichen Informationsverarbeitung
sowie genetische Aspekte eine Rolle spielen.

Symptomatik
Symptomatisch finden sich bei der Rechenstörung Schwierigkeiten in der Zahlensemantik. Folglich werden Rechenoperationen nicht verstanden, es liegen aber
auch Schwächen im sprachlichen Umgang mit Zahlen vor. Schwierigkeiten bereiten zudem der Erwerb des arabischen Stellenwertsystems und der
syntaktischen Regeln sowie Rechenprozeduren wie Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division. Problematisch ist auch das richtige Einordnen von
Einer-, Zehner- oder Hunderterstellen.

Diagnostik
Diagnostisch bedarf es auch hier einer standardisierten Intelligenzfeststellung sowie der Durchführung standardisierter Rechentests. Die weiteren
allgemeinen therapeutischen Maßnahmen gleichen denen bei einer Lese- und Rechtschreibstörung.

Verlauf
Bei den umschriebenen Störungen der schulischen Fertigkeiten kommt es häufig durch die negativen schulischen Erfahrungen (Versagen, schlechte
Leistungen, Spott etc.) zur sekundären Ausbildung emotionaler Störungen wie Ängsten, Depressionen bis hin zu Schulverweigerung, Störungen im
Sozialverhalten, psychosomatischen Problemen, Störungen in der Eltern-Kind-Beziehung und Suizidalität. Maßgeblich für die Bereitschaft des betroffenen
Kindes ist es, Wege zu finden, seinen Selbstwert z. B. in anderen Leistungsfeldern so zu stabilisieren, dass auch in den von der Störung betroffenen Bereichen
weiterhin eine Leistungsbereitschaft besteht. Der Einsatz von Nachteilsausgleich, PC-gestützten Trainingsprogrammen, aber auch die geeignete Auswahl von
Schwerpunktfächern, eine gute Psychoedukation sowie die Anbahnung der beruflichen Entwicklung in der Adoleszenz können den Verlauf maßgeblich
beeinflussen.

18.3.3. Umschriebene Entwicklungsstörung der motorischen Funktionen


Epidemiologie
Bei der umschriebenen Entwicklungsstörung der motorischen Funktionen zeigt sich eine Teilleistungsstörung, die in der gestörten motorischen Entwicklung
des Kindes zum Ausdruck kommt. Epidemiologisch ist festzustellen, dass in der allgemeinen Schülerpopulation ca. 3  % aller Schüler an motorischen
Entwicklungsrückständen leiden. In zwei Drittel der Fälle sind Jungen betroffen.

Ätiologie
Ätiologisch werden genetische Aspekte, aber auch erworbene Besonderheiten (z.  B. durch prä- und perinatale Komplikationen) der für die Sensomotorik
pathogenetisch relevanten Hirnfunktionen als ursächlich angesehen.

Symptomatik
Kinder mit dieser Entwicklungsstörung sind ungeschickt und haben Schwierigkeiten, sich selbst anzukleiden, die Schuhe zuzubinden, mit Stiften und Schere
zu arbeiten, zu zeichnen und zu malen. Auch komplexere motorische Vorgänge wie Fahrradfahren oder Schwimmen werden deutlich verspätet erlernt.
Aufgrund dieser Defizite geraten die Kinder in der Schule und im Freizeitbereich schnell in eine Außenseiterrolle.

Diagnostik
Diagnostische Verfahren zur Bestimmung der motorischen Entwicklung sind z.  B. im Vorschulalter der Denver-Entwicklungstest oder die Münchner
funktionelle Entwicklungsdiagnostik. Im Schulalter ist der Körperkoordinationstest zu nennen.
Des Weiteren sollten diagnostisch auch visuomotorische Fertigkeiten z. B. mit dem Frostig-Entwicklungstest erfasst werden.
Differenzialdiagnostisch müssen Zerebralparesen, motorische Entwicklungsbeeinträchtigung bei Intelligenzminderung, Sehbehinderung, aber auch andere
psychiatrische Störungen wie Autismus, Zwang oder Psychose ausgeschlossen werden.

Therapie
Therapeutisch bedarf es einer frühen Förderung motorischer Erfahrungen und Fertigkeiten. Die Übungsbehandlungen (sensorisch-integrative Therapie,
Wahrnehmungstraining) finden im Rahmen von Ergotherapie, Motopädie und Krankengymnastik statt.

18.4. Tief greifende Entwicklungsstörungen


Zu den wichtigsten tief greifenden Entwicklungsstörungen gehören:

• Frühkindlicher Autismus nach Kanner (F84.0)


• Asperger-Autismus (F84.5)
• Rett-Syndrom (F84.2)

18.4.1. Autismus
Definition
Autistische Störungen zeichnen sich durch eine qualitative Beeinträchtigung in den sozialen Interaktionen und Kommunikationsmustern sowie durch ein
eingeschränktes, stereotypes, sich wiederholendes Repertoire von Interessen und Aktivitäten aus. Man unterscheidet klinisch zwei Formen: den
frühkindlichen Autismus nach Kanner und den Asperger-Autismus.
Das Rett-Syndrom (➤ ) wird ebenfalls in der Gruppe der autistischen Störungen angeführt, tritt aber im Vergleich zum frühkindlichen Autismus nach
Kanner und zum Asperger-Syndrom deutlich seltenerer auf und zeigt zusätzlich eine demenzielle Entwicklung (Verlust bereits erworbener Fähigkeiten).
Wenn auch weiterhin in Deutschland nach dem Klassifikationssystem ICD-10 diagnostiziert wird, so hat doch die geänderte Definition von Autismus – nun
im Sinne einer Autismus-Spektrum-Störung  –  in der angloamerikanischen und eher wissenschaftsorientierten DSM-5®-Klassifikation auch in Deutschland
viele Fragen aufgeworfen und die klinische Sichtweise beeinflusst. Im DSM-5® wird nicht mehr von verschiedenen Störungsbildern (Kanner-Syndrom,
Asperger-Syndrom etc.) gesprochen, sondern nur noch von Autismus-Spektrum-Störungen, die alle bisherigen Störungsbilder umfassen. Auch werden die
Kernsymptome dort anders gruppiert (soziale Interaktion und Kommunikation als ein Symptombereich; stereotypes und repetitives Verhalten als weiterer
Symptombereich). Weiterhin wird eine Einteilung nach klinischen Schweregraden vorgenommen, und auch der Aspekt der Lebensspanne wird wesentlich
differenzierter mit in Betracht gezogen (insb. die Entwicklung ins Erwachsenenalter, ➤ ).

Epidemiologie
Epidemiologische Studien zeigen, dass unter 10.000 Kindern und Jugendlichen bis zu fünf an einem frühkindlichen Autismus nach Kanner leiden. Dabei sind
Jungen etwa zwei- bis dreimal häufiger betroffen als Mädchen. Befürchtungen, dass mit der Einführung des Konzepts der Autismus-Spektrum-Störung die
Prävalenzraten anstiegen, scheinen sich nach ersten Metaanalysen nicht zu bestätigen. Im Gegenteil: Es ist eher von einer Absenkung der Prävalenzraten
auszugehen.

Ätiologie
Die Ätiologie des Autismus ist trotz intensiver Forschung weiterhin nicht hinreichend geklärt. Es zeigt sich, dass von einem multifaktoriellen Prozess
auszugehen ist. Als wesentliche Ursache werden Besonderheiten in der kognitiven Informationsverarbeitung angesehen, die in genetisch veranlagten
neurobiologischen Strukturen und Mechanismen des zentralen Nervensystems ihren Ursprung haben und interaktiv im Entwicklungsprozess überformt werden.

Merke
Autistische Syndrome sind nicht auf falsche Pflege oder Erziehung zurückzuführen. Auch ein Zusammenhang mit
besonderen Impfungen (z. B. gegen Masern) konnte in neuesten Studien eindeutig widerlegt werden.

Symptomatik
In der Symptomatik unterscheidet sich der frühkindliche Autismus nach Kanner vom Asperger-Autismus in mehreren Aspekten (➤ ).
Tab. 18.6 Unterschiede zwischen frühkindlichem Autismus nach Kanner und Asperger-Autismus
Frühkindlicher Autismus nach Kanner Autistische Psychopathie nach Asperger
Früheste Beginn vor dem 36. Lebensmonat etwa ab dem 3. Lj.
Auffälligkeiten

Intellektuelle überwiegend im Bereich der geistigen durchschnittliche bis gute Intelligenz


Leistungsfähigkeit Behinderung

Sprache • häufig keine Sprachentwicklung (ca. 50 %) Entwicklung einer kommunikativen Sprache, aber auch hier (wenngleich
sowie kommunikative Funktion seltener) Auffälligkeiten in Wortwahl und Modulation
• später Sprechbeginn
• häufig Auffälligkeiten wie Echolalie,
Pronominalumkehr und in der Modulation

Stereotypien häufig selten

Blickkontakt oft fehlend; wenn vorhanden, sehr flüchtig oder flüchtig, aber vorhanden
ausweichend

Frühkindlicher Autismus nach Kanner


Die Symptomatik beim frühkindlichen Autismus nach Kanner entwickelt sich vor dem 3. Lj. Die nonverbale soziale Interaktion ist gestört: Blickkontakt
wird aktiv vermieden, soziales Lächeln entwickelt sich – wenn überhaupt – sehr verspätet, eine differenzierte Mimik und Gestik zum Ausdruck von Gefühlen
fehlt. Die Beziehungsaufnahme zu anderen Menschen ist gestört, dingliche Gegenstände wecken mehr Interesse als vertraute Angehörige. Die Fähigkeit zu
emotional wechselseitigem Mitgefühl ist eingeschränkt.
Etwa 50 % der Kinder mit frühkindlichem Autismus erlernen Sprache. Wenn Sprache vorhanden ist, zeigen sich häufig stereotype Wort- und Satzfolgen,
Neologismen (Wortneuschöpfungen), pronominale Umkehr (Verwechslung von „ich“ und „du“), Echolalie (stereotypes Wiederholen des Gehörten), Störung
der Intonation (zu laut oder zu leise, falsche Wortbetonung) und des Sprachrhythmus. Im Affekt sind die Kinder indifferent und wenig schwingungsfähig, ca.
zwei Drittel der Kinder weisen eine Intelligenzminderung auf. Die Motorik ist stereotyp und monoton und dabei oft auf Teilbereiche objektfixiert. Häufig
ist das sog. digito-okuläre Phänomen zu beobachten; die Kinder bohren mit den Fingern in den eigenen Augen im Sinne einer Autostimulation. Es kann auch
zur Automutilation (Selbstverstümmelung) kommen. Eine eindrückliche Veränderungsangst entsteht, sobald sich das vorliegende Umfeld auch nur
geringfügig ändert. Fantasie, Kreativität und Spielverhalten sind in ihrem Repertoire stark eingeengt. Des Weiteren findet sich eine Störung des
Imitationslernens.

Asperger-Autismus
Die Symptomatik ähnelt einerseits dem frühkindlichen Autismus in der beeinträchtigten sozialen Interaktion, im stereotypen Verhaltensrepertoire und in der
häufig eingeengten Interessenbildung. Im Unterschied zum frühkindlichen Autismus zeigt sich jedoch eine unauffällige intellektuelle Leistungsfähigkeit, die
Sprachentwicklung ist nicht verzögert, die Motorik ist ungeschickt. Die Sprache ist häufig geschraubt, affektiert und oft situationsinadäquat. Typisch sind
Spezial- und Sonderinteressen, die einseitig auf z. B. technisches oder lexikalisches Wissen ausgerichtet sind (z. B. Fahrpläne, Zentralheizungen etc.). Das
Spielverhalten ist wenig kreativ oder zeigt ein hoch differenziertes Spielmuster. Die Kinder fallen meist erst im Kindergarten und in der Schule auf, wenn sie
sich in Gruppen von Gleichaltrigen integrieren müssen.
Das Krankheitsbild ist schwächer ausgeprägt als beim frühkindlichen Autismus und hat somit eine günstigere Sozialprognose. Nicht selten kommt es zur
Überschneidung und zum Übergang beider Formen.

Diagnostik
Die diagnostischen Maßnahmen sind umfangreich, bestehen aus Anamnese, Exploration, Entwicklungs- und Intelligenzdiagnostik. Eine Seh- und Hörprüfung
sowie eine neurologische Untersuchung sind ebenso unerlässlich wie ein EEG zum Ausschluss einer Epilepsie, die bei bis zu 30 % der frühkindlichen Autisten
auftritt.

Differenzialdiagnosen
Differenzialdiagnostisch sind autistische Syndrome von frühkindlichen Schizophrenien, Entwicklungsstörungen der Intelligenz, Seh- und Hörstörungen sowie
Deprivationssyndromen abzugrenzen. Beim Mutismus kommt es im Unterschied zu autistischen Syndromen bei bestehendem Sprachvermögen zu einer
Sprechverweigerung. Im Unterschied zum Autismus sind die nonverbale Kommunikation und Interaktion dabei unauffällig.

Therapie
Schwerpunkte der Therapie autistischer Syndrome liegen in einer frühestmöglichen ärztlichen Versorgung, spezifischer pädagogischer Betreuung,
familiärer Unterstützung, verhaltenstherapeutischen Hilfen sowie in der Behandlung von Begleitstörungen. Psychodynamisch orientierte
psychotherapeutische Ansätze haben sich als weitgehend ineffektiv erwiesen. Eine Psychopharmakotherapie (z. B. Antipsychotika der 1. oder 2. Generation)
kommt zur Behandlung von Begleitstörungen wie Selbstverletzungen, Fremdaggression, Ess- und Ausscheidungsstörungen, Schlafstörungen und
Angstsyndromen in Betracht.

18.4.2. Rett-Syndrom
Beim Rett-Syndrom liegt der Krankheitsbeginn meist zwischen dem 7. und 24. Lebensmonat. Es kommt zu einem teilweisen oder vollständigen Verlust des
bereits erworbenen Sprachvermögens und der Handgeschicklichkeit. Die Bewegungen werden zunehmend ungezielt (ataktisch). Charakteristisch sind
stereotyp windende Handbewegungen (sog. Waschbewegungen). Im mittleren Kindesalter entwickeln sich Rumpfataxie, Skoliose und choreatiforme
Bewegungen. Das Kopfwachstum verlangsamt sich, und es stellt sich ein demenzieller Prozess ein. Bei diesem seltenen Krankheitsbild stehen ätiologisch
genetische (X-chromosomale) Faktoren im Vordergrund. Bei männlichen Individuen kommt es aufgrund des X-chromosomalen Defekts i.  d.  R. zum
intrauterinen Fruchttod, sodass vom Rett-Syndrom fast ausschließlich Mädchen betroffen sind.
Die Erkrankung verläuft progredient, und das therapeutische Vorgehen ist vorwiegend symptomatisch, wobei der Krankheitsverlauf insgesamt nur sehr
begrenzt beeinflusst werden kann.

18.5. Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (ADHS)


Synonyme Begriffe für die Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung sind ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-  /  Hyperaktivitätsstörung) und hyperkinetische
Störung. Besonderheiten der ADHS im Erwachsenenalter werden in ➤ dargestellt.
Die Störung ist gekennzeichnet durch eine anlagebedingte, situationsübergreifende, extreme motorische Unruhe und Getriebenheit sowie Störungen der
Aufmerksamkeit und Impulskontrolle. Die ICD-10 unterscheidet:

• F90.0 Einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung


• F90.1 Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens

Kennzeichnend ist, dass die Symptome situationsübergreifend (z. B. in der Schule, im Freundeskreis und in der Familie) auftreten, während der ersten 5 
Lebensjahre begonnen haben und zeitlich überdauernd sind.
Gemäß den neuen Leitlinien wird in Anlehnung an das DSM-5® eine Schweregradeinteilung in leicht, mittelgradig und schwer vorgenommen, wobei nur
bei schwerer Ausprägung eine primäre Pharmakotherapie (nach Psychoedukation) empfohlen wird. Bei leichter bis mittelgradiger Ausprägung kann zunächst
auch nur mit psychosozialen Interventionen (Psychoedukation, verhaltensbezogene Programme) begonnen werden, wobei ein möglicher Einsatz der
Pharmakotherapie auch in Betracht gezogen werden kann. Leichte Ausprägungsformen können auch ausschließlich psychoedukativ (ggf. in Kombination mit
Psychotherapie) behandelt werden. Diese Schweregradeinteilung ist für die Praxis sicherlich hilfreich. Allerdings fehlt die wissenschaftliche Fundierung,
sodass die neue britische NICE-Leitlinie NG87 (Nice Guideline 2018), die oft als Goldstandard auch international herangezogen wird, diese wieder verlassen
hat.

Epidemiologie
Die Prävalenz der ADHS liegt bei 3–5 % im Kindesalter. Dabei sind Jungen etwa 3- bis 8-mal häufiger betroffen als Mädchen.
Interessanterweise gleicht sich das Geschlechterverhältnis im Verlauf der Lebensspanne immer weiter an, sodass im mittleren Erwachsenenalter der
Männeranteil nur noch geringfügig über dem der Frauen liegt. Vermutlich spielen hier unterschiedliche Entwicklungsverläufe der Kernsymptome
(Konzentrationsprobleme, Impulsivität, Hyperaktivität) wie auch das Inanspruchnahmeverhalten für Hilfs- und Therapiemaßnahmen eine Rolle.

Ätiologie
Die Genese des hyperkinetischen Syndroms ist als multikausal anzusehen. Dabei spielen genetische, aber auch weitere neurobiologische Erklärungsansätze
eine wichtige Rolle. Für die Annahme genetischer Wirkfaktoren sprechen die Ergebnisse von Familien- und Zwillingsstudien sowie z. B. auch das deutliche
Überwiegen des männlichen Geschlechts. Neuroanatomische und neurophysiologische Auffälligkeiten finden sich im Bereich des Frontalhirns und der
Basalganglien. Die Wirksamkeit einer Behandlung mit Psychostimulanzien hat unterschiedliche neurochemische Hypothesen nahegelegt. Gegenwärtig
sprechen Befunde für eine Dysregulation der Konzentrations- oder Aktivierungsverhältnisse verschiedener Neurotransmittersysteme. Weitere
Erklärungsansätze sind perinatale Intoxikationen (z.  B. mit Blei, aber auch Alkohol und v.  a. Nikotin). Gerade Adoptionsstudien haben aufgezeigt, dass
Erziehung und Umwelt die Ausprägung der Symptomatik und den Verlauf beeinflussen, jedoch nicht als kausal für das Störungsbild anzusehen sind.

Symptomatik
Die Symptomatik wird bestimmt durch die Symptomtrias:

• Hyperaktivität: drückt sich in einer exzessiven Ruhelosigkeit mit Herumlaufen, Nicht-sitzen-Können, ständigem Reden und Lärmen und einer
ziellosen Aktivität aus
• Aufmerksamkeitsstörung: zeigt sich darin, dass Tätigkeiten vorzeitig abgebrochen werden; es kommt zum häufigen, abrupten Wechsel von
Aktivitäten bei geringer Konzentrationsfähigkeit, hochgradiger Ablenkbarkeit und geringer Ausdauer.
• Impulsivität: Die erhöhte Impulsivität äußert sich in einer mangelnden Impulskontrolle, besonders im Handlungsstil, und einer niedrigen
Frustrationstoleranz.

Schon im Säuglingsalter kann man oft eine leichte Irritierbarkeit beobachten. Im Kleinkindalter fällt bei den Kindern zusätzlich eine deutliche
„Gefahrenblindheit“ auf, und es kommt zu gehäuften Verletzungen und Gefährdungen, auch im Straßenverkehr. Aufgrund der Symptomatik kommt es im
Schulalter zu Konflikten mit Mitschülern und Lehrern, und es kann sich sekundär zusätzlich eine Störung im Sozialverhalten entwickeln. Im Jugendalter
gehen die Symptome der motorischen Unruhe meist zurück, die erhöhte Impulsivität und die verminderte Aufmerksamkeit bleiben jedoch häufig bestehen, und
die Jugendlichen haben ein erhöhtes Risiko, z. B. Drogen zu konsumieren, Verkehrsunfälle zu verursachen oder eine dissoziale Entwicklung zu nehmen. Im
Erwachsenenalter dominieren die Aufmerksamkeitsstörungen bei den Beeinträchtigungen z. B. im Beruf oder in der Alltagsgestaltung. Die Impulsivität wirkt
sich i. d. R. sehr negativ auf die sozialen Beziehungen, aber auch auf die Verletzung von Gesetzen und sozialen Normen aus und beeinflusst daher maßgeblich
die Prognose. Die motorische Unruhe steht i. d. R. nicht mehr im Vordergrund. Daher wird eine ADHS, die nicht bereits im Kindesalter diagnostiziert wurde,
auch weiterhin im Erwachsenenalter nicht als solche diagnostiziert.

Diagnostik
Die Diagnose wird durch eine sorgfältige Anamneseerhebung und die klinische Befunderhebung unter Berücksichtigung des Kontextes (Untersuchung in der
Praxis  /  Klinik, Situation in der Schule, im Freizeitverhalten und der Familie) verifiziert. Ergänzt wird die Diagnostik durch eine körperliche neurologische
Untersuchung, ggf. durch die Ableitung eines EEG, den Laborstatus und neuropsychologische Testverfahren. Diese Methoden bestätigen keine ADHS-
Diagnose. Sie sind aber maßgeblich, um andere Ursachen für die Kernsymptome von ADHS (Konzentrationsprobleme, Impulsivität, Unruhe) abzugrenzen.
Bewährt haben sich auch in der Diagnostik standardisierte Symptomskalen wie z. B. die Conners Rating Scales oder die an den 18 Diagnose-Items orientierte
ADHD Rating Scale.
Differenzialdiagnostisch müssen Störungen des Sozialverhaltens, affektive Erkrankungen, Intelligenzminderung, hirnorganische Psychosyndrome, Seh-Hör-
Störungen und epileptische Psychosyndrome ausgeschlossen werden.
Komorbid finden sich häufig Ticstörungen, Störungen des Sozialverhaltens, Lese- und Rechtschreibstörung, Angststörungen, Depressionen sowie Sprech-
und Sprachstörungen.

Therapie
Therapeutisch bedarf es einer mehrdimensionalen Therapie, die auf der Beratung des Kindes und der Bezugspersonen fußt. Des Weiteren kommen
psychotherapeutische, v. a. verhaltenstherapeutische Maßnahmen sowie eine spezifische Pädagogik und eine Pharmakotherapie mit Psychostimulanzien
zum Einsatz.
In der Psychotherapie haben sich bei Kindern verhaltenstherapeutische Programme wie Kontingenzprogramme, Selbstinstruktionstrainings und
Selbstmanagementverfahren bewährt. Dabei lernt das Kind, problematisches Verhalten zu erkennen und sein Spiel- und Arbeitsverhalten zu modifizieren.
Eltern- und familienzentrierte Verfahren wie z. B. das Elterntraining zielen auf eine Reduktion problematischer Verhaltensweisen in der Familie und auf eine
Verbesserung der Eltern-Kind-Interaktion ab.
Medikamente der 1. Wahl sind Psychostimulanzien und hier v. a. Methylphenidat, das auch in verschiedenen Retardformen vorliegt (weitere Einzelheiten
➤ und ➤ ). In Verlaufsuntersuchungen hat sich die medikamentöse Therapie mit Psychostimulanzien – eingebettet in ein multimodales Behandlungskonzept – 
als die effektivste Behandlungsmethode erwiesen.
Neben Methylphenidat ist auch D-Amphetamin als Stimulans zur Behandlung von ADHS im Kindes- und Jugendalter zugelassen. Neben den Stimulanzien
gibt es zwei weitere zugelassene Wirkstoffe (Atomoxetin als Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer und Guanfacin als α 2 A -Agonist). Die Wirkung von
Nichtstimulanzien ist gegenüber den Stimulanzien geringer und der Wirkungseintritt verzögert, sodass sie erst in zweiter Linie in Betracht kommen. Gibt es
aber Gründe, auf Stimulanzien zu verzichten, können Nichtstimulanzien auch primär eingesetzt werden.
Gerade im Hinblick auf die komorbiden Störungen ist eine Kombination von Verhaltens- und Pharmakotherapie sinnvoll; dabei sollten die Eltern helfend
einbezogen werden. Gelegentlich kann es bei der Behandlung mit Psychostimulanzien zu Übelkeit, Einschlafstörungen und Appetitminderung kommen. Sehr
selten treten Symptome wie Kopfschmerzen, Schwindel oder Dysphorie auf, die nach kurzer Behandlungsdauer allerdings wieder verschwinden.
Neben den psychotherapeutischen und pharmakologischen Maßnahmen spielen schulische Maßnahmen (z. B. Aufklärung und Beratung des Lehrkörpers),
aber auch heilpädagogische Behandlungen eine große Rolle. Diätetische Maßnahmen (z. B. keine Konservierungsmittel, Verzicht auf Phosphat etc.) sind nur
bei einem ganz kleinen Teil der Betroffenen effektiv. Auch Omega-Fettsäuren haben sich als effektiv erwiesen. Die Wirkstärken sind, wenngleich stabil, in der
Ausprägung aber doch so gering, dass sie nicht als primäre Behandlung empfohlen werden können.

Kasuistik
Der 7-jährige Paul wird von seiner Mutter vorgestellt, da ihm der Schulausschluss droht. Er gehe in die 1. Klasse, könne nicht an seinem Platz bleiben,
stehe ständig auf, laufe in der Klasse umher und störe den Unterricht. Melden könne er sich ganz schlecht, rufe häufig dazwischen, schwätze in der Klasse
viel und müsse deshalb auch allein sitzen. Die Lehrerin habe gesagt, dass Paul in der Schule über Tische und Bänke gehe. In den Pausen habe er häufig
Auseinandersetzungen mit Mitschülern, gerate in Schlägereien, und es habe seinetwegen schon zwei Elternabende gegeben. Auch zu Hause sei Paul
unruhig, impulsiv und aufmerksamkeitsgestört.
Die Hausaufgaben seien ein echtes Drama. Manchmal sei Paul innerhalb einer Viertelstunde fertig (besonders dann, wenn er etwas anderes vorhabe, auf
das er sich freue). Manchmal dauere es aber auch 3–4 Stunden, und dies gehe dann mit Schreierei und Zerstören von Gegenständen einher. Die Mutter
berichtet, dass Paul schon im Mutterleib unruhig gewesen sei. Er habe später ganz schlecht getrunken und als Säugling eigentlich nie richtig geschlafen.
Richtig schwierig sei es jedoch geworden, als Paul laufen gelernt habe. Seitdem sei er ständig in Bewegung, und sie selbst sei mittlerweile mit den Nerven
am Ende.
Diagnose: einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (ICD-10 F90.0) mit einigen Symptomen (jedoch noch kein Vollbild) einer
hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens (ICD-10 F90.1)

18.6. Störung des Sozialverhaltens


Nach der Definition der ICD-10 ist die Störung des Sozialverhaltens (F91) durch ein sich wiederholendes, andauerndes Muster dissozialen, aggressiven oder
aufsässigen Verhaltens charakterisiert. Synonyme Begriffe sind Dissozialität oder antisoziales Verhalten. Der Begriff der Delinquenz ist hingegen ein
juristischer Begriff, der feststellt, dass es sich um Straftaten handelt oder ein kriminelles Vergehen vorliegt, das juristisch verfolgt wird.
In der ICD-10 werden folgende Störungen unterschieden, die im Wesentlichen differenzieren, in welchem sozialen Bezugsrahmen die Störung auftritt (z. B.
auf die Familie bezogen), ob trotz des sozial gestörten Verhaltens ein Bindungssystem aufgebaut wird (z.  B. in Form einer Gang) und ob es sich bei den
Leitsymptomen eher um oppositionelles oder um sozial gestörtes Verhalten im engeren Sinne handelt:

• F91.0 Auf den familiären Rahmen beschränkte Störung des Sozialverhaltens


• F91.1 Störung des Sozialverhaltens bei fehlenden sozialen Bindungen
• F91.2 Störung des Sozialverhaltens bei vorhandenen sozialen Bindungen
• F91.3 Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten
• F91.8 Sonstige Störungen des Sozialverhaltens

Epidemiologie
Epidemiologische Studien zeigen, dass 2–10 % aller Kinder und Jugendlichen Störungen im Sozialverhalten aufweisen, die mit aggressiven Verhaltensweisen
einhergehen. Dabei sind Jungen sehr viel häufiger betroffen, und sie zeigen auch häufiger körperlich aggressive Verhaltensweisen.

Ätiologie
Die Ätiologie der Störung des Sozialverhaltens im Kindes- und Jugendalter ist nur multifaktoriell zu verstehen. Dabei sind biologische, psychosoziale und
soziologische Faktoren zu berücksichtigen. Im Hinblick auf die biologischen Faktoren spielen genetische sowie neurohormonale und neurophysiologische
Aspekte eine Rolle (➤ ). Negative psychosoziale Bedingungen sind z. B. familiäre Interaktionsstörungen, chronische Streitigkeiten zwischen den Elternteilen,
ein geringer sozioökonomischer Status der Eltern, die häufig selbst psychisch krank sind und bei denen eine aggressive bis kriminelle Entwicklungsgeschichte
vorliegt. Bezüglich der sozialen Faktoren sind sicherlich situative Verhältnisse wie beengte Wohnverhältnisse, Arbeitslosigkeit und eine negative Peergroup
zu nennen.

Abb. 18.2 Entstehungsmodell der Störung im Sozialverhalten [L141]

Symptomatik
In der Symptomatik der Störung des Sozialverhaltens finden sich bestimmte Leitsymptome:

• Wutausbrüche
• Häufiges Streiten
• Aggressive Ablehnung und Zurückweisung der Bezugspersonen
• Gezieltes Lügen sowie das Brechen von Vereinbarungen
• Gehässigkeit oder Rachsucht im sozialen Umgang
• Aggressive körperliche Auseinandersetzung wie körperliche Grausamkeit gegen andere und Tierquälerei
• Zerstörung fremden Eigentums, absichtliches Feuerlegen, Entwenden von Gegenständen und Geld
• Problematischer Schulbesuch mit Schulschwänzen und Ungehorsam

Bei Störungen im Sozialverhalten findet sich koexistent häufig eine Reihe von Störungen wie z. B. hyperkinetische Störung, organische Psychosyndrome,
umschriebene Entwicklungsstörungen, Anpassungsstörungen und Drogenmissbrauch, in seltenen Fällen auch psychotische Symptome.

Diagnostik
Diagnostisch bedarf es einer ausführlichen Anamnese und Fremdanamnese, einer Psychodiagnostik sowie einer neurologischen und internistischen
Untersuchung. Besondere Bedeutung kommt der Erhebung des sozialen Umfelds, insbesondere der bisherigen Gewalterfahrungen, Beeinträchtigungen des
Selbstwerts und der angewandten Erziehungsmethoden zu.

Therapie
Ziel aller therapeutischen Interventionen bei einer Störung im Sozialverhalten ist es, die Kernsymptomatik einzudämmen und insbesondere einer drohenden
Delinquenz vorzubeugen. Die therapeutischen Maßnahmen kann man in drei Gruppen zusammenfassen:

• Kind- oder adoleszenzorientierte Verfahren (z. B. verhaltenstherapeutische Programme)


• Familienzentrierte Verfahren (z. B. Erziehungsbeistandschaft)
• Kommunale bzw. lebensumfeldnahe Maßnahmen (z. B.Integration in Jugendgruppen)

Die Stabilität der Störung im Sozialverhalten ist sehr hoch. Besonders wenn die Kinder schon im jungen Alter aggressive Auffälligkeiten zeigen, ist davon
auszugehen, dass 40 % dieser Grundschüler noch Störungen des Sozialverhaltens im Erwachsenenalter zeigen werden.

Merke
Psychosoziale Präventionsmaßnahmen sind zweifellos entscheidend zur Verbesserung des Schicksals der betroffenen
Kinder.

18.7. Emotionale Störungen


Emotionale Störungen gehören zu den häufigsten psychischen Krankheiten im Kindesalter. Dabei stehen Ängste und depressive Syndrome im Vordergrund.
Während man früher annahm, dass sich affektive Störungen im Kindes- und Jugendalter inhaltlich von den depressiven Erkrankungen des
Erwachsenenalters unterscheiden, geht man heute davon aus, dass es depressive Erkrankungen in ähnlicher Systematik wie im Erwachsenenalter auch im
Kindes- und Jugendalter gibt und dass sich diese allenfalls in der Erscheinungsform und den Leitsymptomen altersentsprechend unterscheiden, nicht aber in
der grundlegenden Charakteristik und im Verlauf. So spielt z.  B. der Verlust von sexuellem Verlangen im Kindesalter keine maßgebliche Rolle bei der
Diagnostik, Schlafstörungen oder somatische Beschwerden tun dies dagegen umso mehr. In der ICD-10-Systematik werden noch die ausschließlich auf das
Kinder- und Jugendalter bezogenen Kategorien aufgeführt (sog. emotionale Störungen des Kindes- und Jugendalters: F93.0 bis F93.9), zunehmend finden aber
auch die klassischen Depressionsdiagnosen (F32.0 bis F32.3 bzw. F33.0 bis F33.3 wie auch die Dysthymia F34.1) Anwendung.
Emotionale Störungen im Kindes- und Jugendalter werden in der ICD-10 unter F93 (➤ ) codiert. Dabei werden folgende Störungen unterschieden:

• F93.0 Emotionale Störung mit Trennungsangst des Kindesalters


• F93.1 Phobische Störung des Kindesalters
• F93.2 Störung mit sozialer Ängstlichkeit des Kindesalters
• F93.3 Emotionale Störung mit Geschwisterrivalität
• F93.8 Sonstige emotionale Störungen des Kindesalters

18.7.1. Angststörungen
Vgl. auch ➤ .

Definition
Bei den Ängsten finden wir in erster Linie Trennungsängste, phobische Ängste und soziale Ängstlichkeit. Trennungsängste liegen dann vor, wenn die Furcht
vor Trennung außergewöhnlich schwerwiegend ist, über die typische Altersstufe (6–8 Lebensmonate) hinausgeht und die Trennungsängste so gravierend sind,
dass soziale Funktionen stark beeinträchtigt sind. Phobische Ängste beziehen sich auf bestimmte Objekte und Situationen. Sie liegen dann pathologisch vor,
wenn die Ängste altersunangemessen und exzessiv erlebt werden und auch hier die Befindlichkeit und Handlungsfreiheit gravierend eingeschränkt sind. Kinder
mit sozialer Ängstlichkeit zeigen eine deutlich über das übliche Maß hinausgehende Besorgnis vor negativen sozialen Situationen, sind misstrauisch oder
übermäßig schüchtern gegenüber Fremden und meiden soziale Anlässe, auch wenn sie dort keine negativen Vorerfahrungen gemacht haben. Ganz im Sinne der
Angststörung werden negative oder belastende soziale Situationen überwiegend antizipiert und vermieden.
Die emotionale Störung mit Geschwisterrivalität (F93.3) stellt eine Sonderform an emotionaler Auffälligkeit dar, die in der Folge der Geburt eines jüngeren
Geschwisterkindes auftritt. Für diese diagnostische Kategorie gibt es vorwiegend Kasuistiken, jedoch wenig wissenschaftliche Evidenz, sodass sich die Frage
stellt, ob sie als eigenständige diagnostische Kategorie innerhalb der emotionalen Störungen hinreichend abgrenzbar ist und weiterhin vergeben werden sollte.

Epidemiologie
3,5–5 % aller Kinder leiden unter Trennungsängsten und 2–9 % aller Kinder unter phobischen Ängsten.

Ätiologie
Ätiologisch können bei Ängsten im Kindes- und Jugendalter lerntheoretische Modelle wie die klassische Konditionierung, d a s operante Lernen und
Modelllernen als ausschlaggebend für die Entwicklung von Vermeidungs- bzw. Fluchtverhalten angenommen werden. Sehr wahrscheinlich spielt auch eine
genetische Disposition eine wichtige Rolle. Gerade bei der Trennungsangst sind ätiologisch auch symbiotische Beziehungen zu engen Bezugspersonen ein
problematischer Faktor.

Symptomatik
➤ beschreibt die Unterschiede zwischen Trennungsangst und Schulangst. Weiterhin finden sich symptomatisch bei Trennungsangst und phobischen Ängsten
negative Begleiterscheinungen der Angst (z. B. Abdominalbeschwerden, Herzklopfen, Schwitzen, Atemnot) oder extremes Vermeidungsverhalten gegenüber
dem gefürchteten Objekt oder der Situation. Ist das Kind dann mit den angstbesetzten Situationen konfrontiert, tritt eine extreme Form der Angst auf.
Panikstörungen hingegen finden sich bei Kindern kaum.

Merke
Schulangst und Trennungsangst zeigen die gleiche Symptomatik (Schulverweigerung) bei unterschiedlichen
ätiologischen Zusammenhängen.
Tab. 18.7 Unterscheidung von Trennungsangst (sog. Schulphobie) und Schulangst
Trennungsangst Schulangst
Entstehungsfaktoren z. B. Mutter-Kind-Symbiose, ungelöste Konflikte in der z. B. Lernschwächen, Überforderung, körperliche Auffälligkeiten,
Familie, begründete Angst vor Verlassenwerden Hänseleien oder Bedrohung durch Mitschüler, Konflikte mit Lehrern

Symptomgenese Angst vor Trennung von den Bezugspersonen Vermeidung von negativen Erfahrungen in der Schule (Leistungs- und
soziale Ängste)

Diagnostik
Die diagnostische Einteilung der Angststörungen erfolgt aufgrund der Anamnese und der sorgfältigen Beobachtung und Beschreibung der klinischen
Symptomatik durch den Patienten und die Eltern. Ergänzend haben sich in der Diagnostik standardisierte Selbst- und Fremdratingskalen zu den verschiedenen
Angststörungen bewährt.

Therapie
Die Therapie von Angststörungen kann im Kindes- und Jugendalter überwiegend ambulant durchgeführt werden. Gerade bei ausgeprägten
Trennungsängsten empfiehlt sich aber häufig eine stationäre Therapie. Ein wesentlicher Punkt in der Behandlung ist die Einbeziehung und Entlastung der
Eltern. Bei Angststörungen stehen verhaltenstherapeutisch orientierte Behandlungsprogramme im Vordergrund. Dabei kommt der Reizkonfrontation
(Exposition) mit Reaktionsverhinderung auch bei Kindern und Jugendlichen eine besondere Bedeutung zu. Gerade bei Kindern sollte die Exposition graduiert
erfolgen.

Kasuistik
Die 10-jährige Marie fehlt nun schon seit 10  Wochen in der Schule. Begonnen hat es damit, dass sie morgens vor der Schule immer über massive
Bauchschmerzen geklagt hat. In der Folgezeit wurde Marie mehrfach untersucht. Zuletzt wurde sie stationär in der Kinderklinik aufgenommen, und es
wurde sogar eine Gastroskopie durchgeführt. Alle Untersuchungen erbrachten einen unauffälligen organischen Befund. Zur Anamnese gab die Mutter an,
dass Marie sich schon immer sehr schwer von ihr getrennt habe. Schon der Kindergartenbesuch sei daran gescheitert, dass Marie sich nicht habe von ihr
trennen können. Auch zu Hause sei Marie sehr eng an sie gebunden, schlafe nur im elterlichen Bett und besuche auch keine Freundinnen. Zu der
Schulverweigerung sei es jetzt gekommen, weil die Mutter wegen einer Autopanne nicht zu Hause gewesen sei, als Marie aus der Schule kam. Seit dieser
Zeit mache Marie sich große Sorgen, dass ihrer Mutter etwas passieren könne.
Diagnose: Emotionale Störung mit Trennungsangst des Kindesalters (ICD-10 F93.0)

18.7.2. Depressive Störungen


Vgl. auch ➤ .

Definition
Auch bei Kindern und Jugendlichen finden sich die Kardinalsymptome depressiver Störungen wie niedergeschlagene und traurige Grundstimmung,
Interessenverlust mit Antriebsstörungen sowie erhöhte Ermüdbarkeit bei bestehenden Schlafstörungen. Gerade bei Kindern stehen Konzentrationsstörungen,
Appetitstörungen, vermindertes Selbstwertgefühl, verminderte Spielfähigkeit sowie diffuse Ängste im Vordergrund. Häufig wird auch von gereizter Stimmung
berichtet, was häufig zu Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion in der Familie oder Schule führt und zunächst wie eine Störung des Sozialverhaltens
imponiert oder als „Pubertät“ verkannt wird.
In der ICD-10 werden die depressiven Störungen im Kindes- und Jugendalter entsprechend den ICD-10-Diagnosekriterien für Erwachsene codiert (➤ ).

Epidemiologie
Kinder können wie Erwachsene an Depressionen erkranken. Etwa 2 % aller Kinder und 4–5 % aller Jugendlichen leiden unter depressiven Störungen.

Ätiologie
Bei den depressiven Störungen spielen eine genetische Disposition, biologische und auch psychosoziale Wirkfaktoren eine entscheidende Rolle.

Symptomatik
Die Symptomatik der Depression im Kindes- und Jugendalter ist häufig maskiert und wird leicht übersehen. Die Kinder sind z. B. sozial zurückgezogen sowie
still und fallen nicht als störend auf. Häufig finden sich auch psychosomatische Beschwerden wie Kopf- oder Bauchschmerzen. Wie schon erwähnt, kann auch
primär eine gereizt dysphorische Grundstimmung vorherrschen, was die richtige klinische Einschätzung erschweren kann.

Diagnostik
Da die Eltern depressive Symptome häufig nicht wahrnehmen, sollten die diagnostischen Kriterien bei Verdacht auf eine Depression aktiv überprüft (z. B.
durch Befragen der Kinder und durch Einsatz von Depressionsinventaren) und nicht nur durch Befragung der Eltern erhoben werden. Dringend zu empfehlen
sind semistrukturierte Interviews wie z.  B. die Child Depression Rating Scale, die in 14  Items zuzüglich dreier Beobachtungkategorien (Stimme,
Körperhaltung, Mimik) eine differenzierte Einschätzung nebst Schweregradeinteilung ermöglicht.

Merke
Bei Kindern mit einer Depression stehen symptomatisch häufig somatische Symptome wie Schlaf- und
Appetitstörungen und psychomotorische Hemmungen mit einem Verlust an Spielfreude im Vordergrund.

Therapie
Die Therapie von depressiven Störungen kann im Kindes- und Jugendalter überwiegend ambulant erfolgen. Häufig ist zusätzlich zur Verhaltenstherapie
auch ein psychodynamisches Vorgehen (z.  B. in Form einer Spieltherapie) sinnvoll. Bei ausgeprägter depressiver Symptomatik sollte auch eine
Pharmakotherapie mit Antidepressiva durchgeführt werden.

Kasuistik
Die 12-jährige Lena wird beim Kinderarzt wegen seit 8 Wochen erstmals bestehenden Ein- und Durchschlafstörungen vorgestellt. Die Mutter beklagt bei
ihrer Tochter auch einen Gewichtsverlust. Lena habe auf nichts mehr Lust und esse somit weniger. Eine pädiatrische Untersuchung ergibt jedoch keinen
pathologischen Befund. Im Gespräch zeigt sich Lena introvertiert, schüchtern und ängstlich. Auf Nachfrage beklagt sie eine Verschlechterung ihrer
Schulnoten und berichtet, dass sie sich nicht richtig konzentrieren könne und schnell müde werde. Sie habe keine Lust, mit ihren Freundinnen zu spielen,
ziehe sich zurück und sei meist eher traurig. Nichts bereite ihr eigentlich noch Spaß.
Diagnose: mittelgradige depressive Episode (ICD-10 F32.1)
18.8. Psychosen bei Kindern und Jugendlichen
Vgl. auch ➤ .
Schizophrene Psychosen lassen sich im Kindesalter sehr viel schwerer diagnostizieren, da die Symptomatik nicht so eindeutig „psychotisch“ ist wie bei
Erwachsenen. Im Jugendalter nähert sich die Symptomatik sehr stark der im Erwachsenenalter an. Aber auch im Kindes- und Jugendalter lassen sich zwei
unterschiedliche Verlaufsformen unterscheiden: ein eher schleichender hebephrenieähnlicher Verlauf und eine akut einsetzende schubartige
Symptomatik, bei der gelegentlich auch katatone Zustandsbilder auftreten können.

Epidemiologie
Nur etwa 1 % aller Schizophrenien treten vor dem 10. Lj. auf; diese Zahl verdoppelt bis vierfacht sich, wenn man Kinder und Jugendliche bis zum 15. Lj.
einbezieht. Etwa ein Zehntel aller schizophrenen Psychosen treten zwischen dem 14. und 20. Lj. auf. Im Kindes- und Jugendalter kommt die Störung etwas
häufiger bei Jungen vor, da Mädchen durchschnittlich später erkranken (➤ ).

Ätiologie
➤.

Symptomatik
Je nach Alter und Entwicklungsstand ist die Symptomatik im Kindesalter anders ausgeprägt. Dabei kommt den sog. Prodromalsymptomen eine besondere
Bedeutung zu. Hierzu gehören Störungen von Konzentration, Aufmerksamkeit, Antrieb und Motivation, des Weiteren Schlafstörungen, Ängste, sozialer
Rückzug, Misstrauen, ein Leistungsknick in Schule und Beruf und insgesamt eine emotionale Irritabilität (➤ ).

Therapie
Die Therapie der Psychosen im Kindes- und Jugendalter folgt im Wesentlichen den Prinzipien der Therapie im Erwachsenenalter (➤ ).
In der medikamentösen Therapie (➤ , ➤ , ➤ ) kommt den Antipsychotika der 2. Generation ein besonderer Stellenwert zu, da kindliche schizophrene
Patienten sehr viel häufiger mit einer extrapyramidalmotorischen Symptomatik reagieren und somit die Compliance bei Gabe dieser Substanzen günstiger ist.
Darüber hinaus gibt es Hinweise dafür, dass sie bei der im Kindes- und Jugendalter sehr häufigen Negativsymptomatik (z.  B. Antriebsschwäche, kognitive
Einbußen, affektive Nivellierung) besser wirken. Ein weiterer Vorteil der Zweitgenerations-Antipsychotika, gerade im Kinder- und Jugendbereich, ist die
geringere Gefahr von Spätdyskinesien. Allerdings müssen die besonderen Nebenwirkungen der Zweitgenerations-Antipsychotika wie z.  B. die Gefahr eines
metabolischen Syndroms gerade bei Kindern berücksichtigt werden. Da die Prognose der kindlichen Schizophrenie (< 14  Jahren) sehr ungünstig ist,
profitieren die Kinder von einer Rehabilitationsphase, z. B. der Betreuung in einer spezialisierten Heimeinrichtung (mit integrierter Schule) oder einer betreuten
Wohnform für ältere Jugendliche.

18.9. Ticstörung
Definition
Tics sind plötzliche, unwillkürliche Muskelbewegungen oder Lautäußerungen, die unvermutet abrupt einschießend auftreten und nur kurz andauern. Dabei
sind sie nicht zielgerichtet; sie werden als unwillkürlich und subjektiv als bedeutungslos erlebt. Es besteht jedoch die Möglichkeit, sie für eine bestimmte Zeit
willkürlich zu unterdrücken. Man unterscheidet einfache und komplexe sowie vokale und motorische Tics (➤ ).

Tab. 18.8 Unterteilung motorischer und vokaler Tics


Einfache Tics Komplexe Tics
Motorische Blinzeln, periorale Zuckungen (um den Mund herum), Hals- und Springen, Berühren, Beriechen, Aufstampfen, komplexe
Tics Schulterzucken Gesten

Vokale Tics Räuspern, Glucksen, Pfeifen, Bellen, Schnüffeln, Grunzen Ticartiges Ausstoßen ganzer Wörter oder Sätze

In der ICD-10 werden Ticstörungen nach ihrer Symptomatik und ihrem Verlauf klassifiziert (➤ ).

Tab. 18.9 Einteilung der Ticstörungen in der ICD-10


Einteilung Symptomatik und Verlauf
F95.0 Vorübergehende Ticstörung des Kindes-alters Meist nur einfache motorische Tics, Tics dauern nicht länger als 1 Jahr an

F95.1 Chronische motorische oder vokale Ticstörung Einfache und / oder komplex moto-rische oder einfache oder komplexe vokale Tics,
die länger als 1 Jahr anhalten

F95.2 Kombinierte vokale und multiple motorische Tics (Gilles- Einfache und / oder komplexe moto-rische und einfache und / oder vokale Tics, die
de-la-Tourette-Syndrom) länger als 1 Jahr anhalten

Epidemiologie
Bei ca. 4–12 % der Kinder im Grundschulalter kommt es zu einer vorübergehenden Ticstörung. 3–4 % leiden unter einer chronischen Ticstörung und 0,05–3 %
unter einem Gilles-de-la-Tourette-Syndrom. Dabei sind Kinder und Jugendliche ca. 10-mal häufiger betroffen als Erwachsene. Bei Jungen kommt die
Störung deutlich häufiger vor als bei Mädchen; das Verhältnis liegt bei 3–5 : 1.

Ätiologie
Ätiologisch werden genetische, neurobiologische und psychologische Wirkmechanismen diskutiert.

Symptomatik
Insbesondere bei den chronischen Ticstörungen sowie beim Gilles-de-la-Tourette-Syndrom finden sich komplexe vokale oder motorische Tics in Form z. B.
einer Echolalie, einer Palilalie (Wiederholung eigener Worte) oder einer Koprolalie (Ausstoßen obszöner Wörter). Das Gleiche findet sich bei den komplex-
motorischen Tics in der Form von Echopraxie oder Kopropraxie (Wiederholen unwillkürlicher Bewegungen oder obszöner Gesten oder Handlungen).
Komorbid treten bei den Ticstörungen häufig in der Vorgeschichte ein hyperkinetisches Syndrom sowie im weiteren Verlauf Zwangsstörungen auf. Nicht
wenige der betroffenen Kinder entwickeln zusätzlich auch Angst oder depressive Störungen.

Therapie
Es kommen sowohl verhaltenstherapeutische Techniken wie Wahrnehmungstraining, Training motorisch inkompatibler Reaktionen und
Entspannungsverfahren als auch eine Pharmakotherapie mit Tiaprid, Risperidon und zunehmend auch mit Aripiprazol zum Einsatz.

18.10. Essstörungen
Die Essstörungen sind in ➤ ausführlich beschrieben, weshalb in diesem Kapitel nur auf wichtige Besonderheiten bei Kindern und Jugendlichen eingegangen
wird. Die Klassifikation in der ICD-10 entspricht der Einteilung im Erwachsenenalter (➤ und ➤ ):

• Anorexia nervosa (F50.0)


• Bulimia nervosa (F50.2)
• Essattacken bei sonstigen psychischen Störungen (F50.4)
• Erbrechen bei sonstigen psychischen Störungen (F50.5)
• Sonstige Essstörungen (F50.8)
• Adipositas (F66)

18.10.1. Adipositas
➤.

Epidemiologie
In den letzten Jahren ist ein kontinuierlicher Anstieg des Anteils adipöser Grundschulkinder zu beobachten. So hat sich z. B. bei Jenaer Schulkindern im
Alter von 7–14  Jahren die Prävalenz der Adipositas zwischen 1975 und 1995 fast verdoppelt. Wie repräsentative Verlaufsuntersuchungen für Deutschland
zeigen, scheint sich die Rate der übergewichtigen Kinder und Jugendlichen mittlerweile auf hohem Niveau stabilisiert zu haben. So geht man davon aus, dass
aktuell 15,4  % der Kinder und Jugendlichen übergewichtig und 5,9  % adipös sind. Geschlechtsunterschiede lassen sich nicht verzeichnen. Weiterhin sind
Kinder und Jugendliche aus unteren sozialen Schichten besonders ausgeprägt von Übergewicht betroffen.

Therapie
Therapeutisch kommt der ambulanten Behandlung in Form einer Umstellung der Ernährungsgewohnheiten sowie einer stärkeren Bewegung die größte
Bedeutung zu. Stationär durchgeführte Kurzzeittherapien (6–8 Wochen) führen zu einer kurzfristigen Gewichtsreduktion, häufig kommt es jedoch zu einem Jo-
Jo-Effekt, und das Gewicht steigt nach diesen Behandlungen noch einmal an.

18.10.2. Anorexia nervosa (Magersucht)


➤.

Epidemiologie
Die Anorexia nervosa ist ein häufiges Krankheitsbild mit einer Prävalenzrate zwischen 0,3 und 1,5  %. Dabei erkranken Risikogruppen (z.  B.
Balletttänzerinnen, Turnerinnen, Eisläuferinnen oder Models) sehr viel häufiger (bis 25  %). Mädchen sind sehr viel stärker betroffen; das
Geschlechterverhältnis beträgt 10–12  : 1. Seit einigen Jahren ist eine Verschiebung des Erkrankungsbeginns (etwa deutlich vor Einsetzen der Pubertät) zu
verzeichnen, sodass z. B. ein klassisches Kriterium wie die sekundäre Amenorrhö nicht mehr zum Tragen kommt, da die Patientinnen bereits so stark
abgemagert sind, dass die Pubertätsentwicklung in einer sehr frühen Phase gestoppt wird (primäre Amenorrhö).

Therapie
In neueren Verlaufsuntersuchungen zur Anorexia nervosa im Kindes- und Jugendalter zeigt sich, dass 70–80 % die Symptomatik überwinden können. Bei ca.
20 % besteht ein chronifizierter Verlauf. Die mittlere Mortalitätsrate liegt bei ca. 2 %.

18.10.3. Bulimia nervosa


➤.

Epidemiologie
Die Prävalenz der Bulimia nervosa liegt zwischen 1 und 4 %. Dabei sind Jungen sehr viel seltener betroffen als Mädchen. Im Vergleich zum Störungsbild der
Anorexia nervosa liegt der Erkrankungsbeginn der Bulimia nervosa etwas später. Des Weiteren treten bei Bulimia nervosa häufiger komorbide psychiatrische
Störungen auf. Insgesamt kann von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen werden, weil das Krankheitsbild häufig verheimlicht und verleugnet wird.

18.11. Ausscheidungs- und Fütterstörungen


In der ICD-10 werden die Ausscheidungs- und Fütterstörungen im Kapitel „Sonstige Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und
Jugend“ (F98) codiert. Hier werden unterschieden:

• Nichtorganische Enuresis (F98.0) mit den Untergliederungen:


– F98.00 Enuresis nocturna
– F98.01 Enuresis diurna
– F98.02 Enuresis nocturna et diurna
• Nichtorganische Enkopresis (F98.1)
• Fütterstörung im frühen Kindesalter inkl. Ruminationssyndrom (F98.2; ➤ )
• Pica im Kindesalter (F98.3; ➤ )

18.11.1. Nichtorganische Enuresis


Definition
Nach der Definition der ICD-10 liegt eine Enuresis vor, wenn ab einem Lebens- bzw. Entwicklungsalter von 5  Jahren ein unwillkürlicher Harnabgang
vorliegt, wobei organische Ursachen für die Inkontinenz ausgeschlossen sein müssen. Dabei bezeichnet die primäre Enuresis das Andauern der infantilen
Inkontinenz. Bei der sekundären Enuresis kommt es nach einer Periode bereits erworbener Blasenkontrolle zum erneuten Einnässen. Des Weiteren wird
unterschieden zwischen Enuresis diurna (Einnässen am Tag) und Enuresis nocturna (nächtliches Einnässen) oder deren Kombination.

Epidemiologie
Epidemiologische Studien zeigen, dass im Alter von 3 Jahren noch ca. 63 % der Kinder, mit 5 Jahren noch ca. 11 %, mit 7 Jahren ungefähr 5 % und mit 8 
Jahren noch 3  % der Kinder einnässen. Damit zeigt die Enuresis häufig auch eine Spontanremission. Jungen sind häufiger von einer Enuresis betroffen als
Mädchen. Dies gilt besonders für die Enuresis nocturna. Bei der sehr viel seltener auftretenden Enuresis diurna tritt die Störung tendenziell häufiger bei
Mädchen auf.
➤ gibt einen Überblick über die genaue Einteilung der Enuresis nocturna und diurna in ihre Untergruppen.
Tab. 18.10 Untergruppen der Enuresis
Untergruppe Symptomatik
Primäre isolierte Enuresis nocturna • Hohe Einnässfrequenz
• Tiefer Schlaf mit schwerer Erweckbarkeit
• Polyurie
• Unauffällige Urodynamik

Idiopathische Dranginkontinenz • Ungewollter Harnabgang mit überstarkem Harndrang am Tag


• Pollakisurie
• Verminderte Blasenkapazität
• Einsatz von „Haltemanövern“
• Detrusorinstabilität mit ununterdrückbaren Detrusorkontraktionen

Harninkontinenz bei Miktionsaufschub • Psychogene Verweigerungshaltung


• Hinauszögern der Miktion
• Einnässen tagsüber trotz Einsatz von Haltemanövern

Detrusor-Sphinkter-Dyskoordination • Urodynamisch definiert


• Fehlende Relaxation und unkoordinierte Kontraktion des Sphincter externus während der Miktion
• Stakkatoartige oder fraktionierte Miktion mit inkompletter Blasenentleerung

Ätiologie
Ätiologisch spielen biologische sowie psychosoziale Faktoren eine Rolle. Bei den biologischen Faktoren geht es insbesondere um genetische Aspekte. 60–70 
% der Eltern eines Kindes mit Enuresis hatten in ihrer Kindheit ebenfalls Probleme mit der Blasenkontrolle. Bei der Genese der primär isolierten Enuresis
nocturna scheint ein autosomal-dominanter Erbgang von Bedeutung zu sein. Des Weiteren sind ätiologisch morphologische und funktionelle Auffälligkeiten zu
berücksichtigen (z. B. Blasenkapazität, Schlaftiefe sowie Detrusor- und Sphinkterapparat).
Natürlich spielen soziale Belastungsfaktoren eine wichtige Rolle. So sind Kinder, die emotional belastende Ereignisse erlebt haben, deutlich häufiger
betroffen.

Diagnostik
Diagnostisch muss bei primärer Enuresis (zusätzlich zur allgemeinen kinderpsychiatrischen Diagnostik) eine organische Abklärung erfolgen. Dazu gehören
die klinische Untersuchung, eine Ultraschalluntersuchung bei gefüllter und entleerter Blase sowie eine Uroflowmetrie. Die Basisdiagnostik umfasst auch ein
24-h-Miktionsprotokoll und einen Urinstatus.

Therapie
In der Therapie der Enuresis hat sich ein gestuftes Vorgehen bewährt. Im Vordergrund stehen zu Beginn der Behandlung Diagnoseerklärung und Beratung.
Dabei ist es von großer Bedeutung, gemeinsam mit dem Kind das Einnässen zu protokollieren.
Im weiteren Behandlungsverlauf werden verhaltenstherapeutische Programme wie Verstärker- und Belohnerpläne mit gutem Erfolg eingesetzt. Allein mit
diesen Therapiemaßnahmen wird ein großer Prozentsatz der Kinder schon trocken. Die erfolgreichste Therapie, v. a. bei der häufigen Enuresis nocturna, ist
der Einsatz von Weckgeräten. Hier werden die Kinder durch einen Klingel- oder Vibrationston geweckt, wenn es zum Einnässen kommt.
Erweist sich die apparative Therapie z.  B. mit Klingelhose oder Klingelmatratze als nicht wirksam bzw. sprechen Gründe gegen ihren Einsatz, kann
pharmakologisch eine zeitlich begrenzte Gabe von Desmopressin, einer synthetischen Form des antidiuretischen Hormons Vasopressin in Betracht gezogen
werden. Trizyklika, die früher zum Einsatz kamen, sind aufgrund ihrer kardialen Risiken nicht mehr indiziert.

18.11.2. Nichtorganische Enkopresis


Definition
Definitionsgemäß spricht man von einer Enkopresis, wenn es zu einem wiederholten unwillkürlichen oder willkürlichen Absetzen von Stuhl in Kleidung oder
an dafür nicht vorgesehene Stellen kommt.

Epidemiologie
In epidemiologischen Studien liegt die Prävalenz der Enkopresis für 7- bis 8-jährige Schulkinder bei 1,5 bis ca. 3 %. Sie tritt bei Jungen nahezu doppelt so
häufig auf wie bei Mädchen.

Ätiologie
Als Ursachen werden wie bei der Enkopresis biologische Faktoren und psychosoziale Bedingungen in Betracht gezogen. So finden sich bei der Enkopresis
mit Obstipation deutliche Hinweise auf eine genetische Komponente. Des Weiteren konnten verschiedene Studien periphere funktionelle Störungen im
Zusammenhang mit der muskulären Koordination der Stuhlentleerung aufzeigen. Wichtige ätiologische Faktoren sind außerdem für das Kind belastende
Lebensereignisse, aber auch somatische Auslöser wie z. B. eine schmerzhafte Defäkation.

Symptomatik
Symptomatisch gilt es zu entscheiden, ob bei der Enkopresis eine Obstipation vorliegt oder nicht. Kinder, die zusätzlich unter Obstipation leiden, haben selten
Stuhlgang und setzen besonders tagsüber große Mengen von z.  T. hartem Stuhl in die Hose ab. Dabei bestehen Bauchschmerzen, und es lassen sich auch
Kotballen (Skyballa) tasten. Gerade eine schmerzhafte Defäkation kann dabei zur Retention des Stuhls führen.

Diagnostik
Diagnostisch bedarf es einer ausführlichen kinderpsychiatrischen, jedoch auch einer organischen Abklärung. Dabei gilt es besonders Einkoten infolge einer
organischen Erkrankung auszuschließen (z. B. ein Megacolon congenitum oder eine Spina bifida sowie die Obstipation mit Stuhlblockade und nachfolgender
Überlaufenkopresis von flüssigem oder halbflüssigem Stuhl).
Komorbid sind die Kinder mit Enkopresis stark belastet. Im Vordergrund stehen dabei spezifische emotionale Störungen, das hyperkinetische Syndrom und
Störungen des Sozialverhaltens. Nicht wenige Kinder leiden auch bei einer sehr ausgeprägten Enkopresis zusätzlich unter einer Enuresis.

Therapie
Therapeutisch hat sich bei der Enkopresis ein gestuftes, kombiniertes Vorgehen bewährt. Nach Aufklärung und Diagnostik kommt insbesondere beim
Vorliegen von Obstipation abführenden Maßnahmen (z. B. Gabe von Laxanzien) und psychotherapeutischen Hilfen eine große Bedeutung zu.

18.12. Schlafstörungen
Leitsymptome der Schlafstörungen sind ungenügende Dauer und / oder Qualität des Schlafs, eine übertriebene Beschäftigung mit der Schlafstörung tagsüber
sowie erhöhte Angst und Anspannung in der Einschlafsituation. Parasomnien, die typisch für das Kindesalter sind, sind Schlafwandeln, Albträume und Pavor
nocturnus, weshalb diese hier kurz beschrieben werden. Ansonsten wird für ausführliche Erläuterungen auf ➤ verwiesen, in dem auch die ICD-10-
Klassifikation und die diagnostischen Kriterien eingehend beschrieben werden.

18.12.1. Schlafwandeln
Schlafwandeln (Somnambulismus, ICD-10 F51.3, ➤ ) tritt meist im ersten Drittel des Nachtschlafs auf. Es kommt aus dem Schlaf heraus zu einem
Umhergehen, bei dem die betreffende Person eine intensive Mimik zeigt und nur schwer geweckt werden kann. Wenn das Schlafzimmer verlassen wird, kann
es zu beträchtlichen Verletzungen kommen. Für das Schlafwandeln besteht nach dem Aufwachen eine Amnesie.

18.12.2. Pavor nocturnus


Beim Pavor nocturnus (ICD-10 F51.4, ➤ ) werden die Betroffenen nach einem Panikschrei oder gleichzeitigem Aufsetzen und Aufstehen aus dem Schlaf
heraus ein- oder mehrmalig plötzlich wach. Dabei kommt es zu einer vegetativen Erregung mit Zeichen intensiver Angst, Desorientiertheit und
perseverierenden Bewegungen. Die Symptomatik ist durch Beruhigungsversuche kaum zu beeinflussen. Die betreffende Person lässt sich nur schwer
aufwecken; wenn dies gelingt, schläft sie meist sofort wieder ein.

18.12.3. Albträume
Bei Albträumen (ICD-10 F51.5, ➤ ) kommt es zum Aufwachen aus dem Schlaf mit lebhafter und detailreicher Erinnerung an heftige Träume sowie zur
raschen Orientierung; die Albträume treten im Gegensatz zum Schlafwandeln und beim Pavor nocturnus meist in der zweiten Nachthälfte auf.

18.13. Störungen sozialer Funktionen


Die Störungen sozialer Funktionen mit Beginn in der Kindheit und Jugend werden in der ICD-10 im Kapitel F94 codiert. Dabei werden unterschieden:

• F94.0 Elektiver Mutismus


• F94.1 Reaktive Bindungsstörung des Kindesalters
• F94.2 Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung

18.13.1. Elektiver Mutismus


Definition
Unter Mutismus versteht man das Nichtsprechen bei erhaltenem Sprechvermögen. Da sich dieses Nichtsprechen auf alle Menschen im sozialen Umfeld des
Kindes oder nur auf ganz bestimmte Personen / Situationen beziehen kann, wird zwischen totalem und elektivem oder selektivem Mutismus unterschieden.

Ätiologie
Bei der Genese des Mutismus spielen Persönlichkeits- und Temperamenteigenschaften, die mit einer erhöhten Scheu und Ängstlichkeit einhergehen, eine
wichtige Rolle. Oft finden sich auch auffällige familiäre Strukturen mit bestehender Disharmonie zwischen den Familienmitgliedern sowie gegenseitiger
Ablehnung und Feindseligkeit.

Symptomatik
Kinder mit mutistischem Verhalten weisen in ihrer Vorgeschichte oft Sprachentwicklungsstörungen auf. Sehr häufig besteht eine stark symbiotische Beziehung
zu einer Bezugsperson. Von ihrer primären Persönlichkeit sind die Kinder in sozialen Situationen eher ängstlich und zurückhaltend. Im familiären Rahmen
zeigen sie häufig einen sehr ausgeprägten Willen und fallen durch oppositionelles Verhalten auf. Das führt oft dazu, dass die Kinder die Familie und ihr
soziales Umfeld mit ihrer Symptomatik dominieren.

Diagnose
Es findet sich ein normales oder nahezu normales Niveau des Sprachverständnisses. Sprachausdruck und Sprachverständnis sollen sich in einem individuell
angewandten standardisierten Test innerhalb von zwei Standardabweichungen entsprechend dem Alter des Kindes bewegen. Die Kinder sind in der Lage, in
einigen Situationen normal oder fast normal zu sprechen. Die Fähigkeit des sprachlichen Ausdrucks reicht für eine soziale Kommunikation aus. Der Mutismus
sollte länger als 4 Wochen bestehen.

18.13.2. Bindungsstörungen
Definition
Bei den Bindungsstörungen handelt es sich um schwerwiegende Beeinträchtigungen der sozialen Funktionen, die durch Milieuschäden und negative soziale
Interaktion bzw. Deprivation ausgelöst wurden. Man unterscheidet:

• die reaktive Bindungsstörung des Kindesalters (F94.1) von der


• Bindungsstörung mit Enthemmung (F94.2).

Die Bindungstheorie (➤ ) bildet eine Erklärungsgrundlage der Störungen, wobei sich aber die klassischen Konzepte der Bindungstheorie (sicher = Typ B;
unsicher-ambivalent = Typ C; unsicher-gehemmt = Typ A) allenfalls indirekt auf die Bindungsstörungen übertragen lassen. Unter Bindungsstörungen im
psychiatrischen Sinne versteht man schwere Beeinträchtigungen der sozialen Interaktion, die i.  d.  R. auch langfristig mit einer deutlichen
Funktionseinschränkung des sozialen Netzes einhergehen. Unter den verschiedenen Bindungstypen (unsicher  /  sicher etc.) versteht man in einem
entwicklungspsychologischen Sinne eher überdauernde Muster der Emotions- und Verhaltensregulation, die aber keinesfalls notwendigerweise mit deutlichen
Funktionseinschränkungen einhergehen müssen.

Ätiologie
Bindungsstörungen haben i.  d.  R. eine Geschichte, d.  h., man wird in der biografischen Anamnese Anhaltspunkte finden (z.  B. Deprivation, Misshandlung,
Missbrauch, Verwahrlosung, mangelnde Fürsorge mit chronischen Überforderungssituationen), die klinisch als Erklärung für das auffällige Bindungsverhalten
herangezogen werden können. Zunehmend zeigt sich aber auch, dass emotionale Vernachlässigung (z. B. ein Erziehungsstil, bei dem in ausgeprägter Weise
Liebesentzug als Strafe eingesetzt wird, ohne dass dies zunächst klinisch als Vernachlässigung ersichtlich wäre) zu Bindungsstörungen führen kann.

Symptomatik
Die Symptomatik setzt bereits im Kindesalter ein und ist geprägt von abnormen Bindungsmustern z. B. in der Nähe-Distanz-Regulation. So können ängstlich
und emotional stark gehemmte Verhaltensweisen gegenüber Personen auftreten, zu denen man (z.  B. aufgrund des Verwandtschaftsverhältnisses oder des
Zusammenlebens in der Familie) ein eher vertrauensvolles Verhältnis annehmen würde. Gleichzeitig können diese Kinder aber Fremden gegenüber distanzlos
sein, ohne dass sie in der Lage wären, die damit verbundenen Gefahren richtig einzuschätzen. Bei der gehemmten Form der Bindungsstörungen ist eher eine
innere Anspannung und Verhaltenshemmung zu beobachten (z.  B. „frozen watchfulness“), während bei Kindern mit enthemmter Form ein starker
Bewegungsdrang, impulsives Verhalten und eine äußere Unruhe imponieren. Beide Subformen haben Schwierigkeiten, stabile Bindungen aufzubauen. Das
Grundvertrauen in Beziehungen ist nachhaltig gestört.

Diagnose
Die Diagnose erfolgt in erster Linie klinisch. Differenzialdiagnostisch abzugrenzen sind Störungen des Sozialverhaltens und ADHS, aber auch depressive
Erkrankungen.
Therapie
Die Behandlung erfolgt primär milieu- und psychotherapeutisch. Von besonderer Bedeutung ist der Einsatz institutioneller Maßnahmen (z.  B.
Fremdunterbringung, stationäre Behandlung, Pflegefamilie, Adoption), da diese einerseits oft aus der Situation heraus oder wegen des Schweregrades der
Verhaltensauffälligkeiten unumgänglich sind und sich stabilisierend auswirken können. Sie können aber auch das Störungsbild weiter chronifizieren, wenn
Bindungen immer wieder aufgebaut und abgebrochen werden, was die negativen Bindungserfahrungen der Betroffenen noch verstärken kann.
Medikamente kommen nur bei extremen, nicht anders zu steuernden Verhaltensweisen (z. B. bei Impulsdurchbrüchen) zum Einsatz.

Verlauf
Die Prognose ist stark vom Zeitpunkt, von der Dauer, aber auch von der Nachhaltigkeit der Maßnahme abhängig. Häufig sind Jugendhilfemaßnahmen
erforderlich, die auch in Hinblick auf die Prognose gut abgestimmt und längerfristig angelegt sein sollten.

18.14. Vernachlässigung, Misshandlung, sexueller Missbrauch


18.14.1. Vernachlässigung
Man unterscheidet grundsätzlich körperliche u n d emotionale Vernachlässigung. Bei der körperlichen Vernachlässigung bestehen eine unzureichende
Versorgung und Gesundheitsfürsorge, was zu ausgeprägten Gedeih- und Entwicklungsstörungen bis hin zum psychosozialen Kleinwuchs führen kann. Bei
der emotionalen Vernachlässigung (Deprivation) besteht ein unzureichendes oder ständig wechselndes und dadurch nicht ausreichendes emotionales
Beziehungsangebot an das Kind. Eine besonders ausgeprägte körperliche und emotionale Vernachlässigung besteht beim psychischen Hospitalismus. Hier
kommt es zum Verlust aller emotionalen Bezugspersonen. Die Reaktionen des betroffenen Kindes kann man in die in ➤ dargestellten Phasen unterteilen.

Abb. 18.3 Phasen bei massiver emotionaler und körperlicher Deprivation [L141]

Mit Inkrafttreten des neuen Bundeskinderschutzgesetzes (BKiSchG) zum 1.1.2012 hat sich eine Reihe von praktischen Konsequenzen insbesondere
hinsichtlich der Informationsweitergabe, aber auch in Hinblick auf Schutzaspekte von Kindern und Jugendlichen ergeben. In dem Gesetz wird geregelt, was
genau unter der staatlichen Mitverantwortung zu verstehen ist, wie Eltern über Unterstützungsangebote bzgl. der Kindesentwicklung informiert werden
müssen, wie eine verbindliche Netzwerkstruktur im Rahmen des Kinderschutzes ausgestaltet werden muss und wie Beratung und Übermittlung von
Informationen durch Geheimnisträger bei Verdacht oder Bekanntwerden einer Kindeswohlgefährdung vonstattengeht.
Eine praktisch sehr relevante Neuerung ist, dass sich Fachkräfte (z.  B. Kinderärzte, Pflegekräfte, Erzieher) bei entsprechend geschulten Fachkräften
(offizielle Bezeichnung: insoweit erfahrene Fachkraft) in pseudonymisierter Form beraten lassen können, ohne dabei die Identität eines Patienten preisgeben zu
müssen. Sie erhalten dann von den speziell dafür geschulten Mitarbeitern eine entsprechend qualifizierte Beratung, wie in geeigneter Form weiter vorzugehen
ist.

18.14.2. Kindesmisshandlung
Bei körperlicher Kindesmisshandlung geht es definitionsgemäß um eine direkte Gewalteinwirkung auf das Kind, z.  B.durch Schlagen, Verbrennen oder
Schütteln. Verletzungen an typischen und untypischen Stellen sowie auffällige Verletzungsmuster (z.  B. kreisrunde Zigarettennarben, Abdruckmale auf der
Hand oder auf weiteren Hautflächen) sprechen symptomatisch für körperliche Misshandlung. Psychisch zeigen misshandelte Kinder häufig
Verhaltensauffälligkeiten (z. B. in Form einer Distanzstörung).
Eine Sonderform ist das Münchhausen-by-proxy-Syndrom ( ➤ ). Hier handelt es sich um die Vorspiegelung falscher Krankheitssymptome beim Kind
durch Bezugspersonen. Dabei können auch tatsächlich Symptome auftreten, wenn die Bezugspersonen diese z.  B. durch toxische Substanzen oder nicht
verordnete Medikamente induzieren. In erster Linie werden jedoch Symptome durch die Eltern angegeben, die nicht vorhanden sind. Im Einzelfall kann das zu
einer gravierenden Belastung und Schädigung der Kinder führen, die dadurch zahlreiche diagnostische und therapeutische Interventionen aushalten müssen.

18.14.3. Sexueller Missbrauch, sexuelle Misshandlung


Definition

• Sexueller Missbrauch wird definiert als die Einbeziehung von Kindern und Jugendlichen in sexuelle Aktivitäten, deren Funktion und Tragweite sie
nicht überblicken können.
• Eine sexuelle Misshandlung liegt vor, wenn es zu Gewaltanwendung kommt und die sexuellen Aktivitäten gegen den Willen des Kindes
herbeigeführt werden. Die Täter sind besonders häufig im näheren Bekanntenkreis und sozialen Umfeld des betroffenen Kindes zu finden. Eine
häufige Form des Missbrauchs ist der Inzest (Ausübung des Geschlechtsverkehrs zwischen Familienangehörigen).

Epidemiologie
Aus in den USA durchgeführten epidemiologischen Studien weiß man, dass 5–10 % der erwachsenen Frauen über sexuelle Missbrauchserlebnisse berichten.

Diagnostik
Hinweise auf sexuellen Missbrauch geben Aussagen und  /  oder ein plötzlich auftretendes auffälliges, dem Alter unangemessenes Sexualverhalten des
betroffenen Kindes. Dabei ist zu beachten, dass sexueller Missbrauch zu vielerlei psychischen Auffälligkeiten beim Kind führen kann. Bei der Interpretation
von Spielverhalten und Kinderzeichnungen sollte man eher vorsichtig sein.

Merke
Bei Misshandlungen und Missbrauch gilt es, das Kindeswohl in den Vordergrund zu stellen. Dabei ist ein frühzeitiges
Einschalten des Jugendamts sinnvoll.

Literatur
ADHS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen (2018). S3-Leitlinie. AWMF Registernummer 028-045. (letzter Zugriff: 24.3.2019).
Autismus-Spektrum-Störungen im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter. S3-Leitlinie; Teil 1 Diagnostik. AWMF Registernummer 028-018; (letzter Zugriff: 30.3.2019).
Autismus-Spektrum-Störungen im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter. S3-Leitlinie; Teil 2 Therapie. AWMF Registernummer 028-047. (letzter Zugriff: 30.3.2019).
Kinderschutzleitlinienbüro. AWMF S3+ Leitlinie Kindesmisshandlung, -missbrauch, -vernachlässigung unter Einbindung der Jugendhilfe und Pädagogik
(Kinderschutzleitlinie), Langfassung 1.0, Stand: 7.2.2019, AWMF-Registernummer: 027-069; (letzter Zugriff: 1.4.2019).
NICE Guideline [NG87] (2018). Attention deficit hyperactivity disorder: diagnosis and management (Stand: März 2018); (letzter Zugriff: 25.3.2019).
Schienkiewitz A, Brettschneider A-K, Damerow S, Schaffrath Rosario A (2018). Übergewicht und Adipositas im Kindes- und Jugendalter in Deutschland – 
Querschnittergebnisse aus KiGGS Welle 2 und Trends. Journal of Health Monitoring 2018; 3(1) DOI 10.17886 / RKI-GBE-2018-005.2.

In der Vorauflage bearbeitet von Christoph Wewetzer


KAPITEL 19

Autismus und ADHS im Erwachsenenalter


Swantje Matthies

Sabine Frauenknecht

19.1. Einführung
Autismus-Spektrum-Störungen und die Aufmerksamkeitsdefizit-  /  Hyperaktivitätsstörung (ADHS) werden den Entwicklungsstörungen zugerechnet. Sie sind
also Krankheitsbilder, die bereits im Kindesalter vorliegen und die Entwicklung der Betroffenen begleiten, beeinflussen und beeinträchtigen können (➤ bzw. ➤
).
Die ADHS wurde lange Zeit als Kinderkrankheit betrachtet. Man ging davon aus, dass sich die Störung, die als minimale zerebrale Dysfunktion beschrieben
wurde, während eines Reifungsprozesses bis ins Erwachsenenalter hinein auswächst. Erst seit den 1980er-Jahren ist klar geworden, dass eine ADHS bis ins
Erwachsenenalter persistieren und auch bei Erwachsenen noch zu erheblichen Beeinträchtigungen und Leiden führen kann. In den vergangenen Jahren wird die
ADHS zunehmend als dauerhafte Bedingung im Leben der Betroffenen wahrgenommen, die über die gesamte Lebensspanne hinweg eine bedeutsame Rolle
spielen kann.
Eine ähnliche Entwicklung ist bei den Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) eingetreten. Das Interesse an ASS im Erwachsenenalter hat im Verlauf der
letzten 20 Jahre stetig zugenommen. Immer häufiger werden im Erwachsenenalter Ausprägungen innerhalb des autistischen Spektrums erkannt und neu
diagnostiziert. Es handelt sich dabei i. d. R. um das Asperger-Syndrom oder um den hochfunktionalen Autismus (HFA).

19.2. Autismus im Erwachsenenalter


19.2.1. Definition und Klassifikation

Merke
Die ICD-10 fasst im Kapitel F84 (tief greifende Entwicklungsstörungen) u. a. den frühkindlichen Autismus (F84.0),
den atypischen Autismus (F84.1) und das Asperger-Syndrom (F84.5) zusammen (➤ ).
Alle Formen von Autismus sind durch die folgenden drei Symptombereiche charakterisiert:

1. Qualitative Beeinträchtigung der gegenseitigen sozialen Interaktion


2. Qualitative Auffälligkeiten der Kommunikation
3. Begrenzte, repetitive und stereotype Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten.

Hinsichtlich des frühkindlichen und atypischen Autismus wird auf ➤ verwiesen.


Beim Asperger-Syndrom fehlt im Gegensatz zum frühkindlichen Autismus eine eindeutige allgemeine Verzögerung der gesprochenen oder rezeptiven
Sprache oder der kognitiven Entwicklung. Es handelt sich definitionsgemäß um eine Störung, die bereits im Kleinkindalter beginnt und durchgehend bis ins
Erwachsenenalter weiterbesteht. Sie weist die folgenden autistischen Kernsymptome auf: eine qualitative Beeinträchtigung sozialer Kommunikation und
repetitive, stereotype Verhaltensweisen. Jedoch ist im Gegensatz zum frühkindlichen Autismus eine altersentsprechende Entwicklung von Intelligenz und
Sprache während der ersten 3 Lebensjahre zu beobachten. Meilensteine der motorischen Entwicklung können etwas verspätet auftreten, und eine
motorische Ungeschicklichkeit ist ein häufiges (aber nicht notwendiges) diagnostisches Merkmal. Isolierte Spezial- oder Sonderinteressen zu bestimmten
Themenbereichen (z. B. Informatik), oft verbunden mit einer intensiven Beschäftigung mit diesen Inhalten, sind häufig zu beobachten, aber für die Diagnose
nicht erforderlich. Hier zeigen Menschen mit Asperger-Syndrom gelegentlich isolierte Hochbegabungen.
Klassifikatorisch wird das Asperger-Syndrom den tief greifenden Entwicklungsstörungen (ICD-10 F84) zugeordnet (➤ ). Von einem hochfunktionalen
Autismus wird gesprochen, wenn die Kernsymptome des Autismus nicht mit einer Intelligenzminderung einhergehen. Da sich die beiden autistischen
Hauptkategorien „frühkindlicher Autismus“ und „Asperger-Syndrom“ nicht valide voneinander unterscheiden ließen, hat das DSM-5® dieses kategoriale
Konzept verlassen und einen dimensionalen Ansatz eingeführt. Im DSM-5® wird mittlerweile der diagnostische Überbegriff der Autismus-Spektrum-
Störungen (ASS) für alle genannten autistischen Störungsbilder verwendet.
Die ICD-11 wird den diagnostischen Oberbegriff der Autismus-Spektrum-Störung übernehmen. Es wird eine Unterteilung nach dem Vorliegen einer
Intelligenzminderung und von Beeinträchtigungen der Sprachentwicklung und der Sprache vorgeschlagen.

19.2.2. Symptomatik und Diagnostik


Auffällig bei Erwachsenen mit Autismus ist, dass sie Schwierigkeiten haben, in Mimik, Gestik oder Blickkontakt soziale Beziehungen herzustellen oder
zu modulieren. Im Kontakt wirken sie oft ungeschickt, einzelgängerisch, vermeintlich desinteressiert oder emotional unbeteiligt. Sprache erfassen sie oft rein
wörtlich; der übertragene Sinn oder emotionale Gehalt von Kommunikation bleibt ihnen häufig unverständlich und fremd. Alltagshandlungen werden nicht
selten in ritualisierter Form durchgeführt, oder es bestehen anderweitige repetitive motorische Verhaltensweisen. Sie legen großen Wert auf kontrollierbare,
ritualisierte Abläufe im Alltag. Bei drohenden Veränderungen der Alltagsroutine entwickeln sie häufig massive Angstreaktionen.
Zur Inanspruchnahme von Beratung oder Behandlung kommt es zumeist dann, wenn sich ihre soziale Situation verändert und ihnen entsprechende
Entscheidungen und ein angemessenes, adaptives soziales Verhalten abverlangt werden, z. B. durch einen Schulabschluss oder den Beginn einer Ausbildung.
Aber auch die häufigen komorbiden psychischen Erkrankungen (s. u.) können zu einer Konsultation psychiatrisch-psychotherapeutischer Einrichtungen führen.
Die Diagnosekriterien für das Asperger-Syndrom nach ICD-10 finden sich in ➤
Tab. 19.1 Diagnosekriterien für das Asperger-Syndrom nach ICD-10 (F84.5)
A. Fehlen einer Sprachentwicklungsverzögerung und normale intellektuelle Entwicklung. Motorische Entwicklung kann verzögert sein. Motorische
Ungeschicklichkeit ist häufig. Isolierte Spezialinteressen sind häufig.

B. Eine qualitative Beeinträchtigung der gegenseitigen sozialen Interaktion zeigt sich in mindestens zwei der folgenden Merkmale:
• Unfähigkeit, Blickkontakt, Mimik, Körperhaltung und Gestik zur Regulation von sozialer Interaktion zu verwenden
• Unvermögen, Beziehungen zu Gleichaltrigen aufzunehmen, die das Teilen von Interessen, Aktivitäten und Emotionen beinhalten
• Mangel an sozioemotionaler Gegenseitigkeit, der sich in einer Beeinträchtigung oder in devianten Reaktionen auf die Emotionen anderer äußert; oder
Mangel an Verhaltensmodulation entsprechend dem sozialen Kontext
• Mangel, spontan Freude, Interessen oder Tätigkeiten mit anderen zu teilen

C. Ein ungewöhnlich intensives umschriebenes Interesse oder begrenzte, repetitive und stereotype Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten in
mindestens einem der folgenden Bereiche:
• Umfassende Beschäftigung mit gewöhnlich mehreren stereotypen und begrenzten Interessen, die in Inhalt und Schwerpunkt abnorm sind; es kann sich
aber auch um ein oder mehrere Interessen ungewöhnlicher Intensität und Begrenztheit handeln.
• Offensichtlich zwanghafte Anhänglichkeit an spezifische, nichtfunktionale Handlungen oder Rituale.
• Motorische Manierismen und die vorherrschende Beschäftigung mit Teilobjekten – wie sie für den frühkindlichen Autismus beschrieben sind – treten
auf, sind für das Asperger-Syndrom aber ungewöhnlich.

19.2.3. Epidemiologie, Komorbidität und Verlauf


Die Lebenszeitprävalenz für die Autismus-Spektrum-Störungen wird mit ca. 1 % angegeben. Männer sind in einem Verhältnis von ca. 4 : 1 häufiger betroffen
als Frauen.
Einerseits treten häufig komorbide psychische Erkrankungen auf, z.  B. ADS  /  ADHS, Ticstörungen, Zwangsstörungen oder depressive Syndrome. Auch
Persönlichkeitsstörungen sollen bei ASS häufiger vorkommen (v. a. schizoide, schizotype, narzisstische PS). Andererseits werden viele Patienten mit ASS in
der Erwachsenenpsychiatrie nach wie vor unter unzutreffenden Diagnosen behandelt. Beispielsweise werden stereotype Verhaltensweisen als Zwänge
verkannt oder autismusspezifische Besonderheiten wie Vermeidung von Reizüberflutung oder fehlende „Theory of Mind“ als Distanziertheit, Kühle,
Einzelgängertum einer schizoiden Persönlichkeitsstörung zugerechnet. Selbstverletzendes Verhalten wird oft einer Borderline-Persönlichkeitsstörung falsch
zugeordnet. Auch komorbide Depressionen werden aufgrund der oft atypischen Präsentation häufig nicht erkannt (den Betroffenen fällt es manchmal schwer,
ihre Affektivität zu beschreiben).
Eine korrekte Diagnosestellung hat fast immer weitreichende und meist positive Konsequenzen, weil sie das Verständnis für die autistischen Eigenschaften
und die sich daraus entwickelnde psychiatrische Symptomatik sowie einen angemessenen Umgang damit erlaubt. Dies fördert die Akzeptanz aufseiten der
Patienten und ihrer Angehörigen, welche die Diagnosestellung nicht selten als erleichternd und erklärend erleben. Aber auch für das Behandlungsteam stellt die
korrekte Diagnosestellung eine entlastende Erklärung für die oft als unverständlich oder „schwierig“, manchmal gar als ärgerlich erlebten Verhaltensweisen der
Betroffenen dar. Die Kernsymptome der Störung persistieren über das ganze Leben, können sich aber  –  abhängig von Umgebungsfaktoren und
Lebensalter – in ihrer Ausprägung verändern.

19.2.4. Therapie
Eine ursächliche Behandlung der Störung ist bis heute nicht bekannt. Der Autismus ist als zeitstabile und damit als strukturelle Besonderheit der Betroffenen
zu begreifen. Ziel therapeutischer Bemühungen kann also nicht sein, diese Besonderheiten „wegzutherapieren“.

Psychotherapie
Psychotherapeutische Interventionen können das Verständnis für die eigenen Besonderheiten und ihre Akzeptanz fördern. Dies eröffnet dann häufig die
Möglichkeit, im Umgang mit diesen Besonderheiten neue Wege zu gehen und Leiden zu verringern. Verhaltenstherapeutische Herangehensweisen können
über eine Erweiterung und den Aufbau alltagsrelevanter Fertigkeiten sowie den Erwerb von Kompensationsstrategien (z. B. Training von Emotionserkennung,
Umgang mit Rigidität oder stereotypen Bedürfnissen, Problemen der sozialen Kognition oder Kommunikation, Reizüberflutung) zu einer Linderung
subjektiven Leidens und zu einer verbesserten Adaptationsfähigkeit beitragen. Darüber hinaus sollten Erkrankungszustände (wie z. B. eine Depression), die zu
den strukturellen Besonderheiten hinzukommen,  –  angepasst an die kommunikativen Besonderheiten der Betroffenen  –  störungsorientiert behandelt werden.
Alltagsprobleme, die aus dem Anderssein resultieren, können mithilfe problemlösender Ansätze angegangen werden, die wiederum an die autistischen
Besonderheiten angepasst sein sollten.

Medikamentöse Therapie
Pharmakologisch kann symptomatisch behandelt werden; entsprechende Therapiestudien an Erwachsenen stehen bislang jedoch noch aus. Bei Kindern und
Jugendlichen sind Antipsychotika der 2. Generation zur Behandlung von Aggressivität und Hyperaktivität wirksam, bei komorbider ADS / ADHS evtl. auch
Methylphenidat. SSRIs können ggf. Stereotypien, Rituale und Ängste bessern. Ob die Gabe des Neuropeptids Oxytocin eine Verbesserung der sozialen
Funktionen erbringen kann, ist derzeit Gegenstand pharmakologischer Untersuchungen.

19.3. Die Aufmerksamkeitsdefizit- /  Hyperaktivitätsstörung (ADHS) des


Erwachsenenalters
Unter ADHS wird eine Störung verstanden, die in der Kindheit beginnt und als Leitsymptome Unaufmerksamkeit, Impulsivität u n d Hyperaktivität
aufweist. Das Vollbild der Störung persistiert oft bis ins Erwachsenenalter und kann dann durch die Grundsymptome sowie die daraus resultierenden sozialen
und psychischen Konsequenzen erhebliches Leiden verursachen.

Kasuistik
Frau Z., eine 48-jährige Germanistin, wird von ihrer Psychotherapeutin mit der Diagnose einer Depression zur stationären Aufnahme überwiesen. Am Tag
des Aufnahmetermins ruft sie an, sie könne erst einen Tag später kommen, da sie mit ihrem Sohn noch einen dringenden Arzttermin wahrnehmen müsse.
Bei der Begrüßung in der Klinik entschuldigt sich Frau Z. zunächst für das terminliche Durcheinander, das sie verursacht habe. Der Sohn habe jedoch
unbedingt noch ein Rezept für ein dringend benötigtes Medikament gebraucht. Im Aufnahmegespräch schildert Frau Z., sie fühle sich seit Längerem immer
wieder deprimiert, innerlich leer und unzufrieden. Diese Zustände kämen episodenweise und würden manchmal für Stunden, manchmal aber auch über ein
paar Tage anhalten. Dabei könne sie ihre Arbeit und den Haushalt zumeist „wie immer chaotisch“ bewältigen. Sie sei auch in der Lage, Freude oder
Traurigkeit zu empfinden. Ihrem Leben fehle aber einfach der rote Faden, und darüber müsse sie nun angesichts der zunehmenden Selbstständigkeit ihrer
Kinder immer wieder nachgrübeln. Sie fühle sich oft nervös und erschöpft, aber sie habe ja als berufstätige Alleinerziehende mit ihren drei Kindern alle
Hände voll zu tun. Schlafen könne sie aber gut, und auch der Appetit sei normal. Frau Z. unterrichtet Deutsch für Ausländer an einem Goethe-Institut. Die
Arbeit mache sie sehr gern, und sie sei als Mitarbeiterin geschätzt. Es gebe jedoch immer wieder Konflikte mit ihren Kollegen wegen verlegter Unterlagen,
versäumter Konferenzen oder ihrer notorischen Unpünktlichkeit.
Ihre Kinder im Alter von 10, 13 und 17 Jahren habe sie nach der Trennung vom Ehemann vor 10 Jahren allein erzogen. Das Verhältnis zu ihnen sei gut,
obwohl sie keine besonders gute Mutter sei. Sie habe es z. B. selten geschafft, für regelmäßige, gemeinsam eingenommene Mahlzeiten an einem schön
gedeckten Tisch zu sorgen. Essen und andere Haushaltsaktivitäten seien immer „irgendwie chaotisch abgelaufen“. Sie schaffe es auch nicht, in der
Wohnung mal ordentlich aufzuräumen, denn irgendwie komme dann doch immer etwas anderes dazwischen. Eine Herausforderung sei außerdem die
Betreuung des 10 Jahre alten Sohnes, der neben einer Lese-Rechtschreib-Schwäche an einer deutlichen Hyperaktivitätsstörung leide und deshalb mit
Methylphenidat behandelt werde. Sie selbst sei schon immer ein bisschen chaotisch und schräg gewesen. Als Kind habe man ihr oft gesagt, sie sei
„unmöglich“, „zu laut“ und „zu lebhaft“. Sie sei als Kind davon überzeugt gewesen, mit ihr stimme was nicht. In der Schule habe sie sich oft gelangweilt,
außer in sprachlichen Fächern, da sie immer sehr viel gelesen habe. Das Lesen habe sie oft über die fehlenden Freundinnen hinweggetröstet. Sie habe sich
nämlich selten getraut, andere Mädchen anzusprechen, weil sie sich als minderwertig erlebt habe. Eigentlich fühle sie sich nicht „krank genug“ für eine
stationäre Behandlung, aber sie erhoffe sich, doch etwas mehr Klarheit über ihren Zustand zu erhalten.

19.3.1. Klassifikation und Symptomatik


Klassifikation
In der ICD-10 wird die Diagnose anhand von 18 Kriterien etabliert, die den Symptomdomänen Unaufmerksamkeit u n d Hyperaktivität/Impulsivität
zugeordnet werden. Die Symptomatik muss situationsübergreifend auftreten und bereits vor dem 7. Lebensjahr nachweisbar sein. Es sind dort allerdings nur
kinderspezifische diagnostische Kriterien zu finden (➤ sowie ➤ ). Das DSM-5® hat als Neuerung erstmals erwachsenenspezifische Beschreibungen für die 18
diagnostischen Kriterien ausformuliert. Es unterscheidet darüber hinaus wie bereits in der Vorläuferversion DSM-IV als Unterformen bzw. klinische
Präsentationen einen vorwiegend hyperaktiv-impulsiven Subtyp (ADHS), der vermehrt bei Jungen auftritt, einen vorwiegend unaufmerksamen Subtyp
(Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, ADS), der eher Mädchen betrifft, und einen kombinierten Typ. Für eine deutliche Symptomatik, bei der aber nicht alle
Kriterien für das Vollbild erfüllt sind (z.  B. bei einem späten Beginn nach dem 7. Lebensjahr oder einer Teilremission) kann die Rubrik „nicht näher
bezeichnete Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung“ verschlüsselt werden. Gegenüber dem DSM-IV wurde im DSM-5® die diagnostische Schwelle
für das Erwachsenenalter gesenkt (5 statt 6 von 9 Kriterien), und es wird ein nachgewiesener Beginn der Erkrankung vor dem 12. Lebensjahr gefordert (nicht
wie bislang vor dem 7. Lebensjahr).
Es wird erwartet, dass in der ICD-11 im Gegensatz zur ICD-10 die Möglichkeit zur Diagnose des vorherrschenden klinischen Bildes (vorwiegend
unaufmerksam, vorwiegend hyperaktiv-impulsiv und kombiniert) gegeben sein wird und dass die für Erwachsene spezifischen Formulierungen der
diagnostischen Kriterien ähnlich wie im DSM-5® übernommen werden (➤

Tab. 19.2 Klassifikation des ADHS


ICD-10 ICD-11 DSM-5®
Symptome 18 diagnostische Kriterien: mindestens 3 von 5 Symptomen aus dem Voraussichtlich 18 diagnostische Kriterien:
Bereich Hyperaktivität und mindestens 6 von 9 Symptomen aus Übernahme der DSM-5®- Kindheit: 6 von 9 Symptomen aus
dem Bereich Unaufmerksamkeit und mindestens eines von 4 Kriterien den Bereichen
Symptomen aus dem Bereich Impulsivität Unaufmerksamkeit und / oder
Die Forschungsdiagnose erfordert das Vorliegen eines abnormen Hyperaktivität / Impulsivität
Ausmaßes von Unaufmerksamkeit und Überaktivität und Unruhe. Erwachsenenalter: 5 von 9
Symptomen aus den
Bereichen Unaufmerksamkeit
und/oder Hyperaktivität / 
Impulsivität

Alter bei In der Kindheit (vor dem 7. Lj.) Beginn in der In der Kindheit (vor dem 12. Lj.)
Beginn Entwicklungsperiode
(frühe bis mittlere
Kindheit)

Komorbidität ASS können nicht gleichzeitig diagnostiziert werden Noch unklar ASS können gleichzeitig
diagnostiziert werden

Auftreten Symptomatik tritt in verschiedenen Lebensbereichen auf Verhaltensauffälligkeiten Einige Symptome treten in zwei
in mehr als einem oder mehr Lebensbereichen auf
Lebensbereich

Subtypen keine Drei Präsentationen: Drei „klinische Präsentationen“:


kombiniert, vorwiegend kombiniert, vorwiegend
unaufmerksam, unaufmerksam, vorwiegend
vorwiegend hyperaktiv /  hyperaktiv / impulsiv
impulsiv

Symptomatik
Die Grundsymptome der ADS / ADHS sind auch im Erwachsenenalter in altersspezifischer Ausgestaltung zu beobachten. In den Wender-Utah-Kriterien, die
bislang nicht Eingang in die offiziellen Klassifikationssysteme gefunden haben, werden spezifische Kriterien für das Erwachsenenalter formuliert (➤ ).
Tab. 19.3 Die Wender-Utah-Kriterien (nach Wender 2001)
Kriterium Symptom
Aufmerksamkeitsstörung Unvermögen, Gesprächen zu folgen; Ablenkbarkeit; Schwierigkeiten, sich auf Schriftliches zu konzentrieren; Vergesslichkeit,
häufiges Verlieren von Gegenständen

Motorische Gefühl innerer Unruhe; Unfähigkeit, sich zu entspannen oder sitzende Tätigkeiten durchzuhalten; dysphorische Stimmungslage
Hyperaktivität bei Inaktivität

Affektlabilität Häufige und schnelle Stimmungswechsel innerhalb von Stunden und Tagen

Desorganisiertes Unzureichende Planung und Organisation von Aktivitäten im Bereich Arbeit, Schule oder Haushalt; planloses Wechseln von
Verhalten einer Aufgabe zur nächsten, ohne dass eine Aufgabe tatsächlich abgeschlossen wurde; Probleme beim Zeitmanagement

Affektkontrolle Permanente Reizbarkeit, geringe Frustrationstoleranz, Wutausbrüche

Impulsivität Dazwischenreden, Ungeduld, kaum überdachte Handlungen

Emotionale Kein adäquater Umgang mit alltäglichen Stressoren, überschießende oder ängstliche Reaktion
Überreagibilität

Das Vorliegen der Aufmerksamkeitsstörung und der motorischen Hyperaktivität sind obligat, zusätzlich müssen zwei weitere Kriterien erfüllt sein, um die
Diagnose adulte ADHS gemäß Wender-Utah-Kriterien zu stellen.

Unaufmerksamkeit kann sich in Form von Konzentrationsstörungen, Desorganisiertheit und „geistiger Abwesenheit“ äußern. Die Betroffenen machen im
Gespräch einen zerstreuten Eindruck und neigen zur Vergesslichkeit. Sie wirken oft sprunghaft, sprudeln vor Ideen und lassen sich leicht ablenken. Tätigkeiten,
die eine längere Aufmerksamkeitsspanne oder monotone Aktivitäten erfordern, werden nicht durchgehalten. Vor allem beim unaufmerksamen Subtyp, dem die
motorische Hyperaktivität fehlt, ist eine ausgeprägte Neigung zu Tagträumereien zu beobachten: Die Betreffenden verlieren sich dabei über längere
Zeitspannen hinweg in Fantasiewelten und wirken auf die Umgebung abwesend und nicht ansprechbar. „Organisatorisches Chaos“ bei der Erledigung von
Alltagsaktivitäten oder anfallenden beruflichen Aufgaben ist an der Tagesordnung und behindert die Beendigung von Arbeiten.
Die häufig nach außen gerichtete, beobachtbare motorische Hyperaktivität des Kindesalters ist bei Erwachsenen oftmals nicht mehr oder nur in leichter
Form nachweisbar (z. B. in Form von Wippen mit den Beinen oder Nesteln). Häufig ist dagegen ein ständiges Gefühl innerer Unruhe und Anspannung, der
Eindruck, ständig auf dem Sprung zu sein und nicht gut abschalten zu können (phänomenologischer Wandel des Symptombereichs Hyperaktivität). Viele
Patienten regulieren diese Anspannung durch regelmäßige sportliche Aktivitäten.
Die Symptomdomäne Impulsivität zeigt sich in raschen, unbedachten Entscheidungen oder Aktivitäten wie z.  B. riskanten beruflichen Transaktionen,
unerwarteten Partnerwechseln, unüberlegten Arbeitsplatzwechseln, waghalsigen sportlichen Unternehmungen oder riskanter Sexualität. Viele Menschen mit
ADHS haben aufgrund der Bevorzugung kurzfristig belohnender Aktivitäten Probleme mit der Handlungsplanung und dem Priorisieren.
Als akzessorische Symptome treten häufig die bereits oben erläuterte Desorganisiertheit (als Folge der Aufmerksamkeitsstörung und Impulsivität) und eine
emotionale Dysregulation auf. Unter Letztgenannter versteht man ein affektives Erleben, das durch Stressintoleranz, rasche Stimmungswechsel zwischen
Euphorie und Deprimiertheit und Probleme der Affektkontrolle gekennzeichnet ist. Neben der Tendenz zu schnell aufwallenden aggressiven Regungen
beschreiben viele Erwachsene mit zunehmendem Alter nicht selten ein Überwiegen innerer Leere, allgemeiner Unzufriedenheit, Depressivität und Langeweile.

19.3.2. Verlauf und Komorbidität


Verlauf
Entscheidend für den Verlauf der Störung sind die erläuterten Kernsymptome und die daraus resultierenden psychosozialen Konsequenzen. Kinder mit
ADHS werden oftmals wegen „Zappeligkeit“, Ungeduld, „Schusseligkeit“, schlechter Noten und „Zu-laut-Sein“ gerügt und bestraft. Insbesondere Mädchen
entwickeln sehr früh ein Gefühl der Unzulänglichkeit und Minderwertigkeit, das nicht selten zu einem dauerhaft herabgesetzten Selbstwerterleben,
Versagensgefühlen und Scham führt. Während sich ein hohes Maß an Flexibilität, Ideenreichtum und Mobilität in bestimmten beruflichen Gebieten als
nützlich erweist, können diese Eigenschaften in anderen Bereichen zu erheblichen Behinderungen führen. Berufliche Laufbahnen, die ein hohes Maß an
Durchhaltevermögen und Konzentration erfordern, werden oftmals schon während der Ausbildung abgebrochen oder können nicht mit dem den eigentlichen
Begabungen und intellektuellen Fähigkeiten entsprechenden Erfolg vorangebracht werden. Personen mit ADHS wird häufiger gekündigt; sie gehen in einer
beobachteten Zeitspanne eine höhere Anzahl von Beschäftigungsverhältnissen ein. Zwischenmenschliche Beziehungen können durch Unzuverlässigkeit und
Sprunghaftigkeit erheblich belastet werden. Unter Patienten mit ADHS finden sich deutlich mehr geschiedene und arbeitslose Personen als in der
Allgemeinbevölkerung. Die Rate an frühen, unerwünschten Schwangerschaften und die Häufigkeit sexuell übertragener Erkrankungen sind erhöht. Es besteht
überdies ein deutlich erhöhtes Risiko für Unfälle mit schweren Verletzungen, insbesondere im Straßenverkehr. Nicht zuletzt geraten Betroffene aufgrund
vermehrter Impulsivität und Aggressivität oft mit dem Gesetz in Konflikt.

Komorbidität
ADHS im Kindes- und Erwachsenenalter erhöht das Risiko für eine spätere psychische Erkrankung: Insbesondere affektive Störungen, Angsterkrankungen,
Substanzmissbrauch (Nikotin, Alkohol, Koffein, Cannabis), Persönlichkeitsstörungen der Cluster B und C sowie Essstörungen treten gehäuft auf. Häufige
somatische Komorbiditäten sind (Kopf-)Verletzungen, Adipositas, Geschlechtskrankheiten und Restless-Legs-Syndrom (RLS). Die zusätzlichen Erkrankungen
komplizieren oft die bereits vorhandenen Schwierigkeiten im privaten oder beruflichen Bereich noch weiter und sind z.  B. durch das nicht selten
vergesellschaftete metabolische Syndrom nachweislich mit einer erhöhten Mortalität bei ADHS verbunden.

Merke
Menschen mit ADHS beklagen typische Störungen in folgenden Bereichen:

• Kognition: Probleme der Aufmerksamkeitsregulation


• Verhalten: Impulsivität, Desorganisiertheit
• Motorik: Überaktivität
• Affektivität: emotionale Instabilität

19.3.3. Epidemiologie und Ätiologie


Epidemiologie
ADS  /  ADHS tritt im Kindes- und Jugendalter mit einer Häufigkeit von 3–8  % auf. Follow-up-Studien belegen, dass bei mindestens 10  % der Kinder und
Jugendlichen das Vollbild der Störung bis ins Erwachsenenalter persistiert. Werden auch Residualzustände einbezogen, ergibt sich sogar eine Persistenz von
etwa 60  %. In Deutschland tritt das ADS  /  ADHS bei Erwachsenen mit einer Prävalenz von etwa 3 % auf. Während im Kindes- und Jugendalter eine
Knabenwendigkeit bekannt ist (etwa 4:1), fällt der Geschlechterunterschied im Erwachsenenalter mit etwa 1,5–2 : 1 etwas geringer aus.
Zu beachten ist, dass das Vorliegen von ADS  /  ADHS-typischen Eigenschaften nicht automatisch das Vorliegen einer Krankheit impliziert. Die mit der
ADHS verbundenen Merkmale können in manchen Lebensbereichen durchaus einen Vorteil darstellen, sodass man in diesen Fällen besser von einer
symptomatischen ADHS ohne Krankheitswert im Sinne einer Normvariante sprechen sollte. Wenn die ADHS bis ins Erwachsenenalter persistiert, verläuft
sie i. d. R. chronisch.

Ätiologie
In der Ätiologie einer ADHS spielen nach heutiger Erkenntnis biologisch-genetische Faktoren eine wichtige Rolle. Verwandte ersten Grades von Personen
mit ADHS haben ein 5- bis 8-fach erhöhtes Risiko, ebenfalls eine ADHS aufzuweisen. Die Konkordanzraten für ADHS bei eineiigen Zwillingen liegen
zwischen 60 und 90 %. Verschiedene Genloci wurden bislang als Kandidatengene für die ADS / ADHS beschrieben, darunter auch ein Genort auf Chromosom
5, der für einen Dopamin-Transporter codiert. Weitere Risikofaktoren bilden mütterlicher Nikotinabusus in der Schwangerschaft, Schwangerschafts- und
Geburtskomplikationen sowie ein niedriges Geburtsgewicht.
Ungünstige psychosoziale Bedingungen und Umwelteinflüsse sind für die Verursachung der Symptomatik höchstwahrscheinlich von untergeordneter
Bedeutung. Im Sinne von Gen-Umwelt-Interaktionen können sie jedoch die Entwicklung einer ADS / ADHS begünstigen. Die sekundären Folgen der ADS / 
ADHS werden allerdings durchaus von psychosozialen Umgebungsbedingungen beeinflusst. Auch physikalisch-biologische Faktoren wie z.  B. Ernährung,
Bewegung oder Umweltnoxen können sich auf den Verlauf der ADHS auswirken.
Die bislang vorliegenden Daten aus genetischen, strukturellen und funktionellen Untersuchungen sowie das gute Ansprechen auf Stimulanzien haben zur
Hypothese einer Hirnentwicklungsstörung mit präfrontaler Dysfunktion bei ADHS geführt. Diese geht mit Veränderungen des Dopamin- und
Noradrenalin-Stoffwechsels in frontostriatalen Strukturen einher. Sie wird als ursächlich für eine Störung bestimmter exekutiver Funktionen (z.  B.
Disinhibition, Gedächtnisfunktionen, Aufmerksamkeitsfokussierung) angenommen, die dann zur entsprechenden klinischen Symptomatik führen.

19.3.4. Diagnostik und Differenzialdiagnostik


Als retrospektives Screeningverfahren für das Vorliegen einer ADHS im Kindesalter, deren Nachweis Voraussetzung für die Diagnosestellung im
Erwachsenenalter ist, steht die Wender Utah Rating Scale zur Verfügung, die retrospektiv das Vorliegen einer ADHS-Symptomatik im Kindesalter erfragt. Das
Wender-Reimherr-Interview (Rösler et al. 2011) erfragt sowohl die Kriterien des DSM-IV als auch spezielle Aspekte des Verhaltens und Erlebens
Erwachsener.
Testpsychologische Untersuchungen objektivieren gelegentlich  –  aber nicht immer!  –  das Vorliegen einer reduzierten Aufmerksamkeitsspanne und eines
verminderten Durchhaltevermögens. Hierbei kommen weitere Verfahren wie z. B. der Continuous Performance Test zum Einsatz.
Die Diagnosekriterien für die hyperkinetischen Störungen nach ICD-10 sind in ➤ aufgeführt.

Box 19.1
Diagnosekriterien für die hyperkinetischen Störungen nach ICD-10 (F90)
Unaufmerksamkeit
Betroffene …

1. sind häufig unaufmerksam gegenüber Details oder machen Sorgfaltsfehler bei den Schularbeiten, sonstigen Arbeiten und Aktivitäten
2. sind häufig nicht in der Lage, die Aufmerksamkeit bei Aufgaben und beim Spielen aufrechtzuerhalten
3. hören häufig scheinbar nicht, was ihnen gesagt wird
4. können oft Erklärungen nicht folgen oder ihre Schularbeiten, Aufgaben oder Pflichten am Arbeitsplatz nicht erfüllen (nicht wegen oppositionellen
Verhaltens oder weil die Erklärung nicht verstanden wird)
5. sind häufig beeinträchtigt, Aufgaben und Aktivitäten zu organisieren
6. vermeiden ungeliebte Arbeiten wie Hausaufgaben, die häufig geistiges Durchhaltevermögen erfordern
7. verlieren häufig Gegenstände, die für bestimmte Aufgaben wichtig sind, z. B. für Schularbeiten, Bleistifte, Bücher, Spielsachen und Werkzeuge
8. werden häufig von externen Stimuli abgelenkt
9. sind im Verlauf der alltäglichen Aktivitäten oft vergesslich

Überaktivität

1. fuchteln häufig mit Händen und Füßen oder winden sich auf den Sitzen
2. verlassen ihren Platz im Klassenraum oder in anderen Situationen, in denen Sitzenbleiben erwartet wird
3. laufen häufig herum oder klettern exzessiv in Situationen, in denen dies unpassend ist (bei Jugendlichen oder Erwachsenen entspricht dem nur ein
Unruhegefühl)
4. sind häufig unnötig laut beim Spielen oder haben Schwierigkeiten bei leisen Freizeitbeschäftigungen
5. zeigen ein anhaltendes Muster exzessiver motorischer Aktivitäten, die durch den sozialen Kontext oder Verbote nicht durchgreifend beeinflussbar
sind

Impulsivität

1. platzen häufig mit der Antwort heraus, bevor die Frage beendet ist
2. können häufig nicht in einer Reihe warten oder warten, bis sie bei Spielen oder in Gruppensituationen an die Reihe kommen
3. unterbrechen und stören andere häufig (z. B. mischen sie sich ins Gespräch oder Spiel anderer ein)
4. reden häufig exzessiv, ohne angemessen auf soziale Beschränkungen zu reagieren

Differenzialdiagnostisch abgegrenzt werden müssen bei Erwachsenen organische Störungen, insbesondere alle primären Hirnerkrankungen, Hyperthyreose,
Störungen der Aufmerksamkeit und Wachheit bei Schlafstörungen und Restless-Legs-Syndrom. Auch Psychosen des schizophrenen Formenkreises, affektive
Störungen, Suchterkrankungen, Angststörungen und Persönlichkeitsstörungen müssen als Ursache der Symptomatik ausgeschlossen werden.

19.3.5. Therapie
Nach den deutschsprachigen Leitlinien für die ADHS-Therapie bei Erwachsenen leitet sich aus dem Vorliegen der Symptomatik nicht automatisch eine
Indikation zur Behandlung ab. Eine Therapie der ADS  /  ADHS sollte dann erfolgen, wenn die sozialen Funktionen, die berufliche Leistungsfähigkeit oder
andere Lebensbereiche durch die ADHS-Symptomatik erheblich beeinträchtigt sind.

Vergleichende Effektstärken
Vergleichende Effektstärken (➤ ) für eine Psychotherapie und Pharmakotherapie der adulten ADHS lassen sich nicht angeben, da die Evidenzlage für
Psychotherapiestudien bei ADHS im Erwachsenenalter noch unzureichend ist und sich die psychotherapeutischen Behandlungseffekte daher nicht zuverlässig
schätzen lassen. Allerdings sind die Ergebnisse eines aktuellen Cochrane-Reviews zur Wirksamkeit von kognitiv-behavioralen Verfahren ermutigend. Die
Effekte einer medikamentösen Therapie der adulten ADHS liegen – fasst man alle Medikamentenstudien von über 1.000 behandelten Patienten zusammen – 
bei 0,73 und damit im hohen Bereich. Der kleine Konfidenzbereich von 0,57–0,87 zeigt, dass mit Medikamenten zuverlässige Effekte zu erzielen sind (zu den
Unterschieden zwischen den Medikamenten s. u.). Trotz des weitgehenden Fehlens von Psychotherapiestudien im Erwachsenenalter gilt Psychotherapie nach
den vorliegenden deutschen und britischen Leitlinien als effektives Angebot für Patienten, die eine solche wünschen oder trotz medikamentöser Einstellung
relevante funktionelle Beeinträchtigungen erleben.

Pharmakotherapie
Nach den deutschsprachigen und internationalen Leitlinien sind Stimulanzien, insbesondere das Piperidin-Derivat Methylphenidat Mittel der 1. Wahl bei der
pharmakologischen Behandlung der ADS  /  ADHS im Erwachsenenalter (➤ ). Die Therapie mit Methylphenidat zeigt im Erwachsenenalter eine
(dosisabhängige) Effektstärke von ca. 0,7 und eine Responderrate von 52–75 %. Seit 2011 ist in Deutschland retardiertes Methylphenidat für die Behandlung
Erwachsener zugelassen (➤ ) und erstattungsfähig. Es unterliegt bei der Verschreibung dem BtM-Gesetz. Methylphenidat wird in Schritten von 5 mg langsam
auf eine Tagesdosis von 10–60 mg (max. 0,5–1 mg / kg KG, Tageshöchstdosis 80 mg) aufdosiert. Es wird ein- bis zweimal am Tag eingenommen und hat im
Vergleich zum unretardierten Methylphenidat den Vorteil, dass Suchtentwicklung und Rebound-Effekte seltener auftreten.

Tab. 19.4 In Deutschland zugelassene Medikamente zur Behandlung der AHDS im Erwachsenenalter
Substanz Zulassung für Erwachsene
Methylphenidat Medikinet® Adult (Tageshöchstdosis 1 mg / kg KG bis max. 80 mg / d)
Ritalin® Adult (Tageshöchstdosis 80 mg / d)
Concerta® (Tageshöchstdosis 54 mg / d)

Atomoxetin Strattera® (Tageshöchstdosis 100 mg / d)

Lisdexamphetamin Elvanse®* (Tageshöchstdosis 70 mg / d)


wenn bereits vor dem 18. Lj. verordnet und positiver Effekt

Für die Dauerbehandlung von Erwachsenen ist oft eine relativ niedrige Dosierung ausreichend, da die meisten Patienten mit einer teilweisen Reduktion der
Symptomatik bereits zufrieden sind. Ob langfristig bei erfolgreicher Psychotherapie eine weitere medikamentöse Behandlung sinnvoll ist, sollte durch
Absetzversuche 1 × / Jahr überprüft werden. Selbst bei längerer oraler Einnahme von Methylphenidat kommt es bei Menschen mit gesicherter ADHS i. d. R.
nicht zu einer Toleranzentwicklung oder Suchtgefahr (außer im Rahmen eines nasalen oder i. v. Missbrauchs bei Polytoxikomanie). Langzeitstudien für die
Anwendung von Methylphenidat bei Erwachsenen liegen allerdings noch nicht vor. Häufige unerwünschte Wirkungen sind Appetitminderung und
Schlafstörungen. Gelegentlich treten auch Tachykardie, Kopfschmerzen und arterielle Hypertonie auf.
Absolute Kontraindikationen für eine Behandlung mit Methylphenidat sind: Hyperthyreose, eine schwere unbehandelte arterielle Hypertonie, potenziell
lebensbedrohliche Herzrhythmusstörungen, KHK, AVK oder Glaukom. Vor Behandlungsbeginn müssen relevante kardiologische Erkrankungen und EKG-
Veränderungen ausgeschlossen werden. Während der Behandlung sind Puls, Blutdruck und EKG regelmäßig zu kontrollieren. Auch bei einer Anorexia
nervosa, unbehandelten Manien, unbehandelten bipolaren affektiven Störungen und Psychosen des schizophrenen Formenkreises darf Methylphenidat nicht
gegeben werden. Eine besonders sorgfältige Nutzen-Risiko-Abwägung sollte beim Vorliegen einer Schwangerschaft, von Ticstörungen, Angststörungen,
Epilepsien und behandelten bipolaren Störungen erfolgen. Eine aktuelle Medikamenten- oder Drogenabhängigkeit stellt eine relative Kontraindikation für die
Behandlung mit Methylphenidat dar. Es sollten nach Möglichkeit zunächst eine Entgiftung und anschließend regelmäßige Drogenscreenings durchgeführt
werden. Andererseits hat sich gezeigt, dass sowohl Suchtkrankheiten als auch dissoziales Verhalten durch die primäre Behandlung der ADHS oft erst einer
erfolgreichen Therapie zugänglich werden.
Eine Alternative zu Methylphenidat stellt das in Deutschland im Vergleich zu Methylphenidat nicht BtM-pflichtige Atomoxetin dar (➤ ). Es ist für die
Anwendung bei der adulten ADHS zugelassen und wird als zweite Wahl bei Kontraindikationen, Therapieversagen oder nicht tolerablen Nebenwirkungen von
Methylphenidat sowie bei komorbiden Suchterkrankungen und Angststörungen eingesetzt. Der Dosierungsbereich liegt zwischen 40 und 120 mg; die Wirkung
tritt verzögert nach 3–6 Wochen ein. Die Effektstärken sind etwas geringer als bei Methylphenidat (ca. 0,4), und das Nutzen-Risiko-Profil ist ungünstiger. Als
dritte Wahl kommen insbesondere bei gleichzeitig vorliegender depressiver Störung noradrenerg (bzw. dopaminerg) wirksame Antidepressiva wie z. B.
Bupropion oder Venlafaxin in Betracht. Sie sind jedoch für die Behandlung der ADHS in Deutschland nicht zugelassen und im Vergleich zu Methylphenidat
weniger schnell und weniger stark wirksam. Eine Anwendung ist nach Aufklärung des Patienten über diesen Sachverhalt im Rahmen der ärztlichen
Therapiefreiheit (Off-Label-Use) jedoch möglich.

Psychotherapie
Die sekundären psychosozialen Folgen einer ADHS lassen sich nicht direkt durch eine medikamentöse Behandlung beeinflussen, stehen jedoch im
Erwachsenenalter häufig im Vordergrund der Störung. Überdies wünschen manche Betroffene ausdrücklich keine medikamentöse Therapie. Daher kommt der
Psychotherapie bei ADHS eine große Bedeutung zu. Positive Effekte ließen sich für störungsspezifische Adaptationen mit verhaltenstherapeutischem Ansatz
und Coaching-Verfahren zeigen.
Erste Studien zur Wirksamkeit eines strukturierten, an die Dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) der Borderline-Störung angelehnten Konzepts in der
Gruppe erbrachten ebenfalls eine günstige Wirkung. Als hilfreich gelten bei diesem Ansatz neben psychoedukativen Elementen die Entwicklung von
Fertigkeiten zum Umgang mit Stress, Emotionen und Impulsivität, die Verbesserung zwischenmenschlicher Fähigkeiten und eine verbesserte
Selbstwahrnehmung durch ein Achtsamkeitstraining. Mittelfristig hilft das Programm, die Alltagsstrukturierung, Beziehungsgestaltung, Handlungsplanung und
Selbstachtung zu verbessern. Ein aktueller Cochrane-Review zu kognitiv-behavioralen Therapieverfahren bei ADHS im Erwachsenenalter findet große Effekte
auf die ADHS-Symptomatik und auch Hinweise darauf, dass die Kombination aus Psycho- und Pharmakotherapie einer alleinigen Pharmakotherapie überlegen
ist. Er weist aber auch sehr deutlich auf die nicht ausreichende Evidenzlage und Qualität der bislang vorliegenden Psychotherapiestudien hin.

Literatur
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D’Amelio R, Retz W, Rösler M, Philipsen A (Hrsg.) (2016). ADHS im Erwachsenenalter. Strategien und Hilfen für die Alltagsbewältigung. Stuttgart: Kohlhammer.
Ebert D, Fangmeier T, Lichtblau A, Peters J, Biscaldi-Schäfer M, Tebartz van Elst L (2013). Asperger Autismus und hochfunktionaler Autismus bei Erwachsenen. Das
Therapiemanual der Freiburger Autismus-Studiengruppe. Göttingen: Hogrefe.
Ebert D, Krause J, Sackenheim C, et al. (2003). ADHS im Erwachsenenalter – Leitlinien auf Basis eines Expertenkonsensus mit Unterstützung der DGPPN. Nervenarzt 74:
939–945.
Heßlinger B, Philipsen A, Richter H (2004). Psychotherapie der ADHS im Erwachsenenalter – ein Arbeitsbuch. Göttingen: Hogrefe.
Lopez PL, Torrente FM, Ciapponi A, Lischinsky AG, Cetkovich-Bakmas M, Rojas JI, et al. (2018). Cognitive-behavioural interventions for attention deficit hyperactivity
disorder (ADHD) in adults. Cochrane Database Syst Rev 3: CD010840.
National Institute of Health and Clinical Excellence (2018). Attention deficit hyperactivity disorder: diagnosis and management; (letzter Zugriff: 17.12.2018).
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Tebartz van Elst L (2018). Autismus und ADHS. Zwischen Normvariante, Persönlichkeitsstörung und neuropsychiatrischer Krankheit. 2. A. Stuttgart: Kohlhammer.
Wender PH, Wolf LE, Wasserstein J (2001). Adults with ADHD. An overview. Ann N Y Acad Sci 931: 1–16.
KAPITEL 20

Psychiatrische Notfälle
Stefan Schenkel

Klaus Lieb

20.1. Einführung
Ein psychiatrischer Notfall ist das akute Auftreten oder die Exazerbation einer bestehenden psychiatrischen Störung mit unmittelbarer Gefährdung für Leben
und Gesundheit des Betroffenen oder seiner Umgebung, die einer sofortigen Diagnostik und Therapie bedarf. Die Abgrenzung zu einem Akutfall, der evtl.
ambulant behandelt werden kann, lässt sich zunächst nicht eindeutig vornehmen und muss einer individuellen Fallprüfung unterzogen werden. Bei etwa 10–15 
% der Notarzteinsätze handelt es sich um psychiatrische Notfälle (vergleichbare Häufigkeit mit neurologischen und traumatologischen Notarzteinsätzen). Die
Tendenz in den letzten Jahren ist hierbei steigend. Psychiatrische Notfälle in deutschen Notaufnahmen machen ca. 7–8 % der dort behandelten Patienten aus.
International ist bei besserer Studienlage die Zahl deutlich höher (etwa 15 %). Etwa 20 % der psychiatrischen Patienten in Notaufnahmen werden durch den
Rettungsdienst vorgestellt. Anhand dieser Zahlen zeigt sich, dass die Notfallmedizin, sei es in der präklinischen oder der klinischen Notfallversorgung, einen
wichtigen Anteil an der psychiatrischen Versorgung hat. Daher sollte jeder in der Notfallmedizin tätige Arzt ausreichende Kenntnisse in psychopathologischer
Einschätzung, Deeskalationsstrategien, juristischen Voraussetzungen und den wichtigsten Notfallpsychopharmaka haben.
Die häufigsten psychiatrischen Notarzteinsätze sind:

• Alkoholintoxikationen (30–43 %)
• Erregungszustände (12–30 %)
• Suizidalität (14–25 %)

Bei Befragungen gaben Notärzte an, dass sie 20–32 % der psychiatrischen Notfalleinsätze als schwer bis lebensbedrohlich einschätzten. Neurologische
Notfälle wurden in etwa gleich schwer erachtet, wobei traumatologische Notfälle in ihrer Häufigkeit als weniger schwer oder lebensbedrohlich angesehen
wurden. Nur internistische Notfalleinsätze wurden von Notärzten als häufiger lebensbedrohlich oder schwer angegeben. Dies verdeutlicht nochmals die
Notwendigkeit einer schnellen Gefahreneinschätzung und Einleitung diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen. Da die Notfallsituation oft keine
ausführliche Eigen- oder Fremdanamnese zulässt, ist es wichtig, sich auf das Wesentliche zu beschränken und eine zielgerichtete Differenzialdiagnostik und die
Einleitung allgemeiner Therapieprinzipien nach syndromaler Einschätzung vorzunehmen.
Typische Syndrome im Rahmen psychiatrischer Notfälle sind:

• Suizidalität (➤ )
• Delir (➤ )
• Intoxikationen (➤ )
• Erregungszustände (➤ )
• Katatone Syndrome (➤ )
• Akute Belastungsreaktionen und Panikattacken (➤ ).

20.2. Grundprinzipien des Vorgehens


Ein psychiatrischer Notfall stellt für jeden Patienten eine Ausnahmesituation dar. Die therapeutische Intervention sollte daher immer so behutsam wie möglich
und nur so direktiv wie nötig sein. Auf Zwangsmaßnahmen wie z.  B. Fixierungen oder Zwangsmedikation (➤ ) sollte – wann immer möglich – verzichtet
werden, da dies die zukünftige Compliance gegenüber einer psychiatrischen Behandlung erheblich gefährden kann und einen schwerwiegenden Eingriff in die
Integrität des Patienten darstellt. Untersuchungen zeigen, dass bei 20 % der psychiatrischen Notarzteinsätze Zwangsmaßnahmen durchgeführt wurden. Diese
hohe Zahl könnte wahrscheinlich durch deeskalierende Maßnahmen, das Einbeziehen von Vertrauenspersonen und eine wertschätzende Haltung gegenüber
dem Patienten minimiert werden.

Merke
Bei allen psychiatrischen Notfällen ist zu beachten:

• Eine diagnostische Einschätzung ist häufig nur auf Syndromebene möglich.


• Die körperliche Ausschlussdiagnostik muss immer erfolgen.
• Oft fehlt die Krankheits- und / oder Behandlungseinsicht; Hilfe wird dann oft abgelehnt.
• Die Akuttherapie erfolgt syndromorientiert mit dem Ziel der schnellen Symptomlinderung bzw. Stabilisierung,
bis ggf. in einer Klinik eine weitere Diagnostik und Therapie erfolgen kann.

Ein strukturiertes Vorgehen in psychiatrischen Notfallsituationen gibt ➤ wieder.


Abb. 20.1 Strukturiertes Vorgehen in psychiatrischen Notfallsituationen [L231]

20.2.1. Die Erhebung des psychopathologischen Befunds im psychiatrischen Notfall


Der psychopathologische Befund ist – wenn möglich – immer vollständig zu erheben. Falls die Umstände dies nicht zulassen, gilt, dass die in ➤ genannten
Symptomkomplexe immer untersucht werden müssen, da sie zur Abschätzung der vorläufigen Diagnose, zur Einschätzung der Gefährdung und zur Einleitung
weiterer Maßnahmen entscheidend sind.

Tab. 20.1 Checkliste zur Statuserhebung bei psychiatrischen Notfällen


Bewusstsein klar, wach verändert

Motorik gesteigert vermindert

Psychotische Symptome nicht vorhanden vorhanden

Suizidalität nicht vorhanden vorhanden

Fremdgefährdung nicht vorhanden vorhanden

Krankheitseinsicht nicht vorhanden vorhanden

20.2.2. Organische Ausschlussdiagnostik


Eine somatomedizinische Abklärung und Ausschlussdiagnostik ist in jedem Fall durchzuführen und kann lebensentscheidend sein. So führen organische
Zustände wie Hypoglykämien oder Enzephalitiden oft zu dominierenden Verhaltensauffälligkeiten, jedoch können auch psychiatrische Erkrankungsbilder zu
potenziell letal endenden organischen Komplikationen führen (Alkoholentzugsanfall, perniziöse Katatonie u. a.). Trotz der oft eingeschränkten Möglichkeiten
in der Akutsituation ist eine Anamneseerhebung für die Gefahreneinschätzung und das weitere Vorgehen meist unerlässlich. Da bei vielen Patienten aufgrund
der psychiatrischen Symptome nicht immer von einer ausreichenden Objektivität der Angaben auszugehen ist, ist oftmals eine Fremdanamnese entscheidend.
Es ist wichtig zu erfahren, inwiefern das Syndrom akut oder perakut aufgetreten ist, inwiefern psychiatrische oder somatische Vordiagnosen bestehen, ob es
Hinweise im Vorfeld auf die Eskalation der nun bestehenden Situation gibt usw. Die ärztliche Schweigepflicht ist stets zu wahren und nur zur Gefahrenabwehr
zu durchbrechen (➤ ). Bei Unklarheit der Ätiologie ist immer von der schwerwiegenderen Ursache auszugehen.
Folgende organische Ausschlussdiagnostik sollte erfolgen:

• Körperlich-neurologische und -internistische Untersuchung


• Puls, Blutdruck, Sauerstoffsättigung, Temperatur, EKG
• Laborchemische Bestimmung von kleinem Blutbild, Elektrolyten, Leber- und Nierenfunktionsparametern, C-reaktivem Protein, Blutzucker und
Gerinnungsparametern
• Bei Unklarheit Alkoholbestimmung und Drogenscreening
• Je nach Indikation weitere Maßnahmen wie cCT, EEG usw.

Merke
Folgende Befunde sprechen für eine organische Ursache der psychischen Symptomatik und erfordern daher
immer eine möglichst schnelle somatische Abklärung:

• Bewusstseinsstörung
• Orientierungsstörung
• Fieber
• Kopfschmerzen
• Vegetative Auffälligkeiten
• Fokal-neurologische Defizite
• Auch optische Halluzinationen treten häufig bei organischer Ätiologie auf (akustische eher bei schizophrenen
Psychosen)

20.2.3. Deeskalierender Umgang mit Patienten in psychiatrischen Notfallsituationen


Psychiatrische Notfallsituationen gehen oft mit Anspannung bis hin zu Aggressionen beim Patienten einher. Von daher ist es wichtig, deeskalierende
Maßnahmen anzuwenden. Die Haltung gegenüber dem Patienten und der Beziehungsaufbau sind hierfür Grundvoraussetzungen. Wichtig ist, sich einen
Überblick über die Situation und deren Dynamik zu verschaffen. Aversive Stimuli sollten erkannt und, wenn möglich, reduziert werden. Elementare
Bedürfnisse des Patienten sollten identifiziert werden und in die Entscheidungsfindung einfließen. Die Emotionen des Patienten, aber auch die des Behandlers
sollte man wahrnehmen und ansprechen.
In ➤ werden praktische Deeskalationstechniken und die Haltung zum Patienten beschrieben.

Merke
Zur Wahrung der Patientenautonomie sollte erfragt werden, ob Behandlungsvereinbarungen oder
Patientenverfügungen (➤ ) vorliegen, und diese sollten, soweit wie möglich, in die Entscheidungsprozesse einbezogen
werden.

Box 20.1
Faustregeln für den Umgang mit Patienten in der Notfallsituation

• Vorstellung der eigenen Person und Funktion.


• Erklärung der Abläufe und Maßnahmen.
• Geschützter Rahmen (angstbesetzte Orte vermeiden u. Ä.).
• Ruhige, klare und einfach zu verstehende Aussagen treffen.
• Nur einen Ansprechpartner bereitstellen, am ehesten den im Notdienst behandelnden Arzt; bei fehlendem Vertrauen des Patienten gegenüber dem
Arzt kann auch eine nichtärztliche medizinische Kraft die Kommunikation unter Anleitung des Arztes übernehmen.
• Geduld bei der Anamneseerhebung und Intervention.
• Akzeptierende, empathische und authentische Grundhaltung.
• Provokationen vermeiden, direktives Auftreten reduzieren, sich nicht auf Streitigkeiten und persönliche Angriffe einlassen.
• Auf Eigensicherheit achten, Abstand wahren, gefährliche Gegenstände aus der Reichweite des Patienten nehmen, Fluchtmöglichkeiten lassen, bei
Fremdgefährdung frühzeitig Hilfe holen (z. B. Polizei).
• Den Patienten nicht allein untersuchen.
• Dem Patienten Alternativen vorschlagen, Wahlmöglichkeiten lassen (z. B. unterschiedliche Medikamente anbieten).
• Besteht eine Diskrepanz zwischen Eigen- und Fremd-anamnese oder der Krankenbeobachtung, sollte man zunächst von der gefährlicheren Variante
ausgehen.
• Dem Patienten keine unrealistischen Versprechungen machen.

Neben der Beachtung der o.  g. situationsspezifischen Bedingungen und der Sicherheitsaspekte ist ein patientenorientiertes Vorgehen mit einer
akzeptierenden, empathischen und authentischen Grundhaltung zentral für den Behandlungserfolg. Es hat sich bewährt, eine dialektische Haltung
einzunehmen, mit der einerseits das Leiden des Patienten validiert und Verständnis für die aktuellen Probleme geäußert wird, auf der anderen Seite aber auch
auf eine konkrete Lösung der akuten Situation hingearbeitet wird, die ggf. Maßnahmen erfordert, mit denen der Patient zunächst nicht einverstanden ist. Je
mehr ein Arzt sich – auch unter Zeitdruck und bei Patienten, die wenig zugänglich erscheinen – zugewandt in seiner Rolle als Helfer präsentiert, umso eher wird
es ihm gelingen, auch unangenehme Entscheidungen zusammen mit dem Patienten zu treffen.

Merke
Trotz Berücksichtigung der genannten Verhaltensregeln muss in vielen psychiatrischen Notfallsituationen gehandelt
werden, ohne dass der Patient mit dem Vorgehen einverstanden ist. In diesen Fällen empfiehlt es sich, die Situation zu
gegebener Zeit mit dem Patienten nachzubesprechen.
Medikamente in psychiatrischen Notfallsituationen
Die Auswahl der notfälligen Psychopharmakotherapie erfolgt syndromorientiert. Entscheidend für die Wahl des Psychopharmakons ist eine hohe Sicherheit
(Verträglichkeit, Zulassung, Interaktionen), Wirksamkeitswahrscheinlichkeit in Bezug auf die Zielsymptomatik und eine kurze Wirklatenz. Bei eingeschränkter
Studienlage bei psychiatrischen Notfällen spielt auch die eigene Erfahrung des Arztes mit dem Medikament eine Rolle. Die wichtigsten
Notfallpsychopharmaka sind in ➤ aufgelistet.

Tab. 20.2 Wichtige Medikamente für psychiatrische Notfallsituationen (s. a. ➤ )


Medikament Zulassung Dosierung Risiken Besonderheit
Haloperidol Psychotische und 5–10 mg p. o. oder i. m • verstärkende Interaktionen mit • gute
(Antipsychotikum) delirante Syndrome, Bioverfügbarkeit beträgt bei i. m. zentral dämpfenden Kombinationsmöglichkeit
psychomotorische Gabe ca. 80–90 %, bei oraler Arzneimitteln mit niedrigpotenten
Erregungszustände Gabe ca. 60–70 %, im Notfall • in Kombination mit Alkohol Antipsychotika und
ist eine Dosisanpassung zu vigilanzmindernd Benzodiazepinen
vernachlässigen; bei älteren • hohe EPS-Gefahr • gute Wirksamkeit
Patienten initial 0,5–1,5 mg • QT c -Zeit-Verlängerung möglich
(i. v. Gabe bei Gefahr von Tor-
sade des pointes nicht
zugelassen bzw. nur unter
Risikoabschätzung unter
Monitorbedingungen zu
erwägen)

Olanzapin Psychotische 2,5–5 mg i. m., 10–20 mg p. o. • QT c -Zeit-Verlängerung möglich • gute Effektstärke
(Antipsychotikum) Zustandsbilder • verstärkende Interaktion mit • parenterale Gabe möglich
Psychomotorische zentral wirksamen Substanzen • sedierend
Erregung bei
Schizophrenie, Manie

Risperidon Schizophrenie, manische p. o. initial 1–2 mg • QT c -Zeit-Verlängerung möglich • antipsychotisch


(Antipsychotikum) Episoden Höheres Lebensalter (z. B. • Gefahr eines EPS • kaum sedierend
Kurzzeitbehandlung Demenz): 0,25–1 mg • gute Effektstärke
(max. 6 Wochen) von • Schmelztablette und
anhaltender Saftform
Aggressivität bei
Patienten mit
Alzheimer-Demenz

Lorazepam Psychomotorische i. v. / i. m. initial 0,5–1 mg • relevante Interaktionen mit • relativ kurze HWZ (9–19 
(Benzodiazepin) Erregung p. o. initial 1–2,5 mg Alkohol und sonstigen zentral h)
Angst- und wirksamen Mitteln • keine Metabolisierung
Anspannungszustände • v. a. bei i. v. Gabe Gefahr der • gut steuerbar
Atemdepression und Hypotonie • Applikation als
• langsame i. v. Applikation! Schmelztablette möglich
(kein schnellerer
Wirkungseintritt als bei
Tablette)
• Abhängigkeitsgefahr

Diazepam Symptomatische i. v. / i. m. / p. o. 5–10 mg • relevante Interaktionen mit • lange HWZ durch aktive
(Benzodiazepin) Behandlung von akuten Alkohol und sonstigen zentral Metaboliten (bis 72 h),
und chronischen wirksamen Mitteln dadurch schlecht
Spannungs-, Erregungs- • v. a. bei i. v. Gabe Gefahr der steuerbar
und Angstzuständen Atemdepression und Hypotonie • Kumulationsgefahr
• langsame i. v. Applikation! • Abhängigkeitsgefahr

Melperon Psychomotorische p. o. 50–100 mg • QT c -Zeit-Verlängerung möglich • gut sedierende Wirkung


(Antipsychotikum) Erregung, Unruhe und • ausgeprägte orthostatische • mäßig antipsychotische
Verwirrtheitszustände Hypotension Wirkung
insb. bei geriatrischen • fehlende anticholinerge
Patienten Eigenschaften
• verstärktes
Interaktionspotential

Pipamperon Psychomotorische 20–40 mg p. o. • QT c -Zeit-Verlängerung möglich • gut sedierende Wirkung


(Antipsychotikum) Erregung und Unruhe • ausgeprägte orthostatische • mäßig antipsychotische
insb. bei geriatrischen Hypotension Wirkung
Patienten • anticholinerge
Eigenschaften
• geringes
Interaktionspotenzial

In Notfallsituationen ist die Entscheidungsfindung bzgl. des einzusetzenden Wirkstoffs mit den Mitteln der evidenzbasierten Medizin zum jetzigen
Zeitpunkt nicht abschließend geklärt. Die vorhandenen Metaanalysen widersprechen teilweise den Empfehlungen der Standardbehandlung. So gibt es z.  B.
metaanalytische Evidenz dafür, dass Ziprasidon i.  m. eine ähnliche Wirksamkeit in Notfallsituationen hat wie Olanzapin oder Haloperidol i.  m., während
Ziprasidon in der Standardbehandlung der Schizophrenie nur eine vergleichsweise geringere Effektstärke aufweist (➤ ). Diese Diskrepanzen, aber auch
ähnliche Unklarheiten mit anderen Medikamenten müssen weiter untersucht werden. Die Metaanalysen weisen dementsprechend auch darauf hin, dass weitere
Studien zur Medikamentenauswahl in psychiatrischen Notfallsituationen unerlässlich sind.
Praxistipp
Momentan sollten die klinischen Erfahrungen in Zusammenschau mit den Studienergebnissen der Standard- und Notfallbehandlungen und den
pharmakologischen Besonderheiten der jeweiligen Wirkstoffe zur Auswahl des geeigneten Mittels herangezogen werden.

Im Folgenden werden einige Empfehlungen für die Auswahl eines geeigneten Mittels diskutiert (s. a. ➤ ).
Wegen guter Effektstärke in der Behandlung der Schizophrenie, relativer Sicherheit und häufig hoher Anwendererfahrung ist Haloperidol immer noch eines
der am meisten eingesetzten Notfallpsychopharmaka. Vor allem bei alkoholintoxikierten Patienten, unklarer Mischintoxikation oder psychomotorischer
Erregung unklarer Ätiologie ist die Gabe von Haloperidol indiziert. Positiv sind auch die Möglichkeiten der intramuskulären (i.  m.) Applikationsform, die
rasche Wirksamkeit und die Kombinationsmöglichkeit mit sedierenden Mitteln wie Benzodiazepinen oder niedrigpotenten Antipsychotika. Kontraindiziert ist
die Gabe bei Patienten mit parkinsonoider Symptomatik.
Benperidol, das eine hohe Wirkstärke hat und auch in i. m. Form appliziert werden kann, ist aufgrund seiner starken Potenz und der hohen EPS-Gefahr nicht
zu empfehlen und nur bei kardialen Komplikationen unter Halo-peridol Mittel der 2. Wahl.
Ein anderes in i.  m. Applikationsform vorliegendes Anti-psychotikum ist Olanzapin. Es besitzt eine gute Effektstärke und wirkt sedierend, was in
psychiatrischen Notfallsituationen durchaus erwünscht sein kann. Bei hoher Interaktionsgefahr mit anderen zentral wirksamen sedierenden Substanzen (auch
Alkohol) sollte man hier jedoch Vorsicht walten lassen. Zusätzlich besteht bei Gabe im Notfall und guter Wirksamkeit die Tendenz, dass eine
Weiterbehandlung mit Olanzapin erfolgt. Da Olanzapin jedoch viel häufiger als andere Antipsychotika zu metabolischen Nebenwirkungen (v.  a. starker
Gewichtszunahme) und bei älteren, v. a. multimorbiden Patienten über 65 Jahren zu einer erhöhten Mortalität führt, ist die Erstmedikation mit Olanzapin unter
diesem Aspekt sehr kritisch zu prüfen. Mit seinen gut sedierenden Eigenschaften ist es jedoch als Monotherapie im Notfall ein geeignetes Mittel.
Risperidon ist v. a. bei Verhaltensauffälligkeiten von dementen Patienten oder bei deliranten Syndromen geeignet. Bei fehlender sedierender Eigenschaft
kann es durch ein Benzodiazepin oder niedrigpotentes Antipsychotikum ergänzt werden, sodass es auch bei akuten Psychosen und Erregungszuständen initial
gut gegeben werden kann. Bei parkinsonoiden Syndromen ist Risperidon kontraindiziert.
Antipsychotika wie Aripiprazol und Ziprasidon sind für Erregungszustände bei schizophrenen Patienten zugelassen. Beide Medikamente sind auch in i. m.
Applikationsform verfügbar. Untersuchungen in Notfallsituationen zeigen positive Ergebnisse auf. Aufgrund der im Vergleich zu den in ➤ beschriebenen
Antipsychotika zeigen sie jedoch eine deutlich niedrigere Effektstärke in der Behandlung von Psychosen und sollten v.  a. als Alternative bei
Kontraindikationen angesehen werden (niedriges metabolisches und EPS-Risiko). Die momentan unvollständige Datenlage für Notfallsituationen lässt aktuell
keine Empfehlung als Mittel der 1. Wahl im psychiatrischen Notfall zu.
Benzodiazepine sind aus psychiatrischen Notfallsituationen nicht wegzudenken. Bei Kokain- oder Amphe-taminintoxikationen sind sie Mittel der Wahl. Bei
unklaren Mischintoxikationen oder Alkoholintoxikationen sind sie nicht zu verwenden. Zur Anxiolyse und bei fehlenden psychosozialen oder seelsorgerischen
Unterstützungsmöglichkeiten sind sie v. a. in krisenhaften Belastungssituationen oder bei Panikattacken anzuwenden. Hier steht jedoch zunächst immer eine
begleitende oder akzeptierende Unterstützung im Vordergrund. So weisen Studien darauf hin, dass die Gefahr der Entwicklung einer PTBS bei nach dem
Trauma zeitnah erfolgender Lorazepam-Gabe erhöht sein könnte. Des Weiteren ist insbesondere bei älteren Patienten an eine paradoxe Reaktion zu denken.
Auch kommt es hier zu einer erhöhten Sturzgefahr. Innerhalb der Gruppe der Benzodiazepine ist v. a. Lorazepam bei besserer Steuerbarkeit aufgrund kürzerer
Halbwertszeit dem Diazepam vorzuziehen. Die Gabe von Midazolam sollte ausgebildeten Notfallmedizinern vorbehalten bleiben.
Zur Beruhigung und Schlafinduktion bei geriatrischen Patienten sind sowohl Pipamperon als auch Melperon zu empfehlen. Pipamperon ist eher bei
Patienten mit Polypharmazie aufgrund des geringen Interaktionspotenzials zu empfehlen, Melperon wegen seiner fehlenden anticholinergen Nebenwirkungen
bei kognitiv bereits eingeschränkten Patienten.

20.3. Spezifische Notfallsituationen


20.3.1. Suizidalität
(➤ und ➤ ).
Suizidalität ist einer der häufigsten psychiatrischen Notfälle. Der Tod durch Suizid steht in der Statistik der Todesursachen an 10. Stelle und stellt ein
Symptom vieler Erkrankungen dar. Jede Suizidäußerung eines Patienten ist immer ernst zu nehmen! Dies gilt auch bei wiederholter suizidaler
Kommunikation oder vermeintlich folgenlosen Suizidandrohungen in der Anamnese des Patienten.

Nichtpharmakologische Akutintervention

• Suizidalität offen ansprechen und konkret erfragen.


• Gehört der Patient zu einer Hochrisikogruppe? (➤ )
• In welchem Stadium der Suizidalität befindet sich der Patient? (➤ )
• Besteht Absprachefähigkeit? (Wenn Sie sich nach der Intervention Sorgen machen, ob der Patient noch lebt, bestand keine Absprachefähigkeit.
„Absprachefähigkeit ist Ihr Gefühl.“)
• Erfragen Sie kurz und fokussiert die Kernsymptome psychiatrischer Erkrankungen.
• Führen Sie, wenn möglich, ein Gespräch mit Angehörigen.
• Erkennen Sie Ihre Grenzen, ziehen Sie Experten zu Hilfe.
• Versuchen Sie, den Patienten zu einer freiwilligen Behandlung zu motivieren.
• Bei nicht vorhandener Absprachefähigkeit kündigen Sie dem Patienten an, dass sie ihn auch notfalls gegen seinen Willen in eine Klinik einweisen
lassen.
• Psychotische Patienten sind prinzipiell als weniger absprachefähig einzuschätzen, hier frühzeitig eine stationäre Therapie einleiten!

Merke
Bei Verdacht auf Suizidalität und nicht vorhandener Absprachefähigkeit darf der Patient niemals aus den Augen
gelassen werden!

Pharmakologische Akutintervention

• Bei psychotischen Erkrankungen: antipsychotische Therapie und passagere Gabe von Benzodiazepinen
• Bei Depressionen: Benzodiazepine, notfällig EKT bei schwersten Erkrankungen möglich
• Bei Persönlichkeitsstörungen: passagere Gabe von Z-Substanzen, Benzodiazepinen oder niedrigdosierten Antipsychotika
• Bei Suchterkrankungen: stationäre Entgiftung

Kasuistik
Ein 38-jähriger Patient wird in Begleitung des Rettungsdienstes vorgestellt. Passanten hatten ihn beobachtet, wie er verzweifelt wirkend auf einer Brücke
stand, und hatten daraufhin den Notruf getätigt. Auf Nachfrage gibt er sehr verzögert an, dass er sich umbringen wollte, da er am finanziellen Ruin seiner
Familie schuld sei. Seine Ehefrau widerspricht in einem Telefonat mit dem Notarzt, dass es zu irgendeinem Zeitpunkt zu finanziellen Problemen
gekommen sei. Ihr Ehemann habe sich bereits vor etwa 3  Monaten zunehmend zurückgezogen und würde seit 4  Wochen unkorrigierbar über die
vermeintliche Schuldenlast der Familie reden. Außerdem habe sie kurz vor dem Telefonat einen Abschiedsbrief des Patienten gefunden. Der Patient bricht
mehrfach das Gespräch unvermittelt ab und scheint nicht mehr zu wissen, was er sagen wollte. Er gibt an, dass er nur noch an diese finanziellen Sorgen
denken könne und glaube, er würde für Sünden aus seinem vorherigen Leben bestraft; dies sei so schlimm, dass es ihn körperlich fast lähmen würde. So
käme er kaum noch aus dem Bett, und v. a. morgens wäre seine Laune unerträglich schlecht. Stimmenhören verneint er. Die körperliche Untersuchung
zeigt keinen pathologischen Befund. Der Patient zeigt sich nach Gabe von 1 mg Lorazepam etwas gelöster und stimmt einer freiwilligen psychiatrischen
Behandlung mit dem dringenden Verdacht einer schweren depressiven Episode mit psychotischen Symptomen zu.

20.3.2. Delir / Verwirrtheitszustand
(➤ ).
Ein Delir ist ein lebensbedrohlicher interdisziplinärer Notfall. Ein unbehandeltes Delir verläuft in etwa 30  % der Fälle letal. Ziel der Diagnostik ist es,
schnellstmöglich die Ursache des deliranten Syndroms herauszufinden. Die Behandlung verläuft stets ursachen- und symptomorientiert.

Nichtpharmakologische Akutintervention

• Reizabschirmung, Angehörige einbeziehen


• Wahrnehmung verbessern (z. B. Mobilisation in Siestaliege)
• Orientierungshilfen

Pharmakologische Akutintervention

•. Notfallbehandlungen von deliranten Syndromen bei Alkohol- oder Benzodiazepinentzug und bei Intoxikationen folgen unterschiedlichen
Empfehlungen! Im Zweifelsfall ist neben der internistischen Basistherapie am ehesten die Gabe von Haloperidol (p. o. oder i. m.) in möglichst
niedriger Initialdosis zu empfehlen; zusätzlich ist je nach Alter und Ursache die Gabe eines Benzodiazepins oder niedrigpotenten Antipsychotikums
anzuraten (➤ ).
•. Die zugrunde liegende Erkrankung muss, falls möglich, neben der symptomorientierten antipsychotischen und beruhigenden Therapie immer
behandelt werden.

Kasuistik
Ein 54-jähriger Bauarbeiter wird akut in die medizinische Notaufnahme stationär aufgenommen. Er gibt an, dass er seit dem Vortag verstärkt schwitze und
zittere. Der klinische Befund zeigt optische Halluzinationen, verstärkte Unruhe sowie eine qualitative Bewusstseinsstörung mit verstärkter Suggestibilität
(„Fadentest“). Der neurologische Befund ist unauffällig. Fremdanamnestisch ist eine langjährige Alkoholabhängigkeit bekannt. Diagnostisch handelt es
sich um ein Alkoholentzugsdelir. Therapeutisch kommt Diazepam über mehrere Tage bis zum Abklingen der Symptomatik zum Einsatz (➤ ). Für eine
weiterführende stationäre Suchtbehandlung in einer psychiatrischen Klinik war der Patient zu dem Zeitpunkt nicht zu bewegen. Er will jedoch ambulant an
einer Selbsthilfegruppe teilnehmen und sich von seinem Hausarzt bzgl. seiner Suchterkrankung weiter beraten lassen.

20.3.3. Intoxikationen
Bei Intoxikationen mit psychotropen Substanzen muss grundsätzlich nach den Regeln der internistischen Notfalltherapie vorgegangen werden. Gründe für
Intoxikationen sind häufig Fehleinschätzungen der Dosierung, Mischeinnahmen oder auch suizidale Absichten. Deshalb ist auch hier eine ausführliche Eigen-
und Fremdanamnese wichtig.

Merke
Falls Zweifel an der Überwachungspflicht eines intoxikierten Patienten bestehen, sollte man sich immer von der
zuständigen Giftnotrufzentrale (➤ ) über Akutmaßnahmen und das weitere Vorgehen beraten lassen.

Box 20.2
Giftnotrufzentralen
Bei Intoxikationen – v. a. bei Mischintoxikationen – ist die zuständige Giftnotrufzentrale zu kontaktieren:

Baden-Württemberg 0761 / 19240

Bayern 089 / 19240

Berlin, Brandenburg 030 / 19240

Bremen, Hamburg, Schleswig- Holstein, Niedersachsen 0551 / 19240

Hessen, Rheinland-Pfalz 06131 / 19240

Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen 0361 / 730730

Nordrhein-Westfalen 0228 / 19240

Saarland 06841 / 19240

Alkoholintoxikation

Akutintervention

• Bei Erregungszuständen Haloperidol 5–10 mg p. o. oder i. m.


• Vorsicht mit dämpfenden Psychopharmaka (keine Benzodiazepine, kein Clomethiazol, kein Olanzapin i. m.: Gefahr der Atemdepression)
• Nach Sturz cCT zum Ausschluss einer intrakraniellen Blutung (cave: gestörte Blutgerinnung!)

Benzodiazepinintoxikation
Aufgrund des Ceiling-Effekts und der großen therapeutischen Breite der Benzodiazepine treten direkte Todesfälle infolge einer Benzodiazepinintoxikation eher
selten auf. Jedoch können Mischintoxikationen mit zentral dämpfenden Substanzen wie Alkohol zu einer vitalen Bedrohung führen. Klinische Symptome sind
Ataxie, Dysarthrie, qualitative Bewusstseinsstörung und Vigilanzminderung bis hin zu Koma und Atemdepression.

Akutintervention

• Evtl. Flumazenil (Vorsicht: Auslösung massiver Entzugssyndrome [Delir] und von Krampfanfällen bei Überdosierung)
• Sehr kurze Halbwertzeit (< 1 h) von Flumazenil, auf Nachinjektionen vorbereitet sein

Intoxikation mit trizyklischen Antidepressiva


Trizyklische Antidepressiva weisen eine relativ niedrige Intoxikationsschwelle auf. Es treten bei Überdosierungen v. a. anticholinerge Symptome wie trockene
Haut, Hyperthermie, Mydriasis, Harnverhalt, Obstipation bis hin zum paralytischen Ileus, tachykarde Herzrhythmusstörungen sowie delirante Symptome mit
Desorientiertheit, motorischer Unruhe, Dysarthrie, Krampfanfällen und Somnolenz bis hin zum Koma auf.

Akutintervention

• Absetzen der verursachenden Substanz


• Evtl. Physostigmin

Lithiumintoxikation
Lithium ist weiterhin das Mittel der Wahl zur Rezidivprophylaxe affektiver Erkrankungen (➤ und ➤Kap. 6.2.7). Mit seiner geringen therapeutischen Breite
kann es bei verringerter Flüssigkeitszufuhr, reduzierter Kochsalzeinnahme oder Nierenfunktionsstörungen schnell zu Intoxikationen mit potenziell
lebensbedrohlichen Symptomen kommen. Ab einem Serumspiegel von 1,2  mmol  /  l können erste Intoxikationserscheinungen wie Übelkeit, Erbrechen,
Durchfall, grobschlägiger Händetremor, Dysarthrie und Ataxie auftreten. Im Verlauf kann es dann zu Rigor, Hyperreflexie, Faszikulationen, zerebralen
Anfällen, Bewusstseinstrübungen, Koma und zum Herz- / Kreislaufstillstand kommen.

Akutintervention
Grundsätzlich gilt, dass Lithium sofort abgesetzt werden muss. Es sollte ein Ausgleich des Wassers- und Elektrolythaushalts erfolgen, evtl. mit anschließenden
intensivmedizinischen Maßnahmen.

Opioidintoxikation

Merke
Trias der Opioidintoxikation: Miosis, Atemdepression, Bewusstlosigkeit

Akutintervention

• Naloxon fraktioniert i. v. verabreichen, bis Atemdepression und Bewusstlosigkeit nachlassen


• Vorsicht: bei Überdosierung Auslösung massiver Entzugssyndrome und Erregungszustände
• Kurze Halbwertzeit von Naloxon beachten

Kokainintoxikation
Bei der Kokainintoxikation (➤ ) kann man folgende Phasen beobachten:

• Phase der „Stimulation“: Mydriasis, Euphorie, Unruhe, Reizbarkeit, Agitation, zerebrale Krampfanfälle, psychotische Symptome, z. B.
Halluzinationen
• Phase der „Depression“: Kopfschmerzen, Insomnie, Verwirrtheit, Verlangsamung, Anhedonie, Suizidalität

Der „Kokainschock“ tritt nach Einnahme akut mit Erregung, Angst, Hypotonie, Bradykardie, Bewusstseinstrübung bis zum Koma auf. Komplikationen der
Intoxikation sind respiratorische Insuffizienz, Vasokonstriktion und Hypertension mit Gefahr von Myokardinfarkt oder sonstigen Infarkten (Retina, Niere,
Hirn) und Nekrosen an den Extremitäten sowie intrakranielle Blutungen. Ferner kann es zu Herzrhythmusstörungen, Hyperthermie, Rhabdomyolyse,
Laktatazidose und disseminierter intravasaler Gerinnung kommen.

Akutintervention

• Lorazepam
• Bei psychotischen Symptomen: Haloperidol
• Intensivmedizinische Maßnahmen je nach vorliegender Komplikation

Amphetaminintoxikation
Amphetaminintoxikationen zeigen sich durch folgende Symp-tomkomplexe:

• Unruhe, Irritabilität, Insomnie, Tremor, Hyperreflexie, Mydriasis, Flush


• Hypertonie, Tachykardie, Herzrhythmusstörungen, Verwirrtheit
• Delir, psychotische Symptome, Angst, Agitation

Lebensbedrohliche Komplikationen sind Krampfanfälle, Vigilanzminderungen bis hin zum Koma und letztlich Herz- / Kreislaufversagen.

Akutintervention

• Lorazepam
• Bei psychotischen Symptomen: Haloperidol
• Intensivmedizinische Maßnahmen je nach vorliegender Komplikation

Intoxikation mit Cannabis / Halluzinogenen


Cannabinoide oder Halluzinogene wie LSD weisen eine geringe Toxizität auf. Häufig tritt bei der Intoxikation initial ein euphorisches Erleben auf, das dann in
Sedierung, depressive Verstimmung, Halluzinationen, paranoides Erleben und Angstzustände umschlägt. Bei extrem hohen Dosen kann es zu epileptischen
Anfällen und Atemdepression kommen.

Akutintervention
Akutintervention

• „Talk-down“
• Auf Suizidalität achten
• Lorazepam
• Bei psychotischen Symptomen: Haloperidol

20.3.4. Erregungszustände
Erregungszustände sind schwierige psychiatrische Notfälle, da zunächst eine Eigenanamnese meist kaum möglich ist und ärztliche Entscheidungen oft schnell
vonnöten sind. Der erstversorgende Arzt hat die komplexe Aufgabe, auf der Basis weniger Informationen einerseits zu deeskalieren, andererseits eine erste
syndromale und ätiologische Einschätzung zu treffen und erste medizinische Maßnahmen einzuleiten. Entscheidend ist hier eine gute Krankenbeobachtung
sowohl auf verbaler als auch nonverbaler Ebene. Fremdanamnestische Angaben zu Umständen, Auftreten, Begleiterkrankungen und möglichen Intoxikationen
sind für eine zielgerichtete Intervention, wann immer möglich, zu erheben. Zur Einschätzung der Ätiologie ist besonders auf Bewusstseinsstörungen sowie
Aufmerksamkeit und Orientierung zu achten (➤ ). Außerdem sollte besonders auf suizidale und fremdaggressive Äußerungen und Handlungstendenzen, die
Aufrechterhaltung von Exekutivfunktionen und psychotische Symptome geachtet werden.

Vorkommen
Erregungszustände kommen gehäuft bei folgenden psychischen Erkrankungen vor:

• Schizophrenien
• Manien
• Alkohol- und Drogenintoxikationen
• Agitierte Depressionen
• Angststörungen
• Akute Belastungsreaktionen
• Verhaltensstörungen bei demenziellen Syndromen

Darüber hinaus kommen Erregungszustände bei folgenden körperlichen Erkrankungen gehäuft vor:

• Schädel-Hirn-Trauma
• Enzephalitis, Meningitis
• Schlaganfälle
• Postiktale Zustände
• Enzephalopathien
• Metabolische Störungen (Hyponatriämie, Hypoglykämie usw.)
• Hypoxie
• Hyperthyreose

Nichtpharmakologische Akutintervention

• Mit dem Patienten ruhig sprechen und deeskalieren


• Ruhe bewahren, klare Aussagen treffen, einfache Fragen stellen
• Hilfe anbieten
• Konfrontation vermeiden
• Konfliktlösung mit wenigen Alternativen anbieten
• Reizabschirmung

Pharmakologische Akutintervention
Bei Psychosen:

• Falls p. o. Medikation möglich: Risperidon oder Olanzapin.


• Bei Notwendigkeit von parenteraler Medikation: Halo-peridol i. m.
• Lorazepam bei schwerwiegender Erregung zusätzlich (nicht bei Olanzapin i. m.).

Bei Delir und Ausschluss einer Intoxikation:

• Beginn mit niedrigen Dosierungen, insbesondere bei älteren Patienten.


• Falls p. o. Medikation möglich: Risperidon, Haloperidol.
• Bei Notwendigkeit von parenteraler Medikation: Halo-peridol i. m.
• Anticholinerge Substanzen, Opioide und Antihistaminika vermeiden (Gefahr der Delirverstärkung). Auch Olanzapin hat eine anticholinerge
Wirksamkeit, deshalb sollte man den Einsatz kritisch überprüfen.
• Benzodiazepine bei jüngeren Patienten möglich, bei älteren vermeiden.
• Bei Alkoholentzugsdelir Diazepam zusätzlich, alleinige Gabe von Haloperidol hier mortalitätserhöhend, bei hypertensiver Entgleisung ist Clonidin
zusätzlich angeraten.

Bei Intoxikationen:

• Alkoholintoxikation: Haloperidol p. o. oder i. m.; keine Benzodiazepine wegen Atemdepression.


• Intoxikation mit zentral stimulierenden Substanzen wie Kokain oder Amphetamine: Lorazepam, bei psychotischen Symptomen zusätzlich
Haloperidol möglich.

Kasuistik
Ein 36-jähriger Patient mit langjähriger Polytoxikomanie stellt sich in der Notaufnahme mit Abdominalschmerzen vor. Bei bekannten Gallensteinen geht
man zunächst von einer Cholelithiasis aus. In der laborchemischen und körperlichen Standarduntersuchung zeigen sich zunächst keine Auffälligkeiten.
Während der Patient auf eine Ultraschalluntersuchung wartet, wird er zunehmend gereizt und psychomotorisch unruhig. Raptusartig entfernt er sich den
peripher-intravenösen Zugang und beginnt gegen Stühle und Tische zu treten. Auf Ansprache gibt er nur an, dass alle ihn hassen und er sich jetzt zur Wehr
setzen würde. Seine Aufmerksamkeit ist deutlich reduziert, Orientierung und weitere Symptome sind nicht zu explorieren. Eine Fremdanamnese ist
zunächst nicht möglich. Der Erregungszustand ist nur mithilfe der Polizei und einer Fixierung zu durchbrechen. Der Patient erhält 7,5 mg Haloperidol i. m.
appliziert. Eine zerebrale Bildgebung zeigt keine Auffälligkeiten. Zunächst geht man von der Verdachtsdiagnose einer Intoxikation mit illegalen
Substanzen aus. Der Patient wird im weiteren Verlauf kreislaufinstabil und muss reanimiert werden. Die Blutuntersuchung ergibt eine metabolische
Azidose mit einer Anionenlücke von 28  mmol  /  l. Zusätzlich zeigt sich ein Troponin-I-Wert von 10.000  ng  /  ml. Mittlerweile ist der Mitbewohner des
Patienten in der Notaufnahme eingetroffen und gibt an, er habe einen leeren Behälter Frostschutzmittel im Schlafzimmer des Patienten gefunden. Die
toxikologische Blutuntersuchung des Patienten bestätigt die Vergiftung mit Ethylenglykol. Der Patient wird weiter intensivmedizinisch behandelt.

Merke
Bei akut aufgetretenen Erregungszuständen  /  Psychosen ist immer eine ausführliche Differenzialdiagnostik
durchzuführen. Neben einer zerebralen Bildgebung sollten, wenn möglich, auch eine Lumbalpunktion und ein EEG
erfolgen. Wichtige Differenzialdiagnosen einer akuten Psychose mit Erregungszustand sind: Alkohol-, Kokain-,
Amphetamin-Intoxikation, Schädel-Hirn-Trauma, Hirntumor, Parkinson-Syndrom, Demenz, Epilepsie,
Hyperthyreose, Hypoglykämie.

Kasuistik
Der Notarzt wird zu einem Volksfest gerufen und findet einen 28-jährigen Mann vor, der wirr durcheinanderspricht und schreit, er habe Schmerzen am
ganzen Körper. Außer verstärkter Schweißneigung, gesteigertem Antrieb und fehlender Krankheitseinsicht kann zunächst nichts festgestellt werden. Die
Verdachtsdiagnose einer akuten Psychose wird gestellt. Der Patient wird mithilfe der Sanitäter in den Rettungswagen gebracht. Nach wenigen Minuten
wird er zunächst ruhiger, trübt jedoch schnell ein. Ein durchgeführter Blutzuckertest zeigt eine Hypoglykämie von 20 mg / dl. Nach i. v. Gabe von hoch
dosierter Glukoselösung klart der Patient rasch auf und ist schnell vollständig symptomfrei. Er berichtet, dass er seit vielen Jahren Diabetiker sei.
Arbeitslosigkeit und Probleme mit der Lebensgefährtin hätten zuletzt zu unregelmäßiger Insulinbehandlung und unregelmäßiger Nahrungsaufnahme
geführt.

20.3.5. Katatone Syndrome


Katatone Syndrome sind Störungen der Psychomotorik, die unabhängig von anderen psychiatrischen Erkrankungen oder aber auch begleitend vorkommen
können (➤ ) . Typische katatone Symptome sind Stupor, Mutismus, Katalepsie und Flexibilitas cerea. Häufig ist die Klinik bizarr anmutend. Zur
Eigensicherung ist zu beachten, dass ein raptusartiger, massiver Erregungszustand bei einer katatonen Psychose jederzeit möglich ist, auch wenn der Patient
auf den ersten Blick passiv und ruhig wirkt.
Eine lebensbedrohliche Komplikation stellt die perniziöse Katatonie mit Fieber, vegetativer Entgleisung, Akrozyanose, Petechien und Bewusstseinstrübung
dar (➤ ).

Differenzialdiagnosen
Malignes neuroleptisches Syndrom („katatones Dilemma“, ➤ ), hepatische Enzephalopathie, Drogenmissbrauch, Enzephalitis, Locked-in-Syndrom, Epilepsie,
dissoziative Störungen

Akutintervention

• Behandlung der internistischen / neurologischen Grunderkrankung


• Lorazepam-Gabe p. o. oder i. v. initial 2–2,5 mg
• Nach Ausschluss einer exogenen Ursache ggf. Elektrokonvulsionstherapie (EKT)

20.3.6. Akute Belastungsreaktionen und Panikattacken


Akute Belastungsreaktion
Eine akute Belastungsreaktion ist Folge einer extremen psychischen Belastung, für die der oder die Betroffene keine geeignete Bewältigungsstrategie besitzt.
Typische Symptome sind Depersonalisation, Derealisation, Bewusstseinseinengung, Desorientierung, extreme affektive Schwankungen und vegetative
Symptome.

Nichtpharmakologische Akutintervention

• Entfernen vom Gefahrenbereich


• Herstellen einer sicheren Umgebung
• Zuwendung
• Aktivierung des sozialen Netzwerks
• Nicht allein lassen
• Fester professioneller Ansprechpartner

Pharmakologische Akutintervention
Falls die nichtpharmakologischen Maßnahmen unzureichend sind, ist die Gabe eines Benzodiazepins, z. B. 1 mg Lorazepam, zu empfehlen.

Panikattacken
Panikattacken (➤ ) sind Episoden starker Angst mit vegetativen Symptomen wie Schwitzen, Herzrasen oder Dyspnoe. Vor allem beim erstmaligen Auftreten
sollten körperliche Ursachen ausgeschlossen werden.

Nichtpharmakologische Akutintervention

• Sicherheit vermitteln, ruhige Atmosphäre schaffen, nicht allein lassen


• Angst ernst nehmen
• Psychoedukative Maßnahmen (z. B. Angstkreislauf erklären)
• Psychotherapeutische Kurzinterventionen

Pharmakologische Akutintervention
Bei unklarer Ätiologie und ohne ein bereits etabliertes psychotherapeutisches Konzept ist das Notfallmittel der Wahl Lorazepam 0,5–1 mg.

Literatur
Benkert O, Hippius H (2017). Kompendium der psychiatrischen Pharmakotherapie. 11. A. Berlin, Heidelberg: Springer.
Berzewski H, Nickel B (2002). Neurologische und psychiatrische Notfälle. München: Elsevier Urban & Fischer.
Bosanac P, Hollander Y, Castle D (2013). The comparative efficacy of intramuscular antipsychotics for the management of acute agitation. Australas Psychiatry 21(6): 554–
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Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. (DGPPN) (2018). S3 Leitlinie: Verhinderung von Zwang: Prävention
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